Vernetzung statt Praxisschock: Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine 9783846902073, 3846902080, 9783846902080, 3846902071

Die Ergebnisse einer Umgestaltung der universitären LehrerInnenbildung an der LMU verfolgen das Ziel, zu einer konzeptio

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German Pages 376 Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
Vernetzung statt Praxisschock
Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine
I Brücken zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik
Manche Wege führen zu Cicero. Von der Poetologie des postmodernen historischen Romans zum zeitgemäßen Lateinunterricht mit Robert Harris Imperium
Modernste Antike zwischen Wissenschaft und Unterricht. Die Serie Rome als Impuls für die rezeptionsdialektische Hermeneutik im lateinischen Lektüreunterricht
„Farmer Glutton rears sheep but eats mutton”. Zur Rolle der englischen historischen Sprachwissenschaft im Englischunterricht
Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion. „Sprache ermöglicht uns die begriffliche Organisation von Erfahrung“
Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik
Bildung für nachhaltige Entwicklung und der zukünftige Deutschunterricht
Authentizität und Funktionalität. Interdisziplinäre Anmerkungen zur Sprechstilforschung in Lehr-Lernkontexten
II Brücken zwischen Theorie und Praxis
„Das Spiel ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis der Welt …“. Computerspielforschung als Brückenstein für eine innovative Lehrerbildung
Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt
Vernetzt und lebenslang lernen und lehren. Das „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“
Raus aus der Uni – Rein ins Projekt. Ein generationenübergreifendes Vermittlungsprojekt zu der Ausstellung „Ricochet #6“ von Martin Brand
„Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“. Ein gemeinsames Unterrichtsprojekt von Studierenden der Kunstpädagogik und Grundschulreferendaren – ein Praxisbericht
Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen. Ein Transferprojekt mit Künstlern, Lehrkräften und Studierenden
III „Brückensteine“ als Konkretionen
„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“
Politische Bildung trifft Politische Theorie. Ein Beispiel für die Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudium für das Fach Sozialkunde
Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion. Das „Wissensnetzwerk Deutschdidaktik“
Medienkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ein Unterrichtsprojekt für den Sprachunterricht
Dialekt als Unterrichtsgegenstand. Ein methodischer Ansatz an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Didaktik
Jüdische Geschichte an die Schulen! Theoretische Überlegungen zu Methodik, Didaktik und Erkenntnisinteresse
Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht. Eine Unterrichtssequenz zur Geschichte der deutschen Sprache im Mittelalter
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Vernetzung statt Praxisschock: Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine
 9783846902073, 3846902080, 9783846902080, 3846902071

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Education for teaching – an interdisciplinary volume. Mit Beiträgen der Herausgeber sowie von Michael Anton, Rüdiger Bernek, Christine Elsweiler, Markus Gloe, Ute Hofmann, Friederike Klippel, Laura Klotz, Alexander Laube, Philipp Lenhard, Julia Lutz, Florian Menner, Anja Mohr, Ira Noss, Jakob Ossner, Gregor Pelger, Florian Pröttel, Marcel Schellong, Andreas Schöffmann, Günter Stöber, Anna Waczek, Berbeli Wanning, Anke Werani und Manuela Wipperfürth.

Pädagogische und didaktische Schriften Band 14

ISBN 978-3-8469-0207-3 ISBN 978-3-8469-0207-3

9 783846 902073

Sabine Anselm/Markus Janka (Hrsg.) Vernetzung statt Praxisschock

Die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen ist geprägt durch (1) Fragmentierung, also die Trennung von Fachwissenschaften und Fachdidaktik, (2) Marginalisierung, weil das Lehramtsstudium innerhalb der Universitäten eine untergeordnete Rolle spielt, und (3) Segmentierung, weil das Lehramtsstudium in drei voneinander getrennten Phasen verläuft. Die Beiträge des Buchs greifen zentrale Fragestellungen auf und stellen Ergebnisse aus Kooperationsveranstaltungen von Fachwissenschaft und Fachdidaktik vor. Dabei werden fachwissenschaftliche Aspekte des jeweiligen Themas behandelt, zugleich – und unmittelbar darauf bezogen – die Fragen seiner didaktischen Vermittlung.

Sabine Anselm und Markus Janka (Hrsg.) Vernetzung statt Praxisschock Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung

Pädagogische und didaktische Schriften Band 14

Pädagogische und didaktische Schriften Herausgegeben von Sabine Anselm

Band 14

Sabine Anselm und Markus Janka (Hrsg.) Vernetzung statt Praxisschock Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Mit 50 Abbildungen und 39 Tabellen. Die Umschlaggestaltung verwendet ein Foto der Wittelsbacherbrücke in München (© rufus46 | Wikimedia Commons), kombiniert mit Grafiken des Kooperationsportals Brückensteine http://www.germanistik.uni-muenchen.de /forschung/projekte/fachteiluebergreifend/brueckensteine/index.html, das mit der Ent‐ stehung dieses Buchs eng verbunden ist.

®

www.fsc.org

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

FSC® C083411

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National‐ bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846902080.  





© Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2016 www.edition-ruprecht.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Maria Anna Oberlinner Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0207-3 (Print), 978-3-8469-0208-0 (eBook)

Inhaltsverzeichnis Vernetzung statt Praxisschock Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine ................................................................ 9 Sabine Anselm/Markus Janka

I

Brücken zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik

Manche Wege führen zu Cicero Von der Poetologie des postmodernen historischen Romans zum zeitgemäßen Lateinunterricht mit Robert Harris Imperium ................. 19 Rüdiger Bernek Modernste Antike zwischen Wissenschaft und Unterricht Die Serie Rome als Impuls für die rezeptionsdialektische Hermeneutik im lateinischen Lektüreunterricht ............................................................ 36 Markus Janka „Farmer Glutton rears sheep but eats mutton“ Zur Rolle der englischen historischen Sprachwissenschaft im Englischunterricht ............................................................................. 62 Christine Elsweiler Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion „Sprache ermöglicht uns die begriffliche Organisation von Erfahrung“ ....... 81 Ute Hofmann Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik ..................... 100 Jakob Ossner Bildung für nachhaltige Entwicklung und der zukünftige Deutschunterricht ..................................................... 113 Berbeli Wanning

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Inhaltsverzeichnis

Authentizität und Funktionalität Interdisziplinäre Anmerkungen zur Sprechstilforschung in LehrLernkontexten ...................................................................................... 125 Anke Werani/Sabine Anselm

II

Brücken zwischen Theorie und Praxis

„Das Spiel ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis der Welt …“ Computerspielforschung als Brückenstein für eine innovative Lehrerbildung ............................................................ 161 Marcel Schellong/Andreas Schöffmann Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt ............................................................................... 185 Manuela Wipperfürth/Friederike Klippel Vernetzt und lebenslang lernen und lehren Das „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“ ........................................... 198 Julia Lutz Raus aus der Uni – Rein ins Projekt Ein generationenübergreifendes Vermittlungsprojekt zu der Ausstellung „Ricochet #6“ von Martin Brand ............................................................. 212 Anja Mohr „Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“ Ein gemeinsames Unterrichtsprojekt von Studierenden der Kunstpädagogik und Grundschulreferendaren – ein Praxisbericht ....... 231 Florian Pröttel Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen Ein Transferprojekt mit Künstlern, Lehrkräften und Studierenden ............ 243 Günter Stöber

Inhaltsverzeichnis

III

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„Brückensteine“ als Konkretionen

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“ ............................................................... 267 Michael A. Anton Politische Bildung trifft Politische Theorie Ein Beispiel für die Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudium für das Fach Sozialkunde ........................................ 284 Markus Gloe Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion Das „Wissensnetzwerk Deutschdidaktik“ ................................................ 294 Sabine Anselm/Andreas Schöffmann/Anna Waczek Medienkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Ein Unterrichtsprojekt für den Sprachunterricht. ..................................... 311 Laura Klotz Dialekt als Unterrichtsgegenstand Ein methodischer Ansatz an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Didaktik......................................................................................... 322 Alexander Laube/Florian Menner Jüdische Geschichte an die Schulen! Theoretische Überlegungen zu Methodik, Didaktik und Erkenntnisinteresse ........................................................................ 337 Philipp Lenhard/Gregor Pelger Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht Eine Unterrichtssequenz zur Geschichte der deutschen Sprache im Mittelalter....................................................... 347 Ira Noss Register ............................................................................................... 373

Vernetzung statt Praxisschock Konzepte, Ergebnisse, Perspektiven einer innovativen Lehrerbildung durch das Projekt Brückensteine Sabine Anselm, Markus Janka Krisendiagnosen im Blick auf Schule und Lehrerbildung erfahren seit der Umgestaltung der Studienstrukturen durch den Bolognaprozess immer wieder Aktualisierungen. Der Hauptkritikpunkt wird darin gesehen, dass das Studium nicht adäquat und passgenau auf die Anforderungen des Berufes vorbereitet und die Lehramtsstudierenden insbesondere in den Fachdisziplinen Wissen erwerben, das keinen adäquaten Berufsfeldbezug aufweist. Ein weiteres Problem wird in der Frage sichtbar, wie es gelingt sicherzustellen, dass die neuesten Forschungsergebnisse zu Themen der Lehrerbildung auch wirklich die universitären Curricula erreichen. Bei der Suche nach Antworten richtet sich der Blick auf ein triadisches Dilemma der Lehrerbildung: Dies meint zum einen die Fragmentierung, also die personelle, institutionelle und studienorganisatorische Trennung von Fachwissenschaften und Fachdidaktik, zum anderen die Marginalisierung, d.h. die Tatsache, dass das Lehramtsstudium innerhalb der Wertschätzungshierarchie und Exzellenzfelder an den heutigen deutschen Universitäten eine eher untergeordnete Rolle spielt, und schließlich die Segmentierung, die darin besteht, dass das Lehramtsstudium in drei voneinander getrennten Phasen verläuft. Gleichwohl sind Lösungsversuche, die sich auf strukturelle Veränderungen konzentrieren, meist vergebliche Bestrebungen. Vielmehr gilt es, inhaltliche Reformen anzustreben. Denn die säulenförmige unverbundene Gestaltung des Studiums sollte durch eine interdisziplinäre Vernetzung abgelöst werden, da eine Bindung zwischen Fachwissenschaften und Didaktiken besteht. Zudem sind Lehrerbildung und Schulpraxis als verzahnt zu begreifen. Denn das liegt in der Natur der Sache, auch wenn es Unterschiede zwischen den einzelnen Didaktiken und ihren Fachkulturen gibt. Grundsätzlich gilt, dass die Fachdidaktik als Teil der Fachwissenschaft die Gegenstände derselben unter dem Gesichtspunkt ihrer Vermittlung an Heranwachsende im sozialen Kosmos der Schulwirklichkeit in Geschichte und Gegenwart reflektiert, perspektiviert und akzentuiert. Zur Kompensation des Problembestandes müssen also grundlegendere, konzeptionelle Reformen angestrebt werden und man sollte es nicht bloß bei Strukturverbesserungen bewenden lassen. Aussichtsreiche Innovationen im Blick auf die Lehrerbildung sind deswegen darin zu sehen, die Fachdidaktik als diejenige Disziplin zu profilieren, in der im Studium forschungsbasiert Kriterien entwickelt und erworben werden, die zwar orientie-

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rungsstiftend wirken, aber den Lehrenden die individuellen Entscheidungen nicht abnehmen, sondern deren Horizont erweitern. Mit dieser programmatischen Ausrichtung haben unter dem Titel „Progression und Reflexion (PRO RE)“ einige Dozierende der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2012 das Projekt „Brückensteine“ ins Leben gerufen und als Teil des Fakultätsantrages für die Initiative „Lehre@lmu“ ins Rennen um eine Bewilligung durch die Hochschulleitung geschickt. Ende 2014 wurde das Projekt Brückensteine mit dem Lehrinnovationspreis der LMU ausgezeichnet. Der mittlerweile zweifache Erfolg bestärkt alle Beteiligten in dem Bestreben, die bestehenden Vernetzungen zwischen Fachgruppen, Disziplinen, Institutionen, Personen und Phasen der Lehrerbildung weiter zu profilieren und so die vorhandene Exzellenz in der lehrerbildenden Lehre weiterzuentwickeln. Anfangs waren die Didaktiken der Fächer Deutsch, Englisch und Griechisch/Latein die Initiatoren, inzwischen ist der Brückenschlag zu zahlreichen Nachbarfakultäten und auch in die schulische Praxis vollzogen. Die Vernetzung der Disziplinen und an der Lehrerbildung beteiligten Akteure gelingt und bildet die Grundlage für eine gute Prävention gegen den Praxisschock. Im vorliegenden Band werden in unterschiedlichen Beiträgen, die die Projektarbeit in den vergangenen drei Jahren dokumentieren, zentrale Fragestellungen aufgegriffen und Ergebnisse von Symposien sowie aus Kooperationsveranstaltungen von Fachwissenschaft und Fachdidaktik vorgestellt. Dabei werden fachwissenschaftliche Aspekte des jeweiligen Themas und zugleich – und unmittelbar darauf bezogen – die Fragen der didaktischen Vermittlung behandelt. Darüber hinaus geht es um die Verdeutlichung der Relevanz von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Inhalten für die Herausbildung der kompetenten Lehrerpersönlichkeit, beispielsweise im Bereich kommunikativer und mediendidaktischer Überlegungen. In einem ersten, grundlegenden Teil des Bandes „Brücken zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik“ werden ausgehend von fachwissenschaftlichen Überlegungen Bezüge zur Fachdidaktik hergestellt, wobei es zunächst um Brücken zwischen Antike und Gegenwart geht. In den ersten beiden Beiträgen aus dem Bereich der klassischen Philologie steht die Aktualisierung von Ciceros Reden in der Gegenwartskultur im Mittelpunkt der Überlegungen, wobei sich beide Zugriffe ergänzen: Rüdiger Bernek zeigt in „Manche Wege führen zu Cicero“, wie durch die Lektüre des Romans Imperium von Robert Harris ein neuer Blick auf Ciceros Verrinen möglich wird, Markus Janka lässt in „Modernste Antike zwischen Wissenschaft und Unterricht“ ausgehend von der Serie Rome die Philippiken in neuem Licht erscheinen. Mittels des produktiven Vergleichs durch zeitgenössische Rezeptionszeugnisse ist es jeweils das Ziel beider Beiträge, aus fachwissenschaftlicher Perspektive die Attraktivität der antiken Texte zu veranschaulichen und zugleich die didaktischen Implikationen transparent zu halten.

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Christine Elsweiler vertritt in ihrem Aufsatz „Farmer Glutton rears sheep but eats mutton – zur Rolle der historischen Sprachwissenschaft im Englischunterricht“ die Ansicht, dass die Sprachgeschichte im Englischunterricht eine größere Rolle spielen sollte. Ihre Argumentation erweist, wie dadurch die im Lehrplan geforderte Ausbildung des Sprachbewusstseins und die Entwicklung von Sprachreflexion unterstützt werden. Auch kann solch sprachgeschichtliches Vorwissen Unterrichtszeit einsparen, denn es erleichtert neben dem Grammatikerwerb (v.a. durch Vergleich mit dem Deutschen) besonders auch die Wortschatzarbeit. Unter dem Titel „Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten“ beleuchtet Ute Hofmann „neue Wege zur Sprachreflexion“. Sie entwickelt eine „Seil-Metapher“, mit der sie die gegenseitige Beeinflussung von Sprachvarietäten verdeutlicht; hier geht es vor allem auch um die Frage nach Gebrauchsstandard versus Varianten. In der Folge stellt die Autorin daran anknüpfend ein Modell vor, das die verschiedenen Aspekte im Wechselspiel von Sprachvarietäten und Sprachwandel beschreibt. Abschließend verweist sie auf die Relevanz dieser Themen für den Deutschunterricht, der sich gerade mit der kritischen Reflexion von Fragen des „richtig“ und „falsch“ von Sprachvarietäten beschäftigen sollte. In ihrem Beitrag „Bildung für nachhaltige Entwicklung und der zukünftige Deutschunterricht“ setzt sich Berbeli Wanning aus der Perspektive einer ökologisch orientierten Literaturwissenschaft mit der Frage auseinander, ob ökologisches Verstehen durch Literatur möglich ist, so dass die Chance auf Umsteuerung durch kulturelle Bildung besteht. Grundgedanke ist die Annahme, dass sprachlich geschaffene Bilder, die aus der Literatur bekannt sind, mehr oder weniger bewusst übernommen werden und das Denken und die Vorstellungen prägen. Die Verfasserin plädiert dafür, dass Zukunftsfragen in der ästhetischen Bildung und Wertevermittlung (wieder) einen angemessenen Platz im Spektrum der Deutschdidaktik bekommen. Anke Werani und Sabine Anselm zeigen schließlich in ihrem Beitrag „Authentizität und Funktionalität. Interdisziplinäre Anmerkungen zur Sprechstilforschung in Lehr-Lernkontexten“ aus interdisziplinärer Perspektive psycholinguistischer und deutschdidaktischer Überlegungen, dass der personale Sprechstil durch die Aktualisierung der Ich-Identität geformt wird und welchen Einfluss dies auf Lernprozesse nimmt. Die Autorinnen plädieren dafür, diesen Zusammenhang stärker in der Professionalisierung zu berücksichtigen, da die Lehrpersonen im Deutschunterricht nicht nur Inhalte zum Thema Sprechen und Zuhören vermittteln, sondern immer auch sprachliche Modelle für die Schüler sind, wenn kommunikative Kompetenzen vermittelt werden. Die These ist, dass den Lehrern als „sprechenden Persönlichkeiten“ eine wichtige Funktion für den Lernerfolg zukommt. Im zweiten Teil des Bandes „Brücken zwischen Theorie und Praxis“ werden Ausblicke auf best-practice-Beispiele mehrerer Disziplinen, und zwar zum einen auf erfolgreich durchgeführte phasenverbindende Projekte, zum anderen auf konzeptionelle Ideen der Kooperation gegeben.

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In Fortführung der fachwissenschaftlichen und -didaktischen Tandemveranstaltung „Computerspiele als Ergodische Literatur – Herausforderungen für den Deutschunterricht“ thematisieren Marcel Schellong und Andreas Schöffmann den Mehrwert, den eine Integration von Computerspielen in den Deutschunterricht haben kann. Vor allem Kompetenzen im Bereich der Text- und Medienanalyse ließen sich an diesem Medium, dessen Verfahrensweisen oft in der Tradition der Literaturwissenschaft stünden, erwerben. Die Autoren behandeln medienkulturwissenschaftliche Aspekte von Computerspielen sowie verschiedene Analyseverfahren und fokussieren die Notwendigkeit einer stärker interdisziplinären Ausbildung der künftigen Lehrer im universitären Kontext, damit diese mit dem neuen Medium adäquat umzugehen lernen. Auch diskutieren sie den Nutzen, den ein reflektierter Umgang mit diesem Medium im Unterricht haben kann. In ihrem Beitrag aus dem Bereich der Englischdidaktik „Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt“ stellen Manuela Wipperfürth und Friederike Klippel ein innovatives Seminarformat vor und zeigen, inwiefern die Erstellung von Lernmaterialien die Verbindung pädagogischen, fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Wissens erfordert und damit in konstruktiver Weise die Lernprozesse der Studierenden fokussiert. Zudem werden – ganz in Übereinstimmung mit den neuesten Ergebnissen zur Lehr-Lernforschung John Hatties – positive Lernerfahrungen und Möglichkeiten einer intensiven dialogischen Lernbegleitung geschaffen. Da die für die Schule entwickelten Lernmaterialien dort erprobt werden konnten, ließen sich diese fachlichen Lernerfahrungen zudem im Sinne einer forschungsorientierten Lehre reflektieren. Ein weiteres Beispiel gelingender Brückenbildung in der Musikpädagogik stellt Julia Lutz vor. Sie gewährt durch den Beitrag „Vernetzt und lebenslang lernen und lehren: Das ,Netzwerk Musikunterricht‘ an der LMU“ Einblicke in ein Projekt der Lehrerbildung für den Musikunterricht an Grundschulen, dessen Hauptziel es ist, den heterogenen Vorerfahrungen der zukünftigen wie auch der bereits im Schuldienst tätigen Lehrkräfte gerecht zu werden. Die Autorin unterstreicht die Notwendigkeit, ein entsprechend differenziertes Angebot an Qualifizierungsmöglichkeiten zu entwickeln und durch Vernetzung der Beteiligten in den unterschiedlichen Phasen vielfältige Möglichkeiten und neue Perspektiven der Lehrerbildung für den Musikunterricht zu eröffnen. Anja Mohr beschreibt unter dem Titel „Raus aus der Uni – Rein ins Projekt“ eine Projektarbeit von Studenten, Schülern und Senioren in der Kunstpädagogik, die sich mit dem Künstler Martin Brand beschäftigten. Dabei ging es um die Ausstellung verschiedener Kunstwerke in der Villa Stuck, die auf unterschiedlichste Art und Weise in den Räumen präsentiert wurden. Als besonders wichtig erweist sich nach Meinung der Autorin der individuelle Zugang zu den Exponaten, der für jedes nach bestimmten Prämissen spezifisch gewählt werden musste. Da Martin Brand mit seiner Kunst provozierend zum Nachdenken anregen will, galt es im Verlauf des

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Seminars viele Vorurteile seitens aller Beteiligten zu überwinden, was zu einer allseitigen Horizonterweiterung führte. Auch Florian Pröttel berichtet in „Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“ von einem phasenverbindenden Projekt in der Kunstpädagogik und zeichnet die konzeptionellen Überlegungen sowie den konkreten Ablauf nach. Zudem stellt er durch Originalbeiträge der beteiligten Studierenden deren Lernerfahrungen heraus und veranschaulicht damit den Kompetenzzuwachs, der mit den zusammen mit Referendaren geplanten und gestalteten Unterrichtsversuchen sowie deren Besprechungen verbunden ist. Diese Einsichten sind für LehrLernprozesse zentral und insbesondere für die Lehrerbildner wichtig, da diese in ihrer unterrichtliche Tätigkeit vor allem auf die Einstellungen der Studierenden abheben sollten. Ebenfalls aus dem Bereich der Kunstpädagogik stellt Günter Stöber das innovative Transferprojekt „Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen“ vor, dessen Ziel darin besteht, Vermittlungsprozesse zwischen dem medialen Know-how von Lehramtsstudierenden der Kunstpädagogik und den didaktischen Erfahrungen von praktizierenden Kunstpädagogen und Künstlern mittels gemeinsam erarbeiteter Videoinstallationen zu initiieren. Es geht darum, eine Vielzahl fachspezifischer Inhalte darzustellen und dazu eine didaktische Aufbereitung zu durchdenken und zu zeigen, inwiefern ästhetisch-künstlerisches Forschen und didaktisch-pädagogisches Handeln Hand in Hand gehen können. Im dritten Teil des Bandes „Brückensteine als Konkretionen“ werden schwerpunktmäßig Ergebnisse der Zusammenarbeit in Seminaren zwischen Fachwissenschaft, Fachdidaktik innerhalb der ersten Phase der Lehrerbildung vorgestellt und von einem Beispiel mit konkretem Bezug zur Schulpraxis ergänzt. Ziel ist es, ausgehend von diesen Projekten eine konzeptionelle Diskussion anzuregen. Michael A. Anton zeigt in seinem Beitrag „ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“, wie die Chemiedidaktik neben der traditionellen Übersetzung von Fachwissen in Lerninhalte auch weitere Vermittlungsfunktionen erfüllen kann. Anhand von erprobten Projekten veranschaulicht der Autor, wie die Fachdidaktik Brücken zu bauen vermag, die unterschiedliche Gruppen bzw. Aspekte in und außerhalb der Schule in Verbindung bringen. Unter anderem erfolgt der Chemieunterricht dabei schulartenübergreifend, in Zusammenarbeit mit der Industrie oder inklusiv. In seinem Beitrag aus dem Bereich der Sozialkundedidaktik „Politische Bildung trifft Politische Theorie“ setzt sich Markus Gloe mit der Fragestellung auseinander, welche Rolle der Fachdidaktik in Zusammenarbeit mit der Fachwissenschaft zukommen soll. Zur Veranschaulichung wird die Konzeption für ein Seminar, das zusammen von einem Fachwissenschaftler und einem Fachdidaktiker entwickelt und realisiert werden soll, zur politischen Bildung vorgestellt, in dem die Studierenden aus ihrem theoretischen Wissen pädagogische Handlungsstrategien

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entwickeln können und ihr Vorgehen zu reflektieren lernen. Auch für die Dozenten ergibt sich durch kollegiales Feedback eine ungeahnte Chance und Bereicherung. Sabine Anselm, Andreas Schöffmann und Anna Waczek stellen in „Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion“ ein Projekt vor, in dessen Rahmen sie das kooperative „Wissensnetzwerk Werteerziehung und Deutschdidaktik“ aus enzyklopädisch angelegten Wiki-Artikeln und essayistischen Beiträgen gestalten. Im Vordergrund steht die Förderung der Scheibkompetenz der Studierenden. Dabei sehen die Autoren zum einen den Vorteil darin, dass die Beteiligten so schreibdidaktische Ansätze, die sie später selbst vermitteln sollen, erproben und reflektieren, zum anderen heben sie den Vorteil einer inhaltsreichen Wissensdatenbank, die den Lehrenden langfristig zur Verfügung stehen kann, hervor. Im Beitrag „Medienkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ von Laura Klotz, dessen Grundkonzeption im Rahmen eines fächerverbindenden Seminars entstand, das im Kontext des Projektes Brückensteine sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Zugänge verbunden hat, geht es um die Emulation von Mündlichkeit in Zeitungstexten und die Integration sprachkritischer Aspekte in den Sprachunterricht am Gymnasium. Ausgehend von diesem Beispiel wird deutlich, dass eine detaillierte Aufbereitung fachwissenschaftlicher Zugänge die unabdingbare Grundlage für die unterrichtliche Gestaltung bildet. Auch der Beitrag „Dialekt als Unterrichtsgegenstand: Ein methodischer Ansatz an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Didaktik“ von Alexander Laube und Florian Menner entstammt einem Kooperationsseminar und befasst sich mit der Frage, inwieweit das Thema „Dialekt und Nonstandard-Varietäten“ didaktisch und methodisch Gegenstand des Deutschunterrichts sein kann. Dabei widmen sich die Autoren zunächst sprachwissenschaftlichen Fragestellungen und der historischen Entwicklung des Dialektgebrauchs in der Schule, der früher als defizitär stigmatisiert wurde, mittlerweile jedoch als Teil einer inneren Mehrsprachigkeit wertgeschätzt wird. Die Realisierbarkeit im Unterricht wird dabei konkret entfaltet, indem zwei Projekte mit Lernzielen vorstellt werden: eine Unterrichtseinheit zur Sprachforschung im Deutschunterricht und eine zur postkolonialen Varietät des Unserdeutsch. Der Aufsatz „Jüdische Geschichte an die Schulen! Theoretische Überlegungen zu Methodik, Didaktik und Erkenntnisinteresse“ von Philipp Lenhard und Gregor Pelger beginnt mit der Forderung der Autoren, die jüdische Geschichte im Schulunterricht nicht nur auf den Holocaust und damit auf eine Verfolgungsgeschichte zu reduzieren. Denn die jüdische Geschichte hat viel mehr zu bieten: Dies wird an studentischen Projekten, die sich mit verschiedensten Aspekten der überaus reichhaltigen und lehrreichen jüdischen Geschichte beschäftigen, exemplifiziert. Diese dienen zur Anregung, im Geschichtsunterricht und im fächerverbindenden Unterricht einen deutlicheren Fokus auf diese Vielfalt zu legen. Neben der Vorstellung der besten Projekte bieten die Autoren zudem einen Überblick über

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den Stellenwert der jüdischen Geschichte im deutschen Schulunterricht seit dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Beitrag „Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht“ rundet Ira Noss die Überlegungen zu den Konkretionen durch ein bestpractice-Beispiel aus der unterrichtlichen Praxis ab. Sie stellt dar, wie ein komplexes fachwissenschaftliches Thema mittels didaktischer Überlegungen für die Unterrichtspraxis aufgegriffen und mit passgenauen Methoden realisiert werden konnte. Das auf der Grundlage dieser konzeptionellen Überlegungen entstandene Stationentraining kann nun seinerseits Anlass zur Reflexion im Blick auf die Vernetzung von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik sein. Bei aller sachlich-thematischen Heterogenität wie methodischen Vielfalt schärfen die in diesem Band versammelten Positionsbestimmungen, Fallstudien und Konkretionen das Profil des spezifisch Fachdidaktischen. In der Summe wird der seit der Disziplingenese in den 1970er Jahren verfestigte wissenschaftssystematische Standort der Fachdidaktiken anhand aktueller Forschungsgegenstände unterstrichen. Die Fachdidaktiken bewähren sich mithin als Brückendisziplinen, die denjenigen Bereich der jeweiligen Fachwissenschaften umfassen, der durch eine Perspektivierung der Gegenstände auf ihre unterrichtliche Vermittlung in Lehr-/Lernarrangements hin gekennzeichnet ist. Das Fehlen ebendieser integrativen Sichtweise ist es, was häufig als Praxisschock wahrgenommen wird. In diesem Sinne kommt der Vernetzung gewissermaßen eine präventive Funktion zu. Das Herausgebertandem dankt an dieser Stelle allen, die durch ihr Engagement zum Gelingen des Projektes Brückensteine und insbesondere zur ebenso zügigen wie gründlichen Realisierung dieses Sammelbandes beigetragen haben. Im Bereich Germanistik/Deutschdidaktik sind hier zunächst die tatkräftig Unterstützenden Winfried Adam, Christina Griem, Christian Hoiß und Andreas Schöffmann zu nennen, am Arbeitsbereich für Klassische Philologie/Fachdidaktik für Alte Sprachen haben die studentischen Mitarbeiter Daniel Maier, Florian Menner und Jan Michael König als Lektoratskräfte und Redakteure wesentlich zur inhaltlichen und formalen Qualität des Bandes beigetragen. Die Koordination dieser Aufgaben hat mit großer Sachkompetenz und vorbildlichem Einsatz Maria Anna Oberlinner (SHK) übernommen, die neben anderem für die Erstellung einer den Vorgaben genau entsprechenden Druckvorlage verantwortlich zeichnete.

München im September 2015 Sabine Anselm und Markus Janka

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Brücken zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik

Manche Wege führen zu Cicero Von der Poetologie des postmodernen historischen Romans zum zeitgemäßen Lateinunterricht mit Robert Harris Imperium Rüdiger Bernek Ob als gefährliche Waffe misstrauisch beäugt oder als unverzichtbares Instrument sorgsam gepflegt – die Kunst der Überzeugung durch Rede wird ins Feld geführt, wann immer es darum geht, die Merkmale einer kulturellen Identität Europas zu bestimmen. So betont etwa Wilfried Stroh im Epilog seiner Geschichte der antiken Rhetorik dezidiert die überzeitliche Aktualität der Redekunst: „Solange es Menschen gibt, werden sie sich gegenseitig überreden; und der wird dies am überzeugendsten tun, der sich, wie eben Cicero, mit der feinsten Empfindung in die Seele seiner Mitmenschen einfühlen und zugleich das Gefühl vermitteln kann, dass er mit ganzem Herzen hinter dem steht, was er sagt“.1

Die von Stroh angedeutete überzeitliche Relevanz der Rhetorik sucht auch der Germanist Karl-Heinz Göttert in seinem jüngst erschienenen Buch mit dem Titel „Mythos Redemacht“ nachzuweisen, indem er antike und moderne Meisterredner paarweise zusammenfasst und in ihrer rednerischen Technik vergleicht. Im Zuge dieser rhetorischen Pärchenbildung findet sich beispielsweise Richard von Weizsäcker neben Perikles, Barack Obama neben Johannes Chrysostomos oder Joschka Fischer neben Cicero wieder. Am Ende seiner Vergleichsarbeit zieht Göttert folgendes Fazit: „Man kann – zusammengefasst – Redner und Reden des europäischen Zuschnitts über weiteste Zeiträume hinweg miteinander vergleichen, weil entscheidende Maßstäbe die gleichen geblieben sind. (…) Der im Westen ausgebildete Glaube an die Macht der Rede hat Maßstäbe erzeugt, die von Perikles bis Obama im Wesentlichen 2 auf gleiche Weise erfüllt wurden“.

Der Kern der europäischen Redekunst liegt für Göttert in dem Ziel der „Gewinnung der Hörer auf der Grundlage von Autorität“, die der Redner dadurch gewinnt, dass er „mit argumentativen und sprachlichen Mitteln arbeitet, die Eindruck machen“.3 1 2 3

Stroh 2009, 520. Göttert 2015, 477. Göttert 2015, 478.

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Rüdiger Bernek

Eben dieser Glaube an die überzeitliche Relevanz der antiken Rhetorik beseelt auch die Ersteller von Lehrplänen, wenn sie seit jeher die Reden Ciceros in den Curricula für das Fach Latein verankern. So definiert beispielsweise der Lehrplan des Landes Niedersachsen das Lernziel, die „suggestive Kraft und manipulative Wirkung“ der antiken Rhetorik zu erkennen und auf „die Funktion der Rede als Mittel der politischen Auseinandersetzung sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit“4 zu reflektieren. Die Verantwortlichen in Hamburg erhoffen sich von der Auseinandersetzung mit den Reden Ciceros eine „Veranschaulichung der ,Macht des Wortes‘ und der vielfältigen Formen der Beeinflussung durch bewusst gestaltete Rede“,5 den Lehrplangestaltern in Bayern geht es um einen geschärften „Blick für die Fülle bewusst eingesetzter Mittel der sprachlichen Beeinflussung und für die damit verbundene Möglichkeit politischer Manipulation“.6 Die Umsetzung dieser hohen Ziele stößt in der Praxis jedoch auf beträchtliche Schwierigkeiten, da die Komplexität der so wirkungsmächtigen ciceronianischen Perioden die Schülerinnen und Schüler oft überfordert. Das führt zu einer überaus fragmentierten Wahrnehmung der Texte: Reden, deren Vortrag einstmals zwischen einer halben Stunde und drei Stunden in Anspruch nahm, werden im Unterricht in wochenlanger Lektüre bruchstückhaft erschlossen. Die fremdsprachliche Distanz macht es überdies für einen Schüler nahezu unmöglich, den Zauber Ciceros dort zu empfinden, wo er sich in lautlichen Phänomenen wie Rhythmus und Sprachklang entfaltet. Von der rhetorischen Performanz und der tatsächlichen Wirkung einer Rede auf die Zuhörer bleibt so bestenfalls eine vage Ahnung. Darüber hinaus ist im Unterricht auch eine breite pragmatische Kluft zu überbrücken: Die Reden Ciceros sind Gebrauchstexte, die für höchst konkrete Anlässe verfasst wurden. Um sie in ihrer Situationsgebundenheit verstehen zu können, bedarf der moderne Leser einer Fülle von Informationen zum historischen und soziokulturellen Kontext. Diese besondere Kontextfixierung führt nicht selten dazu, dass den Jugendlichen die vielbeschworene Relevanz antiker Redetexte für ihre eigene Welt verschlossen bleibt. Wie lässt sich nun diesen hermeneutischen Reibungsverlusten didaktisch gegensteuern? Die Arbeit mit Übersetzungen zur Ergänzung der akribischen Originallektüre stellt sicher nur bedingt eine taugliche Alternative dar. Denn auch wenn sich auf diese Weise u.U. argumentative Strategien nachvollziehen lassen, so bleibt letztlich auch hier nur ein leises Echo der ursprünglichen Wirkungsmacht ver4

5 6

Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule – gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Latein, Hannover 2010, 32. Freie Hansestadt Hamburg. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.): Bildungsplan Gymnasium. Sekundarstufe I. Alte Sprachen, Hamburg 2011, 31. Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Lehrplan für das Gymnasium in Bayern (G 8) 2009, Abschnitt L 10.1.1 (Rede und Brief – Kommunikation in der Antike) verfügbar unter http://www.isb-gym8 lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?Story ID=26212 [19.03.2015].

Manche Wege führen zu Cicero

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nehmbar und v.a. das Motivationsproblem ganz ungelöst. Viel eher müsste nach Möglichkeiten gesucht werden, die Schüler beiläufig und motivierend in den historischen und soziokulturellen Kontext einzuführen, die Erschließung des lateinischen Originaltextes inhaltlich und sprachlich vorzuentlasten, seine fragmentierte Wahrnehmung durch (narrative) Para- und Kontextualisierung abzumildern und so Motivation für die Textarbeit auf dem Wege der Identifikation mit der Person Ciceros zu schaffen. Die Hinzuziehung eines geeigneten modernen Rezeptionsdokumentes in Form einer Begleit- bzw. Doppellektüre scheint mir eine mögliche Lösung dieses Problems zu sein. Eine solche Begleitlektüre müsste allerdings die Voraussetzung erfüllen, den historischen Quellen weitestgehend zu folgen und dennoch beim Vergleich mit dem Primärtext einen hermeneutischen Mehrwert zu generieren. Ein Text, der all dies in Bezug auf Ciceros rhetorisches Wirken zu leisten vermag, ist meiner Ansicht nach der Roman Imperium des britischen Erfolgsautors Robert Harris. Die erste Hälfte dieses Werkes basiert nämlich ganz wesentlich auf den Reden, die Cicero gegen Verres, den korrupten Statthalter von Sizilien, gehalten hat. Und obwohl keine dieser beiden Reden – nur die erste wurde tatsächlich gehalten – den klassischen Aufbau einer römischen Gerichtsrede aufweist, gehören sie traditionell dem Kanon lateinischer Schultexte an. Das mag zum einen daran liegen, dass sie einen bedeutenden Einschnitt in der Rednerkarriere Ciceros markieren, der durch den Sieg über Verres und dessen Verteidiger Hortensius zum ersten Redner Roms avancierte. Zum anderen bieten die Verrinen „einen wunderbaren Einblick in die römische Provinzverwaltung“,7 bei der sich Verres – zumindest in der Darstellung Ciceros – durch exzeptionelle Gier und Grausamkeit hervorgetan hatte. Nicht zuletzt dieses Momentum des Spektakulären gibt bis heute den Lehrenden Anlass zur Hoffnung, Heranwachsende für den Inhalt der Reden gegen Verres interessieren zu können. Imperium kann zur Verwirklichung dieses ehrgeizigen Ziels einiges beitragen. Die besondere Eignung des Textes für den Einsatz im Schulunterricht ist in den poetologischen Prinzipien des Autors zu suchen. Harris formuliert sie im Nachwort und gewährt dabei einen aufschlussreichen Einblick in seine Rezeptionsstrategie (S. 481): „Although Imperium is a novel, the majority of events it describes did actually happen; the remainder at least could have happened; and nothing, I hope (a hostage to fortune, this), demonstrably did not happen.“

Der Hinweis des Autors auf sein Bemühen um historische Genauigkeit ist ein typisches paratextuelles Fiktionalitätssignal historischer Romane.8 Gleichzeitig distanziert sich Harris hier aber auch glaubwürdig von kontrafaktischen Tendenzen der

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Stroh 2009, 313. Nünning 1993, 159.

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Gattung9 und reklamiert stattdessen in gut aristotelischer Tradition das Kriterium der Wahrscheinlichkeit als Prinzip seiner Poiesis hinsichtlich historisch bzw. intertextuell nicht referentialisierbarer Textkomponenten.10 Harris’ partieller Faktizitätsanspruch gründet auf der Dichte von Einzeltextreferenzen auf den Prätext der Verrinen als einziger relevanter historischer Quelle, impliziert aber keineswegs, dass der Autor diese Quelle als grundsätzlich verlässlich für die Rekonstruktion realer Ereignisse ansieht. Das beweist eine Vielzahl von Abweichungen gegenüber dem antiken Prätext, die nicht den Erfordernissen der narrativen Konfiguration, sondern offenkundigen Plausibilitätserwägungen geschuldet sind. Aber warum gerade Cicero? Warum macht Harris zum Helden seines Romans eine historische Figur, die zumindest in ihrem politischen Wirken bei der Nachwelt vielfach ein wenig freundliches Urteil fand. Die Antwort lautet: genau deswegen! Wie in allen Romanen des Autors spielt auch in Imperium die Reflexion auf Ursachen und Mechanismen politischer Prozesse und Fehlentwicklungen eine zentrale Rolle. Robert Harris hat dies selbst in verschiedenen Interviews bestätigt und immer wieder die metapolitische Dimension seines Antikenromans betont, so etwa in einem Radio-Interview vom 11. Februar 2010: „I wanted to write a novel about the excitements and the intrigues of power (…) And to ask the question, why did this very sophisticated, centuries-old democracy col11 lapse, and what lessons does is hold for today?“

Imperium ist also ein Roman über die Mechanismen von Politik. Der historische Referenzrahmen der späten römischen Republik veranschaulicht für Harris offenkundig das Versagen gesellschaftlicher Eliten, die ein politisches System der Partizipation durch das rücksichtslose Verfolgen ihrer Partikularinteressen lähmen und aushöhlen. Cicero selbst indes verkörpert den Typus des aufstrebenden jungen Politikers nach dem Muster von Bill Clinton oder Tony Blair, den Harris bei dessen Wahlkampfkampagne 1997 als ständiger Begleiter genau beobachten konnte.12 9

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Robert Harris ist 1992 selbst durch den kontrafaktischen historischen Roman Fatherland bekannt geworden, in dem er ein Deutschland des Jahres 1964 beschreibt, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Soweit überblickbar, werden Harris in keiner Rezension schwerer wiegende historische Versehen vorgeworfen, vgl. etwa Kagerer 2007; Kissel 2007. Power And Principles Clash In Ancient Republic. Radio-Interview mit npr am 11.02.2010. Transkription verfügbar unter: http://www.npr.org/templates/transcript/transcript.php?storyId=123580156 [19.03.2015]. In einem Interview mit Welt.de erläutert Harris, wie eng die Romanfigur Cicero z.T. an Tony Blair angelehnt ist: „1997, in der Nacht seines Erdrutschsieges, war ich bei Blair. Plötzlich war er Premier, und im Nebenzimmer war Bill Clinton am Apparat. Ich habe die Szene in Imperium beschrieben: Von einem Moment auf den nächsten setzt Cicero sein Konsul-Gesicht auf. Bei Blair, der ein großartiger Schauspieler ist, habe ich das beobachtet. Seine neue Rolle hieß Premierminister, und auf einmal hielt er sich anders, würdevoller“; vgl. Freund, Wieland, Kann ein Land militärische Supermacht und Demokratie sein? Welt.de (11.10.2006). Verfügbar unter:

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Cicero ist der Mann aus der Provinz, der sich im Streben nach politischer Macht den Spielregeln des politischen Betriebes beugen muss und so zunehmend moralisch bedenkliche Kompromisse eingeht. Diese metapolitische Dimension ist der Generalschlüssel zur narrativen Konfiguration des Romans. Dem naheliegenden Einwand, dass sich für diesen Zweck die Form eines in der Gegenwart spielenden Schlüsselromans eher angeboten hätte, begegnete Harris in einem Interview vom 12. November 2006: „Es ist eigentlich arrogant, zu glauben, dass man die Gegenwart, die sich so rasch ändert, in einem Roman universalisieren könnte. Man braucht Zeit, bis sich der Staub gelegt hat. Wir erreichen diesen Punkt erst gerade. Die Geschichte altert 13 nicht so schnell. Darum erschien mir Rom geeigneter.“

Diese Äußerung erinnert stark an die Überlegungen Lion Feuchtwangers, eines der ersten großen Theoretiker des historischen Romans in Deutschland. In seinem Essay „Vom Sinn des historischen Romans“ aus dem Jahr 1935 schreibt Feuchtwanger: „Ich habe, wenn ich das Milieu der Gegenwart setze, das Gefühl des mangelnden Abschlusses. Die Dinge sind noch im Fluss, die Annahme, ob eine gegenwärtige Entwicklung vollendet sei und wie weit, bleibt immer willkürlich, jeder gesetzte 14 Schlusspunkt ist zufällig.“

Feuchtwanger sieht wie Harris die Form des historischen Romans als Werkzeug einer distanzierten Betrachtung und Analyse paradigmatisch empfundener Phänomene der Gegenwart. Dabei lässt auch Feuchtwanger keinen Zweifel daran, dass der Autor im historischen Gewand immer „sein eigenes Lebensgefühl, seine eigene Zeit, sein Weltbild“15 darstellt. Harris greift mit Imperium also zurück auf die Form des „parabolischen“ historischen Romans,16 die insbesondere in der deutschen Literatur der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur hatte. Damals

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http://www.welt.de/print-welt/article158660/Kann-ein-Land-militaerische-Supermacht-undDemokratie-sein.html [19.03.2015]. Die hier erwähnte Szene findet sich bei Harris S. 472: „Cicero was standing under the awning beneath the consul’s platform. He permitted himself only the most fleeting of smiles, and then, such was the actor in the man, he composed his features into an expression of dignity and authority appropriate to a Roman consul“. Suchsland, Rüdiger, Der letzte Republikaner. Telepolis (11.12.2006). Verfügbar unter: http://www.heise.de/tp/artikel/23/23852/1. html [19.03.2015]. Feuchtwanger 1935, 874. Feuchtwanger 1935, 874. Zum Begriff vgl. Aust 1994, 33: „Unter dem Gesichtspunkt der Darstellungsintention gliedert sich der historische Roman in eine rekonstruktive und eine parabolische Variante. Die rekonstruktive zielt auf eine möglichst authentische Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Person, Epoche, oder Welt; […] Die parabolische Form sucht in der Geschichte den Spiegel für die Gegenwart; ihre historischen Studien lassen sich mit ,Putzmitteln‘ vergleichen, die dem Spiegel die klarste Reflexion abgewinnen wollen“.

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war der historische Roman „die Gattung der Stunde“,17 weil sowohl Gegner als auch Anhänger des nationalsozialistischen Regimes ihn als Medium zur Reflexion auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse nutzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte nicht zuletzt diese janusköpfige Tradition des historischen Romans als Medium politischer Kritik und ideologischer Affirmation zu einer Krise der Gattung, die bis zum Ende der sechziger Jahre anhielt: „Der historische Roman war zum ,Stiefkind‘ der westdeutschen Literatur geworden, er schien verstaubt, unbrauchbar für die Belange einer kritisch-engagierten, gegenwartsbezogenen Literatur, wie sie in den sechziger Jahren programmatisch 18 gefordert wurde.“

Erst in den siebziger Jahren wird in Deutschland das Historische im weitesten Sinn als Romanstoff wiederentdeckt und gemäß den literaturtheoretischen Paradigmen der Zeit in neue Formen gekleidet, die in ihrer Varietät von Romanbiographien über Texte mit „methodischen und quellenkritischen Reflexionen“ bis hin zu Dokumentmontagen reichen.19 Ansgar Nünning stellt eine ähnliche Tendenz auch für die englische Literatur fest, in der sich noch eher als in Deutschland ein neuer Typus des historischen Romans etablierte: „Seit Ende der sechziger Jahre wenden sich englische Schriftsteller zwar wieder verstärkt der Geschichte zu, aber sie verbinden diese thematische Orientierung zunehmend mit experimentellen Erzählverfahren, metafiktionalen Elementen und mit Reflexionen über Geschichte und Historiographie“.20

Zur Beschreibung dieser neuen Vielfalt an historischen Romanen hat Nünning ein Skalierungsmodell vorgelegt, in dem er fünf Grundtypen des historischen Romans aufgrund von Dominanzverhältnissen sorgfältig differenzierter Merkmale unterscheidet: „dokumentarischer, realistischer, revisionistischer und metahistorischer Roman sowie historiographische Metafiktion“.21 Auf diesem Skalierungsmodell nimmt vom linken Pol des „dokumentarischen historischen Romans“ bis zum rechten Pol des „historiographisch-metafiktiven 17 18 19

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Friedrich 2013, 1. Kohpeiß 1993, 12; ähnlich Müller 1988, 9–11. Vgl. hierzu mit zahlreichen Beispielen Friedrich 2013, 5f. Geppert 1976, 34 spricht in seiner richtungsweisenden Studie zu dieser neuen Form des historischen Romans vom „Hiatus von Fiktion und Historie“ und unterscheidet historische Romane typologisch dahingehend, „ob die jeweiligen Romane den Hiatus ,akzentuieren‘, dem Leser zur Konkretisation nahelegen, oder ob sie ihn im Gegenteil zu verdecken suchen“; vgl. Geppert 1976, 36; ähnlich Müller 1988, 17f., der allerdings auf die Problematik einer „zweiwertige(n) Typologie“ hinweist und die Realisation beider Modelle in einem Roman für möglich erklärt. Nünning 1993, 2. Nünning 1993, 256 und passim.

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Romans“ der Grad der „Autoreferentialität“ beständig zu. Je weiter rechts also historische Romane auf dieser Achse einzuordnen sind, desto dominanter sind fiktionale und metafiktionale Elemente sowie metahistorische Reflexionen. Gleichzeitig nimmt die Bezugnahme auf historiographisch gesicherte Fakten ebenso ab wie die „Intensität der Primär- und Erlebnisillusion“.22 Imperium ist in Nünnings Skalierungsmodell zwischen den ersten beiden Typen auf der Skala, dem „dokumentarischen“ und dem „realistischen historischen Roman“, einzuordnen. Diese beiden Typen verbinden u.a. die „Verschleierung von Fiktionalität“, „die Schilderung einer ereignishaften (…) Handlung“ in „linearchronologischer Anordnung des Geschehens“, „der Verzicht auf kontrafaktische Realitätsreferenzen“ und „die dominant didaktischen Funktionen“.23 Der „realistische historische Roman“ verhält sich im Unterschied zum „dokumentarischen“ Typus jedoch „komplementär zum Wissen der Historiographie“.24 Er füllt gewissermaßen die blinden Flecken zwischen den historisch belegten Fakten aus und macht daher größeren Gebrauch von fiktionalen Privilegien. Die Erzählinstanz ist im realistischen Typus durch Kommentare und Wertungen oft stärker präsent, häufig handelt es sich bei den Hauptfiguren nicht um historisch belegte Persönlichkeiten, sondern um „Beobachter oder Vermittler des historischen Geschehens“.25 Die Einordnung von Imperium in Nünnings Skalierungsmodell zwischen den beiden Typen „dokumentarischer“ und „realistischer“ historischer Roman ergibt sich also aus Harris’ akribischer Bezugnahme auf die historische Quelle der Verrinen einerseits und aus seiner Inanspruchnahme fiktionaler Privilegien im Dienste seiner metapolitischen Aussageabsicht andererseits. Die Erzählstruktur des Romans entspricht ganz Nünnings Merkmalsbeschreibung des „realistischen“ Typus. Als Ich-Erzähler fungiert in Imperium nämlich Ciceros Sekretär Tiro, der in einer Art Praefatio ankündigt, dem häufig an ihn gerichteten Wunsch nach authentischen Informationen über Cicero nun am Ende seines nahezu hundertjährigen Lebens nachkommen zu wollen, obgleich dies für ihn aufgrund eines offenkundig repressiven politischen Umfelds mit Gefahren verbunden sei (S. 3f.). Da Tiro um 103 v. Chr. geboren wurde – daran hält sich auch die Fiktion des Romans –, ist der Erzählzeitpunkt also um das Jahr 4 v. Chr. anzusetzen, das von Hieronymus auch als Tiros Sterbejahr überliefert wird.26 Der historische Tiro hat tatsächlich eine uns verlorene Biographie Ciceros verfasst, die etwa Plutarch noch für seine Cicero-Vita benutzt hat.27 In der Fiktion des Romans webt Tiro also gewissermaßen seine eigene Biographie in die Ciceros ein. Die erzählte Zeit des Romans beginnt 79 v. Chr. mit

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Nünning 1993, 257. Nünning 1993, 262 und 267. Nünning 1993, 263. Nünning 1993, 265. Hieronymus Chronicon 194, 1. Plutarch Cicero 41,4 und 49,4; zur Tiros Rolle für die Überlieferung von Ciceros Leben und Werk vgl. Dugan 2006, 344–348.

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Ciceros Bildungsreise nach Griechenland und endet mit seiner Wahl zum Konsul im Jahr 64 v. Chr. Die Konzeption seiner Erzählerfigur bietet dem Autor zwei große Vorteile: Zum einen ist Tiro für Cicero das, was Dr. Watson für Sherlock Holmes oder Adson von Melk für Bruder William von Baskerville ist: ein enger Vertrauter, Chronist und Augenzeuge, dem an des Lesers statt die komplizierten Zusammenhänge immer wieder erklärt werden müssen. Zum anderen erlaubt die fixierte interne Fokalisierung durch den extra- und homodiegetischen Erzähler Tiro ein distanzierendes Reflektieren über den Erzählgegenstand Cicero. Sie ermöglicht aber auch immer wieder die Überraschung des Lesers, der in der Regel nur so viel weiß und versteht wie das erlebende bzw. erzählende Ich des Tiro. Die Form des monoperspektivischen Augenzeugenberichtes ist dabei einerseits typisches Kennzeichen einer Authentisierungsstrategie, der beispielsweise auch die zahlreichen metanarrativen Hinweise der Erzählerfigur auf die verschiedenen Grade der mnemotechnischen Absicherung des Erzählten angehören. Andererseits ist sie aber auch Beleg für das geschärfte Methodenbewusstsein des Autors. Denn Tiro ist zwar alles andere als der unzuverlässige Erzähler des postmodernen historischen Romans, allerdings gibt er in seinen metanarrativen Kommentaren bisweilen auch seine Unsicherheit in der Erklärung und Bewertung der von ihm dargestellten Ereignisse zu erkennen oder konstatiert den Vermutungscharakter seiner Aussagen. So konkretisiert Harris seine Poetik des Wahrscheinlichen im Rahmen der narrativen Konfiguration des historischen Stoffes u.a. durch die Wahl der Erzählinstanz. Das Konzept dieser speziellen Erzählerfigur ist einer der Gründe für die traditionelle, chronologisch-reihende Erzählweise des Romans, die die experimentellen Deviationen vieler anderer historischer Romane der Gegenwart aufgrund der gewählten Authentisierungsstrategie nicht zulässt.28 Aber noch einen weiteren Effekt zeitigt die Wahl des Sklaven Tiro als Erzählerfigur: Seine Perspektive ist nicht die eines unmittelbar in den politischen Betrieb Involvierten, sondern die Außenansicht eines Beobachters, der die Absurditäten des Kampfes um die Macht und die charakterlichen Deformationen seiner Akteure aus dem Abstand der sozialen Deklassierung mit unverstelltem Blick konstatieren kann. Aus dieser sozialen Distanz konstruiert sich die ironische Einfärbung des Erzählerberichts, die in den Beschreibungen von Angehörigen der römischen Oberschicht wie Pompeius, Crassus, Caesar oder Cato am nachdrücklichsten zutage tritt. Das skizzierte poetologische Konzept prädestiniert den Roman für die Verwendung in der Schule aus zwei Gründen: Zum einen lässt sich das genaue Quellenstu28

Gleichwohl ist Harris’ Fiktion einer von Tiro verfassten Biographie Ciceros formal natürlich an die moderne autobiographische Subgattung „Erinnerungen an berühmte Persönlichkeiten“ angelehnt und daher von den Gattungsgesetzen antiker Biographien sehr weit entfernt, für die – sieht man einmal von allen anderen sprachlichen, psychologischen und sozio-kulturellen Modernismen des Erzählduktus ab – gerade die chronologisch-reihende Darstellung ebenso untypisch ist wie selbstreferenzielle Äußerungen des Autors.

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dium des Autors für die inhaltliche und sprachliche Vorentlastung des lateinischen Textes fruchtbar machen. Es erlaubt der Lehrkraft nämlich, die Originallektüre an jeder beliebigen Stelle des adaptierten lateinischen Textes zu beginnen oder zu beenden, ohne die Textkohärenz zu zerstören. Denn das narrative Kontinuum des Romans sichert die durchgehende Kontextualisierung der behandelten Originalpassagen. Bedingung für ein solches Vorgehen ist allerdings, dass in der Schule nur lateinische Texte gelesen werden, die in der Adaption durch Harris identifizierbar sind – und zwar in der Reihenfolge, in der sie in der narrativen Chronologie des Romans verortet sind. Dabei ergeben sich hinsichtlich des gewünschten Grades an inhaltlicher und sprachlicher Vorentlastung durch die Doppellektüre zahlreiche Möglichkeiten. Denn die Bandbreite der verschiedenen Adaptionsmodi reicht von extremer Raffung mit bloßem name dropping bis hin zur originalgetreuen Übersetzung.29 Die metapolitische Dimension des Romans, die Harris durch Inanspruchnahme fiktionaler Lizenzen komplementär zu den historischen Fakten generiert, ist der zweite wichtige Grund für die Eignung des Romans als Medium im Unterricht: Sie kann als Grundlage einer vertieften Interpretation sowohl des antiken wie des modernen Textes dienen. Denn Harris erweist als ein sehr genauer Leser Ciceros und vermag uns durch die besondere Art seiner Adaption immer wieder die Augen für rhetorische und narrative Strategien im Redetext zu öffnen. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Sthenius-Episode aus der zweiten Rede gegen Verres veranschaulicht werden, in der Cicero das auf seiner Ermittlungsreise in Sizilien gesammelte Belastungsmaterial nachträglich „zu einer gewaltigen Buchrede aus fünf großen Büchern“ verarbeitete und dabei fingierte, „Verres sei in Rom geblieben, ,der Unverschämte‘ und habe sich dem Prozess gestellt“.30 Die Sthenius-Episode markiert in der Erzählstruktur des Romans die erste Begegnung Ciceros mit den Verbrechen des Verres. Sie ist ein Beispiel für eine sinn-

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Die größte Nähe zum lateinischen Original zeigt sich naturgemäß in Harris’ Wiedergabe der Reden Ciceros: der Rede im Vorverfahren gegen Quintus Caecilius Niger (S. 135–138 = Cic. div. Caec. 1–4, 6f.,11,19, 20–23, 37–39, 40–44, 47, 25, 73 [Reihenfolge nach Adaption durch Harris]) und der ersten – tatsächlichen gehaltenen – Rede gegen Verres (S. 207–212 = Cic. Verr. I,1–3, 7f., 26–33, 53–55, 47). Die größten Veränderungen gegenüber dem lateinischen Originaltext finden sich hingegen in Harris’ Darstellung von Ciceros Ermittlungsreise nach Sizilien in Kapitel VII (S. 145–176). Harris passt die Fülle der in der zweiten Rede gegen Verres beschriebenen Fälle und Ereignisse den Gesetzen eines Unterhaltungsromans an; d.h. er kürzt, indem er viele der Verbrechen des Verres nur summarisch unter Nennung der Opfernamen aufführt (z. B. S. 150–155 = II,4,85–87; 32; 110–113, II,3,57, II,5,155 [Reihenfolge nach Adaption durch Harris]), und er erzeugt nach dem Adaptionsprinzip der kontrafaktischen narrativen Modifikation Spannung, indem er die Dramaturgie der Ereignisse zuspitzt. So wird z.B. aus der Einsichtnahme in die Bücher der Steuerpächter eine spektakuläre, illegale Beschlagnahmungsaktion (S. 156–162 und S. 171– 175 = Verr. II,2,182–189 und II,5,145f.), aus dem Rekurs auf die Verzeichnisse der Gefangenen in den Steinbrüchen von Syrakus die packende Schilderung einer Katabasis an diesen schrecklichen Ort (S. 162–166 = Verr. II,5,145–148). Stroh 2009, 213.

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gemäße Adaption des lateinischen Textes mit wohlüberlegten Änderungen. Somit ist sie z.T. zur inhaltlichen Vorentlastung des lateinischen Textes geeignet, noch besser aber dazu, den Blick der Schüler für die manipulativen Absichten Ciceros zu schärfen. Im Roman fungiert Sthenius als intradiegetischer Erzähler. Bei seinem Versuch, Cicero als Rechtsbeistand gegen Verres zu gewinnen, berichtet er aus der Opferperspektive von den Verbrechen des Statthalters (S. 21–26): Harris zeichnet Sthenius dabei als etwas einfältigen und überforderten Mann aus der Provinz: Verwahrlost, verschreckt und unterwürfig schildert Sthenius den Raub seiner wertvollen Kunstsammlung durch Verres. Diesen schmerzlichen Verlust habe er, der leidenschaftliche Sammler, aus Angst um sein Leben klaglos hingenommen. Dem Ansinnen des Verres, ihm bei der Entwendung wertvoller alter Statuen aus dem Besitz seiner Heimatstadt Thermae zu helfen, habe er sich indes höflich, aber bestimmt entzogen. Aus Rache dafür habe Verres persönliche Feinde des Sthenius zur Falschanzeige gegen ihn ermuntert. Der vorhersehbaren Verurteilung durch den Gerichtsvorsitzenden Verres und der drohenden Prügelstrafe sei er durch Flucht zuvorgekommen. Daraufhin habe Verres Sthenius in Abwesenheit verurteilt und darüber hinaus einen neuen, gravierenderen Vorwurf gegen ihn erhoben, nämlich den der Spionage für die Rebellen in Spanien, die – wie Cicero nüchtern konstatiert – ein Kapitalverbrechen darstellt. Das Ende des Kapitels bildet den Höhepunkt der indirekten Charakterisierung des Sthenius und ist bezeichnend für Harris’ Technik der psychologischen Motivation von politischem Handeln (S. 27f.)31: He [Cicero] nodded to me and I stepped forward, putting a hand on Sthenius’s arm to guide him out. The Sicilian shook it off. ,But I need you,‘ he persisted. ,Why?‘ ,Because my only hope of justice lies here, not in Sicily, where Verres controls the courts. And everyone here tells me Marcus Cicero is the second-best lawyer in Rome.‘ ,Do they indeed?‘ Cicero’s tone took on an edge of sarcasm: he hated that epithet. ,Well then, why settle for second best? Why not go straight to Hortensius?‘ ,I thought of that,‘ said his visitor artlessly, but he turned me down. He is representing Verres.‘

Durch die eigentlich seiner Naivheit geschuldete Anspielung auf Hortensius’ Starruhm gelingt es Sthenius unversehens, den von der Parteinahme für einen einflusslosen Provinzialen wenig begeisterten Cicero doch noch für seine Sache zu interessieren. Harris verdeutlicht dem Leser hier geschickt im Sinne seiner metapolitischen Aussageabsicht das wahrscheinlich historisch zutreffende Kalkül Ciceros bei seiner Entscheidung, als Ankläger gegen Verres aufzutreten: seine Absicht,

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In gleicher Weise wird Ciceros endgültige Entscheidung für die riskante Konfrontation mit der Verres-Clique von Harris als Konsequenz einer persönlichen Demütigung erklärt, die Cicero von Hortensius zu erfahren meint, als dieser bei einer Begegnung auf dem Forum seinen Gruß nicht erwidert – unabsichtlich freilich, wie der Erzähler Tiro vermutet (Harris S. 31).

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Hortensius vom Rednerthron zu stoßen und Aufmerksamkeit für seine politischen Ambitionen zu erregen.32 Harris folgt bei der Darstellung der Ereignisse in Thermae durch den intradiegetischen Erzähler Sthenius weitgehend seiner Quelle (Verr. II, 2, 82–85). In der Charakterisierung des Opfers weichen die beiden Texte jedoch stark voneinander ab. Sthenius erhält durch Ciceros Redemacht ein ganz anderes Profil: Der erhebt ihn nämlich gleich zu Beginn seiner Erzählung zu einer durch moralische Integrität und gesellschaftlichen Status herausragenden Persönlichkeit (Verr. II,2,83 summam virtutem summamque nobilitatem). Ein so wertvoller Mensch wird nun zum Opfer des Verres, der das Gastrecht mit Füßen tritt, indem er seinen vielmaligen Gastgeber seiner sämtlichen Kunstgegenstände beraubt. Das trifft den leidenschaftlichen Sammler Sthenius umso härter, als er seine Sammlung nicht aus Eigeninteresse, sondern zur Freude seiner Mitmenschen zusammengetragen hat (Verr. II,2,83). Als stiller Dulder hält Sthenius aber die Gastfreundschaft über die Schmerzgrenze hinaus aufrecht und lässt das Unrecht unwidersprochen geschehen. Doch die Habgier des Verres ist nicht gestillt: In einer deutlichen narrativen Klimax geht Cicero nun über vom Unrecht gegen Sthenius als Einzelperson auf das Unrecht gegen die ganze Gemeinde Thermae, in der Sthenius eine führende Rolle spielt. Verres fordert nämlich von Sthenius, ihm beim Raub von im Besitz der Gemeinde befindlichen Statuen zu assistieren (Verr. II,2,85). Nun, da es nicht mehr um seine privaten, sondern um öffentliche Belange geht, wandelt sich Sthenius in der Darstellung Ciceros: Er wird vom Dulder zum Widerstandskämpfer. Nicht nur verweigert er die Kollaboration, sondern – von Cicero zum rhetorischen Genie (Verr. II,2,88 in primis Siculorum in dicendo copiosus) und princeps senatus stilisiert – fordert er in einer flammenden Rede den Gemeinderat von Thermae auf, Verres zu widerstehen – mit Erfolg: Die Bereitschaft der Stadträte von Thermae, eher zu sterben als die Statuen aufzugeben, übertrifft in ihrer Konsequenz sogar noch die Forderung des Meisterredners Sthenius (Verr. II,2,88). Und so greift der Erzähler Cicero die Einführung des Sthenius als herausragende Persönlichkeit zu Beginn der Episode an deren Ende ringkompositorisch wieder auf, indem er den exzeptionellen Stellenwert des von Sthenius errungenen Erfolgs hervorhebt und den erfolglosen Machenschaften des Verres hyperbolisch gegenüberstellt (Verr. II,2,89):33 Itaque hoc adhuc oppidum Verres invenit prope solum in orbe terrarum, unde nihil eius modi rerum de publico per vim, nihil occulte, nihil imperio, nihil gratia, nihil pretio posset auferre. 32 33

Vgl. Mitchell 1979, 147; Stroh 2009, 312 und 314. Nach den von Fuhrmann 1980, 6 skizzierten Erzählmustern der zweiten Rede gegen Verres (Typ I: Verres bemächtigt sich einer Sache ohne Widerstand des Opfers, Typ II: Verres muss Widerstände beim Raub überwinden, Typ III: Verres scheitert) handelt es sich bei der Sthenius-Episode um die äußerst seltene Kombination aus Typ I und Typ III, was bezeichnend ist für Ciceros Unterscheidung zwischen der Charakterisierung von Sthenius als Privatmann und als Politiker. Fuhrmann selbst ordnet sie unverständlicherweise dem Typ II zu; vgl. Fuhrmann 1980, 13.

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„So fand also Verres in dieser Stadt den bis dato nahezu einzigen Ort auf der Welt, von dem er nichts Derartiges aus öffentlichem Besitz entwenden konnte – nicht durch Gewalt, nicht durch heimliche Machenschaften, nicht durch Amtsvollmacht, nicht durch Gunstbezeigung, nicht durch Bestechung.“

In überbordendem, animalischem Zorn versucht nun Verres, sich an Sthenius zu rächen. Er kündigt ihm die Gastfreundschaft auf und verbündet sich mit seinen lokalen Feinden, die er zur Falschanzeige gegen seinen vormaligen Gastgeber wegen Urkundenfälschung ermuntert. Da Verres öffentlich damit droht, den greisen Sthenius geißeln zu lassen, flieht dieser nach Rom (Verr. II,2,90f.). Auch an diesem knappen Abriss der narrativen Darstellung bei Cicero lässt sich erkennen, was bei ausführlicherer stilistischer Analyse noch viel stärker hervortritt: Sthenius und Verres sind Punkt für Punkt als Komplementärfiguren gezeichnet, damit vor der Folie des Opferprofils das Täterprofil noch drastischer hervortritt:34 der eine ein selbstbeherrschter, altruistischer Wahrer des Gastrechtes, der seinen persönlichen Nachteil dem öffentlichen Interesse hintanstellt, das Gemeinwohl jedoch mit Redemacht verteidigt, der andere ein unbeherrschter, habgieriger Verächter der traditionellen Werte, der sein öffentliches Amt missbraucht, um seine Privatinteressen zu verfolgen, und dabei mit Gewalt und Intrige zu Werke geht. Ein Vergleich der beiden Darstellungen des Sthenius bei Cicero und Harris kommt zu einem auch für Schüler leicht zu erschließenden Ergebnis: Während Cicero bemüht ist, Sthenius zu heroisieren und Punkt für Punkt als charakterliche Komplementärfigur zu Verres zu konstruieren, schrumpft Sthenius bei Harris auf menschliche Normalgröße zusammen: kein Pathos, kein Ideal einer bis zur Selbstverleumdung aufrechterhaltenen Gastfreundschaft, kein heldenhaftes Auftreten als politischer Redner im Senat von Thermae. Als erstes wichtiges Adaptionsprinzip von Harris ist also die kontrafaktische Verkürzung im Sinne einer Entheroisierung und Entrhetorisierung des CiceroTextes festzustellen. Natürlich lässt sich ex post nicht entscheiden, welche Darstellung der historischen Figur Sthenius eher gerecht wird.35 Aber um die Schüler dafür zu sensibilisieren, dass es sich bei der Rede Ciceros um ein hochmanipulatives rhetorisches Konstrukt mit eindeutigen Wirkungsabsichten handelt, taugt der Textvergleich allemal. Ein weiteres wichtiges Adaptionsprinzip offenbart sich im Fortgang der Sthenius-Episode. Denn die weiteren Geschehnisse in Rom werden von Cicero im Gegen34 35

Zu den topischen Zügen der Darstellung von Opfern in den Verrinen vgl. Becker 1969, 54–57. Eine zweite historische Quelle zu Sthenius sind die Werke Plutarchs, der mehrfach (Pompeius 10,6f.; Moralia 203C u. 815F) – allerdings mit immer anderen Namensvarianten – erwähnt, dass Sthenius Pompeius von der Zerstörung seiner Heimatstadt und der Bestrafung seiner Mitbürger (in den Moralia die Mamertiner, in der Vita des Pompeius die Einwohner von Thermae) abgehalten habe, indem er die Schuld an deren Parteinahme für Marius im Bürgerkrieg auf sich genommen und so den Respekt des Pompeius gewonnen habe; Cicero erwähnt den Vorfall in Verr. II,2,113 ebenfalls, allerdings ohne den Aspekt der Selbstaufopferung des Sthenius.

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satz zu denen in Sizilien auffällig kurz abgehandelt. Nachdem Sthenius dort tatsächlich in Abwesenheit wegen Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist, macht Verres seine Drohung wahr, Sthenius in absentia auch eines Kapitalverbrechens anzuklagen. Dies findet sich sowohl bei Cicero (Verr. II,2,92–94) als auch in verkürzter Form bei Harris (S. 25f.) In Rom nun machen sich einige Leute für Sthenius stark. Die beiden Konsuln Gellius und Lentulus bringen im Senat den Gesetzesantrag ein, dass in den Provinzen niemand in Abwesenheit eines Kapitalverbrechens angeklagt werden dürfe (Verr. II,2,95 ne absentes homines in provinciis rei fierent rerum capitalium). Angeblich habe Verres̕ Vater versucht, den Senat im Sinne seines Sohnes zu beeinflussen – jedoch vergeblich: Den allgemein akzeptierten Beschlussantrag des Verbots einer Verurteilung in Abwesenheit und der Aufhebung des bereits gefällten Urteils gibt Cicero sogar in Zitatform wieder. Allerdings kommt es nicht zu diesem Beschluss, denn einige nicht weiter benannte Senatoren hätten auf Veranlassung von Verres Senior eine Abstimmung durch endloses Reden verhindert (Verr. II,2,95): Eo die transigi nihil potuit, quod et id temporis erat et ille pater istius invenerat homines, qui dicendo tempus consumerent. „An diesem Tag konnte nichts mehr entschieden werden – zum einen wegen der 36 Begrenzung durch die Jahreszeit und zum anderen, weil der Vater dieses Menschen Leute gefunden hatte, die durch ihr Reden die Sitzungszeit ausschöpften.“

Inzwischen habe der Vater des Verres den Unterstützern und Gastfreunden des Sthenius angeboten, seinen Sohn dazu zu bringen, die Anklage gegen Sthenius fallen zu lassen, wenn diese sich im Gegenzug bereit erklärten, nichts gegen Verres zu unternehmen. Im Senat sei die Sache daraufhin nicht mehr behandelt worden (Verr. II,2,95). Hier bleiben doch – anders als in Ciceros sonstiger genauer Wiedergabe der Ereignisse um Sthenius – zahlreiche Frage offen: Wieso wurde die Beschlussfassung torpediert, obwohl doch angeblich so große Einigkeit im Senat herrschte? Wer waren die Leute, die den Beschluss durch ausgedehntes Reden verhindert haben? Offenkundig doch wohl bedeutende Senatoren mit Rederecht. Wer sind die Unterstützer des Sthenius, mit denen Verres Senior verhandelt? Cicero ist offenkundig bemüht, den Widerstand im Senat herunterzuspielen. Er hat an dieser Stelle kein Interesse daran, die Namen der bedeutenden Parteigänger des Verres zu nennen. Überdies verschanzt er sein eigenes Engagement in der Sache des Sthenius hinter kollektiven Sammelbegriffen wie hospites und amici37 und erwähnt sich selbst im

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Gemeint ist die kürzere Tagesdauer im November, da Senatssitzungen mit Sonnenuntergang beendet waren. Zur Differenzierung der Begriffe im Kontext der Verrinen vgl. Nicols 2000, 99–101; Badian 1958, 155.

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Bericht über die Senatssitzung und die Verhandlungen im ihrem Nachgang kein einziges Mal. Das ist auch Robert Harris nicht entgangen. Nach dem Adaptionsprinzip, das ich die revisionistische Komplementierung38 nennen möchte, spinnt er aus dem oben zitierten Satz die zwölfseitige Beschreibung einer ganzen Senatsdebatte, in der Cicero selbst den zitierten Gesetzesantrag initiiert, über den aber aufgrund endloser Reden von den aristokratischen Senatoren Catulus, Quintus Metellus und Hortensius nicht entschieden werden kann (S. 34–45). Harris füllt also die Lücke, die Cicero in der Darstellung der Ereignisse geflissentlich lässt, und nutzt die Schilderung der Senatssitzung, um auf spannende und unterhaltsame Weise die politischen Gräben zwischen Optimaten und Popularen aufzuzeigen. Gleichzeitig wäre Harris nicht Harris, wenn er mit dieser breiten Darstellung des sitzungstaktischen Vorgehens der Aristokraten im Senat nicht auch den Bezug auf politische Verhältnisse der Gegenwart markieren würde. Das, was Catulus, Metellus und Hortensius tun, hat auch im angelsächsischen Parlamentarismus eine lange Tradition und wird dort Filibuster genannt.39 Und so charakterisiert Cicero bei Harris die Aristokratenclique gegenüber Tiro auch in einer Weise, die an den plutokratischen Lobbyismus in der amerikanischen Politik erinnert40 (S. 46f.): „They are all in it together, aren’t they? The Metellus brothers are true aristocrats – they would never lift a finger to help anyone apart from themselves, unless it was for money. As for Catulus, the man is frantic for gold. (…) I estimate we must have 41 been looking at half a million in bribes this afternoon, Tiro.“

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Unter revisionistischer Komplementierung verstehe ich narrative Segmente des Romans, die sich komplementär zur Darstellung des Geschehens in den Verrinen verhalten und Ciceros Darstellung der Ereignisse in Frage stellen oder in ihrem tendenziösen Charakter offenlegen. Ein aktuelles Beispiel für Filibuster im amerikanischen Senat ist die 21-stündige Rede des Republikaners Ted Cruz gegen Präsident Obamas Gesundheitsreform am 25.10.2013, in der er kurioserweise den Beginn von Ciceros erster Rede gegen Catilina zitierte. Gilens und Page 2014, 576f. ziehen in einer aktuellen Studie der Universität Princeton zum Thema Lobbyismus in Amerika ein Fazit, das Harris für seine Parallelisierung der historischen Kontexte ins Feld führen könnte: „Despite the seemingly strong empirical support in previous studies for theories of majoritarian democracy, our analyses suggest that majorities of the American public actually have little influence over the policies our government adopts. Americans do enjoy many features central to democratic governance, such as regular elections, freedom of speech and association, and a widespread (if still contested) franchise. But we believe that if policymaking is dominated by powerful business organizations and a small number of affluent Americans, then America’s claims to being a democratic society are seriously threatened.“ Cicero selbst hebt immer wieder die großzügige Unterstützung des Verres für Wahlkampagnen von Quintus und Marcus Metellus hervor: Verr. I,21, 26–29, 31; Verr. II,2,63f.,138–140, 164; Verr. II,3,122f., 152f. In der Tat gehörte Verres als Sohn eines homo novus trotz seiner vereinzelten guten Beziehungen zu Vertretern der Senatsaristokratie nicht zu deren innerstem Kreis, sondern hatte vielmehr in ihren Reihen auch etliche Feinde; vgl. Mitchell 1979, 138–142.

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Hier wird ein weiteres wichtiges Prinzip der Adaption des antiken Stoffes durch Harris deutlich: das der politischen Fokussierung. Harris lässt seine Figuren immer wieder über gesellschaftliche Machtstrukturen und über politische Wirkmechanismen reflektieren. Überdies verschärft er drastisch die in den Verrinen durchaus greifbare kritische Haltung Ciceros gegenüber Teilen der Senatsaristokratie und v.a. der von ihr ausgeübten Gerichtsbarkeit.42 Das beste Beispiel für diese Verschärfung ist die Rede, die Harris Cicero vor den Volkstribunen halten lässt, um für Sthenius ein Bleiberecht in Rom zu erwirken. Während der historische Cicero in Verr. II,2,100 behauptet, er habe die Sache des Sthenius vor den Volkstribunen genauso geführt wie eben hier vor Gericht, lässt Harris ihn dort in einer Weise gegen die Aristokraten agitieren, die Tiro folgendermaßen charakterisiert (S. 72): „Later, Cicero was so embarrassed by the rabblerousing nature of this speech that he asked me to destroy the only copy, so I must confess I am writing here from memory. But I recollect it very clearly – the force of his words, the passion of his de43 livery, the excitement of the crowd as he whipped them up (…).“

In Zusammenhang mit dem Auftritt vor den Volkstribunen begibt sich Harris zum ersten Mal auf den Boden der Spekulation. Denn im Roman fordert der pompeianisch gesonnene Volkstribun Palicanus44 als Gegenleistung für seine Hilfe in der Sache des Sthenius von Cicero die Unterstützung des Pompeius bei seinem Ziel, gegen die Regeln des cursus honorum das Konsulat zu erlangen. Für ein solches politisches Bündnis gibt es jedoch keine Belege, vielmehr erklärt die Mehrzahl der Althistoriker eine Parteinahme Ciceros für Pompeius zu diesem frühen Zeitpunkt für unwahrscheinlich.45 Das vierte Kapitel des Romans (S. 74–96) ist somit ein 42

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Zu Ciceros Taktik, die popularen Bestrebungen des Jahres 70 v. Chr. nach Reform der senatorisch dominierten Gerichtsbarkeit für seine Anklage zu nutzen, vgl. Neumeister 1964, 42–46; Mitchell 1979, 134 weist darauf hin, dass Cicero die Bedeutung des Prozesses als Prüfstein für die senatorische Gerichtsbarkeit maßlos übertreibt (Verr. I,1–3), da das entsprechende Gesetz zu deren Reform, die Lex Aurelia iudiciaria, zum Zeitpunkt des Verres-Prozesses im August 70 v. Chr. schon in einer mit der Senatsaristokratie weitgehend abgestimmten Entwurfsfassung vorgelegen haben müsse; ähnlich Marshall 1975, 148f. Crawford 1987, 45f. vermutet andere Gründe für die Nichtveröffentlichung der Rede: „However, apart from its bearing from that prosecution, Sthenius’ case was of local interest only, and the part of it played out in Rome was by far the least exciting and most legalistic. Thus it is no surprise, that Cicero did not publish his speech before the college of tribunes“. Es fällt schwer zu glauben, dass Cicero aufgrund derartiger Überlegungen darauf verzichtet haben sollte, eine erfolgreiche Rede zu veröffentlichen. Hier ist man geneigt, eher dem Romancier zu folgen als der Altertumswissenschaftlerin. Zur historischen Figur Palicanus vgl. Mitchell 1979, 114 Anm. 44: „Palicanus was from Picenum and may have been a protégé of Pompey, though the evidence is slight, and in 60 we find him daily abusing Pompey’s henchman, the consul L. Afranius. Att. 1.18.5“. Badian 1958, 282f. und ihm folgend Ward 1970, 61–67 nennen als Belege für ein Bündnis Ciceros mit Pompeius die angebliche Nähe der Sthenius-Unterstützer Gellius, Lentulus und Palicanus zu

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Paradebeispiel für das Komplementär-Verhältnis von historischem Roman und Geschichtsschreibung, wie es für den „realistischen Typus“ nach Nünning kennzeichnend ist. Dort schildert Harris, wie Cicero für Pompeius agitiert, eine Zusammenarbeit mit dessen Rivalen Crassus aus Loyalität zu Pompeius ablehnt und schlussendlich doch leer ausgeht. Denn die vormaligen Rivalen Crassus und Pompeius einigen sich überraschend auf ein gemeinsames Konsulat für das Jahr 70 v. Chr. und gelangen zu einem Ausgleich mit der Senatsaristokratie. Cicero sieht sich ausgebootet und übervorteilt, da er aus dem Bündnis mit Pompeius keinen sichtbaren Nutzen für die eigene Karriere schlagen kann. Es ist klar, warum Harris die zeugnisarme Quellenlage in der von ihm gewählten Weise verarbeitet hat: Er wollte allgemeingültige Funktionsweisen von Politik aufzeigen: das Prinzip des do, ut des und das dazu komplementäre Prinzip der wechselnden Koalitionen bei absoluter Priorisierung der eigenen Interessen. Cicero lernt nun bei Harris diese politische Lektion und beschließt, die Aedilität auch ohne die Hilfe des Pompeius anzustreben. Eine Klage gegen Verres erscheint ihm dabei als ein geeignetes Mittel, Aufmerksamkeit und Popularität zu gewinnen. An dieser Stelle betritt Harris wieder den Boden der historischen Plausibilität. Sein Verfahren einer fiktiven Ergänzung der historischen Fakten zum Zweck der Veranschaulichung politischer Mechanismen möchte ich als Adaptionsprinzip der spekulativmetapolitischen Komplementierung bezeichnen. Ich denke, es wäre im Sinne von Robert Harris und wahrscheinlich auch im Sinne Ciceros, derartige Passagen des Romans für eine pädagogische Interpretation ihrer beider Texte zu nutzen und mit den Schülern die Gesetzmäßigkeiten von Politik und politischer Rede damals und heute zu thematisieren. Denn wie viele weitere Stellen aus Imperium sind sie dazu geeignet, Heranwachsenden Cicero als Mensch, Politiker und Redner näher zu bringen und so ihre Neugierde auf das lateinische Original zu wecken. All diese Stellen aufzuführen, ist hier nicht der Ort. So bleibt mir nur mehr Raum für einen kollegiale Rat an alle Lehrenden: Geben Sie Ihren Schülern auf ihrem Weg zu Cicero einen kompetenten und humorvollen Begleiter an die Seite! Er heißt Robert Harris.

Pompeius, dessen Interesse seinen sizilischen Klienten wie z.B. Sthenius beizustehen und der Clique der Metelli zu schaden und schließlich die Unterstützung verschiedener sizilischer Klienten des Pompeius für Cicero im Prozess und bei seiner Vorbereitung. Mitchell 1979, 143–146 weist mit genauer Quellenanalyse die geringe Beweiskraft dieser Argumente nach und führt überzeugend aus, dass eine Zusammenarbeit zwischen Cicero und Pompeius vor 66 v. Chr. ebenso unwahrscheinlich ist wie ein Engagement des Pompeius im Fall Verres; ähnlich Spielvogel 1993, 30 und Lintott 2006, 84.

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Literaturverzeichnis Aust, Hugo: Der historische Roman, Stuttgart/Weimar 1994. Badian, Ernst: Foreign Clientelae (264–70 B.C.), Oxford 1958. Becker, Norbert: Die Darstellung der Wirklichkeit in Ciceros Verrinischen Reden (Diss. Freiburg i. Br. 1969). Crawford, Jane, M. Tullius Cicero: The Lost and Unpublished Orations, Göttingen 1984. Dugan, John Richard: Making a New Man: Ciceronian Self-Fashioning in the Rhetorical Works, Oxford 2005. Feuchtwanger, Lion: Vom Sinn des historischen Romans, in: Ernst Loewy (Hrsg.): Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933–1945, Stuttgart 1997, 872–877. Friedrich, Hans Edwin: Die Wiederkehr des historischen Romans seit den 1980er Jahren, in: Ders. (Hrsg.): Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung (Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, Bd. 23), Frankfurt a. M. 2013. Fuhrmann, Manfred: Narrative Techniken in Ciceros Zweiter Rede gegen Verres, AU 23, 1980, Heft 3, 5–17. Geppert, Hans Vilmar: Der „andere“ historische Roman. Theorien und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 42), Tübingen 1976. Gilens, Martin/Page Benjamin I.: Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, an Average Citizens, Perspectives on Politics 12, 2014, Heft 3, 564–581. Göttert, Karl-Heinz: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik, Frankfurt am Main 2015. Harris, Robert: Imperium, London 2007. Kagerer, Katharina: Rez. Robert Harris, Imperium, Gymnasium 114, 2007, 607–609. Kissel, Theodor: Unternehmen Cicero, Rez. Robert Harris, Imperium, Abenteuer Archäologie 2007/1, 94. Kohpeiß, Ralf: Der historische Roman der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland. Ästhetische Konzeption und Wirkungsintention, Stuttgart 1993. Lintott, Andrew: Cicero As Evidence: A Historian’s Companion, Oxford 2008. Marshall, Bruce A.: Q. Cicero, Hortensius and the Lex Aurelia, RhM 118, 1975, 136–152. Mitchell, Thomas N.: Cicero: The Ascending Years, New Haven 1979. Müller, Harro: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1988. Neumeister, Christoff: Grundsätze der forensischen Rhetorik, gezeigt an Gerichtsreden Ciceros, München 1964. Nicols, John: Hospitium and political friendship in the late Republic, in: M. Peachin (Hrsg.): Aspects of Friendship in the Graeco-Roman World (JRA Supp. 43), Portsmouth 2001, 99–108. Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion historiographischer Metafiktion, Bd. I. Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1993. Spielvogel, Jörg: Amicitia und res publica. Ciceros Maxime während der innenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 59–50 v. Chr., Stuttgart 1993. Stroh, Wilfried: Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom, Berlin 2009. Ward, A. M.: Cicero and Pompey in 75 and 70 B.C., Latomus 29, 1970, 58–71.

Modernste Antike zwischen Wissenschaft und Unterricht Die Serie Rome als Impuls für die rezeptionsdialektische Hermeneutik im lateinischen Lektüreunterricht Markus Janka 1

Interpretation im lateinischen Lektüreunterricht heute: Von der philologischen Exegese zur rezeptionsdialektischen Hermeneutik

Die Didaktik der Klassischen Sprachen erforscht und reflektiert nicht nur die Inhalte von Spracherwerbs- und Lektüreunterricht unter sämtlichen vermittlungsrelevanten Gesichtspunkten, sondern befragt die exemplaria classica auch stets nach ihrer Aktualität und Relevanz für unsere eigene Epoche. In dieser Hinsicht gehört zur Didaktik der Unterrichtsfächer Griechisch und Latein wesentlich die altertumskundliche Ergründung von Prozessen der Rezeption1 oder Transformation2 oder Präsenz3 der Antike. Eben dieser Blick von der Gegenwartskultur zurück auf die Gegenstände der Antike, der dann in einem dialektischen Prozess jeweils neue Gesichtspunkte und Blickwinkel auch für die werkimmanente Interpretation der klassischen Texte erschließt, prägt das in diesem Beitrag vorgestellte Lektürekonzept. Diese rezeptionsdialektische Hermeneutik lateinischer Lektüretexte ist als konsequente Weiterentwicklung der in der altsprachlichen Lektüredidaktik etablierten Strategien der modellorientierten Interpretation, des „existentiellen Transfers“ und der aktualisierenden Textbegegnung zu verstehen.4 Neu und wesentlich ist die Integration von rezeptionsphilologischen und rezeptionsästhetischen Fragestellungen5 in den Kern der interpretatorischen Erschließung der antiken Originaltexte. Die Rezeptionsdokumente aus unterschiedlichen Epochen dienen mithin nicht mehr bloß als Erwei1 2

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Zu diesem Begriff vgl. etwa Cancik 2002 und Mohr 2002 (mit weiterer Lit.). Zu dieser Konzeption und ihrem Verhältnis zu anderen Perspektiven vgl. Mindt 2007, hier 473: „Die Verwendung des Transformationsbegriffes erweitert und präzisiert sowohl Rezeptionsforschung wie auch rezeptions- und wirkungsästhetische Ansätze. Die Betonung des aktiven, wenn auch nicht unbedingt intentionalen Charakters des Transformationsvorgangs macht die Vitalität deutlich, die Antike in ihrer Wirkung entfaltet hat. Das Geflecht von Kontinuität und Veränderung kann unterschiedlich gelagert sein“. Zu diesem Konzept vgl. etwa Grenzmann/Grubmüller/Rädle/Staehelin 2004. Neuere lektüredidaktische Ansätze bündeln Kuhlmann/Rühl 2010, 8–38 (mit Lit.). Ansätze dazu bieten Kuhlmann/Rühl 2010, 17, die Rezeptionsästhetik indes sehr viel enger fassen, indem sie sie auf diachron unterschiedliche Rezeptionshorizonte beschränken: „Die besondere Rezeptionsweise antiker Literatur durch heutige Leser (Schüler/Lehrer) ist insgesamt von hoher didaktischer Relevanz“.

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terung des Interpretationsarsenals in Gestalt von posttextuellen Referenzen, die das reichhaltige „Fortleben“ der antiken Gegenstände mehr oder minder ornamental zur Schau stellen. Sie sind vielmehr konsequent in das Tableau der Gesamtinterpretation verwoben und treten idealerweise an mehreren Stellen der interpretatorischen Argumentationsentwicklung resp. Didaktisierung in Erscheinung. Der antike Originaltext bleibt dabei in der Regel das Zentrum der interpretatorischen Arbeit, verliert jedoch seinen Status als Ausgangs- und Zielpunkt, da die Fragehaltung der Lernenden bei diesem Ansatz anhand eines medialen Erzeugnisses der Gegenwartskultur geweckt wird. Eine solche Konzeption macht somit ernst mit der häufiger behaupteten als argumentativ erwiesenen und didaktisch erprobten „Aktualität“ der Antike und bezieht auch die in der Interpretationsdidaktik nach wie vor eher stiefmütterlich behandelten Hervorbringungen der Populärkultur oder Alltagskultur6 in den Horizont mit ein. Die Didaktik der klassischen Sprachen hat zwar im Zug des von Gladiator (2000) ausgelösten neuen Booms an AntikenFilmen, der bis heute anhält, zeitgemäße und differenzierte Konzepte zur Operationalisierung filmgestützten Interpretierens entwickelt.7 Doch lässt sich das dort fokussierte Corpus monumentaler Kinofilme8 mit Gewinn um eine neuere Fernsehserie erweitern.

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Die Serie Rome im lateinischen Lektüreunterricht: Rezeptionsdialektischer Anreiz zu vertiefter Interpretation

Die Serie ROME, die 2005 bis 2007 von den britischen Gesellschaften HBO und BBC sowie vom italienischen Sender RAI produziert wurde, schaffte im deutschen Fernsehen den Sprung von RTL 2 (Erstsendung: 8. Juli bis 12. August 2007 und ab Juli 2009) ins Kulturprogramm ARTE (22. Juni bis 7. August 2011).9 Gaius Iulius 6

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Eine erste Synthese hierzu haben für den deutschen Sprachraum Korenjak/Tilg 2007 vorgelegt. Ähnlich für den englischsprachigen Bereich Lowe/Shahabudin 2009. Zur reichhaltigen Rezeption von Ovids Metamorphosen in der Populärkultur der Gegenwart vgl. jetzt Janka/Stierstorfer 2015. Vgl. bes. Wieber 2005 und Wieber 2007. Wieber 2005, 8 bietet eine hilfreiche Graphik, die den Filmeinsatz im AU nach den Kriterien „unterrichtliche Verankerung“, „Sozialformen“, „didaktische Intention“, „Arbeitsmethode“ und „Präsentationsform des Films“ auffächert. Das „Potenzial von Filmen für den Fremdsprachenunterricht“ bündeln aus der Sicht der Englischdidaktik Henseler/Möller/Surkamp 2011, bes. 8–25. Von den im Schaubild S. 23 angegebenen Kompetenzbereichen sind für den Lateinunterricht insbesondere „Wahrnehmungskompetenz“, „Filmästhetische und -kritische Kompetenz“ und „(Inter)Kulturelle Kompetenz“ relevant. Im Literaturverzeichnis sind u.a. wesentliche Arbeiten „zu den Methoden der Filmarbeit“ gesammelt (S. 260–262). Grundlegend zur Filmanalyse allgemein Mikos 2008, zu ihrer Didaktik Volk 2004. Das Genre des „Römerfilms“ oder peplum movie ist gerade in jüngerer Zeit durch fundierte Überblicksdarstellungen altertumswissenschaftlich gut erschlossen, vgl. Solomon 1978/2001, Winkler 1991, Wyke 1997, Eigler 2002, Korenjak/Töchterle 2002, Junkelmann 2004, Winkler 2004, Cyrino 2005, Lindner 2007, Meier/Slanička 2007, Hughes 2009. Eine reichhaltige Internetpräsenz, die 2011 entstand, vermittelt wichtige Hintergrundinformationen zur „Sandalen-Serie“, vgl.

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Caesar prägt als Leitfigur der oberen, politischen Ebene die gesamten 12 Episoden der ersten Staffel.10 Diese deckt chronologisch getreu die Zeit von 52 v. Chr. bis zu den Iden des März 44 v. Chr. ab. Die Verbindung zur Ebene des einfachen Volkes innerhalb des binären Gliederungsprinzips „upstairs/oben/hohe Politik“ und „downstairs/unten/kleine(re) Leute“ wird originell über zwei Figuren hergestellt, die zwar durch Caesar historisch verbürgt sind, aber im Seriendrehbuch mit einem fiktiven Eigenleben nach (weitgehend) realistischem Stil ausgestattet sind.11 Die zweite Staffel (deutsche Erstausstrahlung vom 17.09.2007 bis 22.11.2007 auf Premiere, ab 04.07.2009 auf RTL 2) behandelt in zehn Folgen die Zeitspanne von der Ermordung des Diktators Caesar bis zum Selbstmord von Marc Anton und Kleopatra im Jahr 30 v. Chr. nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg gegen Octavius/Octavianus. Dessen Aufstieg vom überraschend zum Alleinerben Caesars eingesetzten Jüngling zum unangefochtenen Herrscher Roms bestimmt als roter Faden die staatspolitische Dimension des Plots. Der erbitterte Kampf zwischen Caesars Erben und seinen Mördern Brutus und Cassius wird auf der Ebene der hohen Damen der Gesellschaft durch die hasserfüllte Intimfeindschaft zwischen Octavius’ Mutter Atia12 und Brutus’ Mutter Servilia gespiegelt.13 Die Caesarianer Pullo und Vorenus fungieren weiterhin durchgehend als Bindeglieder zwischen der politischen Führungselite Roms und der Ebene des stadtrömischen Alltags. Zu

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http://www.arte.tv/de/rom-eine-sandalen-serie/3926878,CmC=3927300.html [07.08.2015]. Einen Überblick über den Handlungsverlauf der gesamten ersten Staffel bieten die im Rahmen eines fachdidaktischen Seminars an der LMU München erstellten Inhaltszusammenfassungen von Melanie Förg: http://www.fachdidaktik.klassphil.uni-muenchen.de/forschung/seminarertraege/ roemerfilm/roemerfilm_archiv/referat_foerg.pdf. Kurzzusammenfassungen zu allen Episoden sowie eine knappe Skizze des Hintergrundes und eine Auflistung von historischen Ungenauigkeiten finden sich auf den folgenden Seiten: http://de.wikipedia.org/wiki/Rom_(Fernsehserie) [07.08.2015]. Einen lakonischen Hinweis auf das filmische Nachleben dieser exemplarischen Figuren aus Caesars literarisch belebter Kriegsdarstellung gibt Glücklich 2008, 29. Dort findet sich auch eine nützliche Auflistung von Filmen über Caesar (und Kleopatra), vgl. Glücklich 2008, 46f. Der Filmcharakter der Atia, die als ehrgeizige, skrupellose, rachsüchtige und sexhungrige femme fatale und Geliebte Marc Antons die wohl einprägsamste Frauenrolle der Serie darstellt (zur fiktionalen Person vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Atia_of_the_Julii, 07.08.2015), hat mit der historisch – allerdings nur schwach – bezeugten Mutter des nachmaligen Augustus wenig gemeinsam: Atia Balba Caesonia, die 85 v. Chr. geborene und – anders als in der Serie, in der sie 30 v. Chr. noch lebt – bereits 43 v. Chr. verstorbene Tochter von Caesars Schwester Julia, wird bei Tacitus als vorbildliche und sittenstrenge Mutter und Erzieherin ihres Sohnes gewürdigt, vgl. Tac. dial. 28,6 sic Corneliam Gracchorum, sic Aureliam Caesaris, sic Atiam Augusti [matrem] praefuisse educationibus ac produxisse principes liberos accepimus (So soll Cornelia bei den Gracchen, Aurelia bei Caesar, so auch Atia bei Augustus selbst die Hoheit über die Erziehungsbelange ausgeübt haben mit dem Ergebnis von erstklassigen, ja fürstlichen Kindern, wie wir aus der Überlieferung wissen). Sueton, Augustus 4,1 berichtet knapp von Atias edler Abkunft. In Aug. 94,4 zitiert er aus einem Werk des Asclepiades aus Mendes omina, die Atia als werdender Mutter die Göttlichkeit ihres Sprösslings bedeutet hätten. Vgl. dazu auch Janka 2012, 114–126 im Zusammenhang mit der Perspektivierung von Caesars Ermordung in der letzten Folge der ersten Staffel von Rome.

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Beginn der Staffel stehen die beiden in Marc Antons Diensten, der sie beauftragt, die harten Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Collegien (gleichsam Urformen von „Mafia-Clans“) auf dem Aventin beizulegen.

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„These being the words of Marcus Tullius Cicero” (Rome, 2. Staffel, 3. Episode) und die „zeitdetektivische“ Interpretation der Philippischen Reden Ciceros (44/43 v. Chr.)

Die dritte Folge der zweiten Staffel behandelt die historischen Monate vom Frühsommer bis zum Spätherbst des Jahres 44 v. Chr., eine Zeit der entscheidenden Weichenstellungen für die Neuordnung der politischen Verhältnisse Roms nach Caesars Ermordung.14 In dieser Wendezeit darf auch der glanzvollste Redner Roms, Marcus Tullius Cicero, der in der ersten Staffel marginalisiert blieb, eine Schlüsselrolle spielen. Gleichwohl fällt auf, dass in Rome ein gegenläufiges Geschichtsbild zu der cicerozentrischen Betrachtungsweise vorliegt, die Robert Harris mit seinen bislang zwei Romanen etabliert hat.15 Die Fäden werden größtenteils nicht vom ExKonsul gezogen, sondern von C. Octavius und Marc Anton und deren Umfeld. Umso bemerkenswerter ist die Situation zu Beginn der dritten Episode: Hier sucht Marc Anton den elder statesman Cicero, mit dem er zu dieser Zeit noch eine politische Verbundenheit − die Römer nannten das „Freundschaft“ (amicitia) − pflegt, zur Unterstützung seines Planes eines Provinztausches zu gewinnen. Statt des ihm für die Zeit seines Prokonsulates zugewiesenen Makedoniens strebt Marc Anton für das Jahr 43 nun eine Statthalterschaft in beiden Gallien an. Er beabsichtigt, auf diese Weise nachhaltiger auf die große Politik Einfluss nehmen zu können. In einem vertraulichen Gespräch erwähnt Cicero zunächst, dass der junge Octavius eine eigene Streitmacht aufgestellt habe. Antonius entgegnet barsch und wegwerfend: „Caesar kann mich mal.“ Als Antonius daraufhin Cicero seine Absicht eines Provinztausches eröffnet, äußert dieser offen seine Bedenken, ein solcher Schritt könnte Antonius in den Augen der Senatoren zu einem zweiten Gaius Iulius Caesar und damit zu einer Gefahr für die Republik werden lassen. Er müsse ihm daher seine Unterstützung versagen. Als Antonius daraufhin mit Verweis auf Crassus’ qualvollen Tod kaum verhohlene Drohungen gegen Ciceros Wohlergehen äußert, erweckt dieser den Anschein, er würde sich dem Druck des Konsuls beugen. Diese gut vierminütige Szene (17:50 bis 22:13), die im Sinne des realistischen historischen Films16 wichtige Probleme und Ereignisse des Umbruchsjahres 44 behandelt, eignet sich bestens als Einstieg in eine Erarbeitung der Philippischen

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Zum Attentat an den Iden des März, seiner Vorgeschichte, seinen Wirkungen und seiner Rezeption vgl. konzise Zecchini 2005 (mit weiterer Lit.). Zu deren enormem didaktischen Potenzial vgl. den Beitrag von Bernek in diesem Band. Diese Kategorisierung erfolgt in Analogie zu derjenigen, die Nünning 1995 für den historischen Roman vorgenommen hat, vgl. dazu Janka 2011.

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Reden Ciceros, etwa im Rahmen der Sequenz „Rede und Brief: Kommunikation der Antike“ in der zehnten Jahrgangsstufe des bayerischen Lehrplans für den lateinischen Lektüreunterricht. Die im Redecorpus omnipräsente Konfrontation zwischen dem Redner und dem (künftigen) Triumvirn wird durch den Filmausschnitt in die Zeit kurz vor dem endgültigen Bruch zwischen beiden zurückverfolgt. Dies ermöglicht eine kausalanalytische Betrachtung und problemorientierte Zugangsweise zum Lektüregegenstand. Als sachliche Hinführung zur historischen Situation im Vorfeld von Ciceros Philippischen Reden bietet sich ein Vergleich der Darstellung in der Fernsehserie mit derjenigen in einer aktuellen althistorischen Abhandlung an, die alle verfügbaren Primärquellen auswertet und die wissenschaftliche Diskussion über den einschlägigen Zeitraum weiterzuführen bestrebt ist. Das leistet etwa folgender Auszug aus der Dissertation von Ulrich Gotter zu dieser Umbruchszeit: „Um den 20. Mai herum war Antonius aus Kampanien zurückgekehrt, wo er seit Ende April Veteranen angesiedelt hatte. Mit ihm zogen feldmarschmäßig organisierte und ausgerüstete Truppenteile in Rom ein und verunsicherten Optimaten und Gemäßigte. Am 1. Juni wagten weder die Verschwörer noch Cicero noch die designierten Konsuln für das Jahr 43, in den Senat zu gehen. Dennoch wurden dort keine wichtigen Beschlüsse gefaßt. Was Antonius eigentlich zur Beratung vorlegen wollte, brachte er vor die Volksversammlungen. Am 2. oder 3. Juni ließ er beantragen, ihm statt Makedonien die Statthalterschaften von Gallia Cisalpina und Ultima zu übertragen. Diese lex de permutatione provinciarum war mit einer Verlängerung von Antonius’ und Dolabellas prokonsularischen Amtszeiten auf fünf Jahre verbunden und erlaubte Antonius überdies, seine makedonischen Legionen nach 17 Gallien zu überführen.“

Ein Abgleich der historischen Quellenlage mit der filmischen Aufbereitung vermag zu verdeutlichen, dass die Einschüchterung Ciceros und anderer potentieller Gegner seiner Pläne durch Antonius im Film durch die Fiktion eines persönlichen Gespräches zwischen Cicero und Antonius zugespitzt und dramatisiert wird. Die Entfremdung der einstigen politischen amici, die sich in der Realität über viele Monate hinzog, bis im September 44 der Bruch zwischen beiden erfolgt, wird im Film zu einer krisenhaften Dialogszene kondensiert. Als authentische Quelle aus Ciceros privater Feder, die den Geist der Wochen im Mai und Juni 44 erahnen lässt, könnte man folgenden Briefauszug an Ciceros Vertrauten und Verleger Atticus heranziehen: Cicero, Briefe an Atticus 15,5,2 (vom 28. Mai 44 aus Tusculum). Der Text wird hier synoptisch im lateinischen Original sowie dessen wort- und strukturgetreuer deutscher Übersetzung geboten:18 17 18

Gotter 1996, 53–56 („Umschwung und Radikalisierung“), hier 53. Sämtliche deutsche Übersetzungen antiker Texte in diesem Beitrag stammen vom Verfasser und sind eigens für dieses didaktische Konzept erstellt worden. Sie sollen durch möglichst weitgehende Wort-, Struktur- und Formäquivalenz synoptisches Arbeiten bei der unterrichtlichen Texterschließung erleichtern und befördern.

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Vt tu de provincia Bruti et Cassi per senatus consultum, ita scribit et Balbus et *** Hirtius quidem se afuturum (etenim iam in Tusculano est) mihique ut absim vehementer auctor est, ille quidem periculi causa, quod sibi etiam fuisse dicit; ego autem, etiam ut nullum periculum sit, tantum abest ut Antoni suspicionem fugere curem ne videar eius secundis rebus non delectari ut mihi causa ea sit cur Romam venire nolim ne illum videam. „Wie du über den die Provinz von Brutus und Cassius betreffenden Senatsbeschluss, so schreibt auch Balbus und (? …). Hirtius jedenfalls werde sich fernhalten (denn er befindet sich ja bereits in seinem Gut in Tusculum) und hat auch mir das Fernbleiben mit allem Nachdruck empfohlen, er freilich um der Gefährdung willen, die auch für ihn bestanden habe, wie er sagt; mir hingegen, selbst wenn ich nicht in Gefahr schweben sollte, liegt so wenig daran, bei Antonius keinen Verdacht zu erregen und nicht den Eindruck zu erwecken, über seine Erfolge nicht erfreut zu sein, dass ich aus eben dem Grund nicht nach Rom kommen möchte, um diese Person (Antonius) nicht zu sehen.“

Im persönlichen Brief erwähnt Cicero die Gefahr (periculum), die von Antonius und seinem Umfeld für kritische Senatoren wie ihn und den designierten Konsul Hirtius ausgehen könnte. Er gibt sich freilich mit einem für ihn typischen Understatement so souverän, dass er seine persönliche Abneigung gegen eine Begegnung mit Antonius noch über mögliche Rücksichten auf seine eigene Sicherheit und Unversehrtheit stellt. Und eben dieses Motiv, dass Cicero einer direkten Konfrontation mit dem sich als Feind der res publica entpuppenden Antonius aus dem Weg geht, wird in Rome am Ende der bereits erwähnten Episode aufgegriffen. Der dortigen Fiktion nach lässt sich Cicero für die in Sachen des Provinztausches entscheidende Senatssitzung wegen Unpässlichkeit entschuldigen und sein Votum stattdessen vor dem versammelten Gremium unter dem Vorsitz des Konsuls Antonius verlesen. Der Wortlaut dieser Rede, die in der Serie als überraschende Kriegserklärung des zunächst von Antonius für seine Interessen umworbenen und dann bedrohten elder statesman inszeniert wird, ist hier wiedergegeben (45:22 bis 47:21): „Dies sind die Worte von Marcus Tullius Cicero. Bereits als junger Mann habe ich unseren Staat verteidigt, als alter Mann sollte ich das nicht aufgeben. Ich bin Marc Anton aufrichtig dankbar dafür, dass er mir großzügig das vielversprechendste Thema verschafft hat (Antonius lächelt noch gönnerhaft). Ich spreche dich direkt an, Antonius. Bitte hör zu, als wärst du (Vorleser stockt und wiederholt), als wärst du … (Antonius zum Vorleser: Lies weiter!) … Bitte hör zu, als wärst du nüchtern und intelligent und nicht ein versoffenes, ewig lüsternes Wrack. (Einige Senatoren erheben sich und gehen). Du hast dir sicher einige Verdienste erworben. Kaum einer kann sich brüsten, dass er schon bankrott war, bevor er überhaupt volljährig wurde. (Stimme des Vorlesers zittert, während die Wut in Antonius aufsteigt). Du brachtest über uns Krieg, Pest und Zerstörung. Du bist Roms Helena von Troja. Aber schon immer, schon immer (Antonius: Weiter! … Jetzt lies schon!) hat dir die Rolle als Frau am besten gestanden. (Antonius springt auf und brüllt: „Schluss!“,

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entreißt dem Vorleser die Rolle und versetzt ihm daraufhin tödliche Schläge. Die Sitzreihen des Senates haben sich vollständig geleert.)

In dieser Kurzfassung eines Redebeginns (des exordium nach den in der antiken Rhetorik klassifizierten partes orationis) werden filmtypisch, aber unterrichtsuntypisch auch die Publikumsreaktionen auf die sorgfältig dramatisierte rednerische Aktion eingeblendet und inszeniert. Allein dieser Befund kann die Interpretation von Ciceros Philippischen Reden gegen Antonius im Unterricht beflügeln. Anhand von schülergerechten Materialien, die den Inhalt der insgesamt 14 Philippischen Reden Ciceros (aus der Zeitspanne vom 02.09.44 bis 21.04.43) mit den historischen Ereignissen in Beziehung setzen,19 sollen die Lernenden unter Anleitung der Lehrkraft die Strategie der filmischen Komprimierung nachvollziehen: Die heftige Attacke, die der Ex-Konsul Cicero als personifiziertes Gewissen der res publica gegen den als moralisch verworfenen und politisch gewissenlosen Egoisten gebrandmarkten Antonius formuliert, bringt die Kernaussagen der einlässlichen zweiten Philippischen Rede auf einen bündigen Punkt. Eine Pointe kann ein fachkundiger Rezipient darin erkennen, dass der Beginn der verlesenen Rede einen markanten Satz aus dem Schlussteil (der peroratio) der zweiten Philippika wörtlich zitiert, vgl. Cic. Phil. 2,118 defendi rem publicam adulescens, non deseram senex (Verteidigt habe ich unser Gemeinwesen als jüngerer Mann, nicht werde ich es im Stich lassen im höheren Alter). Dass die Autoren sodann insbesondere die 71 Paragraphen der confirmatio, in der Cicero Antonius’ gesamte Existenz diskreditiert, verdichtet haben, können die Schülerinnen und Schüler etwa anhand der folgenden Übersicht zu Inhalt und Struktur dieser Rede ermitteln, aus der sie sich Schlüsselpassagen entweder zur synoptisch-zweisprachigen oder akribischen einsprachigen Lektüre auswählen sollen. Die Anspielungen auf Antonius’ frühen Bankrott, seine Trunksucht und die Übernahme der Frauenrolle in sexuellen Beziehungen zu Männern, mit denen Cicero nach dem Muster der antiken Invektive entscheidende Facetten der persönlichen virtus seines Gegners durch Entlarvung von normwidrigem Gebaren untergräbt, beziehen sich auf die §§ 44–50a, die Antonius’ frühe Jahre und Karrierebeginn fokussieren. §§ 1–2: EXORDIUM: C.s Kampf gegen Staatsfeinde (seit 63 v. Chr.) als persönliches Schicksal

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Gut geeignet ist etwa die tabellarische Auflistung bei Mühl 1998, 12f. sowie seine Darstellung des politischen Hintergrundes S. 15–17. Materialien zum geschichtlichen Umfeld der Reden bieten auch die Ausgaben von Olbrich 1993, Kolwe 2004 und Kliemt 2008.

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§§ 3–114 TRACTATIO §§3–43 REFUTATIO §§ 3–10a Widerlegung von Antonius’ Anschuldigungen, Cicero habe das gegenseitige Freundschaftsverhältnis zerstört: § 3 Ciceros gerichtliches Auftreten gegen eine dem A. nahestehende Person § 4 Antonius’ Unterstützung bei Ciceros Kandidatur für das Augurenamt (bestritten) §§ 5–7a Ciceros Dankbarkeit für Antonius’ beneficium im Jahr 48 (Ciceros Rückkehr nach Italien) §§ 7b–10a Antonius’ Vertrauensbruch: Verlesung eines Privatbriefes von C. im Senat § 10b PARTITIO: C. will sich zunächst verteidigen, um Antonius sodann anzugreifen. §§ 11–42a CICEROS VERTEIDIGUNG gegen Anklagen, die seine politische Karriere betreffen §§ 11–36 Hauptanklagepunkte §§ 11–20 Ciceros Konsulat: Abwehr des Vorwurfs der illegalen Gewaltanwendung §§ 21–2 Anstiftung zum Mord an Clodius bestritten §§ 23–4 Abweisung des Vorwurfs der Verantwortlichkeit für den Bruch zwischen Caesar und Pompeius und damit für den Ausbruch des Bürgerkrieges §§ 25–36 Ermordung Caesars: Cicero bestreitet Beteiligung am Attentat; gleichwohl ist es für Cicero eine Ehre, mit den Tyrannenmördern und Befreiern Roms in Verbindung gebracht zu werden; den Tod des Diktators herbeigesehnt zu haben, ist kein Verbrechen, wie auch Antonius’ einstiges Verhalten belegt. §§ 37–42a Nebenanklagepunkte §§ 37–40a C.s ungebührliches Verhalten im Heereslager des Pompeius während des Bürgerkrieges (Widersprüchlichkeit der Vorwürfe) §§ 40b–42a Mangel an Erbschaften (als Zeichen der Geringschätzung Ciceros) §§ 42b–43 TRANSITIO/ÜBERLEITUNG zur Invektive: Antonius’ tagelanges Training mit einem Rhetorik-coach (rhetor) war zwar vergebliche Liebesmüh’, kam Rom aber teuer zu stehen. §§ 44–114 CONFIRMATIO: ATTACKE GEGEN ANTONIUS’ EXISTENZ §§ 44–50a: Die frühen Jahre: §§ 44–47 Skandalöses Privatleben: Bankrott, Affäre mit C. Scribonius Curio (Volkstribun 50)

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§§ 48–50a Eintritt ins öffentliche Leben: Unterstützung für P. Clodius (58), Militärdienst unter A. Gabinius (Consul 58); „illegale“ Quästur unter Caesar in Gallien §§ 50b–79 Antonius’ politische Karriere während des Bürgerkrieges: §§ 50b–55a Antonius’ Tribunenamt (49 v. Chr.): Verantwortung für den Ausbruch des Bürgerkrieges (bes. durch die Flucht in Caesars Lager) §§ 55b–58 Verwaltung Italiens während Caesars Abwesenheit im Jahr 49: Antonius streift mit sittenlosem Gefolge (um die Mimin Cytheris) durch Italien. §§ 59–63 Nach Pharsalos nimmt Antonius sein korruptes Regiment in Italien wieder auf, nunmehr als Caesars magister equitum (i. J. 48–47), der sich einmal in aller Öffentlichkeit übergibt. §§ 64–70 Nach Caesars Rückkehr (47) kauft A. die konfiszierten Güter des Pompeius auf und verwandelt dessen Haus in eine Lasterhöhle. §§ 71–4 Streit zwischen Caesar und Antonius wegen dessen Beutegier; angeblich stiftet Antonius einen Attentatsversuch gegen Caesar an. §§ 75–78a Antonius’ übereilte Rückkehr vom Spanienfeldzug in der Verkleidung eines Boten (zu seiner Frau Fulvia) §§ 78b–79 Aussöhnung mit Caesar: A. erhält Konsulat als Lohn, der Dolabella entrissen wird. §§ 80–114 Antonius’ Konsulat (44 v. Chr.) §§ 80–84a Widerstand gegen Dolabellas Wahl zum Suffektkonsul (u.a. durch Missbrauch der Auspizien); am 17.3.44 dagegen Anerkennung Dolabellas als collega §§ 84b–87 Skandalöses Verhalten des A. an den Lupercalia (15.02.44): A. trägt Caesar das Diadem als Symbol der Königsmacht an, dessen Zurückweisung vom Volk bejubelt wird. §§ 88–89a Idus Martiae: Antonius’ Flucht nach Caesars Ermordung §§ 89b–91 Widersprüchliches Verhalten nach dem Tyrannenmord: Frieden im Senat am 17.03.44, aber Aufstachelung des Mobs bei Caesars Bestattung, dann wieder Abschaffung der dictatura auf ewig §§ 92–100a Antonius (und Fulvia) machen Geschäfte mit gefälschten acta Caesaris, u.a. bzgl. Landzuweisungen (Beispiel: Deiotarus) und Rückberufungen aus dem Exil §§ 100b–105 Landverteilungen und Ansätze zur (illegalen) Koloniegründung in Kampanien §§ 106–108 Antonius’ Rückkehr (unter Drohungen gegen Anhänger der Caesarmörder) droht Rom in bewaffnete Gewalt und Chaos zu stürzen. §§ 109–111 Antonius’ Gier setzt sich auch über Caesars Gesetzgebung hinweg. §§ 112–114 Der wahre Ruhm der Tyrannenmörder wird Antonius’ Unterdrückungsregime überwinden.

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§§ 115–119 PERORATIO Appell an Antonius, sich das mahnende Beispiel des Tyrannenmordes an Caesar vor Augen zu halten; Cicero werde ohne Todesfurcht die res publica verteidigen. Nach gängiger Forschungsmeinung handelt es sich bei dieser umfangreichsten und heftigsten Abrechnung mit Antonius um kein überarbeitetes Manuskript oder gar Protokoll einer tatsächlich gehaltenen Rede Ciceros. Es liegt wohl eher ein ausgefeiltes Pamphlet vor, das freilich realistisch als Senatsrede (vom Oktober 44) stilisiert ist. Mit diesem Vernichtungsschlag reagiert Cicero auf Antonius’ Generalabrechnung mit seiner Person in einer Senatsrede vom 19.09.44 sowie in Reden vor Senat und Volk am 02.10.44.20 Nach der mehrheitlichen Auffassung der Forschung hat Cicero seine zweite Philippika nicht vor dem 05.11.44, wahrscheinlich erst um den 20.12.44, dem Datum der wirklich im Senat gehaltenen dritten Philippika, veröffentlicht.21 Diese Publikationsform22 haben die Autoren von Rome offensichtlich mit dem oben belegten Unwillen Ciceros, Antonius persönlich im Senat zu begegnen, kombiniert und aus diesen Anhaltspunkten eine ‒ historisch nicht bezeugte und überdies der üblichen antiken Praxis öffentlicher Rede widersprechende ‒ Verlesung einer Cicerorede im Senat fingiert. Will man in der Klasse anhand von Ciceros Philippiken den historisch greifbaren Ablauf seines Zerwürfnisses mit Antonius rekonstruieren, so erscheint es ratsam, auch einige Passagen aus der ersten Philippika heranzuziehen. In dieser echten Senatsrede vom 02.09.44 setzt sich Cicero gegen die ihm am Vortag durch Antonius zugefügte widerrechtliche Herabwürdigung (iniuria) vor demselben Gremium zur Wehr. Der Konsul hatte Cicero wegen dessen Nichterscheinens in Abwesenheit beschimpft und ihm damit gedroht, sein Haus abreißen zu lassen, vgl. Cic. Phil. 1,11 pauca querar de hesterna M. Antoni iniuria: cui sum amicus. … quid tandem erat causae cur die hesterno in senatum tam acerbe cogerer? (Kurz möchte ich Klage führen wegen der gestern von Marcus Antonius begangenen Rechtsverletzung: Mit ihm bin ich als politischer Freund verbunden … Welchen Grund hätte es denn dafür geben können, mich am gestrigen Tage zur Sitzungsteil20

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Dort hatte Antonius Cicero als Hintermann der Caesarmörder geschmäht und als Drahtzieher der Verschwörung vom 15.03.44 bezichtigt, vgl. etwa Cic. Ad Fam. 12,2,1; 12,3,2. Cicero selbst rekapituliert diese Ereignisfolge in der fünften Philippika vom Neujahrstag 43 v. Chr.; vgl. Cic. Phil. 5, 19–20. So Ramsey 2003, 158: „In contrast with the First Philippic, which is a deliberative speech that sought to persuade the Senate and Antony to adopt a given set of recommendations presented in the speech …, the Second Philippic is epideictic (display) and belongs to the genus demonstrativum. The goal of such an oration is primarily to impress upon the audience a certain point of view, usually one involving the praise or blame of a particular figure (Arist. Rhet. 1358b)“. Vgl. How/Clark 1962, 465f.: „Cicero … employed himself in the composition of his reply to Antony, that most scathing and eloquent of political pamphlets, the second Philippic. This was sent to Atticus for criticism late in October …, but cannot have been published before Antony’s final departure to Gaul (Nov. 29)“.

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nahme in so brutaler Weise zu zwingen?) und Cic. Phil. 1,12 at ille vobis audientibus cum fabris se domum meam venturum esse dixit. nimis iracunde hoc quidem et valde intemperanter (Doch dieser Mensch hat vor euch als Ohrenzeugen mit einem Abrisstrupp persönlich zu mir nach Hause zu kommen angekündigt: Übermäßig wutschnaubend das und ausgesprochen maßlos!). Etwas später weist Cicero ironisch darauf hin, dass Antonius selbst nicht zugegen ist, vgl. Cic. Phil. 1,16 vellem adesset Antonius … sed, ut opinor, licet ei minus valere, quod mihi heri per illum non licuit (Ich wollte, wir hätten unter uns den Antonius … Doch meiner Ansicht nach darf er unpässlich sein, was ich gestern seiner Ansicht nach nicht durfte.) Im ersten Teil dieser Rede erörtert Cicero vor dem Senat knapp die Erwägungen, die ihn dazu veranlasst haben, kurz nach Caesars Ermordung Rom am 07.04.44 zu verlassen, um eine (nicht zustande gekommene) Studienreise nach Griechenland anzutreten23 und dann gerade Ende August aus Süditalien wieder in die Hauptstadt zurückzukehren. In diesem Kontext rekapituliert er die schwankende Entwicklung von Antonius’ machtpolitischer Taktik. Nach einigen Monaten im (scheinbaren) Einklang mit der republikanischen Verfassung sei mit der Senatssitzung vom 01.06.44 plötzlich alles anders gewesen, vgl. Cic. Phil. 1,6 Ecce enim Kalendis Iuniis, quibus ut adessemus edixerant, mutata omnia: nihil per senatum, multa et magna per populum et absente populo et invito. consules designati negabant se audere in senatum venire; … quae cum audire mallem quam videre haberemque ius legationis liberum, ea mente discessi ut adessem Kalendis Ianuariis, quod initium senatus cogendi fore videbatur. „Denn wohlgemerkt am ersten Juni, für den sie (die Konsuln) unsere Anwesenheit angeordnet hatten, war alles anders: Nichts durch Senatsentscheid, vieles Bedeutende durch Volksentscheid trotz Abwesenheit des Volkes und gegen seinen Willen. Die Konsuln des nächsten Jahres bekannten, sie würden es nicht wagen, in den Senat zu kommen. … Da mir bei solchen Zuständen das Hörensagen lieber war als der Augenschein und mir von Rechts wegen eine Gesandtschaft ohne Amtspflichten zustand, bin ich in der Absicht fortgegangen, wieder anwesend zu sein am 1. Januar (43), den ich als Anfang einer neuen Sitzungsperiode des Senates erachtete.“

Dieser knappe Textauszug, in dem Cicero merklich vor Wissenden spricht und auf seinem Publikum Bekanntes anspielt, bedarf einer genauen realienkundlichen resp. historischen Interpretation. Eine derart akzentuierte Lektüre erhellt nämlich, dass es sich bei der Senatssitzung vom 01.06.44 um eben jene Versammlung gehandelt hat, die den Autoren von Rome das Szenario für die fiktive Verlesung von Ciceros Invektive gegen Antonius bot. Zu diesem Verständnis können die Lernenden indes nur dann gelangen, wenn sie mit geeignetem Kommentarmaterial ver23

Nach längeren Aufenthalten in seinen campanischen Landgütern kehrt Cicero Ende Mai in seinen Landsitz in Tusculum zurück, wo er den Juni 44 verbringt. Erst am 30. Juni verlässt er auch das Umland von Rom für volle zwei Monate; vgl. zu den Daten und Belegen How/Clark 1962, 461–464.

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traut gemacht werden, das zu gewissermaßen „zeitdetektivischer“ Spürarbeit anregen kann. Folgende Hintergrundinformationen sind dazu entscheidend: Die Konsuln Antonius und Dolabella hatten für den 01.06.44 bereits Ende April vollzähliges Erscheinen des Senates angeordnet, da Antonius sich von dieser Vollversammlung den beabsichtigten Provinztausch absegnen lassen wollte. Doch weil eine bedeutende Anzahl der Vorgeladenen dieser Anordnung aus unterschiedlichen Gründen nicht Folge leistete, wurde bei der Sitzung das Quorum verfehlt.24 Auf diesen Widerstand reagierte Antonius prompt mit Umgehung des Senatsvotums: Er ließ seine lex de permutatione provinciarum von einer durch ihn manipulierten Volksversammlung (comitia) verabschieden. Dieser spricht Cicero nun durch den prägnanten Ablativus absolutus et absente populo et invito, der eine paradoxe Antithese zu per populum konstituiert, jede Befugnis zu einem solchen Beschluss ab. Denn das eigentliche Volk von Rom sei durch bewaffnete Kräfte und belagerungsähnliche Straßensperren am Betreten des Forums gehindert worden, sodass es seinen gegen Antonius’ Machtzuwachs gerichteten Willen gar nicht bekunden konnte. Cicero präzisiert dies in seiner fünften Philippika, die er am Neujahrstag des Jahres 43 vor dem Senat hielt, folgendermaßen, vgl. Cic. Phil. 5,9–10 sic vero erant disposita praesidia ut quo modo hostium aditus urbe prohibentur castellis et operibus, ita ab ingressione fori populum tribunosque plebis propulsari videres. quibus de causis eas leges quas M. Antonius tulisse dicitur omnis censeo per vim et contra auspicia latas eisque legibus populum non teneri (So jedoch erfolgte die Verteilung von Befestigungsanlagen, dass auf die gleiche Weise wie Feinden der Zugang zur Stadt verwehrt wird durch Barrikaden und Wachtposten, der Zutritt zum Forum dem Volk und den Tribunen des Volkes gewaltsam versperrt wurde, wie zu sehen war. Aus diesen Gründen sind die Gesetzesanträge, die Marcus Antonius eingebracht haben soll, allesamt meiner Rechtsauffassung nach unter Gewaltanwendung und Missachtung der Vorzeichen eingebracht, und durch derartige Gesetzesanträge ist unser Volk nicht gebunden).25 Für einen Vergleich mit der Szene aus Rome ist aufschlussreich, dass der belagerungsähnliche Zustand, den Antonius in der Hauptstadt herbeigeführt hat, dort nicht szenisch umgesetzt wird. Dass die Senatoren den Sitzungssaal verlassen, bis Antonius und der unselige Vorleser allein zurückbleiben, interpretiert den von Cicero erwähnten spärlichen Besuch der Sitzung vom 01.06.44 auf eigene Weise: Während die überwiegende Mehrheit in der Realität von vorneherein fernblieb, um ein Zeichen zu setzen und sich Antonius’ Druckausübung erst gar nicht auszuliefern, bevorzugt das Script des Films eine forciertere 24

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Vgl. ausführlich Ramsey 2003, 94 zur Stelle: „The sparse attendance at this meeting effectively blocked Antony from seeking his appointment to the two Gauls through the Senate … Senators stayed away out of fear for their personal safety …, or perhaps to frustrate Antony’s plans by denying him a quorum… Some may simply have regarded their opposition to Antony as doomed to failure“. Vgl. dazu den Stellenkommentar von Manuwald 2007, 583–585, bes. 585: „A general abolition of all laws of Antonius is mentioned in later Philippics, where author and time of the decree remain open. … Antonius’ laws seem to have been declared invalid by the Senate soon before Cicero delivered Philippic Ten … in early to mid-February 43“.

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Dynamik: Eingeschüchtert von Antonius’ jähzornigem Wüten, das ihn dort sogar zur Tötung des Vorlesers treibt, ergreifen die Senatoren die Flucht. In den Sitzreihen des Verfassungsorganes der res publica herrscht schließlich gähnende Leere, die als Symbol für das bevorstehende Ende der Republik zu deuten ist. Zu Antonius’ Ausrasten würde Ciceros oben zitierter Kommentar in Phil. 1,12 bestens passen: nimis iracunde hoc quidem et valde intemperanter! Im Film folgt unmittelbar auf die Senatssitzung als Schluss der Episode eine nur gut einminütige Szenenfolge zur Abrundung, die sogar einen Zeitsprung enthält (47:22 bis 48:33): Cicero hat offenkundig das heiße Pflaster Roms hinter sich gelassen. Im Reisewagen wendet er sich an seinen Sekretär Tiro: „Schreib einen Brief. An Octavius (korrigiert sich) …, Caesar, teile ihm mit, ich habe Antonius als die verkommene Ratte dargestellt, die er ist. Zu diesem Zeitpunkt wäre die Republik wirklich dankbar, Octavius’ Hilfsangebot zu akzeptieren. Wir brauchen seine Streitmacht sofort.“ (Der Wagen wird weiter getragen.) (Es folgt eine Einblendung auf schwarzem Bildschirm: „Drei Monate später“) Ausrufer in Rom: „In Gallien setzt der abtrünnige Marc Anton die Belagerung der Stadt Mutina fort. Aber die Rettung ist nahe. Der Senat schickt eine Streitmacht, angeführt von den Generälen Hirtius und Pansa. Der noble Patriot, der junge Caesar Octavius, stößt zu unseren Generälen mit seinen eigenen Legionen zur Vernichtung der Rebellen“.

Einen Abgleich dieser Sequenz mit den historisch dokumentierten Fakten können die Lernenden auch hier anhand der Arbeit mit einer Übersichtstabelle vornehmen.26 So lässt sich ermitteln, dass der Film hier auf die Dreimonatsspanne zwischen September und Dezember 44 v. Chr. rekurriert. Während Antonius Rom am 9.10.44 verlässt, um in Süditalien militärische Kräfte zu sammeln und Mitte November mit einer schwer bewaffneten Eskorte in die Hauptstadt zurückzukehren, wendet sich sein Intimfeind Cicero dem jungen Octavius zu, der bereits im Mai 44 nach Rom gekommen war, um das Erbe seines Großonkels und Adoptivvaters Gaius Iulius Caesar anzutreten. Der in der Realität längere Prozess der Annäherung Ciceros an Octavius wird im Film auf das Briefdiktat zugespitzt. Historisch ist dieser Vorgang vor allem in persönlichen Briefen Ciceros an Atticus greifbar, in denen über den aufstrebenden, aber zunächst krass unterschätzten Jüngling (puer) reflektiert wird. Ein direkter Brief Ciceros an Octavius ist im Corpus der Briefe an Vertraute (Epistulae ad Familiares) dagegen nicht überliefert. Im Rahmen der Philippiken präsentiert Cicero in seiner überaus wirkungsreichen dritten Philippischen Rede (20.12.44) dem Senat (und am selben Tag in der vierten Rede dem Volk) das Ergebnis dieser neuen Verbindung zwischen Senatspartei und Caesarerbe: Der puer wird zum Retter der res publica verklärt, da er zu beherztem militä-

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Vgl. wiederum Mühl 1998, 12f.

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rischen Vorgehen gegen Antonius bereit und fähig erscheint. Dieser ist mittlerweile mit seiner Streitmacht nach Norditalien gezogen und belagert dort Decimus Iunius Brutus Albinus, einen langjährigen hohen Offizier Caesars, der sich aber der Gruppe der Verschwörer angeschlossen hatte, in Mutina (Modena). Als Paralleltext zur Filmsequenz empfiehlt sich eine Schlüsselstelle aus der dritten Philippika, vgl. Cic. Phil. 3,3–5 (m.A.),27 wo Octavius erstmals von Cicero erwähnt wird, und zwar als Gaius Caesar: (3) C. Caesar adulescens, paene potius puer, incredibili ac divina quadam mente atque virtute, cum maxime furor arderet Antoni cumque eius a Brundisio crudelis et pestifer reditus timeretur, nec postulantibus nec cogitantibus, ne optantibus quidem nobis, quia non posse fieri videbatur, firmissimum exercitum ex invicto genere veteranorum militum comparavit patrimoniumque suum effudit: quamquam non sum usus eo verbo quo debui; non enim effudit: in salute rei publicae conlocavit. … (4) Hac ille crudelitate imbutus, cum multo bonis omnibus veniret iratior quam illis fuerat quos trucidarat, cui tandem nostrum aut cui omnino bono pepercisset? (5) Qua peste privato consilio rem publicam ‒ neque enim fieri potuit aliter ‒ Caesar liberavit: qui nisi in hac re publica natus esset, rem publicam scelere Antoni nullam haberemus. Sic enim perspicio, sic iudico, nisi unus adulescens illius furentis impetus crudelissimosque conatus cohibuisset, rem publicam funditus interituram fuisse. Cui quidem hodierno die, patres conscripti ‒ nunc enim primum ita convenimus ut illius beneficio possemus ea quae sentiremus libere dicere ‒ tribuenda est auctoritas, ut rem publicam non modo a se susceptam sed etiam a nobis commendatam possit defendere. „(3) Gaius Caesar hat als Jugendlicher, vielmehr noch als Junge, mit unvorstellbarer, ja übermenschlicher Gesinnung und Tatkraft, als gerade am heftigsten der Wahnsinn entbrannte bei Antonius und als von Brundisium her seine blutrünstige und seuchenschwangere Rückkehr Panik auslöste, ohne dass Forderungen und Planungen oder überhaupt Wunschvorstellungen bei uns vorhanden gewesen wären, weil es unmöglich zu sein schien, eine äußerst robuste Heeresmacht aus der unbesiegbaren Gruppe der altgedienten Soldaten zustande gebracht und das Erbe seines Vaters verausgabt; indessen habe ich hier nicht das Wort gewählt, das am Platze wäre; er hat es nämlich nicht verausgabt, sondern in das Gemeinwohl investiert. … (4) Als dieser Mensch (Antonius), von dieser Blutrünstigkeit durchsetzt, mit noch viel blindwütigerem Hass auf alle Anständigen ankam als er ihn gegen die Leute gehegt hatte, die er niedergemäht hatte, welchem von uns oder welchem Anständigen überhaupt hätte er denn da Schonung gewährt? (5) Von dieser Seuche hat durch persönlichen Entschluss den Staat ‒ es konnte nämlich unmöglich anders geschehen ‒ der (junge) Caesar befreit: Wäre er nicht in

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Diese Passage ist in der Ausgabe von Kliemt 2008, 20f. für den Unterricht aufbereitet, allerdings recht spärlich kommentiert und lediglich mit fünf konventionellen Erschließungsfragen zum Inhalt und historischen Hintergrund des Textes versehen. Immerhin wird der Anfang des Tatenberichts von Kaiser Augustus (RGDA 1) sinnvollerweise als Vergleichstext herangezogen, um dessen Konvergenz mit Ciceros Bild des jungen Octavius als Retter des Vaterlandes zu unterstreichen.

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diesem Staat geboren, dann hätte sich unser Staat durch das Verbrechertum des Antonius zu Nichts verflüchtigt. Meiner Einsicht, meinem Urteil zufolge wäre nämlich, hätte nicht ein einziger Jugendlicher den von diesem Wahnwitzigen ausgehenden Anschlägen und seinen blutrünstigsten Unternehmungen Einhalt geboten, unser Gemeinwesen von Grund auf vernichtet worden. Ihm nun ist am heutigen Tag, ihr Väter dieser Versammlung ‒ jetzt nämlich sind wir erstmals unter solchen Umständen zusammengekommen, dass wir durch seinen gemeinnützigen Einsatz in der Lage sind, unsere Ansichten freimütig auszusprechen ‒, zuzuerkennen die Befugnis, dass er den Staat nicht nur als ein in seine Obhut genommenes, sondern auch als von uns anvertrautes Gut verteidigen kann.“

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Der „Heldentod“ des Republikaners Cicero in Film (Rome, 2. Staffel, 6. Episode Philippi) und Literatur: Respice finem als Baustein eines Lebensbildes des größten Redners Roms

Ciceros Zweckbündnis mit dem jungen Erben des Diktators Caesar hatte nur ein dreiviertel Jahr Bestand. Wie die Lernenden der Übersichtstabelle entnehmen können,28 wurde Antonius zwar am 21.04.43 bei Mutina (Modena) von Decimus Brutus besiegt und am 26.04.43 vom Senat zum Staatsfeind (hostis) erklärt. Da aber die designierten Consuln Hirtius und Pansa bei dieser Schlacht gefallen waren, entstand ein Machtvakuum, das Antonius während des Sommers für sich zu nutzen verstand. Ende Juli wird Decimus Brutus durch die vereinigten Heere von Antonius und Lepidus isoliert und stirbt auf der Flucht. Daraufhin beginnt die Annäherung des Octavius, der im August durch militärische Druckausübung den Senat dazu nötigt, ihn mit Pedius zum Consul zu designieren, an Antonius. Ende Oktober oder Anfang November 43 kommt es zu einer Konferenz am Fluss Lavinius (zwischen Bononia/Bologna und Mutina), bei der Octavius mit Antonius und Lepidus den „Pakt von Bononia“, das sog. „zweite Triumvirat“, besiegelt. Ende November ziehen die Triumvirn in Rom ein und lassen sich durch die Initiative eines Tribunen diktatorische Machtbefugnisse für die Dauer von fünf Jahren verleihen. Auf massives Drängen des Antonius hin werden Proskriptionslisten nach dem Vorbild Sullas erstellt, auf denen Ciceros Name ganz oben steht. Cicero, der seine letzte Philippische Rede am 21.04.43 gehalten hatte, ist schon seit mehreren Monaten politisch kaltgestellt. Wie sich die tödliche Schlinge des Auftragsmordes um seinen Hals zieht, wird in der sechsten Episode der zweiten Staffel von Rome sichtlich als zivile Parallele zu dem Heldentod inszeniert, den Cassius und Brutus am Ende der Folge auf dem Schlachtfeld von Philippi sterben. Die folgende Sequenz sollte mit den Schülerinnen und Schülern insbesondere mit Blick auf die filmischen Dramatisierungstechniken und die Charakterzeichnung (Ethopoiie) des Redners und seines Mörders (in der Fiktion des Films Titus Pullo) analysiert werden:

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Filmsequenz (16:18 bis 25:14) Titus Pullo erhält im Zuge der Proskriptionen den geheimen Auftrag, Cicero umzubringen. Er nutzt die Gelegenheit zu einem Ausflug aufs Land, zu dem er auch Frau und Kind sowie Vorenus und dessen Familie mitnimmt. Pullo entfernt sich von der Gruppe, die ihm „viel Glück“ bei der Erfüllung seiner Mission wünscht. Nach einem Schnitt sieht man Cicero beim Brettspiel mit einem jungen Sklaven im Garten seines ländlichen Anwesens. Die Ruhe wird durch einen von Tiro hereingeleiteten Informanten gestört, der aus Antonius’ Lager die Nachricht über eine Verständigung zwischen Octavius und Antonius überbringt. Cicero denkt kurz nach. Während einer seiner jungen Sklaven bereits Pullo zu Pferd mit seinem Gefolge nahen sieht, schreibt Cicero persönlich folgenden Brief an Brutus: „Mein lieber Brutus, wegen dringender Neuigkeiten schreibe ich Dir in Eile. Octavius und Antonius sind versöhnt. Ihrer beider Streitmächte sind vereint. Sie brechen nach Griechenland auf, um Dich mit überwältigender Stärke zu überraschen. (Tiro unterbricht: Dominus, bewaffnete Männer sind an der Tür; Cicero schreibt weiter:) Du musst dich nach Asien zurückziehen, bevor die Falle zuschnappt“. (Tiro: Du musst fliehen. Cicero zu Tiro: Nein, dafür ist es zu spät) Cicero rollt den Brief hastig zusammen und steckt ihn in eine Transportkapsel. Er beschwört einen seiner Sklaven: Bei deinem Leben, du musst mit dieser Nachricht Brutus erreichen. Bei deinem Leben! Der Sklave nickt, Tiro läuft herbei und beteuert: Herr, du musst dich retten! Cicero weist Tiro an, dem Nachrichtensklaven schnell den Hinterausgang zu zeigen. Während Cicero kurz Atem holt, steht Pullo bereits im Garten und spricht ihn an: Du bist also Cicero. Cicero: Wie ist dein Name, junger Mann? Pullo: Titus Pullo, Herr, ehemals dreizehnte (Er legt sein Gepäck ab.) Cicero: Ach, der berühmte Titus Pullo. Es ist mir eine Ehre. Pullo: Gleichfalls eine Ehre. Übrigens berühmt. Jedermann kennt doch Cicero. Cicero: O ja. Es steht sicher fest, dass du durch deine Arbeit heute unsterblich wirst. Pullo: Wie das? Cicero: Ich werde in allen Geschichtsbüchern stehen. Ohne Zweifel wird der Name meines Mörders auch weiterleben. Pullo: Mein Name. Ich dachte, du meinst mich. Schöne Pfirsiche (geht auf einen Baum zu, um einen Pfirsich zu pflücken). Cicero: Ja, sie sind gerade reif. (Sich abstützend:) Es gibt wohl keine Möglichkeit, dass du von deinem Vorhaben ablässt, nehm ich an. Ich habe nämlich sehr viel Geld. Pullo: Nein. Leider nicht. Normalerweise wär ich interessiert, aber du bist zu wichtig. Stell dir den Ärger vor. Ich komm zurück und hab meine Arbeit nicht getan. Tiro (stürzt auf Pullo mit einem Schwert zu:) Lass ihn in Ruhe. Pullo (zu Tiro): Lass das. Leg dein Schwert weg. Tiro: Niemals. Pullo: Lass den Blödsinn. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.

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Cicero (zu Tiro): Tu, was er sagt, Tiro. Tiro: Aber Dominus! Cicero: Also ehrlich, alter Freund. Wenn du sehen könntest, wie absurd du wirkst. dann würdest du nicht protestieren. Tu, was er sagt (Cicero zieht Tiro weg.) (Tiro wirft sein Schwert weg.) Pullo: Danke (zückt sein Schwert gegen Cicero). Cicero: Nein, noch nicht. Bitte, gib mir noch einen Augenblick. Pullo (steckt das Schwert wieder in die Scheide.) Sag mir, wenn du soweit bist. Während Cicero sich noch kurz im Garten umsieht, fragt Pullo: Darf ich ein paar Pfirsiche pflücken? Cicero: Was? O, ja, nimm so viel du willst. Pullo: Dank dir, ein schönes Geschenk für die Frau. Cicero blickt zum Himmel auf und sieht einen Vogel kreisen. Er schließt die Augen und sagt: Also gut, jetzt. Pullo legt die Pfirsiche beiseite und zückt das Schwert erneut. Cicero weist Tiro zurecht, der jammernd die Arme ausstreckt: Hör sofort auf. Du kannst ja dein schreckliches Gewimmer fortsetzen, wenn ich tot bin. Alles wird gut werden. Durch meinen letzten Willen wirst du freigelassen. Sorge…, sorge für meine Bediensteten. Tiro weinend: Ja, Dominus. Cicero: Leb wohl (die Umarmung Tiros abweisend). Pullo (zu Cicero): Knie dich am besten hin. Cicero kniet sich hin und bietet die rechte Halsseite dar. Pullo (zu Tiro): Hör mal, du solltest besser nicht zusehen. Pullo sticht tief zu, Blut spritzt heraus, Tiro sieht doch zu; Cicero sackt rasch zusammen. (22:48) Schnitt zum Picknick; Gespräche zwischen Vorenus und seiner Frau; sein kleiner Sohn läuft Ciceros Briefboten vor das Pferd. Beim Handgemenge mit Vorenus, der den Boten nur auf Bitten seiner Frau entkommen lässt, verliert der Bote die Briefkapsel. Die Kinder nehmen das Dokument heraus und spielen damit. Pullo kehrt zurück: Will jemand Pfirsiche? War ein schöner Tag. Vorenus: Und deiner? Pullo: Nichts Besonderes. Er ist kein übler Kerl, der Cicero, nicht eingebildet, wie man denken könnte. (Die Kinder falten aus Ciceros Brief eine Papierkappe.) (25:14) Im regnenden Rom nagelt Pullo Ciceros Hände an eine Tür.

Anhand dieser Szene29 lassen sich die filmischen Darstellungsmittel der narrativen Rahmung, der ethopoietischen Zuspitzung sowie der historischen Konzentration 29

Eine Paraphrase und kurze Analyse dieser Szene bietet Walter 2009: „In der HBO-Serie ‚Rome‘ wird Ciceros Tod bebildert (sechste Folge der zweiten, insgesamt schwächeren Staffel). Von manchen Albernheiten abgesehen haben die Macher gut daran getan, die Überlieferung weitgehend zu ignorieren. In ‚Rome‘ wird die Szene in der Manier eines Gangsterfilms erzählt, mit einer der beiden Hauptpersonen der Serie als Killer“. Dass die Filmemacher die Überlieferung nicht etwa

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bündig studieren und als Impulse für eine rezeptionsdialektische Interpretation der antiken Primärquellen nutzen. Die den Ereignissen zeitlich nächste und zudem durch nüchtern-sachliche Darstellung herausragende Quelle verdanken wir dem Rhetoriklehrer Seneca senior, dem Vater des berühmten Hofbeamten und Philosophen. In seinen „Memoiren aus der Rhetorenschule“ überliefert dieser den Ciceros Tod infolge der Proskriptionen behandelnden Abschnitt aus dem Geschichtswerk des Titus Livius. Der weitere Kontext ist wie das gesamte Buch 120 des Livius durch die Ungunst der Handschriftentradition leider verloren. Doch der durch den emeritierten Rhetoriklehrer zitierte Passus genügt, um das Faktengerüst, das für die unterrichtliche Interpretation wesentlich ist, zu erarbeiten und zu sichern. Dieses bildet sodann die Grundlage für die vergleichende Filmanalyse. Durch die filmische Realisierung neugierig geworden, werden die Lernenden den antiken Text wieder mit besonderem „detektivischen Spürsinn“ betrachten (Livius Fragment 59 = Seneca, Suasorien 6,17,1–25): (59) M. Cicero sub aduentum triumuirorum urbe cesserat pro certo habens, id quod erat, non magis Antonio eripi quam Caesari Cassium et Brutum posse; primo in Tusculanum fugerat, inde transuersis itineribus in Formianum, ut a Caieta nauem conscensurus, proficiscitur. Vnde aliquoties in altum prouectum cum modo uenti aduersi retulissent, modo ipse iactationem nauis caeco voluente fluctu pati non posset, taedium tandem eum et fugae et uitae cepit, regressusque ad superiorem uillam, quae paulo plus mille passibus a mari abest, „moriar“ inquit „in patria saepe seruata“. Satis constat seruos fortiter fideliterque paratos fuisse ad dimicandum; ipsum deponi lecticam et quietos pati, quod sors iniqua cogeret, iussisse. Prominenti ex lectica praebentique inmotam ceruicem caput praecisum est. Nec satis stolidae crudelitati militum fuit; manus quoque, scripsisse [aliquid] in Antonium exprobrantes, praeciderunt. Ita relatum caput ad Antonium iussuque eius inter duas manus in rostris positum, ubi ille consul, ubi saepe consularis, ubi eo ipso anno aduersus Antonium, quanta nulla umquam humana uox, cum admiratione eloquentiae auditus fuerat. Vix attollentes lacrimis oculos homines intueri trucidata membra ciuis poterant. „(59) Marcus Cicero hatte sich kurz vor dem Eintreffen der Triumvirn aus der Stadt entfernt, da er es für eine Gewissheit hielt, was es auch war, dass er dem Antonius ebenso wenig entzogen werden könne wie dem (jungen) Caesar Cassius und Brutus; zunächst hatte ihn seine Flucht ins Anwesen von Tusculum geführt, von dort reist er auf abgelegenen Seitenwegen zu seinem Gut in Formiae, um von Caieta aus in See zu stechen, weiter. Als er von dort einige Male auf die offene See hinausfuhr und ihn bald widrige Winde zurückgetrieben hatten, er bald selber das Schau-

„weitgehend ignorierten“, sondern sich auf genreadäquate Weise darüber hinweggesetzt haben, versuche ich im Folgenden zu zeigen. Walters Beurteilung der Filmszene eignet sich als im Internet veröffentliche Gelehrtenmeinung bestens als Einstieg für eine unterrichtliche Diskussion des Gegenstandes.

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keln des Schiffes im blinden Wogen der Flut nicht mehr aushalten konnte, da ergriff schließlich Überdruss sowohl an der Flucht als auch am Leben überhaupt Besitz von ihm, und er begab sich zurück zur oberen Villa, die etwas mehr als eine Meile vom Meer entfernt liegt, und sprach: ,Ich werde sterben in meinem Vaterland, dem oftmals (von mir) geretteten‘. Genugsam ist beglaubigt, dass seine Sklaven tapfer und treu bereit gewesen sind zum Kampf, er selbst habe die Weisung zum Absetzen der Sänfte gegeben und zum ruhigen Ertragen dessen, was ein unbilliges Schicksal als Zwang auferlege. Als er aus der Sänfte hervorlugte und regungslos den Nacken darbot, wurde ihm der Kopf abgehauen. Und immer noch nicht reichte das der törichten Grausamkeit der Soldaten; die Hände auch, denen sie das Schreiben gegen Antonius anlasteten, hieben sie ihm ab. So brachte man den Kopf zu Antonius und stellte ihn auf dessen Weisung zwischen den beiden Händen auf der Rostra aus, wo er als Konsul, wo er oft als Exkonsul, wo er in eben jenem Jahr noch gegen Antonius, so gewaltig wie keine andere menschliche Stimme jemals, unter (allgemeiner) Bewunderung für seine Redegabe gehört worden war. Kaum konnten die Menschen vor Tränen die Augen auf ihn richten und die zerstückelten Gliedmaßen ihres Mitbürgers ansehen.“

Als Grundlage und Ausgangspunkt für eine vergleichende Analyse Film(script) ‒ Quellentext können die folgenden Beobachtungen dienen: Im Film wie im Text steuert das Minidrama der Szenenkomposition trotz einiger retardierender Momente auf die brutale Ermordung des verdienten Republikaners Cicero zu. Dieser fügt sich nach anfänglichem (charaktertypischem) Wankelmut schließlich mit philosophischer Gemütsruhe und echt römischer Tapferkeit30 seinem Schicksal. Im Film wird dieser Zug stärker betont als in den antiken Zeugnissen: Die überstürzten, halbherzigen und letztlich an den Elementen wie an Ciceros Überdruss gescheiterten Anläufe zu einer Flucht zur See sind völlig ausgespart. Wir treffen Cicero vielmehr in aller Gemütsruhe im Garten beim Brettspiel mit einem jungen Sklaven an. Der Informationsvermittlung und filmischen Raffung dient die Erfindung der Autoren, dass Cicero erst jetzt und damit gleichzeitig vom neuen Triumvirat und seiner Ächtung erfährt. In den antiken Quellen veranlasst ihn dagegen die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Triumvirn in Rom Ende November 43 zum Rückzug aus der Hauptstadt zunächst in sein stadtnahes Landgut in Tusculum. Während sich der historische Cicero von dort auf Schleichwegen zu seinen Besitzungen an der kampanischen Küste des tyrrhenischen Meeres begibt, bleibt Cicero in Rome offensichtlich in Tusculum. Denn der dramatische Ort der Filmhandlung muss im Umland Roms angesiedelt sein, da sich Pullo und Vorenus samt Anhang für ihren Ausflug nicht weit von der Hauptstadt entfernt haben. Wegen dieses Picknicks, des blühenden Gartens und des vom tödlichen Ernst ironisch ablenkenden Smalltalks um die reifen Pfirsiche haben die Autoren die Ereignisse wohl auch vom unwirtlichen Spätherbst, der für eine stürmische Meeresszenerie optimal gewesen wäre, in 30

Vgl. die Auswertung der antiken Quellenzeugnisse bei Moles 1988, 200: „Of all sources only Pollio denied C. a brave end (Sen. Suas. 6.24)“.

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den Sommer verlegt. Der Spannungssteigerung und Charakterzeichnung dient Ciceros geistesgegenwärtiger Versuch in Rome, Brutus brieflich vor der drohenden neuen Allianz seiner Gegenspieler zu warnen.31 Der zufällige und unbemerkte Verlust des Briefes32 und seine Umgestaltung in eine Kopfbedeckung für Kinder einer Analphabetenfamilie kann als Wink auf die Laune des Schicksals oder als Sinnbild für die Vergeblichkeit von Ciceros hartnäckigem Kampf für die res publica gedeutet werden. Bei all diesen augenfälligen Abweichungen der Autoren von der antiken Tradition33 sind doch wesentliche Züge bewahrt: Das anfängliche Schwanken Ciceros findet sich in einem (allerdings mit realistischer Skepsis vorgebrachten) Bestechungsversuch sowie in der Bitte um kurzen Aufschub der Hinrichtung gespiegelt, den Pullo, ganz Gentleman-Killer, großzügig gewährt. Dass Ciceros Sklaven nicht auf Treue und Tapferkeit vergessen haben, sondern zum (vergeblichen) Kampf für das Leben ihres Dominus bereit gewesen wären, daran aber durch ein Machtwort ihres Herren gehindert werden, hat anhand von Ciceros Sekretär Tiro (Personalisierung!) ganz getreu in die Filmszene Eingang gefunden. Dass Cicero seinem Mörder reglos Hals und Nacken darbietet, ist ebenfalls quellengetreu inszeniert. Die in sämtlichen antiken Zeugnissen als besonders grausige Untat gebrandmarkte Schändung von Ciceros Leichnam im Auftrag des Antonius durch Abtrennen von Haupt und Händen, die an der Rednertribüne (Rostra) in Rom, der Wirkungsstätte des epochalen Redners Cicero, zur Schau gestellt werden, ist im Film abgeschwächt. Dort werden nach einem Szenenwechsel lediglich die Hände an einer Tür in Rom angenagelt.34 Pullo soll offenbar ‒ soweit überhaupt möglich ‒ in etwas besserem Licht erscheinen als die bei Livius ja namenlosen Häscher. Name und

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Historisch bezeugt ist, dass Cicero seinen letzten erhaltenen Brief tatsächlich an Marcus Iunius Brutus gerichtet hat. Doch stammt dieser Brief bereits vom 27.07.43 und enthält lediglich Andeutungen über schädliche Einflüsse, die Leute aus seiner Umgebung auf den begabten, aber alterstypisch noch formbaren Jugendlichen Octavius ausübten (Epistula ad Brutum 1,18,3). Ebd. verwendet Cicero für seine eigene Funktion das Bild des „Bürgen“ (vades), den der Stadt „für den ganz jungen Burschen, ja beinahe noch Knaben“ (Octavius) akzeptiert habe. Die Forschung vermutet dagegen, dass Ciceros Briefe aus der Zeit nach dem Umschwung vom Herbst 43 gezielt von den neuen Machthabern vernichtet wurden. Jedenfalls hat kein nach Ende Juli 43 von ihm verfasster Brief Eingang in die später erstellten und schon bald hohe Berühmtheit erlangenden Briefsammlungen Ciceros gefunden. Walter 2009 stellt in seinem Blog die Frage: „Warum die weitgehend freie Erfindung, wo doch dieses Ereignis so gut überliefert ist und wir wahrscheinlich sogar die Namen der Mörder kennen (Gaius Popilius Laenas und ein Zenturio namens Herennius)?“ Er gibt folgende Antwort: „Das entscheidende Argument lautet: Weil die Szene funktioniert“. Dieses Argument greift wohl doch zu kurz, wie im Weiteren zu zeigen ist. Die bewussten Abweichungen erklären sich eher aus dem Bestreben der Filmemacher, den Überlieferungskern (den sie durchaus kennen und durchscheinen lassen) zu pointieren und mit beiden Handlungssträngen des Plots (dem „Oben“ der hohen politischen Entscheidungsträger und dem „Unten“ des einfachen Volkes) zu verknüpfen. Walter 2009 bemerkt: „In einer etwas späteren Szene sieht man kurz, wie er (scil. Pullo) nächtens die Hände Ciceros an eine Tür (des Senatsgebäudes?) annagelt“.

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Kurzcharakteristik erhalten die Auftragsmörder indes in einer etwas späteren antiken Quelle,35 die selbst durchaus das Potential zu einem Filmscript hätte: Als Element der Binnendifferenzierung ließe sich für eine besonders aktive und interessierte Schülergruppe dieser Text zum spezifizierenden Vergleich heranziehen. Dieser wäre dann sowohl mit Livius’ Version als auch mit der dramaturgischszenischen Aufbereitung im TV-Film in Beziehung zu setzen. Es handelt sich um die ebenso spannungsreich wie pathetisch gestaltete Todesszene in der Cicerobiographie des griechischen Autors Plutarch (Ende 1./Anfang 2. Jh. n. Chr.). Von den einschlägigen Kapiteln seiner Lebensbeschreibung Ciceros (Plutarch, Cicero 47– 49) wird der Anfang in deutscher Zusammenfassung geboten: Cicero ist durch die Nachricht seiner Proskription paralysiert und bricht von seinem Landgut bei Rom in Tusculum zusammen mit seinem Bruder Quintus nach Astura in Süditalien auf. Sie planen, auf dem Seeweg zu Brutus nach Macedonia zu fliehen. Doch die Brüder trennen sich tränenreich: Quintus will sich zuhause noch für die Reise versorgen. Cicero, selbst nur kärglich für die weite Reise gerüstet, soll schon vorausfahren. Cicero wird zu Schiff von Astura zum Kap Circaeum gebracht, als er die Reise plötzlich abbricht, entweder aus Furcht vor der winterlichen Überfahrt oder aus Hoffnung auf einen Sinneswandel beim jungen Caesar. Er begibt sich zu Fuß in Richtung Rom. Doch auch diesen Entschluss ändert er panikartig, um sich nach einer Nacht mit wirren Gedanken und finsteren Plänen in Astura per Schiff zu seinem Anwesen in Caieta bringen zu lassen.

Der Rest folgt in wort- und strukturgetreuer deutscher Übersetzung des griechischen Originaltextes: „(47,9) Cicero ging also an Land, und als er angekommen war auf seinem Gut, verspürte er ein Ruhebedürfnis und legte sich zu Bett. Von den Raben (aus dem nahegelegenen Apollotempelchen) nahm eine große Schar auf seinem Fenster Platz und erhob ein tosendes Geschrei; einer aber flog auf die Liege zu und zog dem eingehüllten Cicero mit dem Schnabel ein wenig vom Gesicht das Tuch. (47,10) Die Dienerschaft brach bei diesem Anblick in Selbstschelte aus, da sie einfach abwarteten, bis sie ihrem Herrn bei dessen Ermordung zusehen müssten, die Tiere ihm dagegen beistünden und in Sorge seien um ihn in seinem unverdienten Unglück, sie selbst hingegen keine Hilfe leisteten, und sie haben teils bittend teils gewaltsam Reiseutensilien mitgenommen und mit seinem Transport auf einer Sänfte in Richtung Strand begonnen. (48,1) Unterdessen waren die zu seiner Abschlachtung bestimmten Männer angekommen, der Zenturio Herennius und Popillius, ein Militärtribun, den bei seiner

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Die antiken historischen Überlieferungszeugnisse zu Ciceros Tod sind erfasst bei Homeyer 1964 und Moles 1988, 198f., der Plutarch in jeder Hinsicht den Vorzug gibt: „P.’s is far the best from every point of view. Moving and pathetic as it is, it also rightly stresses C.’s fearfulness, irrationalism and irresolution as being responsible for his failure to survive this last and most terrible physical threat“.

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einstigen Anklage wegen Vatermordes als Verteidiger Cicero unterstützt hatte, mit weiteren Helfershelfern. (48,2) Nachdem sie die Türen, die sie verschlossen fanden, aufgebrochen hatten, drinnen aber keine Spur von Cicero war, vielmehr die Insassen Unwissen über seinen Verbleib bekundeten, da soll ein Knabe, den Cicero selbst unterwiesen hatte in schöngeistigen Dingen, ein Freigelassener von Quintus, Ciceros Bruder, namens Philologos, dem Militärtribun verraten haben, dass die Sänfte transportiert werde durch zugewachsene und verschattete Seitenpfade in Richtung Meer. (48,3) Der Militärtribun nahm sich eine kleine Gruppe mit auf seinen Weg und lief auf den Ausgang zu, als Herennius aber im Laufschritt heraneilte durch das Dickicht, hat Cicero das bemerkt und seiner Dienerschaft den Auftrag erteilt, ihn an dieser Stelle abzusetzen mit seiner Sänfte. (48,4) Er selbst aber hat wie gewöhnlich mit der linken Hand an sein Kinn gefasst und ungerührt aufgeblickt zu seinen Schlächtern, von Schmutz und Haarwuchs überwuchert und entstellt von Sorgenfalten das Gesicht, sodass sich die meisten verhüllten, als Herennius ihn abschlachtete. (48,5) Er wurde abgeschlachtet, als er den Hals aus dem Gefährt herausreckte, er stand im 64. Lebensjahr. (48,6) Den Kopf haben sie ihm abgehauen und auch die Hände auf Antonius’ Befehl, mit denen er seine Philippiken geschrieben hat. Selbst nämlich hat Cicero seine gegen Antonius gehaltenen Reden als „Philippiken“ betitelt, und bis heute werden sie als Philippiken bezeichnet. (…) (49,2) Den Kopf und die Hände ließ er (Antonius) über den Schiffsschnäbeln an der Rednertribüne (Rostra) anbringen, ein Ausstellungsstück, das die Römer entsetzte, die nicht Ciceros Antlitz zu sehen meinten, sondern von Antonius’ Seele ein Abbild.“

An Plutarchs Fassung fällt die ausschmückende Erweiterung und dramaturgische Modifizierung des bei Livius greifbaren Handlungskerns auf: Das Ende des Redners, Philosophen und Politikers Cicero wird entsprechend der Gesamtintention von Plutarchs Doppelbiographie Demosthenes und Cicero als „final tragedy“ inszeniert.36 Die Irrungen und Wirrungen des vom Seitenwechsel seines Schützlings Octavius/Octavianus und seiner eigenen Ächtung aus der Bahn geworfenen Cicero sind durch die Hinzufügung der sentimentalen Verabschiedung vom Bruder Quintus und durch die kurzzeitige Umkehr in Richtung Rom gegenüber Livius’ Version noch verstärkt. Der Abbruch der Seereise ist dort unmittelbar vor die Ermordung Ciceros gerückt, die auf dem Rückweg von der Küste zur oberen Villa zwischen

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Moles 1988, 11 bringt die multiperspektivische Anlage von Plutarchs Cicerovita auf folgenden Punkt: „The Life is about the role of the philosopher in politics but not only in politics: about the role of the orator, sometimes distinct from that of philosopher, sometimes (ideally) indistinguishable from it; about the tensions between private and public lives and between intellectual and political activity; about the struggle between passion and reason in both politics and personal life; about the degree to which ambition is a legitimate spur to political activity; about the need for humanity in government and in war; about the ideal and the actual“.

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Formiae und Caieta37 geschieht. Umgekehrt bei Plutarch: Bei ihm wird Cicero nach Abbruch der Seereise in eben diesen Landsitz gebracht. Als sich der Erschöpfte dort ausruht, bewirken die Raben des nahegelegenen Apollonheiligtums ein omen, das Ciceros Dienerschaft zu erneutem Aufbruch motiviert. Bemerkenswert ist hier nicht nur das übernatürlich-religiöse Moment, das Plutarch in die Erzählung einführt (Raben als Todesvögel und fürsorgliche Beschützer Ciceros zugleich).38 Vom Akteur ist Cicero in dieser Fassung ganz zum Opfer geworden, der die Fürsorge der Raben wie seiner Diener passiv hinnimmt, ohne an dieser Stelle noch weitere Weisungen zu erteilen. Bezeichnenderweise fehlt bei Plutarch jeder explizite Hinweis auf den Todesmut von Ciceros Sklaven, die zum Kampf für ihren Herren bereitgewesen wären. Auf dem Weg zur Küste wird die Gruppe von den Häschern gestellt: Bei Plutarch sind die Mörder ‒ wie im Film, aber anders als bei Livius ‒ personalisiert und namentlich genannt. Statt des einstigen Zenturio Pullo üben hier der Zenturio Herennius und der Militärtribun Popillius das Tötungshandwerk aus. Letzterer wäre seinem einstigen Verteidiger Cicero eigentlich zu Dankbarkeit verpflichtet, wie Plutarch durch den Rückverweis auf den Prozess wegen Vatermordes beteuert.39 Doch es kommt noch zu einer Steigerung der Illoyalität. Popillius spürt den flüchtigen Cicero nur deshalb so rasch auf, weil ihm ein Knabe namens Philologos („Liebhaber der Wissenschaft“) den Fluchtweg seines Herren und Lehrmeisters in schöngeistigen Dingen verraten habe. Durch diesen dramaturgischen Kniff rückt Plutarch Cicero erneut in die Rolle des bemitleidenswerten Opfers, dem nicht nur seine politischen Fehlentscheidungen, sondern auch sein selbstloser Einsatz für individuelle Jugendbildung den Tod bringt.40 Dieser Verrat sticht vor dem Hintergrund des loyalen Schweigens aller anderen Hausbewohner sowie der unbedingten Treue von Ciceros Sklaven, die bei Livius wie in Rome ausgestellt ist, umso abscheulicher heraus. Die standhaft ertragene Tötung sowie die anschließende Schändung des Leichnams in Antonius’ Auftrag stellt Plutarch ganz ähnlich wie die anderen Schriftquellen und die Filmszene dar. Doch spezifiziert er durch namentliche Nennung der „Philippischen Reden“ den von Antonius angegebenen Grund für die besonders grausame Behandlung Ciceros. Durch seinen Hinweis, dass diese 37

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Zu diesem Landsitz vgl. How/Clark 1962, 141 (als fünfter von acht Landsitzen Ciceros aufgelistet): „This villa really stood between Formiae and Caieta. … It was Cicero’s first seaside villa … He found the place bustling and crowded with bores …, but he spent money on its restoration after his exile and kept it till his death“. Vgl. dazu Moles 1988, 199 zur Stelle. Zur Person des Popillius (Gaius Popillius Laenas) und zu seinem Bild in den antiken Quellen vgl. Moles 1988, 198–200 zu den jeweiligen Stellen, vgl. bes. 199 zu 48,1: „a man of both brutality and base ingratitude“. Mit Verweis auf das Zeugnis bei Sen. contr. 7,2,8 erachtet Moles die Verteidigung in einem Prozess wegen Vatermordes als Deklamatorenerfindung: „P. adopts the extreme rhetorical invention to increase outrage, an effect intensified by the contrast between C.’s miserable end … and his brilliant start (the defence of Roscius)“ (200). Dazu Moles 1988, 200 zu 48,2: „a crescendo of bitter irony …; the final betrayal comes not from C.’s political, but from his intellectual, life. … In App. the betrayer is, banally, a shoemaker exclient of Clodius“.

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Reden „bis heute“ als Philippiken bezeichnet würden, bringt Plutarch zum Ausdruck, dass die intellektuelle Leistung des Redners und Schriftstellers Cicero durch dessen bleibenden Ruhm letztlich den Sieg über den exzessiven Machtmenschen Antonius davongetragen hat. Hier schließt sich der Kreis auch zur filmischen Umsetzung: Den Kontrast zwischen dem physischen Ausgeliefertsein des älteren Cicero an seinen Mörder und der enormen Wirkungsgeschichte, die seinem Werk beschieden sein wird, haben die Filmemacher durch den kurzen Dialog, den Cicero und Pullo über Nachruhm führen, ähnlich in Szene gesetzt wie Livius und Plutarch in ihren Zeilen über die Wirkung der in Rom ausgestellten Körperteile des toten Ciceros auf die Bevölkerung, die aus ihrer Trauer um Cicero (Livius) resp. ihrem Argwohn gegen Antonius (Plutarch) kein Hehl mehr machten. Diese schon in der Antike erkannte und im Film adaptierte ambivalente Wirkung von Ciceros rhetorischem Werk kann in einer rezeptionsdialektischen Interpretationshermeneutik als starke Motivation für eine intensive vergleichende Betrachtung von historischliterarischer Monumentalisierung einerseits und filmischer Ästhetisierung fremdkultureller historischer Prozesse und Persönlichkeiten andererseits beitragen. Ausgehend von der filmischen Version kann im „zeitdetektivischen“ Rückgriff auf die antiken Quelle das Dilemma von Ciceros Tod (Heldentod des aufrechten Republikaners oder totale Niederlage des wetterwendischen Intriganten) ebenso fundiert wie differenziert diskutiert werden.

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Neuere Lektüreausgaben zu den Phil. Kolwe, Sylvia (Hrsg.): Cicero. Rhetorik in Rom. Ausgewählte Texte, Paderborn 2004 (im 2. Teil: Auswahl aus Cic. Phil. 4). Kliemt, Stefan (Hrsg.): Ciceros Philippische Reden. Eine Textauswahl, Göttingen 2008 (CLARA 23) (Auszüge aus Phil. 1, 2, 3, 4, 6, 7, 13 und 14). Mühl, Klaus (Hrsg.): Cicero. Philippika. Die Macht des Wortes in der Politik. In Antonium (Oratio IV), Bamberg 1998. Olbrich, Wilfried (Hrsg.): Cicero, Sechste Philippische Rede. Mit Texten zur Rhetorik, Bamberg 1993.

Digitale Medien Rom (Rome). Die komplette Staffel 1 (mit Bonusmaterial) auf sechs DVDs. Im Vertrieb der Warner Home Video Schweiz, Zürich 2006. Rom (Rome). Die komplette Staffel 2 (mit Bonusmaterial) auf fünf DVDs. Im Vertrieb der Warner Home Video Schweiz, Zürich 2008.

„Farmer Glutton rears sheep but eats mutton” Zur Rolle der englischen historischen Sprachwissenschaft im Englischunterricht Christine Elsweiler 1

Einleitung

Ein einfacher englischer Satz wie der für die Zwecke dieses Beitrags erfundene „farmer Glutton rears sheep but eats mutton“ verdeutlicht, dass die englische Sprache auf verschiedenen sprachlichen Ebenen Unregelmäßigkeiten und Komplexität aufweist, die nur mit Hilfe der Sprachgeschichte umfassend erklärt werden können. So bezieht sich sheep, das germanischen Ursprungs ist (vgl. Altfriesisch skêp, Altsächsisch scâp, Althochdeutsch scâf von Germanisch *skǣpo-m, OED s.v. sheep n.), auf die Schafe, die auf dem Bauernhof gehalten werden, und mutton, französischen Ursprungs (vgl. Anglonormannisch mutun, Altokzitanisch molton und Katalanisch moltò von Vulgärlatein multo, OED s.v. mutton n.), in erster Linie auf das zum Verzehr vorgesehene Schaffleisch (vgl. OED. s.v. mutton n., 1.a),1 im Gegensatz zum Französischen, wo mouton das Tier bezeichnet (vgl. Petit Robert, s.v. mouton). Sheep ist darüber hinaus eine unregelmäßige endungslose Pluralform, ursprünglich bei den langstämmigen neutralen Substantiven, die sich als Ausnahmen im hochfrequenten Alltagswortschatz gehalten haben, also z.B. bei Tieren der häuslichen Umgebung. Zwar wird unter den für die Fachdidaktik relevanten Bezugswissenschaften die Sprachwissenschaft meist an erster Stelle genannt, doch zeigen die Ausführungen, dass dabei v.a. die angewandte und kontrastive Erforschung und Analyse des Gegenwartsenglischen gemeint ist. Trotz ihrer Bedeutung für die Erschließbarkeit und damit für ein tiefergehendes Verständnis der englischen Sprache offenbart ein Blick in die Einführungswerke in die englische Fachdidaktik, dass der historischen Sprachwissenschaft darin kaum Platz eingeräumt wird. Nur selten wird auch auf die Relevanz der historischen Sprachwissenschaft für den Englischunterricht verwiesen.2 Dasselbe Bild ergibt sich in den Lehrwerken für den gymnasialen Englischunterricht (siehe Abschnitt 3 unten). Im Lehrplan für das Gymnasium in Bayern jedoch wird die unterstützende Funktion der Sprachgeschichte hervorgehoben. So 1

2

Vgl. hierzu auch Kornexl/Lenker 2011, die argumentieren, dass die Spezialisierung der französischen Tierbezeichnungen auf die Bedeutung ‚zum Verzehr bestimmtes Tierfleisch‘ auf britischem Boden stattfand. Vgl. Böttger 2005, 51, Klippel/Doff 2009, 71.

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heißt es im Fachprofil Moderne Fremdsprachen, dass „Sprachreflexion im Sinne der innersprachlichen Betrachtung von Strukturen, aber auch als Vergleich mit anderen Fremdsprachen, mit den Klassischen Sprachen, dem Deutschen und ggf. anderen Muttersprachen der Schüler sowie sprachgeschichtliche Einblicke (…) den Lernfortschritt und die Entwicklung ihres Sprachbewusstseins [unterstützen].”3 Dementsprechend ist die historische Sprachwissenschaft im Studium für das Lehramt am Gymnasium für das Fach Englisch an bayerischen Universitäten als Teilfach vorgesehen. Die englische historische Sprachwissenschaft erwuchs im späten 19. Jahrhundert aus den zwei benachbarten Fächern innerhalb der englischen Philologie: der englischen Literaturwissenschaft, mit einem Schwerpunkt auf dem Editieren von Handschriften, und der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft.4 Die damalige historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, vertreten durch die Junggrammatiker der Leipziger Schule, legte den Schwerpunkt auf die Erforschung von Lautwandeln und von Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sprachen.5 Die moderne historischvergleichende Sprachwissenschaft hingegen ist mit ihrem Interesse an generellen Prinzipien des Sprachwandels vielmehr in der Nähe der Typologie, die viele Sprachen auf nur wenige Parameter hin vergleicht,6 der Sprachkontaktforschung und der Variationslinguistik zu verorten. In den letzten Jahrzehnten hat die englische historische Sprachwissenschaft sich neue Forschungsgebiete erschlossen, z.B. die historische Dialektologie, die historische Soziolinguistik und die historische Pragmatik,7 und befindet sich damit an der Schnittstelle zu den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Teilfächern. Darüber hinaus hat die Entwicklung digitaler Korpora die Untersuchung historischen Textmaterials erheblich erleichtert. Die englische Sprache weist im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen einige Besonderheiten auf und nimmt unter ihnen eine Sonderstellung ein,8 die den Schülern im Laufe ihres Spracherwerbs im Englischunterricht bewusst gemacht werden sollte. Das Altenglische (ca. 450 bis 1100), das von den angelsächsischen Einwanderern vom europäischen Festland nach Großbritannien gebracht wurde, ist wie das Deutsche eine westgermanische Sprache. Die Sprache der von den Angelsachsen eroberten keltischen Inselbewohner, das keltische Substrat, übertrug beim Wechsel zum englischen Superstrat, der Sprache der germanischen Eroberer, einige strukturelle Merkmale auf das Englische, z.B. das englische Progressive.9 Weiterer Sprachkontakt fand im Altenglischen mit dem Altnordischen durch die Siedlung der Wikinger im sog. Danelaw und im Mittelenglischen (ca. 1100 bis 1500) mit dem

3 4 5 6 7 8 9

Lehrplan Gym8, Fachprofil Moderne Fremdsprachen; eigene Hervorhebung. Vgl. Bergs/Brinton 2012, 1289. Vgl. Burridge 2013, 157–160. Vgl. Kortmann 1999, 124. Vgl. Bergs/Brinton 2012, 1292–1293. Vgl. Kortmann 1999, 144. Vgl. Filppula 2003.

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Französischen im Zuge der normannischen Eroberung im Jahr 1066 statt. In beiden Fällen wurde das Englische durch das Superstrat der Eroberer v.a. lexikalisch beeinflusst. Mit dem Lateinischen kam es in allen Zeitstufen des Englischen zu Kontakt, insbesondere im Frühneuenglischen (ca. 1500–1700), wo es als Kulturadstrat zu charakterisieren ist, aus dem aus Prestigegründen entlehnt wurde. Während das Altenglische, wie das Deutsche, eine synthetische, flektierende Sprache war, ist das Gegenwartsenglische typologisch eine analytische, weitgehend isolierende Sprache mit beinahe völligem Flexionsverlust.10 Aufgrund des Sprachkontakts insbesondere mit den romanischen Sprachen und dem Skandinavischen sowie der Verwandtschaft mit dem Deutschen ist das Englische besonders dafür geeignet, die Ausbildung von Sprachbewusstsein durch Sprachvergleich anzuregen. Ziel dieses Beitrages ist es, genauer zu erörtern, welche Rolle die Erkenntnisse der englischen historischen Sprachwissenschaft im Englischunterricht einnehmen können, um die Herausbildung von Sprachbewusstheit zu unterstützen und nachhaltiges (Fremd-)Sprachenlernen zu fördern. Zunächst wird erörtert, wie diese Erkenntnisse beim schulischen Erwerb mehrerer Fremdsprachen unterstützend eingesetzt werden können (Abschnitt 2). Im Anschluss werde ich in Abschnitt 3 an konkreten Beispielen aus den Lehrwerken für den gymnasialen Englischunterricht in Bayern darstellen, an welchen Stellen sprachhistorisches Wissen das Sprachbewusstsein der Schüler fördert.

2

Historische Sprachwissenschaft: Sprachbewusstsein durch Sprachvergleich

Im Zuge des europäischen Einigungsprozesses wurde das sprachenpolitische Ziel formuliert, dass die Bürger Europas zusätzlich zu ihrer Muttersprache noch zwei weitere Sprachen erlernen sollen (EU 1995), was in den Lehrplänen der Schulen und den offiziellen Bildungsstandards Ausdruck findet. In den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Stärkung der Fremdsprachenkompetenz11 wird beispielsweise die „Erweiterung der sprachlichen Bildung zur Mehrsprachigkeit“ als eine der Zielsetzungen einer „zukunftsorientierten Fremdsprachenkonzeption“ genannt. Das Fachprofil für Moderne Fremdsprachen des bayerischen Gymnasiallehrplans weist ebenfalls auf das gemeinsame Bestreben der schulischen Fremdsprachen nach Mehrsprachigkeit hin.12 In der Fremdsprachendidaktik herrscht Konsens, dass für die Umsetzung dieser Ziele eine Mehrsprachigkeitsdidaktik notwendig ist, die die traditionelle Sicht vom isolierten Fremdsprachenlernen ohne Einbeziehung der Muttersprache und anderer Fremdsprachen ablösen soll.13 An die

10 11 12 13

Vgl. Kortmann 1999, 85–87. Kultusministerkonferenz 2011, 2. Vgl. Lehrplan Gym8, Fachprofil Moderne Fremdsprachen. Vgl. Jessner 2008b, 39.

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Stelle der additiven Mehrsprachigkeit mit sukzessivem Erlernen der Fremdsprachen in der Schule tritt das Konzept der integrativen Mehrsprachigkeit,14 welches Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung in die didaktischen Methoden einbezieht. Die Forschung zur Mehrsprachigkeit in den letzten Jahren hat nämlich gezeigt, dass mehrsprachige Lerner über eine Sprachbewusstheit verfügen, die den weiteren Spracherwerb beschleunigt.15 Gnutzmann zufolge führt Sprachbewusstheit zu verbesserten metasprachlichen Kenntnissen und erhöht sowohl die Sprachhandlungsfähigkeit als auch die Sprachlernfähigkeit.16 Dabei umfasst Sprachbewusstheit eine affektive, soziale, politische und kognitive Ebene sowie eine PerformanzDomäne. Die kognitive Domäne bezieht sich insbesondere auf das Verständnis für die Struktur einer Sprache sowie auf das Erkennen und die Auseinandersetzung mit (Un)regelmäßigkeiten und Gegensätzen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen.17 Beim Erwerb mehrerer Sprachen bilden sich mental mehrsprachliche Strukturen aus, zwischen denen es zu positiven und negativen Transferprozessen kommen kann.18 Im schulischen Kontext bedeutet Mehrsprachigkeit häufig, dass Englisch als erster Fremdsprache noch weitere, zumeist romanische, Sprachen folgen. Im Hinblick auf diese Sprachenfolge wird von vielen Fremdsprachendidaktikern jedoch angezweifelt, dass Englisch als lingua franca den Erwerb weiterer Sprachen fördert. Die Gegner des Englischen als erster Fremdsprache argumentieren, dass andere Sprachen früher gefördert werden müssten, da die Motivation Englisch zu lernen aufgrund seiner Dominanz als lingua franca und seiner Präsenz im Deutschen, in Form von Anglizismen und durch seinen Gebrauch in den Medien, auch zu einem späteren Zeitpunkt noch vorhanden sei. Ein frühes Englischlernen würde gerade aufgrund seines Status als lingua franca die Motivation zum Erlernen weite19 rer Sprachen hemmen. Inzwischen zeigen jedoch immer mehr Englischdidaktiker auf, warum gerade Englisch besonders dazu geeignet ist, den Grundstein zur Mehrsprachigkeit zu legen. Da die dominante Stellung des Englischen als Sprache, die jeder lernen sollte, nicht zur Debatte steht, betont beispielsweise Klippel,20 dass der schulische Englischunterricht seine Rolle neu definieren muss: „English needs to accept its role as a starting block to language learning in general, as a gate to language learning strategies and motivation for encountering other languages and cultures.“21 Kurtz argumentiert ebenfalls, dass im Englischunterricht „das Fundament für die gesamte schulische Entwicklung von Mehrsprachigkeit gelegt werden“22 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Vgl. Kurtz 2011, 121–122, Hallet/Königs 2010, 305–306. Vgl. Jessner 2008a, 175–176. Vgl. Gnutzmann 2010, 115. Gnutzmann 2010, 117. Vgl. Bausch 2007, 443, Jessner 2008b, 31. Vgl. Vollmer 2000, 76–78. Vgl. Klippel 2009, 19. Vgl. hierzu auch Klippel 2011, 118. Kurtz 2011, 125.

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muss. Um dies zu erreichen, muss es, ganz im Sinne einer Mehrsprachigkeitsdidaktik, darum gehen, Transferwissen zu entwickeln, das durch vernetztes Lernen die Mehrsprachigkeit fördert. Er fordert deswegen im Hinblick auf die Unterrichtsgestaltung, „dass mehr Zeit für formbezogene, kognitiv anspruchsvolle Sprachenvergleiche, für die Bewusstmachung von Beziehungen zwischen Sprachen und die Förderung von sprachenübergreifenden Erschließungs- und Lernstrategien bereitgestellt werden muss“23. Gerade in diesem Zusammenhang kommt die Rolle der historischen Sprachwissenschaft zum Tragen, die zu einem tiefgreifenden Verständnis der englischen Sprache beiträgt, einer ursprünglich westgermanischen Sprache, die insbesondere durch französischen, lateinischen und skandinavischen Einfluss geprägt ist.24 Mit Hilfe der Erkenntnisse der englischen historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft kann ein struktureller Vergleich des Englischen mit dem ihm verwandten Deutschen und den Kontaktsprachen vorgenommen werden. Im Folgenden möchte ich kurz darstellen, auf welchen Ebenen sich gerade das Englische für einen strukturellen Vergleich lohnenswert einsetzen lässt. Im Bereich der Nominalflexion kam es im Englischen zu einer strukturellen Vereinfachung durch den Verlust der Kasus- und Genusmarkierung. Die Pluralmarkierung wurde mit wenigen Ausnahmen auf die Flektionsendung -s regularisiert.25 Hier bieten sich daher wenig Vergleichsmöglichkeiten an. Lediglich bei den Ausnahmefällen der unregelmäßigen Pluralbildung, die parallel auch im Deutschen zu finden sind und dem gleichen Muster folgen, kann der Sprachvergleich die Schüler bei dessen Internalisierung unterstützen. Die Verbalflexion hat sich strukturell verkompliziert. Insbesondere der Ausbau des Tempus- und Aspektsystems (mit der Ausbildung des perfektiven und des progressiven Aspekts)26 legt beispielsweise einen Vergleich mit dem Französischen nahe, das ebenfalls eine Aspektsprache ist. Auch im englischen Wortschatz vollzog sich durch den oben dargestellten Sprachkontakt eine strukturelle Komplizierung. Er ist im Gegenwartsenglischen gemischt, d.h. das Vokabular ist zum Teil germanisch, zu großen Teilen aber auch aus dem Französischen und Lateinischen entlehnt, was sich v.a. auf die korrekte Registerwahl auswirkt.27 So gehört beispielsweise begin, ein Verb germanischen Ursprungs, dem Grundwortschatz an, wohingegen das französische Lehnwort commence dem formalen Sprachgebrauch zuzurechnen ist. Auch hier bietet sich im Englischunterricht der Vergleich mit den romanischen Sprachen, insbesondere mit dem Französischen an.

23 24 25 26 27

Kurtz 2011, 128–129. Vgl. Jessner 2006, 134–136, 2008b, 40. Vgl. Lass 2006, 95–96. Vgl. Fischer/Wurff 2006, 131–142. Vgl. Leisi/Mair 2008, 41–77.

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Unmittelbaren praktischen Nutzen haben sprachgeschichtliche Kenntnisse bei der für die Oberstufe vorgesehenen Lektüre von Auszügen eines ShakespeareTexts, der, obwohl er nicht so fremd wie alt- und mittelenglische Texte wirkt, dennoch etliche Unterschiede zum Gegenwartsenglischen aufweist. An welcher Stelle und in welcher Weise die englische historische Sprachwissenschaft zur Ausbildung von Sprachbewusstheit im gymnasialen Englischunterricht eingesetzt werden kann, soll im folgenden Abschnitt anhand konkreter Beispiele aus den Lehrwerken für den gymnasialen Englischunterricht genauer dargestellt werden.

3

Der Einsatz der historischen Sprachwissenschaft im gymnasialen Englischunterricht

Eine Sichtung der Lehrwerke,28 die momentan im gymnasialen Englischunterricht in Bayern zum Einsatz kommen, macht deutlich, dass diese überwiegend von den Erkenntnissen der angewandten Sprachwissenschaft geprägt sind, wie beispielsweise zahlreiche Übungen zu Kollokationen zeigen. Im Lehrplan für das Gymnasium in Bayern zeigt sich ebenfalls eine Diskrepanz zwischen der Forderung nach „sprachgeschichtlichen Einblicken“ im Fachprofil Moderne Fremdsprachen um die Ausbildung von Sprachbewusstsein zu unterstützen und den konkreten Vorgaben für den Englischunterricht in den Jahrgangsstufen-Lehrplänen, wo die Sprachgeschichte kaum explizite Erwähnung findet. Diese offensichtliche Diskrepanz hat mich dazu bewogen, nach Anknüpfungspunkten für die Sprachgeschichte in den Jahrgangsstufen-Lehrplänen für Englisch als erste Fremdsprache zu suchen. Diese möchte ich im Folgenden vorstellen und in einem weiteren Schritt anhand von Beispielen aus den Lehrwerken aufzeigen, wie im Englischunterricht mit Hilfe der Erkenntnisse der englischen historischen Sprachwissenschaft die Vernetzung zwischen verschiedenen Sprachen und die Entwicklung von Sprachbewusstsein unterstützt werden kann. Dabei gehe ich, nach den verschiedenen sprachlichen Ebenen gliedernd, zunächst auf Anwendungsmöglichkeiten in der Unter- und Mittelstufe ein, bevor ich die Relevanz von sprachgeschichtlichen Kenntnissen in der gymnasialen Oberstufe herausstellen werde. 3.1

Unter- und Mittelstufe

In der Sekundarstufe I des gymnasialen Englischunterrichts in Bayern wird die englische Sprachgeschichte nur in der siebten Jahrgangsstufe als expliziter Unterrichtsgegenstand thematisiert, wo laut Lehrplan in der Landeskunde die Kelten, Römer, Angelsachsen und Normannen in der frühen Geschichte Großbritanniens

28

Ich möchte Laura Herbig für ihre wertvolle Vorarbeit bei der Sichtung der Lehrwerke danken.

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behandelt werden sollen.29 Implizit können die Lehrkräfte jedoch sprachgeschichtliches Hintergrundwissen bei der Behandlung verschiedener sprachlicher Aspekte in allen Jahrgangsstufen einfließen lassen, um nachhaltiges Lernen zu fördern. 3.1.1

Lexikologie

Für das Englische lässt sich ein Mischwortschatz ansetzen, der ein Resultat aus Sprachkontakt insbesondere mit dem Skandinavischen, dem Französischen und dem Lateinischen ist.30 Dabei führten unterschiedliche Gründe zum jeweiligen Kontakt des Englischen mit den anderen Sprachen. Beim skandinavischen Lehneinfluss in Folge der Wikingerherrschaft zu altenglischer Zeit und dem französischen Lehneinfluss in Folge der anglonormannischen Eroberung Englands im Jahr 1066 handelt es sich um Resultate von Eroberungssituationen und damit um Superstrateinflüsse der dominanten Sprache der Eroberer auf die Sprache der Eroberten, das englische Substrat. Im Gegensatz dazu sind das spätere französische Lehngut in der frühen Neuzeit sowie der lateinische Lehnwortschatz aus Prestigegründen ins Englische aufgenommen worden.31 Der resultierende, unter europäischen Sprachen einzigartige,32 englische Mischwortschatz zeichnet sich dadurch aus, dass zum einen der Grundwortschatz infolge der lexikalischen Beeinflussung des Substrats durch das Superstrat vor allem germanischer (vgl. z.B. man, woman, child altenglischen Ursprungs und call, take, die skandinavischen Ursprungs), aber auch französischer Herkunft (vgl. z.B. people, country, city) ist. Zum anderen findet sich in gehobenen Registern ein hoher Anteil an romanischen, v.a. lateinischen und auch französischen, Wörtern, die größtenteils in frühneuenglischer Zeit aufgenommen wurden.33 Diese Durchmischung des englischen Wortschatzes bedeutet für Schüler einerseits, dass sie mithilfe ihrer Englischkenntnisse den Wortschatz romanischer Sprachen leichter erschließen können. Andererseits helfen ihnen beispielsweise Lateinund Französischkenntnisse auch bei der Lektüre insbesondere anspruchsvoller Texte. Die diversen Lehneinflüsse haben den englischen Wortschatzes strukturell kompliziert. Während das Deutsche eine konsoziierte Sprache ist, in der Erbwörter in semantischen Feldern normalerweise formal durch Wortbildung verbunden sind (vgl. Mutter, mütterlich, Mutterschaft), handelt es sich beim Englischen um eine dissoziierte Sprache, in der Wörter eines Wortfeldes unterschiedlicher Herkunft sind und damit isoliert nebeneinander stehen (vgl. mother, motherly, maternal, maternity, motherhood).34 Insbesondere das Nebeneinander von beispielsweise motherly und maternal illustriert, dass sich für Wörter unterschiedlicher Her29 30 31 32 33 34

Vgl. Lehrplan Gym8, E1 7.3. Siehe z.B. Green Line New 3, Focus 1, 20. Vgl. Leisi/Mair 2008, 41. Vgl. Lutz 2012, Lutz 2013. Vgl. Leisi/Mair 2008, 41. Vgl. Scheler 1977, 72. Vgl. Leisi/Mair 2008, 51–54.

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kunft, die das gleiche Konzept bezeichnen, subtile Bedeutungsunterschiede herausgebildet haben. So ist das romanische Lehnwort maternal das neutralere Adjektiv und findet weitere Anwendung (z.B. maternal age, maternal grandfather, vgl. OLD, s.v. maternal), wohingegen motherly die Eigenschaft einer guten Mutter bezeichnet (vgl. OLD, s.v. motherly). Diese Beispiele zeigen, dass die Komplexität des englischen Wortschatzes eine idiomatische Anwendung und angemessene Registerwahl für den Lernenden oftmals erschwert. Das Bewusstsein für die Struktur des englischen Wortschatzes kann die Lehrkraft fördern, dadurch dass sie die Verwendung verschiedener Register in den Schulbuchtexten mit den Schüler kognitiv herausarbeitet, indem sie den Vergleich mit anderen romanischen Sprachen anregt und dabei die Verschiedenartigkeit der Lehneinflüsse aus der Perspektive des Sprachkontaktes thematisiert. In den Jahrgangsstufen-Lehrplänen der Unter- und Mittelstufe finden sich Anknüpfungspunkte zur Sprachgeschichte im Bereich der Lexikologie unter der Anforderung, Worterschließungsmethoden mithilfe von Sprachvergleich zu erwerben.35 In den Lehrwerken werden Erschließungsmethoden anhand von Sprachvergleich u.a. mit Verweis auf den romanischen und skandinavischen Lehneinfluss vermittelt. In den Englischbüchern für die siebte Jahrgangsstufe finden sich Übungen, die sowohl zum Sprachvergleich mithilfe von Beispielwörtern aus dem Gegenwartsfranzösischen anregen (siehe Übung 4, Green Line New 3, Abbildung 2) als auch zum Vergleich anhand von Beispielwörtern aus historischen Sprachstufen des Englischen, des Skandinavischen, des Lateinischen und des Französischen (siehe Übung 2 English G 3, Abbildung 1).

Abbildung 1: English G, Band 3, S. 52

In Übung 4 Green Line New 3 werden die Schüler dazu aufgefordert, basierend auf ihrer Erfahrung mit ihrer zweiten Fremdsprache die Bedeutung der französischen Wörter im Englischen zu erschließen. In einem weiteren Schritt sollen diese Wörter in vier verschiedene semantische Gruppen eingeteilt werden, für die ein passender Überbegriff gefunden werden soll.

35

Vgl. Lehrplan Gym8, E1 5.4, E1 6.4, E1 7.4 & E1 8.4.

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Abbildung 2: Green Line New 3, S. 21

Wie oben dargestellt, kann der französische Lehneinfluss in zwei Phasen aufgeteilt werden. Einerseits wurde das englische Substrat nach der normannischen Eroberung 1066 durch das anglonormannische Superstrat, die Sprache der Eroberer, massiv auf lexikalischer Ebene beeinflusst. Als Folge dessen durchdringt der französische Lehnwortschatz den englischen Grundwortschatz (z.B. arrive, family, station). Andererseits wurden in frühneuenglischer Zeit französische Wörter auch aus Prestigegründen entlehnt, da Frankreich und die französische Sprache im Europa des 17. Jahrhunderts einen hohen politischen und kulturellen Status hatten, was sich besonders in bestimmten semantischen Feldern wie z.B. Kunst, Kultur (dance, music, poem, theatre) zeigt. Der Hinweis auf Anglizismen im Deutschen (z.B. cool, daten, faken), bei denen das Prestige des Englischen ebenfalls Grund für die Entlehnung war, kann den Schülern diese Art von Lehneinfluss verständlicher machen. In der siebten Jahrgangsstufe können die Grundlagen für das Bewusstsein gelegt werden, dass Englisch durch das Französische beeinflusst wurde. Darauf kann dann im Laufe der Mittelstufe, wenn die Schüler allmählich verschiedene Register kennenlernen, aufgebaut werden, wie in Aufgabe 5 für die zehnte Jahrgangsstufe (Abbildung 3), in der die Schüler unterstützt durch die Information, dass Wörter altenglischen Ursprungs häufiger einem umgangssprachlicheren Register angehören als ihre Synonyme romanischer Herkunft, Synonympaare finden müssen.

Abbildung 3: English G, Band 6, S. 113

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Die Angaben in der Aufgabenstellung sollten von der Englischlehrkraft durch einen Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung des Neuhochdeutschen und des Altenglischen und der daraus resultierenden Ähnlichkeit ergänzt werden. Als weitere Übungsform für das Ende der Mittelstufe wäre beispielsweise denkbar, die Schüler, basierend auf ihren Deutschkenntnissen und ihrer Erfahrung mit einer zweiten oder auch dritten (romanischen) Fremdsprache, Texte unterschiedlichen Registers auf den Wortursprung hin untersuchen zu lassen. Darüber hinaus könnte man den Schülern noch die Aufgabe geben, die Wörter nach Gebrauchshäufigkeit zu klassifizieren. Als Folge der Durchmischung des englischen Wortschatzes haben sich beispielweise Wortverbände aus hochfrequenten Verben germanischer Herkunft und Adverbien, die sog. phrasal verbs gebildet (z.B. bring up, go down, look up), die neben Simplizia romanischen Ursprungs stehen.36 Diese Wortverbände werden ebenfalls sehr häufig verwendet, insbesondere in niedereren Registern. Ein Bewusstsein für semantische Kategorien und die Verteilung des englischen Wortschatzes nach dessen Etymologie kann den Schülern bei der Wahl des richtigen Registers bei ihrer eigenen Textproduktion behilflich sein. 3.1.2

Morphologie aus kontrastiver Perspektive

Die englische Morphologie ist, im Gegensatz zum Deutschen, sehr regelmäßig. Die Ausnahmen zu den regelmäßigen morphologischen Mustern können durch den Sprachvergleich mit dem Deutschen und dem Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung des Deutschen und des Englischen besser behalten werden. Im Lehrplan für die zehnte Jahrgangsstufe werden Kenntnisse grammatischer Besonderheiten vorausgesetzt, die im Laufe der Sekundarstufe I erworben werden sollten.37 Ein weiterer Lerninhalt ist die kontrastive Betrachtung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem Englischen und dem Deutschen.38 Beim Erwerb dieser Kenntnisse und Fertigkeiten können sprachhistorische Einblicke ein tieferes Verständnis erzielen, wie an den folgenden ausgewählten Beispielen aus den Lehrwerken verdeutlicht werden soll. Obwohl der Plural der englischen Substantive generell regelmäßig mithilfe des Pluralsuffixes -s gebildet wird, gibt es einige Ausnahmen, zumeist bei hochfrequenten Wörtern.39 Einige der Ausnahmen gehen auf den altenglischen i-Umlaut zurück, bei dem ein [i] oder [j] in der unbetonten Folgesilbe den velaren Tonvokal qualitativ beeinflusste und palatalisierte, z.B. germanisch *[foːt-iz] > altenglisch fēt.40 Der zweite Eintrag im abgebildeten Auszug aus dem Vokabelteil des Englischbuches Green Line New 1 für die fünfte Jahrgangsstufe (vgl. Abbildung 4) zeigt, dass der 36 37 38 39 40

Vgl. Leisi/Mair 2008, 54–55. Vgl. Lehrplan Gym8, E1/2 10.1. Vgl. z.B. Lehrplan Gym8, Jahrgangsstufe 9, E1 9.1. Vgl. Görlach 2002, 52. Vgl. Obst/Schleburg 2004, 89–90.

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unregelmäßige Plural feet durch die deutsche Übersetzung mit der ebenfalls unregelmäßigen Pluralform Füße ergänzt wird, die den Plural ebenfalls mit einem Umlaut bildet.

Abbildung 4: Green Line New 1, S. 162

Auf dieses parallele Muster kann die Lehrkraft explizit hinweisen. Da umgelautete Pluralformen sowohl im Englischen als auch im Deutschen bei einer Reihe häufig verwendeter Wörter vorkommen (z.B. goose ‒ geese, mouse ‒ mice, tooth ‒ teeth und Gans ‒ Gänse, Maus ‒ Mäuse, Zahn ‒ Zähne), könnten Schüler zur besseren Internalisierung dieser Ausnahmeformen in einer Übung dazu aufgefordert werden, für verschiedene englische Nomen mit regelmäßiger und unregelmäßiger Pluralbildung und ihre deutschen Entsprechungen die richtige Pluralform zu finden. Bei der Zuordnung der deutschen und englischen Paare könnten die Schüler dann gefragt werden, wie die Plurale im Englischen und im Deutschen jeweils gebildet werden und ob ihnen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auffallen. Eine weitere klassische Schwierigkeit für Englischlernende sind die unregelmäßigen Verben, die leider häufig nur unsystematisch auswendig gelernt werden. Der Vergleich mit dem Deutschen, wo die starken Verben genau wie im Alt- und Mittelenglischen die Präterital- und Partizipialformen durch Ablaut, d.h. regelmäßige Alternation des Stammvokals, bilden,41 kann auch hier ein Bewusstsein für Muster fördern. So erleichtert die Erkenntnis, dass die englischen Stammformen drink drank drunk, wenn auch anders ausgesprochen, die gleiche Vokalalternation aufweisen wie die deutschen Formen trinken trank getrunken (dritte Ablautklasse) das Erlernen des englischen Musters, weil sie eben auf die gleiche Ablautreihe zurückgehen. 3.1.3

Phonetik und Phonologie

Im Englischen haben Lautwandel, insbesondere die Große Vokalverschiebung (GVS; ca. 1450 bis 1700), zu einer Diskrepanz zwischen Schrift und Lautung geführt, wodurch es keine eindeutige Graphem-Phonem-Korrespondenz zu geben scheint.42 Der Begriff Große Vokalverschiebung ist etwas irreführend, da es sich eigentlich nicht nur um eine Verschiebung handelt, die einheitlich verlief, sondern 41 42

Vgl. Obst/Schleburg 1999, 140–145, 2004, 169–180. Vgl. Barber 2000, 201–202, Görlach 2002, 31–32.

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um das Resultat mehrerer lokaler Verschiebungen im Laufe mehrerer Jahrhunderte.43 Das Endresultat ist die Hebung der langen Vokale, so dass beispielsweise der halbgeschlossene Vorderzungenvokal /eː/ zu /iː/ und der halbgeschlossene Hinterzungenvokal /oː/ zu /uː/ gehoben wurden. Die geschlossenen Vokale /iː/ und /uː/ wiederum konnten nicht weiter angehoben werden und wurden daher zu /aɪ/ und /aʊ/ diphthongiert. Bei den Konsonanten haben das Verstummen einiger Laute, u.a. der gutturalen Reibelaute /x/ und /ç/, wie bei thought und knight (vgl. Obst/Schleburg 1999: 48), und der Abbau von Konsonantenverbindungen, wie z.B. [kn-] zu [n-] ebenfalls bei knight [naɪt] und knee [niː],44 zur Diskrepanz zwischen Schreibung und Lautung beigetragen. Für Englischlernende bedeutet dies, dass die Aussprache unbekannter Wörter oftmals nicht vorhersagbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Betonung englischer Wörter unsystematisch erscheint, da sich das ursprünglich germanische Betonungsmuster der englischen Wörter mit Erstsilbenbetonung durch die Aufnahme französischen Wortguts mit Endsilbenbetonung verschob. Die scheinbare Unvorhersagbarkeit der Aussprache und Betonung stellt für Englischlernende eine Herausforderung dar. Im bayerischen Lehrplan für das Gymnasium wird von Anfang an ein Schwerpunkt auf die kognitive Durchdringung der schwierigen Graphem-PhonemBeziehung im Englischen gelegt. So ist bereits im Jahrgangsstufen-Lehrplan für die fünfte Jahrgangsstufe vorgesehen, dass die Schüler „grundlegende Zusammenhänge von Lautung und Schreibung kennen“.45 Der Blick an den Beginn des Vokabelteils des Englischlehrwerkes Green Line New 1 (vgl. Abbildung 5) zeigt, dass anhand einer Auflistung der Konsonanten, Monophthonge und Diphthonge des Englischen mitsamt Beispielwörtern ein Versuch der Systematisierung unternommen wird.

43 44 45

Vgl. Lass 2006, 81–83, Nevalainen 2006, 120–122. Vgl. Obst/Schleburg 1999, 49–50. Lehrplan Gym8, E1 5.1.

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Abbildung 5: Green Line New 1, S. 156

Im Englischunterricht können Hinweise auf die Zusammenhänge von Schreibung und Lautung, basierend auf den Erkenntnissen der historischen Sprachwissenschaft, den Schülern ein Verständnis für die Aussprache bestimmter Buchstabenkombinationen vermitteln, die Lernern unlogisch erscheint. Dies möchte ich am Beispiel der Großen Vokalverschiebung (GVS) genauer erläutern. In der Ausspracheübung Aufgabe 5 aus GLN 1 (Abbildung 6) sind die Diphthonge [aɪ] (< [iː]) und [aʊ] (< [uː]) direkte Ergebnisse der GVS.

Abbildung 6: Green Line New 1, S. 17

Diese Übung könnte systematisch erweitert werden, indem die Schüler dazu aufgefordert werden, in einem Text nach den Schreibungen zu suchen, die die Aussprache [aɪ] und [aʊ] repräsentieren. Diese sollten dann in einer Tabelle gelistet werden und die Schüler können mit Unterstützung der Lehrkraft darüber nachdenken, ob sich die Schreibungen systematisieren lassen. An dieser Stelle kann das Wissen um die GVS und die Tatsache, dass die englische Orthographie den Lautstand vor der GVS bewahrt hat, das Verstehen fördern und bei der Internalisierung der GraphemPhonem-Beziehungen helfen.

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Im Hinblick auf die Betonungsmuster insbesondere des romanischen Anteils des englischen Wortschatzes kann bei Übungen wie Aufgabe 2b aus GLN 3 für die siebte Jahrgangsstufe (vgl. Abbildung 7) das Wissen um den französischen Lehneinfluss und die Anpassung des französischen Akzentmusters an das germanische den Schülern helfen, die scheinbar willkürliche Betonung systematisch zu erschließen. Ursprünglich wurden Wörter germanischen Ursprungs auf der ersten Silbe betont (z.B. bærnan [bærnən] ,brennen‘), Ausnahmen bildeten Präfigierungen (z.B. forbærnan [for'bærnən] ,verbrennen‘), wo die Betonung auf der Stammsilbe lag.46 Die Betonungsmuster im Französischen und Lateinischen sind im Gegensatz zum germanischen Wortakzent rechtsbündig, mit Betonung auf der letzten betonbaren Silbe.47 Im Mittelenglischen wurden französische Lehnwörter in das ererbte linksbündige Betonungsmuster eingegliedert, indem der Wortakzent sich nach links verschob. Die Betonungsmuster bei Entlehnungen mit Suffixen (z.B. Altfranzösisch -itée >Englisch -íty, wie in ability) blieben rechtsbündig, wobei sich der Akzent dennoch weiter nach links verschob. Lateinische Entlehnungen mit Suffigierungsmustern, die nicht über das Französische ins Englische entlehnt wurden, behielten ihre ursprüngliche Betonung wie im Lateinischen (z.B. Latein -ísticus > Englisch -ístic wie in characteristic).48 Übungen wie Aufgabe 2b aus Green Line New 3 für die siebte Jahrgangsstufe, in der die Schüler die Wörter im Kasten entsprechend ihrer Betonungsmuster in vier Spalten einordnen sollen, zeigen, dass die schwierigen englischen Betonungsverhältnisse im Englischunterricht recht unsystematisch thematisiert werden.

Abbildung 7: Green Line New 3, S. 13

Allerdings regt diese Übung keine Systematisierung an. Als Erweiterung und Ergänzung könnte man den Schülern beispielsweise eine Reihe englischer Wörter und ihre französischen Entsprechungen geben, für die sie jeweils den Wortakzent bestimmen sollen. Mit dem Hinweis darauf, dass die Betonung französischer Wörter bei der Entlehnung an das germanische Muster im Englischen angepasst wurde, 46 47 48

Vgl. Obst/Schleburg 1999, 55. Vgl. Lutz 2013, 582. Vgl. Lutz 2013, 583.

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können die Schüler im Anschluss daran selbst entdecken, wie sich die Betonung vom Französischen zum Englischen hin verändert hat, und Regeln formulieren. So kann sich bei den Schülern ebenfalls ein tieferes Verständnis für die englischen Betonungsverhältnisse herausbilden. Bei der fortgeschrittenen Übung in Aufgabe 9 aus English G 6 für die zehnte Jahrgangsstufe (vgl. Abbildung 8) geht es um die bewusste Reflexion der unterschiedlichen Betonungsmuster im Englischen und im Deutschen, insbesondere bei romanischen Lehnwörtern.

Abbildung 8: English G, Band 6, S. 36

Das Hintergrundwissen um die Verschiedenartigkeit des romanischen Lehneinflusses im Englischen und im Deutschen vermag auch hier den Schülern dabei helfen, ein besseres Verständnis für die Unterschiede beim Wortakzent zu erlangen. Während das französische Lehngut, wie bereits erwähnt, aufgrund einer Eroberungssituation in das Englische aufgenommen wurde und damit superstrataler Art ist, handelt es sich beim romanischen Lehneinfluss im Deutschen um ein Kulturadstrat. Dementsprechend wurden die romanischen Lehnwörter im Deutschen nie so sehr in das Sprachsystem integriert, wie das im Englischen der Fall war. Im Hinblick auf die Wortbetonung zeigt sich das daran, dass im Deutschen die romanische Endbetonung bei Lehnwörtern wie Akzent anders als im Englischen beibehalten 49 wurde. 3.2

Oberstufe

In der Sekundarstufe II soll die in der Unter- und Mittelstufe begonnene bewusste Auseinandersetzung mit den Strukturen der englischen Sprache unter Zuhilfenahme anderer Sprachen fortgesetzt und intensiviert werden. So sieht der Lehrplan vor, dass Worterschließungsmethoden mithilfe der Kenntnisse anderer Sprachen und des Wissens um die englische Wortschatzstrukturierung und Wortbildung weiter eingeübt werden sollen.50 Darüber hinaus sollen die Schüler die „Wortschatzstruk49 50

Vgl. Lutz 2009. Vgl. Lehrplan Gym8, E 11/12.1.

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turierung und Wortbildung reflektieren“ und Sprachvergleich betreiben anhand ihrer Kenntnisse über Unterschiede zwischen dem Englischen und dem Deutschen bzw. anderen Sprachen.51 Im Gegensatz zur Sekundarstufe I, in der keine explizite Auseinandersetzung mit den historischen Sprachstufen des Englischen anhand von Texten im Lehrplan vorgesehen ist, sollen im Englischunterricht der gymnasialen Oberstufe auch historische Texte verwendet werden und beispielsweise Shakespeare auszugsweise gelesen werden.52 Damit die Shakespeare Lektüre keine reine Pflichtübung bleibt, brauchen die Schüler Unterstützung in Form sprachgeschichtlichen Hintergrundwissens auf verschiedenen sprachlichen Ebenen. Ein Übungsvorschlag hierzu, in dem die frühneuenglischen Ausdrücke ihren gegenwartsenglischen Entsprechungen zugeordnet werden sollen, findet sich im Oberstufenlehrwerk Context 21 (vgl. Abbildung 9).

Abbildung 9: Context 21 (Ansichtsexemplar), S. 226

51 52

Vgl. Lehrplan Gym8, E 11/12.1. Vgl. Lehrplan Gym8, E 11/12.1 & E 11/12.2.

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Die frühneuenglischen Beispielsätze zeigen, dass die Unterschiede nicht allein auf lexikalischer Ebene zu suchen sind. Im elisabethanischen Englisch wurden z.B. noch das Personalpronomen der zweiten Person Singular thou sowie die entsprechende Verbendung –(e)st verwendet, wie in „What dost thou think?“. Im Altenglischen wurde bei den Anredepronomen einzig nach Singular und Plural unterschieden. Erst im Mittelenglischen wurde durch den französischen Lehneinfluss die Unterscheidung in Nähe und Distanz eingeführt, wobei zum Ausdruck von Distanz zwischen Sprecher und Adressat die Pluralpronomen ye (Subjekt) und you (Objekt) verwendet wurden.53 Darüber hinaus werden Vollverben bei Shakespeare noch ohne Umschreibung mit do verneint, siehe „Thou lik‘dst not that“. Die Umschreibung mit do zur Verneinung und Fragebildung, aber auch in Aussagesätzen, kam gegen Ende der mittelenglischen Zeit auf und nahm im Laufe des 16. Jahrhunderts rapide zu. Bestimmte Verben wie z.B. know konnten dabei länger ohne Paraphrase mit do verneint werden.54 Eine kurze Einführung in morphologische und syntaktische Besonderheiten des Frühneuenglischen kann den Schülern mehr Selbstvertrauen im Umgang mit Shakespeare-Texten geben und sie damit zur eigenständigen Lektüre motivieren.

4

Fazit

Meine Sichtung der Jahrgangsstufen-Lehrpläne für das Fach Englisch am Gymnasium in Bayern hat ergeben, dass recht wenige explizite Vorgaben im Hinblick auf die Sprachgeschichte gemacht werden. Dementsprechend wird sprachgeschichtliches Hintergrundwissen in den Lehrwerken auch nur spärlich thematisiert. Dennoch habe ich argumentiert und an konkreten Beispielen aus den Lehrbüchern demonstriert, dass der Rückgriff auf die Sprachgeschichte ein wichtiges Werkzeug im Hinblick auf die im Lehrplan geforderte Ausbildung des Sprachbewusstseins und die Sprachreflexion ist. Englischlehrkräfte können sprachhistorisches Hintergrundwissen gewinnbringend im Unterricht verwerten, um ein tiefgreifendes Verständnis auf verschiedenen sprachlichen Ebenen zur erzielen. Insbesondere können sprachgeschichtliche Kenntnisse bei der Erschließung und späteren Reflexion des englischen Wortschatzes helfen, zum Sprachvergleich mit dem Deutschen im Wissen um die gemeinsame Herkunft anregen und grammatische Besonderheiten erleuchten. Sie dienen als Hilfsmittel, um Vernetzungen zwischen verschiedenen Sprachen herzustellen, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, Unregelmäßigkeiten zu erklären und können damit die Fremdsprachenkompetenz, den erfolgreichen Erwerb mehrerer Fremdsprachen sowie nachhaltiges Lernen fördern.

53 54

Vgl. Crystal 2004, 307–310, Lass 2006, 96–98. Vgl. Fischer/Wurff 2006, 154–158.

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Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion „Sprache ermöglicht uns die begriffliche Organisation von 1 Erfahrung“ Ute Hofmann 1

Einleitung

Ziel dieses Beitrages ist es, anhand der „Seil-Metapher“ das Zusammenspiel und die gegenseitige Beeinflussung von Sprachvarietäten zu veranschaulichen und anschließend ein Modell vorzustellen, das die verschiedenen Aspekte der Interaktion von Sprachvarietäten und Sprachwandel beschreibt und die Themen Sprachbetrachtung und Sprachreflexion neu beleuchtet. Beschäftigt man sich intensiver mit Sprachwandel und Sprachvarietäten, kommt man nicht umhin, sich zunächst mit scheinbaren Grundbegriffen wie „Wandel“, „Kodex“ und „Norm“ auseinanderzusetzen. „Wandel“, im Duden2 synonym zu „Umschwung, Veränderung, Wechsel“, wird im Folgenden zunächst so verstanden, dass sich zu einer bestimmten sprachlichen Ausdrucksform eine oder mehrere weitere Realisierungsmöglichkeiten entwickelt haben, die sogenannten Mutationen oder Variationen. Will man die sprachliche Ausgangsform mit der veränderten Form vergleichen und den Wandel beschreiben, kommt der Normbegriff ins Spiel. Denn nach dem Wandel scheinen gewisse sprachliche Phänomene nicht mehr bestimmten Normen des sogenannten Gebrauchsstandards3 zu entsprechen. Üblicherweise werden in der Fachliteratur damit unter Sprachwandel Phänomene verstanden, die sich von einem normierten Zustand A in einen (noch) nicht normierten Zustand B gewandelt haben. Dies muss allerdings nicht zutreffen, wie wir später sehen werden: Der Zustand A einer Sprache muss nicht unbedingt ein normierter Zustand gewesen sein, er kann abseits der sogenannten Norm stehen, ebenso wie (höchstwahrscheinlich) sein Folgezustand B. Norm wird dabei als die Summe sprachlicher Regeln aufgefasst, darf aber nicht mit „Sprachkodex“4 gleichgesetzt werden: „Zum Sprachkodex einer Sprache gehören alle metasprachlichen Schriften, die für eine Sprachgemeinschaft zu einem 1 2 3 4

Nach Bieri 2011, 63. Duden, Band 10: Das Bedeutungswörterbuch. Ausführlich zu Begriffen wie „Standard, Gebrauchsstandard, standardsprachliche Normen“ siehe Kapitel 2 und Eichinger 2005, 1–6, Löffler 2005, 7–27. Ausführlich zu „Sprachkodex, Kodifizierung“ siehe Klein 2014, 219–242 sowie Elspaß 2005, 69 und die jeweils dort zitierten Untersuchungen.

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bestimmten Zeitpunkt als Normautoritäten zur Verfügung stehen und von ihr auch als Normautorität wahrgenommen werden. Der Sprachkodex kann sich auf unterschiedliche Ebenen und Instanzen der Sprache beziehen: Aussprache, Schreibung, Grammatik (Wort- und Wortformenbildung, Syntax), Lexik, Semantik, Pragmatik.“5 Ein Sprachkodex ist demnach eine konkrete schriftliche Zusammenstellung sprachlicher Regeln und keine abstrakte Sprachnorm. Beim Thema Sprachwandel hat man es insoweit mit dem Sprachkodex zu tun, als sich die meisten Untersuchungen auf Sprachwandelphänomene der sogenannten Standardsprache beschränken, deren Regeln in einem Sprachkodex fixiert sind: „In diesen metasprachlichen einschlägigen Schriften (v.a. Grammatiken und Wörterbücher) liegt der Kodex einer Sprache vor, der sich auf eine funktional besonders leistungsfähige und prestigebehaftete Varietät einer Sprache („Standardsprache“) bezieht (…).“6 Im Folgenden soll es aber nicht nur um diese eine Varietät gehen, nicht nur um Standardsprache. Es wird vielmehr versucht, den Sprachwandel in Beziehung zu allen Varietäten zu setzen. Sprachgeschichtlich darf der Zusammenhang zwischen Sprachkodex und Sprachentwicklung bzw. Sprachwandel natürlich nicht übersehen werden: So stellt das Vorhandensein einer Sprachkodifizierung einen wichtigen Aspekt der Standardisierung dar. Sprecher kodifizierter Sprachen scheinen anders zu agieren als Sprecher nicht kodifizierter Sprachen: „Wenn es einen Sprachkodex gibt, wird das individuelle und kollektive Sprachbewusstsein samt der korrespondierenden Sprachaufmerksamkeit anders aussehen als in einer Situation, wo keine Sprachregeln „festgeschrieben“ sind.“7 Prinzipien des Sprachwandels müssen demnach nicht gleichermaßen auf kodifizierte und nicht kodifizierte Sprachen zutreffen.8 Im Folgenden ist nun zu klären, ob und wie der Normbegriff mit Sprachwandel in Verbindung gebracht werden kann, ob wir es bei den untersuchten Phänomenen tatsächlich immer mit Sprachwandel zu tun haben, wenn man Sprachwandel als den Wandel einer normierten Sprachvarietät ansieht, oder ob es sich hier nicht vielmehr um Phänomene handelt, die nichts oder noch nichts mit der sogenannten normierten Sprache zu tun haben, die also nicht Sprachwandel in diesem normorientierten Sinne darstellen. Wir werden daher zunächst die begriffliche Vielfalt eingrenzen und auf Bezeichnungen wie Gebrauchsstandard, Norm- und Standardsprache eingehen sowie auf ihre Abgrenzungsproblematik und Modellierungen. Anschließend wird der Terminus „Sprachwandel“ präzisiert und erläutert, warum es sich in vielen Fällen nicht um

5 6 7 8

Klein 2014, 222. Klein 2014, 220. Klein 2014, 221. Hier stellt sich im Übrigen auch die Frage, wie man Sprachwandel von Sprachen ohne kodifizierte Sprachnormen und damit auch Sprachwandel bestimmter Sprachvarietäten adäquat beschreiben kann. Die „Seil-Metapher“ und das unten entworfene Modell der Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten können kodifizierte und nicht kodifizierte Varietäten gleichermaßen erfassen.

Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion

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Sprachwandel in diesem Sinne, sondern um eine „Variationenverschiebung“ oder um „Sprachvarietätenwandel“ handelt. Nach einer kurzen Zusammenfassung bisheriger Erklärungsansätze, Motive und Faktoren von Sprachwandel wird anhand der SeilMetapher die Interaktion der einzelnen Sprachvarietäten veranschaulicht und abschließend das Modell der Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten vorgestellt. Mit diesem Modell können einerseits Wandelphänomene erfasst werden, die abseits der bisher untersuchten, normierten Varietät stattfanden; andererseits können damit das Verhältnis der Varietäten untereinander und das Verhältnis der Varietäten zum varietätenübergreifenden Gebrauchsstandard beschrieben werden. Abschließend wird diskutiert, wie sich dieses Interaktionsmodell auf Sprachreflexion, Sprachbetrachtung sowie auf den Sprachverfallsdiskurs und die Unterscheidung in „richtigen“ und „falschen“ Sprachgebrauch auswirkt.

2

Standardsprache, Normsprache, Gebrauchsstandard – Sprachvarietäten und die begriffliche Vielfalt

Untersuchungen zum Sprachwandel orientieren sich vorwiegend an einer überregionalen und normierten Sprachvarietät. Dabei konkurrieren Begriffe wie „Standardsprache, Normsprache, Hochsprache, Schriftsprache, Gemeinsprache, Nationalsprache, Literatursprache, Einheitssprache“ bzw. „Substandard, intendierter Standard, Gebrauchsstandard, etc.“9 und führen zu den Fragen: Was bedeuten sie genau, wie unterscheiden sie sich und wie stehen sie zueinander? Bezüglich der Begriffe möchte ich hier keinen weiteren terminologischen Diskurs führen und mich im Folgenden auf Stefan Kleinerts Konzept „Gebrauchsstandard“10 beziehen. Er bezeichnet damit die „empirisch feststellbare Sprachform, die uns in formellen Situationen (…) unserer Spracherhebung mit Sprecherinnen und Sprechern mit höherer Schulbildung entgegentritt.“11 Es „steht damit dem ‚standard language‘-Konzept der Anglistik nahe“ und nimmt Bezug zu Barbour/Stevenson (1998), nach denen dieses Konzept „sich auch auf die deutsche Sprache anwenden lässt“. Vorteil dieses Begriffs ist nicht zuletzt auch seine begriffliche Neutralität im Vergleich zu Termini wie „Substandard“ oder „Nonstandard“.12 Für die Aussprache mündlicher Ausdrucksformen wird in Anlehnung an Kleinert das Konzept der Standardaussprache zu Grunde gelegt, einer sogenannten „Rechtlautung“, parallel zur „Rechtschreibung“.13 9

10 11 12 13

Weitere Begriffe z.B. bei Ammon 2005, 28–40, Braun 1998, 7–25, Kleinert 2014, 277–298, Knipf-Komlósi u.a. 2006, 183f., Löffler 2005, 7–27. Zur begrifflichen Uneinigkeit von „Standardsprache“ und Relevanz der Sprachnormfrage für den Deutschunterricht: Davies/Langer 2014, 299–321. Kleinert 2014, 277f., ausführlich: Behrend 2005, 143–170. Kleinert 2014, 277f. Kleinert 2014, 277f., Löffler 2005, 10. Kleinert 2014, 293, inkl. ihrer Legitimationsproblematik.

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Unterschiedliche Stil- bzw. Sprachvariationen sind beim Gebrauchsstandard empirisch zweifelsohne festzustellen. Wie steht es dabei um ihr Verhältnis zueinander? Diese Variationen wurden traditionell vertikal und ohne Übergänge angeordnet.14 Ein solches hierarchisches Schichtenmodell mit den von unten nach oben aufeinander angeordneten Ebenen wie Umgangssprache, darüber Normalsprache,15 Bildungssprache und ganz oben Hochsprache birgt viele Probleme und Unzulänglichkeiten. Die unscharfen Einteilungen und die problematische Abgrenzung der einzelnen übergangslosen Schichten zueinander führten in den letzten Jahren vermehrt dazu, keine Hierarchie mehr, sondern ein Kontinuum mit Überlappungen als Modell der Sprachvariationen anzunehmen. Den folgenden Ausführungen wird dieses Modell vom Kontinuum zugrunde gelegt.16 Wo das einzelne Individuum in diesem Kontinuum steht, ist dabei sehr unterschiedlich und variabel, gegebenenfalls auch situativ bedingt und „eine Frage exakter Beobachtung.“17

3

Variationenverschiebung, Sprachvarietätenwandel, Sprachwandel – Versuche der Modellierung

Grundsätzlich ist Sprachwandel auf allen linguistischen Ebenen der Sprache18 sowie Ebenen übergreifend19 zu beobachten. Untersuchungen zur deutschen Gegenwartssprache und zum deutschen Sprachwandel orientierten sich dabei vorwiegend an der geschriebenen sogenannten Standardsprache, die als „eine funktional besonders leistungsfähige und prestigebehaftete Varietät einer Sprache (…)“ beschrieben wird.20 Soziokulturell gilt sie bei Kritikern als „elitär-hochkulturell“, die nur von „einer kleinen, dominanten, aber nicht repräsentativen Minderheit der deutschen Sprachgemeinschaft“ verwendet wird.21 Die Orientierung an dieser Sprachvarietät hatte zur Folge, dass viele Sprachwandelphänomene nicht beachtet wurden, weil sie dieser normierten Varietät nicht angehören, sondern vielmehr Phänomene von Varietäten sind, die teils noch weit

14 15 16 17 18 19 20 21

Zur Problematik ihrer Abgrenzung zur sog. „Umgangslautung“ vgl. Duden 2005a, § 60, der sie als „die Aussprachevarietät der alltäglichen mündlichen Kommunikation“ bezeichnet. „Als solche ist sie uneinheitlich und schwer von der Standardlautung abzugrenzen“. Typische Merkmale werden in § 61ff. genannt. Zu den Merkmalen einer „Standardaussprache“ vgl. Altmann/Ziegenhain 2007, 53–71 bzw. zu „Standardlautung“ Duden 2005b, 34–63 und Duden 2005a, §51–52. Z.B. bei Knipf-Komlósi u.a.2006, 183–187. Diese bezeichnen Knipf-Komlosi u.a. 2006, 184 dabei als „Grundnorm“. Ausführlich dazu: Löffler 2005, 21 und sein Verweis auf Barbour/Stevenson 1998. Löffler 2005, 21. Wie Phonologie, Morphologie, Semantik, Syntax, Pragmatik – siehe die entsprechenden Untersuchungen bei Nübling 2006. Vgl. Leiss 1998. Klein 2014, 220. So Elspaß 2005, 63, der in diesem Zusammenhang einen „Perspektivenwechsel“ fordert, der „die jüngere Sprachgeschichte aus einer Perspektive ‚von unten‘ betrachtet“ und „man nicht auf einer Ansicht ‚von oben‘ beharrt“.

Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion

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entfernt von Kodifizierung und Norm sind. Solche Sprachwandelphänomene werden in die folgenden Untersuchungen miteinbezogen,22 machen sie doch durchaus einen wesentlichen Teil unserer Sprache aus. Darüber hinaus wurden durch diese Perspektivenbeschränkung sprachliche Phänomene als Sprachwandel bezeichnet, die in der mündlichen Sprache oder in Varianten des deutschen Gebrauchsstandards durchaus schon längere Zeit usuell waren.23 Die tatsächliche Veränderung einer Ausdrucksform hatte schon längst stattgefunden, die Norm hat den Wandel sozusagen nur erst jetzt „entdeckt“, die veränderte Form erst jetzt aufgenommen. Die sprachliche Veränderung wanderte also nur von einer nicht untersuchten bzw. nicht beschriebenen Varietät in eine prominentere Varietät. Wir haben es hier genau genommen nicht mehr mit aktuellem Sprachwandel bzw. nicht mit einem zum aktuellen Zeitpunkt tatsächlich aufgetretenen Wandel zu tun, sondern vielmehr mit einer Variationenverschiebung: mit einer Verschiebung eines sprachlichen Wandels bzw. einer sprachlichen Variation aus einer Varietät A in die Varietät Normsprache. Für die vorher vollzogene sprachliche Veränderung erscheint der üblicherweise verwendete Begriff „Sprachwandel“ ungenau, weil „Sprachwandel“ in diesen Untersuchungen ja meist nur den Wandel innerhalb der Normsprache bezeichnet, die Veränderungen aber gerade nicht in der Normsprache stattgefunden haben, sondern in einer nicht normierten Sprachvarietät. Sprachvarietätenwandel im Sinne von Wandel innerhalb einer spezifischen Sprachvarietät könnte diesen Prozess exakter bezeichnen. Mit den Termini „Variationenverschiebung“ und „Sprachvarietätenwandel“ umgehen wir auch die Gefahr, den entscheidenden Entstehungs- und Entwicklungsschritt einer sprachlichen Veränderung zu überspringen: Die sprachliche Veränderung ist ja zunächst eine okkasionelle Erscheinung, individuell, ein Wandel im Idiolekt oder in einer kleineren Sprachgemeinschaft. Sie tritt dabei zunächst meist im mündlichen Sprachgebrauch und nicht im Norm- und Schriftsprachlichen auf. Sprachliche Veränderungen schleichen sich erst allmählich über kleinere Sprachgemeinschaften in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Da Sprache in Erklärungskonzepten wie dem der unsichtbaren Hand24 oder der Grammatikalisierung25 als elementarer Bestandteil der sozialen Interaktion gilt und durch Regularitäten des Sprachgebrauchs, d.h. der Performanz, zu erklären ist, sind auch die Vielfalt einer Sprache, ihre unterschiedlichen Realisierungsmöglichkeiten und Veränderungen entsprechend auf der Ebene der Performanz anzusiedeln und zu beschreiben. So schreibt M. Haspelmath: „Mein Fazit ist also, dass Grammatikalisierung soziale Interaktion voraussetzt, und dass man die beobachteten Phänome22 23 24 25

Z.B. mit Variationen aus dem Kiezdeutschen oder den sogenannten Neuen Medien wie SMS oder WhatsApp. Elspaß 2005, 83–86, z.B. wegen + Dativ, brauchen ohne zu, weil + Verbzweitstellung. Keller 2003, 210. Ausführlich dazu: Szczepaniak 2009 und Haspelmath 2005 und die dort zitierte Literatur.

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ne des Sprachwandels nur auf diese Weise erklären kann.“ Die „Regularitäten des Sprachgebrauchs, also der Performanz“ sind dabei elementar. Grammatik entsteht demnach „als Nebenprodukt des normalen Sprachgebrauchs, und zwar immer von neuem, Kompetenz entsteht im Sprachgebrauch aus Performanz (…).“26 Der Terminus „Sprachwandel“ sollte entsprechend auch nichts Aktives suggerieren, in dem Sinne, dass sich die Sprache selbst wandelt. Die Sprache selbst ist kein Agens, sie wird gewandelt, wird verändert im Sprachgebrauch, und zwar von den Sprachbenutzern. Die Veränderungen können intendiert sein, z.B. beim bewussten Versuch, Expressivität zu steigern und daher gewohnte Sprachmuster zu verändern,27 können aber auch nicht intendiert und wie durch eine „unsichtbare Hand“ gesteuert sein.28 Voraussetzung für sprachlichen Wandel ist „die grundsätzliche Variabilität von Sprache“29; sie kann ständig zu Veränderungen in der Sprache führen, die von den Sprachnutzern selbst aber kaum wahrgenommen werden. Die sprachlichen Veränderungen selbst gelangen nicht unbedingt, nicht sofort und auch nicht immer in die Normsprache: Sie können rein situationsabhängige Varianten sprachlicher Normen sein und in anderen sprachlichen Kontexten nicht verwendet werden; sie können aber auch mehrmals oder anhaltend verwendet, können von anderen Sprechern bzw. anderen Varietäten übernommen und usualisiert werden. Erst wenn die Grenzen der ersten Varietät überschritten werden, wenn die Veränderung in eine zweite oder mehrere weitere Varietäten gelangt, wenn die signifikante Mehrheit der Varietäten bzw. der Gebrauchsstandard sie übernommen haben, dann hat der Wandel varietätenübergreifend in der Sprache Fuß gefasst und wir können von einem Wandel in der Sprache, von Sprachwandel sprechen.30 „Sprache“ könnte man diesbezüglich als die Summe aller Sprachvarietäten bezeichnen, als ein abstraktes Konstrukt kodierter und nicht kodierter Normen.

4

Erklärungsansätze, Motive und Faktoren

Wie genau und in welchen Phasen man sich den Ablauf, die allmähliche Ausbreitung, Durchsetzung und graduelle Normierung von Veränderungen vorzustellen hat, wurde in verschiedenen Theorien und Konzepten wie Stammbaumtheorie, Wellentheorie, Natürlichkeitstheorie, Prinzipientheorie, Grammatikalisierung, Effizienzmodell,

26

27

28 29 30

Haspelmath 2005, 16–17. Er verweist hier auch auf Ferdinand Saussure, nach dem die Sprache nicht Agens, sondern Instrument und Produkt der parole sei, „à la fois l’instrument et le produit de la parole“. Schriftlich und dabei auch beabsichtigt z.T. in Varietäten wie Lyrik, Werbung etc.; prinzipiell gilt intendierter Sprachwandel aber als Sonderfall (z.B. im Zuge sprachplanerischer Maßnahmen) v.a. der Schriftsprache. Siehe ausführlich dazu Keller 2003, 97. Wegera/Waldenberger 2012, 22. Z.B. wegen/trotz + Dativ; zu den Auswirkungen auf den Sprachverfalldiskurs siehe Kapitel 10.

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Theorie der unsichtbaren Hand etc. zu beschreiben versucht.31 Die dabei mitwirkenden Motive und Faktoren unterscheiden sich je nach Untersuchungsschwerpunkt zum Teil ganz grundlegend und können „sich gegenseitig verstärken oder auch konterkarieren“.32 Wegera/Waldenberger ordnen sie danach, aus welcher Perspektive Sprachwandel betrachtet wird:33 Wird er als soziales Phänomen beschrieben, gelten die Motive Sprachkontakt, Varietätenkontakt, gesellschaftliche und kulturelle Neuerungen sowie politische Veränderungen als relevant. Betrachtet man Sprachwandel als kognitives Phänomen, lassen sich vor allem zwei Ursachen unterscheiden: Analogie, also die Übertragung bzw. Erweiterung einer Regel auf andere sprachliche Strukturen, und Reanalyse, also die Um- bzw. Neuinterpretation einer sprachlichen Struktur. Wird Sprachwandel als biologisch-physiologisches Phänomen gedeutet, ist Sprachwandel die Folge von Entlastung (auch als Trägheitsprinzip oder Ökonomieprinzip bekannt), zum einen Entlastung des Sprechers (= Artikulationsentlastung) und zum anderen Entlastung des Hörers (= sogenannte Diskriminationsentlastung) durch den Sprecher, der ja verstanden werden möchte. Sprachwandel als Folge menschlicher Kreativität zeigt sich nach Wegera/Waldenberger z.B. beim kreativen Sprachspiel oder der normativen Festlegung bestimmter Varianten wie der Orthographie. Auch das sprachpuristische Eingreifen (wie das Ersetzen von Fremdwörtern) oder die Euphemismenbildung werden hier als Motive für Sprachwandel genannt. Andere Einteilungen der Motive z.B. in sprachexterne und sprachinterne Faktoren kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Als sprachinterne Gründe gelten z.B. Sprachökonomie, Analogie, Homonymienflucht, als sprachexterne Gründe die Substrat-, Superstrat- und Adstrat-Einflüsse oder der Einfluss von Prestigesprachen etc.34

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Schematische Zusammenfassung von Wandelprozessen

Zusammenfassend kann Folgendes festgehalten werden: Sprecher benutzen Sprache konkret als ihre eigene Sprachvarietät, ihren Idiolekt, und vollziehen in dieser Varietät beim und durch den Gebrauch sprachliche Veränderungen (= Sprachvarietätenwandel). 35 Erst wenn eine Veränderung die Begrenztheit einer Sprachvarietät überschritten hat, sich in weitere Sprachvarietäten ausgebreitet hat bzw. in den Gebrauchsstandard integriert wurde, erst dann kann man tatsächlich von Sprachwandel sprechen. Nicht jeder Sprachvarietätenwandel führt notwendigerweise zu Sprachwandel; denn es gibt immer Änderungen, die auf ein Individuum oder eine spezifische Varietät 31

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Vgl. Elsen 2014, 171–187; Haas, Sprachwandel auf lautlicher Ebene; Haspelmath 2005, Keller 2003, 191–198 (inkl. der Verweise und Bezüge zu Hermann Paul, Max Müller, Richard Dawkins), Roelcke 2014. Näheres zum Effizienzmodell bei Siever 2006; Wegera/Waldenberger 2012, 24. Wegera/Waldenberger 2012, 46. Vgl. Wegera/Waldenberger 2012, 27–46. Ausführlicher dazu: Keller 2003, 211. Mit einer variabel großen, aber meist identifizierbaren Peer Group.

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beschränkt bleiben, während andere Änderungen den „Grenzübertritt“ in eine zweite oder mehrere Sprachvarietäten schaffen und sogar zur Norm werden. Jahrzehnte später merkt kein Sprecher mehr, dass die Sprache hier verändert ist, dass etwas zur Norm wurde, was früher im Sprachgebrauch anders geregelt und zunächst eine Ausnahme oder gar ein Fehler war: „Am Beginn eines Wandelprozesses steht sehr oft ein systematisch fehlerhafter Sprachgebrauch. Etwas verkürzt kann man sagen: Fehler von heute sind die neuen Regeln von morgen.“36 Schematisch kann dies so dargestellt werden: Nimmt man eine Mutation M1 zunächst in der Sprachvarietät V1 eines Individuums (= Sprecher1) an, wird M1 vielleicht von anderen Sprechern im Umfeld des Sprechers1 übernommen und wird seinen Gebrauch erweitern. M1 kann sich zu einer zunehmend häufig gesprochenen Mutation und in Folge zum usuellen Standard der Sprachvarietät V1 weiterentwickeln. Vielleicht wird M1 auch in andere Sprachvarietäten V2 und V3 übernommen und gelangt in den Gebrauchsstandard. Ist Konkurrenz vorhanden,37 dann gilt: Erst wenn M1 sich gegenüber den möglichen Konkurrenten durchgesetzt hat und sich von einer Nebenvariante in einer Varietät zur Hauptvariante im Gebrauchsstandard hochgearbeitet hat, erst dann kann man tatsächlich von Sprachwandel sprechen:38 M1 entsteht bzw. entwickelt sich in einer Varietät V1 → M1 wird von mehreren Individuen in V1 verwendet → M1 wird usueller Bestandteil der Sprachvarietät V1 → M1 breitet sich über V1 hinaus aus und wird Bestandteil in mehreren Sprachvarietäten V1, V2, V3 … Vn → M1 wird im Gebrauchsstandard verwendet und gegebenenfalls normiert Entsprechend könnten sich auch andere Mutationen M2, M3 etc. in den Sprachvarietäten V1, V2, Vn verhalten: Sie können im Sprachgebrauch einer ersten Varietät entstehen, von anderen Sprechern übernommen werden, in andere Sprachvarietäten gelangen, dort usuell gebraucht und konventionalisiert werden, in den Gebrauchsstandard gelangen und dort gegebenfalls sogar zur Norm werden. Die Mutationen können aber auch auf bestimmte Varietäten beschränkt bleiben, varietätenübergreifend nicht akzeptiert und nicht normiert werden, nur in einer oder mehreren spezifischen Varietäten weiterleben oder wieder veralten und verschwinden.

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Keller/Kirschbaum 2003, 9. Konkurrenz muss dabei aber nicht zwingend vorhanden sein, da Sprachwandel neben Lexemschwund auch Lexemzuwachs für neue Phänomene (z.B. aus Bereichen wie Technik und Medien) miteinbezieht, wo noch keine Bezeichnungen, also noch keine Konkurrenten vorhanden waren. In vielen Beschreibungen, wie z.B. bei Wegera/Waldenberger 2012, 24, ist Konkurrenz bzw. das Siegen über die Konkurrenten jedoch immer fester Bestandteil des Wandelprozesses. Ähnlich Wegera/Waldenberger 2012, 24.

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Interaktion von Sprachvarietäten – die Seil-Metapher

Die Sprache gleicht dadurch einem Miteinander von Fasern, Fäden und Strängen, „einem ungeheuren Gewebe (…), in dem jeder Teil mit dem andren [sic] und alle mit dem Ganzen in mehr oder weniger deutlich erkennbarem Zusammenhang stehen.“39 Dieses Miteinander sowie auch die Veränderung lassen sich bildlich mittels der Struktur eines Seiles veranschaulichen:

Der Hauptstrang eines Seils, das aus vielen Fasern und Schnüren besteht, stellt den Gebrauchsstandard dar. Aus dem Hauptstrang können sich im Laufe der Zeit durch den Gebrauch einige dünnere Nebenstränge lösen: die sprachlichen Veränderungen und Variationen. Daneben gibt es auch Veränderungen, die sich schon vor längerer Zeit dauerhaft vom Hauptstrang herauslösten und scheinbar verbindungslos zum Hauptstrang als Nebenstränge existieren. All dies sind zunächst nicht normierte Phänomene, sondern sprachliche Mutationen, die als Nebenstränge zum Hauptstrang existieren, sei es auf ein einziges Individuum (= Faser) bezogen, als Teil eines Idiolekts, sei es als Teil einer oder mehrerer Varietäten (= Schnüre, Stränge). Die Dauer ihrer Existenz ist dabei unterschiedlich: Sie kann kurz sein (= kurze Strangabschnitte, z.B. Modewörter, neu gewonnene Onomatopoetica, Neologismen in Jugendsprache40 oder Pressetexten41) oder durchaus auch länger andauern.42 Wird

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Wilhelm von Humboldt, zitiert aus: Römer/Matzke 2010, V. Noch ist unklar, wie lange sie „überleben“: die jugendsprachliche Steigerungspartikel ends („Das ist ends cool!“), alken= ‚sich hemmungslos betrinken‘, fett= ‚super, sehr gut, voll in Ordnung‘. Z.B. ein Gewester (= ‚ein Gewesener, ein Verstorbener‘) in http://www.faz.net./aktuell/feuilleton/ kino/michael-palin-zu-siebzigsten-ein-papagei-namens-wanda-12165653.html; Autoselbstfahrer (SZ 14./15.2.2015: Seite 1) im Sinne von: ‚jemand, der selbst Auto fährt‘, Wohlschmerz (GEO

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eine Veränderung irgendwann nicht mehr verwendet, stirbt sie aus, der Nebenstrang des Seils bricht als loses Ende ab. Die Veränderung kann aber auch überleben, kann in eine oder mehrere andere Varietäten gelangen, dort auf Dauer fest integriert sein, bildlich also Teil eines größeren Nebenstrangs sein; sie können vielleicht sogar (wieder) in den Hauptstrang münden, aus dem sie sich temporär etwas gelöst hatten; d.h. die sprachliche Veränderung ist dann in den Gebrauchsstandard integriert worden. Synchron unabhängige Phänomene, die keinen Bezug zum Hauptstrang aufweisen, weil sie sich z.B. aus einem Nebenstrang heraus weiterentwickelt haben und tatsächlich noch nie Teil des Hauptstranges waren oder weil sie durch externe Spracheinflüsse entstanden sind, gleichen kleinen freien Faserstückchen.43 Sie können im Gebrauch des Seils, z.B. durch Bewegungen, in die Seilstruktur eingewebt und Teil des Seils werden. Sie können aber auch unabhängig bleiben, nicht Teil des Hauptstrangs werden, neben diesem „weiterleben“ oder irgendwann wieder verschwinden. Sprachvarietäten existieren also nicht unabhängig voneinander, sondern interagieren, d.h. beeinflussen sich gegenseitig. Dies wird im Folgenden als Interaktion bezeichnet, ähnlich wie „Interaktion“ bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern die Beeinflussung der verschiedenen Sprachen auf das gesamte Sprachverhalten bezeichnet. Die Interaktion der Sprachvarietäten kann zu sprachlichen Veränderungen führen: zu sprachlichen Veränderungen innerhalb einer Varietät, innerhalb mehrerer Varietäten oder sogar innerhalb des Gebrauchsstandards. Dies erinnert an die sogenannte „innere Mehrsprachigkeit“ von Helmut Henne, nach der jeder Sprecher über eine Vielzahl von Varietäten verfügt.44 Entsprechend diesem Modell verfügt auch eine Sprachgemeinschaft, in unserem Falle die Sprachgemeinschaft „deutsch“, über eine Vielzahl an Sprachvarietäten. Und Entsprechendes gilt für die Mutationen: Auch hier kann man von einem Nebeneinander von Normen und Mutationen, also von dem Nebeneinander einer normierten und einer veränderten, nicht normierten Form innerhalb einer oder mehrerer Sprachvarietäten sprechen: Im nächsten Schritt kann sich diese Veränderung in mehreren und größeren Sprachvarietäten neben der bisherigen Standardform finden, zunächst parallel zur bisher gültigen, standardisierten Form und am Ende vielleicht als alleinige Ausdrucksform – dann hat tatsächlich Sprachwandel stattgefunden. Die Mutationen sind dann keine Variationen mehr, sie sind die Norm von heute. Als Beispiel sei hier der Wandel durch Bedeutungserweiterung bzw. Grammatikalisierung vom

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02/Februar 2015, S.118), tiefbegabt im Gegensatz zu hochbegabt (Andreas Steinhöfel 2008, Klappentext). Z.B. cool, unkaputtbar (ursprünglich aus der Werbesprache), ein Selfie (‚selbstaufgenommenes Smartphone-Portrait‘). Z.B. ends, simsen (‚SMS senden‘), Fremdwörter wie Movie, Smiley, shoppen, Kimono, Bumerang, Moschee, etc. Henne 1986.

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ahd. Adjektiv ser zum heutigen Gebrauch von sehr als Steigerungspartikel erwähnt. Vergleichbar erscheint die aktuelle Entwicklung von voll, merkwürdig oder irre: Sie werden neben ihrer Verwendung als Adjektiv zunehmend als Steigerungspartikeln gebraucht: Das ist voll krass! Das ist voll irre! Das ist irre voll! Im morphosyntaktischen Bereich kann man einen ähnlichen Standardisierungsprozess aktuell bei der Veränderung der Kasusrektion der Präposition trotz beobachten: Die Dativrektion von trotz war zunächst nur in kleineren Varietäten, wie z.B. in Dialekten des süddeutschen Raumes, gebräuchlich, wird aber zunehmend neben der bislang allein gültigen Genitivrektion akzeptiert.45 Im lexikalischen Bereich setzte sich im Gebrauchsstandard z.B. von den lexikalischen Konkurrenten Bühel – Hügel der Konkurrent Hügel durch; der Konkurrent Bühel überlebt nur in spezifischen Varietäten wie Dialekten oder in Ortsnamen (Bühel, Maria Bühel, Kitzbühl etc.). Ähnliches gilt für Anglizismen, die in bestimmten Varietäten zunehmend deutsche Konkurrenten verdrängen (z.B. im Bereich Sport: Team statt Mannschaft, Fan statt Anhänger). Auch hier trifft das Bild der interagierenden Seilstränge zu: Jeder Sprecher verwendet seine eigene Sprache, seinen eigenen Idiolekt und vollzieht in diesem seine eigenen Veränderungen. Er verfügt über verschiedene Varietäten und bewegt sich trotzdem großenteils innerhalb des Gebrauchsstandards, d.h. innerhalb des Seilhauptstranges. Das Seil ist gewissermaßen das Zusammenspiel verschiedener Stränge, so wie der Gebrauchsstandard das Zusammenspiel der verschiedenen Sprachvarietäten, der konkreten einzelnen Stränge ist. Der Sprecher kann den standardisierten Bereich verlassen und gelangt damit vom Hauptstrang in den Nebenstrang bzw. produziert damit einen Nebenstrang. Ob dieser wieder in den Hauptstrang mündet oder das Seil an dieser Stelle „ausfranst“, ist zum Zeitpunkt der „Abspaltung“ nicht vorhersehbar (und auch durch die vorgenannten Sprachwandeltheorien nicht prädizierbar).

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Das Interaktionsmodell von Sprachwandel und Sprachvarietäten

Die Seil-Metapher veranschaulicht also die verschiedenen Aspekte der Interaktion von Sprachvarietäten und Sprachwandel: Zum einen können sich die Schnüre und Stränge, also die Sprachvarietäten, gegenseitig beeinflussen und dadurch zu Veränderungen innerhalb dieser Varietäten, zu sogenanntem Sprachvarietätenwandel, führen. Zum anderen können sie auch den Hauptstrang, den Gebrauchsstandard, beeinflussen und zu neuen Normen und varietätenübergreifendem Sprachwandel führen. Darüber hinaus kann Sprachwandel im Gebrauchsstandard selbst auch wiederum Einfluss auf die spezifischeren Sprachvarietäten nehmen. Diese gegen-

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Das gleiche gilt auch für die Präposition wegen.

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seitige Beeinflussung wird hier als Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten bezeichnet. Die Interaktion scheint dabei nicht gleichmäßig, nicht gleich stark in beide Richtungen zu wirken: Während sich für den Einfluss der Sprachvarietäten auf den Gebrauchsstandard und die dortigen Regeln problemlos viele Beispiele finden lassen,46 erscheint der Einfluss des Sprachwandels im Gebrauchsstandard auf spezifische Sprachvarietäten geringer. Als Beispiel sei hier auf die Lexik verwiesen: Werden Wörter zunehmend von ihren Konkurrenten verdrängt, kann das in der Folge dazu führen, dass die ursprünglich im Gebrauchsstandard dominant gebrauchten Wörter nur noch marginal und archaisch verwendet werden. Die unveränderte Verwendung von solchen im Gebrauchsstandard mittlerweile altmodischen Wörter kann zur Etablierung von Varietäten wie der sogenannten Bildungs- oder Gelehrtensprache, zur Ausbildung spezifischer Fachsprachen wie z.B. Kirchensprache oder Rechtssprache führen: Billig wird in der Rechtssprache immer noch im Sinne von ‚angemessen‘ verwendet, während im Gebrauchsstandard eine Bedeutungsverschiebung zunächst zu ‚preiswert‘ und mittlerweile zu ‚minderwertig‘ (eine billige Kopie) stattgefunden hat.47 Regelmäßig wird im juristischen Wortsinn als ‚der Regel gemäß‘ (‚wenn keine Ausnahme greift‘) verstanden, im Gebrauchsstandard eher im Sinne von ‚zeitlich gleichmäßig wiederkehrend, häufiger‘;48interessant auch die fachsprachliche Verwendung von Beischlaf, Beiwohnung,49 Begattung anstelle von Geschlechtsverkehr oder Sex im Gebrauchsstandard. Bildlich dargestellt, wandern die nur noch marginal verwendeten Wörter vom Hauptstrang, dem Gebrauchsstandard, ab: Zunächst löst sich nur eine Faser, im Weiteren durch eine zunehmende Anzahl an Wörtern eine zunehmende Sammlung von Fasern als Faden und gegebenenfalls schließlich als Strang, der sich sogar zu einem Nebenstrang entwickeln kann, einer eigenen Varietät. Effizienz bzw. die sozio-kommunikative Funktion von Sprache und ihr „Handlungscharakter“50 spielen dabei eine große Rolle: Wörter können im Laufe ihres Gebrauchs z.B. durch semantischen Wandel wie Bedeutungserweiterung an Expressivität verlieren oder ihre Konnotationen verändern. Folglich wird ein neues Wort „gesucht“ bzw. aus den vorhandenen Realisierungsmöglichkeiten im Reper46

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Vgl. morphologisch die sich zunehmend normierende Rektion von trotz/wegen + Dativ, ursprünglich nur in dialektalen Varietäten gebräuchlich, syntaktisch die zunehmende Übernahme der weil-+ Verbzweitkonstruktion, lexikalisch die Übernahme in den Gebrauchsstandard von Anglizismen wie Lifestyle, Party, Sex, One-night-stand aus der Jugendsprache, aus dem Bereich Sport z.B. Training, Fitness bzw. auch von Nicht-Anglizismen wie Finale, Halbzeit (vgl. Wozniakowski 2001) oder von Neuschöpfungen aus dem Bereich der Neuen Medien wie simsen, googeln. Nübling 2006, 112. Z.B. „Dieser Umstand für sich begründet regelmäßig keine Haftung.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Juristische_Fachsprache). „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt.“ Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. November 1966, Az. IV ZR 239/65 (NJW 1967, 1078–1080), in: OpinioIuris – Die freie juristische Bibliothek. Vgl. Lüger 1995, 45–55.

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toire gewählt, um diese Leerstelle zu füllen. Denn der Sprecher benützt vorwiegend die sprachliche Variation, die in der gegebenen Situation die angemessenste ist, mit der er die optimalen sprachlichen „Siegchancen“ hat und in der konkreten Situation punkten kann.51 Das ursprünglich usuell gebrauchte, mittlerweile aber nicht mehr sehr effiziente, ausdrucksstarke Wort wird weniger verwendet, findet sich zunehmend in anderen Zusammenhängen, kann weitere Veränderungen durchlaufen, uminterpretiert oder grammatikalisiert werden.52 Diese lexikalischen und semantischen Veränderungen im Gebrauchsstandard führen also letztendlich dazu, dass neue Variationen entwickelt werden, um das intendierte kommunikative Ziel zu erreichen: Variationen, die im kleinsten Fall zunächst idiolektale Veränderungen sind und sich wie oben beschrieben ausbreiten, in weitere Varietäten einziehen und damit Varietäten beeinflussen können. Sprachwandel im Gebrauchsstandard kann also zur Etablierung bzw. zur Stärkung vorhandener Varietäten führen, indem immer mehr Variationen in diese Varietät gelangen und gleichzeitig aus dem Gebrauchsstandard verschwinden. 53 Auch Sprachinseln sind als ganz spezifische Varietäten in diesem Zusammenhang zu erwähnen: Der Gebrauchsstandard von Sprachinseln besitzt in der Regel eine ganz eigene Dynamik mit ganz eigenen sprachlichen Charakteristika im Vergleich zum Gebrauchsstandard im Mutterland. Der Sprachwandel prägt sich daher anders aus: Ausdrucksformen können erhalten bleiben, die im Mutterland längst verändert sind, und umgekehrt können Ausdrucksformen verändert werden, die im Mutterland noch üblich sind. Am Ende entstehen ganz eigene Sprachvarietäten wie z.B. in Oberitalien das Zimbrisch oder in den USA das Pennsylvania German.

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Beispiel: Kiezdeutsch

Nach Heike Wiese ist Kiezdeutsch eine Varietät des Deutschen,54 die vorwiegend von multilingualen Jugendlichen in multiethnischen Wohnvierteln in Berlin und anderen deutschen Großstädten gesprochen wird. Die Jugendlichen können großenteils fließend deutsch sprechen. Kiezdeutsch spiegelt damit nicht ihren Kenntnisstand des Deutschen wider. Es handelt sich nicht „um Sprachmangel“,55 um das fehlerhafte Sprechen von Personen, die des Deutschen nicht mächtig sind. Kiezdeutsch ist vielmehr „ein Element aus dem sprachlichen Repertoire von Ju-

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Vgl. die semantische Entwicklung von wîp und Kellers Galanterieprinzip, in: Keller 2003, 107– 109; vgl. Haspelmath 2005, 10, der hier auch darauf eingeht, wie die „neuen“ Wörter bzw. „neuen“ Konstruktionen durch die zunehmende Häufigkeit wiederum zunehmend an Wert verlieren. Zu den Prozessen der Grammatikalisierung ausführlich: Szczepaniak, Grammatikalisierung. Neben den obigen Beispielen zur Rechtssprache, siehe auch die Entwicklung der Sprache in den Neuen Medien: Dürscheid/Wagner/Brommer 2010, Storrer 2014, 171–196, Runkehl/Schlobinski/Siever 1998. „(E)ine informelle, alltagssprachliche Form des Deutschen“ (Wiese 2012, 15). Wiese 2012, 9.

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gendlichen, aber nicht das einzige“.56 Kiezdeutsch ist eine stark ausgeprägte und auffällige Sprachform57 und scheint mehr als nur Sprache zu sein, scheint Ausdruck einer Lebensform zu sein, eine identitätsstiftende Sprachform. Damit kommt es den Definitionen von Dialekten58 und Soziolekten nahe, vor allem der Jugendsprache, deren Funktion v.a. in der Abgrenzung gegen andere soziale Schichten liegt. Kiezdeutsch will sich dieser Definition gemäß nicht in bestehende sprachliche Normen des Gebrauchsstandards integrieren und grenzt sich bewusst dagegen ab. Kiezdeutsch ist damit für Jugendliche v.a. aus der Hip-Hop-/Rap-Szene eine geeignete Plattform, um sich von anderen sozialen Schichten zu distanzieren. Wie ist Kiezdeutsch entstanden bzw. wie hat sich Kiezdeutsch entwickelt? Kiezdeutsch ist eine „erfolgreiche sprachliche Koproduktion“59 von multilingualen Sprechern verschiedenster ethnischer Herkunft. In dieser „Koproduktion“ entwickelte sich systematisch aus mehreren Sprachen und Sprachvarietäten die jetzige, „besonders dynamische“60 Sprachform „Kiezdeutsch“. Kiezdeutsch ist ein aktuelles Beispiel für unser Modell der Interaktion: Verschiedene Sprachen und Varietäten entwickelten sich durch Interaktion zu einer neuen, eigenen Varietät, so wie sich durch das Zusammenspiel verschiedener Fäden ein Fasernverbund entwickelt. Der Fasernverbund bzw. Strang „Kiezdeutsch“ mit seinen eigenen, typischen sprachlichen Variationen existiert als Nebenstrang parallel zum Hauptstrang, dem Gebrauchsstandard. Seine Integration bzw. die Integration von Variationen des Kiezdeutschen aus den verschiedenen linguistischen Ebenen (Lexik, Syntax, Morphologie, Phonologie, Pragmatik)61 in den normorientierten Gebrauchsstandard ist von den Sprechern selbst bewusst nicht gewollt. Darüber hinaus verhindert sicherlich auch das Prestige der Kiezdeutsch-Sprecher und ihrer sprachlichen Herkunft – zumindest aus heutiger Sicht – die Integration von Kiezdeutsch-Variationen in den Gebrauchsstandard. Denn die Kiezdeutsch-Variationen entstammen vorwiegend aus Sprachen wie Arabisch, Bosnisch, Kurdisch, Russisch, Türkisch oder sind zumindest von diesen beeinflusst: alles Sprachen, die heute in unserer Gesellschaft wohl nicht zu den Prestigesprachen zählen. Konstruktionen und Wörter aus sogenannten Prestige56 57 58

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Wiese 2012, 14. Wiese 2012, 36. Wiese bezeichnet Kiezdeutsch als „Turbo-Dialekt“ mit „hohem Wiedererkennungswert“, „in dem wir Sprachentwicklung wie im Zeitraffer beobachten können.“ (Wiese 2012, 17) Sie weist auf einen systematischen Sprachgebrauch des Kiezdeutschen hin und postuliert „eine eigene Dialektgrammatik“(Wiese 2012, 10). Das Kriterium der geographischen Begrenzung zur Einordnung als Dialekt trifft hier nicht zu: Kiezdeutsch gibt es neben Berlin auch in anderen Großstädten wie z.B. Mannheim oder Hamburg. Wiese 2012, 14. Wiese 2012, 29. Wie z.B. neue Aufforderungswörter und Partikeln (lassma, ischwör), mögliche Mehrfachbesetzung des Vorfelds, neue Funktionsverbgefüge, verkürzte oder weggelassene Flexion, Weglassen von Präpositionen, Gebrauch von Wörtern aus dem Arabischen, Türkischen, Russischen etc. wie babo (etwa ‚Chef‘), das sogar zum Jugendwort 2013 gewählt wurde.

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sprachen, wie früher Griechisch, Latein, Französisch, Italienisch und heute Englisch und Amerikanisch werden dagegen bevorzugt in den Gebrauchsstandard integriert.62 Trotzdem haben es viele Phänomene des Kiezdeutschen mittlerweile geschafft, von einer recht hohen Anzahl von Sprechern verwendet zu werden. Kiezdeutsch hat sich von einer kleinen Sprachvarietät (mit wenigen Sprechern) zu einer durchaus großen entwickelt: Nicht nur Jugendliche aus Migrationsfamilien, sondern auch Jugendliche deutscher Abstammung benutzen sie und wollen dadurch ihre Zugehörigkeit zur entsprechenden Peergroup zeigen.

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Fazit – Auswirkungen des Interaktionsmodells auf Sprachbetrachtung und Sprachreflexion

Das oben vorgestellte Modell der Interaktion von Sprachvarietäten veranschaulicht, wie vielschichtig und vielseitig Sprache ist: Sprache ist ein komplexes Gebilde aus vielen miteinander agierenden Variationen, Varietäten, „ein abstraktes Konstrukt kodierter und nicht kodierter Normen“.63 Versteht man diese Komplexität, verändert sich auch der Zugang zur Sprache bzw. die Perspektive auf die Sprache. Der scheinbar so einfache Begriff „deutsch“ wird hinterfragt: Was ist „deutsch“ eigentlich? Was sprechen wir genau, welche Varietäten gebrauchen wir, welche Varietäten wählen wir wann und warum? Wie verändern sich diese über die Zeit? Diese Fragen sind auch dahingehend relevant, als sie die oberflächlich so klare Einteilung in „falscher – richtiger Gebrauch“ differenzieren: Falsch kann durchaus falsch im Gebrauchsstandard meinen, kann aber gebräuchlich und angemessen in einer anderen Varietät sein, in der die laut Gebrauchsstandard richtige und normierte Ausdrucksform unangemessen, ungewöhnlich, überholt, veraltet oder gar falsch wäre. Gerade für Lehrende in ihrer „Rolle als Normvermittler im Muttersprachunterricht“64 stellt dieses Modell dadurch einen Beitrag zu Integration und Sprachbewusstsein dar. Schulrelevante Themen wie Sprachkodex, Normsprache, Standard, Substandard etc. werden neu betrachtet. Varietäten wie Dialekt, Jugendsprache, Szenesprache, Kiezdeutsch, Sprache in den Neuen Medien (wie Chat, SMS, Twitter, Blog, WhatsApp etc.), in Musik, Presse und Werbung werden in einen komplexeren Zusammenhang gestellt und in Folge dessen nicht mehr vorschnell verurteilt. Solche Themen könnten im Deutschunterricht sicherlich spannend umgesetzt werden: So bietet z.B. der Vergleich von unterschiedlichen Medien wie Briefe, e-mails, SMS, WhatsApp- oder Facebook- Mitteilungen viele Möglichkeiten, Unterschiede in Schreibstil, Grammatik, Lexik und Orthographie herauszuarbeiten65. Dabei lassen 62 63 64 65

Siehe „alte“ Fremd- oder Lehnwörter wie Parfum, Dessous, Sonett, „neue“ wie Shop, Camping, Computer. S.o. Kapitel 3. Davies/Langer 2014, 308. Z.B. die dominante Kleinschreibung in Medien wie SMS oder WhatsApp.

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sich konkret z.B. die Unterschiede in Anreden, Begrüßungs- und Verabschiedungsfloskeln oder im Formulieren von positiven wie negativen Meinungen herausfinden und vergleichen. Auch die zeitgenössische deutsche Musik (von der Hip-Hop- und Rap-Szene bis zur Schlagermusik) bietet für solche Themen eine überaus spannende und interessante Plattform, um die Bandbreite der deutschen Sprache und ihrer Varietäten zu erkennen und zu reflektieren. Im Hinblick darauf, dass man es im Lehrberuf wie auch als Schüler mit Sprechern verschiedenster Varietäten zu tun hat, sollten gerade aktives Sprachbewusstsein und Sprachreflexion präsent sein. Dies ist insbesondere auch unter dem Aspekt der Integration von Sprechern anderer Herkunftsländer von aktueller und brisanter Relevanz. Schülern wird durch das Erkennen der Komplexität verstärkt bewusst, dass „Normsprache“ ein abstrakter Begriff ist, der auf die Realität und ihren eigenen Sprachgebrauch nur bedingt anzuwenden ist. Das Interaktionsmodell ermöglicht es, die Vielfalt und Dynamik der Sprache zu erkennen sowie die Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken und wertzuschätzen.66 Diese Vielfalt und das Interaktionsmodell zeigen im Zusammenspiel mit der Seilmetapher auch sehr anschaulich, dass Veränderungen und Sprachwandel sprachimmanent, d.h. elementare Bestandteile von Sprache sind. Dadurch wird der Sprachverfalldiskurs,67 der sich immer wieder an das Thema Sprachwandel anschließt, neu beleuchtet: Es genügt ja, einen Text z.B. von Goethe zu lesen68, um festzustellen, dass sich die Sprache in vielen Bereichen geändert hat, dass wir heute anders sprechen als damals. Würde man sich heute wie Goethe ausdrücken, würde man wohl von unangemessenem oder gar falschem Sprachgebrauch sprechen. Sprachwandel hat also nicht automatisch Sprachverfall zur Folge. Wir gehen heute von unserer aktuell gültigen Normsprache Deutsch aus und nicht davon, dass das heutige Deutsch weniger wert oder „ärmer“ sei als die Sprache zu Goethes Zeit, also davon, dass unsere Normsprache das Produkt von Sprachverfall sei. Das heißt außerdem, dass es in dem Miteinander von Varietäten viel Platz für unterschiedlichen Sprachgebrauch, für verschiedene Sprachvariationen gibt. Sprecher müssen bewusst mit den verschiedenen Varietäten ihres Repertoires umgehen.69 Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Sprachbenutzer durchaus differenziert und reflektiert mit ihrer Sprache und ihrem Varietätenspektrum umgehen und je nach Varietät unterschiedliche Ausdrucksformen verwenden. 70 Zuletzt käme der Sprachverfallsdiskussion allgemein eine merklich geringere Bedeutung zu: Wenn viele Phänomene sprachlicher Veränderungen gar nicht den

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Selbstverständlich können die Seil-Metapher und das Interaktionsmodell nicht alle Phänomene des Sprachwandels adäquat repräsentieren, aber sie können die wesentlichen Prinzipien des Sprachwandels veranschaulichen und sind daher auch in didaktischen Bereichen gut verwendbar. Vgl. auch Durrell 2014, 11–-31. Ihm unterstellt man wohl allgemein nicht, er hätte die deutsche Sprache falsch verwendet. Variation A muss und darf nicht in jeder beliebigen Varietät verwendet werden. Storrer 2014, 171–196.

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Gebrauchsstandard, sondern nur kleinere Varietäten betreffen, werden sie auch im Normdiskurs keine so große Rolle spielen; sie bleiben sprachliche Erscheinungen in bestimmten Sprachvarietäten, bleiben Neben- oder Randerscheinungen der deutschen Sprache, leben marginal weiter oder auch nicht. Dieses Modell der Interaktion erscheint aus all diesen Überlegungen für die Themen Sprachbetrachtung und Sprachreflexion zielführend zu sein: Die Dynamik von Sprache, das Neben- und Miteinander von Ausdrucksformen, sowie die Fragen zu ihrem angemessenen Gebrauch zeigen den Sprachbenutzern die Fülle ihres Repertoires an Ausdrucksvariationen, einschließlich der Möglichkeit der Erweiterung des Repertoires jedes Einzelnen. Und dann könnte man anstatt von Sprachverfall vielmehr von Sprachbereicherung sprechen.

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Ute Hofmann

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Zur Interaktion von Sprachwandel und Sprachvarietäten – neue Wege zur Sprachreflexion

99

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Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik Jakob Ossner 1

Vorbemerkung

Seit Sprangers berühmtem Diktum von 1920, dass das fachliche Wissen bei der Ausbildung von Lehrkräften – zumindest an Pädagogischen Hochschulen − über das Abiturniveau nicht hinausgehen müsse, scheint die Sache, selbst wenn man sie nicht mehr ganz so scharf sieht, entschieden: pädagogisches Wissen für die unteren Klassen und mehr fachliches Wissen für die Gymnasiallehrkräfte. Man bekommt einen anderen Blick auf die Problematik, wenn man die Fachdidaktik als eine Disziplin ansieht, die Entscheidungen, die im Unterrichtshandeln ständig zu treffen sind, begründet und damit rational nachvollziehbar macht. Dann ist die Frage weniger, ob die Begründungen mehr pädagogisch oder fachlich ausgerichtet sein müssen, sondern eher, welche Begründungen für Entscheidungen, die immer mehrere Dimensionen haben, ausschlaggebend sind. Vor diesem Hintergrund ist Shulmans1 Einteilung des Wissens für Unterrichtshandeln interessant: − Fachwissen (content knowledge) − fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge), Verständlichmachen von Inhalten („making content comprehensible“) − pädagogisches Wissen (pedagogical knowledge), zu dem v.a. Wissen, wie ein Unterricht zu organisieren ist, gehört. − Man kann diese Einteilung auch anders vornehmen, nämlich in − fachliches Wissen − personales Wissen 2 − institutionelles Wissen. Eine solche Sicht modelliert Fachdidaktik nicht als Vermittlungswissenschaft, sondern als eine Disziplin, deren Aufgabe es ist, Fragen zu beantworten, die sich im Zusammenhang mit dem Aufbau von Wissen bei Lernenden stellen. Für den Lehr-/ Lernprozess sollte sie Wissen hinsichtlich des zu lernenden Stoffes, der Personen, die den Stoff erwerben sollen, und der Institution, innerhalb der das Lehr-/Lerngeschehen sich vollzieht, bereitstellen, sodass die einschlägigen Entscheidungen begründet getroffen werden können. Dabei darf man nicht unterstellen, dass solche Entscheidungen auch richtige sein müssen. Dies kann man erst aufgrund der tatsächlichen Folgen beurteilen. Letztere sind aber gerade bei einem so komplexen 1 2

Vgl. Shulman 1986. Vgl. Ossner 2008, 17 f.

Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik

101

Geschehen, wie es Unterrichten darstellt, nicht einfach vorhersehbar. Solange die Entscheidungen begründet sind, kann man aber darangehen, die Stellen zu identifizieren, an denen Wissen unzureichend war oder die Wissensgebiete unzureichend miteinander verrechnet wurden bzw. unterschiedliche Rahmungen vorlagen.3 In keiner Interaktion sind alle Handlungsschritte in einer komplexen Situation im Voraus entscheidungslogisch planbar, aber es wäre falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass Planung deswegen obsolet wäre. Selbst wenn man mit Peachum die „Ballade von der Unzulänglichkeit des menschlichen Planens“ überzeugt singen würde, so wäre dennoch erst der Plan die Folie, vor der ein Irrtum entdeckt werden könnte.

2

Fachliches und personales Wissen sowie institutionelle Erfordernisse

Fachdidaktik lebt von ihrer Fachlichkeit. Ihre Existenzberechtigung verdankt sie dem Umstand, dass Unterricht sich nicht nur in einer allgemeinen Menschenbildung erfüllt, sondern dass er dies mittels fachlicher Bildung versucht. Die gegenwärtige Entwicklung der Fachwissenschaften, die fachliches Wissen bereitstellen, stellt die Fachdidaktik hier vor große Herausforderungen. Die Disziplinen gehen sowohl den Weg der Spezialisierung als auch der Schulenbildung, die Fachdidaktik bräuchte dagegen den unbestrittenen Kern eines Faches. Immer wieder steht die Fachdidaktik vor dem Problem, bestimmen zu müssen, was für sie relevant ist, welcher von konkurrierenden Ansätzen didaktisch brauchbarer ist als ein anderer, inwieweit ein Mix von theoretischen Ansätzen, bevor er für sinnvoll erklärt wird, zulässig ist usf. Das fachliche Wissen liegt nicht einfach zur didaktischen Weiterverwendung bereit, sondern muss selbst erst unter einer fachdidaktischen Perspektive betrachtet und bewertet werden. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Gefahr groß ist, dass die Fachdidaktik sehr eklektisch vorgeht, ja manchmal vorgehen muss. Vor diesem Hintergrund muss sich die Fachdidaktik die folgenden Fragen stellen: Wie ist ein Stoff so zu fassen, dass a) er für Lernende erklärbar wird? Dabei muss die Fachdidaktik das fachwissenschaftliche Wissen neu fassen, denn sie deduziert nicht Wissen aus Axiomen, Naturgesetzen oder Prinzipien, sondern baut das Wissen curricular auf (s. 2.1); b) selbsttätiges Lernen aufgrund einer systematischen Aufbereitung des Lernstoffes möglich ist (s. 2.2); c) er für die Lernenden möglichst selten neu perspektiviert werden muss (s. 2.3)? Alle Antworten auf diese Fragen müssen zudem den institutionellen Kontext beachten.

3

Vgl. Bräuer 2011.

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Jakob Ossner

Die Beantwortung ist zugleich eine Antwort auf das Konzept des tiefen Verstehens bei Kunter et al.4, das diese Autoren als einen wesentlichen Parameter für einen guten Unterricht ausweisen. Hinzu kommt ein Weiteres: Die Fachdidaktik greift nicht nur auf gegenwärtiges fachliches Wissen zurück, sondern tradiert auch Wissen, das in der Fachdisziplin keinen Platz mehr hat. Dies wird weiter unten am Beispiel der Frageproben in der Grammatik diskutiert werden. 2.1

Erklärkraft

Für Lernen reicht nicht, dass ein Stoff erklärt wird, vielmehr muss ein Stoff so aufbereitet werden, dass sich die Schüler und Schülerinnen selbsttätig Erklärungen geben und sich so neue Bereiche eigenständig erarbeiten können. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, dass die Sinnhaftigkeit eines Stoffes erschlossen ist oder, in den Worten der kognitiven Motivationstheorie, dass es dort, wo keine intrinsische Motivation angesetzt werden kann, zu einer „integrierten Regulation“5 kommt. Lernstoffe müssen also zuerst in den Sinnbezirk eines Lernenden gelangen, ansonsten wird man keine langfristige proaktive Tätigkeit des Lernenden erwarten können. Es wäre eine spannende Frage, in welchem Kontext es interessant und sinnvoll sein kann, in einer dritten Klasse über das Subjekt zu sprechen oder darzustellen, warum man den Begriff des Subjekts braucht, um über anderes sinnvoll und angemessen sprechen zu können. Man kann aber aus dem Versagen des Grammatikunterrichts6 heraus konstatieren, dass eine Antwort auf diese oder ähnliche Fragen nicht nur in der dritten Klasse nicht gelingt. Da sich die Frage des Sinns immer aus dem Kontext ergibt,7 kann man keine allgemeine Antwort geben, vielmehr erwächst aus dem Gesagten die Forderung an die Lehrkräfte, unterrichtliche Kontexte auf Sinn und Sinnanschlussstellen deuten zu können. Sinn ist immer dann gegeben, wenn der Stoff zum Weiterdenken einlädt. Anders gesagt: Die Lehrkraft muss von Anfang an den Stoff in seiner Tiefe durchschauen, damit sie Lernenden erklären kann, warum es sinnvoll ist, an dieser oder jener Stelle diesen oder jenen Stoff zu behandeln. Von der Lehrkraft wird also – wie immer im didaktischen Geschehen – eine doppelte Perspektive und eine doppelte Erklärung verlangt: Einmal hinsichtlich des Stoffes, zum andern hinsichtlich der Lernenden. Weder besitzen das Alltagswissen, das sich in der Beherrschung des Schulstoffes zeigt (s. Spranger oben), noch das Universitätswissen als die beiden Wissensformen, von denen die Autoren von COACTIV8 das „tiefe Verständnis“ des

4 5 6 7 8

Vgl. Kunter u.a. 2011. Deci/Ryan 1993. Vgl. Habermann 2007. Vgl. Frege 1892. Vgl. Kunter u.a. 2011.

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fachdidaktischen Wissens absetzen, diese doppelte Perspektive. Shulman formuliert dies so: „To think properly about content knowledge requires going beyond knowledge of the facts or concepts of a domain. It requires understanding the structures of the subject matter (…). The teacher need not only to understand that something is so, 9 the teacher must further understand why it is so (…).”

Erst hieraus kann das fachdidaktische Wissen erwachsen. Drei Momente nennt COACTIV: „ − Wissen über das Verständlichmachen von […] Inhalten − Wissen über […] Schülerkognitionen − Wissen über das kognitive Potential von […]Aufgaben.“10 Dabei wird der erste Punkt häufig mit dem Aspekt der sog. didaktischen Reduktion verbunden, als einem Verfahren zur Verständlichmachung komplexer Sachverhalte. Von Reduktion kann man vernünftigerweise nur sprechen, wenn das Ganze vorhanden ist. Damit verweist jede didaktische Reduktion auf ein Curriculum, in dem das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht gemacht wurde, nachgeholt wird. An dieser Stelle werden Lehrkräfte eher allein gelassen. Betrachtet man das Grammatik- oder Rechtschreibcurriculum, so ist von einer spiralförmigen Weiterentwicklung eines Bereichs kaum etwas zu sehen. Grammatik- und Rechtschreibcurriculum haben die Form eines abzuarbeitenden Lagers, ohne dass ein tieferes Verständnis erzeugt würde. Ein gutes Beispiel hierfür ist die satzinterne Großschreibung. Nachdem bereits in der 2. Klasse die Großschreibung der Konkreta über die Semantik („alles, was man anfassen kann“) und zunehmend auch über den Artikel („was einen Artikel haben kann“) eingeführt wurde, kommen ab der 4. Klasse Abstrakta hinzu und schließlich ab der 5. Klasse die sog. Substantivierung und später die sog. Desubstantivierung. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass damit eine klassische Form einer didaktischen Reduktion in quantitativer Form vorliege. Tatsächlich wird aber durch diese Form der Darbietung der Zusammenhang vernichtet, der nur durch eine syntaktische Betrachtung von Anfang an gegeben wäre. Das gegenwärtige Curriculum ist dagegen wortartbasiert: „Substantive schreibt man groß.“ Es ist aber nicht einsichtig, warum man gerade diese Wortart großschreiben sollte und es bleibt ungeklärt, was es bedeutet, dass andere Wortarten ihre Wortartzugehörigkeit im Zuge von Substantivierung ändern wie auch die Substantive ihre substantivischen Eigenschaften verlieren können. Angesichts dieser im Curriculum überhaupt nicht thematisierten Fragen verwundert es nicht, dass die Großschreibung von Abstrakta, Substantivierungen und Desubstantivierungen zu den häufigsten Fehlern in der Rechtschreibung gehören. Da das Wortartkonzept nur etwas konstatiert, ohne etwas erklären zu können, 9 10

Shulman 1986, 9. Kraus et al. 2008, S. 234.

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Jakob Ossner

zudem das einmal Gelernte („Verben/Adjektive schreibt man klein.“) zu einem späteren Zeitpunkt gewissermaßen widerrufen werden muss („Wird ein Verb oder Adjektiv als Substantiv gebraucht, schreibt man es groß.“), kann sich ein eigenaktives Lernen, das eine systematische Spur braucht, nicht entwickeln. Dass Stoff quantitativ reduziert werden muss, steht außer Zweifel, das eigentliche didaktische Problem ist aber, wie eine Begrenzung nicht die Systematik so verstellt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Feststellungen in Form von Merksätzen getroffen werden, die zu einem späteren mehr oder weniger widerrufen werden müssen. Man könnte auch so sagen: Der Merksatz „Substantive schreibt man groß.“ konstatiert einen Sachverhalt, erklärt aber nichts. Im Grammatikcurriculum liegt der Fall ein wenig anders. Dort muss man nicht unbedingt etwas widerrufen, sondern völlig neu perspektivieren, indem man von der Informationseinheit auf die Struktureinheit übergeht, ohne die spannendste Frage überhaupt, wie Information syntaktisch codiert wird, berühren zu können (siehe unter 2.3). Ein tiefes Verständnis zeigt sich immer in der Reichweite von Erklärungen. Wie der folgende Punkt zeigen wird, ist diese didaktisch mit der Systematik der Darstellung verknüpft. 2.2

Die Systematik der Darstellung

Zu den Grundüberzeugungen der gegenwärtigen Lerntheorie gehört, dass Lernen nicht als eine reaktive Leistung auf eine Belehrung hin zu sehen ist, sondern als eine proaktive Eigentätigkeit des Lernenden. Ohne diese proaktive Aneignung bleibt das Gelernte lediglich angelernt, wird aber kein eigener geistiger Besitz: „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es um es zu besitzen.“ (Goethe, Faust I, Nacht) Unter dieser Voraussetzung wird jede Instruktion, auf die der Unterricht nicht verzichten kann, zur Eingabe für die je eigene Verarbeitung. Das bedeutet, dass es nicht möglich ist, etwas auf nur eine Art verständlich zu machen, sondern dass es sich um einen immer wieder neu ansetzenden Prozess handelt. Jede Instruktion, ob als Darstellung der Lehrkraft oder als Unterrichtsmaterial, muss infolgedessen daraufhin überprüft werden, ob sie geeignet ist, dass die Lernenden selbsttätig weiterdenken können, wobei die Analogie „das Herz des Denkens“11 die wesentliche und häufigste Tätigkeit sein wird. Anders gesagt: Die Ausführungen einer Lehrkraft oder des eingesetzten Unterrichtsmaterials, sofern es nicht nur der wiederholenden Übung dient, brauchen eine systematische, auf das ganze Lernfeld hin ausgerichtete Tiefe, die es dem Lernenden erlaubt, selbsttätig weiterzudenken. Ist dagegen der Lernstoff so angelegt, dass er zu einem ständigen Umdenken zwingt, so muss – zumindest müsste − notgedrungen der Lernende immer wieder neu orientiert werden. Systematik hat also viel mit der Orientierung der Lernenden zu tun. 11

Hofstadter/Sander 2014.

Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik

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Am Beispiel des Grundwortschatzes lässt sich darstellen, was systematische Orientierung bedeuten kann. Selbst wenn man ganz auf einen Grundwortschatz verzichtet, wie es gegenwärtig die meisten Bundesländer tun, steht man vor der Frage, welche Wörter für den Erwerb der Orthographie besonders geeignet sind. Gewöhnlich werden drei Kriterien für den einschlägigen Wortschatz angewandt: − Kindgemäßheit − Häufigkeit − Orthographie. Bei Kindgemäßheit liegt zwar ein vages Kriterium vor, das aber dennoch geeignet ist, die Fülle des Wortschatzes auf die besondere Zielgruppe hin einzugrenzen. So gibt die Wortformenliste des IDS als 485-häufigstes Wort „Grüne“ aus und als 593häufigstes „Universität“.12 Beide müssen aber in keinem Orientierungswortschatz für Grundschüler enthalten sein. Dagegen kommt „Schreiner“ erst jenseits der 10000er Marke vor, sollte aber in einem Grundwortschatz als eine wesentliche Berufsbezeichnung auftauchen. Damit ist implizit auch bereits gesagt, dass Häufigkeit das wesentlichste Merkmal für einen Grundwortschatz sein muss, denn schließlich wird man erwarten, dass vor allem die häufigsten Wörter richtig geschrieben werden. Daraus ergibt sich aber ein Problem: Bei den häufigsten 100 Wörtern ist der Anteil der idiosynkratischen, mit dem System nicht vereinbaren Wörter besonders hoch. Betrachtet man diesen Sachverhalt allerdings hinsichtlich der geforderten Systematik, so ist der genannte Umstand fatal, denn er bewirkt, dass die Schreibung einen immer wieder vor ein Rätsel stellt. Dieser Umstand durchzieht die Orthographiedidaktik seit dem 19. Jh., an dessen Beginn das Wort von der „Andersschreibung“ steht, was der Rechtschreibung den Makel des „Schulmeisterkreuzes“ eingebracht hat. Das Problem verschärft sich, wenn man den Häufigkeitswortschatz durch kindgemäße Ausdrücke erweitern möchte, denn dann kommen besonders viele idiosynkratische Fälle dazu: Batman, Ichthyosaurus, Stock-Car-Rennen, Baby, Handy usw. Das alles können Gründe sein, auf einen Grundwortschatz als Orientierung für die Orthographie ganz zu verzichten. Auf der anderen Seite entlastet ein Grundwortschatz Lehrkräfte und Schüler/-innen in der Unterrichtsarbeit. Dies ist besonders dann der Fall, wenn man einen annotierten Wortschatz hätte, wie er aber gegenwärtig in keinem Bundesland vorliegt. Wie sollte eine solche Annotierung aussehen, damit eine Orientierung in systematischer Absicht erwartbar ist? Zu einer ersten Einsicht gehört die, dass sich der Wortschatz unter einer orthographischen Perspektive in einen regelgeleiteten und einen idiosynkratischen Wortschatz teilt. Dabei ist der idiosynkratische Wortschatz aus den verschiedensten 12

http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/methoden/derewo.html [31.3.2015].

106

Jakob Ossner

Gründen verstärkt bei den häufigen Wörtern anzufinden: Sehr häufige Wörter (und ebenso solche, die als sehr bedeutsam angesehen werden) haben die Tendenz zur Fossilierung. Ein typisches Beispiel dafür ist und, bei dem nur für den erklärbar ist, der die Herkunft aus mhd. unde kennt. Schreiber lernten diese Schreibung, sahen sie und tradierten sie auch dann weiter, als das mhd. wegfiel. Bei anderen Wörtern kann man mit dem Zipf’schen Gesetz argumentieren, wonach Häufigkeit und Kürze korrelieren.13 So haben wir/dir nicht die übliche -Schreibung für langes /i:/, sondern zeigen sich in der kürzest möglichen Form. Bei ihn (und allen Formen von ih-) findet sich eine Kontrast- und Auffälligkeitsschreibung. Nach dem Zipf’schen Gesetz ergäbe sich in, was dann aber eine homographe Form mit der Präposition in ergäbe; die regelhafte -Schreibung erzeugte ein wichtiges Wort nur in Mittelband-Schreibung; erst durch das an dieser Stelle auch mögliche wird ein Schriftkontur sichtbar und das Wort erhält eine auffällige Silhouette. Alle diese Begründungen mögen im Einzelfall überzeugen, keine ist wirklich verallgemeinerbar. Daher haben sie im Lernprozess höchstens die Funktion einer Merkhilfe, wie eine Eselsbrücke auch. Für das Lernen bedeutet das, dass diese Wörter gegenüber dem System idiosynkratisch sind und daher explizit gelernt werden müssen. Beim regelgeleiteten Wortschatz muss man (ohne Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung) unterscheiden zwischen − phonographischen Wörtern, also Wörtern, die der Strategie Mit-/Nachsprechen folgen − Wörtern, bei denen auf der phonographischen Basis eine oder mehrere Regelanwendungen vorgenommen werden: So muss man bei ständig die folgenden drei Regeln berücksichtigen: · am Morphemanfang werden [ʃt] und [ʃp] als bzw. realisiert. · [] wird als realisiert, falls eine Form mit (hier: Stand) zu finden ist. · [ç] oder süddeutsch [k] wird als realisiert, wenn in der Wortfamilie eine Form mit vorliegt. Allgemein kann man sagen: Im Deutschen wird regelhaft eine Wortgestalt vererbt: Die graphische Wortform mit den meisten Informationen vererbt diese an alle Wortformen. Dabei sind aber die Prozesse nicht gleich gerichtet. Die oberflächlich realisierte Spirantisierung erfordert eine Verlängerung des Wortes [ʃtndç] → [ʃtndgə]; dagegen verlangt die Umlautung, dass auf die Grundform zurückgegangen wird: → . Bei braucht man ein Wort in der Wortfamilie, um die -Schreibung auch für Schüler/-innen, denen die sth./stl.-Aussprache bei [z] bzw. [s] fremd ist, herleitbar zu machen: /.

13

Vgl. Crystal 1993, 87.

Anforderungen an fachliches Wissen in der Deutschdidaktik

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Alles in allem ist es also sinnvoll, den Wortschatz folgendermaßen zu annotieren: a) idiosynkratisch – im Folgenden durch M (für Merkwort) gekennzeichnet, wobei für die Schüler/-innen (und nicht minder die Lehrpersonen) auch die Merkstelle im Wort gekennzeichnet sein sollte. b) regelgeleitet, wobei für Schüler/-innen und Lehrkräfte Hinweise gegeben werden sollten, ob ein Wort zu verlängern ist (→), auf die grafische Grundform geschaut werden sollte (←) oder ein Wort in der Wortfamilie (↑) zu suchen ist. Beispielhaft an den ersten Wörtern (A–C) des bayrischen Grundwortschatzes:14 Abend →

Ball →

bleibt

Abende

Bälle ←

Blume

acht →

Bank →

blühen

alle

Bauch

blüht →

alt →

Bäuche ←

Blüte

älter ←

bauen

Boden

Ampel

Baum

böse

antworten M

Bäume ←

braun

Apfel

Bein

bringen

Äpfel ←

bewegen

bringt →

April M

bewegt

Brot →

arbeiten

bezahlen M

Brötchen →

Arm

Biene

Brief

Ast

Bild →

Bruder

Äste ←

Bilder

Buch

Aufgabe

Birne

bunt →

Auge

bitten

Busch

August M

Blatt →

Cent M

Auto

Blätter ←

Christbaum M

Baby M

blau

Computer M

baden

bleiben

14

In der Darstellung werden unter Lernerperspektive auch alle auf /p,t,k/ auslautenden Wörter, bei denen keine Auslautverhärtung vorliegt, gekennzeichnet, da die Lernenden dies erst überprüfen müssen. Flexions-/t/ wird dagegen grundsätzlich nicht gekennzeichnet; Wörter fremder Wortstruktur werden als Merkwörter ausgezeichnet, so auch August, auch wenn es im Gegensatz zu April keine besondere Schreibschwierigkeit aufweist.

108

Jakob Ossner

Ein solchermaßen annotierter Wortschatz zeigt alle Wörter, bei denen die Schüler/ -innen analogisierend verfahren und sich damit selbständig Schreibungen erarbeiten können und Wörter, die demgegenüber als Isolani im System einzeln gelernt werden müssen. Da man unter dem Häufigkeitsgesichtspunkt nicht nur einen systematischen Wortschatz, der für den Eigenerwerb besonders geeignet ist, anbieten kann, ist es nötig, dass die Schüler/-innen hierfür den Wortschatz aufgearbeitet bekommen. In gewisser Weise können sie nun unter einem Lerngesichtspunkt alles eigentätig erwerben, weil ihnen der Schlüssel für ihren Erwerb in die Hand gegeben wurde. Allerdings folgt jede Annotierung einer besonderen Rechtschreibtheorie.15 Bekanntlich konkurrieren hier mehrere Vorstellungen miteinander, welche die Didaktik auf ihre jeweilige Brauchbarkeit für den didaktischen Prozess überprüfen muss. Dabei müssen nach Occams Rasiermesser die Einfachheit der Theorie, sofern diese nicht durch hohe Komplexität erkauft ist, und die Reichweite ihrer Erklärungen eine wesentliche Rolle spielen. Hinsichtlich des tiefen Fachverständnisses, das von einem Didaktiker verlangt ist, müssen also verschiedene Ansätze hinsichtlich ihrer didaktischen Brauchbarkeit verglichen werden können. Hierin liegt eine besondere Aufgabe, aber auch eine besondere Schwierigkeit, denn Theorieansätze und theoretische Konzepte liegen so gut wie nie in vergleichbarer Form vor; vielmehr gehört es zu den didaktischen Aufgaben, ihren vergleichbaren Kern erst herauszupräparieren. Ein Blick von außen auf die Fachdidaktik zeigt allerdings an dieser Stelle viele blinde Flecken, da in den Zeitschriften, die ein Forum für diese Auseinandersetzung bilden sollten, keine einschlägigen Diskussionen stattfinden. 2.3

Die Perspektive der Betrachtung

Systematik und Perspektive sind in gewisser Weise zwei Seiten einer Medaille. Die Forderung, eine Perspektive der Betrachtung einzuhalten und Perspektivenwechsel sorgfältig anzuzeigen und zu behandeln, ergibt sich wieder aus dem Konzept der Eigentätigkeit des Lernens. Jeder Perspektivenwechsel bedeutet für einen Lernenden, eine einmal eingeschlagene Spur verlassen zu müssen und das Lernen einer neuen Perspektive zu unterwerfen. Zum Erfassen von Sachverhalten gehört aber, sie aus mehreren Blickwinkeln betrachten zu können. Daher gehören kontrollierte Perspektivenwechsel zu den besonderen Aufgaben der Didaktik. Perspektivenwechsel lassen sich sehr häufig im Schriftspracherwerb beobachten, wo in sehr vielen Konzeptionen nicht nur Laut und Buchstabe verwechselt werden, sondern die Sache teilweise von der Lautung her, teilweise aus der Perspektive des Lesens betrachtet wird, ohne dies allerdings auszuweisen. In vielen Schulbüchern liest man, dass Konsonanten verdoppelt würden, wo aber tatsächlich Kon-

15

Daher ist die Annotierung oben anders gewählt als bei Naumann 1999, der bislang als Einziger einen „Orientierungswortschatz“ mit Annotierung vorgelegt hat.

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sonantenbuchstaben verdoppelt werden; ebenso wenig wird ein Vokal gedehnt, sondern es wird in prozentual wenigen Wörtern ein stummes vor gesetzt, wo im Sprechen ein langer Vokal vorausgeht. Der Vokal wird nicht gedehnt, sondern ist lang oder kurz. Ein besonderes Beispiel für Perspektivität sind die Frageproben in der Grammatik. Keine wissenschaftliche Grammatik wird auf die Idee kommen, Satzglieder über die Frageprobe bestimmen zu lassen. Dennoch aber hält sich dieses Verfahren mit einer außerordentlichen Kraft und selbst die fachdidaktischen Angriffe,16 die auf die Unhaltbarkeit des Verfahrens abzielen, scheinen ihm nichts anhaben zu können. Um die Frageproben zu verstehen, muss man den Stellenwert der Grammatik in der Schule richtig einschätzen. Begründet als Schriftlehre zum besseren Verständnis der alten Texte wandte sich der Grammatikunterricht als Schulunterricht später gegen die Barbarismen und Solözismen, um die richtige Sprache sprechen und schreiben zu lernen. Im Mittelalter war Grammatikunterricht Lateinunterricht, und sehr viele Verfahren der traditionellen Schulgrammatik waren für das Erlernen des Lateins sehr gut geeignet und hatten sich bewährt. Ihre unreflektierte Übertragung auf den Muttersprachenunterricht bringt jedoch Probleme mit sich. Grammatik musste nun neu begründet werden, wobei man allerdings die Verfahren der grammatischen Bestimmung beibehielt. Wenn man im Lateinunterricht amat aliquis aliquid lernte, machte es Sinn zu fragen: Quis amat grammaticam? bzw. Quid amat discipulus? In der Muttersprachengrammatik macht dieses Verfahren selbst dann wenig Sinn, wenn statt eines Akkusativs fälschlich der Dativ gebraucht würde, weil dann diese Schüler/-innen auch nicht wen? fragen würden. Auf der anderen Seite sollte man allerdings auch nicht annehmen, dass sich Funktionsloses lange hält. Die Fragen müssen also umgedeutet werden. Dies ist nicht schwer. Sätze sind nicht nur Form- und Struktureinheiten, sondern ebenso, wenn nicht sogar naheliegender, Informationseinheiten, deren Bestandteile erfragt werden können. Die Satzfragen, die auf Satzglieder zielen, machen als Textfragen immer einen Sinn. Zum Standardrepertoire gehören die Fragen, die die Schüler seit der Antike als Hexameter lernen mussten: Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? Deutet man diese Fragen nicht inhaltlich, sondern grammatisch als Fragen nach der Satzgliedbenennung, ist allerdings der Bildungswert fraglich. Was weiß ein Schüler, wenn er auf die Frage Wer liebt die Grammatik? nicht der Schüler antwortet, sondern der Schüler ist Subjekt des Satzes? Die Fragen sind aber keineswegs institutionell sinnlos. Die Frage hat eine eindeutige Antwort, so dass ihr ohne weitere Interpretation eine Note zugeordnet werden kann. So wenig man für Diktate schlüssige orthographiedidaktische Be17 gründungen finden kann, wohl aber institutionelle, so wenig gibt es für die losge-

16 17

Vgl. Granzow-Emden 2006, Granzow-Emden 2013, 240 ff. Vgl. Ossner 1991.

110

Jakob Ossner

löste grammatische Bestimmung von Satzgliedern über Fragen eine bildungsorientierte Begründung, wohl aber eine institutionelle. Gerade in Fächern wie Deutsch sucht die Institution vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit abzusichernde Noten, die ein Grammatiktest, der Subjekte und Objekte farbig unterstreichen lässt, liefert, auch wenn damit keine Einsichten in den Bau der Sprache verbunden sind. Für den Unterricht wäre es also von einiger Bedeutung, wenn Schülerinnen und Schülern verständlich würde, wann es sinnvoll ist, einen Satz als eine Informationseinheit zu betrachten und dabei zwischen den notwendigen, das Verbszenario konstituierenden Satzgliedern, und den dieses Geschehen situierenden Satzgliedern und schließlich denen, mit denen der Sprecher das Gesamte kommentiert,18 zu unterscheiden, und wann ein Satz als Form- und Struktureinheit zu betrachten ist, der einer eigenen Struktur folgt, die nicht an jedem Punkt auf eine Funktion abgebildet werden kann. Beide Betrachtungen sind wichtig und für ein Sprachverständnis, das auf Sprachbewusstheit abzielt, unerlässlich. Dass es sinnvoll ist, möglichst früh auf den Satz als Form- und Struktureinheit einzugehen, zeigen nicht nur Erfordernisse des DaZ-Unterrichts, sondern auch die Orthographie. Die satzinterne Großschreibung erfasst man wesentlich erst dann, wenn man gelernt hat, Nominalgruppen zu identifizieren: am linken Rand ein Artikelwort, am rechten Rand das Wort, auf das sich das Artikelwort bezieht und das großgeschrieben wird. Die Wortart dieses Wortes spielt dabei keine Rolle, wohl aber, dass es den Kern einer Nominalgruppe bildet. Das oben (s. 2.1) kritisierte wortartbezogene Konzept folgt dagegen dem Muster der Prototypik, steht aber bei der Thematisierung der sog. Substantivierung vor kaum überwindbaren Hürden. Dass etwas als Substantiv bzw. nicht mehr als Substantiv gebraucht werde, ist eine nicht leicht zu durchschauende Redeweise, sodass es nicht verwundert, dass gerade dieser Bereich in der Orthographie als besonders fehleranfällig gilt. Die Schüler/ -innen müssen nämlich lernen, die Perspektive, die sie bislang auf der Grundlage zahlloser Wortartbestimmungen eingenommen haben, gänzlich zu verlassen: Ein Verb, ein Adjektiv, ein Pronomen, eine Partikel wird plötzlich als Substantiv bezeichnet. Lexikalisch ist eine solche Redeweise völlig unverständlich und Lexikonbenutzer wären sehr unzufrieden, wenn bei einem Wort im Lexikon zuerst die „eigentliche“ Wortart stehen würde und dann „kann auch als Substantiv verwendet werden“. Erst syntaktisch macht die Redeweise einen Sinn, wobei es dann allerdings besser und durchsichtiger heißen sollte: „wird in einem Satz wie ein Substantiv gebraucht“, was nichts anderes bedeutet, als dass dieses Wort in einem konkreten Satz den Kern einer Nominalgruppe bildet. Ein so gefasstes Wissen ist spiralcurricular ausbaubar, indem als Kern der Wortgruppe zuerst die prototypischen Substantive und dann andere Wortarten betrachtet werden bzw. Substantive außerhalb von Nominalgruppen beispielsweise als Kerne von Präpositionalgruppen fungieren (dank seines Berufes). Die Perspektive der Betrachtung bleibt dabei 18

Vgl. Grammatische Terminologie, www.grammatischeterminologie.de [30.3.2015].

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immer dieselbe im Gegensatz zum jetzigen Curriculum, bei dem der Lernstoff in höheren Klassen den der unteren revidieren muss.

3

Fazit

Ohne ein tiefes fachliches Wissen kann die Fachdidaktik nicht in der Grundschule, schon gar nicht in den weiterführenden Schulen auskommen. Sie kann sich dabei aber des Wissens, wie es in der Fachwissenschaft generiert wird, nicht einfach bedienen und dieses an die Schüler vermitteln. Der Gedanke, die Fachdidaktik als eine Vermittlungswissenschaft zu fassen, ist kaum tragfähig. Vielmehr muss die Fachdidaktik fachwissenschaftliches Wissen zwar nutzen, vor allem aber für den Lernprozess so aufbereiten, dass ein curricularer Wissensaufbau für die Lernenden Erfolg verspricht. Dabei sollte sie das Wissen unter der Perspektive weitreichender Erklärungen, hinsichtlich des eigenständigen Lernens vor allem aber unter den Blickwinkeln von Systematik und der erforderlichen Perspektivität modellieren. Die Diskussion einiger Bereiche aus der Sprachdidaktik hat gezeigt, dass die Fachdidaktik hier noch einen einigermaßen weiten Weg vor sich hat.

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Jakob Ossner

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Bildung für nachhaltige Entwicklung und der zukünftige Deutschunterricht Berbeli Wanning Die Frage, mit der sich jede Lehrergeneration beschäftigen muss, ist die Frage nach dem guten Leben der Kinder und Jugendlichen jetzt und in der Zukunft. Wie wollen wir leben, wie sollen wir leben, wie können wir leben – die Kaskade der Modalverben führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Möglichkeit eines zukünftigen gelingenden Lebens, welche an die herrschenden Umweltbedingungen gebunden ist. Sollen wir so weiterleben wie bisher und den Weg der Ausbeutung der Natur fortsetzen, bis wir als Menschheit unsere eigenen Lebensgrundlagen vernichtet haben werden? Kein logisch Denkender wird hier zustimmen, dieser Weg verbietet sich eigentlich von selbst. Weshalb ist es jedoch so schwer, diesen zu verlassen? Schon vor zwanzig Jahren analysierte Lawrence Buell, einer der führenden Vertreter des Ecocriticism, die Situation. Er fasste sie unter dem Schlagwort environmental doublethink zusammen, das inzwischen eine erstaunliche Karriere gemacht hat. Es besteht ein Bruch zwischen Denken bzw. Wissen und Handeln, der als doublethink bezeichnet wird.1 Dieser Term besagt, dass die Menschen im Allgemeinen sehr gut informiert sind über den Zustand der Umwelt, was auch ein Erfolg der auf das Erkennen von Zusammenhängen gerichteten schulischen Bildung ist. Die gegenwärtigen Probleme von der Ernährungslage und der Energieversorgung über den Klimawandel bis hin zum Artensterben sind im Bewusstsein unserer Gesellschaft verankert, deren Bildungsgrad durchschnittlich so hoch ist, dass die Problemlage auch im Kontext verstanden wird. Die Umweltprobleme werden erforscht, diskutiert, bewertet, und viele gesellschaftliche Gruppen, gerade auch die jüngeren Generationen, nehmen an diesem lebendigen Austausch teil. Auch die in der Folge der Umweltschäden auftretenden sozialen Spannungen, beginnend mit einer nicht gerechtfertigten Ungleichheit bis hin zu den befürchteten „Klimakriegen“, sind bekannt. Doch das Verhalten ändert sich gar nicht oder kaum, der Umgang mit den Folgen der Natur- und Umweltveränderungen entspricht nicht der Dringlichkeit, die sie in Bezug auf das Überleben der Menschheit haben. Genau darauf machte Buell aufmerksam, und Ulrich Beck bewertete die Risiken, die diese „gespaltene“ Haltung beinhaltet, in seiner Analyse zur „Weltrisikogesellschaft“ deutlich und klar. Längst sind die Debatten um Umweltschäden und -gefahren keine technischnaturwissenschaftlichen mehr, sondern betreffen auch die kulturelle Ebene mit allen Auswirkungen auf die sozialen und politischen Bereiche des Gemeinwesens, 1

Vgl. Buell1995, 4.

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das sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hin zu einer „Risikogesellschaft“ entwickelt hat. Es geht um Zurücknahme, um Grenzen, die weder eingehalten noch gefunden werden, weil die „Risikogesellschaft“ von ihren Grundprinzipien her die von Menschen hergestellten, antizipierten Gefahren2 sind, deren Beherrschung entgleitet. Diese „Innerwelt-Probleme“3 zwingen zu einem Umdenken über die Zusammenhänge von Naturkrisen und deren sozialen Ursachen sowie Folgen. Es geht ihm um das Erkennen kultureller Muster, die den vermeintlich klaren Naturbegriff prägen, bei dem es sich eigentlich um verschiedene „Kulturbegriffe von Natur“4 handelt. Während naturwissenschaftliche Erkenntnisse die Menschen für die ökologischen Gefährdungen sensibilisieren, kann erst die kulturwissenschaftliche Reflexion jene Auseinandersetzungen eröffnen, in denen sich die Menschheit entscheidenden Fragen stellen muss. Es sind die nach dem guten Leben, wie wollen wir (weiter)leben angesichts des Zustands der Natur und ihrer Gefährdung durch anthropogen verursachte Risiken wie Klimawandel, Wassermangel, Artensterben? In diesem Beitrag geht es um Vorschläge, wie die sogenannten kulturellen Fächer, allen voran der Deutschunterricht als zentrales muttersprachliches Fach, gestärkt werden können für ihre neue und so dringend benötigte Rolle im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Fachlich bildet der Umgang mit Texten, Literatur und Medien den Kern des Deutschunterrichts. Ohne die entsprechenden Kompetenzen können Kinder und Jugendliche zukünftig nicht an den immer komplexer werdenden Diskursen einer medial vielfach verschränkten Gesellschaft teilnehmen, die Entscheidungen zu treffen hat, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Beim Erwerb dieser Kenntnisse und Fähigkeiten gilt der Deutschunterricht als Leitfach, der seine diesbezügliche Funktion dafür einsetzen kann, den Schülerinnen und Schülern auch inhaltlich ein Wissen zu vermitteln, das nachhaltiges Denken und entsprechendes Handeln ermöglicht. Eine weitreichende gesellschaftliche Debatte um die Themen, kulturellen Inhalte und Werte, die die nächste Generation lernen soll bzw. muss, ist überfällig. Auch hier ist der zukünftige Deutschunterricht gefordert, seinen Beitrag zu leisten. Von den angehenden Lehrerinnen und Lehrern im Fach Deutsch wird daher viel erwartet, weshalb die Universitäten in der Pflicht sind, sie bereits im Studium mit diesen neuen Perspektiven und Aufgaben zu konfrontieren. Dazu müssen strukturelle Veränderungen im Rahmen der Lehrerbildung vorgenommen werden, die die Kompetenzen der Lehrkräfte im Umgang mit einer gefährdeten Zukunft stärken: Die Risiken einer durch fortwährende menschengemachte Zerstörung belasteten Natur verändern die Gesellschaften auf der ganzen Welt erheblich. Die möglichen sozialen Auswirkungen stehen den unmittelbaren Folgen der Natur- und Umweltkrise in nichts nach, sie sind möglicherweise noch schlimmer. Es gibt allerdings auch eine gute Nachricht in diesem Zusammenhang: Da die soziale Gestal2 3 4

Vgl. Beck 2007, 153. Beck 2007, 153. Beck 2007, 157.

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tung der Welt im Verantwortungsbereich der Menschen liegt, ist ein Umsteuern zumindest denkbar. Ob es auch machbar ist, hängt unter anderem von der Erziehung der nächsten Generation und davon ab, wie diese auf den environmental doublethink reagiert. Auf diejenigen, die jetzt in einem Lehrberuf stehen bzw. sich auf diesen direkt vorbereiten, kommt damit eine sehr große und weitreichende Verantwortung zu. Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich der Ecocriticism mit diesen Fragen. Von den USA ausgehend, gewann diese Richtung kulturwissenschaftlicher Forschung erst mit einigen zeitlichen Verzögerungen Einfluss in Europa, zuletzt aber umso mehr. Der Ecocriticism hat den von Ernst Haeckel 1866 geprägten Begriff „Ökologie“, der sich zunächst eher eng auf den naturwissenschaftlichen Bereich (Biologie, Chemie, Erdwissenschaften usw.) bezog, erweitert und auf die gesellschaftliche und kulturelle Ebene übertragen. Die vielen Facetten und Debatten, die der Ecocriticism inzwischen entwickelt hat und die in Deutschland auch unter dem Namen Kulturökologie geführt werden, einen zwei wesentliche Fragen: Zunächst geht es darum zu klären, wie die Kultur an der Gestaltung von Natur beteiligt ist. Mit Natur ist hier nicht nur die uns umgebende gemeint, etwa als Landschaft, sondern auch der eigene Körper. Kulturökologische Fragestellungen richten sich also zum einen auf die Bedingungen, denen das Kulturwesen Mensch von Natur aus unterworfen ist, zum anderen auf den Umgang des Menschen mit der Natur insgesamt. Speziell in den Fokus rückt die Rolle, die Sprache und Literatur in diesem Zusammenhang spielen, das ist die zweite große Frage, die die kulturökologische Forschung interessiert. Untersucht wird also eine Entwicklung, in der die Dichotomie von Mensch/Kultur und Mensch/Natur eine immer noch anhaltende Wechselwirkung erzeugt, die unseren Umgang mit Natur prägt. Natur wurde über Jahrhunderte vor allem als eine zu nutzende Ressource gesehen, die der Mensch beherrschen muss und die ihm unbegrenzt zur Verfügung steht. Schon die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass dieses Denken auf längere Sicht keine Zukunft haben kann, nur fällt das Umsteuern schwer. Die ökologisch orientierte Literaturwissenschaft und ihre Didaktik sehen die Natur durch verschiedene Faktoren unter Druck. Hier zu nennen sind die Industrialisierung, die Globalisierung und insgesamt der beschleunigte gesellschaftliche Wandel. Die Natur eindimensional in einer Kosten-Nutzen-Relation in Bezug auf den Menschen zu sehen, greift zu kurz. Natur wird auch als Inspirationsort gebraucht, als das Andere des Menschen, der ebenso über die naturgegebenen Forderungen an den eigenen Körper (Atmen, Ernährung, Bewegung und Ruhe, Altern, Sterben) unter den herrschenden Bedingungen und Möglichkeiten neu nachdenken muss. Deshalb setzt sich die ökologisch orientierte Literaturwissenschaft aus ästhetischen Gründen für Umweltanliegen ein. Sie hat erkannt, dass Literatur mitverantwortlich ist für unser kulturell geprägtes Verständnis von Natur und den Umgang mit ihr. Letztlich formen sprachlich geschaffene Bilder, die wir aus der Literatur kennen und mehr oder weniger bewusst übernehmen, unser Denken und unsere Vorstel-

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lungen. Teilweise folgen daraus wirtschaftlich wichtige Entscheidungen, wenn beispielsweise eine „märchenhaft“ gestaltete Landschaft Touristen anziehen soll. Mit dem Idealbild einer „schönen und harmonischen“ Landschaft im Kopf wehren sich Menschen gegen deren „Verschandelung“ durch Stromtrassen und Windräder. Es entsteht eine politisch brisante Situation, weil so der Ausbau und die Nutzung erneuerbarer Energien und die allmähliche Abkehr von als schädlich oder gefährlich eingestuften Energieträgern wie Kohle oder Atomkraft in Stocken geraten. Die Gegenargumente sind häufig ästhetisch begründet, der Anblick von Windrädern in „idyllischen“ Gegenden beeinträchtige den Tourismus, die Gäste suchten in der Natur eine heile Welt, wollten einen ungestörten Ausblick genießen, kurzum: Sie wollen ihre Idealvorstellung von (Erholungs-)Landschaft, die kulturell geprägt und literarisch tradiert ist, in der Wirklichkeit wiederfinden.5 Anderenfalls gibt es Widerstand. Hier werden primär ästhetische Argumente zu Wirtschaftsfaktoren, deren Dimensionen noch gar nicht ganz absehbar sind, weil die entsprechende kulturwissenschaftliche Forschung noch am Anfang steht. Für die kulturökologische Literaturwissenschaft, die erste Bezugswissenschaft der verstärkt auf Nachhaltigkeit auszurichtenden Lehramtsausbildung im Fach Deutsch ist, ergibt sich die Forschungsfrage, wie dieses Verhältnis von Sprache/ Literatur zur Natur in historischer sowie aktueller Perspektive zu beschreiben und zu bewerten ist. Bereits im Übergang zur Literaturdidaktik stehen die Fragen, die sich mit der Bewusstmachung dieser Prozesse und der daraus resultierenden Möglichkeit der Veränderung befassen. Konkret: Was müssen wir wissen, was müssen wir lernen, wie müssen wir handeln, um über das Sprechen und das Denken über Natur letztlich unser Verhalten zu ändern? Die Ökologie der Literatur wird unter einem doppelten Ansatz gesehen: Zum einen beschreibt, gestaltet und verbreitet Literatur ökologische Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz mit den ihr eigenen Mitteln. Sie leistet damit einen unverzichtbaren und von anderen Kunstund Wissenschaftsformen nicht zu erbringenden Beitrag, da sie unmittelbar mit Sprache arbeitet, eigentlich eine besondere Form der Sprache ist. Literatur führt zu bestimmten Erkenntnissen und Einsichten, die anders so nicht zu gewinnen sind. Zum anderen ist sie selbst ökologisch verfasst und verortet sich auf diese Weise in der Gesellschaft. Sie ist „gewachsen“, sie treibt Gesellschaft an, nimmt teil und ist distanzierter Beobachter, reagiert auf Entwicklungen und initiiert zugleich Prozesse, die Veränderungen herbeiführen, indem sie Denken, Handeln und moralische Gewichtung beeinflusst. An dieser Stelle lohnt sich nochmals ein kurzer Blick auf die Geschichte des Ecocriticism, der ursprünglich aus einem genuin didaktisch-pädagogischen Impuls heraus entstand. Der später so genannte first wave ecocriticism beschäftigte sich zunächst mit der Rolle der Literatur, deren Bedeutung für die Evolution und deren

5

Hier handelt es sich nach Beck um das kulturelle Muster der „ersehnten Natur“, vgl. Beck 2007, 156.

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Einfluss auf das Überleben der Menschheit selbst unter widrigen Bedingungen. Mittlerweile sind diese das Überleben gefährdenden Bedingungen auch von den Menschen selbst geschaffen, man spricht von den anthropogenen Ursachen der Natur- und Umweltzerstörung. Ist ökologisches Verstehen durch Literatur möglich und wenn ja, ist dies lehrbar und vor allem wie? Von diesen Fragen ausgehend, die vor allem die Bildung der nächsten Generationen in den Blick nehmen, entwickelte sich bald der second wave ecocriticism, als sich, teilweise bedingt durch den cultural turn, auch die literaturwissenschaftliche Forschung für diesen Bereich interessierte.6 Die Green Studies in den USA, dort seit den frühen 1990er Jahren etabliert, blieben in Europa lange randständig, obwohl sich in der Politik das „grüne Denken“ längst durchgesetzt hatte – in Deutschland beispielsweise durch die flächendeckende Vertretung der Partei der Grünen in den Parlamenten einschließlich der Beteiligung an Bundes- und Landesregierungen. Zeitgleich nahmen fast alle Parteien „grünes Denken“ in ihre Programme auf, heute ist politisches Handeln nicht mehr möglich, ohne dass Umweltbelange zumindest diskutiert werden. Es hat also ein Paradigmenwechsel, eine Änderung des politischen Mainstreams bereits seit den 1980er Jahren stattgefunden. Merkwürdigerweise zogen die Kultur- und Literaturwissenschaften hier nicht zeitgleich mit, die Diskussionen blieben in kleinen Zirkeln, aus einzelnen Projekten im Bildungsbereich entwickelte sich keine nachhaltige Struktur, die Institutionalisierung blieb zunächst aus. Erst 2004 wurde EASLCE in Münster gegründet, die European Association for the Study of Literature, Culture and the Environment, welche sich diesem Forschungsfeld intensiv widmet.7 Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa arbeiten hier zusammen und sind vernetzt mit vergleichbaren Organisationen auf anderen Kontinenten, so dass man durchaus von einem weltumspannenden Forschungs- und Lehrnetzwerk sprechen kann. Der wahrnehmbare Einfluss kulturökologischer Ideen auf die Literaturdidaktik ist allerdings erst wenige Jahre alt, erst seit etwa 2011 erleben wir hier so etwas wie einen kleinen „Forschungsboom“. Dies ist umso erstaunlicher, als der ecocriticism ursprünglich (s. first wave) aus einer didaktischen Grundhaltung heraus entstanden ist – und nun wohl in erweiterter Form zu seinen Ursprüngen findet. Auch im Bereich der Literaturdidaktik ist im vergangenen Jahrzehnt viel geschehen, sie hat sich von einer primär auf Wissensvermittlung gerichteten Unterrichtspraxis hin zur Kompetenzorientierung entwickelt. Das ist prinzipiell gut so, birgt aber auch Gefahren: So wurde die Vermittlung von Literatur in allen ihren Facetten Zielen wie der Kompetenzerweiterung im Umgang mit Texten aller Art oder der Qualitätssicherung im Bereich der Sprachbeherrschung untergeordnet, was zu erheblichen Nachteilen führte, gerade mit Blick auf die Stärkung von Themenbereichen wie z.B. Nachhaltigkeit. Diese Entwicklung geht im Wesentlichen auf 6 7

Vgl. Garrard 2012, 2–10. Nähere Informationen auf der Homepage von EASLCE, verfügbar unter http://www.easlce.eu [26.4.2015].

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den „PISA-Schock“ vor etwa 15 Jahren zurück, durch den der Literaturunterricht in eine Legitimationskrise geriet. Die Reaktion erfolgte prompt: Das Spektrum der Literaturdidaktik vergrößerte sich, es wurde interdisziplinär, interkulturell, transmedial und in Bezug auf die Praxistauglichkeit gestärkt. Im Zuge der Umsetzung verbindlicher Bildungsstandards, bildungspolitisch ausdrücklich erwünscht, entwickelte die Literaturdidaktik einschlägige Modelle einer an den neuen Leitlinien ausgerichteten Literaturvermittlung, die sich nicht nur auf Literatur in ihrer gedruckten Form beziehen. Auch Literatur in anderen Medien, z.B. als Hörspiel, Film oder Netzliteratur, wird nun stärker einbezogen. Sehr deutlich wird dieser Wandel und dessen Folgen für das universitäre Lehramtsstudium durch den Vergleich verschiedener Grundlagenbücher wie „Einführungen in die Literaturdidaktik“ und vergleichbarer Basiswerke, die in den Jahren 2010–2015 erschienen sind.8 Sie bilden die Entwicklung hin zur verbesserten Kompetenz- und Praxisorientierung gut ab und setzen damit auch neue Standards im Lehramtsstudium des Faches Deutsch. Zugleich weisen sie auf ein immer noch nicht behobenes Defizit hin, die Verantwortung des Deutschunterrichts für die Vermittlung gesellschaftlich wichtiger Inhalte durch Literatur und Sprache hinreichend zu reflektieren und zu legitimieren. Stichworte wie Nachhaltigkeit, Kulturökologie oder Mensch-NaturVerhältnis findet man in den meisten dieser Werke noch nicht bzw. nur in einem randständigen Bereich. Allerdings zeichnet sich ein weiterer Wandel bereits ab, der sich von einer allzu starken Praxis- und Gegenwartsausrichtung löst und ganz klar auf die Zukunft gerichtet ist. Der renommierte Literaturdidaktiker Gerhard Rupp widmet in seinem aktuellen Standardwerk Deutschunterricht lehren weltweit mit Blick auf den Deutschunterricht 2050 der dringend notwendigen Zukunftsorientierung gleich ein ganzes Kapitel. Er beschreibt die (erwarteten) Zyklen des 21. Jahrhunderts einschließlich ihrer Diskontinuitäten, wozu selbstverständlich auch die Auseinandersetzung mit den Klima- und Umweltgefahren sowie mit der Bedrohung des Weltfriedens durch knapper werdende Ressourcen, vor allem Wasser, gehört. Nach Rupp muss der Umgang mit ökologischer Literatur im Deutschunterricht verstärkt werden, damit die Schülerinnen und Schüler lernen, sich mit einer der Grundparadoxien des gegenwärtigen Jahrhunderts auseinanderzusetzen: Der fortschreitenden technischen Entwicklung, den Optimierungs- und Machbarkeitsstrategien, steht als Gegenpart ein einzuschränkender Ressourcenverbrauch gegenüber, also ein bewussterer und bescheidenerer Umgang mit der Natur, wie er etwa im Nachhaltigkeitsprinzip ausgedrückt wird.9 Damit werden die Methoden und Verfahren des Deutschunterrichts, die zuletzt auf dem Prüfstand waren, nun auch inhaltlich modernisiert und aktualisiert. Schließlich führt die unterrichtliche Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsaspekts mit den drei Säulen Ökologie, Ökono8

9

Vgl. die Einführungsbände von Leubner/Saupe/Richter 2010, Baum/Bönnighausen 2010, Winkler/Masanek/Abraham 2010, Köhnen 2011, Hochstadt/Krafft/Olsen 2013, Rupp 2014, v. Brand 2015. Vgl. Rupp 2014, 749f.

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mie und Soziales mitten hinein in gesellschaftliche Debatten, und sie bildet auch den wissenschaftlichen Fortschritt auf diesem Gebiet ab.10 Indem eine Gesellschaft diese Inhalte auch im Bereich der kulturellen Fächer verankert, bekennt sie sich klar zu den dahinter stehenden Werten. Diese an sich begrüßenswerte Entwicklung offenbart aber auch eine Kehrseite, die vor allem in der formalen Ausrichtung der geltenden Bildungsstandards sichtbar wird, weil diese kaum inhaltlich bestimmt sind.11 Hier lässt sich ein Ungleichgewicht zwischen den verlangten formalen Kompetenzen im Umgang mit Sprache und Literatur und den inhaltlichen Traditionen, Stoffen und Formen feststellen. Erst diese zeigen die Verflechtungen zwischen deutschsprachiger und der Literatur vergangener und gegenwärtiger anderer Kulturen. Die großen Mythen und Geschichten als Grundbestand literarischer Kultur sind in der nachfolgenden Generation kaum noch allgemein bekannt, und doch ist diese Art von Bildung wichtig, damit die heutigen Schulkinder zu Erwachsenen werden, die in der zukünftigen Gesellschaft Verantwortung übernehmen können – für sich, für Natur und Umwelt, aber auch für den ökonomischen und politischen Fortschritt. Schon 2007 forderte die Kultusministerkonferenz, dass die Themen des Unterrichts eine entsprechende „Relevanz für die Bildungsziele der Lernenden aufweisen“ sowie „mit im Unterricht zu erwerbenden Fachkompetenzen verbunden werden können.“12 In dieser Empfehlungsschrift, die die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit der Deutschen UNESCO-Kommission veröffentlicht hat, wird ausdrücklich der Beitrag kultureller Fächer eingefordert. Deren wichtige Rolle stand zum damaligen Zeitpunkt noch nicht im Fokus der Fachöffentlichkeit, aber in den vergangenen Jahren hat sich in dieser Hinsicht bereits einiges verändert, wenn auch noch nicht genug im Hinblick auf die von der UNESCO gesetzten Ziele. Die Vermittlung von Literatur darf nicht mehr zu großen Teilen den vorwiegend funktionalistischen Zielen der derzeit gültigen Bildungsstandards, wie oben bereits angeführt, untergeordnet werden. Anderenfalls kann der muttersprachliche Unterricht immer weniger zu der wichtigen Aufgabe kultureller und nachhaltiger Bildung beitragen. Gerade mit Blick auf die drängendsten Zukunftsfragen müssen ästhetische Bildung und Wertevermittlung wieder einen angemessenen Platz im Spektrum der Deutschdidaktik bekommen. Mindestens in diesen Punkten müssen die Bildungsstandards dringend evaluiert und überarbeitet werden. Literatur besteht aus Geschichten in ganz verschiedenen Formen und Gestalten, die medial vielfältig umgesetzt werden können. Aus literaturdidaktischer Sicht zeigt sich in der Fähigkeit des Menschen, Geschichten zu erzählen und damit die Lebenswirklichkeit in einer bestimmten Weise zu organisieren, ein großes kognitives Potential. Wer Geschichten erzählt und Geschichten versteht, schult sein Den10 11 12

Im Bereich deutschdidaktischer Zeitschriften geht der Trend ebenfalls in diese Richtung, vgl. Wanning 2014. Vgl. Abraham/Rauch 2011, 58. DUK und KMK 2007, 6.

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ken. Dieses Verständnis ist lehrbar, es kann grundlegend gefördert und gezielt verbessert werden, der Zuwachs an sprachlicher Kompetenz ist in diesen Zusammenhang per se integriert. Literatur leistet damit Unschätzbares für die Bildung. Sie ermöglicht das Durchspielen von Erfahrungen, indem sie diskursive Räume des Probehandelns zur Verfügung stellt. Das jugendliche Lesepublikum lernt hier nicht nur Neues kennen, z.B. über ökologische Zusammenhänge, es wird auch durch die Perspektivierung literarischer Texte dazu aufgefordert, sich dazu zu verhalten – es wird Wertekompetenz eingeübt. Dazu gehört, dass es Literatur in einer jeweils altersadäquaten Weise ermöglicht, aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft zu lernen, dies ist allerdings kein Alleinstellungsmerkmal. Ausschließlich in der Literatur ist es allerdings möglich, aus der Zukunft für die Gegenwart zu lernen, z.B. durch Werke, die der Gattung Öko-Utopie bzw. Dystopie zuzurechnen sind. Diese auch unter dem Namen Future Fiction oder Future Fantasy13 bekannten Geschichten (als Text und Film) begeistern die Jugendlichen aus verschiedenen Gründen, und sie sind lehrreich. Sie treffen zudem das jugendliche Lebensgefühl: Es ist nicht gerecht, dass die Jüngeren nun eine von den Vorgängergenerationen stark ausgebeutete, teilweise zerstörte Umwelt „erben“. Niemand weiß genau, wie diese zerstörerische Entwicklung aufzuhalten ist, und die bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen der Weltgemeinschaft sind bisher nicht sonderlich erfolgreich darin, die Umkehr einzuleiten. Klar ist aber, dass die heutigen Jugendlichen sich intensiv damit werden auseinandersetzen müssen, und da hilft es, diese Entwicklung im Zeichen des Schreckens nach dem „als ob“-Verfahren in die Zukunft zu verlegen. Dem jungen Lesepublikum wird sehr deutlich vor Augen geführt, dass aus den Umweltschäden dramatische gesellschaftliche Veränderungen folgen, in der sich die gewohnte freiheitlich-demokratische Grundordnung oft nicht mehr halten lässt. Die als Identifikationsfiguren gestalteten Protagonisten der Future Fictions wachsen zumeist in einer streng reglementierten, unwirtlichen, ja feindlichen Gesellschaft auf, in der es kaum möglich ist zu rebellieren. Unter Entbehrungen kämpfen die Figuren gegen die radikal durchgesetzten Machtgefüge der Erwachsenengesellschaft, um einen Gegenentwurf zu schaffen, der die eigene pubertäre Entwicklung widerspiegelt. So rückt die Zukunft unvermittelt wieder nah an die Gegenwart heran, und der Kampf gegen diese Mächte wird zum narratologischen Prinzip. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass die aktuellen Debatten um den Stand und die Zukunft der Literaturdidaktik gerade mit Blick auf die Werteerziehung wieder stärker mit literarischen Inhalten verknüpft werden müssen. In ihrer Vermittlungsposition kommt der Literaturdidaktik dabei eine doppelte Funktion zu: Sie muss von der Literatur (schulisch: dem Stoff/Inhalt) aus denken, ohne die Perspektive der Rezipienten zu vernachlässigen (schulisch: der Schülerinnen und Schüler). Sie muss themen- und motivorientiert vorgehen, um zum Entdecken der 13

Vgl. v. Glasenapp 2013, 67–86.

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Literatur und zum forschenden Lernen zu ermuntern. Dabei kann sie auf eigene Leseinteressen und außerschulische Film- und Medienerfahrung ihrer Zielgruppe zurückgreifen und diese durch neue Impulse ausbauen. Die angehenden Lehrkräfte lernen, ihre Aufgabenstellungen ebenfalls verstärkt auf Inhalte und damit auf den Erwerb von Wertungs- und Reflexionskompetenz der Lerngruppen auszurichten und dies in Praxisphasen zu erproben, zugleich auf Tauglichkeit zu überprüfen. In den vergangenen Jahren wurde der Schwerpunkt auf den Erwerb formaler Qualifikationen und die Beherrschung von Kriterien gelegt, deren Definition oft merkwürdig unspezifisch blieben („Umgang mit Texten“). Es ist erforderlich, hier inhaltlich nachzusteuern – etwa durch die Berücksichtigung gesellschaftlich relevanter Themen und deren Repräsentationen in literarischen Werken und Medien. Der neue Ansatz einer themenorientierten Literaturdidaktik (TOLD) unterstützt und fördert diesen notwendigen Weg hin zu einer umfassenderen, auch inhaltlich deutlich positionierten Kompetenzentwicklung, die über formale Standards zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hinausgehen. Traditionelle und aktuelle Themen werden mit fachwissenschaftlicher Fundierung literaturdidaktisch fokussiert, indem die positiven Errungenschaften der Reformanstrengungen (s.o.) mit genau den Inhalten verknüpft werden, die für die Zukunft relevant sind, die aus der Vergangenheit heraus nach wie vor eine wichtige Bedeutung für die Lernentwicklung haben und die die Kinder und Jugendlichen interessieren. Drei wesentliche Aspekte, die sich der genannten Neupositionierung und veränderten Schwerpunktsetzung der Literaturdidaktik verdanken, bieten auch dem TOLD-Ansatz einen Rahmen. Es geht hier um Leseförderung und -motivation, um die Förderung der Medienkompetenz und um die Vermittlung literarisch-kultureller Bildung mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler zu einer eigenständigen Wertung zu befähigen. Als allgemeines Prinzip lässt sich TOLD auf zahlreiche Themen anwenden. Sie kann das Problem der Beliebigkeit und Irrelevanz so mancher schulischer Textarbeit lösen, indem sie ein Themenfeld aufbaut, das hinsichtlich seiner Bedeutung zukunftsträchtig und nicht nur aus Sicht der Lerngruppe interessant ist. Texte, die innerhalb des Themenfeldes verhandelt werden, schulen immer auch die Basiskompetenz „Umgang mit Texten“, sind aber zugleich verknüpft und unterstützen damit das Denken in Zusammenhängen und letztlich das Verstehen. Damit werden Voraussetzungen geschaffen, die Schülerinnen und Schüler zu einer eigenen Wertungskompetenz führen. Gleichzeitig integriert TOLD verschiedene Verfahren der Vermittlung und wirkt interdisziplinär. Kulturökologische Themen sind aus verschiedenen Gründen besonders geeignet für TOLD, von denen ich drei hervorheben möchte. Das Thema Natur und Umwelt stößt im Allgemeinen auf großes Interesse und hat eine weitreichende Zukunftsrelevanz. Kulturökologische Themen können traditionelle mit aktuellen Literatur- und Medienbeispielen verbinden. Auf diese Weise wird Wissen unter neuer Perspektive aufgebaut. Sie sind darüber hinaus eng mit Werten und Handlungsoptionen verbunden, als literarische eröffnen sie der Lerngruppe Räume des Probehandelns und fordern sie zu einer aktiven

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Auseinandersetzung geradezu heraus. Fasst man in der phasenverbindenden Lehrerausbildung dieses Themenspektrum schlagwortartig unter dem Terminus „Nachhaltigkeit“ zusammen, werden die zukünftigen Lehrkräfte beständig daran erinnert, ihr konkretes Vorgehen (Textauswahl, Zielrichtung usw.) zu überprüfen und zu legitimieren. Auf diese Weise kann eine Struktur entstehen, die einerseits Kontinuität und Aktualität (der Themen, der Verfahren) ermöglicht und andererseits den Wandel unterstützt (durch Überprüfung der Legitimation und Relevanz des Themas). Angehende ebenso wie bereits tätige Lehrkräfte können so zu change agents werden. Sie schlüpfen in diese neue und bedeutende Rolle, die ihnen die UNESCO durch das neue Weltaktionsprogramm im Hinblick auf Bildung für nachhaltige Entwicklung zugedacht hat. Im Jahr 2005 rief die UNESCO die Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung aus.14 Diese kann „Unterricht und Schule so verändern, dass unsere Welt zukunftsfähiger wird“, heißt es in der bereits oben zitierten gemeinsamen Empfehlung der KMK und des DUK von 2007.15 Darin wird ausführlich dargelegt, dass die Bildung für nachhaltige Entwicklung zu einem Querschnittsthema in allen Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zu Universität werden soll. Entsprechende Themen seien in allen Schulfächern zu behandeln, ausdrücklich wird gefordert, kulturelle Aspekte zu berücksichtigen. Natur- und Kulturwelt sollen so stärker verbunden und der nächsten Generation in dieser vernetzten Struktur aus verschiedenen Perspektiven vermittelt werden. Die einseitige Zuweisung des Themas Nachhaltigkeit an die technisch-naturwissenschaftlichen bzw. sozialwissenschaftlichen Fächer soll überwunden werden. Nachhaltigkeit ist kein Thema, das in die Zuständigkeit bestimmter Fächergruppen fällt, es geht alle an und ist in diesem positiven Sinne ein Querschnittthema ersten Ranges. Die Resonanz auf die UN-Dekade war enorm. Im Laufe der vergangenen zehn Jahre konnte die Deutsche UNESCO-Kommission über dreitausend Projekte auszeichnen, die sich dem Thema Nachhaltigkeit und Bildung gewidmet hatten. Die Vielseitigkeit der Initiativen überraschte und zeigte die große Bedeutung, die dieses Thema für die gesamte Gesellschaft und insbesondere für die nachfolgenden Generationen hat. Die Wahrnehmung der Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Politik16 ist seitdem deutlich erhöht, deren Bedeutung in Bildungs- und sonstigen Institutionen wurde messbar gesteigert. Die Dekade-Projekte in ihrer Vielgestaltigkeit erwiesen sich als die Pioniere des Wandels, dessen Fortschreibung nun durch das Weltaktionsprogramm BNE 2015 gewährleistet werden soll. Das Ziel besteht darin, den Sprung von den einzelnen Projekten und temporären Initiativen hin zu 14 15 16

Informationen zur Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005–2014) sind verfügbar unter http://www.bne-portal.de [26.4.2015]. KMK und DUK 2007, 7. Seit 2012 gibt es einen Bundestagsbeschluss, der Bildung für nachhaltige Entwicklung zu einem nationalen Bildungsziel erklärt. Dies ist umso bedeutsamer, wenn man die föderale Struktur der deutschen Bildungspolitik bedenkt.

Bildung für nachhaltige Entwicklung und der zukünftige Deutschunterricht

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stabilen Strukturen zu unterstützen, und in diesem Sinne hat die UNESCO fünf Handlungsfelder identifiziert.17 An zentraler Stelle steht die neue Rolle der Lehrenden, die als change agents dafür verantwortlich sind, dass die nächste Generation genügend Wissen im Bereich Nachhaltigkeit erwirbt, um entsprechend handeln zu können, getreu dem Motto: Learning today for tomorrow. Auf dem Weg vom Projekt zur Struktur fordert die deutsche UNESCOKommission, dass Bildung für nachhaltige Entwicklung auf der formellen und der nonformellen Ebene strukturell verankert werden soll, z.B. als verbindliches Querschnittthema in den Lehrplänen und Bildungsstandards, aber auch an Universitäten, in der außerschulischen Jugendarbeit und in der Elementarbildung. Insgesamt strebt die UNESCO nichts Geringeres als eine Neuorientierung von Bildung und Lernen an, „sodass jeder die Möglichkeit hat, sich das Wissen, die Fähigkeiten, Werte und Einstellungen anzueignen, die erforderlich sind, um zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen.“18 Um dieses Ziel zu erreichen, sollen vor allem lokale Bildungslandschaften ausgebaut und dadurch selbst zu kleinen Zellen der Nachhaltigkeit werden. Obwohl schon Anstrengungen unternommen wurden, die politischen Rahmenbedingungen zu setzen, können diese noch verbessert werden, auch fehlen Qualitätsstandards, die teilweise noch zu setzen wären. Das Erreichen dieser Ziele hängt aber in einem entscheidenden Maße davon ab, dass qualifiziertes und von der Sache überzeugtes, zugleich befähigtes Lehrpersonal zur Verfügung steht. Hier sind die Universitäten und die anderen Einrichtungen der Lehrerbildung, auch der Weiterbildung, zuerst in der Pflicht. Noch immer konzentriert sich das Thema Nachhaltigkeit bei den MINT-Fächern. Das ist gut, aber nicht genug. Politische, werthaltige und kulturelle Aspekte müssen durch die entsprechenden Fächer gestärkt werden. Es gibt nicht genug Angebote außerhalb von MINT zur Bildung für nachhaltige Entwicklung und zu wenige Personen, die dies in den Schulen und Universitäten kompetent vermitteln können. Deshalb kann für Schülerinnen und Schüler der falsche Eindruck entstehen, Nachhaltigkeit sei ein Spartenproblem, gehöre zu einer bestimmten Fächergruppe und folglich in die Verantwortung der auf diesen Gebieten tätigen Personen. Dies läuft der Querschnittaufgabe klar zuwider. Bildung für nachhaltige Entwicklung soll als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden und auch so vermittelt werden. Noch ist das Thema viel zu wenig umgesetzt, strukturell verankert ist es bisher nur in den Bildungsstandards für Biologie und Erdkunde. Bildung für nachhaltige Entwicklung, verstanden als Lern- und Handlungsfeld, ist fächerübergreifend und fächerverbindend, hat aber auch Bedeutung für das fachgebundene Lernen. Natur-, gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Fächer werden so stärker verknüpft, und es wird die Orientierung am Lernbereich globale Entwicklung gestärkt im Sinne einer Zukunftsperspektive, mit der sich die junge Generation mehr noch als alle anderen

17 18

Vgl. UNESCO Roadmap, 14. UNESCO Roadmap, 13.

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Berbeli Wanning

wird auseinandersetzen müssen. Sie ist die erste, deren Leben von Anfang an durch Globalisierung geprägt sein wird, mit allen positiven und negativen Folgen. Fakt ist, dass die Natur- und Umweltprobleme nur in globaler Gemeinschaft gelöst werden können, sollte dies überhaupt möglich sein. Kinder und Jugendliche in dieser Perspektive zu bilden und zu erziehen, ist einer der pädagogischen Grundsätze von Bildung für nachhaltige Entwicklung und sollte zu einem Bestandteil der Curricula werden. Veränderungen und Fortschritte, die aus der Praxis kommen, müssen dabei angemessen berücksichtigt, theoretisch reflektiert und somit Bestandteil einer neuen Praxis werden, für die Nachhaltigkeit selbstverständlich ist.

Literaturverzeichnis Abraham, Ulf/Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung, Berlin 2005. Abraham, Ulf/Rauch, Marja: Eine eigene Kompetenz für Literaturgeschichte als Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts?, in: Didaktik Deutsch, Heft 30, 2011. Baum, Michael/Bönnighausen, Marion (Hrsgg.): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik, Baltmannsweiler 2010. Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Brand, Tilman von: Deutsch unterrichten. Einführung in die Planung, Durchführung und Auswertung in den Sekundarstufen, Seelze 2015. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination, Cambridge/MA, London 1995. Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.): UNESCO Roadmap zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms Bildung für nachhaltige Entwicklung. Verfügbar unter http://www.bneportal.de/?id=12227 [26.4.2015]. Empfehlung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) vom 15.6.2007 zur Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Schule. Verfügbar unter: http://www.kmk.org/dokumentation/veroeffentlichungen-beschluesse/ internationales.html [26.4.2015]. Garrard, Greg (Hrsg.): Teaching Ecocriticism and Green Cultural Studies, London 2012. Glasenapp, Gabriele von: Apocalypse now! Future-Fiction-Romane und Dystopien für junge LeserInnen, in: Ewers/von Glasenapp/Pecher (Hrsgg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2013. Hochstadt, Christiane/Krafft, Andreas/Olsen, Ralph: Deutschdidaktik. Konzeptionen für die Praxis, Tübingen 2013. Köhnen, Ralph (Hrsg.): Einführung in die Deutschdidaktik, Stuttgart 2011. Leubner, Martin/Saupe, Anja/Richter, Matthias: Literaturdidaktik, Berlin 2010. Rupp, Gerhard, Deutschunterricht lehren weltweit. Basiswissen für Master of EducationStudierende und Deutschlehrer/innen, Baltmannsweiler 2014. Wanning, Berbeli (Hrsg.): Mensch, Natur, Text. Ökologie im Deutschunterricht. Deutschunterricht, Heft 2, 2014. Winkler, Iris/Masanek, Nicole/Abraham, Ulf (Hrsg.): Poetisches Verstehen. Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2010.

Authentizität und Funktionalität Interdisziplinäre Anmerkungen zur Sprechstilforschung in Lehr-Lernkontexten Anke Werani, Sabine Anselm 1

Vorüberlegungen

Kommunikative Vermittlungssituationen sind komplex. Deutlich wird dies in LehrLernkontexten, in denen die sprachlich wechselseitige Bezogenheit eine zentrale Rolle spielt. Diese realisiert sich unter vielfältigen Bedingungen, wobei insbesondere die Formung des personalen Sprechstils einen entscheidenden Einfluss auf Lernprozesse hat. Denn im Sprechstil drückt sich Ich-Identität aus, die maßgeblich an den beziehungsstiftenden, emotionalen Aspekten innerhalb der kommunikativen Prozesse beteiligt ist. Kulturhistorisch fundiert liegt hier die Annahme zugrunde, dass die Sozialität und die darin geteilten (sprachlichen) Tätigkeiten für Lernprozesse grundlegend sind. Sprechen entsteht aus der Sozialität heraus und bleibt ein soziales Moment, auch wenn das Sprechen interiorisiert ist.1 Alle Individuen gehören durch ihre Sozialisationsbedingungen zu einer bestimmten Gemeinschaft und immer auch zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft. Individuen existieren innerhalb von Sprache und alles Erleben und Handeln findet somit in Sprache statt. Sprachliche Tätigkeit befähigt damit nicht nur zu kommunizieren, sondern spielt auch bei der Ausbildung psychischer Prozesse eine zentrale Rolle. So prägt Sprache psychisch nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Identität. Mit Vygotskij2 wird postuliert, dass alle höheren psychologischen Prozesse, also auch Lernprozesse, zunächst geteilte soziale Prozesse sind. Geteilte Tätigkeit wird als Grundlage menschlichen Daseins verstanden und umfasst im weitesten Sinne alle Arten Interaktionen. Das sprachliche Vorbild des Lehrenden erhält somit zwei Funktionen: es ist Vorbild für kommunikative Prozesse und für die Entfaltung kognitiver Prozesse. Diese Auffassung, dass Sprache als Werkzeug für kognitive Prozesse eingesetzt wird und dass dieses Werkzeug in geteilten, gemeinsamen Prozessen erworben wird, schafft ein neues Verständnis für Lernprozesse: Die sprachliche Tätigkeit wird nicht auf ihre kommunikative Funktion reduziert, sondern sie wird in ihrer für kognitive Prozesse vermittelnden Funktion dargestellt. Der konstruktivistische Gedanke erscheint damit – durch die vermittelnde Funktion der sprachlichen Tätigkeit – ebenso wie die Lernprozesse in einem neuen Licht. Es wird deutlich, dass es sich um ein dynamisches Konstrukt handelt, das sich abhängig von 1 2

Vgl. Werani 2011. Vgl. Vygotskij 1931/1992.

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Anke Werani, Sabine Anselm

sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Aspekten laufend verändert. Diese wechselseitige Abhängigkeit weist darauf hin, dass Lernprozesse soziale Prozesse sind. Sie entstehen nicht im Lernenden, sondern werden durch gemeinsame Lerntätigkeiten angeeignet.3 Konstruktivistische Lerntheorien sind somit sozial zu denken, und zwar nicht nur vom Lernenden aus, sondern vor allem dem Lehrenden kommt eine aktive Rolle in der gemeinsamen Lerntätigkeit zu. Es ist also eine wechselseitige Wirkung von Lehrenden und Lernenden im Blick auf die Kompetenzentwicklung anzunehmen.4 Der erkennbaren Komplexität kommunikativer Vermittlungssituationen soll durch eine interdisziplinäre Herangehensweise aus deutschdidaktischer und psycholinguistischer Perspektive Rechnung getragen werden. Dazu wird im Folgenden zunächst dargelegt, was unter dem Begriff des personalen Sprechstils verstanden wird (2), und danach seine Rolle einerseits hinsichtlich kommunikativer Kontexte und andererseits hinsichtlich der Ich-Identität und des zugrundeliegenden Habitus thematisiert (3). Hieran anschließend wird die Erfassung des personalen Sprechstils problematisiert (4). Schließlich wird auf die Rolle sprachlicher Tätigkeit in Lehr-Lernkontexten eingegangen (5) und anhand von Beispielen die Reflexion des personalen Sprechstils illustriert (6). Abschließend wird durch die Auswertung von Evaluationsbögen die Relevanz des interdisziplinären Seminarangebots im Rahmen des Brückensteine-Projekts beleuchtet (7).

2

Personaler Sprechstil

Auf die sprachliche Tätigkeit richtet sich der Forschungsfokus in der kulturhistorischen Psycholinguistik.5 Dieser spezifizierte Begriff kennzeichnet einen Sprachbegriff, der sowohl psychologische als auch soziologische Dimensionen erfasst. Zwei grundsätzliche Funktionen der sprachlichen Tätigkeit kennzeichnen diese Bereiche:6 Erstens regelt die sprachliche Tätigkeit den sozialen Verkehr, d.h. ihr kommt eine kommunikative Funktion zu, und dies entspricht der soziologischen Dimension. Zweitens ist die sprachliche Tätigkeit ein Mittel des Denkens, d.h. sie erhält eine kognitive Funktion, da auf uns selbst gerichtetes Sprechen ein Mittel des Denkens wird; dies entspricht der psychologischen Dimension. Die Betrachtung sprachlicher Tätigkeit vollzieht sich also immer im Spannungsfeld beider Dimensionen. Mit der gemeinsamen, geteilten sprachlichen Tätigkeit wird ein Kommunikationsraum geschaffen, der jeweils neu konstruiert wird. Dieser entsteht im unmittelbaren miteinander Sprechen und besteht nur in diesem Moment; wird er zuweilen verlassen, so wird er dann bei Rückkehr wieder neu gestaltet. Insofern bestehen keine fixen Räume, sondern es werden jeweils neue Konstrukte geschaffen. Kom3 4 5 6

Vgl. Galperin 1967a+b. Vgl. Anselm 2011. Vgl. Werani 2011. Vgl. Vygotskij 1934/2002.

Authentizität und Funktionalität

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munikative Akte sind in diesem Sinne nicht wiederholbar, sondern einzigartig und flüchtig. Es geht dabei nicht um den jeweiligen Ausdruck der Aktanten (die zugleich Sprecher und Zuhörer sind), sondern um die Konstruktion des Gemeinsamen, gewissermaßen „zwischen“ den Aktanten. Somit handelt es sich um eine gemeinsame Gestaltung eines Kommunikationsraums, eine unmittelbar symbolisch konstruierte Wirklichkeit im Hier-und-Jetzt. Diese Konstruktion ist von vielen Faktoren abhängig: Aktanten (wer?), Topik (worüber?), Motiv (wozu?), Schema (wann und wo?), Medium (womit?) und Mittel (wie?).7 Ausgangspunkt ist hierbei mindestens ein Zweiersystem,8 da Sprache nicht isoliert vorkommen kann. Zudem wird an dieser Auffassung von Kommunikationsräumen deutlich, dass beispielsweise Missverständnisse nicht Teil eines Aktanten sind, sondern ebenso in dem gemeinsamen Kommunikationsraum konstruiert werden. Daher ist es auch möglich, diese durch gemeinsame Rekonstruktionen auszuräumen. Beim Eintritt in einen Kommunikationsraum findet jede sprachliche Tätigkeit Ausdruck in den jeweils individuellen personalen Sprechstilen9. Der Kommunikationsraum wird somit von individuellen personalen Sprechstilen gestaltet. Wesentlich ist, dass der personale Sprechstil ein ganzheitliches Konstrukt ist, das verbale, paraverbale und nonverbale Aspekte mit einbezieht. Der personale Sprechstil wird also in ähnlicher Weise wie beispielsweise der Lebensstil als Ausdruck des Habitus aufgefasst.10 Diese Betrachtung macht deutlich, dass sowohl linguistische als auch sozialwissenschaftliche Aspekte in den Stilbegriff mit einfließen. Der personale Sprechstil besteht aus habitualisierten Komponenten wie beispielsweise Körperschemata, die in jeder Biografie spezifisch angeeignet werden. Das Sprechen wird also in die gesamte Haltung, den gesamten Lebensstil integriert. Hier fließen weitreichende Aspekte mit ein, etwa das sprachliche Umfeld in der Kindheit – z.B. der Stellenwert von Sprache und Literalisierung im Elternhaus, Prägungen im schulischen Kontext, Einflüsse der Peer Group während der Adoleszenz sowie Möglichkeiten der Selbstreflexion im Erwachsenenalter. Aufgrund der habitualisierten Gewordenheit11 des personalen Sprechstils wird davon ausgegangen, dass er trotz wechselnder Kommunikationsräume stilistische Konstanten aufweist, sogenannte habituelle Sprechweisen. Entsprechend dem Habitus kann der personale Sprechstil zwar unbewusst bleiben, eine Professionalisierung des personalen Sprechstils setzt jedoch voraus, den personalen Sprechstil bewusst zu machen, um ihn reflektieren 7 8 9

10 11

Vgl. Heringer 2010. Bühler 1934. Der Begriff personaler Sprechstil wird auch von Miosga 2010a verwendet. Ausgangspunkt ist hierbei ein sozialwissenschaftlicher Stilbegriff, dem interaktionistisch-funktionale Betrachtungsweisen zugrunde liegen. Das Hauptaugenmerkt liegt auf der Prosodie (Miosga 2006). Vgl. Bourdieu 1987, Miosga 2010a. Der Begriff habitualisierte Gewordenheit betont den historischen Grundsatz dieser Betrachtungsweise (vgl. Holzkamp/Schurig 1973, XXV) und verweist damit darauf, dass die gesellschaftlichen Bedingungen einen wesentlichen Einfluss auf individualgeschichtliche Entwicklungsprozesse haben (Leont’ev 1977).

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Anke Werani, Sabine Anselm

zu können. Hierbei umfasst eine ganzheitliche Betrachtung des personalen Sprechstils den verbalen, paraverbalen und nonverbalen Parameter. Deren Gesamteindruck sollte im Kontext einer Analyse zunächst vermerkt werden. Denn auf diese Weise lassen sich intuitiv augenfällige Parameter hervorheben und damit verbundene Wirkungen auf den Beobachter festhalten. In einer sich daran anschließenden detaillierten Analyse werden die an sich miteinander interagierenden Komponenten der einzelnen Parameter zu Analysezwecken isoliert. Die Analyse der verbalen Äußerungen konzentriert sich darauf, was gesprochen wird. Dazu gehören die Beurteilung des Gesamteindrucks, die gesprochene Varietät, die Argumentation, die Wortwahl mit besonderem Augenmerk auf Partikel und die Syntax sowie die Adressierung und die Verwendung spezifischer Fragetechniken. Die grundlegenden Komponenten richten sich nach gängigen Beurteilungskriterien der Rhetorik.12 Die Komponenten Adressierung und Fragetechnik beziehen sich auf die aktive Gestaltung des Kommunikationsraumes beispielsweise im Sinne einer Ratifizierung des Hörers13 oder einer dialogischen Gestaltung.14 Die Art der Frage hängt stark mit der Positionierung des Fragenstellers zusammen, wobei im Lehr-Lernkontext auch motivierende Faktoren hinzuzunehmen sind. Die paraverbale Analyse befasst sich zentral mit der Stimme und den prosodischen Merkmalen wie Lautstärke, Tonhöhe, Sprechtempo, Lautbildung, Sprechpausen, Akzent und Sprechrhythmus.15 Es wird somit analysiert, wie gesprochen wird. Die Stimme ist zentral, da über sie bereits Informationen über den Körpertypus, den Gesundheitszustand, das Alter und das Geschlecht des Sprechenden vermittelt werden. Ebenso können emotionale Zustände über die Stimme abgeleitet werden. Diese spiegelt einen wesentlichen Teil unserer Identität wider, denn aus Erfahrungswerten werden zur Stimme physische und psychische Gegebenheiten assoziiert, wenngleich bisher kein wissenschaftlicher Nachweis darüber gelingt, von der Stimme beispielsweise auf eindeutige physische Identitäten zu schließen.16 Die Analyse der nonverbalen Kommunikation umfasst die Proxemik, die Körperhaltung, das Blickverhalten, die Mimik und die Gestik. Hier wird darauf geachtet, auf welche Weise verbale und paraverbale Aspekte begleitet werden.17 Durch eine ausführliche Deskription des personalen Sprechstils kann eine Grundlage für dessen Reflexion geschaffen werden. Dadurch, dass dieser in Bild (Video) und Schrift (Transkript) festgehalten ist, erfolgt eine Materialisierung, die nun auch vom Aktanten von außen betrachtet werden kann. Dadurch wird die Möglichkeit der Autokonfrontation mit dem eigenen Sprechstil geschaffen. Dies ist die Voraussetzung für eine umfassende Reflexion des eigenen Sprechstils. Denn die 12 13 14 15 16 17

Vgl. Kegel 2007, Dietz 2008. Vg. Goffman 2005. Vgl. Linell 1998, Linell 2009. Vgl. Miosga 2010b, Miosga 2006. Vgl. Meyer-Kalkus 2001. Vgl. Heringer 2010, Caswell/Neill 2003.

Authentizität und Funktionalität

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Analyse des personalen Sprechstils bezieht sich nicht nur auf die äußere, kommunikative Funktion, sondern weist ebenso auf Aspekte des inneren Sprechens und damit auf kognitive Funktionen hin. Dies basiert auf dem Prinzip der Interiorisierung nach Vygotskij18 und meint, dass äußere sprachliche Modelle in gemeinsamer Tätigkeit, d.h. durch gemeinsames, wechselseitiges Sprechen, verinnerlicht werden und damit auch den verinnerlichten Sprachgebrauch prägen. Die Kommunikation mit anderen formt somit immer auch innere sprachliche Prozesse. Durch die äußere sprachliche Qualität wird also auch die innersprachliche und kognitive Qualität beeinflusst. Dazu gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass die Art und Weise des Sprechens, insbesondere eine positive Form des Sprechens, Auswirkungen auf Denkprozesse hat, insbesondere im Sinne des Problemlösens. Es gibt somit einen Zusammenhang zwischen „gutem“ Sprechen und „gutem“ Problemlösen.19 Folglich liegt die Ableitung nahe, dass die Formen des Sprechens auch und gerade in LehrLernkontexten eine zentrale Rolle spielen. Doppelte Relevanz erhält die bisher beschriebene Tatsache, wenn man den Deutschunterricht betrachtet: sprachliche Tätigkeit ist für die Vermittlung der Inhalte verantwortlich und ist zugleich der zu vermittelnde Inhalt. Abschließend lässt sich festhalten, dass der personale Sprechstil eine Einheit aus sprachlichen, parasprachlichen und körpersprachlichen Parametern darstellt: Er richtet sich nach außen, d.h. auf kommunikative Kooperationen, und nach innen, d.h. auf kognitive Aspekte. In der Professionalisierung geht es also um ein vielschichtiges Zusammenspiel, insbesondere in der Ausbildung von Authentizität, um den eigenen Sprechstil zu finden, und Funktionalität, um Anwendungsvariationen zu erfahren.

3

Personaler Sprechstil als Ausdruck von Habitus und Ich-Identität

Nach Bourdieu20 stellt der Habitus ein System von Dispositionen aus Wahrnehmen, Denken und Handeln dar. Es handelt sich dabei nicht um angeborene, sondern um erfahrungsbedingte Komponenten, die sich aus dem sozialen Aufeinanderbezogensein von frühster Kindheit an entwickeln. Die Ausbildung des Habitus steht somit in engem Zusammenhang mit der Sozialität. Er ist Produkt der ökonomischen und sozialen Bedingungen.21 Da der Ausgangspunkt ein kollektiver ist, also sowohl Habitus als auch sprachliche Tätigkeit im Besonderen in der Sozialität angeeignet werden, entwickeln sich alle höheren Verhaltensformen und damit alle psychischen Prozesse aus diesen. Ein „Ich“ entsteht damit aus einem „Du“, aus der geteilten Tätigkeit. Das „Ich“ ist auf diese Weise grundsätzlich sozial zu denken, und man kann auch an diesem Punkt Bourdieu folgen, dass die subjektive Perspektive keine individuelle Perspektive ist, sondern eine im Habitus, im Sozialen, veran18 19 20 21

Vgl. Vygotskij 1934/2002. Vgl. Ertl 1972, Bartl/Dörner 1998, Roth 1985, Mercer/Sams 2006, Werani 2011. Vgl. Bourdieu 1987. Vgl. Bourdieu 1996.

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Anke Werani, Sabine Anselm

kerte. Damit spiegelt auch die subjektive Perspektive – nach Bourdieu die Gruppe/Klasse – die Sozialität wider.22 Der Habitus kann somit als ein in geteilten Tätigkeiten entstandenes Produkt angesehen werden. Er entwickelt sich aus kollektiven, sozialen Verhaltensformen. Das Habituskonzept umfasst Gewohnheiten, die insbesondere durch Lernen entstehen,23 d.h. man handelt durchaus so, wie man es gelernt hat. Der Habitus ist einverleibt, er ist Leib gewordene Geschichte.24 Er äußert sich im gesamten Lebensstil, der sich wiederum in der Sprache, im Geschmack, im Konsumverhalten, durch Vorlieben in der Freizeitgestaltung oder in Formen des Familienlebens ausdrückt. Bourdieu betont insbesondere die Kohärenz von Habitus, Geschmack und Lebensstil. Der Habitus kann somit als Fundament der Lebensstile angesehen werden, d.h. er wird gekonnt, aber nicht notwendigerweise gewusst. Analog verhält es sich mit dem Sprechstil, er wird ebenso einverleibt und Sprechen wird gemeinhin „gekonnt“, jedoch nicht zwangsläufig „gewusst“. Beispielsweise kann ein Muttersprachler in der Regel auf der Grundlage seines Sprachgefühls erkennen, ob ein Satz grammatisch falsch ist, ohne im Sinne der Sprachbewusstheit explizit begründen zu können, um welchen grammatischen Fehler es sich handelt. Der personale Sprechstil findet in vergleichbarer Weise seinen Ausdruck, ohne ein Bewusstsein über diesen Stil haben zu müssen.25 Das Individuum verfügt jedoch über ein Bewusstsein, d.h. es ist durchaus in der Lage, sich seines Seins bewusst zu werden. Das Mittel, das hierfür verwenden wird, ist die sprachliche Tätigkeit. Mittels der Sprache und der Möglichkeit, Sprechen auch auf sich selbst anzuwenden, erlangt das Individuum die Fähigkeit, sich über sein eigenes Sein bewusst zu werden, also zu einem Bewusstsein zu gelangen. Um auch ein Bewusstsein über den eigenen personalen Sprechstil zu gewinnen, ist es zunächst notwendig, eine möglichst genaue Beschreibung der einzelnen Ebenen (verbal, paraverbal, nonverbal) zu bekommen. Wesentlich ist dabei zunächst, dass diese Beschreibung von der möglichen Wirkung der sprachlichen Tätigkeit abstrahiert wird. Den Habitus als Gesamtheit zu erfassen wäre, wissenschaftlich betrachtet, eine zu große Untersuchungseinheit, da hier sämtliche Lebensformen und -gewohnheiten einfließen. Es handelt sich um die gesamte zugrundeliegende Gestalt des individuellen Ausdrucks. Insbesondere im Zusammenhang mit Authentizität und Funktionalität personaler Sprechstile sind spezifische Persönlichkeits- oder IchIdentitätsmerkmale von Interesse, da diese in Bezug auf Lehrerpersönlichkeit oder auch Lehrertypen in engerem Zusammenhang zu Lehr-Lernkontexten stehen. Möchte man zudem stärker an dem Sprechstil in einem jeweiligen Kommunikationsraum orientiert bleiben, bietet es sich an, die Ich-Identität26 näher zu betrachten. 22 23 24 25 26

Vgl. Rehbein/Saalmann 2009. Vgl. Saalmann/Rehbein 2009. Vgl. Bourdieu 1987. Vgl. Ossner 2007. Vgl. Erikson 1972.

Authentizität und Funktionalität

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Dafür muss allerdings zunächst eine begriffliche Differenzierung zwischen Habitus und Identität erfolgen: Während der Habitusbegriff die körperliche Gebundenheit kultureller Praktiken fokussiert, die weitgehend unbewusst ablaufen, wird der IchIdentitätsbegriff im Folgenden verwendet, um Prozesse der Interaktion und Reflexion zu betonen.27 Die Betrachtung des personalen Sprechstils in Bezug auf den Habitus wird also dahingehend eingeschränkt, dass der personale Sprechstil hinsichtlich der Ich-Identität nur in bestimmten, spezifischen Interaktionen reflektiert werden kann. Hieran anknüpfend wird davon ausgegangen, dass über den personalen Sprechstil auch die Ich-Identität Ausdruck findet. Habitus ist damit eine grundlegendere Ebene als die Ich-Identität, welche die spezifische Interaktion im jeweiligen Kontext betont. Bezogen auf die Funktionen der Sprache in Lehr-Lernkontexten und auf die damit in der Kommunikation nach außen und in der Kognition nach innen gerichteten Prozesse wird dieses Grundmodell mit der Auffassung Goffmans verknüpft.28 Dieser verwendet zur Erklärung der Identitätsbildung ein äquivalentes Modell und unterscheidet zwischen sozialer und persönlicher Identität. Beide Seiten der Identität werden dem Individuum von seinen Interaktionspartnern – also auch aus der Sozialität kommend – zugeschrieben und zwar basierend auf sozialen Regeln. Um eine Ich-Identität zu entwickeln, muss eine Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität hergestellt werden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die persönliche Identität eine biografische Selbstinterpretation vollzieht und auffordert „so zu sein wie kein anderer“, während die soziale Identität die Selbstinterpretation „sei wie jeder andere“ in aktuellen Situationen einfordert. Die Teilhabe an verschiedenen Rollensystemen insbesondere vor der Folie der spätmodernen Gesellschaft konzeptualisiert die Herstellung von Identität als einen offenen Prozess. Nach Keupp et al. kommt diesem Identitätsprozess eine Verknüpfungsarbeit zu, die zeitliche Perspektiven (Verknüpfung von Vergangenem mit Gegenwärtigem und Zukünftigem), lebensweltliche Gesichtspunkte wie die Selbsterfahrung in spezifischen Kontexten (z.B. als LebenspartnerIn, LehrerIn, Elternteil etc.) und inhaltliche Assoziationen im Blick auf Ähnlichkeiten und Differenzen in der Selbstund Fremdeinschätzung beinhaltet.29 Als Ziel dieser Identitätsarbeit werden die Konstruktionen von Identitätsgefühl, Selbstgefühl und Kohärenzgefühl angesehen. Bei allen drei Komponenten spielen die Bewertungen der Beziehung zu sich selbst eine Rolle und die daraus – im Idealfalle – resultierende subjektive Handlungsfähigkeit. Die Art und Weise dieser Form von Identitätsarbeit drückt damit auch die Einschätzung des Individuums aus, wie souverän es sich fühlt, spezifische Lebensbedingungen zu gestalten. Bei der Übertragung dieser Überlegungen in Lehr-Lernkontexte wird deutlich, dass es hinsichtlich der Rollensysteme immer Zugehörigkeiten zu mehreren Be27 28 29

Vgl. Liebsch 2000. Vgl. Goffman 1967. Vgl. Keupp u.a. 1999.

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zugsgruppen gibt und diese durchaus inkompatibel miteinander sein können. Die Herausforderung besteht darin, im Rahmen der Identitätsarbeit in der Wechselwirkung mit äußeren und inneren Prozessen zu einer Kohärenz zu finden, die den Lehrenden souverän und authentisch erscheinen lässt. Diese Identitätsarbeit steht im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch einzigartig zu sein, d.h. Merkmale zu haben, die das Individuum von anderen Individuen unterscheidet, und normativen Erwartungen zu entsprechen, d.h. in spezifischen Situationen die vorgegeben, normativen Eigenschaften und Erwartungen zu erfüllen. Es wird somit verlangt, sich zu unterscheiden und im Grunde gleichzeitig so zu sein wie kein anderer und sich den allgemeinen Erwartungen unterzuordnen, gewissermaßen so zu sein wie alle anderen. Hier kommen nun Aushandlungsprozesse ins Spiel, mittels derer versucht wird, eine Balance zwischen diesen beiden Identitätsanforderungen herzustellen und eine Ich-Identität zu entwickeln. Es finden sich also auch hier kollektive, gesellschaftliche sowie individuelle Prozesse. Bezogen auf den schulischen Kontext ist von großem Interesse, dass sich während der gesamten Schulzeit – insbesondere während der Adoleszenz – die IchIdentität stark ausbildet. Ein Aspekt, der oftmals vernachlässigt wird: So sind in den schulischen Erwartungen größtenteils vor allem normative Formen, beispielsweise in sozialer Unterordnung und Anpassung, zu finden, weniger in der individuellen Entfaltung. Für den Lehrenden gibt sich unter Berücksichtigung der dargelegten Perspektive auf Identitätsbildung eine neue Sicht auf sich selbst und auf die Schüler. Identitätsbildung ist in diesem Sinne kein abgeschlossener Prozess, sondern ein sich stets entwickelnder. Die Schüler formen damit ebenso die Identitätsbildung des Lehrenden wie der Lehrende die Identitätsbildung der Schüler prägt. Hinzu kommt 30 der Aspekt der Identitätsarbeit als Narrationsarbeit: Die Rolle der Sprache und ihrer Funktionalität umfasst nicht nur einen Vermittlungsaspekt in einem rein symbolischen Sinne, sondern sprachlicher Tätigkeit kann gestaltende Kraft bei der Bildung der Ich-Identität zugeschrieben werden. Der personale Sprechstil ist also Ausdruck des zugrunde liegenden Habitus’ und der bewusst wahrgenommenen Ich-Identität und zwar nicht nur als Mittel des Ausdrucks, sondern gleichermaßen als Mittel der Formung von Ich-Identität und Habitus. Der personale Sprechstil dient so betrachtet der Aushandlung zwischen sozialen, äußeren und kognitiven, inneren Prozessen. Aus dieser prozesshaften Konstruktion von Ich-Identität resultiert allerdings keine endgültige Entität, sondern mittels sprachlich konstruierter und vermittelter Wirklichkeiten werden jeweils neue Konstrukte geschaffen. Die „Trägheit“ dieses Systems gestattet, dass es zu Kohärenzempfindungen kommt, die einerseits die Wahrnehmung der IchIdentität ermöglicht und andererseits zu einer Sammlung habitueller Gewordenheiten führt, die den unbewussten Ausdruck des Habitus unterfüttern. Angenommen wird daher, dass die reflexive Aneignung von Sprache, Werten und Normen der 30

Vgl. Keupp u.a. 1999, Kraus 2000, Kraus 2007.

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jeweiligen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zur Entwicklung handlungsfähiger und selbstbestimmter Individuen führt. Denn die Reflexion führt zur Wahrnehmung und Bewertung der Ich-Identität und stellt damit die Gegenbewegung zum Habitus dar, der grundsätzlich unbewusst bleibt. Gemeinsame sprachliche Tätigkeit trägt in diesem Sinne dazu bei, die Ich-Identität immer wieder auszuhandeln und in Balance zu halten. Jeder kommunikative Akt ist damit eine Aktualisierung der Sozialbeziehung sowie eine Aktualisierung der Ich-Identität.

4

Erfassung des personalen Sprechstils

Personaler Sprechstil wird – wie gezeigt – als dynamisches Konstrukt definiert, das sowohl mit kognitiven, sozialen als auch emotiven Dimensionen verbunden ist. Maßgeblich für die Erfassung des personalen Sprechstils ist deshalb die Gegenstandsangemessenheit der gewählten wissenschaftlichen Methode. Dies erfordert, dass das Zweiersystem der Sprechenden betrachtet wird und nicht der Sprechende isoliert. Beim Sprechen handelt es sich also um eine positionierte, situationsgebundene, adressierte Tätigkeit. Insbesondere bei der Wahl der Analyseeinheiten ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Untersuchung von sprachlicher Tätigkeit um kommunikativ-kognitive-emotive Einheiten handelt. Die Rekursivität der Sprache führt die Komplexität der sprachlichen Tätigkeit fort, da Sprache sich, auch wenn sie sich an jemanden anderen richtet, gleichzeitig immer auch an das Individuum selbst richtet. Befasst man sich nun mit methodischen Fragen, wie personale Sprechstile gemäß eines wissenschaftlichen Paradigmas beschrieben, analysiert und interpretiert werden können, wird deutlich, dass eine einfache Messung des personalen Sprechstils – aufgrund der Annahme eines dynamischen und vielschichtigen Konstrukts – nicht ohne weiteres möglich ist. Deshalb wird nun zunächst dargestellt, wie sich aus Gegenstand und Perspektive des personalen Sprechstils und der quantitativen und qualitativen Methodenvielfalt ein Verfahren herauskristallisiert, das sowohl theoretischen als auch praxisorientierten Ansprüchen genügt. Es geht also nicht nur darum, personale Sprechstile im wissenschaftlichen Sinne zu analysieren, sondern die Reflexion und Interpretation dieser für die Anwendung in spezifischen LehrLernkontexten nutzbar zu machen. Da hier sowohl die sprechsprachlichen Prozesse als auch die Resultate dieser Prozesse in den Forschungsfokus geraten, wird nochmals deutlich, dass prozessorientierte mit resultatorientierten Methoden kombiniert werden müssen. Das führt zu einer grundsätzlichen Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden. Zu suchen ist damit eine Synthese aus naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Methodik, wie sie etwa Kempf verfolgt. Seiner Auffassung nach liegt die grundsätzliche Problematik der psychologischen und damit auch der psycholinguistischen Theoriebildung darin, allgemeingültige Gesetze durch materielle Re-

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Anke Werani, Sabine Anselm

duktion zu gewinnen.31 Als Vorbild der materiellen Reduktion wird die Physik herangezogen, indem versucht wird, durch alleinige Betrachtung von Materialqualitäten wie beispielsweise messbaren Eigenschaften diese Herangehensweise auf psychologische Prozesse zu übertragen. Angemessener ist seiner Auffassung nach die Gewinnung von Gesetzesaussagen durch strukturelle Reduktion, wie es beispielsweise in der Biologie üblich ist. Hier fließt die Betrachtung semantischer Aspekte in die Erfassung ein. Deutlich wird, dass sich inzwischen für den Erkenntnisgewinn der psychologischen Theoriebildung eine Abkehr von diesen nomologischdeduktiven Erklärungsschemata abzeichnet und eine Hinwendung zu intentionalen Erklärungsmodellen geschieht. Dies zeigt sich in der Fülle verschiedener Ansätze der qualitativen Methodik.32 Auf diesem Weg kommt man unter einer subjektwissenschaftlich verstandenen Psycholinguistik zu konkreten Aussagen von Handlungsprämissen sprachlicher Tätigkeit. Das bedeutet: Der personale Sprechstil kann nicht durch eine Elementenanalyse analysiert werden, sondern einzelne Einheiten können nur in Rückbindung an den Kontext beurteilt werden. Äußerungen beispielsweise, die aus dem Kontext gegriffen zitiert werden, können eine völlig andere Bedeutung erhalten. Zudem spielen Kongruenzen und Inkongruenzen eine maßgebliche Rolle, denn beispielsweise Ironie, Sarkasmus oder auch Witz teilen sich in der Regeln nicht wortwörtlich mit, sondern beispielsweise durch paraverbale Variationen der Stimme. Die Analyse personaler Sprechstile folgt damit Prinzipien der subjektwissenschaftlichen Psychologie, d.h. ihr liegt ein intentionales Erklärungsmodell zugrunde und sie berücksichtigt sowohl objektseitige als auch subjektseitige Variablen.33 Im Folgenden werden die zu berücksichtigenden objektseitigen und subjektseitigen Variablen erläutert. Das grundsätzliche methodische Problem besteht in der Forschungsperspektive, denn es bedarf – kurz gesagt – einer Verbindung der Perspektiven „ich erzähle etwas über mich“ und gleichzeitig: „ich erzähle etwas über dich“. Nach Kempf34 bezieht sich die objektseitige Betrachtung auf physikalische Stimulusqualitäten, d.h. diese Betrachtung umfasst klar beobachtbare Stimuli und Verhalten. Ziel ist es, elementare Handlungszusammenhänge, meist in Form von Kausalketten, aufzuzeigen. Beschreibungsprädiktoren sind bezüglich des personalen Sprechstils die Parameter verbal (z.B. Wortschatz), paraverbal (z.B. Stimme) und nonverbal (z.B. Blickkontakt). Grundsätzlich werden die theoriesprachliche und die beobachtungssprachliche Beschreibung unterschieden. Die theoriesprachliche, objektive Beschreibung des personalen Sprechstils stellt die Fremdbeobachtung dar, d.h. der personale Sprechstil des beobachteten Subjekts wird durch einen Dritten beschrieben. Die beobachtungssprachliche Beschreibung enthält die Selbstbeobachtung, d.h. der personale Sprechstil wird vom Subjekt selbst beschrie-

31 32 33 34

Vgl. Kempf 1999. Vgl. Mey/Mruck 2010. Vgl. Kempf 1999, Kempf 2009. Vgl. Kempf 1999, Kempf 2009.

Authentizität und Funktionalität

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ben. Wesentlich ist hier die Betonung der phänomenologischen Ebene, die sich darauf beschränkt zu beschreiben, was zu beschreiben ist. Die subjektseitige Betrachtung bezieht sich auf die Beschreibung und Zuordnung von Wahrnehmungen und Gefühlen. Ziel ist hier, komplexe Handlungszusammenhänge aufzuzeigen. Es geht um eine Relativierungen von subjektivistischen Aussagen, d.h. verschiedene Wahrnehmungen und Emotionen werden verglichen und diskutiert. Die theoriesprachliche Beschreibung enthält individuelle Sinngehalte, die der Beobachter dem Beobachteten zuschreibt. Im Falle des personalen Sprechstils handelt es sich um (individuelle) Interpretationen der Wirkung des jeweiligen personalen Sprechstils. Beobachtungssprachlich werden die eigenen, individuellen Wahrnehmungen und Gefühle und ihre psychologischen Funktionen dargelegt. Durch Introspektion ist es möglich, Mittel und Ziele zu erklären. Diese Selbstbeobachtung ermöglicht die Reflexion der sprachlichen Darstellung, aber auch der zugrundeliegenden Werte und Einstellungen. Zentral ist hierbei, dass individuelle Interpretationen des Wahrgenommenen vollzogen werden und diese stets (objekt- und subjektseitig) subjektiv sind. Vor dem Hintergrund dieser Analysegrundlage ist es möglich, zwei grundsätzliche Differenzierungen vorzunehmen: (1) Es können sowohl objektseitige als auch subjektseitige Perspektiven kontrastiert werden. (2) Es können theoriesprachliche und beobachtungssprachliche Ergebnisse verglichen und ergänzt werden. Eine Zusammenfassung der objektseitigen und der subjektseitigen Perspektive sowie die Verflechtung theorie- und beobachtungssprachlicher Beschreibung zeigt Tabelle 1.

objektseitig

theoriesprachlich (der Beobachter, 3. Perspektive)

beobachtungssprachlich (der Beobachtete, 1. Perspektive)

Fremdbeobachtung: Ein Beobachter beschreibt den personalen Sprechstil des beobachteten Subjekts (Deskription).

Selbstbeobachtung: Der Beobachtete beschreibt selbst aus der eigenen Perspektive seinen personalen Sprechstil (Deskription).

subjektseitig Wirkungszuschreibung: Zuordnung der individuellen Wahrnehmungen und Emotionen; Interpretation von Mitteln und Zielen; Reflexion von Werten und Einstellungen (Interpretation).

Wirkungszuschreibung: Zuordnung der individuellen Wahrnehmungen und Emotionen; Interpretation von Mitteln und Zielen; Reflexion von Werten und Einstellungen (Introspektion)

Tabelle 1: Zusammenfassung der theorie- und beobachtungssprachlichen Beschreibung mit jeweiligem objekt- und subjektseitigem Bezug.

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Anke Werani, Sabine Anselm

Für die Erforschung des personalen Sprechstils heißt das, dass sowohl objektseitige und subjektseitige Aspekte als auch quantitative und qualitative Methoden berücksichtigt werden müssen. Betont wird mit diesem Herangehen die Differenzierung von Deskription und Interpretation. Damit die theorie- und beobachtungssprachliche Perspektive in Bezug gesetzt werden können, d.h. Fremd- und Selbstbeobachtung hinsichtlich der übergeordneten – verbalen, paraverbalen und nonverbalen – Parameter des personalen Sprechstils verglichen werden können, wird ein einheitlicher Beobachtungsbogen zugrunde gelegt. Dieser ist Grundlage für die Reflexion des eigenen personalen Sprechstils. Die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Perspektiven lässt sich grafisch darstellen und bietet damit ein geeignetes Element, unterschiedliche Wahrnehmungen offensichtlich zu machen.

5

Sprachliche Tätigkeit in Lehr-Lernkontexten

Die sprachliche Tätigkeit ist in Lehr-Lernkontexten das zentrale Vermittlungs- und Konstruktionsmoment für Lernprozesse. Im Rahmen der Wissensgesellschaft formiert sich gewissermaßen eine neue Lernkultur. Es geht zunehmend weniger um Wissensaneignung als vielmehr um eigenverantwortliches Lernen,35 d.h. Lerner müssen zum lebenslangen Lernen befähigt werden. Lernprozesse werden somit vom Lernenden selbst bestimmt und aktiv gestaltet. Nur auf diese Weise kann das rasche Voranschreiten von Wissensinhalten bewältigt werden. In den Vordergrund dieser konstruktivistischen Prozesse rücken daher die Lernmotivation und eine positive Einstellung zum lebenslangen Lern- und Bildungsprozess. Der Unterschied zu anderen Lerntheorien wird deutlich, denn es geht nicht darum, den Lernenden im behavioristischen Sinne zu „reizen“ oder im kognitivistischen Sinne zu begleiten und vor allem zu beobachten, sondern die Befähigung zum Lernen ist abhängig von spezifischen Motiven und Sinnbezügen. Die aktive, selbstbestimmte Lerntätigkeit ist nur möglich, wenn auf die Erfassung des Inhalts gerichtete, gegenstandsbezogene Motive deutlich sind und Lernende einen persönlichen Sinn für die Lerninhalte entwickeln.36 Diese Auffassung von Lernen verschiebt sich also zum Lernenden hin, denn damit entstehen die konkreten Lernaufgaben – im Sinne einer Lernumgebung zur Kompetenzentwicklung – als Aufgaben, die sich der Lernende selbst stellt und nicht durch den Lehrenden an den Lernenden gestellt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass das Lernen bereits gelernt wurde. Aufgabe des Lehrenden ist damit, in Lehr-Lernkooperationen den Lernenden zur Eigenregulation seiner Lerntätigkeit zu führen. Ein Hauptziel ist damit, die Selbstregulation des Lernenden zu aktivieren und zu stärken und auf diesem Weg Lernen als zutiefst sinnstiftenden Prozess zu situieren. Die Orientierung am Prozess weist darauf hin, dass diese Form zu lehren einer Lernlogik und nicht allein einer Sachlogik folgt. 35 36

Vgl. Giest/Lompscher 2004. Vgl. Giest 2011.

Authentizität und Funktionalität

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Aus tätigkeitstheoretischer Perspektive wird der Lernprozess als wechselwirkende Tätigkeit von Instruktion und Konstruktion zwischen Lehrenden und Lernenden konzipiert und sprachlich vermittelt. Im Vordergrund steht der persönliche Sinn als Triebfeder aller Lerntätigkeit und dieser verankert den Lernprozess als lebenslangen, dynamischen Prozess. Der Lehrende vermittelt diese Prozesse durch gemeinsame Tätigkeit. Wie bei Vygotskij beschrieben, sind alle höheren psychologischen Funktionen zunächst geteilte interpsychische Tätigkeiten. Die gemeinsame Lerntätigkeit ist begleitet von sprachlicher Tätigkeit37 und somit wird der Aspekt der Kommunikation in Lernprozessen akzentuiert. Diese sind explizit in dialogischen, sprachlichen Tätigkeiten eingebettet und müssen in diesen reflektiert werden. Genauer: Lernen wird als sprachlich gelenkte wechselseitige Tätigkeit in spezifischen Lern-Lehrkontexten verstanden. In der gemeinsamen sprachlichen Tätigkeit findet die Kommunikation über die Lerninhalte statt. Die Materialisierung der Gedanken in sprachlicher Tätigkeit macht die gemeinsame Lerntätigkeit für Lehrende und Lernende transparent, und das gemeinsame Sprechen dient vor allem der Orientierung, Kontrolle und Regulation von Lernprozessen.38 Die grundsätzlichen Funktionen sind Stabilisierung und Steuerung der Lernprozesse. Von dieser gemeinsamen Grundlage der wechselseitigen, geteilten sprachlichen Lerntätigkeit ausgehend erfolgen Interiorisierungsprozesse, d.h. die Aspekte der gemeinsamen Tätigkeit werden verinnerlicht, werden zu intrapsychischen Prozessen. Sprachliche Prozesse und Lernprozesse werden in einem gewissen Sinne intim und insbesondere die sprachliche Tätigkeit dient nun der Reflexion der Gedanken. Aus der Kooperation werden durch das gemeinsame Sprechen Lerninhalte materialisiert, insbesondere beispielsweise bei schriftsprachlichen Prozessen, d.h. sie werden zu Objekten, über die reflektiert werden kann. Das Anwenden des Sprechens auf sich selbst führt zur Selbstregulation und Selbstreflexion im Sinne einer Metakognition. Diese verinnerlichten Prozesse können also wiederum (wechselseitig) außen angewendet werden. Manning & Payne39 setzen sich mit Metakognition in Zusammenhang mit LehrLernprozessen auseinander. Eine wesentliche Rolle wird hier dem self-talk zugeschrieben – interessanterweise im Rahmen von Metakognition. Wesentliche Funktionen der Metakognition sind die Handlungs- und Selbstkontrolle, d.h. im Mittelpunkt stehen regulativ-steuernde Funktionen. Wie oben ausgeführt wurde, spielt für die Einübung und Ausübung dieser regulativ-steuernden Funktionen die sprachliche Tätigkeit eine wesentliche Rolle. Der metakognitiven Fähigkeit in ihrer regulativ-steuernden Funktion werden bei Manning & Payne40 einige Prämissen zugeschrieben. So stellt für sie der positive mentale Ausgangszustand des Lehrers einen wesentlichen Aspekt dar. Hierzu gehören beispielsweise Selbstbewusstsein, Selbst37 38 39 40

Vgl. Galperin 1967a+b. Vgl. Galperin 1967a+b, Werani 2011. Vgl. Manning/Payne 1996. Vgl. Manning/Payne 1996.

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Anke Werani, Sabine Anselm

akzeptanz, Selbstwertschätzung und Eigenverantwortung. In dieser Auseinandersetzung geht es ebenfalls um zweierlei: Zum einen werden intrapsychisch die Zustände des Lehrers ermittelt und zum anderen diese Komponenten in Bezug auf die Lernenden thematisiert (interpsychisch). Manning & Payne gehen davon aus, dass der Lehrer über die emotionale Atmosphäre das Modell eines Lernraumes vorgibt, in welchem den Lernern die Übernahme von Lerninhalten leichter fällt. Bereits Maslow41 hat darauf hingewiesen, dass ein geeignetes Lernumfeld derart gestaltet sein muss, dass sich der Lerner physisch und psychisch sicher fühlt. Emotionale Stabilität spielt somit für Lehr-Lernkontexte eine entscheidende Rolle. Einen Hinweis auf die Notwendigkeit emotionaler Stabilität bestätigt die Studie von Mayr & Neuweg,42 in welcher gezeigt wird, dass die Persönlichkeit, insbesondere die emotionale Stabilität, ein entscheidender Wirkfaktor des Lehrenden ist. Um diese emotionale Stabilität zu erreichen, schlagen Manning & Payne43 u.a. vor, das negative Denken des Lehrers zu eliminieren. Im Einzelnen setzen sie sich damit auseinander, wie es dem Lehrenden gelingen kann, Stress, Ärger, Angst/Sorge, Frustration und Langeweile zu vermeiden. Die zentrale kognitive Fähigkeit, die von diesen emotionalen Zuständen befreit, ist das Selbstgespräch in einer positiven, unterstützenden Form. Zunächst ist es notwendig, dass sich der Lehrende seiner interiorisierten Sprache bewusst ist. Es muss bewusst gemacht werden, was gewissermaßen automatisch, da interiorisiert und habitualisiert, in bestimmten Situationen gesagt wird. Die Qualität dieses Gesagten stellt die Weichen, ob es zu positiven oder negativen Auswirkungen hinsichtlich unserer Gefühle, unseres Denkens und unseres Handelns kommt. Auch hier gilt, dass der personale Sprechstil zunächst wahrgenommen werden muss, um dann ggf. in eine hilfreiche, unterstützende, positive sprachliche Form gebracht zu werden. Hinzu kommt, dass sich der Lehrende, um Lernen zu vermitteln, selbst im Klaren darüber sein muss, was Lernen bedeutet, d.h. er muss zunächst eine eigene, persönliche, positive Erfahrung mit dem Lernen gemacht haben, bevor er professi44 onell Lernen weitergeben kann. Aufgrund der engen Verknüpfung mit dem Sprechen ist zudem wichtig, dass der Lehrende die Qualität seines Sprechens reflektiert. Dies erfordert auch eine Reflexion des Habitus und im engeren Sinne der IchIdentität, denn der Lehrende vermittelt als Person – nicht in einer isoliert erworbenen Rolle des Lehrenden. Zudem ist bekannt, dass für Lehr-Lernkontexte insbesondere die persönliche Beziehung zwischen Lehrendem und Lerner tragend ist.45 Die sprachliche Tätigkeit spielt also nicht nur hinsichtlich der persönlichen, intrapsychischen Interventionen als Voraussetzung für gelingende Lernprozesse eine wesentliche Rolle, sondern auch im Lernprozess selbst. Betont werden soll hier 41 42 43 44 45

Vgl. Maslow 1970. Vgl. Mayr/Neuweg 2006. Vgl. Manning/Payne 1996. Vgl. Anselm 2011. Vgl. Largo 2010, Largo 2012.

Authentizität und Funktionalität

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nochmals, dass sprachliche Tätigkeit in ihrer vermittelnden Funktion zentral für die Ausbildung höherer psychologischer Funktionen im Sinne von Vygotskij und Galperin ist. Denn die Selbstregulation entwickelt sich aus den äußeren Tätigkeiten. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt von Mercer & Sams,46 in welchem gezeigt wird, dass Kinder unter Anleitung und praktischer Übung einer spezifischen Verwendung von Sprache zum logischen Denken befähigt werden. Die Kinder lernen, diese Fähigkeit auch auf andere Aufgaben zu übertragen und setzen sprachliche Mittel beispielsweise bei der Lösung mathematischer Probleme erfolgreich als Werkzeug ein. Die Qualitätssteigerung des Sprachgebrauchs für das gemeinsame logische Arbeiten („thinking together“) verbessert das individuelle Lernen und Verstehen von mathematischen Fähigkeiten der Kinder. Das bedeutet: Wenn die Kinder lernen, Sprache als Werkzeug zu nutzen, zeigen sie bessere Ergebnisse bei logischen Aufgaben und generalisieren diese auch auf mathematische Probleme. Wie wesentlich die Rolle der Art und Weise des Sprechens im Klassenzimmer ist, 47 zeigen Mercer & Howe, indem sie diese Schlüsselkonzepte diskutieren und mit soziokulturellen Aspekten in Zusammenhang bringen. Mercer48 entwickelt das Konzept social brain und versucht damit den Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Denken deutlich zu machen. Ein maßgebliches Werkzeug, um diesen Zusammenhang zu ermöglichen, stellt die Sprache dar. Ausgangspunkt ist der Leitgedanke bei Vygotskij, dass Sprache nicht nur ein kulturelles, sondern ebenso ein kognitives/psychologisches Werkzeug ist. Vygotskij nennt eine Vielzahl von Studien, die darauf hinweisen, dass ein wesentlicher Aspekt des Lernens die Aneignung der Selbstregulation ist und diese mittels der Sprache erlernt und vollzogen wird. Hinsichtlich des Sprechens im Klassenzimmer weist dies darauf hin, dass die kollektiven Formen des Wissens, Verstehens und Problemlösens nicht einfach „gekonnt“ werden, sondern dass diese Formen auch eingeübt und trainiert werden müssen. Mercer schlussfolgert daraus zutreffend, dass kollektives Denken produktiver und effektiver ist als individuelles Denken. Da ihn vor allem auch die Frage interessiert, was einen guten Lehrer ausmacht, muss er konstatieren, dass die Technik des thinking together nur dann erfolgreich ist, wenn die Umstände stimmen und die Qualität der Interaktion in der Gruppe zuträglich und wertschätzend ist. Im Blick auf sprachliche Lernprozesse bedeutet dies, dass grundsätzlich emotionale Stabilität des Lehrenden vorausgesetzt wird, um eine angenehme Lernatmosphäre zu schaffen. Für einen positiven Lerneffekt wird zudem eine unterstützende und wertschätzende Sprache gefordert, da sie positive emotionale Zuwendung, Unterstützung und Wertschätzung des Lernenden ausdrückt. Bezogen auf Lehr-Lernkontexte im Rahmen des Deutschunterrichts kommt zu der Verzahnung kommunikativer und kognitiver Funktionen des Sprechens die Metaebene der Sprach- und Literaturbetrachtung hinzu. Diese mehrfache Heraus46 47 48

Vgl. Mercer/Sams 2006. Vgl. Mercer/Howe 2012. Vgl. Mercer 2013.

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Anke Werani, Sabine Anselm

forderung im Deutschunterricht ist bei den vorgestellten Analysen im Blick zu behalten. Das bedeutet: Zu den analytischen Fähigkeiten der Fremd- und Selbstbeobachtung zählt – neben der konsequenten Trennung von Beschreibung und Interpretation – die Etablierung einer sprachlich-konstruktiven Feedbackkultur. Hierbei finden insbesondere aktuelle Annahmen zum Vermitteln von Feedback Berücksichtigung.49 Der hier vorgeschlagene Analyseprozess orientiert sich an dem Feedbackmodell von Hattie & Timperley und stellt drei für das konkrete Vorgehen leitende Fragestellungen auf:50 Die erste Frage: „Was ist mein Ziel?“ (feed up) entspricht der Beobachtungsbeschreibung, die zweite Frage: „Wie komme ich an mein Ziel?“ (feed back) befasst sich mit der Wirkungsbeschreibung und die dritte Frage. „Was ist als nächstes zu tun?“ (feed forward) beinhaltet schließlich die Aspekte der Alternativenentwicklung. Das Feedback ist also der Eintrittspunkt in den Reflexionsvorgang, zugleich zentraler Bestandteil des Reflexionsprozesses und kann grundsätzlich als zirkulär beschrieben werden. In Zusammenhang mit tätigkeitstheoretischen Annahmen und der Auffassung des konstruktiven gemeinsamen Kommunikationsraumes, in welchem die Feedbackprozesse stattfinden, ist Feedback ebenso ein gemeinsam konstruiertes Moment, d.h. das Feedback sagt nicht nur etwas über die Person aus, die hinsichtlich des personalen Sprechstils eine Rückmeldung bekommt, sondern ebenso viel über die Person, die rückmeldet. Im Sinne dieser Konstruktion stehen nicht Dimensionen wie „richtig“ oder „falsch“ im Vordergrund, sondern es wird auf die Verbesserung der sprachlichen Tätigkeit abgezielt, um ein Weiterkommen zu ermöglichen und schließlich zur Professionalisierung in Lehr-Lernkontexten zu gelangen. Damit sollen zum einen Grenzen der Analyse aufgezeigt und zum anderen auf die Notwendigkeit der Analyse und Reflexion in dialogischen Prozessen hingewiesen werden.

6

Beispiele zur Reflexion des personalen Sprechstils in LehrLernkontexten

Aus den vorausgegangenen Überlegungen wird deutlich, dass der personale Sprechstil in Lehr-Lernkontexten eine zentrale Rolle spielt und mittels reflexiver Prozesse zu professionalisieren ist. Entsprechende Möglichkeiten werden im Folgenden anhand zweier Beispiele konkretisiert, die hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach Authentizität und Funktionalität eines personalen Sprechstils betrachtet werden. Im Sinne von Keupp et al.51 bedeutet Authentizität, dass es dem Individuum innerhalb der Konstruktionen der Identitätsarbeit gelingt, ein „stimmiges“ Passungsverhältnis zwischen persönlichen und sozialen Faktoren auszuhandeln; dies bein49 50 51

Vgl. Nitsche 2014. Hattie/Timberley 2007, 86. Vgl. Keupp u.a. 1999.

Authentizität und Funktionalität

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haltet das Gefühl, etwas Gelungenes geschaffen zu haben. Im Wesentlichen ist die Authentizität im Identitätsgefühl verankert und es wird damit deutlich, dass es sich je um partielle Formen der Authentizität handelt. Die Wahrnehmungen und Wertungen verlaufen dabei zwischen den Polen „authentisch/positiv“ und „nichtauthentisch/negativ“, d.h. es erfolgt somit auch eine positive oder negative Selbstbewertung. Ziel ist es nach Keupp et al. zu Authentizität zu gelangen, indem ein hohes Selbst- und Kohärenzgefühl erzeugt wird, da dieses insgesamt mehr Sicherheit und Flexibilität innerhalb verschiedener Anforderungen schafft und Ambiguitätstoleranz ermöglicht, während ein niedriges Selbst- und Kohärenzgefühl auch zu einem geringeren Authentizitätsgefühl führt und das Individuum zögerlicher erscheinen lässt. Zu Authentizität im Sinne einer authentischen Identität kommt das Individuum dann, wenn es sich positionieren kann. Methodisch soll hier zudem angemerkt werden, dass für den Reflexionsprozess nicht eine Betrachtung in Form der Selbst- oder Fremdbeobachtung genügt, sondern dass eine Zusammenschau beider Perspektiven erfolgen muss. Auch wenn der Ausgangspunkt bei beiden Betrachtungen sicherlich eine solide Beschreibung der Einzelmerkmale ist, so muss doch angenommen werden, dass unterschiedliche Wirkungen der komplexeren Handlungszusammenhänge – wie oben bereits gezeigt wurde – nur im Dissens herausgearbeitet werden können. Denn es liegen grundsätzlich verschiedene, subjektive Wahrnehmungen vor. Hierbei wird die Methode der gemeinsamen Interpretation52 aus der qualitativen Sozialforschung interessant. Sie hat als Ausgangspunkt die Annahme, dass über kommunikative Konstruktionen Wirklichkeit geschaffen wird53 und ermöglicht es, Ansatzpunkte der Reflexion zu erstellen. Wie diese Zusammenschau der unterschiedlichen Perspektiven erfolgen kann, wird an zwei Beispielen gezeigt. 6.1

Beispiel 1: Reflexion von Sprechstilen durch Fremd- und Selbsteinschätzung

Das erste Beispiel macht die Annäherung an den personalen Sprechstil über die Kontrastierung von Fremd- und Selbstbeobachtung und die damit zusammenhängende Wirkungsanalyse deutlich. Dabei wird durch die Diskrepanz der Wahrnehmungen gezeigt, in welchem Sinne Identitätsarbeit und in diesem Zusammenhang die Erzeugung eines Gefühls der Authentizität eine zentrale Rolle bei der Arbeit mit personalen Sprechstilen spielt. Inwiefern die methodologischen Prämissen Anwendung finden, wird anhand der dargestellten Profile deutlich gemacht. Für die Analyse wird ein Beobachtungsbogen verwendet, der die zu beobachtenden Parameter des personalen Sprechstils enthält, und aufgrund dieser Vorgabe die unterschiedlichen Einschätzungen verschiedener Personen vergleichbar macht und die Darstel-

52 53

Vgl. Reichertz 2013. Vgl. Keller/Knoblauch/Reichertz 2013.

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lung in Profilen ermöglicht. Der zugrunde gelegte Beobachtungsbogen besteht weitestgehend aus Polaritätsprofilen mit einer 7-stufigen Skala. Neben der Fremdund der Selbsteinschätzung enthält die Grafik den Wert „idealer Lehrer“; dieser ist in Anlehnung an die Arbeit von Schubert und Sendlmeier54 mittels des Beobachtungsbogens in einer Seminargruppe (n=18) erhoben worden. Es handelt sich um ein fiktives Präferenzprofil, das bereits die Konnotationen enthält, die in die Fremdund Selbstbeurteilung mit einfließen. Auch wenn es sich um eine Fiktion handelt, stellt diese jedoch aus subjektwissenschaftlicher Perspektive eine Art Vergleichswert dar, denn dieser Wert ist, wie alle anderen erhobenen Werte, rein subjektiv aus der Gruppe entstanden. Anhand der Betrachtung der verschiedenen Parameter des personalen Sprechstils soll gezeigt werden, dass diese Profile nicht nur der kritischen Reflexion dienen können, sondern auch dem Auffinden von Stärken, von denen ausgehend am personalen Sprechstil gearbeitet werden kann. Der erste Gesamteindruck des beobachteten Sprechers enthält die erste allgemeine Wirkung auf den Beobachter. Dabei sind nur Konnotationen gefragt, d.h. es wird der eigene subjektive Gesamteindruck vor der Analyse vermerkt. Die Polaritätsprofile fragen nach den Wirkungen: selbstsicher oder unsicher, sympathisch oder unsympathisch, freundlich oder unfreundlich, hörerbezogen oder selbstbezogen, situationsbezogen oder abgehoben, sachbezogen oder unsachlich sowie natürliche Autorität oder aufgesetzte Autorität. Die durchgezogene Linie stellt die Fremdbeobachtung dar, die gepunktete Line die Selbstbeobachtung; die gestrichelte Linie stellt den Mittelwert des fiktiven „idealen Lehrers“ dar (Abbildung 1).

Abbildung 1: Profile des ersten Gesamteindrucks der Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und des „idealen Lehrers“

54

Vgl. Schubert/Sendlmeier 2005.

Authentizität und Funktionalität

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Deutlich zu sehen ist, dass die Fremdeinschätzung und die Selbsteinschätzung unterschiedlich sind. Lediglich bei den Merkmalen hörerbezogen/selbstbezogen und situationsbezogen/abgehoben stimmen die Beurteilungen überein. Bezogen auf den fiktiven „idealen Lehrer“ stimmt die Fremdbeobachtung mit den Merkmalen sympathisch, freundlich und sachbezogen überein, jedoch nicht mit der Selbstbeobachtung. Insbesondere die Differenzen in diesem Profil können als Ausgangspunkt einer Reflexion herangezogen werden. So könnten zentrale Themen hier Selbstsicherheit, Hörerbezogenheit und Autorität sein. Aufschlussreicht ist die Analyse der verbalen, paraverbalen und nonverbalen 55 Parameter: Die verbale Analyse konzentriert sich – wie aus vielen gängigen rhetorischen Analysen bekannt – darauf, was gesprochenen wird. Dazu gehören der Gesamteindruck, die gesprochene Varietät, die Argumentation, die Wortwahl und die Syntax sowie die Adressierung und spezifische Fragetechniken. Die verbale Analyse umfasst folgende Komponenten und Merkmale: (1) Der erste verbale Eindruck fokussiert auf die gesamte verbale Gestalt. Es werden allgemeine Merkmale abgefragt: Ist der Sprecher kompetent oder unvorbereitet, strukturiert oder chaotisch, logisch oder unlogisch, kann man dem Sprecher gut folgen oder nicht gut folgen und spricht er verständlich? (2) Die Sprachvarietät bezieht sich darauf, ob der Sprecher Standarddeutsch spricht oder einen Dialekt bzw. eine dialektale Varietät gebraucht. Ferner soll beschrieben werden, ob diese Sprachvarietäten global oder lokal in spezifischen Kontexten verwendet werden. Ein weiteres Element der Sprachvarietät ist die Feststellung von Soziolekt. Die zu beurteilenden Merkmale hier sind: Standard oder Dialekt. (3) Als Bausteine jeder Kommunikation können Behauptungen aufgefasst werden. Damit Behauptungen vom Zuhörer verstanden werden und sich der Zuhörer jeweils informieren, überzeugen und lenken lässt, müssen die Behauptungen vom Sprecher verdeutlicht werden. Wesentlich ist es daher, Behauptungen zu begründen. Eine Behauptung mit Begründung stellt die kleinste selbständige Argumentationseinheit dar. Es werden in der Regel drei Aspekte zur Gestaltung dieser Einheiten genannt: der Aufbau der Argumentation (deduktiv vs. induktiv), der Stil der Formulierung (direktiv vs. nondirektiv) sowie die Art der Begründung (abstrakt vs. 56 konkret). (4) Die Wortwahl ist eine der wichtigsten Stellgrößen für die mündliche Rede. Eine Optimierung der Wortwahl in der Vorbereitung mindert die Verwendung von Partikeln und Floskeln. Bei der Betrachtung der Wortwahl werden folgende Merkmale fokussiert: Umgangssprache oder Fachsprache, lexikalisch vielfältig (großer, variationsreicher Wortschatz) oder eintönig (geringer, redundanter Wortschatz), 55 56

Es handelt sich hier um eine verkürzte Darstellung des verwendeten Beobachtungsbogens. Eine ausführliche Beschreibung wird in Anselm/Werani (in Vorbereitung) erscheinen. Vgl. Kegel 2007.

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lexikalisch komplex oder einfach sowie grundsätzlicher Nominalstil, d.h. ein gehobener Sprachstil, der konzeptionell schriftlich ist und daher mündlich schwerer verständlich, oder eher Verbalstil, d.h. ein Sprachstil, der konzeptionell mündlich ist und daher auch gut verständlich ist. Partikel, Floskeln und Füllwörter werden gesondert betrachtet, da sie in mündlicher Kommunikation zwar vorwiegend ungesteuert auftreten, jedoch einen großen Einfluss auf die Sprechwirkung haben. Partikel (z.B. „eigentlich“) und Floskeln (z.B. „ja genau“) sind größtenteils Indikatoren für Unsicherheit. (5) Für die mündliche Kommunikation ist der Satzbau, ebenso wie die Wortwahl, eine zentrale Stellgröße. Kurze Sätze erleichtern das Hörverständnis, da das Kurzzeitgedächtnis nicht überlastet wird. Oft werden jedoch komplexe Sätze verwendet, um die eigene Kompetenz zu unterstreichen oder einen höheren Bildungsgrad zu suggerieren. Im Einzelnen wird hinsichtlich der Syntax folgendes beobachtet: einfache oder komplexe Phrasenstruktur, konzeptionell mündlich oder schriftlich, logische oder unlogische Satzverbindungen sowie Aktivkonstruktionen oder Passivkonstruktionen. (6) Mit Adressierung ist konkret die Anrede des Gegenübers gemeint. Es sind folgende Formen zu unterscheiden: Wendet sich der Sprecher direkt oder indirekt zu, spricht er eher motivierend oder disziplinierend. (7) Fragen sind ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation. Sie können gestellt werden, um Informationen einzuholen, die Meinung und Bewertung des Gesprächspartners zu erfahren oder Denkanstöße zu geben. Ferner sind sie beziehungsfördernd. Mit Fragen zeigt man Interesse, aber auch Wertschätzung. Der Beobachtungsbogen sieht folgende Einteilung vor: sind die Fragen klar/eindeutig oder unklar/mehrdeutig, sind sie eng oder weit gestellt und sind sie zielführend oder ineffizient. In Abbildung 2 ist zu erkennen, dass es eine hohe Übereinstimmung zwischen Fremd-, Selbstbeobachtung und Einschätzung des „idealen Lehrers“ gibt. Insbesondere die Komponenten erster verbaler Eindruck, Wortwahl und Syntax sind gekennzeichnet durch sehr ähnliche Einschätzungen. Interpretativ kann hier gesagt werden, dass der Sprecher über ein sehr gutes Fundament, seinen verbalen personalen Sprechstil betreffend, verfügt. Bei den Komponenten Sprachvarietät, Argumentation, Adressierung und Fragetechnik finden sich unterschiedliche Einschätzungen, die wiederum für Reflexionen des personalen Sprechstils genutzt werden können. So ist hier nicht klar, in welcher sprachlichen Varietät der Sprecher spricht, welche grundlegende Argumentationsform er nutzt und wie seine Adressierung der Hörer eingeschätzt werden soll. Ebenso gibt es hinsichtlich der Fragetechnik verschiedene Auffassungen. Aus diesen Kongruenzen können Stärken, aus den Inkongruenzen können mögliche Schärfungen des personalen Sprechstils auf verbaler Ebene abgeleitet werden. Hier bietet sich an, gerade die Inkongruenzen in einer größeren Gruppe zu reflektieren, da somit mehrere Beurteilungen diskutiert werden können.

Authentizität und Funktionalität

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Abbildung 2: Profile des verbalen Parameters der Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und des „idealen Lehrers“

Die paraverbale Analyse befasst sich mit Komponenten der Prosodie. Dazu gehören Lautstärke, Tonhöhe, Stimmqualität, Sprechtempo, Lautdauer, Akzent und Sprechrhythmus. Die paraverbale Analyse enthält 8 Komponenten mit entsprechenden Merkmalen: (1) Der erste paraverbale Eindruck bezieht sich auf die offensichtlichen Komponenten Stimme, Lautstärke, Tempo und Intonation (Sprechmelodie). Bei der ersten Beurteilung wird ein möglichst allgemeiner Gesamteindruck abgefragt. So werden die Merkmale auf folgenden Skalen beurteilt: Ist die Stimme angenehm oder unangenehm, die Lautstärke laut oder leise, das Sprechtempo schnell oder langsam und die Intonationsvariation gering oder hoch. (2) Bei der Beurteilung der Lautstärke einer Äußerung wird nicht die absolute Lautstärke beurteilt, sondern wie laut oder leise eine Äußerung in spezifischen Kontexten wahrgenommen wird. Bei der Beurteilung der Lautstärke werden drei Aspekte berücksichtigt: global laut oder leise, d.h. die gesamte Äußerung ist zu laut oder leise, lokal laut oder leise, d.h. an einzelnen Stellen ist die Äußerung zu laut oder leise, Lautstärkevariation häufig oder nie. Die Lautstärkevariationsrichtung wird beurteilt, ob sie ins Laute oder ins Leise tendiert und ob diese Wechsel abrupt oder kontinuierlich erfolgen. (3) Bei der Tonhöhe wird die mittlere Sprechstimmlage auch als Indifferenzlage bezeichnet und entspricht am besten der individuellen Konstitution. Sie bewegt sich im unteren Drittel des individuellen Stimmumfangs. In bestimmten Kontexten verlässt der Sprecher diese Stimmlage, was als habitualisierte hohe/tiefe Stimmlage bezeichnet wird. Auf dieser Basis wird beurteilt, ob die Sprechstimmlage zu hoch oder zu tief ist. Ferner wird die Variation der Tonhöhe hinsichtlich der Merkmale monoton oder künstlich eingeschätzt. (4) Die Stimme hat idealerweise einen ökonomischen Stimmklang, d.h. die gesamte Atemluft wird in Klang umgewandelt (=normaler Stimmklang). Dieser Zustand ist jedoch kaum zu erreichen. In diesem Ausschnitt wird beurteilt, ob sich die Stimmklangfarbe klangvoll oder klangarm, hell oder dunkel, dünn oder sonor anhört. (5) Das Sprechtempo wird in der Regel durch die Anzahl der produzierten Silben/Wörter pro Minute ermittelt. Eine mittlere Sprechgeschwindigkeit liegt bei 4–6 Silben pro Sekunde. Die Empfindung von Grundtempo und Tempovariation ist von

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Kontext zu Kontext verschieden. Es gibt letztendlich Aufschluss über die Intention und den Rahmen des Gesagten.57 Das Sprechtempo ist einzuschätzen nach den Merkmalen global (die gesamte Äußerung betreffend) langsam oder schnell, lokal (einzelne Stellen der Äußerung betreffend) langsam oder schnell sowie durch Tempowechsel, wobei bewertet wird, ob diese abrupt oder kontinuierlich vollzogen werden. (6) Bei der Lautbildung sind vor allem die Lautdauer und die Lautbindung zentral. Die Lautdauer beschreibt die Dehnung oder Reduzierung der Laute durch größere oder geringere Artikulationspräzision. Wird die Lautdauer reduziert, ist von Nuscheln die Rede, wird sie gedehnt, wird von Überbetontheit wie zum Beispiel bei der Bühnenlautung gesprochen. In der vorliegenden Analyse wird hinsichtlich der Lautbildung darauf geachtet, ob sie überdeutlich oder undeutlich, eng/verbunden oder isoliert/„staccato“ ist. (7) Unter Sprechpausen wird im weitesten Sinne das Intervall des Schweigens verstanden. Eine Pause muss jedoch nicht nur aus Schweigen bestehen, sondern kann auch gefüllt sein, wobei der Sprechfluss gestört wird. Für diese Analyse wurde nur die Häufigkeit eingeschätzt, d.h. kommt es nie oder oft zu Sprechpausen. (8) Die Hervorhebung bestimmter Silben gegenüber anderen nicht betonten Silben wird als Akzent bezeichnet. Akzente werden durch Wechsel der Tonhöhenrichtung auf der akzentuierten Silbe oder durch erhöhte Lautstärke auf der Akzentsilbe erzeugt. Es können mehrere Mittel kombiniert oder nur eines davon genutzt werden. Hier in dieser Analyse wird berücksichtigt, ob der Akzent und Rhythmus hinsichtlich der Akzentstufe betont oder unbetont ist, die Akzentverteilung gleichförmig oder extrem variabel ist, die Akzenthäufigkeit selten oder häufig ist, der Sprechrhythmus erkennbar oder nicht erkennbar ist und ob die rhythmische Kontinuität flüssig oder stockend ist. Auch bei der paraverbalen Analyse in Abbildung 3 zeigen sich größtenteils ähnliche Tendenzen der Beurteilung wie bei der verbalen Analyse. So sind die Einschätzungen der Tonhöhe, der Stimme, der Lautbildung und der Sprechpausen ähnlich. Diskrepanzen entstehen beim ersten paraverbalen Eindruck, in welchem vor allem hinsichtlich der grundsätzlichen Einschätzung des Sprechtempos und der Intonation zwischen der Fremd- und der Selbstbeobachtung Unterschiede bestehen. Dieser Eindruck wird in der Feinanalyse bestätigt. So empfindet der Sprecher selbst sein Sprechtempo schneller als der Fremdbeobachter und seine Tonhöhenvariation selbst weniger monoton als der Fremdbeobachter. Ebenso wird die Akzentverteilung verschieden aufgefasst. Hinsichtlich der Lautstärke fällt auf, dass sowohl Fremd- als auch Selbstbeobachtung vom „idealen Lehrer“ abweichen. Da gerade vom paraverbalen Bereich die emotive Dimension stark geprägt ist, sind diese Inkongruenzen sehr sorgfältig zu analysieren, da auch hier mit einem reflektierten Wissen über die eigene Stimme Inkongruenzen vorgebeugt werden können. Auf57

Vgl. Miosga 2010b, 56.

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grund der emotiven Bindung ist die Arbeit an paraverbalen Elementen sicherlich die am stärksten mit der Identitätsarbeit verknüpfte Dimension.58

Abbildung 3: Profile des paraverbalen Parameters der Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und des „idealen Lehrers“

Nonverbale Kommunikation umfasst in diesem Beobachtungsbogen die fünf Komponenten Proxemik, Körperhaltung, Gestik, Mimik und Blickverhalten. Sie verläuft analog zur verbalen Kommunikation.59 (1) Unter Proxemik versteht man allgemein das „Arrangement“ in Gesprächen, d.h. es geht um die Anordnung der Gesprächsteilnehmer zueinander und um die Distanzen. Hier werden die allgemeinen Merkmale der Distanz eng/nah oder weit/ distant betrachtet und das Arrangement dahingehend, ob es locker oder zentriert ist. (2) Die Körperhaltung betrifft das Gesamtbild des Körpers, d.h. die Haltung von Kopf und Rumpf sowie die grundsätzliche Haltung von Armen und Beinen. Hier interessieren folgende Merkmale: Ist die Körperhaltung symmetrisch oder unsymmetrisch, offen oder geschlossen; ist der Körpertonus schlaff oder angespannt, elastisch oder starr; und ist der Körperstand variabel oder beständig. (3) Unter Gestik versteht man die Bewegungen der Hände, der Finger, der Arme und des Kopfes. Sie werden auf zweierlei Arten aufgefasst. Zum einen kann es sich um bewusste Bewegungen handeln, die eine kommunikative Rolle spielen, zum anderen können es unbewusste Bewegungen sein, die lediglich sprachbegleitend sind.60 Hier werden vor allem die redebegleitenden Gesten berücksichtigt und zwar hinsichtlich der Merkmale wenig oder viel, offen oder geschlossen, ablenkend oder unterstreichen, kongruent oder widersprüchlich, ausladend oder zentriert, natürlich oder künstlich, einladend oder abweisend, getragen/langsam oder hektisch. (4) Mimik – das „Spiel der Gesichtsmuskeln“61 – umfasst Bewegungen der Mund- und Nasenpartie, der Stirnpartie und der Augenbrauen. An der Mimik lassen sich in der Regel die Emotionen ablesen und die Einstellung des Partners zu sich selbst. Hinsichtlich der Mimik wird beurteilt, ob sie freundlich oder unfreundlich, 58 59 60 61

Vgl. Langenmayr 1997. Vgl. Watzlawick u.a. 1969. Vgl. Heringer 2010. Heringer 2010, 81.

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Anke Werani, Sabine Anselm

natürlich oder künstlich, offen oder geschlossen, angespannt oder locker, variierend oder monoton ist. (5) Der Blick gilt als „Spiegel der Seele“62. In der Kommunikation dient der Blick der Organisation der Sprecherwechsel und dem Partnerbezug. Der Blick vermittelt Sympathie, Antipathie, Zuneigung, Misstrauen und Einverständnis. Wesentliche Komponenten sind die Häufigkeit, die Dauer und die Intensität des Blickkontaktes. Die zu beobachtenden Merkmale sind daher: Ist der Blickkontakt häufig oder selten, lang andauernd oder kurz, an alle gerichtet oder an einzelne gerichtet, kontakthaltend oder mechanisch. In Abbildung 4 lassen sich insgesamt im personalen Sprechstil die meisten Diskrepanzen ablesen. So sind die Einschätzungen der Proxemik, der Körperhaltung, der Gestik, der Mimik und des Blickkontakts diskrepant zwischen Fremd- und Selbstbeobachtung. Beispielsweise wird bereits die Einschätzung der Distanz im Rahmen der Proxemik aus der Fremdbeobachtung als eng, in der Selbstbeobachtung eher als weit/distant eingeschätzt. Ebenso die Körperhaltung: In der Fremdbeobachtung wird die Körperhaltung als eher unsymmetrisch und eher geschlossen eingeschätzt, während sich der Sprecher selbst als symmetrisch und offen bezüglich seiner Körperhaltung beschreibt. Auch die Gestik betreffend beschreibt die Fremdbeobachtung eher viel Gestik, die offen wirkt, der Sprecher selbst nimmt wenig Gestik wahr, die eher geschlossen wirkt. Am auffälligsten sind die Unterschiede beim Blickkontakt: In der Fremdbeobachtung wird der Blickkontakt als eher selten und kurz andauernd bezeichnet, dafür an alle gerichtet. Der Sprecher selbst beschreibt seinen Blickkontakt als eher häufig, eher lang andauernd und dafür eher nicht an alle gerichtet. Zu beobachten ist, dass die Selbstbeobachtung eher dem fiktiven „idealen Lehrer“ entspricht als die Fremdbeobachtung. Hinsichtlich der Körpersprache zeigt sich somit, dass hier an den meisten Inkongruenzen zu arbeiten ist.

Abbildung 4: Profile des nonverbalen Parameters der Fremdbeobachtung, Selbstbeobachtung und des „idealen Lehrers“

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei diesem Sprecher grundsätzlich ein sehr gutes Potential vorliegt. Dies lässt sich an dem insgesamt sehr guten ersten

62

Heringer 2010, 82.

Authentizität und Funktionalität

149

Eindruck ablesen. Die Diskrepanzen des ersten Eindrucks betreffen die Sicherheit im Auftreten, die Adressierung (Hörerbezogenheit) sowie die Autorität. Um an diesen Punkten im Sinne einer Professionalisierung zu arbeiten, lohnt ein Blick auf die einzelnen Parameter, denn die hier identifizierten Stellgrößen können ein Ansatzpunkte zur Arbeit am personalen Sprechstil sein. Es handelt sich um folgende Stellgrößen: (1) Den verbalen Parameter betreffend sollte der Sprecher seine grundsätzliche Argumentationsform, seine Adressierung und seine Fragetechnik reflektieren. (2) Der paraverbale Parameter kann hinsichtlich der Lautstärke, des Sprechtempos sowie der Akzentsetzung optimiert werden, sodass auch auf paraverbaler Ebene ein stimmiger Gesamteindruck resultiert. (3) Beim nonverbalen Parameter kommt es zu den meisten Diskrepanzen zwischen den Beobachtern. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass hier am meisten Optimierungsbedarf besteht. Insgesamt wird der Sprecher in vielen Merkmalen unterschiedlich beschrieben, was für eine hohe Inkongruenz hinsichtlich des körpersprachlichen Ausdrucks spricht. Darüber hinaus muss in solch einem Fall problematisiert werden, ob ein Gefühl der Authentizität erzeugt werden konnte. Es kann bei diesem Beispiel mittels der Fremdanalyse darauf hingewiesen werden, dass es zum Teil nicht zu der gewünschten authentischen Wirkung kommt. Es folgt daraus nicht nur eine Arbeit am personalen Sprechstil im rhetorischen Sinne, sondern ebenso eine Identitätsarbeit, d.h. die Betrachtung der Ich-Identität und somit der Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität, und der damit verbundenen professionellen Positionierung. Mit diesem Beispiel konnten sowohl die Komplexität der Analyse aufgezeigt werden als auch die Möglichkeiten der Videokonfrontation als ein sehr gutes Medium für Feedback und zum Einstieg in die Reflexion des eigenen personalen Sprechstils. 6.2

Beispiel 2: Reflexion des Sprechstils im Blick auf die Persönlichkeit

Im zweiten Beispiel, das sich auf die Reflexion des Zusammenhangs von personalem Sprechstil und dem Ausdruck von Persönlichkeit bezieht, wird der Frage nachgegangen, ob verschiedene kommunikative Settings zu unterschiedlichen Bewertungen von Persönlichkeitsmerkmalen führen oder ob sich trotz unterschiedlicher Sprechstile in verschiedenen kommunikativen Kontexten Persönlichkeitsmerkmale zeigen, die konstant bleiben.63 Hier spielt erneut der Gedanke der Identitätsarbeit eine zentrale Rolle: Wenn sich eine Kernkonstruktion von Ich-Identität formiert, kann angenommen werden, dass diese Sicherheit und damit Souveränität in unterschiedlichen Situationen mit sich bringt. Zur Erfassung dieser Kernkonstruktion wird auf die sogenannten Big Five zurückgegriffen. Darunter sind die fünf Hauptfaktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit 63

Vgl. dazu auch Anselm/Werani 2015.

150

Anke Werani, Sabine Anselm

und Gewissenhaftigkeit zu verstehen.64 In Bezug auf Lehr-Lernkontexte zeigen Studien von Urban65 und Mayr & Neuweg66, dass insbesondere die Faktoren emotionale Stabilität (Gegenpol zu Neurotizismus), Extraversion und Gewissenhaftigkeit wichtig für die Unterrichtsqualität sind und zudem entscheidend für Berufszufriedenheit und Berufsbelastung. Bei der Analyse der unterschiedlichen Videoclips einer Sprecherin in zwei Kontexten durch zwei Analysegruppen zeigten sich bereits in der Bewertung des Gesamteindrucks erhebliche Diskrepanzen. So wurde die Sprecherin in der Unterrichtssituation als „nett, nervig, ,prinzessig‘, große Schwester, Kindergärtnerin, möchte Lehrerin spielen, ist aber überfordert“ beschrieben, während sie in der Aufnahme von einem Kurzvortrag für Studierende als „freundlich, zurückhaltend, motiviert-engagiert, überzeugt“ wahrgenommen wurde. Bei der differenzierteren Betrachtung der Persönlichkeitsmerkmale zeigten sich also viele Diskrepanzen. Interessanterweise waren jedoch in den oben genannten, relevanten Faktoren für die Unterrichtsqualität, Neurotizismus, Extraversion und Gewissenhaftigkeit, die meisten Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Persönlichkeitsfaktoren wahrgenommen worden. Das bedeutet, dass bei der Beobachtung des personalen Sprechstils auf relevante Persönlichkeitsmerkmale zurückgeschlossen wird, die als zentral für den Lehr-Lernkontext angesehen werden. Der personale Sprechstil lässt also durchaus Rückschlüsse auf Persönlichkeitsmerkmale zu und es gibt einen Kern der Persönlichkeit, der gewissermaßen „durchtönt“. Darin lässt sich die eigentliche Bedeutung erkennen: lat. personare bedeutet „durch die Maske durchtönen“. Für die Überlegungen zu Authentizität und Funktionalität bedeutet dies, dass es im Rahmen der Identitätsarbeit um die Stärkung der Kernkonstruktion der IchIdentität gehen muss, um Authentizität zu erzeugen. In einem weiteren Schritt wird deutlich, dass der personale Sprechstil als Ausdruck der Ich-Identität maßgeblich an der authentischen Wirkung beteiligt ist. In der Ausbildung der angehenden Lehrenden ist es daher wesentlich, den personalen Sprechstil auch bezüglich der Persönlichkeitsmerkmale zu reflektieren, da – egal in welchem Kontext – diese Merkmale über das Sprechen zum Ausdruck gebracht werden. In diesem Sinne führt diese Reflexion wesentlich weiter, als nur den personalen Sprechstil zu betrachten. Mit dieser Analyse wird gewissermaßen die Tür zur Reflexion der (eigenen) Lehrerpersönlichkeit geöffnet und in Bezug zur Unterrichtsqualität gebracht. Es wird also der Zusammenhang von Authentizität und Funktionalität hergestellt.

64 65 66

Vgl. Asendorpf 2007, Simon 2006. Vgl. Urban 1984, Urban 1992. Vgl. Mayr/Neuweg 2006.

Authentizität und Funktionalität

7

151

Reflexion des Seminarangebots im Rahmen der Brückensteine

Abschließend soll darauf eingegangen werden, wie das interdisziplinäre Angebot zwischen psycholinguistischer Propädeutik und einer deutschdidaktischen Lehrveranstaltung von den Studierenden aufgefasst wurde. Dies wird anhand von Feedbackbögen der Studierenden aus drei Seminaren (n=47) zusammengefasst und illustriert, welchen Mehrwert die interdisziplinäre Konzeptidee der Brückensteine hat. Davon ausgehend wird reflektiert, ob ein psycholinguistisch fundiertes Kommunikationsmodell, das Kommunikation als soziales Phänomen erfasst, mit deutschdidaktischem Wissen verbunden und für Lehr- und Lernkontexte nutzbar gemacht werden kann. Aus dem Kaleidoskop der O-Töne der Feedbackbögen lässt sich folgendes Bild skizzieren. Zunächst wurde das theoretische Angebot des Seminars überaus positiv angenommen, obwohl der Umfang und die Intensität verglichen mit anderen Seminaren wesentlich höher lag. Im Einzelnen wurden folgende Inhalte hervorgehoben: − Die Konfrontation mit verschiedenen Kommunikationsmodellen wurde als bereichernd wahrgenommen und auch die Schlussfolgerungen daraus, wie zum Beispiel Watzlawicks erstes Axiom „man kann nicht nicht kommunizieren“ eröffnete neue Horizonte.67 − Als eindrücklich wurde die Einführung des neuen Kommunikationsbegriffs bewertet, da sich hier die Vielschichtigkeit und Komplexität von Kommunikation deutlich zeigt. Dadurch erhält das Verhältnis von Sprecher und Zuhörer sowie das Wechselspiel zwischen beiden eine neue Dimension; auch die Entstehung von Missverständnissen wird erklärbar.68 − Nahezu von allen Teilnehmenden wurde der Wunsch nach Vertiefung der theoretischen Inhalte mit unterschiedlichen Schwerpunkten genannt. Die Videoanalysen, die einen Großteil der inhaltlichen Auseinandersetzung ausmachten, wurden als sehr intensives und positives Seminarelement beschrieben. − Die Analyse erlaubt eine genaue Betrachtung der Ebenen des personalen Sprechstils (verbal, paraverbal, nonverbal) und dadurch eine exaktere Beurteilung. Zudem ergibt sich ein ganz neuer Bezug zu nonverbalen Aspekten der Sprache bzw. erlangt „die Macht“ der Körpersprache und des paraverbalen Ausdrucks eine neue Dimension. Ebenso wird die Stimme als paraverbales Element als eine „übergeordnete“ Einheit wahrgenommen.69 − Die Arbeit in Tandems, d.h. die Besprechung der Clips mit einem Partner, wurde genannt, sodass der Gedanke eines Dreischrittes von Beobachtung, Analyse und Reflexion in einem dialogischen Lehr-Lernkontext überzeugen konnte. Ebenso

67 68 69

1b, 3b, 8b, 16b, 17b, 21b, 22b, 23b , 9c (zur Kodierung: die Ziffern stehen für den Feedbackgeber, die Buchstaben für das jeweilige Seminar). 2a, 3a, 6a, 7a, 9a, 5b, 12b, 13b. 4a, 5a, 7a, 12a, 9c, 10c.

152

Anke Werani, Sabine Anselm

die hiermit verbundene zielgerichtete Anleitung zur Selbstreflexion70 und zum Feedback.71 Die den Analysen zugrundeliegenden Beobachtungsbögen mit den verschiedenen Komponenten und Merkmalen verdeutlichten zum einen die Vielschichtigkeit der Kommunikation, zum anderen zeigte sich, dass der Beobachtungsbogen ein hilfreiches Arbeitswerkzeug ist. − Der personale Sprechstil wird durch die Analyse mit dem Beobachtungsbogen tatsächlich konkret beobachtbar.72 − Großes Erstaunen brachte die Tatsache mit sich, dass die Wahrnehmung des Sprechers und die sich daran anschließende Wirkung sehr unterschiedlich sein können. Mit dieser Beurteilung verbunden wurde aber auch die Frage nach einem konkreten Zusammenhang von Sprechstil und Persönlichkeit aufgeworfen.73 − Die Trennung von Beschreibung und Wirkung wurde als relativ schwierig eingeschätzt sowie die Notwendigkeit, geeignete Worte dafür zu finden.74 Darüber hinaus ließ sich die Öffnung des Spannungsfeldes zwischen Intuition und Reflexion sehr gut bewerkstelligen, und die Tatsache untermauern, dass es „den“ personalen Sprechstil oder „die“ Professionalisierung nicht gibt. − Es wurde klar, dass Sprechen zunächst etwas unbewusst Angeeignetes ist, dieses Sprechen wird als das „Ursprüngliche“ wahrgenommen. Ein Bewusstsein über das eigene Sprechen erreicht man erst durch Reflexion darüber.75 − Die Frage, wie man vom Sprechen ausgehend authentisch zu einer Professionalität kommen könne, wurde intensiv erörtert und mit der Feststellung, dass es nicht das „Ideale“, sondern nur das (partiell) „Authentische“ gibt, auf den Punkt gebracht.76 − Es wurde zur Kenntnis genommen, dass es sich insgesamt um einen Balanceakt zwischen Reflexion und Intuition bzw. um ein vor allem reflektiertes AuthentischBleiben handelt. Das Phänomen „authentisch zu bleiben“ hatte dahingehend eine beruhigende Wirkung auf einen Teilnehmer, da es sich, wenn es um Individualität und Authentizität geht, nicht um eine „versessene“ Systematik handeln kann.77 − Weiterhin ermöglichten einerseits das Bewusstmachen von „Stimme“ und „Körpersprache“ neben den verbalen Aspekten und andererseits die Wahrnehmung der Wichtigkeit dieser Parameter eine konstruktiv-kritische Selbstreflexion und ein spezifisches Training im Umgang mit Stimme und Körpersprache.78 70 71 72 73 74 75 76 77 78

2b, 23b, 1c, 6c,8c, 11c. 1a, 2a, 4a, 12a, 1b, 2b, 3b, 4b, 5b, 7b, 9b, 10b, 12b, 13b,14b, 17b, 21b, 23b, 1c, 2c, 3c, 5c, 7c, 9c, 11c, 12c. 2a, 5a, 1b. 6b, 9b, 15b, 21b, 23b, 2c, 7c. 9c. 8a, 9a, 12a. 1a, 6a, 8b. 3a, 1a. 2b, 10b,12b, 18b.

Authentizität und Funktionalität

153

Weiterhin sehr positiv wurde vermerkt, dass der Wissenszuwachs einen großen Bezug zur Berufspraxis hat. − Insbesondere die praxisbezogenen Workshops zur „Stimme“ und zur „Körpersprache“ wurden als Bereicherung für den beruflichen Alltag aufgefasst.79 − Neben den positiven Bezügen zur Berufspraxis wurden als besonders gewinnbringend die gesellschaftlichen Bezüge betont.80 − Der Wunsch nach Trainingseinheiten in kleinen Gruppen oder einzeln macht deutlich, dass eine individuellere Förderung, in der auf spezifische Thematiken wie beispielsweise das Sprechtempo eingegangen werden könnte, notwendig und erfolgversprechend erscheint.81 Als konstruktive Anregungen wurden zur Weiterentwicklung der Konzeption perspektivierend einige Punkte genannt. − Sprechstile sollten demnach (noch) intensiver und regelmäßiger (z.B. jährlich) analysiert werden, oder eine Möglichkeit geben werden, weitere Clips aufzunehmen und zu analysieren.82 − Es wurden zirkuläre Abläufe (Analyse, Besprechung, Beratung, Training, Analyse …) vorgeschlagen, und es kam die Idee auf, von mehreren Personen (Dozenten, Lehrern, Schülern) Feedback oder wiederholt ein individuelles professionelles Feedback zu bekommen.83 − Hinsichtlich der Vertiefung der Seminarinhalte gab es unterschiedliche Auffassungen: zum einen wurde betont, dass die v.a. theoretische Reflexion wichtig ist. Darum wurden noch weitere Kommunikationstheorien zur Ergänzung angeführt, da der „Stil“ isoliert nicht trainiert werden kann. Zum anderen wurde vorgeschlagen, verschiedene Übungen zur aktiven Umsetzung des Sprechstils im Rahmen anschließender Blockseminare anzubieten. Weitere Anregungen für Vertiefungsmöglichkeiten waren die Zusammenarbeit mit erfahrenen Lehrern und deren Feedback, grundsätzlich praxisbezogene Analysen, das Arbeiten an Fallbeispielen oder einen Sprechtrainer zu engagieren, der eventuell auch als Begleitung während der Arbeit an der Schule zur Verfügung steht.84 − Zudem wurde angeregt, praktische Tipps und Hinweise herauszuarbeiten, etwa auf verbaler Ebene „dos or don’ts“ für die Kommunikationssituation in der Klasse. In ähnlicher Weise wurde vorgeschlagen, dass die Wirkung des Sprechstils noch weiter spezifiziert wird. Grundfragen hierbei könnten folgende sein: Wie wirkt mein individuelles Lob? Wie wirken meine Instruktionen? Oder: Wie kann Kommunikation positiv beeinflusst werden oder auch besser mit Körpersprache umgegangen werden? Wie sind grundsätzlich die Effekte bei Vari79 80 81 82 83 84

3b, 20b, 7c, 12c. 1a, 2a, 8a, 9a, 12a. 22b, 16b. 1a, 1b, 3a, 5a, 7a, 8b, 9b, 15b. 14b, 15b, 20b, 23b. 6a, 10a, 11a, 12a, 6b, 7b, 18b, 19b, 22b, 1c.

154

Anke Werani, Sabine Anselm

ationen des Sprechstils? Welche Rolle spielt die Stimme? Welche „Macken“ sind offensichtlich und sollten verbessert werden?85 − Angeregt wurde ferner, auch Schülersprechstile vor allem in Wechselwirkung mit den Lehrersprechstilen zu betrachten. Weiterhin sollten die Besonderheiten der Kommunikation bei Kindern/Jugendlichen thematisiert werden. Dabei sollte nicht nur der Umgang mit Disziplinschwierigkeiten bei Kindern, sondern auch der Umgang mit Eltern sowie Mobbing zun Thema gemacht werden. Des Weiteren wurde angeregt, die Überlegungen auch auf Berufsschulklassen auszuweiten.86 − Eine weitere konstruktive Anregung war die Erstellung einer webbasierten Datenbankressource zur Nachbereitung der Kursinhalte.87 Betrachtet man die Kritikpunkte stellt sich heraus, dass es eine sehr moderate Form der Kritik gab, die dennoch berücksichtigt werden wird. − Es wurde angemerkt, dass zu wenig Zeit zur Verfügung stand und mehr Zeit zur Vertiefung der Themen gewünscht wurde, die vor allem für die Arbeit mit dem eigenen Sprechstil verwendet werden sollte.88 Als spezifische Themen wurden beispielsweise genannt: Motivation, Mentaltechniken, psychologische Aspekte hinsichtlich vorurteilsfreier Kommunikation, intensivere Auseinandersetzung mit den Quelltexten oder Feedback.89 − Es sollte reflektiert werden, auf welche Weise die Auflösung von Kommunikationsblockaden geschehen könnte, d.h. es wurden genauere Handlungsanweisungen dafür gewünscht, was in Problemsituationen zu tun ist, in denen Kommunikation nicht funktioniert.90 − Wenige Kritikpunkte gab es dazu, dass die Workshops zu „Stimme“ und „Körpersprache“ nicht effektiv gewesen wären. Ebenso wurde zum Teil erwartet, dass ein Rhetoriktraining absolviert würde.91 − Implizite Kritik richtet sich auch an den Studiengang, indem angemerkt wurde, dass es nun endlich ein praxisnahes Seminar gebe, das unter Umständen noch praxisnäher sein könnte bzw. praxisnäher vertieft werden sollte.92 Alles in allem bestätigen diese Rückmeldungen vor allem die Funktionalität des Seminarkonzeptes. So wurde einerseits die Einflechtung der sprachlichen Tätigkeit als vermittelndes Werkzeug kommunikativer Prozesse in Lehr-Lernkontexten sichtbar gemacht und intensiv von den Seminarteilnehmern aufgenommen. Andererseits verdeutlichten die vielfältigen Anregungen und Wünsche der Studierenden die Notwendigkeit, kommunikative Kompetenz zu professionalisieren. Damit verbunden wird die Brisanz der Thematik für den beruflichen Alltag aufgezeigt. 85 86 87 88 89 90 91 92

5b, 6b, 9b, 14b, 4c, 9c. 10a, 12b, 13b, 20b, 21b. 2b. 2a, 3a, 8a, 19b. 7a, 10a, 2b, 5b, 6b. 6a, 7a. 9b, 10b, 11b. 1a, 4a, 14b.

Authentizität und Funktionalität

8

155

Fazit

Es wurde deutlich gemacht, dass es sich bei sprachlicher Tätigkeit um eine kommunikativ-kognitiv-emotive Einheit handelt, die auf verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ebene Ausdruck findet. Kommunikation wird als Konstruktionsprozess definiert, in welchem die Aktanten eine symbolisch konstruierte Wirklichkeit im Hier-und-Jetzt, einen gemeinsamen Kommunikationsraum schaffen. Es handelt sich dabei um eine gemeinsame Konstruktion, die im „kommunikativen Zwischen“ der Aktanten entsteht. Bezogen auf Lehr-Lernkontexte wird deutlich, dass Lernprozesse nicht nur sprachlich vermittelte Prozesse sind, sondern dass es jeweils auch um die Aktualisierung der Ich-Identität geht. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch Aspekte des Lernens in einem anderen Licht. Es wird deutlich, dass für das Lernen die Funktionalität sinnstiftender Prozesse zentral ist, eines der zentralen Kriterien für guten Unterricht.93 Dann erhalten Aspekte, die mit der IchIdentität vereinbar sind, also Authentizität verkörpern, eine völlig andere Qualität als von der Ich-Identität unabhängige Aspekte. Lernen ist also eine wechselseitige Tätigkeit zwischen Lehrendem und Lernenden und konstruiert sich aus einer Einheit aus Instruktion und Konstruktion. Die Verknüpfung von sprachlicher Tätigkeit, Ich-Identität und Lernprozessen zeigt auf, dass die Qualität der sprachlichen Tätigkeit ein wesentlicher Faktor für die förderliche Interdependenz von Sprache, Identität und Lernen ist. Authentizität und Funktionalität personaler Sprechstile werden auf diesem Weg durch die doppelte Reflexion, dadurch dass die sprachliche Tätigkeit zugleich vermittelnd und der zu vermittelnde Inhalt ist, aus interdisziplinärer Perspektive für Professionalisierungsprozesse konkretisiert und modifizierbar gemacht. Somit wird ermöglicht, personale Sprechstile unter einem neuen Blickwinkel zu analysieren, zu reflektieren und zu trainieren. Hierbei zeigt der Zugang aus interdisziplinärer Perspektive – das haben die Rückmeldungen der Studierenden ergeben – gewinnbringende Möglichkeiten der Konkretisierung auf.

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93

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156

Anke Werani, Sabine Anselm

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II

Brücken zwischen Theorie und Praxis

„Das Spiel ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis 1 der Welt …“ Computerspielforschung als Brückenstein für eine innovative Lehrerbildung Marcel Schellong, Andreas Schöffmann 1

Vorweg

Ausgangspunkt für diesen Beitrag war eine zweisemestrige fachwissenschaftliche und fachdidaktiktische Tandemveranstaltung an der LMU München mit dem Titel „Computerspiele als Ergodische Literatur – Herausforderungen für den Deutschun2 terricht“ , die darauf abzielte, den Studierenden adäquate Zugänge zum Medium Computerspiel zu eröffnen, um es fachwissenschaftlich und -didaktisch versiert in den Deutschunterricht integrieren zu können. Computerspiele sind ein wichtiges und aktuelles Thema für eine große Zielgruppe von Schülern und Studierenden – Methoden für einen reflektierten Umgang sind zwar vorhanden, aber noch weitgehend unbekannt. Mit Blick auf die Schule zeigt sich darüber hinaus, dass zentrale Aspekte der Text- und Medienanalyse, die im Unterricht vorgesehen sind, auch an diesem Medium erprobt werden können, denn viele Verfahrensweisen dafür stehen in unmittelbarer Tradition der Literaturwissenschaften. Um zudem auch den Spezifika dieses Mediums gerecht zu werden, hat sich im universitären Kontext gezeigt, dass ein entsprechend größeres fachwissenschaftliches Bezugsfeld aus dem Bereich der Medienkulturwissenschaften notwendig ist. Unsere Tandemveranstaltung verlangte von den Studierenden und den Lehrenden eine hohe Bereitschaft zum interdisziplinären Arbeiten, weil ihr Gegenstand Methoden zwischen Literatur- und Medienkulturwissenschaft verlangt und sie im kontinuierlichen Dialog von fachwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive stattgefunden hat. Glaubt man der Evaluation, dann war der Versuch erfolgreich, und es würde uns freuen, wenn unser Beitrag in diesem Band, der zentrale Punkte unserer Überlegungen skizziert, Impuls für weitere Unternehmungen in der Lehre zu diesem Thema sein könnte. Unser Dank gilt vor allem den Studierenden, die mit hoher Motivation und außerordentlichem Engagement den wesentlichen Beitrag zum Gelingen unseres Lehrexperiments geleistet haben.

1 2

Gorki 1954, 86. Das gesamte Zitat lautet: „Das Spiel ist der Weg der Kinder zur Erkenntnis der Welt, in der sie leben!“ Der Begriff „Ergodische Literatur“ wird später im Text näher erläutert. Vgl. Fußnote 35.

162

2

Marcel Schellong, Andreas Schöffmann

… aus der Schmuddelecke

Seit bald zehn Jahren wird in nahezu jedem journalistischen Beitrag zu Computerspielen konstatiert: „Computerspiele sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“3 Teilweise ist das immer noch eine überraschte Erkenntnis, gelegentlich drückt sie Bedauern aus und selten will sie als Setzungsakt Tatsachen schaffen. Eines zeigt sich aber mit Gewissheit: Es ist vor allem die Diskussion um die Frage, ob Computerspiele in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Was zunächst nach einer bloßen Spitzfindigkeit klingt, ist aber tatsächlich ein wichtiger Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen. Denn dass nicht nur Computerspiele selbst – als Zeitvertreib – benutzt werden, sondern dass über sie gesprochen wird, dass sie ein Thema von gesell4 schaftlicher Relevanz sind, dass sie bisweilen sogar als Kulturtechnik verstanden werden, das bringt zwei grundlegende Fragen zum Umgang mit diesem Medium auf: Wo hat man als (junger) Computerspieler die Möglichkeit, einen reflektierten Umgang mit dem Medium Computerspiel zu lernen? Und wie kann ein solcher reflektierter Umgang mit Computerspielen aussehen? Beide Fragen sind eng miteinander verbunden. Die von der breiteren Öffentlichkeit immerhin noch teilweise zur Kenntnis genommenen sozialwissenschaftlichen Überlegungen zum Mediennutzungsverhalten computerspielender Jugendlicher oder zu den Themenkomplexen Gewalt oder Sucht nehmen, bedingt durch die fächergruppenspezifische Perspektive, zumeist die Spielenden in den Fokus, nicht die Spiele selbst. Das hat freilich seine Berechtigung, trägt aber in der Regel nicht dazu bei, dass Computerspieler einen systematischen Zugang zu diesem Medium lernen können, eben weil die Medialität, die spezifische Verfasstheit von Computerspielen, dabei gar nicht berührt wird. Man kann annehmen, dass Schülerinnen und Schüler im Laufe einer Schulausbildung bis zum Abitur üblicherweise den Umgang mit verschiedenen Textgattungen (vielleicht sogar in verschiedenen Sprachen) sowie die grundlegenden Traditionen und Verfahrensweisen des Theaters und verschiedener Massenmedien wie Zeitung oder Fernsehen kennenlernen – mit Glück erfahren sie auch etwas über die narrativen Funktionsweisen des Mediums Film. Auf das Computerspiel bereiten diese Medien- und Texterfahrungen allerdings nur teilweise vor, denn Computerspiele sind gekennzeichnet durch eine eigene und ganz spezifische Funktionsweise. Sie folgen den kulturellen Bedingungen und Möglichkeiten von Spielen, können dabei aber auf das Inventar der erzählerischen Mittel von Buch, Film, Hörspiel, Comic etc. zurückgreifen. Als genuin interaktive Medien übersteigen sie sogar 3

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Bspw. am 13.05.2007, von Patrick Bernau in der FAZ unter dem Titel: Computerspiele erobern das Wohnzimmer. Verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/technik-motor/computerinternet/starkes-wachstum-computerspiele-erobern-das-wohnzimmer-1437143.html [20.4.2015] und am 14.8.14 in der Badischen Zeitung: Leitartikel: In der Mitte angekommen. Verfügbar unter: http://www.badische-zeitung.de/kommentare-1/leitartikel-in-der-mitte-angekommen-88690163.html [20.4.2015]. Holtorf 2007.

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deren übliche Verfahrensweisen. Deshalb scheint es nur folgerichtig zu sein, wenn vor allem auch jene Forschungsdisziplinen Computerspiele untersuchen, die aus ihrer fachspezifischen Tradition heraus über Methoden zu einer strukturierten und reflektierten Medienanalyse verfügen. Computerspiele sind – und das ist hier mehr Feststellung als Setzung – ein geeigneter Gegenstand für eine kultur- oder medienwissenschaftlich orientierte Geisteswissenschaft. Und die aktuelle Forschungslandschaft zeigt, dass sie auch hier langsam in der Mitte ankommen.

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Verfahrensweisen der Medienkulturwissenschaften mit Computerspielen

In den vergangenen Jahren kann ein Wandel im Verhältnis von Spielen und Computerspielforschung (vulgo „Gamestudies“) beobachtet werden. Zwischen der Forschung und den Spielen selbst entwickelt sich ein impliziter Dialog; man könnte von einer gegenwärtigen Konstitutionsphase des Computerspiels und seiner Erforschung sprechen, in der gleichzeitig die Entwicklung des Forschungsobjektes – des Computerspiels also –, seine wissenschaftliche Reflexion und damit die universitäre wie gesamtgesellschaftliche Etablierung eines kulturell akzeptierten Mediums beobachtet werden kann. Wissenschaftstheoretisch ist dies ein Modellfall, an dem man viel über disziplinäre Abgrenzungsbewegungen, über Kanonbildung, Verwissenschaftlichung eines Gegenstandes und Anschlussfähigkeit von Theorien lernen kann. Blickt man konkret auf die Wechselwirkungen von wissenschaftlicher Rezeption und Spieleproduktion, so zeigt sich, dass das Medium reflektierter und in diesem Sinn selbstbewusster wird. Die experimentellen Versuche an den Grenzen zu anderen Medien, die es in dem zunehmend wachsenden Spielesektor der Indie 5 Games gibt, sind nur deshalb möglich, weil das Medium sich selbst und die eigenen medialen Funktionsweisen besser kennengelernt hat, weil es eigene Traditionen und stabile Konstanten hat, denen es selbst soweit vertrauen kann, dass es sich in experimentellere Bereiche vorwagt. Ein Spiel wie Dan Pinchbecks Dear Esther (2012) verbindet beispielsweise die grafischen Genrekonventionen eines FirstPerson-Shooters mit narrativen Traditionen des Briefromans und übersteigt dabei die Konventionen des Computerspiels so weit, dass es bei vielen Nutzern als zu experimentell und als „zu wenig Spiel“ durchgefallen ist.6 Noch deutlicher wird der implizite Dialog von Produktion und Reflexion bei dem von Davey Wreden entwickelten Spiel The Stanley Parabel (2013), in dem die Verbindung von Spiel und 5

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Zur Erklärung: „[…] the term ‚indie‘ has evolved further and now generally refers to an independent game that has been developed with a certain ‚indie spirit‘ by a small team or an individual. Without the pressure from a publishing deal, indie developers are able to create the exact experience desire […]“ Rose 2011, VIII. Dear Esther. Studio: The Chinese Room. Veröffentlicht 2012. Vgl. zur Frage nach dem Grenzbereich zwischen Literatur und Spiel bei Pinchbeck: Schellong 2012. Zur Form als Briefroman vgl. Unterhuber 2012.

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Erzählung selbst als zentrales Thema des Spiels ausgestellt und selbstreflexiv verhandelt wird.7 Diese differenziertere Selbstbeobachtung und Selbstverhandlung ist ein Effekt einer Computerspielforschung, die das Potenzial und die Funktionsweisen der Spiele durch ihre Analysen und Theorien immer weiter geklärt hat. Durch sie wird dem Medium Computerspiel autoreflexives Bewusstsein eingehaucht, und damit auch das Selbstbewusstsein, eine Kunstform zu sein. Solchermaßen in seiner Komplexität gesteigert, ist der Zugang zu diesem Medium schwieriger geworden. Deshalb ist es in einem ersten Schritt sinnvoll, die eigene Perspektive auf das Computerspiel als Untersuchungsgegenstand zu klären. In den folgenden Überlegungen wird es weniger als ein technisches Medium, sondern vielmehr als eine spezielle mediale (und medientechnische) Ausformung eines Spielprozesses aufgefasst. Dieser Zugang macht die Beobachtung von Computerspielen unabhängig von kurzfristigen technischen Neuerungen und ermöglicht die Ausbildung eines verstetigten Analyseinventars. Letzterem gilt im zweiten – und hier ausführlicheren – Schritt das Interesse, wenn die Übertragbarkeit von zwei Analysemethoden, die ihre Wurzeln in den Methoden zur Analyse anderer Medien haben, auf das Computerspiel gezeigt wird. In einem dritten Schritt schließlich erfolgt eine Auseinandersetzung mit medienpädagogischen und -didaktischen Fragestellungen.

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Vom Computerspiel als technischem Medium zum prozessualen Spielbegriff

Nähert man sich dem Computerspiel auf rein begrifflicher Ebene, so zeigt sich, dass der Begriff „Computer“ auf die Technizität des Medium abzielt und zumeist als Pars pro Toto für alle digitalen und genuin interaktiven Spiele steht: PC-Spiele, Videospiele (Spielkonsolen), Spiele auf tragbaren Medien (Smartphone, Tablet, mobile Spielekonsole). Üblich ist eine analoge Form der Eingabe mittels Joystick, Joypad, Touchscreen etc., eine digitale Datenverarbeitung und eine audiovisuell (gelegentlich auch taktil) rezipierbare Form der Ausgabe. Der Begriff „Spiel“ ist dem gegenüber außerordentlich komplex, hat er doch spätestens seit der Veröffentlichung von Johan Huizingas „Homo Ludens“ 1938 in der Kulturwissenschaft eine steile Karriere gemacht.8 Definitionen nach Huizinga oder seinem späteren Adepten Roger Caillois9 beschreiben strukturelle Formen und Grenzen des Spiels und seine zentralen Kriterien.10 Für den ersten Zugang sind diese hilfreich, auf den zweiten Blick 7

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The Stanley Parable. Studio: Galactic Cafe. Veröffentlicht 2013. Möglicherweise reflektiert The Stanley Parable als Computerspiel klüger über Computerspiele als viele Ansätze der bisherigen Gamestudies – nur eben performativ und künstlerisch und nicht wissenschaftlich. Huizinga 2009. Caillois 1965. Caillois formuliert als die sechs zentralen Kriterien des Spiels, dass es eine freie, abgetrennte, ungewisse, unproduktive, geregelte und fiktive Betätigung sein muss. Vgl. Callois 1965, 16.

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erweisen sich solche Herangehensweisen jedoch als zu statisch. Nützlicher ist hingegen ein Spielbegriff, der über rein formalistische Festlegungen des Spiels hinausgeht und es eher als einen Modus Operandi – und damit als Prozess – auffasst: Durch ihn ist gleichermaßen die große Faszination des Spiels und die funktionale Vergleichbarkeit von Spiel und Medienereignis zu verstehen. Der Medienwissenschaftler Bernd Scheffer erklärt die Faszination von Medienereignissen damit, dass es sich dabei um Momente der „Lebenssteigerung“11 handelt, und der Philosoph Robert Pfaller erkennt für das Spiel das Merkmal einer „gesteigerten psychischen Intensität“12. Er zeigt, dass sich die Faszination des Spiels in einer eigentümlich dialektischen Figur entfaltet, der zufolge der Spieler das Spiel sehr ernst nimmt, obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass er ‚nur‘ spielt.13 Spielen meint bei ihm einen beobachtbaren Prozess, der nicht zu verwechseln ist mit dem formalen Rahmen des Spiels. Dadurch bieten sich Anschlussmöglichkeiten für die Frage nach Medien- und Textrezeption allgemein. Das Eintauchen in einen literarischen Text oder einen Film, das potentiell körperlich spürbar ist, kann als Moment der ästhetischen Erfahrung verstanden werden.14 Für das Spiel erkennt Pfaller: Vielmehr wohnt ihm [dem Spiel; M.S.] eine Intensität inne, die die Ausübenden stärker in Beschlag nimmt als das übrige Leben und die sie sogar dazu bringt, jegli15 che Rücksicht auf dieses Leben außer Acht zu lassen.

Spiele und Medienereignisse operieren an der Grenze zwischen den Alltagserfahrungen in der ‚realen‘ Welt und dem „Tun-als-ob“16 in einer für den Moment des Spiels erfundenen oder erzählten Welt – sie ähneln sich strukturell. Ihre Wirkmacht potenziert sich dort, wo Spiel und Erzählung sich verbinden. Das Computerspiel kann ein Spielort sein, an dem dies geschieht. Es zeigt sich dann als ein „endlos emergierendes Reaktionsmuster von Spieler und Programm“17, in das sich Erzählungen als Organisationsprinzip, als Kontext, als Anhaltspunkte für Spielentscheidungen oder sogar als Ziel der Spielentscheidung (s.u.) einschleifen. So ist das Computerspiel prädestiniert als Beobachtungsobjekt für all diejenigen, die sich mit Fragen des Erzählens befassen – ob im wissenschaftlich-universitären Kontext oder beispielsweise auch im Deutschunterricht.

11 12 13 14 15 16 17

Scheffer 2004. Pfaller 2002,112. Vgl. Pfaller 2002, 102 ff. sowie 113. Vgl. Faulstich 2008, 21ff. Pfaller 2002, 108. Vgl. Hamburger 1965, 63 oder Vaihinger 1918, 129–143. Mertens 2004, 287.

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Analyseverfahren mit Rückgriff auf Narratologie

Die zentrale Frage ist nun, wie für dieses Medium geeignete Analysemethoden gefunden werden können. Die Gamestudies haben sich in ihren ersten Jahren zwischen den Feldern der ‚klassisch‘ mathematischen bzw. ökonomischen Spieltheorie einerseits und den narratologisch ausgerichteten Verfahrensweisen andererseits über weite Strecken vor allem mit sich selbst beschäftigt – eine Phase, die als die Debatte von Ludologen und Narratologen heute nur mehr wissenschaftshistorischen Wert hat.18 Inzwischen nimmt die Computerspielforschung vermehrt Kontakt zu den ‚großen‘ Theorien der Philosophie, der Literatur-, Bild- und Filmwissenschaften auf. Dieser Kontakt bringt sie in eine erstaunlich konstruktive und produktive Position. Im Kontext der universitären Lehre in kulturwissenschaftlichen Fächern bieten sich insbesondere solche Methoden an, die ihre Wurzeln im Bereich der Narratologie und der stärker strukturiert arbeitenden Filmanalyse haben. In philologischer Tradition stehen dabei beispielsweise die Überlegungen von HansJoachim Backe, der in seinem Buch „Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel“ ein „Strukturmodell des Computerspiels“19 entwirft, das ein kombiniertes narratologisch-ludologisches Verfahren vorschlägt. Er skizziert eine Analysestruktur für das Computerspiel auf drei Ebenen. Die erste, die Substruktur, „bildet den Rahmen für die Handlungen, die nur durch Weltregeln bestimmt und reglementiert“20 sind. Die zweite Ebene der Mikrostruktur meint „Zielvorgaben, taktisch-strategische[n] Überlegungen und Gewinnstreben“21. Die Makrostruktur verbindet auf dritter Ebene die ersten beiden durch „Partien, LEVELS, QUESTS“22. In dieser Zusammenführung auf dritter Ebene sieht Backe ein „Spiel zweiter Ordnung“23, das die Möglichkeit zur strukturellen Verbindung von Spielen und Erzählen schafft. Damit wird eine Antwort auf die Frage gegeben, wie ein Computerspiel eine weitgehend kohärente Geschichte erzählen kann, wenn der einzelne Spieldurchlauf jeweils ein unterschiedlicher ist. Während jedes Spiel auf der Ebene der Substruktur nahezu unbegrenzte Handlungsoptionen bietet und auf der Ebene der Mikrostruktur viele unterschiedliche Strategien zulassen kann, gibt es auf der Ebene der Makrostruktur immer nur einige wenige Optionen, die also eine endliche Menge diskreter, in sich konsistenter Handlungsabläufe zulassen.24 Backes Entwurf ist insbesondere deshalb nützlich, weil er das Erzählen in einem narrativ organisierten Spiel mit der „Turnier- oder Ligaorganisation“25 in nicht narrativ organisierten 18 19 20 21 22 23 24 25

Vgl. zur Übersicht über die Debatte von Ludologen und Narratologen bspw.: Kücklich 2004. Backe 2008, 353. Die zentralen Überlegungen von Hans-Joachim Backe, die hier nur knapp zusammengefasst dargestellt werden können, werden ausführlicher diskutiert in: Schellong 2008. Backe 2008, 354. Backe 2008, 354. Backe 2008, 354 (Hervorhebungen im Original). Backe 2008, 354, Abb. 57. Backe 2008, 355. Backe 2008, 355.

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Spielen vergleicht. Erzählen wird dadurch zu einem strukturgebenden Prinzip für alle Spiele – selbst wenn es nur auf einen knappen Text zum Hintergrund des Spiels als motivationale Basis reduziert wird.26 Auch in solchen Zusammenhängen ist der erzählerische Rahmen für das Spiel von zentraler Bedeutung, denn er schafft Kohärenz, ist sinnstiftend. Backe macht deutlich: „Die Konventionen des Erzählens sind ebenso universell wie die sozialen Konzepte Sieg und Niederlage, und der breite Erfolg narrativer Computerspiele zeigt, dass sie offenbar ebenso intuitiv als Ordnungsprinzip für Spielstrukturen ver27 standen werden.“

Eine Erzählung, so zeigt sich also, wird zum Organisationsprinzip für Computerspiele — und die ludischen Entscheidungen, die im Spiel getroffen werden, bestimmen den Fortgang der Erzählung. Gerade in jener letzten Dimension verändern sich Computerspiele aktuell sehr. Der interactive Movie Heavy Rain von David Cage (2010), der an der Grenze von Computerspiel und Spielfilm angesiedelt ist, kennt insgesamt 18 teilweise grundlegend verschiedene Enden, die von den ludischen Entscheidungen innerhalb des Spiels abhängen.28 Von großer Bedeutung zeigt sich dabei, dass Computerspiele immer mehr die quantitativen Parameter einer Entscheidung (wie schnell wird eine bestimmte Tastenabfolge gedrückt) mit semantischen Dimensionen einer Entscheidung verbinden. Liegt die Herausforderung bei klassischen Arcade-Spielen29 vor allem noch in möglichst schneller Reaktionsfähigkeit und bestenfalls noch in strategischem Denken, so zeigen sich die Maßgaben, nach denen der Spieler sich heute entscheiden muss, inzwischen immer weniger als quantitativ messbar richtig oder falsch. Entscheidungen bringen in vielen Fällen nun nicht mehr messbar mehr oder weniger Punkte und den Spieler damit schneller oder langsamer an ein Spielziel, sondern sie haben zu allererst Auswirkungen auf die Narration des Spiels. Entscheidungen ziehen Konsequenzen auf intradiegetischer Ebene nach sich – in manchen Fällen außerordentlich verzögert, wenn beispielsweise in seriellen Spielformaten wie The Walking Dead von Telltale Games (2012) die Konsequenzen einer einzelnen Entscheidung erst in einem Sequel gezeigt werden.30 Und in vielen Fällen wird der Spieler gar nicht oder nur ansatzweise

26

27 28 29

30

So gibt es bei vielen Spielen im Genre der First-Person-Shooter nur sehr knappe Hinweise zur Hintergrundgeschichte im Booklet der Spiel-CD-ROM/DVD. Beispielsweise wird auf einer knappen Booklet-Seite unter der Überschrift „The Story so far“ von DOOM (Studio: id Software, Inc. Veröffentlich 1993 bei id Software, Inc.) eine knappe Hintergrundgeschichte skizziert, die für das Spielen aber nicht von Bedeutung ist. Backe 2008, 366. Heavy Rain. Studio: Quantic Dream; Veröffentlicht 2010 bei Sony Computer Entertainment. Als Genre- oder Modus-Begriff meint „Arcade“ heute vorwiegend Spielkonzepte/-situationen, in denen eine möglichst schnelle Reaktionszeit bzw. eine hohe Geschicklichkeit verlangt wird. Der Begriff leitet sich historisch von Spielhallen (engl. „amusement-arcade“ oder „penny-arcade“) ab. The Walking Dead. Studio: Telltale Games; Veröffentlicht 2012 bei Telltale Games.

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darüber informiert, dass er gerade eine spiel- und erzählungsbestimmende Entscheidung getroffen hat.31 Computerspiele und Erzählungen sind aber jenseits einer organisierenden Funktion noch viel weitgehender miteinander verbunden, wie Frank Degler zeigt. Er beschreibt mit seinem Begriff des „Narratems“32 etwas, das „weder ganz auf die Seite der ‚Form‘ noch auf die Seite des ‚Stoffs‘, sondern (…) als Stoff plus die Potenzialität seiner Ausformung zu denken“33 ist. Alle vorhandenen Bestandteile eines Computerspiels werden erst im Moment einer Spielhandlung in eine – vorhergesehene oder unvorhergesehene – Verbindung miteinander gebracht. Erst durch die Handlung des Spielers entsteht aus den Möglichkeiten einer Erzählung eine tatsächliche Erzählung, erst dann ergibt sich eine „Sättigung durch einen konkreten Handlungsvollzug“34. Fasst man das etwas weiter, dann zeigt sich, dass nahezu jedes Spiel durchdrungen ist von den Möglichkeiten einer Erzählung. Und damit ist Erzählen nicht mehr nur ein Rahmen oder Organisationsprinzip, das von außen über das Spiel gelegt wird, sondern es ist tief im Spiel selbst verankert. In vielen Fällen sind Spiele so konzipiert, dass diese Durchdringung folgenlos ignoriert werden kann. In einem üblichen First-Person-Shooter beispielsweise steht die ludische Herausforderung so deutlich im Vordergrund, dass die Tatsache, dass durch jede Spielhandlung auch ein narratives Ereignis vollzogen wird, ausgeblendet werden kann, ohne dass das Spiel dadurch ‚unspielbar‘ würde. Die Narration ist also durch den Handlungsvollzug des Spielers vorhanden, nur ist fraglich, ob der Spieler diese erspielte Narration auch ‚lesen‘ will und kann. Computerspiele bieten also in vielen (vermutlich den meisten) Fällen ein spezifisches Interpretationsangebot, das von zwei Seiten (zugleich) an den Spieler herangetragen werden kann: als narratives Organisationsprinzip des Spiels im Sinne Backes und als Narrationspotenzial im Sinne Deglers. Der Spielprozess wird damit zu einem Prozess der Zeichenrezeption, im weiteren Sinn also zu einem Prozess des Lesens. Espen Aarseth spricht in diesem Zusammenhang von „ergodic literature“, wobei der Begriff des „Ergodischen“ den Aufwand des Rezipienten bei der Aneignung des Textes meint: „nontrivial effort is required to allow the reader to traverse the text“35.

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Analyseverfahren mit Rückgriff auf die Filmwissenschaft

Die bisherigen Überlegungen galten vor allem der Frage, wie in Computerspielen Spielen und Erzählen verbunden ist beziehungsweise an welchen Stellen die Kom31 32 33 34 35

Beispiele für diese These finden sich in Schellong 2014. Zudem wird Anfang 2016 ein Sammelband erscheinen über die narrative Gestalt und Funktion von Entscheidungen in Computerspielen. Degler 2010, 59. Degler 2010, 59. Degler 2010, 60. Aarseth 1997, 1. Der Begriff „ergodic literature“ hat dem Veranstaltungstandem den Namen gegeben.

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bination beobachtet werden kann. Geht man einen Schritt weiter, dann kann man die Frage danach stellen, was Computerspiele erzählen. Aus der differenzierten Sicht eines Literaturwissenschaftlers ist diese Frage natürlich unsinnig – niemand würde ernsthaft eine Antwort auf die Frage geben wollen, was denn Romane erzählen. Zumindest wäre jede Antwort, die die Tautologie „Romane erzählen all das, was Romane erzählen“ unterschreitet, so defizitär, dass sie zumindest im wissenschaftlichen Kontext nicht anschlussfähig wäre. Etwas ungezwungener zeigen sich in diesem Zusammenhang die Filmwissenschaften, die das Konzept der Heldenreise als erzählerischen Archetypus bis heute als eine Möglichkeit des Zugangs zu Spielfilmen verwenden. Dieses Konzept im Anschluss an Joseph Campbells Buch „Der Heros in tausend Gestalten“36 findet freilich nicht nur als Hilfestellung bei der Analyse eines Films, sondern vor allem auf der Produktionsseite bei der Ausbildung von Drehbuchautoren37 Anwendung. Es wären ganz rasch zwei Argumente anzuführen, welche die Aussagekraft des Modells „Heldenreise“ entscheidend schwächen: Erstens ist das Modell ganz einfach so abstrakt gefasst, dass es nahezu immer Ergebnisse hervorbringen kann, die dann aber so allgemein sind, dass sie gerade keine Aussage über den jeweiligen Film, sondern vielmehr eine Bestätigung der Abstraktion des Modells selbst sind. Zweitens ist es natürlich nicht verwunderlich, dass man insbesondere im Hollywood-Mainstream-Kino mit dem Modell der Heldenreise in den meisten Fällen die Strukturen eines Films aufdecken kann, wenn doch auf der Produktionsseite das gleiche Modell verwendet wird. Wenn das Modell der Heldenreise nun trotzdem zum Einsatz im Zusammenhang mit Computerspielen verwendet wurde, dann deshalb, weil es einen außerordentlich hohen didaktischen Nutzen für den Einstieg in die Inhaltsanalyse von Computerspielen hat. Warum? Computerspiele sind in den meisten Fällen audiovisuelle Medienereignisse, die in ihren Erzähltraditionen in unmittelbarer Verbindung zu den Erzähltraditionen des Films zu betrachten sind. In vielen Fällen wird der Spieler in der Spielwelt durch einen Avatar vertreten, eine Spielfigur, die die Funktion eines Helden hat. Durchläuft dieser Held nun eine (zumindest weitgehend) geschlossene Erzählung beispielsweise auf der Makroebene des Spiels, so muss diese Erzählung in irgendeiner Form für eine Analyse nachgezeichnet werden. Da die Computerspielrezeption häufig zeitlich sehr aufwendig ist, weil sie oft langwierige Spielhandlungen für den Erzählfortschritt verlangt, scheint es sinnvoll, wenn eine verkürzte und verdichtete Dokumentation der Spielhandlung erstellt wird. Möglicherweise erst so werden bei einem Spiel, das etwa 50 Stunden Spielaufwand erfordert, die einzelnen Bestandteile einer Erzählung im Zusammenhang sichtbar. Das Heldenreisemodell kann hierbei ein sinnvolles Werkzeug für eine strukturierte Skizze der Erzählung sein.38 Die 36 37 38

Campbell 1978. Vgl. beispielsweise: Vogler 1992. Als besonders nützlich haben sich die Kapitel „Zwei Welten: Die Reise der Heldin“ und „Drei Erzählphasen: Akteinteilung und Wendepunkte“ im Buch von Michaela Krützen erwiesen. vgl. Krützen 2011, 63–124.

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Erfahrung mit Analyseversuchen im Seminar, bei denen das Modell der Heldenreise eingesetzt wurde, haben gezeigt, dass insbesondere bei Spielen, die nicht rein linear angelegt sind (wie beispielsweise das oben erwähnte „Heavy Rain“), die rhizomatische Struktur der Erzählung, die Zwangsläufigkeiten und tatsächlichen Optionen bei Entscheidungen und die Möglichkeiten bei der Entwicklung eines Charakters deutlich werden.39 So eingesetzt erleichtert das Modell der Heldenreise den Zugang zur Inhaltsanalyse – und es schafft sogar noch etwas mehr: Das Modell macht Erzählungen (auf sehr abstraktem) Niveau vergleichbar und bestimmte Traditionen des Erzählens sichtbar. Computerspiele sind danach nicht mehr Spiele, die auch Erzählbestandteile haben, sondern sie sind eine Fortschreibung der Erzählungen, die es in einer Kultur bereits gibt – nur eben mit anderen Mitteln. Der Ansatz zielt also auf Kontinuität im Erzählen ab und öffnet dadurch wiederum – und damit schließt sich ein Kreis – den Blick auf die Verfahrensweisen der Erzählung. Die Filmwissenschaften bieten aber natürlich über das Modell der Heldenreise hinaus noch viele weitere Analyseverfahren an, die sich für das Computerspiel eignen. Die Bauformen des Films durch Kameraeinsatz, Schnitt, Montage etc., die visuelle Konzeption von Räumen, der Einsatz von Ton und Musik – in all diesen Aspekten kann sich das Computerspiel beim Film bedienen; und die Methoden der Filmwissenschaft können für die Computerspielanalyse nutzbar gemacht werden. Als außerordentlich sinnvoll haben sich beispielsweise auch die Verfahrensweisen der neoformalistischen Filmanalyse nach Thompson und Bordwell gezeigt.40 Alle hier skizzierten Verfahrensweisen sind also Ausschnitte aus einem schier unerschöpflichen Portfolio von Analysemöglichkeiten. Die jeweilige Fragestellung, die Zielsetzung entscheidet über die Wahl der Mittel – im Zusammenhang mit unserem Lehrversuch haben sich vor allem solche Ansätze bewährt, die erstens die Komplexität des Mediums so weit reduzieren können, dass ein Einstieg möglich ist, und die zweitens für weitere und genauere Untersuchungen anschlussfähig sind.

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Computerspiele im Deutschunterricht – eine Herausforderung?

Mit der in den 1970er Jahren erfolgten Erweiterung des Gegenstandsfelds des Deutschunterrichts auch auf mediale Produkte entstanden die Ansätze für eine integrierte Literatur- und Mediendidaktik heute. Dabei weist der Kompetenzbereich „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ zur Kompetenzvermittlung explizit auf eine Auseinandersetzung mit allen Medienformaten hin41 und der Gedanke einer allgemeinen Medienkompetenz bedarf einer jeweils bereichsspezifischen Ausfor-

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40 41

Der Begriff des Rhizoms wird hier im Sinne von Deleuze und Guattari verwendet und meint ein nicht-lineares und nicht-hierarchisches Organisationsmodell von Wissensbeständen bzw. Texten (vgl. Deleuze/Guattari 1977.). vgl. Thompson 1988 und Bordwell/Thompson 2010. Kultusministerkonferenz 2004 6, 8 f., 13 ff.

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mung.42 Dabei legitimiert der medienpädagogische Bildungsauftrag des Deutschunterrichts auch den Bereich der Computerspielnutzung.43 Dass das Computerspiel im Deutschunterricht bisher eine eher stiefmütterliche bis keine Rolle spielt, darauf deuten verschiedene Studien hin.44 Jan Boelmann hat in diesem Kontext „die Nutzbarmachung von Computerspielen als Gegenstände des Deutschunterrichts“ gar „als dessen größtes gegenstandsbezogenes Desiderat“45 bezeichnet. Er spricht damit das Missverhältnis zwischen der Alltagsrelevanz dieses Mediums für Heranwachsende – aber auch für Erwachsene – und ihrer Einbindung in den Unterricht an.46 Boelmann macht für dieses Desiderat „drei Hauptbedingungsfaktoren“47 verantwortlich: 1. die mangelnde Medienausstattung der Schulen, 2. die Computerspielferne der aktuellen Lehrergeneration und 3. fehlende oder nicht ausreichend vorhandene Konzepte der Computerspielnut48 zung im didaktischen Kontext.

Um diesen Zustand zumindest an zwei der eben genannten Punkte zu verändern, unternahmen wir im Zuge der schon zuvor beschriebenen Tandemveranstaltung den Versuch, an vorhandene Konzepte der Medienkulturwissenschaft und der Deutschdidaktik wie der Medienpädagogik anzuknüpfen. Die Seminare folgten dabei dem Grundsatz, dass Medienkompetenz in der Schule nur durch medienkompetente Lehrer und Lehrerinnen vermittelt werden kann,49 weshalb keine Baukästen oder Rezepte vorgegeben, sondern didaktische Grundlagenreflexion in den Bereichen Erzählen, ästhetische Bildung, „Unterhaltungskompetenz“50 und literarisches Verstehen betrieben wurden. Mag man der Publizistik über die sogenannte ‚Computerspielsucht‘ glauben schenken,51 dann geht von Computerspielen eine schwerwiegende, weil mehrfache 42 43 44 45 46

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Vgl. Kepser 2012, 16. Vgl. Kepser 2012, 35. Zum Beispiel: Breiter/Stolpmann/Welling 2010; Forsa 2007, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2014. Boelmann 2015, 13. Vgl. hierzu auch folgende Ergebnisse der KIM- und JIM-Studien 2014: „Das Spielen über diese Plattformen [Anm. AS: Computer, Konsole und das Internet] ist fest in den Alltag der Sechs- bis 13-Jährigen integriert – 62 Prozent der Kinder spielen regelmäßig, also mindestens einmal pro Woche, jedes vierte Kind (24 %) spielt täglich.“ Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015. Sowie: „Insgesamt wird deutlich, dass Spielen sehr stark in den jugendlichen Alltag integriert ist.“ Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015. Boelmann 2015, 15. Boelmann 2015, 15. Vgl. Anselm 2011. Rupp 2011, 217, mit dem Verweis auf Baacke 2007, 98ff. Neben konkreten Fällen von Menschen, die in das Leben einschränkender Weise den Druck oder den Zwang verspüren, am Computer zu spielen, und dem inflationären Gebrauch des Begriffs für exzessives Spielen im Allgemeinen in den Massenmedien, gibt es eine Diskussion im medizinischen Bereich über die Definition des Begriffs bzw. über eine mögliche Diagnose überhaupt. Dabei

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Suchtgefahr aus. Neben den bekannten Phänomenen narrativer Medien wie der älteren „Lesewut“52 oder der „Leserei“53 und dem neueren „Binge Watching“54 tritt beim Computerspielen die bereits 1642 von Paquier Joostens beschriebene „Spielsucht“55 hinzu. Und tatsächlich scheint der Rauschzustand beim Spielen – der von Roger Callois als „Illinx“56 bezeichnet und von Mihaly Csikszentmihályis FlowBegriff umfasst wird57 – durch den Zustand des Eintauchens in narrative Welten58 (Immersion) noch gesteigert zu werden und mit Momenten der Selbstvergessenheit zusammenzufallen. Darüber hinaus wird dem Computerspiel als Medium oftmals eine für die weitere Beschäftigung ausreichende Qualität abgesprochen und es damit auch für die schulische Beschäftigung diskreditiert. Von den bekannten Debatten über Computerspielgewalt angefangen59 führt die Abwertung dahin, Computerspiele als „infantil“60 zu bezeichnen oder das Medium gar als das „Gegenteil von Geist“ darzustellen, das „an sowjetische Kampagnen zur Arbeitssteigerung [erinnert].“61 In beiden Fällen – denen der Berichterstattung und denen dysfunktionaler Computerspielnutzung – kann angenommen werden, dass es an der Reflexionsfähigkeit im Umgang mit der Form und den Inhalten von Computerspielen mangelt.

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Die Bedeutung des Erzählens für den Menschen

„Geschichten erzählen, sie zu variieren und zu optimieren ist Teil pädagogischer Arbeit“62. Mit dieser Aussage trifft Hans Jürgen Wulff einen Kernbereich der Be-

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60 61 62

wird darüber diskutiert, wie und ob eine „Computerspielsucht“ überhaupt diagnostiziert werden kann. Hier stellen sich unter anderen die Fragen, ob diese eher eine „Internetsucht“ ist, weil die meisten Fälle mit World of Warcraft zusammenhängen (vgl. Wölfling/Müller 2012, sowie Grüsser, Thalemann 2006), ob „stoffungebundene Süchte“ oder „Verhaltenssüchte“ als „Suchtkrankheiten“ bezeichnet werden können oder ob eher eine „Störung der Impulskontrolle“ vorliegt, ob die Ursachen im Verhalten, im Medium oder in der persönlichen Disposition zu suchen sind (vgl. Springer 2009) uvm. Zobel 1773. Hiecke 1842, 70. ,Binge Watching‘ oder ,Komaglotzen‘ bezeichnet das durch Streaming-Services begünstigte zügellose Sehen ganzer Serienstaffeln über mehrere Stunden hinweg. Joostens 1642. Caillois 1965, 34. Csikszentmihályi 1995. Zur Theorie narrativer Welten auch in ihrer Bedeutung für Computerspiele empfiehlt sich ein Blick in Ryan/Thon 2014. Manfred Spitzer stellt in vielen Büchern eindeutige und direkte Wirkungsbeziehungen zwischen medialer und realer Gewalt her, z.B.: Spitzer 2012, 195–203. Reflektierter zeigt Florian SchultzPernice Wege auf, wie medial vermittelte Gewalt durch ihre Bedeutung im Kontext der Heldenreise aufgearbeitet werden kann. Schultz-Pernice 2012. Baurmann/Weingarten 1999, 23. Stephan 2014. Wulff 2012.

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schäftigung mit Erzählungen und damit auch der Beschäftigung mit Computerspielen im Deutschunterricht.63 Nach Albrecht Koschorke u.a.64 können Erzählungen als „wechselnde Allokationen von Wahrheit im Prozess kultureller Selbstverständigung“65 gesehen werden. Er begründet dies aus der „unhintergehbare[n] Sprachlichkeit des menschlichen Weltzugangs“, der durch „ein Modell der narrativen Organisation dieses Bezugs ergänzt und präzisiert“66 sowie – man möchte ergänzen – medial inszeniert wird67. Daraus folgt, dass der Prozess der Individuation, Sozialisation und Enkulturation68 durch Erzählungen (mit ihren jeweiligen Trägermedien) entscheidend mitbestimmt wird. Literarische und nicht-literarische Erzählungen wie beispielsweise Computerspiele werden, gleich ob sie nun als „zeitbedingte Einkleidung einer an sich zeitlosen Wahrheit“ oder als „fehlerhafte oder unreife Weltsicht“ verhandelt werden,69 Teil einer kulturellen, sozialen und individuellen Konstruktion von Wahrheiten und Werten. Damit sind Erzählungen jeglicher medialer Gestalt außerschulische Bildungsorte, die durch die schulische Anschlusskommunikation und Reflexion gemeinsam ‚variiert‘ und ‚optimiert‘ werden können und dadurch „Teil pädagogischer Arbeit“70 sind.71 Wer deshalb vom homo narrans spricht, denkt den Menschen in seinem Vermögen, zu der Wirklichkeit, in der er lebt, sowohl ja als auch nein sagen zu können; moralisch gewendet, zu lügen; oder genauer, in der Fähigkeit, die Differenz zwischen real und irreal, wahr und falsch auszusetzen, aufzuheben, mit ihr zu spielen. Tatsächlich sind Erzählungen in einem gewissen Sinn Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den 72 meisten Spielzügen frei.

Die mediale Vermittlung und Inszenierung dieser Narrationen wahrnehmen, verstehen, bewerten und zum eigenen Weltmodell in Beziehung setzen zu können, ist dabei Teil dieses Spiels in der Auseinandersetzung mit den angebotenen Sinnhorizonten. Diese Fähigkeiten entwickeln zu helfen und Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion auch durch Alteritätserfahrungen ins Bewusstsein zu rufen, sind Aufgaben des Deutschunterrichts. Der Deutschunterricht kann aber nicht nur hier und durch Reflexionsanregungen zur Förderung einer Unterhaltungskompetenz beitragen. Gerade in der Durch63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. Wulff 2012, 7. Hingewiesen sei an dieser Stelle zum Beispiel auf Jean-François Lyotards Gedanken vom Ende der großen Erzählungen, Lyotard 1986. Koschorke 2012, 17. Koschorke 2012, 17 (Hervorhebung A.S.) Vgl. u. a. Baacke 2007, 72ff. Abraham, Kepser 2005, 23. Koschorke 2012, 16. Wulff 2012, 7. Vgl. Anselm 2012, 406. Koschorke 2012, 12.

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brechung von Mustern liegen Chancen und Herausforderungen einer „Ausweitung des geistig-ästhetischen Horizontes.“73 Herausforderungen liegen darin, dass solche Alteritätserfahrungen zur „Auflösung verfestigter Sinnformen“ und zu „Desorientierung“ führen können beispielsweise durch die „Demontage von hegemonialen Sinnzwängen“74. Aus einer Irritation kann zwar eine gewünschte Erregung des Gemüts entstehen und diese in Bildungserfahrungen münden, doch entsteht gerade am Anfang eher Frustration und Ablehnung als Lustgewinn.75 Die Firma BioWare musste diese schmerzhafte Erfahrung machen, als sie nach der Vollendung des Computerspielepos Mass Effect in die Kritik geriet.76 Statt einer Komplexitätsreduktion sind Erzählungen und Spiele – bzw. Kunst im Allgemeinen – in der Lage, Kontingenz heraufzubeschwören.77 Dabei ist es ebenfalls Teil pädagogischer Arbeit, Texte und Medien auszuwählen, die zwar die Ausbildung neuer Muster reizen, aber den Heranwachsenden die Möglichkeit lassen, an bestehende Muster anzuknüpfen.78 Zusammen mit dem Gedanken, dass viele Heranwachsende sich über solche Erzählungen an die Realität annähern, die über Computerspiele (sowie Filme und Serien) vermittelt werden, bedeutet dies, dass dabei Geschichten von besonderem Wert sind, die sich an die Struktur, Form und Inhalt von Computerspielen anlehnen. Im Bereich der Leseförderung ist ein Anknüpfen an Stoffe oder Motive von Geschichten, welche die Schüler und Schülerinnen gerne rezipieren, bekannt. Berücksichtigt man die fachwissenschaftliche Perspektive auf Computerspiele, so könnte ein Anknüpfen an bekannte Muster auch bedeuten, dass Geschichten gewählt werden, die spielerisch organisiert sind oder die Spiel in Literatur bzw. Film verhandeln. Durch Die Schachnovelle79 von Stefan Zweig beispielsweise kann die Ebenenstruktur von Spielen thematisiert werden. Mit dem Blick auf die Funktion von Spiel in Yann Martels Ein Hemd des 20. Jahrhunderts80 tritt die Unmittelbarkeit von Spiel, von Szenarios oder Simulation in den Blick. Der Film Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt81 imitiert nicht nur Comic- und Computerspielästhetiken, sondern auch die Struktur der Organisation von Computerspielen indem hier u.a. Szenen in Form von Levels mit Endgegnern gestaltet wurden. Wie zuvor dargestellt, bilden Entscheidungen den speziellen narrativen Reiz an Computerspielen. Eine Thematisierung von Entscheidungen in Literatur, Film und Computerspiel kann den Blick auf medienspezifische Aspekte aller drei Medien eröffnen.

73 74 75 76 77 78 79 80 81

Baacke 2007, 73. Koschorke 2012, 11f. Zabka 2013, 474. Ausführlicher dargestellt wird die Empörung in: Schöffmann 2014. Vgl. Koschorke 2012, 11. Vgl. Zabka 2013, 474 mit Bezug auf Maiwald 2001 sowie Rosebrock 2001. Zweig 1942. Martel 2010. Wright 2010.

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Ästhetische Bildung und Medien der Differenz

Neben dieser „Ausweitung des geistig-ästhetischen Horizontes“82 geht es auch um Alteritätserfahrungen, die zu einem Aufbrechen von passiv konsumierenden Nutzungsmustern führen. Mediennutzung kann eine entlastende Funktion haben, beispielsweise wenn durch sie der Tag strukturiert wird (z.B. durch das Fernsehprogramm), wenn zu erledigende Aufgaben die eigenen Fähigkeiten fordern, aber nicht überfordern (in der Computerspielentwicklung spricht man hier vom Game Mechanic Zen), Rückmeldungen positiv und schnell erfolgen und dadurch leicht Kompetenzgefühle entstehen (z.B. durch Computerspiele) oder wenn bekannte Denk- und Wertemuster bestätigt und nicht in Frage gestellt werden (z.B. durch Krimis oder Seifenopern). Anders als eine aktive und bewusste Nutzung dieser Strukturen birgt eine passive und unreflektierte Nutzung mit dem Ziel der Entlastung die Gefahr, dass negative Reize durch akute Probleme oder anstehende Entwicklungsaufgaben allzu leicht durch die zuvor beschriebenen positiven Reize überdeckt werden. Ein solches dysfunktionales Verhalten endet im schlimmsten Fall in einer permanenten Steigerung des Medienkonsums, der alle anderen Freizeitaktivitäten und Handlungsoptionen einschränkt. Um solches Verhalten zu verhindern oder zu verändern, bedarf es einer aktiven Wendung. Marcel Schellong bringt diese Wendung in seinem Artikel „Spielkompetenz“ mit dem Satz auf den Punkt: „Man muss aufhören zu spielen, um überhaupt spielen zu können.“83 Nach Pfaller ist „die psychische Intensität, die durch das Spiel (…) hervorgerufen wird, (…) größer als die im übrigen Leben auftretenden Affektgrößen.“84 Diese Intensität verdankt das Spiel dem aktiven Prozess des Betretens einer Spielsphäre. Diese Spielsphäre besteht aus dem Wissen, sich in einem (Fiktions-)Raum zu befinden, der anders ist als das alltägliche Leben, diesem aber gleichzeitig mit einer Ernsthaftigkeit zu begegnen, die Huizinga als „Heiligen Ernst“85 bezeichnet.86 „Hört man nicht – oder nicht mehr – mit dem Spielen auf, dann fällt auch die Differenzierung in Alltagsernst und Spielernst und die mit dem heiligen Ernst des Spiels verbundene Lebenssteigerung weg. Das Spielen wird dann – um die Formulierung 87 des Heiligen weiterzuführen – tatsächlich profan.“

Heranwachsende müssen in ihrer Entwicklung die aktive Entscheidung für das Spielen (inkl. Erzählspielen) und das Nicht-Spielen erst erlernen, um kompetent mit Spielen umgehen zu können. Über Spiele und Geschichten handeln Kinder 82 83 84 85 86 87

Baacke 2007, 73. Schellong 2012. Pfaller 2002, 93. Huizinga 2009, 27. Pfaller 2002, 102–108. Schellong 2012.

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Wahrheiten aus und nähern sich darüber dem an, was Erwachsene als Realität verhandeln. Dennoch bleiben Spiele und Geschichten auch im Erwachsenenalter weiterhin Teil des Lebens. „Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen's und empfinden's freilich anders, aber gerade dies spricht dafür, daß es dasselbe ist – denn auch das Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren — als ob jedes etwas Neues brächte — und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den der wirklich ohne Mär88 chen und Spiel lebt, vorführen.“

In diesem Zitat aus Nietzsches Menschliches Allzumenschliches wird sowohl Huizingas Gedanke, die Kultur entstehe aus dem Spiel,89 als auch Koschorkes Diagnose von der narrativen Organisation des sprachlichen Weltzugangs des Menschen90 schon im 19. Jahrhundert zusammengedacht. Bestimmte Spiele und Erzählungen beanspruchen durch Wahrheitsrituale91 kulturellen und gesellschaftlichen Wahrheitsgehalt. Andere bilden Differenzräume zu diesen und werden als unwahre Aussagen – als ‚nur Spiel‘ oder ‚nur Märchen‘ – verhandelt, wodurch sie gleichsam die Verhandlung der ersteren als ‚Realität‘ bestärken. Doch genau aus dieser Abgrenzung zum Alltäglichen und ‚Realen‘ bekommen diese Spiele und Geschichten das Potential, lebensübersteigende Wirkungen herbeizuführen und entlastende Funktionen zu erfüllen, sofern sich die Rezipienten aktiv dafür entscheiden, eine Spielsphäre zu betreten. Wenn der Differenzcharakter allerdings durch übermäßige Nutzung wegfällt und Spiel sowie Erzählung zum Alltag werden, verschwindet damit auch die Intensität der Wirkung. Zusammenfassend liegen die Entwicklungsaufgaben Heranwachsender im Bereich Spiel also darin, sich einerseits ‚Wahrheiten‘ spielerisch und narrativ anzueignen und dabei Spiel von ‚Nicht-Spiel‘ unterscheiden zu lernen. Andererseits gehört es auch dazu, sich aktiv Spielen und Erzählungen zuzuwenden und immer wieder mit dem Spielen aufzuhören, um überhaupt spielen zu können. Das heißt, die Differenz zugunsten der ‚Realität‘ zu bestätigen und damit gleichzeitig die lebensübersteigernde Wirkung von Spiel und Narration zu erhalten. 88 89 90 91

Nietzsche 1879. Huizinga 2009. Koschorke 2012, insbesondere 17. Der Begriff des Wahrheitsrituals wird im diskurstheoretischen Sinne verwendet und verstanden als ritualisierte Bestätigung dessen, was als ‚wahr‘ und was als ‚Lüge‘, ‚falsch‘ oder einfach ‚unwahr‘ angesehen wird. Michel Foucault verwendet den Begriff in dieser Weise u.a. in Foucault 1977, 250. „Man muss aufhören die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ,zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ,verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“

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10 Unterhaltungsmedien und Bildung Neben den Eltern und der Schule vollzieht sich die Individuation, Sozialisation und Enkulturation Heranwachsender immer auch in der Öffentlichkeit, welche heute in hohem Maße medial geprägt ist.92 Darüber hinaus zeigt sich, dass unsere Weltwahrnehmung weniger von „unmittelbaren Erfahrungen produziert wird, sondern weitgehend durch mediale Aussagen bestimmt ist.“93 Dabei übernehmen Medien neben informierenden, meinungs- sowie persönlichkeitsbildenden und damit diskursiven Funktionen vor allem auch „Funktionen der Entlastung, der Entspannung und der Psychohygiene“94, nicht zuletzt durch eine oftmals lustvoll gestaltete Kontingenzreduktion innerhalb der narrativen oder ludischen Struktur von Medien. Die verhältnismäßig häufig in den Massenmedien diskutierte Sogwirkung gerade von Computerspielmedien unterstützt dabei potentiell eskapistisches Verhalten, das in seiner extremen Form suchtförmigen Charakter annehmen kann. Dieses Streben bzw. die Flucht vor der Alltagskomplexität in die Komplexitätsreduktion medial vermittelter Geschichten, Spiele oder ganzer Welten drückt in den eben thematisierten Fällen dysfunktionale Problemlösungsstrategien aus. Dabei wird hier explizit betont, dass eine zielgerichtete Erleichterung von den Anforderungen des Alltags eher als Kernkompetenz (post)modernen Lebens einzuschätzen ist denn als Zeitverschwendung oder deviantes Verhalten. Auch aus diesem Grund wurde diese zielgerichtete Mediennutzung im Zuge des ‚Kompetenzparadigmas‘ von Dieter Baacke und später durch Gerhard Rupp im Begriff der „Unterhaltungskompetenz“ gefasst.95 Obwohl beide auf die Dringlichkeit eines solchen Kompetenzkriteriums hinweisen, um eine rationalistische Verengung im Umgang mit Medien zu vermeiden, bleiben die Ausführungen dazu mit dem Hinweis auf die „Körperlichkeit des Menschen oder seine[r] Emotionalität“ vage.96 Die hier zusammengestellten Überlegungen sind als Ergebnisse von Diskussionen innerhalb des Kooperationsseminars im Rahmen des Projekts „Brückensteine“ und darüber hinausführenden Überlegungen zu verstehen und stellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder eine umfassende Modellierung einer solchen Kompetenz. Sie dienen vielmehr als Anregungen für weitere Diskussionen. Dabei wird der Begriff der Unterhaltungskompetenz so verstanden, dass er die Fähigkeit bezeichnet, Medien aktiv und zielgerichtet zur Freizeitgestaltung zum Beispiel zur Entlastung, Entspannung97 oder der Bekämpfung von Langeweile zu verwenden und damit auch den Bereich einer gesteigerten Affektivität umfasst.98 Ein Fehlen dieser Fähigkeit äußert sich in Problemen, bewusst mit freier 92 93 94 95 96 96 97 98

Vgl. u.a. Anselm 2012, 406. Baacke 2007, 73. Rupp 2011, 217. Rupp 2011, 217. mit dem Verweis auf Baacke 2007, 98ff. Baacke 2007, 100. Rupp 2011, 217. Vgl. Rupp 2011, 217. Vgl. Baacke 2007, 76.

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Zeit umzugehen, sie ‚produktiv‘ zu nutzen, um die eigenen Neigungen auszuleben, darüber hinaus die eigenen Neigungen nicht zu kennen und keinen Zugang zu ihnen zu finden. Mögliche Ausdrücke findet ein Mangel an Unterhaltungskompetenz in einer mehr oder minder stark eingeschränkten Auswahl an Optionen zur Freizeitgestaltung, einer „Verarmung unmittelbarer kommunikativer Kontakte und Tätigkeiten“ sowie der „Einschränkung der Lern- und Entwicklungschancen“99, einem Gefühl der Selbstentfremdung nach Hartmut Rosa100 oder einer exzessiven und darüber hinaus dysfunktionalen bzw. missbräuchlichen Mediennutzung. Es ist also festzuhalten, dass Computerspiele als Hybridstrukturen aus Spiel und Erzählung zur affektiven Aktivierung ihrer Spieler ein großes Potential mitbringen und damit geeignet sind, Momente der „Lebenssteigerung“101 herbeizuführen, sofern ein rezeptiver Zugang zum Medium gefunden wird. Neben der Unterstützung beim Finden eines solchen Zugangs durch eine Wahrnehmungsschulung für die spezifischen Zeichensysteme des Multimediums Computerspiel im Sinne einer „Computerspiellesefähigkeit“102 kann der Deutschunterricht einen Ort der Anschlusskommunikation bereitstellen und auf vielfältige Weise zur Reflexion103 und damit zur intellektuellen Distanznahme anregen. Verblüffend sind dabei die Gedanken des schon zuvor erwähnten Philosophen Robert Pfaller, der gerade in der Oszillation zwischen affektiver Involvierung und intellektueller Distanzierung zum Medium die spezifische Sogwirkung jeglichen Spiels verortet. „In dieser Abhängigkeit des affektiven Moments vom intellektuellen liegt das Verblüffende von Huizingas Entdeckung: Nur und gerade dann, wenn wir die Illusion des Spiels durchschauen, werden wir von dieser Illusion gepackt. Die Erkenntnis verhilft uns nicht zu emotionaler Distanz – im Gegenteil: Gerade unsere intellektuelle Distanzierung vom Spiel stößt uns in die affektive Verhaftetheit durch das Spiel. Um den Bann des Spieles zu brechen, müssten wir also versuchen, zu vergessen, 104 daß es nur ein Spiel ist.“

Die logische Konsequenz dieser Feststellung würde bedeuten, dass der Deutschunterricht durch die Steigerung der Fähigkeit zur intellektuellen Distanznahme sogar einen Beitrag zur emotionalen Involviertheit dem Medium gegenüber leisten kann und auf diese Weise eine Unterhaltungskompetenz in Bezug auf Computerspiele fördert. Dabei ist zu betonen, dass aus einer forciert kognitiven Auseinandersetz99 100 101 102 103

Baacke 2007, 76. Vgl. Rosa 2013. Scheffer 2004. Kringiel 2009. Michael Baum stellt in seinem Artikel über „Verstehen und Nicht-Verstehen“ den Umgang mit Literatur im Verhältnis zu verschiedenen Literaturtheorien wie der Hermeneutik, der Systemtheorie und der Dekonstruktion aus der Sicht des Deutschunterrichts dar und liefert damit einige Anregungen für Reflexionsansätze. Baum 2013. 104 Pfaller 2002, 15.

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ung mit einem Gegenstand weder eine ‚Sucht‘ entsteht, noch ein emotionaler Zugang geschaffen wird – worin oftmals ein Problem in der Beschäftigung mit Literatur im Deutschunterricht begründet liegen könnte. Vielmehr kann aus einem emotionalen Zugang zu einem Gegenstand mit der Möglichkeit einer intellektuellen Distanzierung ein noch größerer Sog entstehen, der in der Lage ist, – so zumindest die Behauptung – den Genuss an der Medienrezeption noch zu erhöhen. Auf diese Weise wird deutlich, dass eine Sogwirkung per se noch keine negativen Konsequenzen wie ‚Sucht‘ nach sich ziehen muss. Im Kontext anderer Medien wird sogar institutionell darauf hin gearbeitet, dass Heranwachsende die Fähigkeit entwickeln, eine solche Sogwirkung bewusst herbeizuführen und sich dieser auszuliefern.

11 Literarische Kompetenz und Verstehen Eine Begeisterung für die zeichenhafte Gestaltung des Mediums Literatur und die darüber vermittelten Geschichten hervorzurufen, ist eine der Hauptaufgaben der Leseanimation im Deutschunterricht und Teil deutschdidaktischer Forschung mit dem Ziel, Lesekompetenz zu fördern.105 Diese spezifische Förderung von sowohl kognitiven Fähigkeiten als auch Affektivität erfolgt nicht zuletzt aus dem Wissen um die Bedeutung des „Zusammenwirken[s] emotionaler und kognitiver Komponenten“ im „Prozess(…) der literarischen Bedeutungskonstitution“106. Diese im Stufenmodell der Lesekompetenz als besonders hoch eingeschätzte Kompetenzstufe wird als „literarisches Verstehen“107 oder „literarische Kompetenz“108 bezeichnet und als ein Ziel gelungener Lesesozialisation angesehen. Mit der Förderung der Fähigkeit, sich gezielt der Sogwirkung des Mediums Literatur hinzugeben, wird demnach – neben der impliziten Leseförderung durch ‚Viellesen‘ und ‚Gernlesen‘– die Hinführung zu einer spezifischen Form des Verstehens sowie die Befähigung einen „ästhetisch-reflektierten, distanzierten Genuss sensu Adorno“109 bei der Rezeption empfinden zu können, verbunden. Besonders interessant ist, dass sich Ursula Christmann und Margrit Schreier an dieser Stelle ihres Artikels ausdrücklich davon distanzieren, eine Wertung zwischen dem eben erwähnten ästhetischen Genuss und den „eskapistischen Formen der Rezeption“110 in ihrer Rolle für die literarische Bedeutungskonstitution zu treffen. Unter Umständen entsprechen sich die beiden Phänomene doch mehr als die Verwendung der beiden Begriffe vermuten lässt. Der These, dass Formen des Eskapismus durch die dargestellte Steige-

105 106 107 108 109 110

Vgl. Rosebrock/Nix 2008, 90–113. Christmann/Schreier 2003, 273. Boelmann 2015. Pissarek/Schilcher 2013. Christmann/Schreier 2003, 274. Christmann/Schreier 2003, 274.

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rung der Genussfähigkeit in Form einer „Spielkompetenz“111 produktiv gewendet werden können, sollte in jedem Fall nachgegangen werden. Immer mehr deutschdidaktische Forschungsarbeiten stellen die Bedeutung des literarischen Verstehens und von literarischen Kompetenzen für Heranwachsende auch damit heraus, dass sie Überlegungen anstellen, wie diese ebenfalls über andere Medien als die Literatur vermittelt werden können112 oder wie die Vermittlung literarischen Verstehens oder von literarischen Kompetenzen durch andere Gegenstände ergänzt oder unterstützt werden kann.113 Dabei wird die durch ‚literarische Verstehensprozesse‘ entstehende (angenommene) Form des Denkens als grundsätzliche für das Verstehen medialer Produkte angesehen, die sich lediglich in ihrer zeichenhaften Gestalt unterscheiden. Der Begriff des ‚Literarischen‘ bezeichnet damit eher eine historische Herleitung dieser Verstehensprozesse vom Umgang mit der Literatur kommend statt eines Spezifikums des kompetenten und kultivierten Umgangs mit Medien insgesamt, das ‚am besten‘ durch die Literatur vermittelt werden könne. Vielmehr rechtfertigt sich das ‚Primat der Literatur‘ im Deutschunterricht auch „im Zeitalter ihrer Verzichtbarkeit“114 dadurch, dass Lesen als Kulturtechnik weiterhin als Schlüssel zur Medienkultur verstanden wird115 und das Erlernen dieser Fähigkeit mit einer Linearisierung des Denkens bzw. einer Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken in Verbindung gebracht wird.116 Dieser Festlegung soll an dieser Stelle nicht grundlegend widersprochen werden, da die Leseförderung eine wichtige schulische Aufgabe ist und bleiben sollte. Lediglich der Hinweis auf Michael Wagners Gedanken, dass durch die im digitalen Bereich entstandenen „Neue[n] Leseräume“ neue Formen der Lesekompetenz gefordert sein könnten, soll an dieser Stelle erfolgen.117 Eine theoretische Aufarbeitung und empirische Prüfung von Wagners Ansatz fehlen bisher, doch ist nicht ausgeschlossen, dass die Neuen Medien neue Anforderungen an eine Lesekompetenz stellen, die im schulischen Kontext bisher kaum bzw. nicht systematisch gefördert werden.

111 Schellong 2012. 112 Z.B.: Boelmann 2015. 113 So zum Beispiel Kapitel 2 Lesen und Verstehen im medialen Kontext in Frederking/Krommer 2013. 114 Brenner 2014. 115 Vgl. Baacke 2007, 72. mit Verweis auf die zweibändige Untersuchung zu „Lesesozialisation“ der Bertelsmann Stiftung. Hurrelmann u.a. 1993. 116 Vgl. Zabka 2013, 459. 117 Wagner 2008 und Wagner 2008, 80 ff.

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Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel 1

Drei Brücken

Im folgenden Beitrag wird ein Projekt vorgestellt, das in mehrerlei Hinsicht Brücken in der universitären LehrerInnenbildung bauen und begehen konnte. Für die Entwicklung von Lern-Materialien wurden drei englischdidaktische Kurse am Lehrstuhl für die Didaktik der englischen Sprache und Literatur der LudwigMaximilians-Universität forschungs- und praxisorientiert ausgerichtet. Die Verschränkung sowohl disziplinärer als auch institutioneller Anforderungen wurde durch das am Lehrstuhl entwickelte Seminarformat „Lernwerkstatt“ gefördert und brachte den beteiligten Lehramtsstudierenden der Anglistik und Amerikanistik gewinnbringende Erfahrungen. Die erste Brücke verband Universität und Schule. Die entwickelten Lernmaterialien wurden für die Schule entwickelt und dort erprobt und diese Erfahrungen wiederum forschungsorientiert reflektiert. Die zweite Brücke wurde zwischen den Inhalten der an LehrerInnenbildung beteiligten Fächer geschlagen, namentlich der Fachwissenschaft, der Fachdidaktik und pädagogischen Konzepten. Inhaltlich beschäftigten sich die Studierenden zunächst mit Binnendifferenzierung und Individualisierung von Englischunterricht, was selbst wiederum starke Referenzen in die Pädagogik und allgemeine Didaktik hat, um dann fachdidaktische Lerntheorien und Konzepte in den Lernmaterialien umzusetzen. Die dritte Brücke schließlich wurde auf der persönlichen Ebene gebaut – zwischen den Studierenden untereinander sowie den Studierenden und LehrerInnen. Die drei Brücken (zwischen Schule und Universität; zwischen den lehrerbildenden Fächern; und zwischen den Studierenden) werden im Folgenden an Hand der inhaltlichen sowie hochschuldidaktischen Gestaltung des Projektes erläutert. Die besondere Rolle der Lernmaterialien wird dabei herausgearbeitet.

2

Kurzprofil des Projektes „Gestaltung und Erprobung von Lernmaterialien“

Im Rahmen von drei Lernwerkstätten bzw. wissenschaftlichen Übungen der Englischdidaktik erarbeiteten die teilnehmenden Studierenden mehr als 35 LernMaterialien zu den Bereichen Aussprache- und Hörschulung (Sommersemester 2012) sowie insbesondere Wortschatz- und Grammatikvermittlung, aber auch Sprechfertigkeit, Literatur und interkulturelles Lernen (Wintersemester 2012/13).

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Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

Diese wurden nach einer Erprobungsphase in den Veranstaltungen selbst in mehreren Mittelschul- und Gymnasialklassen an Hand von Schüler- und Lehrerfragebögen sowie in Gesprächen mit den LehrerInnen evaluiert. Die Kooperation mit einer bereits offen arbeitenden Schule, der Montessori-Schulen Biberkor (Hauptschule und Gymnasium), war für die Studierenden eine bereichernde Erfahrung, für das Projekt ein immenser Gewinn. In den Kooperationsprojekten wurden die Studierenden zunächst theoretisch mit dem Thema Binnendifferenzierung und den Kriterien für gutes Lern-Material 1 vertraut gemacht. Die Arbeit mit Lernaufgaben, die bei uns zu Lern-Materialien für die Freiarbeit weiterentwickelt wurden, hat sich auch in früheren Studien als sehr förderlich für fremdsprachliche Lernprozesse erwiesen.2 Die Entwicklung solcher Materialien bietet außerdem einen guten Ansatzpunkt für erste Forschungsprojekte3 im Sinne der Handlungsforschung (Action Research).4

3

Lernort: Erste Phase der LehrerInnenbildung (wissenschaftlicher Habitus, Binnendifferenzierung erproben, frühe positive Kooperationserfahrungen)

Die Orientierung an den unterschiedlichen Lernbedürfnissen und -potentialen der SchülerInnen und die Gestaltung geeigneter Lehr- und Lernmethoden sowie -materialien bilden eine immer wichtiger werdende und gleichzeitig komplexe Anforderung an LehrerInnen.5 Bereits Lehramtsstudierende sollten auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Die erste Phase der Lehrerbildung bietet dabei aus mehrerlei Gründen einen günstigen Zeitpunkt, was anschließend knapp argumentiert wird. Ohne den Bewertungsdruck des Referendariats und den Handlungsdruck der Berufspraxis6 können Möglichkeiten der Differenzierung schon während des Studiums in der Praxis erprobt und reflektiert werden. Durch die Koppelung von fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Reflexion und der konkreten Gestaltung und Erprobung von Lernmaterial für die Schulpraxis gewinnen diese Lernerfahrungen für die Studierenden an Tiefe. Die hochschuldidaktische Gestaltung des Seminars „Lernwerkstatt“ wird weiter unten näher diskutiert. Doch nicht nur in fachlicher Hinsicht ermöglicht das Projekt wichtige positive Lernerfahrungen für die Studierenden. Die dritte Brücke im Projekt war eine persönliche. Durch frühe positive Kooperationserfahrungen werden förderliche Grundlagen für die spätere Kooperation unter KollegInnen und damit für eine positive Kultur der Schulentwicklung gelegt. Die in vielen Schulen praktizierte 1 2 3 4 5 6

Vgl. z.B. Scholz 2010, Klein-Landeck 2004, Thaler 2008. Vgl. Klein-Landeck 2004, Müller-Hartmann u.a.. 2011. Vgl. Dörnyei 2009. Vgl. Altrichter und Feindt 2011. Vgl. Kuty 2009, Klippert 2010. Vgl. Wahl 2001.

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

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Tradition der geschlossenen Klassentüren führt dazu, dass Kooperationen selten stattfinden und dass sie, wenn sie gegeben sind, sich hauptsächlich auf den Austausch von Materialien beschränken.7 Das auch von den Rahmenbedingungen und der Handlungsstruktur von Unterricht bedingte „Paritäts-Autonomie-Muster“8 gilt weithin als „Innovationsbarriere“9. Doch gerade für die Reflexion und Weiterentwicklung des Unterrichts eignet sich der fokussierte Austausch mit KollegInnen in hohem Maße und aus vielerlei Gründen.10 Gräsel (2011) zeigt, dass die Bereitschaft und Motivation für Kooperation unter LehrerInnen vor allem von guten Vorerfahrungen abhängig ist. Die positiven Erfahrungen, von welchen die angehenden Englischlehrerinnen und -lehrer im Projekt berichteten, sind deshalb sehr erfreulich. Damit das Seminar motivierend für künftige Kooperationen wirken kann, erklärten sich alle Studierenden bereit, die Vorlagen und Beschreibungen der Materialien den Schulen sowie allen KursteilnehmerInnen zur Verfügung zu stellen. Jede(r) Studierende erhielt zu Seminarende eine DVD mit allen Materialien, den Präsentationen der Forschungsprojekte und Fotos aus der Schule. Im Folgenden wird nun in Abschnitt 3.1 das Verständnis von Lernmaterial im Projekt und in 3.2 die Verschränkung des inhaltlichen Lernens erläutert, bevor in Kapitel 4 die hochschuldidaktische Konzeption des Seminars "Lernwerkstatt" zur Erarbeitung von Lernmaterial vorgestellt wird. 3.1

Lernmaterialien als Beispiel für Binnendifferenzierung

Die Entscheidung für differenzierende Maßnahmen ist für viele LehrerInnen oft 11 deswegen schwierig, weil geeignete Materialien fehlen , die ein tatsächliches individuelles Lernen in diesen Phasen erlauben. Es kann dabei nicht (nur) um zusätzliche Übungen gehen. Diese sind in Hülle und Fülle vorhanden. Reine Übungsmaterialien bieten SchülerInnen, die noch Verstehens- und Lernbedarf haben, keine Möglichkeit, Lerndefizite auszugleichen. Solange die Lerninhalte, wie etwa grammatische Strukturen, nicht verstanden oder konzeptualisiert werden konnten, stellen die dazu gehörigen Anwendungsübungen eine Überforderung dar. Während also für lernstarke SchülerInnen Zusatzaufgaben durchaus sinnvolle Übungssituationen liefern, muss für lernschwächere Schülerinnen und Schüler dieses Angebot um Arbeitsmaterial ergänzt werden, mit dem sich der Lernstoff nochmals auf anderen Wegen und in eigenem Tempo erarbeiten lässt. Daher muss das zu gestaltende Material als Lern-Material dienen können.

7 8 9 10 11

Vgl. Gräsel 2011. Lortie 1975. Altrichter/Eder 2004. Vgl. Wipperfürth in Vorb. Vgl. Kuty 2012.

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Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

Materialkriterien Maria Montessori hat ihre Lernmaterialien als „Schlüssel zur Welt“12 bezeichnet. Am Begriff des Schlüssels lässt sich die Schwierigkeit, geeignete Lernmaterialien zu erstellen, sehr gut veranschaulichen: Um Schlüssel genauso wie Lernmaterialien herzustellen, braucht es geschulte, erfahrene und kreative Meister eines Faches. LehrerInnen – als pädagogisch-didaktische Fachpersonen – konzipieren und stellen Werkzeuge in Form von Lernmaterialien her, mit deren Hilfe sich die SchülerInnen ihre und unsere Welt selbst „er-schließen“ können. Dabei sollen Lerninhalt und Lernbedürfnis so gut wie möglich zusammenpassen – wie bei Schlüssel und Schloss. Nun finden sich aber Schlüssel nicht als natürliche Ressource in der Welt vor. Es bedarf geschulter Handwerksmeister und -meisterinnen, geeignete Schlüssel geschickt und sorgfältig herzustellen. Das ist eine mühsame Arbeit, die auf praktischen Erfahrungen mit Lernerfolgen und -problemen und vor allem einer fundierten Ausbildung gründet. Über diese Tatsache kann auch die schier überwältigende Masse an Unterrichtsmaterialien der Verlage nicht hinwegtäuschen. Das merkt man spätestens dann, wenn man zum Teil enttäuscht feststellen muss, wie wenig sich von dieser Angebotsfülle unmittelbar in den eigenen Unterricht umsetzen lässt. Denn auch für die Einführung und Verwendung der angebotenen Materialien sind wieder Wissen, Lernbereitschaft und Experimentierfreude nötig. Zum Kern der Berufskompetenzen von LehrerInnen gehört es, Lernmaterialien zu konzipieren, sie herzustellen und sinnvoll in den Unterricht einzubinden, die Arbeit damit zu begleiten und deren Einsatz zu reflektieren. In der folgenden Darstellung werden vor allem diejenigen Materialkriterien knapp behandelt, die bei der Konzeption von englischen Lernmaterialien wichtig 13 sind und die deshalb in den Lernwerkstätten ausführlich behandelt wurden. Weitere Kriterien wie Selbstbestimmung, Übung, Begrenzung, Verknüpfung und Kohärenz mit anderen Materialien betreffen vor allem die Arbeit mit den Materialien in der Freiarbeit im Englischunterricht. Materialkriterien auf einen Blick (1) (2) (3) (4) (5) (6)

12 13

Wissenschaftlicher Charakter Isolierung einer Eigenschaft Aktivität Aufforderungscharakter Selbstkontrolle Kommunikative Rückbindung

Montessori 1967, 33. Vgl. auch Klein-Landeck 2009.

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

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Kriterium: Wissenschaftlicher Charakter Lernmaterialien sollten wissenschaftlichen Charakter haben, was zunächst nichts anderes heißt, als dass sie einen Lerninhalt sachgerecht und dem aktuellen Wissensstand entsprechend abbilden. Das Kriterium bezieht sich aber auch auf die Arbeitsweise mit dem Material: Die Lernenden sollen methodisch mit dem Material arbeiten können, eigene Hypothesen aufstellen, sie testen und überprüfen können. Für den ersten Schritt bedarf es einer Reflexion der Relevanz des Lerninhaltes. Kriterium: Isolierung Auf der Grundlage einer Beschäftigung mit dem Lerninhalt lassen sich dann die „Schlüssel“-Informationen aus diesem Lernbereich finden. Welche Information, also welches Wissen oder welche Fähigkeit, brauchen die Lernenden, um sich selbst weitere Inhalte zu erschließen oder ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln? Je genauer diese Frage zu beantworten ist, desto besser lassen sich Lernaufgaben konzipieren. Diese Reduzierung auf das Wesentliche, d.h. die Elementarisierung, ist vielleicht der wichtigste Schritt in der Konzeption geeigneter Lernmaterialien. Kriterien: Aktivität, Aufforderungscharakter und Selbstkontrolle Die Wörter „be-greifen“ und „er-fassen“ lassen erkennen, dass tätiges Lernen, Lernen durch Tun für nachhaltige Lernprozesse förderlich ist. Vergleichen, Zuordnen und Ordnen, Aufdecken oder Umdrehen und Umgestalten schaffen visuelle Reize und Anschaulichkeit. Diese Tätigkeiten sollten so nah wie möglich am Lerninhalt orientiert sein. Damit möglichst viele SchülerInnen gut mit dem Material arbeiten können, sollte das Material robust und ansprechend gestaltet sein. Schön gestaltetes Material motiviert damit zu arbeiten. Es steigert die Wertschätzung und schafft damit wichtige Grundlagen dafür, dass die SchülerInnen achtsam, gerne und oft damit arbeiten. Durch die Selbstkontrolle erhöht sich die Verantwortung für das eigene Lernen. Wenn es der Lerninhalt zulässt, sollte die Selbstkontrolle so stark wie möglich im Material selbst liegen – zum Beispiel durch das Sortieren von 15 Wörtern in fünf Lautgruppen mit je drei Wörtern. Möglich ist auch ein Lösungsblatt, das zum Beispiel an einer anderen Stelle im Klassenzimmer platziert ist, so dass durch den kurzen Weg zwischen Übung und Lösung die Hemmschwelle erhöht wird, zu früh mit der Lösung zu arbeiten und gleichzeitig die Konzentrationsfähigkeit trainiert 14 wird.

14

Vgl. Wunsch 2009.

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Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

Kriterium: Kommunikative Rückbindung Gerade für englischsprachige Lernmaterialien gilt, dass diese besonders stark in den Sprachunterricht integriert und kommunikativ rückgebunden werden müssen, da das Leitziel des Fremdsprachenunterrichts in der kommunikativen Kompetenz liegt. Der mündliche Gebrauch der Fremdsprache und die zunehmend flüssige Anwendung (Automatisierung) müssen ständig geübt werden. Auch wenn die Lernmaterialien zunächst für den Einsatz in der Montessorischule entwickelt wurden, war die Einbindung der Materialien in den Englischunterricht an Regelschulen ebenfalls Thema der Lehrveranstaltung. Außerdem war die Verwendung der Lernmaterialien in der Regelschule Gegenstand einiger studentischer Forschungsprojekte, welche die Materialien noch während des Seminars an Regelschulen erprobten und ihre Ergebnisse ebenfalls im Seminar präsentierten. Die Gestaltung von Freiarbeit bzw. zunehmende Differenzierung und Individualisierung von Englischunterricht im Regelschulwesen konnten in diesem Rahmen diskutiert werden. 3.2

Brennpunkt Lernmaterial: Verbindung pädagogischen, fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Wissens

Im Zentrum der Arbeit in der Lernwerkstatt stand die Gestaltung und Erprobung von Lernmaterialien. Sie diente als Brennpunkt – hier trafen sich die theoretische Vorarbeit in der ersten Hälfte der Seminare auf der einen und die praktische Erprobungsphase mit den SchülerInnen auf der anderen Seite. Die Präsentation und Erarbeitung von Wissen im Seminar wurde so aufgebaut, dass sie der theoretischen Konzeption von fachdidaktischem Wissen von Shulman (1987) folgt. Shulman (1987) verwendet für fachdidaktisches Wissen den Begriff pedagogical content knowledge. Dabei geht er auf die Bedeutung des Wissens aus den Teildisziplinen der LehrerInnenbildung ein und hebt ihre Wechselwirkung hervor: „(…) pedagogical content knowledge is of special interest because it identifies the distinctive bodies of knowledge for teaching. It represents the blending of content and pedagogy into an understanding of how particular topics, problems, or issues are organized, represented, and adapted to the diverse interests and abilities of 15 learners, and presented for instruction.“

Fachdidaktisches Wissen ist für Shulman (1987) das Resultat eines Entwicklungsschritts für LehrerInnen, nämlich „from being able to comprehend subject matter for themselves, to becoming able to elucidate subject matter in new ways, reorganize and partition it, clothe it in activi-

15

Shulman 1987, 8.

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

191

ties and emotions, in metaphors and exercises, and in examples and demonstra16 tions, so that it can be grasped by students.”

Die Studierenden der Lernwerkstatt waren in der Regel im 6. bis 8. Studiensemester und verfügten insofern bereits über eine Wissens- und Erfahrungsbasis in allen Fächern sowie erste schulpraktische Erfahrungen. Die theoretische Arbeit im Seminar konnte also sowohl in der Pädagogik, der Fachwissenschaft und der Fachdidaktik an Vorwissen anknüpfen. Die Arbeit an Lernmaterialien soll helfen, dieses Wissen durch die Konzeption und anschließende Erprobung der Lernmaterialien in der Praxis zunehmend zu vernetzen. Indem er die Metapher des Amalgams von Shulman (1987) aufgreift, beschreibt auch Neuweg17 die Rolle des fachdidaktischen Wissens innerhalb der Gesamtheit von Lehrerwissen als Integrationswissen, denn in ihm kommen, wie oben ausgeführt, die anderen beteiligten Wissensbereiche zusammen und erlangen ihre Relevanz. Dass die Entwicklung von fachdidaktischer Kompetenz – im Sinne der zunehmenden Integration der relevanten Wissensbereiche – ein kontinuierlicher Prozess ist, visualisieren Cochran u.a. (1993) in Abbildung 1:

Abbildung 1: Fachdidaktisches Wissen als Integrationswissen: A Developmental Model of Pedagogical Content Knowing Aus: Cochran et al. 1993: 268.

Inwiefern die Integration der relevanten Wissensbereiche in den Lernwerkstätten gefördert wurde, stellt das folgende Kapitel heraus. 16 17

Shulman 1987, 13. Neuweg 2011, 461.

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4

Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

Hochschuldidaktik: Praxisorientierte und dialogische Lernarbeit in der Lernwerkstatt

Das Seminarkonzept ‚Lernwerkstatt‘ wurde im Rahmen der Umstellung auf das Bachelor/Master-System in der Münchener Englischdidaktik entwickelt. In dieser Veranstaltung sollen sich die Lehramtsstudierenden anhand eines konkreten Teilgebiets des Englischunterrichts – z.B. Wortschatzvermittlung, Fertigkeitstraining, Textarbeit oder Ausspracheschulung – mit dem fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Forschungsstand zum Thema befassen, um dann auf dieser Basis Handlungsoptionen und Materialien zu entwickeln und zu erproben. Das Seminar wurde entlang der folgenden Schritte organisiert: 4.1

Schritte der Materialentwicklung

1. Einführung in pädagogische und fachdidaktische Theorien zu Binnendifferenzierung, Lernschwierigkeiten, offenem Lernen und Diagnostik 2. Wiederholung einschlägiger fachdidaktischer Theorien zu Lernprozessen in den jeweiligen Teilbereichen 3. Analyse bereits vorhandenen Lernmaterials; Veranschaulichung der Materialkriterien 4. Fachwissenschaftliche Erarbeitung der Lerninhalte (Isolierung): exemplarisch für Aussprache gemeinsam im Kurs, dann in Kleingruppen für das jeweilige Material 5. Dialogische Lerngespräche während der Materialentwicklung in mindestens zwei ausführlichen persönlichen Gesprächen mit der Dozentin und an Hand der ‚didaktischen Analyse‘ (siehe Anhang) 6. Erarbeitung von Forschungsfragen 7. Erprobung und Evaluation der Materialien an der Schule, Datengenerierung: Befragung von LehrerInnen und SchülerInnen 8. Präsentation der Ergebnisse und des Materials im Kurs, Diskussion und Reflexion Für den Kontakt zwischen Universität und Schule greift man auf bestehende Verbindungen zu Praktikumsschulen und Seminarschulen zurück, um so auch die Brücke zur zweiten Ausbildungsphase schlagen zu können. Die Universität sucht dabei nicht nur die Zusammenarbeit mit den staatlichen Regelschulen. In der Lernwerkstatt zu englischen Freiarbeitsmaterialien kooperierten die Studierenden mit den Montessori-Schulen Biberkor. Normalerweise stellt die Universität keine finanziellen Mittel für die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien in der akademischen Lehre zur Verfügung. Über das Programm „Lehre@LMU“ konnten jedoch erfolgreich Gelder für jede der drei durchgeführten Lernwerkstätten eingeworben werden. Mit dem Fördergeld wurde vor allem die zum Teil aufwendige Gestaltung der Unterrichtsmaterialien finanziert.

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

193

Zwei Aspekte waren von besonderer Bedeutung: die Kriterienorientierung bei der Materialentwicklung und die dialogische Lernarbeit, also die regelmäßige Gelegenheit, in längeren Einzelgesprächen mit der Dozentin den Lernfortschritt zu reflektieren und Anleitung zu erhalten. 4.2

Kriterienorientierung

Wichtig war die strukturelle Anleitung für die Studierenden. Zu diesem Zweck wurde ein didaktischer Analysebogen entworfen, der im Anhang einsehbar ist. Orientiert war diese Anleitung an den Kriterien, die an Montessori-Freiarbeitsmaterialien angelegt werden (siehe oben). Dabei bieten die Materialkriterien eine klare Orientierung für die Gestaltung von Materialien, welche das eigenständige Erlernen und Vertiefen von Lerninhalten fördern. Die Erarbeitung der Materialien wurde stets leichter, weil immer mehr Materialien als best practice-Beispiele zur Verfügung standen. 4.3

Dialogische Anleitung

Eine Illustration aus der Optik hilft, die wesentliche Rolle der Lernmaterialien als integrierender und fokussierender Teil der Seminararbeit zu veranschaulichen. Sie dienten als Brennpunkt oder ‚Fokus‘ der Lernarbeit.

Abbildung 2: Lernmaterialien als Brennpunkt der LehrerInnenbildung.

Für die eigenständige, aber begleitete Erstellung der Lernmaterialien mussten die Studierenden ihr fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen nutzen und konnten auf Vorerfahrungen und bestehendes Lernmaterial zurückgreifen. Die Konzeption des Seminars half, dieses Wissen zunehmend zu aktivieren, welches in der Mehrheit der universitären Lernformen separat voneinander

194

Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

erlernt und gebraucht wird. Diesen Aspekt veranschaulichen die parallelen ‚Lichtstrahlen‘, deren Parallelität während und durch die Seminararbeit – hier als Linse symbolisiert – gebrochen wird. Die Studierenden hatten nach der Erarbeitung bzw. Wiederholung der relevanten Theorien Zeit für dialogische Rückmeldung der Dozentin. In zwei verpflichtenden Sprechstunden sowie bei Bedarf in bis zu acht Besprechungen, die teilweise auch vor, während oder nach den Seminaren stattfanden, wurden Schwierigkeiten und Lösungen bei der Konzeption der Materialien besprochen. In diesen Gesprächen konnten Unterschiede bei der gelingenden Integration der Wissensbereiche sehr gut beobachtet werden. Die stark fokussierende Wirkung der Arbeit am konkreten Material half, die Relevanz von pädagogischen, fachlichen oder fachdidaktischen Theorien und Konzepten nochmals zu verdeutlichen und zu intensivieren. Hier erhielten die Studierenden Gelegenheit, ihre individuellen Lernschritte ‚gebündelt‘ zu verbalisieren und zu reflektieren. Schließlich ergaben sich durch die Erprobung der Materialien, deren Evaluation und gemeinsame Reflexion wiederum vielseitige neue Lernerfahrungen für die Studierenden, die SchülerInnen und LehrerInnen, was durch die wieder auseinandergehenden ‚Lichtstrahlen‘ symbolisiert ist. Das Kooperationsprojekt wurde sowohl von den Studierenden als auch den beteiligten LehrerInnen sehr positiv bewertet. (Aktuell erarbeiten Studierende an der Paris-Lodron-Universität Salzburg in einem sehr ähnlichen Seminarformat erfolgreich Lernmaterialien für den Englischunterricht.)

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

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196

6

Manuela Wipperfürth, Friederike Klippel

Anhang

Didaktischer Kommentar für das Material: AutorInnen: _____________________________________________ Lernzielbereich: __________________________________________ (1a) Fachliche Analyse des Phänomens – Lernziel Analyse des sprachlichen Phänomens (Analyse sprachwissenschaftlichen 18 Wissens ; Reflexion der kommunikativen Bedeutung, Regeln, Konsequenz aus Fehlern?)

Abgrenzung zu anderen verwandten Phänomenen (Isolierung des Phänomens)

(1b) Fachdidaktische Analyse des Phänomens – Lernprozess Leitfragen können sein: a) Was ist daran für die SchülerInnen schwierig? (Was sagt die Didaktik dazu?) b) Wie sind andere Didaktiker und Schulbuchautoren/Materialautoren an dieses Problem rangegangen? Welche positiven oder auch negativen Beispiele für Übungen oder Erklärungen finden Sie? Was ist daran gut/schlecht? Analyse didaktischer Erkenntnisse zum Erlernen dieses Phänomens Herausforderung des behandelten Phänomens; typische Lernschwierigkeiten (deutschsprachiger) Englischlerner

Nötige Vorkenntnisse (Was müssen die SchülerInnen ggf. bereits beherrschen: Techniken und Strategien, Sprachliches Niveau, IPA)

18

Ggf. literatur- oder kulturwissenschaftlichen Wissens.

Brennpunkt Lernmaterial: Praxisnahe fachdidaktische Lehre in der Lernwerkstatt

(2) Umsetzung im Material Kurzbeschreibung des Materials: Was wird wie an Hand welcher Materialien/Übungsformen gelernt?

– Material (Medien):

– Arbeitstätigkeiten der Schüler (sortieren, sammeln, …)

– Sozialform: Wie viele SchülerInnen können damit arbeiten? Gibt es Alternativen?

– Zeit (ca.):

– kognitive Hilfen (farbliche Gestaltung, Symbole, etc.)

Selbstkontrolle durch:

197

Vernetzt und lebenslang lernen und lehren Das „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“ Julia Lutz 1 1.1

Einblicke Erste Szene:

Eine Musikstunde in einer Grundschulklasse in München, dritte Jahrgangsstufe. Den Unterricht führen heute drei Personen gemeinsam durch: eine Lehramtsanwärterin – sie unterrichtet die Klasse seit diesem Schuljahr in Mathematik, Deutsch, Englisch und Kunst – und zwei Studentinnen des Lehramts Grundschule mit Didaktikfach Musik. Für alle Beteiligten ist die Situation spannend. Lassen sich die Schüler1 für die gewählte Thematik begeistern, sind sie beim Vertonen von Filmausschnitten mit Instrumenten und Alltagsgegenständen so motiviert, wie es die drei Lehrenden bei der Auswahl des Unterrichtsinhalts angenommen haben? Ergeben die geplanten Unterrichtsbausteine bei der Umsetzung in die Praxis eine schlüssige Gesamtkonzeption? Wie reagieren die Schüler auf die beiden Studentinnen, die sie heute das erste Mal unterrichten? Kann die Zeitplanung eingehalten werden? Wird es in den Phasen des Experimentierens und Improvisierens mit den verschiedenen Klangerzeugern nicht zu laut? Aus Sicht der Lernenden und der Lehrenden gäbe es noch viele Fragen zu stellen, und allen Beteiligten ermöglicht diese Situation viele neue Erfahrungen. Die Schüler haben im Musikunterricht schon zahlreiche Lieder gesungen und verschiedene Komponisten kennengelernt, die Vertonung von Ausschnitten aus einem ohne Ton dargestellten Zeichentrickfilm hingegen eröffnet ihnen einen ganz neuen Bereich musikalischer Aktivitäten. Die Studentinnen haben in Lehrveranstaltungen bereits mehrere Unterrichtsstunden geplant, diese hier ist die erste Musikstunde, die sie in die Praxis umsetzen. Die Lehramtsanwärterin hat Musik nicht als Fach studiert; sie ist sehr gespannt, welche neuen Facetten ihrer Rolle als Lehrerin sie beim Musikmachen mit ihrer Klasse entdecken kann. 1.2

Szenenwechsel. Zweite Szene:

Eine Lehrveranstaltung am Institut für Musikpädagogik der Ludwig-MaximiliansUniversität (LMU) München. An diesem Nachmittag ist die Seminargruppe fast 1

Bei der Verwendung maskuliner Personenbezeichnungen ist in diesem Text die jeweils feminine Form ebenso gemeint.

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doppelt so groß wie an den vorangegangenen Terminen – außer den 20 Studierenden des Lehramts Grundschule nehmen heute noch zehn Grundschullehrerinnen teil. Sie besuchen den Kurs „Basisqualifikation Musik“ an insgesamt vier Terminen im Semester als Fortbildungsreihe. Gemeinsam ist allen Anwesenden: Sie haben Musik nicht als Studienfach gewählt und unterrichten das Fach bereits jetzt oder zukünftig fachfremd. Die vier gemeinsamen Termine sind dem Musizieren mit OrffInstrumenten gewidmet, im Mittelpunkt stehen praktische Beispiele für den Unterricht, die vom Kennenlernen der Instrumente und der entsprechenden Spieltechnik über vielfältige Anregungen zur Improvisation bis hin zu mehrstimmigen Spielsätzen und Liedbegleitungen reichen. Ergänzt werden die unterrichtspraktischen Beispiele durch didaktische und methodische Aspekte sowie durch einen Überblick über musiktheoretische Grundlagen. Besonders interessant wird es dann, wenn die Lehrerinnen aus ihrer bisherigen Unterrichtspraxis berichten, ihre Erfahrungen mit den Studierenden teilen und Fragen zur Diskussion stellen. Noch interessanter wird es, wenn die Lehrerinnen zusammen mit den Studierenden in kleinen Teams eine gemeinsam geplante Unterrichtsstunde in ihrer Klasse durchführen und auf diese Weise die im Kurs thematisierten Inhalte und Methoden in der Praxis ausprobieren. 1.3

Ein letzter Szenenwechsel. Dritte Szene:

Im großen Sitzungssaal des Bayerischen Rundfunks. An diesem Vormittag sind knapp 50 Lehrerinnen versammelt, die meisten unterrichten an Grundschulen in und um München herum, einige sind aus entfernteren Orten in Bayern angereist. Etwa 60 % von ihnen erteilen Musikunterricht fachfremd, knapp 40 % haben Musik als Fach studiert. Sie alle werden mit ihren Schülern in gut zwei Monaten das Konzert „Mit Mozart auf Reisen – Das Orchester auf den Spuren von Wolfgang Amadeus Mozart“ besuchen. Es handelt sich um ein Konzert des Münchner Rundfunkorchesters (MRO) in der Reihe „Klassik zum Staunen“ für Kinder ab sechs Jahren, das den jungen Zuhörern in altersgerechter Form und auf der Grundlage eines durchdachten konzertpädagogischen Konzepts einen klingenden Einblick in Mozarts Werk und Leben vermitteln möchte. An diesem Vormittag erhalten die Lehrerinnen im Rahmen einer vom MRO angebotenen Fortbildung Anregungen, wie sie ihre Klassen auf dieses Kinderkonzert vorbereiten können. Unter den versammelten Personen befinden sich auch Studierende des Lehramts Grundschule mit Didaktikfach Musik. Sie haben in dieser Fortbildung verschiedene Rollen: Zunächst sind sie Teilnehmende, die wie die Lehrerinnen Informationen zu den musikalischen Werken des Konzertprogramms und Vorschläge zur Erarbeitung der Kompositionen im Unterricht erhalten. Dann schlüpfen die Studierenden selbst in die Rolle der Vermittelnden und präsentieren den Lehrerinnen Möglichkeiten, wie diese ihre Schüler an zwei Kompositionen aus dem Konzertprogramm heranführen können. Die Anregungen werden nicht nur theoretisch vorgestellt, sondern auch praktisch

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durchgeführt. Unter Anleitung der Studierenden erlernen die Lehrerinnen eine Tanzchoreographie zu Papagenos Arie „Der Vogelfänger bin ich ja“ aus der „Zauberflöte“ und führen auf Rhythmusinstrumenten einen mehrstimmigen Mitspielsatz zur Ouvertüre der Oper „Die Entführung aus dem Serail“ aus. Drei Szenen an drei unterschiedlichen Schauplätzen, an denen das Projekt „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“2 verschiedene Akteure in Kontakt zueinander bringt, um Musikunterricht in Grundschulklassen zu inszenieren. In diesen Szenen kommen die leitenden Ziele und Inhalte des Projekts zum Ausdruck, die später näher betrachtet werden. Zunächst erfolgt ein Blick auf die Lehrerbildung für den Musikunterricht an Grundschulen als Rahmen für die Entwicklung des Projekts, anschließend auf die Konzeption des Projekts an sich. Bei der Vorstellung einzelner Veranstaltungsangebote stehen verschiedene Formen der Kooperation und Vernetzung im Vordergrund. Zwischenergebnisse aus der Evaluation geben in diesem Zusammenhang Auskunft über die Bedeutung des Projekts aus Sicht der Teilnehmer und bieten darüber hinaus Impulse für die abschließend formulierten Perspektiven.

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Lehrerbildung für den Musikunterricht an Grundschulen

Untrennbar verbunden mit der Frage, welchen Leitlinien Lehrerbildung für den Musikunterricht an Grundschulen im Idealfall folgen sollte und wie entsprechende Aus- und Fortbildungsangebote konzipiert sein könnten, ist ein Blick auf den Unterricht. Er entsteht als Zusammenspiel vieler Faktoren, er wird entscheidend vom fachlichen und didaktischen Potenzial des Lehrenden geprägt und ist damit immer auch Ausdruck dessen, was der Unterrichtende auf seinem bisherigen Lehr- und Lernweg an Wissen, Können und an Erfahrungen gesammelt hat. Wo soll die Lehrerbildung also hinführen? Die offizielle Seite von Musikunterricht, wie sie in Lehrplänen und an diesen orientierten didaktischen Handreichungen dargestellt wird, ist gekennzeichnet durch eine inhaltliche und methodische Vielfalt. Diese reicht vom Erwerb musikalischer Grundkompetenzen – Singen und Sprechen, instrumentales Musizieren, Rhythmus und Bewegung – über das Erfinden von Musik mit verschiedenen Klangerzeugern, das Hören von Musik und das Kennenlernen von Komponisten, das Umsetzen von Musik in Tanz und szenisches Spiel bis hin zum Lesen und Notieren von Musik und zum Gebrauch elementarer musikalischer Grundbegriffe. Das aktive Musikmachen steht dabei im Vordergrund, und zur Ermöglichung ganzheitlicher Erfahrungen ist die Verbindung verschiedener musikalischer Aktivitäten sowie das Ausnutzen fächerübergreifender bzw. fächerverbindender Potenziale wünschenswert. Dieses Bild von Musikunterricht ist bunt und abwechslungsreich.

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Im Folgenden auch abgekürzt als Netzwerk-Projekt bezeichnet.

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Der Blick in die Realität lässt ganz unterschiedliche Bilder erkennen. Was an Grundschulen musikalisch geboten ist, kommt dem gerade beschriebenen Idealfall teilweise sehr nahe, und zum Teil ist es sehr weit davon entfernt. Da gibt es aufwändig konzipierte und engagiert durchgeführte musikalische Projekte, Ansätze und Initiativen: Chor- und Singklassen, verschiedene Formen des instrumentalen Musizierens, die „Musikalische Grundschule“ als Projekt zur Schulentwicklung unter musikalischen Aspekten und darüber hinaus eine ganze Reihe an Einzelprojekten, die meist durch regionale und schulspezifische Besonderheiten geprägt und unter3 schiedlich akzentuiert sind. Dem gegenüber steht die nachdenklich stimmende Tatsache, dass Musikunterricht in der bildungspolitischen Diskussion ziemlich am Rande steht und dementsprechend im Schulalltag vieler Kinder ein Schattendasein führt. Mögliche Gründe können z. B. der Mangel entsprechend qualifizierter Lehrkräfte sein oder die Verwendung von Musikstunden als Unterrichtszeit für Fächer wie Deutsch und Mathematik, die als wichtiger befunden werden.4 Zwischen diesen Polen liegt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, wie Musikunterricht gestaltet werden kann, der den Schülern die Vielfalt an musikalischen Aktivitäten eröffnet und ihr Interesse daran wecken bzw. aufrechterhalten kann, und der gleichzeitig ohne kostenintensive Zusatzstunden, externe Lehrkräfte und aufwändige Organisationsformen auskommt, wie sie viele Projekte im musikalischen Bereich erfordern. Dieses Spektrum sollte im Mittelpunkt der Lehrerbildung für den Musikunterricht stehen. Wie kann ein solcher Musikunterricht im großen Zwischenraum zwischen den Extremen und mit großem Spielraum an Gestaltungsmöglichkeiten genauer beschrieben werden? Um die bereits gestellte Frage nochmals aufzugreifen: Wo soll die Lehrerbildung also hinführen? Aus der Sicht von Schülern zeichnet sich gelungener Musikunterricht durch eine thematische Vielfalt, durch ein hohes Maß an aktivem musikalischen Tun – Musizieren, Singen, auch in Verbindung mit Bewegung und Tanz –, sowie durch eine didaktische und methodische Konzeption, die sich an den Interessen der Kinder orientiert und ihnen individuelle Lernfortschritte ermöglicht, 5 aus. Eine sehr ähnliche Auffassung von „gutem“ Musikunterricht in der Grundschule ergab eine Befragung von angehenden und praktizierenden Grundschullehrern im Rahmen des Projekts „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“, wobei die Lehrkräfte

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Beispiele für Projekte im vokalen Bereich: CHOR:KLASSE!, JEKISS („Jedem Kind seine Stimme“); im instrumentalen Bereich bzw. auch darüber hinausgehend: JEKI („Jedem Kind ein Instrument“; Projektstart im Ruhrgebiet, mittlerweile verbreitet in mehreren deutschen Bundesländern) bzw. JEKITS als landesweites Nachfolgeprogramm in Nordrhein-Westfalen ab Schuljahr 2015/2016 („Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“), „WIM“ – Wir musizieren (Mittel- und Unterfranken); das von der Bertelsmann Stiftung unterstützte Projekt „Musikalische Grundschule“ zielt darauf, Musik als Gestaltungselement ins gesamte Schulleben der beteiligten Schulen zu integrieren. Vgl. Gaul 2009, 113f. Vgl. Gaul 2009, 266–288.

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neben den von den Schülern genannten Faktoren besonders die Freude der Kinder am gemeinsamen Singen und Musizieren betonten.6 Welche Voraussetzungen benötigen die zukünftigen Lehrer, um einen solchen Unterricht durchzuführen? Hier lassen sich vier Bereiche unterscheiden: Musikpraktische Fähigkeiten als handwerklich-künstlerisches Fundament (Gesang/Stimmbildung, Instrumentalkenntnisse und damit verbundene rhythmische Fähigkeiten), fachliche Grundlagen (musiktheoretische Grundkenntnisse und Wissen über musikalische Werke und Komponisten), musikpädagogische und -didaktische Kenntnisse (Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht, Diagnose von Leistungen und Förderung der Schüler) sowie die eigene Freude an der Musik und das Vermögen, die Lernenden für Musik zu begeistern und ihnen einen emotionalen Zugang zur Musik 7 zu verschaffen. Lehrerbildung sollte es als ihre Aufgabe verstehen, die angehenden und praktizierenden Lehrkräfte in all diesen Bereichen zu unterstützen, zu fördern, zu begleiten. Die besondere Herausforderung für die Lehrerbildung liegt darin, dass die Vorerfahrungen derer, die Musik in der Grundschule unterrichten möchten bzw. sollen, sehr unterschiedlich sind. Bei der Zusammenstellung ihrer Fächerkombination entscheidet sich nur ein kleiner Teil der Studierenden des Lehramts Grundschule für das Fach Musik, das in unterschiedlicher Tiefe studiert werden kann – in Bayern beispielsweise als Unterrichtsfach oder als Didaktikfach, in anderen deutschen Bundesländern in ähnlichen, doch jeweils unterschiedlich bezeichneten und strukturierten Varianten größeren oder kleineren Umfangs. Nur wenige der angehenden Grundschullehrkräfte werden im Rahmen von Studium und Vorbereitungsdienst also zu Spezialisten für den Musikunterricht ausgebildet. Vor dem Hintergrund des Klassenlehrerprinzips, das den Grundschulunterricht prägt, be8 deutet das: Musik wird zu einem Großteil fachfremd unterrichtet. Der bundesweit angenommene Anteil an fachfremdem Musikunterricht in der Grundschule liegt seit Jahren konstant bei rund 75 bis 80 %.9 Diese Angabe ist rein deskriptiv zu verstehen und macht keine Aussage über die Qualität des Unterrichts. Festzuhalten bleibt: Fachfremd erteilter Musikunterricht stellt in der Grundschule nicht die Ausnahme dar, eher kann der von Lehrkräften mit entsprechendem Studium durchgeführte Musikunterricht als Besonderheit bezeichnet werden. 6

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Im Frühjahr 2014 wurden 108 Teilnehmer am Projekt „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“ (davon 60 Studierende des Lehramts Grundschule, 25 Lehrer, 23 Lehramtsanwärter) in einer schriftlichen Befragung gefragt: „Was macht Ihrer Meinung nach guten Musikunterricht in der Grundschule aus?“ Vgl. Gaul 2009; Hammel 2011, 315–329, 367f. Der Begriff „fachfremd“ bezieht sich hier auf Lehrkräfte, die das Fach Musik nicht studiert haben, bzw. auf den von ihnen erteilten Unterricht. Auch wenn die Lehrer im Laufe ihrer Unterrichtstätigkeit an Fortbildungen teilnehmen, werden sie – im Unterschied zu den Kollegen mit Musik als Studienfach – als fachfremd Unterrichtende bezeichnet. Vgl. Schellberg 2005, 78; Hammel 2011, 15f. Je nachdem, wie fachfremder Unterricht definiert wird, variiert der Anteil dieses Unterrichts am gesamten Musikunterricht leicht.

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Um diesen heterogenen Vorerfahrungen der zukünftigen wie auch der bereits im Schuldienst tätigen Lehrkräfte gerecht zu werden, bedarf es in allen Phasen der Lehrerbildung eines entsprechend differenzierten Angebots an Qualifizierungsmöglichkeiten – insbesondere auch für fachfremd Unterrichtende, die in diesem Rahmen neben entsprechenden fachlichen Kompetenzen auch ein positives Selbstkonzept bezüglich ihres individuellen Potenzials zum Erteilen von Musikunterricht entwickeln können.10 Allein in Bayern ist der Besuch einer Lehrveranstaltung für die später fachfremd Unterrichtenden seit 2002 in der Lehramtsprüfungsordnung I (LPO I) verpflichtend festgelegt.11 Bei der „Basisqualifikation Musik“ als bayerischem „Schmankerl“ handelt es sich um einen Grundlagen-Kurs, den alle Studierenden des Lehramts Grundschule, die Musik nicht als Studienfach gewählt haben, im Laufe ihres Studiums über ein Semester besuchen und dort in praxisorientierter und berufsfeldbezogener Form sowohl musikpraktische Fertigkeiten als auch Vermittlungskompetenzen erwerben. Vielfältige Möglichkeiten und neue Perspektiven der Lehrerbildung für den Musikunterricht eröffnen sich dann, wenn die drei bisher größtenteils isoliert aufeinander folgenden Phasen Studium, Vorbereitungsdienst und Fortbildung für Lehrkräfte im Schuldienst in Kontakt zueinander kommen, wenn Anknüpfungspunkte gefunden und gemeinsame Angebote entwickelt werden. Eine Vernetzung der Phasen unterstützt die Bedeutung des lebenslangen Lernens im Kontext des Lehrerberufs und ist Ausdruck eines Verständnisses von Lehrerbildung als Prozess, der nicht nach Abschluss des Vorbereitungsdienstes endet, sondern nach der Ausbildung auch die Fortbildung der Lehrkräfte umfasst.12 Beispiele für phasenverbindendes Arbeiten in der Lehrerbildung für den Musikunterricht sind neben dem „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“ auch „Accompagnato“13 und das „Stuttgarter Modell“14. Bei der vergleichenden Betrachtung dieser Projekte bzw. Modelle 10 11 12 13

14

Vgl. Schellberg 2005, 91; Hammel 2011, 382. Vgl. die LPO I aus dem Jahr 2002 und die aktuelle Fassung aus dem Jahr 2008. Zur Notwendigkeit der Phasenvernetzung und der Bedeutung von lebenslangem Lernen im Lehrerberuf vgl. Messner 2006, 514–516; Orgass/Richter 2012; Mägdefrau 2014, 6. Es handelt sich um ein an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bereits in den 1990er Jahren entwickeltes und zu Beginn des neuen Jahrtausends in verschiedene europäische Staaten transportiertes und an die dortigen Verhältnisse angepasstes Projekt zur Lehrerbildung, in dessen Mittelpunkt die Arbeit an einem persönlichen Anliegen steht. An den persönlichen Themen wird in einem Lernzyklus in mehreren Schritten gearbeitet, wobei gegenseitige Unterrichtsbesuche in Teams aus Studierenden, Berufsanfängern und erfahrenen Lehrkräften ein wichtiger Baustein sind (vgl. Stöger 2004; Stöger, Lion/Niermann 2010). Hier handelt es sich um ein vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft gefördertes Modell, das von 2010 an über die Dauer von drei Jahren an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart durchgeführt wurde. Im Rahmen phasendurchlässiger Module, an denen Lehrkräfte, Studierende und Referendare teilnahmen, wurden fachdidaktische Inhalte des Studiums der Schulmusik mit Ausbildungsinhalten der zweiten Phase verknüpft. Verbunden mit der Verankerung des Projekts an der Stuttgarter Musikhochschule richtete sich der Fokus auf angehende und praktizierende Musiklehrer an Gymnasien (vgl. Amann/Gerhardt/Scharenberg 2012; Gerhardt 2012).

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wird deutlich, dass neue Ansätze der Lehrerbildung je nach Rahmenbedingungen – von der bildungspolitischen Situation in den einzelnen Bundesländern und den in Studien- und Prüfungsordnungen vorgegebenen Strukturen bis hin zur institutionellen und personellen Situation vor Ort – auch bei ähnlichen zentralen Anliegen sehr unterschiedliche Konzeptionen aufweisen können.

3

Das Projekt: ein Überblick

Vernetzung auf verschiedenen Ebenen und lebenslanges Lernen im Lehrerberuf stehen im Mittelpunkt des Projekts „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“, das seit Wintersemester 2011/2012 am Institut für Musikpädagogik der LudwigMaximilians-Universität München besteht. Im Rahmen des Projekts kommen Personen aus verschiedenen Bereichen des Musik-Lehrens und Musik-Lernens im Grundschulbereich in unterschiedlichen Veranstaltungsformaten zusammen, um neue Impulse für den Musikunterricht zu entwickeln, Unterrichtsbeispiele zu konzipieren, diese in Praxissituationen zu erproben sowie ihre Erfahrungen auszutauschen und zu reflektieren. Beteiligt sind Studierende des Lehramts Grundschule, Lehramtsanwärter für die Grundschule, Lehrer im Schuldienst, Schulklassen und Kooperationspartner aus dem außerschulischen Bereich der Musikvermittlung wie das Münchner Rundfunkorchester (MRO). Zukünftige und bereits im Schuldienst stehende Lehrkräfte, die Musik fachfremd unterrichten, kommen in Kontakt mit jenen, die das Fach studieren bzw. studiert haben, und tauschen sich mit Musikexperten aus. Studierende profitieren von den Erfahrungen der Lehrer, letztere erhalten von den Studierenden neue Anregungen und innovative Ideen. Auf institutioneller und personeller Ebene findet Vernetzung statt zwischen den drei Phasen der Lehrerbildung und zwischen Universität, Schule und Institutionen des öffentlichen Musiklebens. Bei der Entwicklung und Erprobung konkreter Unterrichtsbeispiele werden fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kenntnisse in direkten Bezug zur Unterrichtspraxis gebracht. Gerade im Musikunterricht, in dem musikpraktische Fähigkeiten eine zentrale Rolle spielen, profitieren die Studierenden von möglichst frühzeitigen Gelegenheiten, die im universitären Rahmen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in Unterrichtssituationen „auf die Probe zu stellen“ und ausgehend von diesen Erfahrungen individuell weiterzuentwickeln. Neben der Erprobung unterrichtspraktischen Handelns wird auch der Reflexion von Unterricht und dem Austausch von Erfahrungen der Teilnehmer große Bedeutung geschenkt. Reflexionsphasen in kleinen Teams direkt nach der Durchführung einer Unterrichtsstunde und anschließend in der gesamten Seminargruppe tragen dazu bei, dass die Lehrenden kontinuierlich an ihrer individuellen Reflexionsfähigkeit und ihrer Kompetenz zur situationsbezogenen Planung und Durchführung von Unterricht weiterarbeiten und damit auch immer wieder die Rolle der Lernenden

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einnehmen.15 Um den Teilnehmern, die in der jeweiligen Unterrichtssituation vor Ort nicht anwesend sind, einen möglichst differenzierten Einblick ins Unterrichtsgeschehen zu ermöglichen, werden in den Reflexionsphasen Video- und Audioaufnahmen sowie Schülerarbeiten – beispielsweise selbst entwickelte graphische Notationsformen von Musik – eingesetzt. Durch den Austausch der erarbeiteten Unterrichtsbeispiele entsteht eine kontinuierlich wachsende Sammlung an praxiserprobten Unterrichtsmaterialien, auf welche die Netzwerk-Teilnehmer über die Online-Lernplattform „Moodle“ Zugriff haben. Über E-Learning besteht auch die Möglichkeit, unabhängig von den Präsenzterminen die Unterrichtsvorhaben in den Teams weiterzuentwickeln. Alle Teilnehmer agieren im Rahmen des Projekts in wechselnden Rollen als Lernende und Lehrende und erfahren auf diese Weise lebenslanges Lernen im Kontext des Lehrerberufs als Beteiligte aus unterschiedlichen Phasen und aus ganz verschiedenen Perspektiven. Anknüpfend an die zu Beginn geschilderten Szenen erfolgt nun ein detaillierter Einblick in das Netzwerk-Projekt.

4 4.1

Das Projekt: Einzelne Angebote Netzwerk-Seminar

Ein Rückblick: Die Musikstunde mit Vertonung von Filmausschnitten in einer dritten Jahrgangsstufe beschreibt eine Szene aus dem Netzwerk-Seminar. Geplant wurde diese Unterrichtsstunde gemeinsam vom ausführenden Team an zwei Seminarterminen, an denen die Lehreramtsanwärter eines Studienseminars im Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Grundschulen am Netzwerk-Projekt teilgenommen haben. Während der Unterrichtsstunde beobachten und dokumentieren diejenigen, die gerade nicht aktiv als Lehrende im Einsatz sind, das Unterrichtsgeschehen und fertigen Notizen zu vereinbarten Beobachtungsaspekten an. Diese Beobachtungen dienen als Grundlage für die anschließende Reflexion im Team und für die Vorstellung der Unterrichtsstunde in der Seminargruppe. Zu diesem Zeitpunkt können auch alle anfangs gestellten Fragen beantwortet werden. Die Antworten bieten Anregungen für die Planung und Durchführung zukünftiger Unterrichtsstunden. Die Studierenden profitieren von den Erfahrungen der Lehramtsanwärter, die bereits selbstverantwortlich Unterricht erteilen und ihnen auf dem Weg zum Grundschullehrer eine Phase voraus sind. Für viele Lehramtsanwärter, die Musik nicht studiert haben und das Fach später fachfremd unterrichten werden, ermöglicht die Kooperation mit Musikstudierenden Schlüsselerlebnisse: Positive Erfahrungen bei der Durchführung von Musikunterricht, die ihnen ihre Bedenken vor dem eigenverantwortlichen Unterrichten des Fachs Musik nehmen, und viele Im15

Zur Bedeutung der Reflexionsfähigkeit in der beruflichen Entwicklung vgl. Schön 2002.

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pulse zur Planung und Durchführung von Musikstunden.16 Eine Lehramtsanwärterin im zweiten Dienstjahr beschreibt ihre Erfahrungen wie folgt: „Aus der Zusammenarbeit mit den Studentinnen nehme ich sehr viel mit. Sie konnten als ‚MusikExpertinnen‘ viele gute Anregungen geben. Dem Fach Musik sehe ich nun optimistischer entgegen.“ Und eine Studentin formuliert rückblickend auf die Kooperation: „Die Umsetzung der Unterrichtsstunden in den Schulklassen war spannend: zu sehen, wie die lang diskutierten Ideen in der Praxis ‚funktionieren‘. Gut, dass dies im Team erfolgte – so war niemand allein mit der Klasse, und wir drei ‚Lehrerinnen‘ konnten uns gut ergänzen.“ Jedes Sommersemester wird im Netzwerk-Seminar ein Beitrag zum „Aktionstag Musik in Bayern“ vorbereitet und in der Praxis realisiert. Alle Grundschulen und Kindertagesstätten in Bayern sind eingeladen, unter dem Motto „Zusammen Singen“ eine Aktion zum gemeinsamen Singen und Musizieren durchzuführen. In Teams konzipieren Studierende und Lehramtsanwärter für den Aktionstag gemeinsam eine „Singstunde“ für eine Klasse, einen Workshop zum Singen mit Schülern und Eltern oder eine kleines Musikfest für die ganze Schule. Auf diese Weise bringen sie nicht nur viele Menschen zum Musikmachen, sondern wirken auch als Multiplikatoren; denn Lehrkräfte, Eltern und andere Beteiligte bekommen neue Impulse und klingende Vorbilder, um mit Kindern zu singen. 4.2

Basisqualifikation Musik

Warum sollen Lehramtsstudierende und Lehrkräfte im Schuldienst nicht gemeinsam grundlegende musikdidaktische und musikpraktische Kompetenzen für das Erteilen von Musikunterricht erwerben? Die zweite Szene zeigt, wie phasenübergreifendes Lernen in den Kursen zur „Basisqualifikation Musik“ für Studierende ohne Musik als Studienfach stattfinden kann. Eine Besonderheit der im Rahmen des Netzwerk-Projekts angebotenen Kurse liegt darin, dass Lehrkräfte in Form einer Fortbildungsreihe an ausgewählten Terminen der normalerweise für Studierende vorgesehenen „Basisqualifikation Musik“ teilnehmen können. Die aktuell oder zukünftig fachfremd Unterrichtenden benötigen einerseits musikalisches und didaktisches „Handwerkszeug“ und ein möglichst vielfältiges Repertoire an Unterrichtsbeispielen, auf der anderen Seite die Möglichkeit, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zum Erteilen von Musikunterricht und ein positives Selbstkonzept zu entwickeln.17 Dass die Teilnehmer die „Basisqualifikation 16

17

Hier handelt es sich um beispielhafte Ergebnisse aus der Evaluation des Netzwerk-Seminars. Seit Projektbeginn im Wintersemester 2011/2012 werden die Teilnehmer jeweils am Semesterende bzw. am Ende einer Kooperationsphase schriftlich anhand eines Fragebogens befragt. Anzahl der vorliegenden und ausgewerteten Fragebögen: N = 184 (83 Bögen von Studierenden, 101 Bögen von Lehramtsanwärtern). Vgl. Hammel 2011, 382f.

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Musik“ mit Blick auf ihren Musikunterricht als sehr bedeutsam betrachten, zeigen die Evaluationsergebnisse.18 Besonders gewinnbringend sind aus der Perspektive der Studierenden und der Lehrkräfte der hohe Praxisbezug in Verbindung mit der Vermittlung grundlegender Kenntnisse zu allen Lernbereichen des Musikunterrichts und die Erkenntnis, dass jeder Teilnehmende aufgrund des breiten Spektrums an musikalischen und musikbezogenen Aktivitäten Anknüpfungspunkte für seinen Musikunterricht finden kann. Der Kurs bietet viele Anregungen, wie die Teilnehmer ihr individuelles Netz an Inhalten und Methoden zum Erteilen von Musikunterricht im Laufe eines persönlichen Entwicklungsprozesses schrittweise erweitern und enger knüpfen können. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich als Nicht-Musik-Studentin zusammen mit der Lehrerin eine so gelungene Musikstunde in einer Schulklasse durchführen könnte. Das war ein schönes Erfolgserlebnis.“ (Äußerung einer Studentin der „Basisqualifikation Musik“ zur Zusammenarbeit mit den Lehrkräften). 4.3

Konzertpädagogik für die Grundschule

Die dritte Szene gewährt einen Einblick in jenes Veranstaltungsangebot, im Rahmen dessen die Vernetzung durch die Kooperation mit dem Münchner Rundfunkorchester über die traditionell mit Musikunterricht und Lehrerbildung verbundenen Institutionen Schule und Universität hinaus in den Bereich des öffentlichen Musiklebens reicht. Über den Weg der Lehrerfortbildung finden die von den Studierenden erarbeiteten Unterrichtsbeispiele den Weg in viele Schulklassen und tragen dazu bei, dass die Schüler einige Kompositionen aus dem Konzertprogramm schon vor dem Besuch des Kinderkonzerts kennenlernen. Dass Studierende in einem Teil der Lehrerfortbildung die Vermittlerrolle übernehmen und den Lehrkräften die selbst entwickelten Unterrichtsvorschläge präsentieren, stößt auf sehr positive Resonanz. Die Lehrerinnen äußern sich anerkennend zu den Beiträgen der Studierenden – etwa im Hinblick auf die Stimmigkeit von Inhalten und Methoden, auf die engagierte und anschauliche Präsentation sowie auf die spürbare Begeisterung der Studierenden in der Vermittlungssituation. Darüber hinaus betonen sie den Austausch über Ausbildungsphasen und Generationen hinweg sowie den „Trainingseffekt“ der Präsentation für die Studierenden. Ähnlich positive Rückmeldungen kommen von den Studierenden selbst; sie heben insbesondere die intensive Ausei-

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Jeweils am Ende eines Semesters bzw. einer Fortbildungsreihe findet eine schriftliche Evaluation anhand eines Fragebogens statt. Anzahl der bisher vorliegenden und ausgewerteten Fragebögen aus der „Basisqualifikation Musik“ im Rahmen des Netzwerk-Projekts: N = 196 (130 Fragebögen von Studierenden, 66 Fragebögen von Lehrkräften).

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nandersetzung mit einem Unterrichtsthema und die Möglichkeit zur Vorstellung der Ergebnisse in der Lehrerfortbildung hervor.19 Abgesehen von der Teilnahme an der Lehrerfortbildung begleiten die Studierenden auch einen Orchestermusiker in eine Schulklasse und besuchen das Kinderkonzert als abschließenden Höhepunkt, zu dem alle vorangehenden Aktivitäten hinführen. Auf diese Weise lernen die Studierenden die drei Säulen des pädagogischen Konzepts des MRO in der Reihe „Klassik zum Staunen“ sowohl aus der Perspektive aktiv Mitwirkender als auch aus Teilnehmersicht kennen und sind auch in diesem Kontext Lernende und Lehrende.

5

Perspektiven

Ein Rückblick auf die bisherige Entwicklung des Projekts zeigt eine steigende Zahl an beteiligten Personen und Gruppen, eine zunehmende Vielfalt des Angebots an Veranstaltungen und viel positives Feedback.20 In den Rückmeldungen der Teilnehmer kommt zum Ausdruck, dass sie die angebotenen Vernetzungs- und Kooperationsformen zwischen verschiedenen Institutionen und zwischen den einzelnen Phasen der Lehrerbildung gerne als Gelegenheit wahrnehmen, um ihr individuelles Netz an Gestaltungsmöglichkeiten für den Musikunterricht zu erweitern und um neue Impulse für die weitere Entwicklung dieses Netzes zu erhalten. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen bei der Organisation und Durchführung der bisherigen Netzwerk-Veranstaltungen, der Rückmeldungen der Teilnehmenden und aktueller bildungspolitischer und gesellschaftlicher Tendenzen lassen sich folgende Perspektiven für die Zukunft des Projekts formulieren: − Beteiligung weiterer Kooperationspartner Kooperationen zwischen Schulen und Institutionen des öffentlichen Musiklebens gewinnen zunehmend an Bedeutung. Viele Schulen etwa stehen vor der Herausforderung, im Rahmen der aktuellen Entwicklungen in den Bereichen „Ganztag“ und „Inklusion“ ein entsprechendes Angebot zu konzipieren. So liegt es nahe, weitere Kooperationspartner am Projekt zu beteiligen. Von besonderem Interesse sind hier Musikschulen oder Musikvereine, darüber hinaus auch der Bereich der Elementaren Musikpädagogik, der Theater- und Tanzpädagogik sowie die Beteiligung von Sonderpädagogen zur Entwicklung inklusiver Ansätze für den Musikunterricht. 19

20

Aus dem seit Wintersemester 2014/2015 bestehenden Kooperationsangebot „Konzertpädagogik“ liegen Evaluationsergebnisse in Form von Fragebögen von 28 Lehrerinnen und von sechs Studierenden vor. Seit Projektbeginn im Wintersemester 2011/2012 nahmen mehr als 400 Personen an Veranstaltungen im Rahmen des Projekts teil; die Gesamtzahl der schriftlichen Fragebögen als Grundlage für die Evaluation beträgt N = 414 und gliedert sich wie folgt auf: 89 Fragebögen von Studierenden mit Studienfach Musik, 130 von Studierenden ohne Musik als Studienfach (Teilnahme an der „Basisqualifikation Musik“), 101 von Lehramtsanwärtern, 94 von Lehrkräften (66 Teilnehmer an der „Basisqualifikation Musik“, 28 Teilnehmer an der Lehrerfortbildung „Konzertpädagogik“).

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− Neue Veranstaltungsformate

Ergänzend zu den Lehrveranstaltungen über die Dauer eines Semesters und Fortbildungsreihen über mehrere Termine sollen kurze Workshops mit Experten aus Schule, öffentlichem Musikleben und Wissenschaft Raum bieten, um eine Thematik aus verschiedenen Perspektiven darzustellen und zu diskutieren. Wenn Wissenschaft und musikpädagogische Praxis möglichst nahe in Kontakt zueinander kommen, entsteht Raum zur Entwicklung neuer Impulse und gemeinsamer Vorhaben. − Multiplikatoren

In Verbindung mit dem Austausch und der Weitergabe von Erfahrungen, Kenntnissen und Unterrichtsmaterialien nehmen die Projektteilnehmer in verschiedenen Situationen die Rolle eines Experten ein und lassen andere an ihrem Wissensund Erfahrungsschatz teilhaben. Diese Rolle kann gestärkt werden, indem Netzwerk-Teilnehmer sich in speziellen Veranstaltungsangeboten als Multiplikatoren qualifizieren können. Insbesondere mit Blick auf die große Zahl an Lehrkräften, die Musikunterricht fachfremd erteilen, eröffnen sich hier neue Wege der (Weiter-)Qualifizierung: Studierende des Fachs Musik geben als „Experten“ musikdidaktische und musikpraktische Kenntnisse in Lehrerfortbildungen, die im Rahmen des Projekts angeboten werden, weiter. Lehrkräfte und Lehramtsanwärter als Teilnehmer am „Netzwerk Musikunterricht“ wirken an ihrer Schule als Multiplikatoren. − Digitale Medien und E-Learning

Digitale Medien können zum einen als Inhalt in Netzwerk-Angebote einbezogen werden, indem beispielsweise der Einsatz von Musik-Software im Unterricht thematisiert wird. Zum anderen eröffnen sie neue Wege der weiteren Vernetzung – etwa im Zuge einer Weiterentwicklung der bereits bestehenden E-LearningAngebote. Zusätzlich zur Möglichkeit zum Austausch von Unterrichtsmaterialien soll eine kontinuierlich wachsende Sammlung an Unterrichtsbeispielen entstehen, auf welche die Teilnehmer an aktuellen und vergangenen NetzwerkVeranstaltungen Zugriff haben. Best Practice-Beispiele in Form (audio-)visueller Aufnahmen können die beispielhaften Unterrichtsstunden veranschaulichen. Gerade für Lehramtsanwärter und im Beruf stehende Lehrkräfte stellen OnlineKurseinheiten als zeit- und ortsunabhängige Lernangebote zukunftsweisende Alternativen bzw. Ergänzungen zu Präsenzkursen dar. − Öffnung für andere Schulformen und für interdisziplinäre Ansätze

Bisher richtet sich das Projekt an Studierende, Lehramtsanwärter und Lehrkräfte für die Grundschule. Denkbar ist sowohl die Erweiterung des Angebots für angehende und praktizierende Lehrer an weiterführenden Schulen als auch die Übertragung der Leitideen des Projekts auf interdisziplinäre Ansätze. Auf diese Weise

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wird Vernetzung um die Ebene des interdisziplinären Lernens und Lehrens ergänzt. Darüber hinaus kann das auf die Lehrerbildung in Bayern ausgerichtete Projekt auch Anregungen für ähnliche Projekte in anderen Bundesländern geben – selbst bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen lassen sich die Leitgedanken der Netzwerk-Idee in andere Kontexte übertragen. Im Rahmen dieser Ansatzpunkte möchte das Netzwerk-Projekt mit neuen Impulsen zu einer vernetzten Lehrerbildung für den Musikunterricht beitragen und angehenden „Musik-Experten“ gleichermaßen wie fachfremd Unterrichtenden Möglichkeiten zur Weiterentwicklung ihres individuellen Potenzials als Musiklehrende eröffnen. Zukunftspotenzial hat das Projekt auch im Hinblick darauf, dass sich der finanzielle Aufwand der Angebote in einem überschaubaren Rahmen hält. Anders als in vielen anderen Projekten, erfolgt der Input an Wissen und Erfahrungen größtenteils durch Personen, die im Rahmen ihrer musikalischen oder musikpädagogischen Tätigkeit als aktiv Beteiligte am Projekt mitwirken; eine kontinuierliche Beschäftigung von externen Lehrkräften oder Experten aus dem öffentlichen Musikleben ist nicht erforderlich. Abschließend und anknüpfend an die zu Beginn beschriebenen Szenen sowie an die einzelnen Angebote des Projekts bleibt festzuhalten: Das „Netzwerk Musikunterricht an der LMU“ bringt an unterschiedlichen Schauplätzen in verschiedenen Rollen am Musikunterricht beteiligte Akteure zusammen. Es trägt zur Professionalisierung der Lehrerbildung für den Musikunterricht in der Grundschule bei und setzt darüber hinaus durch die Arbeit mit Schulklassen auch direkte Impulse in der Schulpraxis. Ziel ist dabei, dass alle Beteiligten ihr individuelles Potenzial als Lehrende und Lernende weiterentwickeln und auf diese Weise an einem vielfältig gestalteten und inspirierend inszenierten Musikunterricht mitwirken können.

6

Literaturverzeichnis

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Vernetzt und lebenslang lernen und lehren

211

Orgass, Stefan/Richter, Christoph (Hrsg.): Phasenverschiebung. Perspektiven der Vernetzung von erster und zweiter Ausbildungsphase, Altenmedingen 2012. Schellberg, Gabriele: Musikalische Voraussetzungen künftiger Grundschullehrer, in: Jürgen Vogt (Hrsg.): Musiklernen im Vor- und Grundschulalter, Essen 2005, 78–93. Schön, Donald A.: The reflective practitioner, Aldershot 2002. Stöger, Christine: Erfahrungswissen für den Lehrberuf. „accompagnato“ – Ein Kurskonzept zur Vernetzung von Studium und Beruf, Diskussion Musikpädagogik 23, 2004, 33–38. Stöger, Christine/Lion, Brigitte/Niermann, Franz: Professionalisierung im Lehrberuf. Ziele erreichen – Potenziale nutzen, Weinheim/Basel 2010.

Raus aus der Uni – Rein ins Projekt Ein generationenübergreifendes Vermittlungsprojekt zu der Ausstellung „Ricochet #6“ von Martin Brand Anja Mohr Im Zentrum dieses kunstpädagogischen und generationsübergreifenden Vermittlungsprojektes steht die Ausstellung „Ricochet #6. Martin Brand“ des Kölner Künstlers Martin Brand in der Villa Stuck in München (April–Juli 2013).1 In der Ausstellung wirft der Künstler einen dokumentarischen Blick auf Jugendliche und deren Subkulturen. Er legt die Suche nach der eigenen Identität offen und analysiert Mechanismen der Cliquen- und Szenebildung sowie Gruppenhierarchien. „Martin Brand zeigt uns in seinen Werken Menschen. In den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt er dabei Subkulturen, Männlichkeit und Adoleszenz, also die Phase des Übergangs vom Kind- zum Erwachsensein. Er thematisiert das Verhältnis von Selbstbild und Fremdbild, die Konstruktion von Identität und die Suche nach Vorbildern. So offenbart er einen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Realität in Deutschland. Seine Werke bewegen sich zwischen Fotografie und Film, zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen zufälliger Beobachtung und Inszenierung, zwischen Neutralität und Empathie.“2 Generell schließt Brand gerne vom Speziellen aufs Allgemeine, also von einzelnen Personen auf die Gesellschaft. Brand spricht Menschen auf der Straße an und bindet sie unmittelbar in seine Arbeit ein.

1

Die Brücke zwischen Kunst und Pädagogik

Kunst ist ein zentraler Gegenstand der Kunstpädagogik. Ihre Bildungspotenziale im Bereich kultureller Kompetenzen und die Ausbildung zum differenzierten, kritikfähigen Denken und gestaltendem Handeln im Feld der Kunst sind Konsens. Für ihre Vermittlung allerdings gibt es in der Kunstpädagogik keinen Königsweg. Im Gegenteil: Während außer Frage steht, dass bildnerische Techniken mittels unterschiedlicher Aufgabenstellungen vermittelt werden können, wird bisweilen sogar bezweifelt, ob das Spezifische der Kunst überhaupt vermittelbar ist. Auf Susan Sontags 1964 erschienenen Aufsatz „Gegen Interpretation“ verweisend, umreißt der Kunst1

2

Martin Brand (geb.1975 in Bochum) studierte Kunst und Germanistik in Bochum und Dortmund. Brands Arbeiten wurden auf zahlreichen Ausstellungen und Festivals im In- und Ausland gezeigt und mehrfach ausgezeichnet. Er lebt und arbeitet in Köln und hat dort einen Lehrauftrag für Fotografie und Videokunst an der Universität (http://martinbrand.net/). Zur Ausstellung in der Villa Stuck: http://www.villastuck.de/ausstellungen/2013/ricochet_6/index.htm. So die Kuratorin Anne Marr in ihrer Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 25. April 2013.

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pädagoge Georg Peez diese Problematik: „Die Entwicklung der modernen und zeitgenössischen heterogenen Kunstrichtungen macht nämlich deutlich, dass sich Kunst und Kunsterfahrung durch die Verweigerung gegenüber Verstehensabsichten und durch die Irritation der Rezipientinnen und Rezipienten stetig dem rational auslegenden Verstehen zu entwinden versuchen. Eine solche Verweigerungshaltung mit lehrenden Methoden pädagogisch ‚zähmen‘ zu wollen, wäre kontraproduktiv.“3 Ob überhaupt und mit welchen Methoden sich Kunstpädagogen lehrend und vermittelnd der Kunst widmen, welche Künstler und welche Werkauswahl sie präferieren, obliegt nach Peez ihrem eigenen Verständnis von Kunstvermittlung. Die jeweilige Herangehensweise beschreibt er als eklektisch, besser noch als pragmatisch und sie ist aus einem individuellen Zugang heraus zu begründen. „D.h. man wählt jeweils die situativ adäquat erscheinende Methode aus, die angesichts der eigenen Berufserfahrung momentan einen größtmöglichen Erfolg für kreative und produktive Anschlüsse verspricht.“4 Ein paar konkretere Ankerpunkte, in denen sich dennoch jedes Vermittlungskonzept verorten lässt, beschreiben Uhlig und Wahner als: „Inhalt – Form – Kontext – Betrachter“. Diese Koordinaten gilt es zwischen den beiden großen Annäherungsbereichen „Subjektbezug“ und „Werkbezug“ zu bespielen, je nachdem, ob man eher vom Subjekt oder vom Werk ausgeht: „Dazwischen bewegt sich die Mehrzahl der Vermittlungskonzepte: Im Spagat zwischen mitunter schwer zu verknüpfenden kunstpädagogischen Intentionen: Heranwachsenden bedeutsame Erfahrungen und Einsichten über Kunst zu ermöglichen und sie persönlich zu involvieren, dabei aber das konkretere Kunstwerk ‚kunstgemäß‘ zu behandeln und es nicht zu instrumentalisieren.“5

2

Inhalt – Form – Kontext – Betrachter

In einer ersten Phase wurden die wissenschaftlichen sowie kunstpädagogisch/ didaktischen Grundlagen des Vermittlungskonzeptes gemeinsam mit den Studierenden (insgesamt 19) zunächst theoriebasiert entwickelt. Vom Allgemeinen ins Spezielle gehend wurde das Vermittlungskonzept dabei auf den Ausstellungsort (Kontext), auf die Werke von Martin Brand (Inhalt) und auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zugeschnitten (Betrachter). Die Auswahl der Teilnehmenden wiederum mit sechs Oberstufenschülerinnen und sechs Senioren begründete sich aus der generationenübergreifenden Thematik der Ausstellung. In der anschließenden praktischen Phase wurde das Vermittlungskonzept an drei Vormittagen gemeinsam

3 4

5

Peez 2005, 18. Peez 2005, 19. Zu den unterschiedlichen aktuellen Diskussionen, Ansätzen und Auffassungen zur Unvermittelbarkeit und Vermittelbarkeit von Kunst s. u.a. Peez 2005, 11 ff.; K + U „Orientierung im kunstpädagogischen Handeln“ 334/335 2009. Uhlig/Wahner 2009, 23.

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Anja Mohr

vor Ort in der Ausstellung und mit den zuvor entwickelten unterschiedlichen künstlerischen Medien umgesetzt (Form). 2.1

Kontext

Die relevanten Themen im Vorfeld der praktischen Umsetzung kreisten um die Museumsarbeit im Allgemeinen und die museale Vermittlungsarbeit im Besonderen.6 Welche Möglichkeiten und Zugänge kann ein Museum für kunstpädagogische Projekte und Prozesse überhaupt zur Verfügung stellen? Welche Ziele verfolgt ein Museum mit seiner Vermittlungsarbeit? Während man in einigen Museen als außenstehende Gruppe eher als Fremdkörper angesehen wird, kaum Spielräume für eigene Vermittlungskonzepte hat und nur in sehr abgegrenzten Räumen agieren darf, ist die Villa Stuck in München eine außergewöhnlich offene Institution, die trotz eigener Kunstvermittlung den Kontakt nach außen sucht. Kaum eine Anfrage wurde mit einem „Nein“ beantwortet. Irgendwie wurde alles möglich gemacht und so konnten wir sogar in den Ausstellungsräumen während der normalen Öffnungszeiten und im weitläufigen Garten der Villa arbeiten. Darüber hinaus bot die eigene museumspädagogische Werkstatt im Keller mit großem Materialpool genügend Platz für unterschiedliche Techniken, so dass die Frage nach den gestalterischkünstlerischen Zugangsformen keine Restriktion erfuhr und ganz auf das Werk Martin Brands bezogen werden konnte. 2.2

Inhalt

In Bezug auf den Inhalt erarbeiteten wir zunächst allgemeine Aspekte, die in der Ausstellung thematisiert wurden. Hierbei ging es um Problemfelder wie „Inszenierung und Rollen“, „Identitätssuche“, „Peergruppen“ und „Szenenbildung“ bei Jugendlichen. Da auch vier Seniorinnen und zwei Senioren an dem Projekt teilnahmen, ging es ebenso um Themen wie „Generationenwechsel“ und „kunst- und 7 medienpädagogisches Arbeiten mit älteren Menschen“. Speziell auf den Künstler Martin Brand und dessen künstlerischen Ansatz bezogen, setzten wir uns mit der Videoarbeit als künstlerische Form auseinander8, analysierten ältere Werke Brands (z.B. „Eyes Wide Shut“) und stellten sie in den Kontext aktueller Arbeiten. 2.3

Betrachter

Der Aspekt Betrachter ist vielschichtig. Zum einen impliziert er natürlich die Teilnehmer des Projektes direkt. Im vorliegenden Fall waren dies auf der einen Seite 6 7 8

S. u.a.: Standbein-Spielbein 2002, Kunz-Ott 2005, Wagner/Dreykorn 2007, K+U 323/324 2008. S. u.a.: K + U 236 1999, De Groote/Fricke 2010, K + U 366/367 2012, Kupser/Pöttinger 2011, Medien & Altern 1/12, Hartung 2012. S. u.a. Lehmann 2008.

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Schülerinnen der Montessori Fachoberschule München (MOS) mit dem Schwerpunkt Gestaltung, wodurch sowohl auf ein großes Interesse für Kunst und kunstpädagogisches Arbeiten als auch auf eine gewisse Medienkompetenz geschlossen werden konnte. Auf der anderen Seite nahmen auch Senioren an dem Projekt teil, die zum Teil über persönliche Kontakte und zum Teil über Kontakte zu einem Seniorenstift gefunden wurden. Da sich die Senioren für das Projekt gemeldet hatten, konnten wir von einem gewissen Grad an Interesse für Kunst ausgehen. Absagen von anderen Senioren ließen allerdings darauf schließen, dass moderne Videokunst 9 für sie schwerer als Kunst zu akzeptieren ist und auch der Umgang mit neuen Medien scheint nicht so ausgeprägt, wie bei Jüngeren. Bei dem Aspekt Betrachter geht es aber auch um die Art und Weise, wie Kunstwerke betrachtet werden können, also um Fragen der Kunstrezeption. Diese ist bei Bewegtbildern, wie sie in Brands Ausstellung überwiegend zu sehen waren, sicherlich eine andere, als bei einem historischen Tafelbild. 2.4

Form

Welche Form die gemeinsame Annäherung an das Kunstwerk Brands annehmen kann, war eine weitere Fragestellung im vorbereitenden Seminar.10 Welche Methoden gibt es im Kunstunterricht? Welche Methoden sind für die vorliegende Annäherung an die Ausstellung adäquat und praktikabel? Dass die Rahmenhandlung methodisch gesehen innerhalb eines Projektes stattfinden sollte, stand schnell fest.11 Eine andere Form ist kaum möglich, wenn man vier unterschiedliche Institutionen – Museum, Universität, Schule und Seniorenstift – mit jeweils unterschiedlichen Standorten und zeitlichen Taktungen verbinden möchte. Gestaltete sich das bisherige Seminar eher theoriebasiert, wurde das didaktische Konzept nun praxisbezogen entwickelt, d.h. die vorgängige Fachtheorie wurde mit der praktischen Annäherung an die Ausstellung vereint. Dass sich unter den Studierenden sechs Expertenteams formierten, war der gleichen Anzahl der Werke in der Ausstellung geschuldet. Diese Teams bereiteten sich intensiv auf die Vermittlung nur eines Werkes vor und entwickelten hierzu ein didaktisches Konzept für ein Schüler-Senioren-Tandem, das während der gesamten praktischen Phase zusammenblieb. Die insgesamt sechs didaktischen Konzepte wurden für das jeweilige Werk entlang eines Leitfadens erarbeitet, wie man ihn auch für den Unterricht in der Schule kennt: Intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk; Entwickeln der „Lehr- und Lernvoraussetzungen“; Herausstellen der „didaktischen Schwerpunkte“; Erarbeiten der „Stunden- und Teilziele“; Auflisten der „eingesetzten Medien“; Entwickeln der „Aktions- und Sozialformen“; Erarbeiten eines „didaktisch9 10 11

Vgl. Marr 2013, 50. S. u.a.: K + U 304/305 2006, Kelb 2007, K + U 334/335 2009, Schötker 2008, Mohr 2010. S. u.a.: Frey 2005, Gudjons 2008.

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methodischen Kommentars“. Um eine adäquate Form der Annäherung zu entwickeln, ging es hierbei insbesondere um die Frage nach der künstlerischgestalterischen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Kunstwerk. Dass ein ausgearbeitetes Konzept dem eigentlichen Projektgedanken des offenen Zugangs bisweilen zuwiderläuft, war dabei immer wieder Thema während der Vorbereitung. „So eng wie nötig und so offen wie möglich“ lautete deshalb das „Credo“ der Projektentwicklung. Deshalb entwickelten wir keine starren didaktischen Konzepte, sondern eher eine didaktische Rahmung, bei der die eigenen Projektideen der Teilnehmer noch Eingang finden konnten. Bei der Strukturierung der einzelnen Projekttage in der Villa Stuck wurde von den Studierenden sehr schnell beschlossen, dass die erste und letzte Phase mit den Teilnehmern gemeinsam gestaltet werden sollte, damit überhaupt eine gemeinsame Basis der Annäherung und des Austauschs geschaffen werden kann. Dies bedeutete, dass zu Beginn ein gemeinsamer Besuch der Ausstellung geplant wurde, bei der die einzelnen Kunstwerke durch die jeweiligen Expertenteams vorgestellt wurden. Eine anschließende Diskussion brachte die ersten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung der Ausstellung zu Tage. Begriffe wie Identität und Inszenierung hatten unterschiedliche Konnotationen bei Jung und Alt. Auf der einen Seite standen die Senioren, die zum Teil den Krieg mit seinen Propagandainstrumenten miterlebt hatten und im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen waren. Auf der anderen Seite standen Schülerinnen, die gerade dabei waren, im aktuellen Mediendschungel und Öffentlichkeitswahn ihren Weg zu finden. Phänomene wie Szenenbildung und Peergroups waren den Älteren kaum ein Begriff, während sie für die Jüngeren zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörten. Alle Diskussionsanteile wurden in Clustern auf Plakaten festgehalten, um sie zum Schluss der Projektarbeit, bei der wiederum gemeinsamen Präsentation aller Ergebnisse, nochmals hervorzuholen und dann – mit neuem Blick – gegenüberzustellen. Eine weitere Besonderheit war, dass sich alle Teilnehmer jeden Tag zu einem gemeinsamen Mittagessen im Garten der Villa trafen, um auch hier einen Austausch von Jung und Alt außerhalb des Arbeitens zu ermöglichen.

3 3.1

Sechs Kunstwerke ‒ Sechs Konzepte „Rebel Rebel“12

In Franz von Stucks Altem Atelier zeigt Brand seine neueste Zweikanal-Videoinstallation „Rebel Rebel“, bei der die Selbstinszenierung des Musikers David Beule im Zentrum steht und die den Titel eines Glamrock-Songs von David Bowie trägt (Abb. 1). Brand greift hier auf dokumentarische Aufnahmen zurück, die er in der 12

Zu allen Werken s. auch den Katalog, den die Villa Stuck im Anschluss an die Ausstellung herausgegeben hatte.

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Metal- und Deathcore-Szene rund um den Musiker gemacht hatte. Sezierend durchleuchtet Brand dessen Alltag: Bandproben, mit dem für diese Musiker typischen Schreien, dem „Shouten“, „Abhängen“ mit Freunden, Drogen konsumieren und Tattoos stechen lassen.

Abbildung 1

An Tätowierungen fasziniert Brand besonders, dass hier Inneres nach außen getragen und sichtbar gemacht wird, da Tätowierungen häufig die Lebensgeschichte der Träger wiedergeben. Die Videoinstallation steht in Wechselwirkung zum umgebenden Ausstellungsraum: „Die Inszenierung eines jungen Menschen unserer Gegenwart tritt hier in ein Spannungsverhältnis zu Franz von Stucks raumgewordener Selbstinszenierung: das Alte Atelier mit dem Altar der Sünde, das seine Identität als Künstlerfürst manifestiert. Die Motive der Tätowierungen mit ihren symbolhaften Bedeutungen, ihrer Nähe zum Fantastischen, zum Düsteren, Geheimnisvollen und Erotischen harmonieren gut mit der Motivwelt Franz von Stucks.“13 Kunstdidaktisches Konzept: Zunächst wurden einige Hintergrundinformationen über den Songtext von David Bowie „Rebel Rebel“ und über die Metal- und Deathcoreszene, in der sich die Band von David Beule verorten lässt, vermittelt. Nach mehrmaliger Betrachtung der Videoinstallation im Alten Atelier Franz von Stucks wurde die Arbeit in der Werkstatt fortgesetzt, wo das Video auf einem PC abgespielt wurde. Das Abspielen über PC bot nun ganz neue Möglichkeiten der Betrachtung und vertieften Videoanalyse. Wichtige Szenen konnten wiederholt und in Standbilder umgesetzt werden. Dies 13

Eröffnungsrede Marr, 2013.

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war vor allem deshalb wichtig, weil die Zweikanal-Videoinstallation immer zwei Videos gleichzeitig präsentiert und eine Rezeption dadurch erschwert wird. Außerdem war es möglich, Szenen in Slowmotion abzuspielen. Thematisiert wurde nun die Selbstinszenierung des Sängers David Beule vor der Kamera, die anhand folgender Fragen ermittelt werden sollte: Welche Körperhaltung, Kleidung, Requisiten, Sprache, Tonlage und Mimik legt dieser an den Tag? Wie geht er mit Freunden um? Welche Rolle versucht er zu vermitteln? Gibt es Szenen, in denen er vielleicht die Kamera vergisst? In denen er „er selbst ist“? Was heißt das überhaupt? Spielt man nicht immer eine Rolle? Welche Rolle nimmt der Künstler Martin Brand ein? Durch Kamerafahrten, Perspektivwechsel, Zooms, Schnitte und noch vielerlei anderer technisch-bildnerischer Mittel ist natürlich auch der Künstler „sichtbar“. Gibt es eine Dramaturgie? Gibt es Szenen, die wichtiger sind, als andere? Wie äußert sich dies im Video? Auch Fragen zum Ausstellungsort wurden gestellt: Wie unterscheidet sich die Rezeption eines Videos auf riesiger Leinwand in einem abgedunkelten, historischen Ambiente gegenüber einer Präsentation über Laptop in einer tageslichtdurchfluteten Werkstatt? Der Arbeit am Werk folgte die Annäherung an die eigenen Rollen und Inszenierungsmechanismen zunächst über das Zusammentragen von Fragen: Sind uns Inszenierungsmechanismen überhaupt bewusst? Bei der Schülerin mehr, beim Senioren weniger oder genau umgekehrt? Welche Rollen können heute unterschieden werden? Wie war das früher? Unter welchem gesellschaftlichen, politischen, sozialen und medialen Druck werden Rollen installiert? In der folgenden praktischen Auseinandersetzung entwickelten die Teilnehmer gemeinsam mit den Studierenden ein Storyboard, das ihre Rolle bzw. eine ihrer Rollen beschreibt. Von zu Hause mitgebrachte Requisiten unterstützen sie bei der Inszenierung dieser Rolle, die von den Studierenden über Video- und Fotoarbeiten festgehalten wurde. Eine Schülerin sah sich in der Rolle einer stillen jungen Frau, die ihr Handy oft nutzt, um mit ihrer Schwester zu telefonieren und mit ihr in Kontakt zu bleiben. In ihrer Rolle trat sie selbstbewusst und aufgeschlossen auf. Als Ort wählte sie das Café, als einen sehr öffentlichen Raum in der Villa Stuck. Sie ließ sich nicht von anderen Gästen aus der Ruhe bringen, obwohl diese ihr Verhalten vor der Kamera neugierig verfolgten. Demgegenüber wählte der Senior die etwas abgeschiedenere Terrasse im Garten der Villa als Inszenierungsort. Mit einer mitgebrachten Gitarre trug er ein Ständchen vor und rezitierte aus einem alten Buch. Ganz leise und längst nicht so laut wie Beule im Video. Sein ausgewählter Sitzplatz auf der Terrassenmauer stellte durch grün-rankende Pflanzen zwar eine gewisse Intimität her. Gleichzeitig jedoch gaben sie dem Platz etwas Bühnenhaftes, so dass klar war: Er steht dieses Mal im Mittelpunkt und wir alle schauen und hören gespannt zu (Abb. 2).

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Abbildung 2

3.2

„Punks“

In einem weiteren kleineren Raum ist die Videoarbeit „Punks“ zu sehen, in der sich Brand den Themen Adoleszenz und Jugendkultur widmet (Abb. 3). In der filmischen Sequenz, die eine verlangsamte Aufnahme zeigt und im Loop präsentiert wird, hält ein Pärchen, das aufgrund seiner Kleidung, Frisur und Utensilien ganz offensichtlich der Punkszene zuzuordnen ist, intensiven Blickkontakt mit den Betrachtern. Dadurch entsteht eine dialogische, ja fast schon intime Situation. Die Blicke der Punks werden von den Betrachtern erwidert und regen dadurch zur Selbstreflexion an. „Wir blicken diesen ‚lebenden‘ Bildnissen von Jugendlichen einer bestimmten Szenekultur in die Augen – und sie erwidern diesen Blick mit Eindringlichkeit und Direktheit, so dass sie beim Betrachter sofort Reaktion auslösen. (…) Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, individueller und gesellschaftlich definierter Blick vermischen sich zu einem ständig wechselnden Maskenspiel von Zeigen und Verbergen, von Projektionen und Spiegelbildern.“14 Kaum etwas ändert sich im Video, die Zeit scheint stehen zu bleiben.

14

Pohl 2011, 7f.

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Abbildung 3

Kunstdidaktisches Konzept: Im Zentrum der inhaltlichen Annäherung an dieses Werk stand die Auseinandersetzung der Projektteilnehmer mit der Jugendkulturszene des „Punk“ und den damit einhergehenden stereotypischen Auffassungen über diese Szene (Abb. 4). Dabei wurden die Themen Stereotype und Vorurteile weiter gefasst und unabhängig von Punks betrachtet und diskutiert. Eine Annäherung fand über die eigene Jugendzeit und vorherrschende Jugendkultur statt.

Abbildung 4

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221

Zunächst wurden wichtige technische und stilistische Mittel gemeinsam vor dem Video erarbeitet und analysiert: Porträtaufnahme; Ausschnitt; Bruststück und Kniestück; Kopfhaltung im Halbprofil; Loop; verlangsamtes Abspielen; kein Ton; kaum Bewegungen, außer sanftes Streicheln des Arms; Blinzeln mit den Augen und ruhige Bewegung der Haare im leichten Wind. Durch diese Mittel wird der Betrachter zum Betrachteten. Die Rollen kehren sich um und es entsteht ein scheinbar voyeuristisches Spiel auf beiden Seiten, das im gedanklichen Nachvollzug etwa so lauten könnte: „Eigentlich hatte ich von euch Punks gedacht, dass ihr aggressiv seid, ständig nur bettelt und dauernd Alkohol trinkt. Aber das tut ihr ja hier gar nicht. Wenn ich nun über euch so klischeebehaftet denke, denkt ihr dann auch so über mich? Begegnet ihr mir vielleicht auch mit stereotypen Vorstellungen? Bin ich für euch die ältere Dame aus einem angesehenen Seniorenstift mit viel Geld, wahrscheinlich etwas langsam in ihrer Auffassung? Obwohl kulturell interessiert, habe ich von aktuellen Geschehnissen keinen Schimmer und will doch überall dabei sein? Und bin ich für euch die Montessorischülerin, die den ganzen Tag mit Kopf, Herz und Hand bastelt, aus gutem Hause kommt und sich eher einem guten Buch widmet, als mit dem Smartphone zu chillen? Nein, so sind wir doch gar nicht!“ Durch eine Perspektivübernahme und Konfrontation mit den eigenen Vorurteilen können Stereotype durchbrochen und bewusst gemacht werden. In einem fiktiven Steckbrief versuchten die Teilnehmer daher eine neue Identität für die beiden Punks zu entwickeln, die fernab der vorher geäußerten Vorstellungen liegen sollte. Dabei wurde deutlich, dass das Ablegen von Vorurteilen ein mitunter schwieriger Akt sein kann, der tatsächlich einen fundamentalen Perspektivenwechsel bedingt. In einer weiteren Phase untersuchten die Teilnehmer klischeehafte Darstellungen in Zeitschriften und diskutierten über deren Wirkungsmechanismen. Aus dem vorgefundenen Material collagierten sie schließlich Masken und erprobten mit diesen unterschiedliche Körperhaltungen, die entweder den Ausdruck der Maske unterstützten oder aber konterkarierten. Die Frage, inwiefern sich die gezeigten Punks möglicherweise hinter einer unsichtbaren Maske bewegen, einer Maske, die ihnen eine gewisse Sicherheit im Auftreten und ein „Standing“ nach außen gibt, blieb dabei bis zum Schluss im Raum stehen. 3.3

„Match“

Bei „Match“ handelt es sich um eine dreikanalige Videoinstallation, die drei unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Hooliganschlacht zeigt. Brand wollte ursprünglich einen Film über Hooligans drehen, stieß dann jedoch zufällig auf Filmmaterial, das alte VHS-Amateuraufnahmen sowie Fernsehaufnahmen und Bildmaterial von einer Hooligan-Homepage enthielt. Die VHS-Bänder unterlagen bereits vielfältigen Kopiervorgängen, so dass die Bildqualität stark reduziert war und die Vorgänge auf den Filmen verfremdet wirkten. „Die Bilder, die Martin Brand in MATCH zeigt, stehen in einem starken Kontrast zu seinen anderen Arbeiten, die

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hochauflösende, makellose Bilder zeigen. Die fast abstrakte Bildästhetik ist farbintensiv und gemäldehaft expressionistisch. Sie lässt das Geschehen nur noch schemenhaft erkennen und steht im krassen Gegensatz zum Dargestellten, die brachiale Gewalt zweier Hooligangruppen, die auf einem offenen Feld gegeneinander antreten.“15 Aus dem vorgefundenen Material konnte Brand, ähnlich einem Archäologen, rekonstruieren, dass drei Kameraperspektiven derselben Schlacht vorlagen. Er synchronisierte sie und füllte fehlende Sekunden mit Weißblenden. Über die zusammengeschnittenen Filme legte er einen Ausschnitt einer Original-Tonspur im Soundloop darüber: Man hört schweres, aufgeregtes Atmen (wahrscheinlich das eines Kameramanns), Vogelzwitschern und Stimmengewirr. Die archaische von Männern dominierte Szenerie wird im ehemaligen Schlafzimmer von Franz von Stuck präsentiert und kontrastiert so Privatheit und Öffentlichkeit, Ruhe und Radikalismus. Kunstdidaktisches Konzept: Zunächst vermittelten die beteiligten Studentinnen wichtige Informationen zu der Entstehung des Werkes und seinen Inhalten. Zur Sprache kamen Themen wie Hooliganszene, die Aggressionsbereitschaft bei Hooligans und deren Spielbegriff. So gibt es bei diesen Kämpfen gewisse Regeln, wie z.B. dass jemand, der auf dem Boden liegt, nicht weiter verletzt werden darf. Anschließend erfolgte auch hier zunächst eine intensive Videoanalyse, in der Brands stilistische Mittel untersucht wurden. So irritiert die Arbeit „Match“ auf verschiedenen Ebenen. Zum einen gibt es auf der Bildebene eine Diskrepanz zwischen der malerischen, an van Gogh erinnernden Farbigkeit, und den tatsächlich gezeigten archaischen Gewalthandlungen, die einer mittelalterlichen Schlacht ähneln. Zum anderen gibt es eine Dissonanz zwischen der Ton- und Bildebene, da ja nur eine einzige Tonspur über drei Videoeinstellungen gelegt wurde. Während schweres Atmen und Stimmengewirr noch mit den gezeigten Bildern übereingebracht werden können, kann das Vogelgezwitscher kaum mehr mit den Bildern zusammengebracht werden. Bei einer Übung zur Schärfung der Sinne wurde dies mehr als offensichtlich: Welche Eindrücke vermitteln euch die Bilder, wenn ihr euch die Ohren zuhaltet? Welche Eindrücke vermitteln euch im Gegensatz dazu die Töne, wenn ihr eure Augen schließt? Mit Verzerrungen und Verfremdungen gelang es Brand, versteckte und offensichtliche Aggressionen darzustellen. Im weiteren Verlauf des Projektes wurde diese Thematik aufgegriffen und in der praktischen Auseinandersetzung weiterverfolgt. Mit den Hintergrundinformationen zur Hooliganszene und der Kenntnis der stilistischen Mittel ausgestattet, sollten die Teilnehmer nun offensichtliche und versteckte aggressive Szenen aus dem Video explizieren und in einem weiteren Schritt selbst performativ darstellen. 15

Eröffnungsrede Marr, 2013.

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Während dieser Performance sollten sie auf folgende Fragen achten: Was machen diese Handlungen und Bewegungen mit dem Körper? Kann gestelltes aggressives Handeln echte Aggression befördern? Worin unterscheidet sich hier die ältere von der jüngeren Generation? Die szenischen Darstellungen wurden aus verschiedenen Perspektiven fotografiert und in Bezug zu den Erfahrungen von Jung und Alt gesetzt. Schülerin und Senior erhielten dadurch die Möglichkeit, sich aktiv in Rollen aggressiver Situationen hineinzuversetzen, um die eigene Einstellung und Haltung bezüglich Aggressionen in der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Dabei wurden folgende Fragen aufgeworfen: Gibt es gesellschaftliche Gegebenheiten, früher wie heute, die Aggressionen, versteckte wie offensichtliche, hervorrufen und befördern? Welche Gruppen neigen eher zu Gewaltausbrüchen? Welche Aggressionspotentiale stecken eigentlich in einem selbst? Gibt es hier bereits eigene Erfahrungen? Mit Mitteln der Verfremdung (u.a. Farben, Filter, Kontraste) wurden die Fotografien zum einen am Computer so verändert, dass die dargestellten Aggressionen kaum mehr wahrnehmbar waren. Zum anderen wurden ausgedruckte Fotos durch Übermalen, Zerknittern und Überzeichnen verfremdet. Offensichtliche Aggression wurde so zu versteckter Aggression (Abb. 5 und 6).

Abbildung 5 und 6

3.4

„Fight for your Right Vol.1“

Bei der Fotoarbeit „Fight for your Right Vol.1“ präsentiert Brand 84 zu einem Plateau zusammengesetzte Standbilder aus Fernsehbeiträgen, die Gewaltexzesse bei internationalen Fußballspielen zeigen (Abb. 7). Wieder geht es um Hooligans, Aggressivität und Männlichkeit. Auch hier spricht Marr in ihrer Einführungsrede von einer „malerischen Bildästhetik“. Und auch hier zeigt sich noch einmal ein Gegensatz zur Räumlichkeit, nämlich zum Badezimmer Franz von Stucks als einem sehr privaten und intimen Raum und dem präsentierten Werk mit öffentlich dargestellter Brutalität. Inmitten von idealisierenden in Wandreliefs gezeigten Götterdarstellungen werden Bilder roher Gewalt gezeigt, wobei es um das reine Abreagieren und

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nicht um das Verfolgen höherer, politischer Ziele geht, wie es – im Gegensatz hierzu – die antiken Wandreliefs symbolisieren.

Abbildung 7

Kunstdidaktisches Konzept: Wie bei der Arbeit „Match“ geht es auch hier um das öffentliche, aggressive Handeln innerhalb einer bestimmten Subkultur. Auch hier wurde in einem ersten Schritt zunächst gemeinsam mit den Teilnehmerinnen eine Fotoanalyse durchgeführt und die stilistischen Mittel Brands diskutiert (Abb. 8): Dass die Arbeit erst auf den zweiten Blick verstörend wirkt, liegt zum einen an der Masse an kleinformatigen Bildern, die in ihrer Gesamtheit zunächst bunt und farbenfroh wirken. Zum anderen wirkt die Präsentation der Einzelbilder innerhalb eines großen Tableaus sehr geordnet und statisch. Erst bei genauerem Hinsehen offenbaren sie schreckliche Szenen in einer der Präsentation zuwiderlaufenden Dynamik. Als weiteren thematischen Einstieg zeigten die Studierenden unterschiedliche bildnerisch-künstlerische Mittel, wie Gewalt und Aggression nochmals verstärkt werden können. So wurde im Barock über den extremen Gegensatz von Licht und Dunkelheit die Dramatik von gewalthaltigen Szenen immens gestärkt, wenn man sich z.B. Artemisia Gentileschis „Judith enthauptet Holofernes“ (um 1612) vor Augen führt. Der zeitgenössische Aktionskünstler Hermann Nitsch erschreckt mit ausgeweideten Tierkadavern und Blutorgien so manchen Museumsbesucher. Arnulf Reiner hingegen zeigt mit Übermalungen von Konterfeis eine gewisse zerstörerische Haltung.

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Abbildung 8 und 9

Während die Teilnehmer bei der Arbeit „Match“ versuchten, Aggression mit dem ganzen Körper darzustellen, fokussierte sich die Projektgruppe hier auf mimische Darstellungen. Dabei stellte sich sehr schnell heraus, dass es gerade zum Beispiel der älteren Dame überaus schwer fiel, Aggression nach außen zu tragen, wenn auch gestellt und zu künstlerischen Zwecken. Aus ihren Erzählungen wurde deutlich, dass gewaltbereites, öffentliches Verhalten in ihrer Jugend überhaupt nicht geduldet wurde und sie dies auch heute noch sehr verwerflich findet. Auch der Schülerin lag aggressives Verhalten sehr fern. Allerdings wurde in der Diskussion deutlich, dass im Sprachgebrauch Jugendlicher bisweilen aggressive Töne anklingen können. Erst nach vielfältigen Übungen und im Dialog miteinander war es den beiden möglich, vor der Fotokamera Aggression zu simulieren. Beide erschraken sehr, als sie ihre Gesichtsausdrücke auf den Fotos sahen, denn dass sie tatsächlich so böse schauen können, hätten sie nicht für möglich gehalten. Die Vorbehalte gegenüber aggressiven Handlungen wurden auch bei der weiteren Bearbeitung der Fotos offensichtlich. Zerreißen, Zerknüllen, Zerkratzen, Übermalen waren Aktionen, die die beiden nur schwer an ihren Fotos vollziehen konnten, da in ihnen eine gewisse zerstörerische Kraft offenbar wird. Dies kostete beide große Überwindung (Abb. 9).

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3.5

„Portraits of Young Men“

„Portraits of Young Men“ zeigt 40 überlebensgroße Portraits junger Männer. Sie scheinen den Besuchern direkt in die Augen zu schauen und mit ihren Blicken zu konfrontieren. Hierdurch entsteht eine enge, dialogische Situation, der man – von welchem Raumstandpunkt aus auch immer – nicht zu entkommen scheint und man selbst fühlt sich auch beobachtet. Durch die sehr große Darstellung der Gesichter werden Unsicherheiten der jungen Männer sichtbar, während sie minutenlang konzentriert und sehr ruhig in die Kamera schauen, ohne sich ablenken zu lassen. Zutage tritt dabei der Kontrast zwischen vorgegebener Härte und aufscheinender Weichheit. Ursprünglich wollte Martin Brand sowohl Mädchen als auch Jungen portraitieren. Allerdings musste er im Laufe seiner Arbeit feststellen, dass Mädchen kaum auf der Straße anzutreffen waren. Kunstdidaktisches Konzept: Nach einer langen Zeit der Betrachtung und dem ersten Festhalten spontaner Eindrücke, gaben die Studierenden zunächst Hintergrundinformationen zum Werk. Anschließend wurden die stilistischen Mittel untersucht und diskutiert. Im Grenzbereich zwischen Fotografie und Film verwendet Brand eine Bildästhetik, die Objektivität suggeriert. Schließlich gibt es kein Storyboard, keine Sprecheinlagen, keine Dramaturgie. Es scheint, als richtete Brand lediglich die Kamera auf die jungen Männer. Allerdings: Die eindringlichen Porträts verweisen auf den Kern der Jugendlichen, auf ihre Persönlichkeit. Es gibt nur eine scheinbare Objektivität. Das Innere tritt nach außen. Was aber ist zu sehen oder besser: Was ist wahrzunehmen? Eine Übung zum kreativen Schreiben sollte hier Antworten geben: Die Schülerin und die Seniorin verfassten zu zwei Porträts einen Steckbrief. Gibt es Ähnlichkeiten in den Steckbriefen, die möglicherweise auf stereotype Vorurteile rekurrieren? Welche Unterschiede gibt es? Haben diese Unterschiede etwas mit unterschiedlichen Auffassungen bei Jung und Alt zu tun? Eine filmische Übung gab einen Einblick in die eigene Fähigkeit, minutenlang in eine Kamera zu schauen, ohne direkte Rückkopplung durch einen Filmenden. Welche Dinge gehen dabei durch den Kopf? Und empfindet man selbst auch das Gefühl, etwas von seiner Persönlichkeit preiszugeben? Da die Gruppe bei ihren Diskussionen und Analysen immer wieder auf das Thema Stereotype stieß, wurde dieses im weiteren Verlauf des Projektes ins Zentrum gestellt. Mit mitgebrachten Requisiten versuchten Schülerin und Seniorin gemeinsam, unterschiedliche Typen überspitzt darzustellen, indem sie Kleidung, Haltung, Mimik usw. von z.B. Hippies, Punks, Bettlern, Rockern, aber auch von Damen der „feinen Gesellschaft“ sowohl im Video, als auch in Fotografien imitierten (Abb. 10 und 11).

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Abbildung 10 und 11

3.6

„Breakdance“

Mit der etwa sieben Minuten dauernden Arbeit „Breakdance“ gelang Martin Brand 2003/2004 der Durchbruch. Es handelt sich um eine zufällig entstandene Aufnahme von Jugendlichen auf einer Kirmes. Im Vordergrund sieht man die Jugendlichen, wie sie in ruhiger Körperhaltung das rege Treiben des Karussells beobachten. Im Hintergrund hingegen verschwimmen die schillernd bunten Wagen des Fahrgeschäftes aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit. Der zufälligen Aufnahme stellt Brand eine choreografierte Ich-Erzählung gegenüber. Über zwei Kopfhörer hört man aus dem Off die Stimme eines Mädchens, das in sehr abgeklärter Weise von ihrem letzten Sommer, von Gewalt, ihren Sehnsüchten und Perspektivlosigkeit erzählt. Durch die Kopfhörer ergibt sich eine intime Situation für die Betrachter. Die Geschichte ist eine Montage aus Textfragmenten, die Martin Brand gesammelt, aufgeschrieben und zu einer Erzählung zusammenmontiert hat. Zwischen der Geschichte und den Bildern entsteht ein Reibungsfeld, das Skepsis und weitere Fragen hervorruft. Kunstdidaktisches Konzept: Bei der Filmanalyse von „Breakdance“ wurden zunächst die vielschichtigen Ebenen und Kombinationen herausgearbeitet. So steht der Bildebene mit gefundenem, authentischem Material eine Tonebene gegenüber, die einen fiktiven und konstruierten Text enthält. Sehen wir hier mehrere Menschen in einer alltäglichen, lustbetonten Situation, spricht dort nur eine einzige, als Sprecherin ausgebildete Person, die eine befremdlich verstörende Geschichte erzählt. Handelt es sich hier um farbenfrohe, dynamische Bildsequenzen, haben wir es dort mit einer kaum modulierten Stimme zu tun, die sehr getragen die Geschichte immer weiter führt. Gemeinsam mit den Teilnehmern wurden unterschiedliche Möglichkeiten der praktischen Annäherung entwickelt und diskutiert. Möglich wäre z.B., dass eine der beiden Teilnehmerinnen eine malerische oder zeichnerische Arbeit entwickelt und hierzu

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Anja Mohr

die andere einen fiktiven Text schreibt und vertont. Es könnte aber auch ein durch Zufall ausgewähltes Musikstück, ein Zeitungsartikel oder ein Radiomitschnitt als Grundlage für eine davon unabhängige Arbeit dienen (z.B. Comic, Foto, Theaterstück). Die Gruppe entschied sich zum einen für eine Papiercollage, die aus Fundstücken von zusammengewürfelten Texten und Bildern aus Zeitungen und Zeitschriften bestand. Auf diese Elemente reagierten sie mit Textfragmenten, die dem Inhalt der Texte zustimmten oder ihn konterkarierten (Abb. 12). Zum anderen erarbeiteten sie eine Geschichte, in dem ein Mädchen nach der Einnahme von Drogen die Vorstellung entwickelte, sich in einem Märchen zu befinden. Über die Bildebene wurden zwei verschiedene Tonebenen gelegt. Einmal erzählte eine Sprecherin in der Ich-Form in angeregter und mitfühlender Weise von den surrealen Erlebnissen, die sie gerade im Video erlebt. Auf einer anderen Tonebene wurden dagegen reine Fakten, die dem Video zugrunde liegen, in einer objektiv distanzierten Form gesprochen.

Abbildung 12

4

Fazit

Die Projektarbeit erwies sich für alle Teilnehmenden als große Bereicherung.16 Unterschiedliche Ansichten wurden auf respektvolle Weise diskutiert. Studentinnen, Schülerinnen, Seniorinnen und Senioren bildeten trotz der großen Altersspanne eine Einheit, die für alle Gespräche und Diskussionen sehr fruchtbar war. Die Teamarbeit ermöglichte ein „voneinander Lernen“ und ein Gespräch auf Augenhöhe, das unterschiedliche Meinungen gelten ließ. Die Lebenserfahrungen der 16

S. hierzu ergänzend Marr 2013.

Raus aus der Uni – Rein ins Projekt

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Senioren öffneten den Blick für neue Facetten, die zu einer vertieften Auseinandersetzung führten. Spannend war dabei vor allem zu sehen, wie die Meinungen über jugendkulturelle Phänomene, Vorurteile und Stereotype zwischen Jugendlichen und Senioren korrespondierten. Dass diese beinahe „heile Welt“ Situation im Projekt natürlich auch dem Umstand geschuldet ist, dass hier mit einer sehr ausgewählten Teilnehmergruppe gearbeitet wurde, sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Eine „pubertierende“ achte Klasse mit 30 Schülerinnen und Schülern hätte für die Zusammenarbeit mit Senioren sicherlich anderer Konzepte bedurft. In Bezug auf die Arbeiten von Martin Brand waren sich alle Teilnehmenden einig, dass sie das Werk jetzt mit anderen Augen sehen und nun einen sehr viel offeneren und differenzierteren Zugang haben. Und dies nicht nur mit Blick auf Brands Werke. Hier fand nämlich ein Transfereffekt auf aktuelle Kunstströmungen statt. Das Kunstverständnis wandelte sich: Kunst ist nicht nur zum Genießen da und für einen Sonntagnachmittag der richtige Zeitvertreib. Kunst kann unangenehm sein, sie kann zum Nachdenken anregen und Fragen zu gesellschaftlichen Zusammenhängen aufwerfen. Sie kann meine eigenen bisherigen Überzeugungen über Bord werfen und viele neue Fragen aufwerfen, die letztlich unbeantwortet bleiben. Das kann verwirrend und aufwühlend sein und muss „ausgehalten“ werden. Die eingangs von einer Seniorin gestellte Frage, was denn an Brands Arbeiten überhaupt Kunst sei, eine Frage, die Kunstvermittler gerade bei aktueller Kunst sehr häufig hören, wurde nochmals diskutiert – und schließlich revidiert. Den Gewinn des Vermittlungsprojektes fassten die Studentinnen der Gruppe „Portraits of Young Men“ treffend zusammen: „Der prozedurale Charakter einer kunstpädagogischen Arbeit lässt sich an unserer Gruppe beispielhaft aufzeigen. Verschiedene Stationen auf unterschiedlichen Komplexitätsniveaus mit jeweils differenzierten Denk- und Erfahrungsprozessen wurden nacheinander durchlaufen. Beide Teilnehmerinnen gingen zusammen mit den Studierenden auf eine Reise. Diese Reise war am Anfang von Unsicherheit, Unkenntnis und zum Teil Unverständnis in Bezug auf das Werk geprägt, brachte aber viele neue Erkenntnisse mit sich und ergab unter Einschluss der Anschlusspräsentation einen Mehrwert sowohl für die Seniorin als auch für das jugendliche Mädchen. Durch das Projekt konnte eine Brücke zwischen den verschiedenen Generationen gebaut werden, die es ermöglicht hat, eine neue Sichtweise auf die verschiedenen Bereiche zu werfen.“

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Anja Mohr

Literaturverzeichnis Brand, Martin: Eyes wide shut, Ausstellungskatalog, 2008. Ders: Portraits of Young Man, Ausstellungskatalog, 2010. Kelb, Viola (Hrsg.): Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – Neue Lernqualitäten, München 2007, 143–150. De Groote, Kim/Fricke, Almuth (Hrsgg.): Kulturkompetenz 50+. Praxiswissen für die Kulturarbeit mit Älteren, München 2010. Frey, Karl: Die Projektmethode, Weinheim 2005. Gudjons, Herbert: Handlungsorientiert lehren und lernen. Schüleraktvierung. Selbständigkeit. Projektarbeit, Bad Heilbrunn 2008. Hartung, Anja/Schorb, Bernd (Hrsgg.): Generationen und Medienpädagogik. Annäherungen aus Theorie, Forschung und Praxis, München 2012. Kunst + Unterricht 236, 1999, „Jung und Alt“. Kunst + Unterricht 304/305, 2006, „Methoden im Kunstunterricht“. Kunst + Unterricht 323/324, 2008, „Ins Museum“. Kunst + Unterricht 334/335, 2009, „Orientierung im kunstpädagogischen Handeln“. Kunst + Unterricht 366/367, 2012, „Identität und Ausdruck“. Kunz-Ott, Hannelore (Hrsg.): Museum und Schule. Wege zu einer erfolgreichen Partnerschaft, München/Berlin 2005. Kupser, Thomas/Pöttinger, Ida (Hrsgg.): Mediale Brücken. Generationen im Dialog durch aktive Medienarbeit, München 2011. Lehmann, Anette Jael: Kunst und Neue Medien, Stuttgart 2008. Marr, Anne: Was ist mit meinem Enkel los?, in: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Museum heute. Fakten, Tendenzen, Hilfen, 46–48, online verfügbar unter: http://www.museen-in-bayern.de/uploads/media/mh_45.pdf Medien & Altern 1/12, Perspektiven der Medien- und Alternsforschung, München 2012. Mohr, Anja: Seitenwechsel im MuseumShop. Ein Vermittlungskonzept, in: BDK-Mitteilungen 4/10, 16–19. Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik, Stuttgart 2005. Pohl, Klaus-D.: Ansichten des Ich, in: Hessisches Landesmuseum Darmstadt (Hrsg.): Ansichten des Ich, 2011, 7–19. Schötker, Ulrich: Kunstvermittlung und ihr offener und gestaltbarer Möglichkeitsraum, in: Karl-Heinz Busse /Karl-Josef Pazzini (Hrsgg.): (Un)Vorhersehbares Lernen: KunstKultur-Bild, Dortmund 2008, 473–491. Standbein-Spielbein Nr. 64/2002: Museumspädagogik im Kunstmuseum. Uhlig, Bettina/Wahner Stephan: Orientierung: Kunstvermittlung, Kunst und Unterricht, 334/335, 2009, 22–29. Villa Stuck (Hrsg.): Ricochet #6 Martin Brand, 2013. Wagner, Ernst/Dreykorn, Monika (Hrsgg.): Museum, Schule, Bildung. Aktuelle Diskurse, innovative Modelle, erprobte Methoden, München 2007.

„Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“ Ein gemeinsames Unterrichtsprojekt von Studierenden der Kunstpädagogik und Grundschulreferendaren – ein Praxisbericht Florian Pröttel Im Wintersemester 2014/15 führte das Institut für Kunstpädagogik der LMU eine Kooperation mit dem Münchner Studienseminar für Grundschullehrkräfte von Seminarrektorin Claudia Weiß durch. Die Idee zur Kooperation ging ursprünglich zurück auf eine Zusammenarbeit von Frau Weiß und Frau Dr. Lutz aus dem Institut für Musikpädagogik. Ziel war es, zum einen den Studierenden zusätzliche Möglichkeiten zu eröffnen, das in den Seminaren erworbene fachdidaktische Wissen in der Praxis anzuwenden und den Alltag im Referendariat kennen zu lernen. Zum anderen sollten die Lehramtsanwärter durch ein Input-Referat von Seiten des Institutes und eine abschließende gemeinsame Reflexion ihre fachdidaktischen Kenntnisse im Bereich der Kunstpädagogik vertiefen und erweitern können. Die Anregung zu einer möglichen Kooperation des Studienseminars mit meinem Seminar „Kunst und Vermittlung – Seminar zur Praktikumsbegleitung in der Grundschule“ nahm ich aus mehreren Gründen dankend auf. Im Rahmen meiner langjährigen Tätigkeit im Schulbetrieb bin ich unter anderem oft mit der Betreuung und Beratung von Praktikanten und Lehramtsanwärtern betraut worden. Der Praxisschock, den Berufsanfänger in den ersten Jahren und besonders im Referendariat erleiden, wurde mir immer wieder deutlich vor Augen geführt. Daher erachte ich es als äußerst hilfreich, wenn Studierende während des ersten Ausbildungsabschnittes die Möglichkeit erhalten, ins Referendariat hinein zu ‚schnuppern‘, Gespräche mit Lehramtsanwärtern und Seminarrektoren zu führen und sich auf diese Weise bereits innerlich auf das einzustimmen, was nach dem ersten Staatsexamen auf sie zukommt. Das Praktikumsamt der Ludwig-Maximilians-Universität München bietet den Praktikantinnen und Praktikanten bereits seit einiger Zeit in Form des 1 ZSePra-Projektes die Möglichkeit, einen Referendar eine Woche zu begleiten. „Durch den engen Kontakt zu den Lehramtsanwärtern und den Seminarrektoren erhielten die Studenten ein eigenes Bild von der Referendariatszeit. So wurde auch die Teilnahme an den Seminartagen als sehr lehrreich gewertet.“2 Da mir dieses 1 2

Die Abkürzung steht für Zusammenarbeit Seminar – Praktikum. http://www.praktikumsamt.mzl.uni-muenchen.de/aktuelles/archiv/rueckmeldung_zsepra/ index.html [17.3.2015].

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Florian Pröttel

ZsePra-Projekt von Praktikantinnen und Praktikanten immer wieder sehr positiv geschildert wurde, lag es also nahe, eine eigene Kooperation mit einem Studienseminar zu erproben. Eine weitere Motivation zu diesem Projekt bestand in dem Umstand, dass Studierende im fachdidaktischen Praktikum nicht immer Möglichkeiten erhalten, über das geforderte Maß hinaus eigene Unterrichtsversuche durchzuführen. Dies hängt oft mit organisatorischen oder terminlichen Umständen zusammen, aber im Fach Kunsterziehung auch mit der Tatsache, dass aufwändigere Unterrichtsvorhaben im kunstpädagogischen Bereich oft länger als 45 Minuten dauern. Die Frage nach der persönlichen Eignung zum Lehrerberuf kann man aber eigentlich nur beantworten, indem man sich bereits im ersten Ausbildungsabschnitt selbst immer wieder in der Unterrichtssituation erlebt und durchgeführte Unterrichtsversuche reflektiert. Ein weiterer sehr interessanter Aspekt des Projektes bestand in der Vorgabe, dass die Stunden im Team-Teaching durchgeführt werden sollten: Die Studierenden sollten sich gemeinsam mit den Referendaren für ein Thema entscheiden, die zu haltenden Stunden miteinander planen und schließlich auch gemeinsam in der Klasse durchführen. Die Gruppen bestanden aus zwei bis vier Teilnehmerinnen und Teilnehmern, von denen mindestens eine bereits als Referendarin im zweiten Jahr eine Klasse selbst führte. Anders als im Praktikum, in dem die Studierenden zwar von der Praktikumslehrkraft beraten werden, in der Regel dann aber alleine vor der Klasse ihre Unterrichtsversuche durchführen, konnten hier die Klassenleiter die Studierenden in gemeinsamer Interaktion während der Stunde begleiten. Die Durchführung von gemeinsamen Unterrichtsprojekten in den Klassen der Lehramtsanwärter bedeutete für die Referendare natürlich zusätzlichen organisatorischen und zeitlichen Aufwand. Dafür profitierten sie auf andere Weise von dem Vorhaben. Durch meinen Einführungsvortrag sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kompakt und anschaulich in die Möglichkeiten bei der Planung einer Unterrichtseinheit im Fach Kunst eingeführt werden, um Anregungen und Hilfestellung für die eigene Praxis zu erhalten. Durch die abschließenden Präsentationen der durchgeführten Stunden – die Artikulationsschemata wurden zum Schluss allen zur Verfügung gestellt – sowie durch ein zweites Abschlussreferat zum Thema „Malerei in der Grundschule“ wurde diese Fülle an Unterrichtsvorschlägen beim zweiten Treffen im Plenum noch erweitert. Die Durchführung des Projektes bestand aus vier Schritten: − Erstes Treffen (Dauer 90 Minuten) mit allen Seminarteilnehmerinnen (insgesamt zwölf Studierende) und den Referendaren des Studienseminars (insgesamt 13 Personen, davon drei im ersten Jahr und zehn im zweiten Jahr – diese alle mit Klassenleitung) im Institut für Kunstpädagogik der LMU mit Input-Referat, Kennenlernen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und Bildung der Arbeitsgruppen (zwei bis vier Personen pro Gruppe, davon pro Gruppe ein Referendar im zweiten Jahr mit Klassenleitung), sowie Informationen zu Planung und Durchführung

„Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“

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− Treffen der einzelnen Gruppen an individuell festgesetzten Terminen zur Planung

der jeweiligen Kunststunden − Durchführung der Kunststunden im Team-Teaching an individuell festgelegten

Terminen in den Klassen der Lehramtsanwärter − Gemeinsame Präsentation und Reflexion der gehaltenen Stunden sowie Vortrag

zur „Malerei in der Grundschule“ am Institut für Kunstpädagogik (Dauer insgesamt ca. 110 Minuten) Das erste Treffen verlief in einer recht offenen und lockeren Atmosphäre. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde eröffnete ich die gemeinsame Arbeit mit einem grundlegenden Referat zur Planung von Kunstunterricht. Die Wahl des Themas sowie der Technik wurden den Arbeitsgruppen zwar freigestellt, aber zwei wesentliche methodische und inhaltliche Aspekte waren mir im Hinblick auf die zu haltenden Stunden besonders wichtig: Zum einen die Möglichkeiten einer motivierenden und anschaulichen Hinführung zur Gestaltungsaufgabe durch eine ausführliche Kunstbetrachtung in der Einstiegsphase. Für eingehende Werkbetrachtung bereits im Grundschulalter sprechen zahlreiche Gründe. So sind Kinder bei der Begegnung mit Kunstwerken offen und neugierig und lassen sich auf ungewohnte Darstellungen gerne ein. Durch die Konfrontation mit der Welt und der Sprache der Kunst erweitern sie ihren Horizont. Darüber hinaus aber wird durch die Beschäftigung mit Kunstwerken im Unterricht „nicht nur das bildnerische Repertoire der Kinder erweitert – wie es etwa im simplen Nachvollzug einer künstlerischen Technik geschieht –, vielmehr kann sich in der Auseinandersetzung mit künstlerischen Bildsprachen das eigene Ausdrucksver3 halten weiterentwickeln und differenzieren.“ In diesem Sinne war die Gestaltungsphase im Anschluss an die Betrachtung eine weitere wesentliche Vorgabe für die Stundenplanung. Denn „Genuss an Kunstwerken stellt sich dann ein, wenn den Lernenden ästhetische Erfahrungen im Umgang mit den jeweiligen Werken ermöglicht werden. Hierbei ist die Verzahnung von Produktion und Rezeption im Umgang mit Kunstwerken selbstverständlich. Das heißt, dass die Lernenden sich einem Werk aktiv nähern, evtl. selbst dazu bildnerisch arbeiten […]“4 Ziel der Gestaltungsphase sollte eine große Offenheit und Vielfalt bei der Realisierung der Schülerarbeiten sein, sowohl in thematischer Hinsicht, als auch bezüglich der Wahl der Arbeitsmittel. Diese von den Lehrplänen allgemein geforderte Offenheit ist im Unterrichtsalltag leider noch immer keine Selbstverständlichkeit. Um diese beiden Aspekte der Planung – Kunstbetrachtung und Vielfalt bei der Realisierung eigener Bilder – anschaulich zu machen, zeigte ich eine exemplarische Unterrichtseinheit zum Gemälde „Kämpfende Formen“ von Franz Marc sowie einige sehr unterschiedliche bildnerische Lösungen hierzu aus der dritten und vierten Jahrgangsstufe. Die Aufmerksamkeit seitens der Referendare und Studie-

3 4

Uhlig 2005, 92. Kirchner 2011, 23.

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renden während des ca. 45-minütigen Vortrages zeugte von großem Interesse an Beispielen aus der Schulpraxis. Nach diesem Referat erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer grundsätzliche Informationen und Vorgaben zur Durchführung des Projektes: Die Stunden sollten gemeinsam geplant und auch gemeinsam in einer Klasse eines Referendars/ einer Referendarin im zweiten Jahr gehalten werden. Alle Teams sollten ihre Ergebnisse im Anschluss im Plenum vorstellen. Thematisch, inhaltlich und auch in Hinblick auf den Zeitrahmen bei der Durchführung der Stunden wurden – wie oben schon erwähnt – keine Vorgaben gemacht. Zum Abschluss dieser ersten Sitzung wurden dann die Teams gebildet, wobei auch auf persönliche Wünsche Rücksicht genommen wurde. Die Einteilung der Gruppen verlief unproblematisch. Die Treffen in der zweiten und dritten Stufe (Planung und Durchführung der Stunden) wurden von den Teilnehmerinnen eigenständig durchgeführt. Hier gab es sehr unterschiedliche Rückmeldungen. Während einige Teams sich gut koordinieren konnten, gab es doch in einzelnen erhebliche Schwierigkeiten bei der Terminfindung für Planung und Durchführung. Bis auf eine Gruppe schaffte es jedoch jedes Team bis zur Deadline. Das Abschlusstreffen fand wie geplant wieder am Institut für Kunstpädagogik statt. Der zeitliche Rahmen betrug 90 Minuten. In der Zwischenzeit erhielt ich von der Seminarrektorin den Hinweis, dass sich die Referendare in dieser Sitzung weitere Anregungen und Beispiele zum Kunstunterricht in der Grundschule von meiner Seite dringend wünschten. Daher planten wir ca. 60 Minuten für die Präsentation und Diskussion der Ergebnisse und weitere 30 Minuten für ein zweites grundlegendes Referat zur Fachdidaktik ein. Bei der Präsentation der Ergebnisse war die Zeitvorgabe (sechs Teams mit maximal zehn Minuten) jedoch zu knapp. Die Arbeitsgruppen referierten – wieder als ganzes Team – sehr anschaulich und ausführlich ihre Ergebnisse. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden die Stundenverläufe ausgehändigt, sodass jeder die Stunden später einmal für den eigenen Kunstunterricht verwerten könnte. Die meisten Gruppen benötigten also mehr als zehn Minuten. Den geplanten Vortrag hielt ich daher erst im Anschluss an die 90 Minuten stark verkürzt. Bei der Durchführung der Kooperation erwies es sich als unproblematisch, dass in Hinblick auf die zu wählenden Gestaltungstechniken keine Vorgaben gemacht wurden. Meine Befürchtung, dass die Gruppen der in der Grundschule vorherrschenden Technik des Malens mit Wasserfarben den Vorrang geben würden, war unbegründet: Zwei Gruppen wählten als Gestaltungstechnik die Collage, zwei weitere beschäftigten sich mit Land Art, also dem Gestalten mit Naturmaterialien, ein Team führte die eher selten thematisierte Zeichentechnik des Ein-Linien-Bildes ein und eine Gruppe führte mit den Schülern mit Wachsmalkreiden zeichnerisch und malerisch ein Bilddiktat durch. Das Input-Referat der ersten Sitzung ermutigte alle Teams, die Hinführungsphase mit einer Kunstbetrachtung zu verknüpfen. Auch hier wurden ganz unterschiedliche Künstler und Sparten ausgewählt: Bei den Col-

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lage-Gruppen wurde mit einem Kunstwerk Juan Mirós bzw. mit dem Bilderbuch „Flieg, Flengel flieg!“ von Brigitta Garcia Lopez gearbeitet, die Land Art-Gruppen lernten die Künstler Andy Goldsworthy bzw. Gerry Schum kennen, beim EinLinien-Bild wurde zunächst ein Werk Paul Klees betrachtet und bei der Bild-DiktatStunde wurden zu Beginn gleich mehrere Künstler der Künstlervereinigung „Blauer Reiter“ vorgestellt. Auf die Planung und Durchführung der letztgenannten Unterrichtseinheit möchte ich im Folgenden genauer eingehen, da hier der Nutzen der Kooperation zwischen Fachdidaktik und Schulpraxis besonders deutlich wird. Die Stunde mit dem Thema „Wir lernen die Künstlergruppe ‚Der Blaue Reiter‘ kennen“ wurde in der dritten Jahrgangsstufe gehalten und begann mit einer methodisch vielfältigen Hinführung. Statt einer Sachinformation in Form eines Lehrervortrages oder eines Sachtextes trugen zunächst vier Schülerinnen und Schüler einen fiktiven Dialog der Künstler Wassily Kandinsky, Franz Marc, August Macke und Paul Klee in Form eines szenischen Spiels vor: „Wassily Kandinsky: Schau mal, Franz, dieses Bild habe ich neulich gemalt. Das Bild ist ziemlich abstrakt, aber das ist meine neue Idee von Kunst, weißt du. Wie findest du das? Franz Marc: Mensch Kandinsky, du hast wirklich super Ideen. Gefällt mir sehr gut. So abstrakt wie du male ich zwar nicht, aber ich habe auch ein paar neue Ideen. Du weißt, dass ich sehr, sehr gerne Tiere male. Das ist mein neustes Bild. Ein Tiger, einmal ganz anders, als ihn andere Maler malen. Die malen irgendwie immer nur genau das, was sie sehen, da kann man ja gleich eine Fotografie nehmen, oder? Weißt du, ich wollte, dass man gleich die Kraft, die Macht und die Gefahr spürt, wenn man diesen Tiger sieht. August, Paul, was sagt ihr dazu? August Macke: Wir werden allen zeigen, wie unserer Meinung nach die moderne Kunst aussehen könnte. Toll, was ihr so malt. Gefällt mir! Gut, dass wir so zusammenhalten. Gemeinsam sind wir stark. Für unsere Ausstellung habe ich das hier gemalt. Menschen, so wie ich sie male. Das ist mein Zoologischer Garten. Paul Klee: Das passt zu meinem Bild. Auch ziemlich modern und abstrakt. Mensch, wisst ihr was, ist doch egal, was die anderen Maler sagen. Ich glaube ganz fest, dass unsere Ausstellung ein Riesenerfolg wird und den Leuten unsere Bilder 5 gefallen werden. So sieht für uns moderne Kunst aus. (…)“ Während des ‚Künstlergespräches‘ wurden Reproduktionen der jeweils zum Text passenden Kunstwerke an die Tafel geheftet. Bereits diese Maßnahme in der Einstiegsphase zeugt davon, wie die Lehramtsanwärter im zweiten Jahr mit ihrem Know-how das Projekt bereicherten. Die Präsentation der Kunstwerke sowie die dazugehörige Sachinformation wurden mit Hilfe eines genau für diese Altersstufe passend ausgewählten Textes sehr kindgemäß gestaltet. Einschlägige fachwissenschaftliche Inhalte – wie die Situation der Künstler der Moderne zu ihrer Zeit, die 5

Text nach: Sieben-Pröschel 2001, 14.

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Tatsache, dass die Fotografie die Entwicklung der Malerei hin zur Abstraktion stark beeinflusste, die Künstlergruppe an sich sowie der Unterschied zwischen abstrakter und gegenständlicher Darstellung – wurden hier für die dritte Klasse verständlich und anschaulich thematisiert. Nach diesem kurzen szenischen Spiel wurden im gebundenen Unterrichtsgespräch die gewonnenen Informationen von den zuhörenden Schülerinnen und Schülern wiederholt. Parallel hierzu wurden an der Tafel die Namen und Portraits der jeweiligen Künstler den Kunstwerken an der Tafel zugeordnet. In der folgenden Percept-Phase bei der Kunstbetrachtung bekamen die Schülerinnen und Schüler nun den Auftrag, die Kunstwerke schweigend zu betrachten. Hierbei wurden den Kindern folgende Fragestellungen mit auf den Weg gegeben: „Was fällt mir auf? Was gefällt mir besonders? Welche Farben sehe ich? Was erkenne ich?“ Anschließend tauschten die Kinder ihre eigenen Gedanken zum Bild im Partnergespräch aus. Danach hatten sie Gelegenheit zu offenen Äußerungen im Gespräch mit der ganzen Klasse. Im Anschluss wurden Erkennungsmerkmale der Werke im Plenum gesammelt. Im dritten und letzten Abschnitt des Theorieteils bekamen die Schülerinnen und Schüler ein Arbeitsblatt mit Abbildungen der Künstler und vier weiterer Werke dieser Maler. In Partnerarbeit sollten sie die Bilder den Künstlern zuordnen und notieren, was ihnen Besonderes an den Bildern der jeweiligen Künstler auffiel.

Arbeitsblatt

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Im gesamten Theorieteil dieser Unterrichtseinheit zeigt sich, wie das unterrichtspraktische Wissen der Lehramtsanwärter und der fachliche Input durch das kunstpädagogische Seminar zu einer erfolgreichen Zusammenarbeit führten. Die ausführliche und durchaus zeitintensive Kunstbetrachtung wurde durch eine sehr gut durchdachte Rhythmisierung aufgelockert. Durch szenisches Spiel und erste Sicherung der Informationen in der Hinführung, durch die Percept-Phase (stilles Betrachten und Austausch im offenen Gespräch) im zweiten Teil sowie durch die Partnerarbeit mit Arbeitsblatt als abschließende Aufgabenstellung wurden den Kindern auf verschiedenen Kanälen Zugänge zu vier berühmten Künstlern der Moderne und einer exemplarischen Auswahl ihrer Kunstwerke ermöglicht. Wesentliche Unterrichtsprinzipien, die in dieser Fülle für eine Phase der Kunstbetrachtung in der Grundschule nicht selbstverständlich sind, wurden berücksichtigt: Motivation, Anschaulichkeit, Passung, Selbsttätigkeit, sowie Handlungs- und Schülerorientierung. Für große Methodenvielfalt bereits in der Theoriephase sprechen nach Hilbert Meyer noch weitere Gründe. „Sie ist zum einen erforderlich, um der Vielfalt der unterschiedlichen Aufgabenstellungen gerecht zu werden, zum anderen, um die Heterogenität der Lernvoraussetzungen und der Interessen der Schülerinnen und 6 Schüler zu beachten.“ Im Anschluss an die Betrachtungsphase bekamen die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, gestalterisch tätig zu werden: Sie sollten sich dem abstrakten Gemälde „Gelb – Rot – Blau“ von Wassily Kandinsky durch die Methode des Bilddiktates bildnerisch annähern. Den Kindern wurde das Gemälde zunächst nicht gezeigt. Stattdessen beschrieb die Lehrkraft in Form eines Bilddiktates wesentliche Elemente des Bildes und ihre Platzierung im Bild. Die Kinder sollten die beschriebenen Formen mit Wachsmalkreide linear und flächig auf ihrem eigenen Blatt zeichnerisch festhalten. Hier flossen einige fächerübergreifende Elemente in die Kunststunde ein: Die verwendeten geometrischen Fachbegriffe (Linie, Rechteck, Kreis, parallel) sind Thema des Mathematikunterrichts in der Grundschule. Vorgaben wie „in der rechten oberen Hälfte“ oder „in der oberen linken Ecke“ lassen sich dem Bereich Sprache untersuchen/Ortsangaben aus dem Deutschunterricht der Grundschule zuordnen. Diese für die dritte Klasse durchaus anspruchsvolle Methode führte – nach Angabe des Teams – anfangs zwar zu Irritationen und Unsicherheiten beim eigenen Gestalten. Trotzdem hatten die Kinder nach Aussagen der Studierenden viel Spaß dabei. In der anschließenden Reflexion der Gestaltungsphase sollten sie dann zunächst vermuten, von wem das Original wohl stammen könnte – ein sehr sinnvoller Rückgriff auf die erarbeiteten Kenntnisse aus dem Theorieteil. Im Anschluss wurde das Bild gezeigt, der Künstler genannt und die Schülerinnen und Schüler bekamen den Auftrag, ihre eigenen Bilder mit Hilfe von Impulskarten („Mir fällt auf, …“) mit dem Original zu vergleichen. In der Bewertung ihrer gemeinsam durchgeführten Unterrichtseinheit gaben die Teilnehmerin6

Meyer 2004, 74.

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nen an, dass gerade diese abschließende Reflexion sehr ergiebig war und die Schülerinnen und Schüler bereits einen geübten Blick für die Kunstwerke erkennen ließen. Insgesamt zeugt diese Unterrichtseinheit von einer Vielfalt methodisch geschickter Maßnahmen, die auch ein – in Hinblick auf die betreffende Jahrgangsstufe – fachwissenschaftlich und fachdidaktisch durchaus anspruchsvolles Niveau möglich machen. Darüber hinaus wurden einige der prozessbezogenen Kompetenzen des Fachprofiles Kunst aus dem Lehrplan-Plus geschult: „Das geduldige, genaue Wahrnehmen der visuell erfahrbaren Welt in Bildern, Objekten und Aktionen, das sich im Beschreiben oder im Äußern von Empfindungen zeigen kann, ist eine wesentliche Grundlage für die Orientierung der Schülerinnen und Schüler in der 7 Welt.“ Dieses genaue Wahrnehmen wurde im szenischen Spiel und der PerceptPhase geübt. Besonders bei der Partnerarbeit, bei der die Kinder neue Kunstwerke auf dem Arbeitsblatt zuordnen sollten, wurde das Analysieren und Deuten sowie das Werten geschult. „Das vergleichende Urteilen über selbst geschaffene Werke sowie das Bewerten visueller Phänomene in der Umwelt (von Kleidung über Spiele bis zu Kunstwerken) gehört zu den selbstverständlichen und spontanen Aktivitäten der Kinder im Grundschulalter. Der Kunstunterricht in der Grundschule bahnt die Entwicklung an, über ein schnelles Urteil hinaus zu einem kompetenten und reflek8 tierten Bewerten zu gelangen.“ In der Gestaltungsphase war ein hohes Maß an Imaginationsfähigkeit nötig. Die Kompetenzen durch Bilder zu kommunizieren und zu reflektieren kamen ebenfalls in der Unterrichtseinheit immer wieder zum Tragen. Auch bei der Präsentation der übrigen gehaltenen Stunden wurde deutlich, dass sich die Teams große Mühe gaben, durch eine durchdachte Hinführung und nicht alltägliche Techniken die Schülerinnen und Schüler für ihr Thema zu motivieren und zu besonderen Ergebnissen in der Gestaltungsphase zu führen. Nach Angaben der Vortragenden waren daher auch Interesse, Engagement und Motivation in den Klassen hoch bis sehr hoch. Alle Referendare und Studierenden waren nach eigenen Angaben mit dem Verlauf der Umsetzung und mit den Unterrichtsergebnissen zufrieden. Die Referendare wurden im Anschluss an das zweite Treffen gebeten, stichpunktartig eine kurze schriftliche Reflexion abzugeben. Zur Kooperation gab es unterschiedliche Rückmeldungen. Während einzelne mangelndes Engagement bzw. zu wenig Eigeninitiative von Seiten der Studierenden beanstandeten, sowie große Probleme bei Kommunikation und Terminfindung anmerkten, beschrieben andere die Kooperation als durchwegs positiv. Hier wurde auch geäußert, „dass das Tandem-Prinzip eine gute Möglichkeit ist, einmal andere Klassen, bzw. andere Lehrer zu sehen.“ Da das Projekt aus Sicht der Referendare doch recht zeitaufwändig sei – besonders im Hinblick auf die nahende Prüfung zum 2. Staatsexamen –

7 8

http://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/grundschule/kunst [16.3.2015]. http://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/grundschule/kunst [16.3.2015].

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wurde vereinzelt der Wunsch geäußert, dass die Teilnahme seitens der Studierenden auf freiwilliger Basis geschehen sollte oder das ganze Projekt besser am Ende des Schuljahres stattfinden sollte. Zum fachdidaktischen Input von Seiten der Universität, sowie zur Präsentation der Stunden gab es positive Rückmeldungen. Gelobt wurden „der tolle Fundus an verschiedenen Unterrichtsstunden und Anregungen“, „gute und umsetzbare Ideen“ sowie die „tollen Beispiele für die Praxis“. Als Verbesserungsvorschlag wurde der Wunsch geäußert, zukünftig nur Zweier-Teams zu bilden und die Präsentationen zeitlich etwas zu beschränken. Die Studierenden des Instituts für Kunstpädagogik bekamen im Anschluss den Auftrag, eine ausführlichere schriftliche Reflexion des Projektes anzufertigen: Insgesamt wurde das Projekt positiv bewertet. Allerdings äußerten die Studierenden auch einige Schwierigkeiten: Auch hier wurde mehrmals die Terminfindung für eine gemeinsame Planungssitzung und für den Tag der Durchführung als problematisch beschrieben. Einzelne Studierende hatten außerdem die Sorge, den Lehramtsanwärtern, die sich ja zum Großteil im Prüfungsjahr befanden, mit etwaigen Fragen zur gemeinsamen Planung zur Last zu fallen. Bei einem Team führte die Kooperation sogar zu Frustration am Ende des Projektes, bei einem anderen scheiterte sie aus unterschiedlichen Gründen ganz. Die folgenden Auszüge einiger Rückmeldungen geben Auskunft über den Verlauf der Kooperationen in den einzelnen Teams. Darüber hinaus bieten sie einen guten Einblick in die Frage, was die Lehramtsstudierenden in Hinblick auf die Zeit nach dem Studium bewegt: „Die Zusammenarbeit mit den Referendaren im Rahmen unseres Seminars hat mir gut gefallen. Ich fand es spannend mit den „Großen“ zusammenzuarbeiten. Ich war in einem Dreier-Team, aber ich denke sinnvoller wären Zweier-Teams. So wäre es leichter, einen Termin für die Planung und Durchführung der Stunde zu finden. Dies erschwerte auch in unserer Gruppe das Planen und Halten der Unterrichtsstunde. Die Terminfindung war langwierig und da unsere Referendarin kurzfristig erkrankte, planten wir die Stunde über das Hin- und Herschicken von E-Mails. Es hat funktioniert und ich habe viele Anregungen von der Referendarin übernehmen können, aber es war etwas mühsam. (…) Besonders viel Spaß hat es mir bereitet, den Unterricht im Team zu halten und keine „Aufsichtsperson“ hinten sitzen zu haben. Das war eine schöne, neue Unterrichtserfahrung. Von der Vorstellung der gehaltenen Unterrichtsstunden im Seminar konnte ich viel mitnehmen und habe somit neue Anregungen gesammelt.“ (Elisabeth – Studentin) „Die Kooperation mit dem Seminar von Frau Weiß, fand ich persönlich gut gelungen. Man bekam die Gelegenheit, mit Lehramtsanwärtern zusammenzuarbeiten und außerdem einen guten Einblick in die Zeit nach dem Studium. (…) Des Weiteren war es besonders sinnvoll, auch Unterricht in anderen Klassen zu halten, als in derjenigen, in der man im Rahmen der studienbegleitenden Praktika hospitiert. Zudem hatten wir die Chance, das Team-Coaching, was im normalen Unterrichtsalltag ja selten der Fall ist, auszuprobieren und in unserem Fall hat dies auch gut ge-

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klappt. (…) Auch durch die Endpräsentation all der gehaltenen Kunststunden konnte ich persönlich viel mitnehmen und bekam viele Ideen für weitere Kunststunden. Insgesamt kann man sagen, dass die Zusammenarbeit mit dem Seminar sehr viel Positives brachte (…)“ (Bich – Studentin) „Zusammenarbeit mit Referendaren – für mich ein völlig neues Terrain. Nach der ersten Vorstellungrunde unserer beiden Seminare war ich gespannt, mit wem ich zusammenarbeiten werde und wie die Klasse der beiden Referendare sein wird, in der wir unsere Stunde in Kunst gemeinsam konzipieren und durchführen. … Am Besprechungstag musste alles ziemlich zügig gehen, weil die beiden Referendarinnen nicht sehr viel Zeit hatten, da sie noch einiges an UVs vorbereiten mussten. Wir einigten uns auf das Thema Engelscollage und erstellten ein grobes Artikulationsschema. Die endgültige Fertigstellung des Stundenverlaufs lief danach nur noch per E-Mail-Verkehr ab. Das klappte sehr gut. … Nach der Stunde haben wir gemeinsam die Reflexion zusammengefasst. [Wir] hatten noch die Möglichkeit den Referendarinnen über das Referendariat Fragen zu stellen. Sie haben unsere Fragen gerne beantwortet. Das war interessant und sehr hilfreich. Sie selbst fanden die Zusammenarbeit mit uns sehr angenehm, da es mit dem Kontakt per E-Mail, wie bereits erwähnt, sehr gut funktioniert hat. Die Präsentationen der einzelnen Stundenverläufe der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer fand ich sehr spannend und ich konnte mir einen guten Überblick über verschiedene Kunststunden verschaffen. Das nehme ich auf jeden Fall mit (…)“ (Katharina – Studentin) „Für uns Studenten war es sehr schön, dass uns die Referendare über ihre Erfahrungen im Referendariat berichtet haben. Dabei haben sie uns gleichzeitig die bestehenden Schwierigkeiten aufgezeigt, die sie gerade in Bezug auf Stundenplanung im Referendariat haben. Gleichzeitig haben auch die Referendare gemeint, dass sie diese Kooperation als hilfreich ansehen, da sie gemerkt haben, dass man gemeinsam viele Ideen mit einbringen kann. So haben wir in der gemeinsamen Planung der Unterrichtsstunde viele tolle Ideen für eine mögliche Unterrichtsstunde finden können, wobei wir uns dann speziell eine Stunde zusammengestellt haben. Gerade wenn man eine Unterrichtsstunde alleine plant, ist man sich meistens unsicher, ob es eine gute oder eine schlechte Unterrichtsstunde ist. Auch bezüglich der Zeitplanung haben die Referendare schon ein wenig mehr Erfahrungen sammeln können und diesbezüglich auch genauere Angaben zur zeitlichen Einteilung geben können. Da wir allerdings zu viert waren, also zwei Studenten und zwei Referendare, und wir somit eine recht große Gruppe waren, war gerade zu Beginn das Finden eines Zeitpunktes, zu dem wir uns treffen können, ein wenig schwierig. Und trotzdem haben wir dann gemeinsam ein Treffen organisieren können. Dabei hat jeder Materialien, Bücher und seine eigenen Ideen mit eingebracht. So hatten wir bereits zu Beginn einige Anregungen, woraus dann ziemlich schnell unsere fertige Unterrichtsstunde entstanden ist. Auch nach diesem Treffen hat die Kommunikation untereinander super geklappt, weshalb auch die Ausfertigung der Unterrichtsstunde ohne Probleme verlief.“ (Petra – Studentin) „Ich persönlich habe zum ersten Mal eine Stunde zu dritt geplant und dachte zunächst, dass es evtl. zu viele Meinungsverschiedenheiten geben könnte. Diese An-

„Ich fand es spannend mit den ,Großen‘ zusammenzuarbeiten!“

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nahme hat sich aber erfreulicherweise nicht bestätigt. Im Gegenteil: Wir konnten uns bei allem sehr gut einigen. Zum Schluss war jeder mit der Umsetzung der Stunde zufrieden. Das Unterrichten selbst hat im Tandem gut geklappt, wobei ich für uns als Lehrkraft keine wesentlichen Vorteile darin gesehen habe. Dies könnte aber auch an unserer Planung gelegen haben. Wir haben unter uns die Hinführung, Erarbeitung und Reflexion aufgeteilt. Für die Schüler ist es aber mit Sicherheit von Vorteil, mehrere Ansprechpartner zu haben.“ (Alexandra – Studentin)

Wie sehr bereits während des Studiums der Einblick in die Zeit des Referendariats gewünscht wird, zeigt eine letzte Äußerung: „Zusätzlich fände ich es total spannend, mich noch mehr mit den LAA über das Seminar auszutauschen … man hört immer viel darüber. (…) Es gibt ja das ZSePraProjekt: An ihm habe ich teilgenommen und war begeistert. Mir hat es sehr viel gebracht einen Einblick in die Referendariatszeit zu bekommen und die LAA sowohl in ihren Klassen als auch in ihrem Seminar zu begleiten … Ich weiß nicht, ob man es einrichten könnte, einmal mit in das Seminar zu gehen, aber generell ist das, glaube ich, für alle Studenten sehr interessant und spannend!“ (Philine – Studentin)

Der insgesamt beachtlich große Anteil an positiven Rückmeldungen hat mich in meiner Entscheidung für das Projekt durchaus bestätigt. Trotz vieler organisatorischer Fragen und Probleme (wie z.B. Terminfindung, Absprachen, Zuverlässigkeit und Kooperationsfähigkeit) führten bis auf ein Team alle Gruppen ihre Unterrichtsvorhaben erfolgreich durch und äußerten sich zufrieden in Bezug auf die erzielten Ergebnisse. Auch die Kooperation zwischen Kollegen (z.B. im Rahmen eines Lehrerkollegiums) verläuft nicht immer reibungslos, ist aber im späteren Berufsalltag äußerst nützlich und hilfreich. Dies könnte bereits im Studium thematisiert werden. So würde die Lehrerbildung dem leider immer noch recht weit verbreiteten Phänomen der Einzelkämpfer, die am liebsten ihre Tür zum eigenen Klassenzimmer vor den Kollegen geschlossen halten, entgegenwirken. Im Rahmen des Projektes konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hier einige Erfahrungen sammeln, wie leicht oder auch schwer es fallen kann, mit anderen zusammen zu arbeiten. Die Möglichkeit, schon während des Studiums über die geforderten Praktika hinaus verschiedene Klassen, Lehrkräfte und Unterrichtsstile sowie sich selbst in der Interaktion mit Kindern zu erleben, stellt meiner Meinung nach eine sehr wichtige Ergänzung zu den fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Seminaren dar. Denn je öfter und intensiver die Lehramtsstudierenden ihre eigenen Erwartungen, ihre Selbsteinschätzung, sowie ihre Vorurteile in Hinblick auf die spätere Tätigkeit als Lehrerin oder Lehrer mit der Schulwirklichkeit in praxisnahen Situationen abgleichen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich später selbst erfolgreich in der Lehrerrolle verwirklichen.

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Florian Pröttel

Literaturverzeichnis Kirchner, Constanze: Kunstunterricht in der Grundschule, Berlin 2011. Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht?, Berlin 2004. Münchner Zentrum für Lehrerbildung. Praktikumsamt: http://www.praktikumsamt.mzl.unimuenchen.de/aktuelles/archiv/rueckmeldung_zsepra/ index.html [17.3.2015] Sieben-Pröschel, Susanne: Picasso & Co.: Praktische Anregungen für den Kunstunterricht in der Grundschule. Band 2, Donauwörth 2001. Uhlig, Bettina: Kunstrezeption in der Grundschule, München 2005. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung: Lehrplan für die Grundschule in Bayern, 2004, online verfügbar unter http://www.lehrplanplus.bayern.de/ fachprofil/grundschule/kunst [16.3.2015]

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen Ein Transferprojekt mit Künstlern, Lehrkräften und Studierenden Günter Stöber 1

Einführung und Zielsetzungen

Ziel ist ein Transferprojekt zwischen medialem Know-how von Lehramtsstudierenden der Kunstpädagogik und den didaktischen Erfahrungen von praktizierenden Kunstpädagogen und Künstlern mittels gemeinsam erarbeiteter Videoinstallationen. Das Projekt hat in dieser Form noch nicht stattgefunden, wurde jedoch zusammen mit Lehramtsanwärtern konzipiert und in Teilbereichen erprobt. Studierende und Lehrkräfte erarbeiten gemeinsam eine Videoinstallation, bei der aktuelles Know-how vor allem von den Studierenden eingebracht wird und im Gegenzug die Erfahrungen für die didaktische Praxistauglichkeit vor allem von den Lehrkräften beigesteuert werden. Künstler begleiten und moderieren die ästhetische Praxis. Videoinstallationen eignen sich besonders deshalb gut, da bei dieser künstlerischen Ausdrucksform sehr viele Aspekte didaktischen Handelns berücksichtigt werden können, wobei der mediale Aufwand den örtlichen Gegebenheiten (WLAN etc.) und dem Teilnehmerkreis jeweils angepasst werden kann. Von der Technik her können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre eigenen Geräte mitbringen – Stichwort BYOD: bring your own device. Der Einsatz der Programme richtet sich nach den Möglichkeiten und dem Vorwissen der Beteiligten und auch nach dem aktuellen Angebot von Shareware im Internet. Das kunstpraktische Projekt sollte bei einer gemeinsamen einwöchigen Exkursion von Studierenden und Lehrkräften verwirklicht werden, da auf diese Weise ein intensiver Wissenstransfer besonders gut stattfinden kann und beim Arbeiten über mehrere Tage hinweg sich die gemachten Erfahrungen sofort anwenden lassen und sich dadurch besser im Gedächtnis verankern. Videoinstallationen bieten außerdem die Möglichkeit, besonders flexibel auf das Vorwissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingehen zu können. Das aktuelle mediale Know-how der Studierenden soll den Lehrkräften zu einer Auffrischung ihres Wissens und Könnens verhelfen, die Schulerfahrung und Schulpraxis der Lehrkräfte hilft den Lehramtsstudierenden andererseits, die didaktischen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen bzw. die Bedingungen für bestimmte Altersstufen kennenzulernen.

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Günter Stöber

Zunächst werden Beispiele für verschiedene Arten und Ausdrucksformen von Videoinstallationen vorgestellt, um dann kurz auf deren Potenziale im kunstpädagogischen Kontext einzugehen. Es schließen sich Beschreibungen und Anforderungen an die Akteure an, um konkrete Beispiele von „Brückensteinen“ in einer möglichen Realisierungsphase zu zeigen.

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Beispiele für ästhetisch/künstlerische Ausdrucksformen von Videoinstallationen:

− Mehrfachprojektionen, die auf inhaltlicher, poetischer oder formaler Ebene auf-

einander Bezug nehmen Interaktion mit dem Raum bzw. mit Materialien, Gegenständen und Situationen Interaktion mit performativem Charakter Interaktion mit Interfaces Videoinstallation als autonome Skulptur Mit diesen oben genannten Beispielen lassen sich eine Vielzahl fachspezifischer Inhalte vermitteln und dies bei entsprechend didaktischer Aufbereitung in jeder Jahrgangsstufe einer beliebigen Schulart, im außerschulischen Bereich und auch in der Erwachsenenbildung. Die möglichen technischen Wissensfelder in dem Bereich der Software reichen von einfachen Bildbearbeitungen, die mit Stop-Motion-Techniken weiterverarbeitet werden können, über Videobearbeitungen in verschiedensten Komplexitätsstufen bis hin zu einfachen Animationen, die mit einer großen Bandbreite technischer Möglichkeiten erstellt werden können. Bei technisch sehr ambitionierten bzw. engagierten Teilnehmern ist auch eine Realisierung des Projekts mithilfe von digitalen Interfaces denkbar. Das Projekt sollte für die Lehrkräfte mit einer Fülle neuer Ideen und Anregungen für den Kunst- und Werkunterricht enden und außerdem ein Update im Bereich der aktuellen Möglichkeiten des Gestaltens mit digitalen Medien sowie einen kleinen Einblick in das zeitgenössische künstlerische Schaffen mit Videoinstallationen für sie bringen. Für die Lehramtsstudierenden können weitergehende Erfahrungen bei didaktischen Überlegungen zum Erarbeiten und Vermitteln von ästhetisch-künstlerischen Projekten gemacht werden. Das Arbeiten mit ästhetischen Ausdrucksformen, wie Video und Installation, kann vertieft erprobt werden. Es könnten sich Transfer-Partnerschaften über das Projekt hinaus entwickeln und dabei außerdem neue Formen der Vermittlung im Rahmen der universitären Lehre entstehen. − − − −

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

3

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Videoinstallation und ihre Potentiale im kunstpädagogischen Kontext1

3.1

Beispiele für Erscheinungsformen von Videoinstallationen:

Performative Installation, z.B.: − − − −

Theaterprojekte Sportunterricht Tanzprojekte reale Interaktion mit dem Filmgeschehen

Abbildung 1: Performative Installation

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Japanese Dance Using LCD Projector: https://www.youtube.com/watch?v=SbQdElNG18M [26.03.2015] Yan Xing im Zentrum für chinesische Kunst in Großbritannien: http://en.cafa.com.cn/solo-exhibition-by-yan-xing-showcasing-his-most-importantworks-to-date-at-chinese-arts-centre-in-the-uk.html [26.03.2015]

1

Alle Abbildungen vom Autor.

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Günter Stöber

Parallelprojektionen, z.B.: − − − −

Erfahrungen von Zeit, Gleichzeitigkeit und Zeitlosigkeit Interferenz- und Kohärenzerfahrungen Erfahrungen mit dem eigenen Assoziationsmuseum im Kopf Erfahrungen mit surrealer Poesie, der Vereinbarkeit des nicht zu Vereinbarenden etc.

Abbildung 2: Parallelprojektionen

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Eija-Liisa Ahtila au Jeu de Paume: https://www.youtube.com/watch?v=uA54JFWqX3U [26.03.2015], hier: The Hour of Prayer 2005, von 1:47 bis 2:00 Doug Aitken – Electric Earth: https://www.youtube.com/watch?v=LSziysd2Duk [26.03.2015] und Doug Aitken, Eraser, 1999: https://www.youtube.com/watch?v=4hUOS3NAOY0 [26.03.2015]

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Raumbezogene Installationen, z.B.: 1. Innenraum: − Räume interpretieren und − erweitern − nach den Bedingungen forschen − poetisch verfremden − interpretieren 2. Außenraum: − Interventionen in öffentliche und nicht öffentliche Räume

Abbildung 3: Raumbezogene Installationen

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Bill Viola, FIVE ANGELS: https://www.youtube.com/watch?v=RQi1yOnGEvs&list=PLAMrXL7e6G3ob1Fhn OOR7PZmrOWD-vunm&index=55 [26.03.2015] Günter Stöber, Mapping My Still-Life: Bigger than Time – Bigger than Memory: https://vimeo.com/49961037 [26.03.2015] NuFormer - 3D Video Mapping Projection on Buildings: https://vimeo.com/4238052 [26.03.2015]

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Interaktive Installationen, z.B. Einsatz von Interfaces: − Bewegungssensoren, Lichtschranken − programmierbare Antwort auf Aktionen

Abbildung 4: Interaktive Installationen

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Abstract Wall / performance and video-installation excerpts: https://www.youtube.com/watch?v=5IF6SMmxA3A [26.03.2015] Apparition – Klaus Obermaier & Ars Electronica Futurelab: https://www.youtube.com/watch?v=-wVq41Bi2yE [26.03.2015]

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

Materialbezogene Installationen, z.B. − Resonanz der Videoprojektionen mit den Materialien − Materialgerechtigkeit − Arrangements im Raum um und mit dem Betrachter

Abbildung 5: Materialbezogene Installationen

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Tony Oursler, http://tonyoursler.com/ [16.03.2015] Günter Stöber: Predator: https://vimeo.com/74737229 [26.03.2015]

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Videoinstallation als autonome Skulptur, z.B. − − − − − −

Verhältnis von Volumen zum Leerraum Volumen und Bewegtbild rasender Stillstand Statik und Dynamik im Verhältnis zum Film der fragmentierte Blick der Blickwechsel

Abbildung 6: Videoinstallation als autonome Skulptur

Beispiele aus dem Kunstgeschehen Ausstellung im Essl Museum: Dokumentationsvideo von Marie-Jo Lafontaines „Les larmes d’acier“, 2012: https://www.youtube.com/watch?v=q3wqh90q4RI [26.03.2015] „MARI VERTICALI“ di FABRIZIO PLESSI presso GALLERIA D’ ARTE CONTINI A VENEZIA: https://www.youtube.com/watch?v=LDgbD_sYoxU [26.03.2015] und FABRIZIO PLESSI MARI VERTICALI 54 BIENNALE ARTE VENEZIA 2011 PAD VENEZIA GIARDINI: https://www.youtube.com/watch?v=-MCosujAxTg [26.03.2015]

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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Von den vielfältigen Erscheinungsformen der Videoinstallationen sind für uns besonders diejenigen interessant, die sich mit Installationen im und mit dem Raum befassen: Beim Arbeiten mit Räumen und Architektur treten ortsspezifische Aspekte in den Vordergrund. Aspekte wie Licht, Geruch, Wärme, Ausdehnung, Klang, soziale Nutzung, historische Bedingtheiten, geographische Besonderheiten, usw. Beim Arbeiten mit diesen ortsspezifischen Elementen ist es unumgänglich, sich mit den Gebäuden, der Situation und den Gegebenheiten vor Ort auseinanderzusetzen. Das könnte zu einer erhöhten Achtsamkeit gegenüber der gebauten Umwelt und seinen sozialen und historischen Bedingungen beitragen. Beim Arbeiten mit Materialien wird die Sensibilität gegenüber den Dingen des Alltags und auch gegenüber dem Zusammenspiel bzw. dem Resonanzraum zwischen Bild und Material geschärft. Gerade bei Plätzen und Räumen in der Öffentlichkeit gelangt man schnell zu Arbeiten die in historische Bedingungen eingebettet sind, wie zum Beispiel bei Phänomenen mit denkmalspezifischem Charakter. Schnell lässt sich erkennen, dass diese ortsspezifischen Gegebenheiten und die Interventionen in eben diese, zu performativen Formen der Aktion bzw. Interaktion mit den Räumen führen können. Ein großes Feld für den kunstpädagogischen Einsatz sind auch Arbeiten, die sich mit Fragen der Identität und Entwicklungsproblematiken befassen.

4

Die Akteure

Eine erste Aufgabe, die bei diesem Projekt gelöst werden muss, ist die geeignete Auswahl der Akteure zu treffen, die später Arbeitsgruppen bilden sollen, um effektiv und gut zusammen zu arbeiten. Dies sind zum einen die Studierenden, des Weiteren die Lehrkräfte und nicht zuletzt die geeigneten Moderatoren bzw. Künstler. 4.1

Die Studierenden

Spannend und von großer Relevanz für das Projekt sind die unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen der beteiligten Studierenden. Wichtig ist dabei, dass bestimmte Grundfertigkeiten in der Gruppe vorhanden sind, um diese Fähigkeiten später beim Projekt abrufen zu können. Wie wir in einigen Versuche feststellen konnten, wird auch diese Gruppe der Medienexperten von dem gemeinsamen Arbeiten an Medienprojekten profitieren und einen nicht unerheblichen Zuwachs an Wissen und erweiterten Fähigkeiten auf diesem Gebiet erzielen. Der Wert des Erfahrungsaustausches ist auch hier stets kaum zu überschätzen. Die Gruppe der Studierenden sollte vor allem Kenntnisse in einschlägigen Bildund Videobearbeitungsprogrammen mitbringen, ferner Grundzüge der Soundbearbeitung, sie sollte die Bedienung der technischen Apparate beherrschen und außerdem ästhetische Erfahrungen mit Videoinstallationen bzw. mit Videoarbeiten

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oder Installationen im Raum einbringen. Sollten Gespräche im Vorfeld bereits die Konturen eines möglichen Projekts sichtbar werden lassen, die auf ein spezielles technisches oder ästhetisches Problem hindeuten, können nach Möglichkeit auch entsprechende Experten auf diesem Gebiet hinzugezogen werden. Als positiv hat sich herausgestellt, wenn die Gruppe der Studierenden sehr heterogen ist. Dies bezieht sich sowohl auf die Anzahl der bereits absolvierten Semester als auch auf die unterschiedlichen Interessen und Begabungen der Studierenden. 4.2

Die Kunstpädagogen

Bei den Beteiligten wird die Motivationslage sehr unterschiedlich sein. Oft hat sich herausgestellt, dass es ein großes Bedürfnis bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist, technisch wieder auf den neuesten Stand zu kommen. Ein weiterer Punkt besteht oft darin, dass ein ästhetisches Vorhaben verwirklicht werden soll, jedoch die technischen Voraussetzungen weder abgeschätzt werden können, noch die Gewissheit da ist, angesichts der rasanten Entwicklungen in den digitalen Techniken und Praktiken, auf dem neuesten Stand der Möglichkeiten zu sein. Denn das Wissen über das technische Handwerkszeug beeinflusst die Entwicklungsprozesse der ästhetischen Praxis oftmals entscheidend. Oft ist der Anlass ein neues Theaterprojekt in der Schule oder das Erproben neuer Ausdrucksformen bei Projekttagen, sei es mit Tanz und Performance, sei es im Rahmen einer Präsentation der Sportpädagogik oder innerhalb anderer Disziplinen. Wer sich professionell mit Bildern beschäftigt, wird nicht umhin können, sich auch im Rahmen des regulären Kunstunterrichts mit der Theorie und Praxis der digitalen Bildproduktion und Rezeption zu beschäftigen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass uns schon im Alltag, die sich immer stärker beschleunigende digitale Revolution überfordern kann. Wer ist denn noch auf dem Laufenden, was sich gerade wieder an allerneuesten Kulturtechniken anbahnt, wer ist stets mit den neuesten Einstellungen von Facebook vertraut, und wer weiß, welches soziale Medium gerade wieder das Wahrnehmen, Denken und Handeln ganzer Generationen von Jugendlichen und Kindern mitbestimmt und wer beherrscht die digitalen Techniken, die das ästhetische Selbstverständnis der Jugendlichen, deren Weltwahrnehmung und ihre Selbstinszenierung tagtäglich ausmachen? Wo werden noch die digitalen Bilder hinterfragt, wo auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. ihre Natur eingegangen und wo werden diese Bilder noch einsortiert, in Bezug auf Ihre Entstehung, ihre Entstehungssorten und Entstehungsbedingungen? Dies alles ist jedoch für das Verständnis einer modernen Umwelt, die sich vor allem durch digitale Medien mitteilt, von immenser Bedeutung. Gerade für die in diesem Lichte nun noch differenzierteren Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen ist es unumgänglich, sich stets wenigstens einen groben Überblick

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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über die aktuellen Entwicklungen zu verschaffen. Dies alleine ist schon eine unübersichtliche, zeitraubende Aufgabe. Abgesehen von der professionellen Notwendigkeit ist es für viele Lehrerinnen und Lehrer sicherlich ein großes Anliegen, sich auch persönlich auf diesem Gebiet immer weiterzubilden. 4.3

Die künstlerische Begleitung – die Moderation

Als letzter Akteur in unserem Transferprojekt kommt nun die künstlerische Begleitung/Moderation bzw. die Teamleitung ins Spiel. Er/sie sollte optimalerweise folgende Voraussetzungen mitbringen: Zunächst eine große Bandbreite eigener künstlerischer Werke, möglichst viele technische Optionen, mit denen umgegangen werden kann bzw. mit denen Vertrautheit herrscht oder bei denen die Möglichkeit besteht Institutionen oder Personen zu aktivieren, die auf diesem Gebiet weiterhelfen können. Bei der fortschreitenden Spezialisierung der technischen Disziplinen wird es immer wichtiger, Expertenwissen in die eigenen Projekte integrieren zu können. Dies wird auch exemplarisch für unser Projekt von Bedeutung sein. Des Weiteren sollte er/sie über einen Überblick verfügen, was die historische Entstehung der Videoinstallationen bzw. der Installationskunst insgesamt betrifft, aber auch mit dem Diskurs der aktuellen künstlerischen Auseinandersetzungen auf diesem Gebiet vertraut sein, da sich gerade diese Disziplin auf die verschiedensten Randbereiche des bildnerischen bzw. darstellenden Gestaltens ausgeweitet hat. Wichtig dabei ist, dass er/sie in der Lage ist, dieses Wissen auch zu vermitteln. Sein/ihr Einfühlungsvermögen und pädagogisch-psychologische Begabung werden für das Gelingen des Vorhabens entscheidend sein. 4.4

Die Örtlichkeiten/die Arbeitssituation

Die Örtlichkeiten für ein solches Projekt müssen besonderen Anforderungen genügen. Zunächst ist es wichtig die Voraussetzungen für das digitale Arbeiten zu schaffen. Hier ist in erster Linie ein funktionierendes WLAN-Netz zu nennen, weiterhin genügend differenzierte Rückzugsräume, um in Ruhe mit dem Computer arbeiten zu können. Genauso wichtig sind dann oft so banale Dinge wie eine ausreichende Anzahl Steckdosen mit guter Absicherung und Möglichkeiten auch in verschiedenen, voneinander getrennten Räumen arbeiten zu können, da bestimmte Produktionen an Innenräume gebunden sind. Hier ist vor allem die Soundproduktion zu erwähnen oder auch Aufnahmen mit Blue-Screen-Technik. Auch sollte ein möglichst reichhaltiges Repertoire an Peripheriegeräten vorhanden sein. So sind zum Beispiel der Drucker und der Scanner unabdingbar, aber auch ein Keyboard mit Mikrofon und verschiedene andere Spielgeräte sind von enormer Wichtigkeit. Je mehr Requisiten zugegen sind, desto leichter fällt es auf neue Gestaltungsideen zu kommen. Nicht zu

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vergessen sind die Lichttechnik und eine anregende Umgebung, um mit gebauten Modellen arbeiten zu können. Knete, Stoffe, Papiere, Scheren, Kleber etc. sollten griffbereit sein. Überhaupt ist es wichtig, dass die Umgebung möglichst anregend gestaltet ist und viele Möglichkeiten bietet, Ideen zu verwirklichen. Für den analogen, installativen Anteil des Projekts gilt Ähnliches. Je anregender und vielgestaltiger die Umgebung, das ganze Gelände, die Räumlichkeiten und Möglichkeiten Werkstätten zu benutzen sind, umso leichter fällt es die Ideen zu verwirklichen. Außerdem muss genügend Platz für die verschiedenen Produktionsstätten sein. Es werden sich kleine Workstations herausbilden, an denen bestimmte spezialisierte Dinge getan werden können. Für die Sounderzeugung z.B. wird es sicherlich einen zentralen, ruhigen Ort geben müssen. Auch für solche Gemeinschaftseinrichtungen muss ausreichend Platz sein. Bei alledem darf nicht vergessen werden, dass die Außenräume sowohl für gutes, als auch schlechtes Wetter geeignet sein müssen. Es darf nicht passieren, dass wegen schlechten Wetters das Projekt behindert wird. Es hat sich immer wieder als ein großer Vorteil herausgestellt, wenn die Bereiche von Wohnen, Essen, Schlafen usw. und die Arbeitsbereiche nicht zu weit auseinander liegen und jederzeit erreicht werden können. Denn wie so oft entstehen gerade in den Pausen, in den Momenten der Muße, die besten Ideen und Anregungen. Auch der Austausch mit anderen Gruppen, über die Grenzen der Arbeitsbereiche hinaus, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Gelingen des Projekts. Viele der Arbeiten benötigen auch die Dunkelheit, gerade wenn die Lichtinstallation mit der Landschaft oder den Gebäuden arbeitet und nicht künstlich verdunkelt werden kann. Interaktionsschema

Abbildung 7: Interaktionsschema

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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Schaubild der Akteure Studierende: − Kenntnisse von Programmen − Beherrschen von technischen Geräten − ästhetische Erfahrungen mit Videoarbeiten, Installationen im Raum usw. Kunstpädagogen: − eigene ästhetische Praxis bzw. eigenes ästhetisches Interesse − didaktische Erfahrungen − technisches Vorwissen − technische Ausstattung Künstler/Moderator: − eigene künstlerische Erfahrungen − technisches Vorwissen − Erfahrung im Arbeiten mit Teams Situation: − WLAN oder andere Netze − Workstations − Soundverarbeitung − allgemeine technische Arbeitsbedingungen etc. − Räume etc.

5 5.1

Die Realisationsphase Digitale Arbeitsplattformen

Bevor die Koffer gepackt werden, ist es sicherlich hilfreich, sich auf gemeinsame Kommunikations- und Arbeitsplattformen im Internet zu einigen. Es bieten sich hier zum Beispiel Google Drive (www.google.com/intl/de_de/drive/), bzw. Dropbox (www.dropbox.com), Prezi (www.prezi.com) oder YouTube (www.youtube.com) an. Eventuell ist auch eine Kombination von mehreren Plattformen sinnvoll, wenn zum Beispiel Filme auf YouTube hochgeladen werden, um sie dann mit Prezi zu einer Präsentation zusammenzubauen. Auf diesen Plattformen können sowohl vor, als auch während des Projekts Daten und Ideen gesammelt und ausgetauscht werden, um dort bereits in ersten Visualisierungsideen umgesetzt zu werden. Dies dient vor allem der genauen Verständigung und des raschen Datenaustausches. Das gemeinsame Arbeiten in der „Cloud“ stellt oftmals für nicht wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine wichtige Neuerung dar. Für viele Projekte ist es eine ungemeine Erleichterung, mit diesen Instrumenten Arbeitsergebnisse zu-

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Günter Stöber

sammenführen zu können. Besonders große Vorteile bringt dieses Verfahren, wenn an einem Projekt arbeitsteilig gearbeitet wird. Sobald die einzelnen Gruppen für Soundbearbeitung, Bildbearbeitung und Videoschnitt sich sehr schnell über das Netz über Inhalte und Ästhetiken austauschen können, erfährt das Projekt einen neuen Schub. Die Erfordernisse im Umgang mit sensiblen Daten in der Cloud und die Bedürfnisse des Copyrights sollten an dieser Stelle immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden. 5.2

Arbeitsbeispiele

Aus der Vielzahl der Möglichkeiten mit Videoinstallationen zu arbeiten, sollen nun einige exemplarisch beschrieben werden, um das Potenzial für den möglichen Wissens- und Erfahrungstransfer aufzuzeigen. Es werden dafür Beispiele aus der künstlerisch/kunstpädagogischen Praxis vorgestellt, die bereits realisiert wurden: 5.2.1

Videoinstallation „Ich & Du“

Abbildung 8: Filmstill der Dokumentation

Eine Arbeit von Sandra Zech und Team: 2011, Einkanalvideoloop, 00:44, verschiedene Installationsmaterialien

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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Abbildung 9: Installationsschema

Bei der Videoinstallation von Sandra Zech und ihrem Team handelt es sich um ein Spiel mit Identitäten und deren Austauschbarkeiten. Der Betrachter kommt in einen Raum, der durch eine Rückprojektionswand geteilt ist. Auf diese Rückprojektionswand wird für den Betrachter unsichtbar von einem Beamer das Bild von drei Personen projiziert, wobei nur der obere Teil des Körpers, mit typisierter Kleidung, jedoch ohne Kopf, sichtbar wird. Der untere Teil des Körpers, etwa ab Höhe der Hüfte, ist ebenfalls nicht sichtbar. Er wird jedoch jeweils durch einen Spiegel ersetzt. Musik durchflutet den Raum und die drei fragmentierten, projizierten Körper wiegen sich rhythmisch dazu im Tanz. Sobald ein Betrachter vor die Projektionswand tritt, wird sein Bild vom Spiegel reflektiert und der Körper dadurch vervollständigt. Der obere Teil des Körpers gehört einer fremden Person, der untere Teil ist der eigene. Unser Gehirn versucht nun aus den fragmentierten Teilen wieder ein Ganzes zu machen und setzt so die Körper wieder zusammen. Der Betrachter erfährt sich so in verschiedenen Identitäten, sowohl was das Geschlecht als auch die Körpergröße, Körperfülle oder das Alter etc. betrifft. Durch die mitreißende Musik und die sich im Rhythmus wiegenden Oberkörper wird der Betrachter ebenfalls animiert, sich in die Tanzbewegung mit einzufinden. Dadurch verstärkt sich das Gefühl der Identität mit dem neuen Körperbild, das zur Hälfte aus einer fremden Person besteht. Fremdheit innerhalb der eigenen Identität wird plötzlich erfahrbar und lustvoll in ein Spiel mit wechselnden Identitäten integriert. Verstärkt wird diese Verfremdung noch, wenn sich mehrere Personen gleichzeitig auf das Spiel mit der Projektions-/Spiegelwand einlassen und so zusätzlich Erfahrungen in der Gemeinschaft gemacht werden können. Die Erfahrung der Fremdheit der Identitäten kann so nicht nur am eigenen Leibe empfunden werden, sondern auch bei den beiden Gefährten, wenn sie sich auf diesen Tanz mit einlassen.

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5.2.1.1

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Transferbausteine: medientechnisch

An medientechnischen Inhalten dieser Arbeit wären besonders zu nennen: der einfache Videoschnitt, die Projektion mit drei parallelen Videos über nur einen Kanal, das Arbeiten mit Sounds und eventuell die Anwendung der BluescreenTechnik. Bis auf die letztgenannte Technik, lassen sich all diese Dinge mit einfachsten Programmen realisieren, die entweder in die Betriebssoftware der Computer integriert sind oder kostenlos aus dem Internet bezogen werden können. Zu nennen wären hier zum Beispiel „iMovie von Apple“ oder das sehr gute Soundbearbeitungsprogramm „Audacity“ aus dem Internet. Für ambitionierte Anwendungen böte sich das Programm „Premiere“ von der Firma „Adobe“ an, mit dem auch das Bluescreen-Verfahren erprobt werden kann. Die Wahl der Anwendungen kann sich an dieser Stelle sehr gut an den mitgebrachten Voraussetzungen von Hard- und Software anlehnen. Das Stichwort hierzu wäre: bring on your own device (BOYOD), mit dem deutlich gemacht werden kann, dass aus der Vielzahl der technischen Möglichkeiten inzwischen immer auch diejenigen herausgesucht werden können, die gerade zur Verfügung stehen. Von den installativen Voraussetzungen wird wohl die Rückprojektion das größte Problem darstellen. Sollte nicht genügend Geld zur Verfügung stehen, um eine professionelle Folie zu besorgen, kann man sich mit technischen Stoffen behelfen. Geeignet dafür sind zum Beispiel Nylonstoffe, die das Licht gut passieren lassen oder auch Stoffe, die für die Herstellung von Airbags benutzt werden. Der einzige Nachteil dieser Textilien besteht darin, dass der Beamer als heller Lichtpunkt durch die Stoffe hindurchscheint. Ansonsten ist die Bildqualität meistens sehr gut. Die Befestigungsvorrichtung dafür kann je nach Voraussetzung angepasst werden, z.B. mittels Abspannungen oder einer Haltekonstruktion aus verschiedensten Materialien. Auch bereits vorhandene Milchglastüren könnten als Projektionsflächen dienen. An dieser Stelle wäre sicherlich eine Diskussion mit den Lehrkräften über die konkreten Bedingungen an der Schule spannend und Überlegungen, die für die praktische Umsetzung wichtig sind, würden auch Studierende und Kunstschaffende herausfordern, nach ästhetisch optimalen Lösungen im konkreten Fall zu suchen. Ein Lerneffekt würde angestoßen, der auch auf die aktuelle Arbeitssituation zurückwirken würde, denn auch bei der Exkursion werden viele Bedingungen nicht optimal sein und bedürfen einer projektgerechten Anpassung. 5.2.1.2

Transferbausteine: inhaltlich

Leicht lässt sich an diesem schönen Beispiel, neben den künstlerisch-ästhetischen Fragestellungen, die zusätzliche Relevanz für die Schule zeigen, zum einen vor dem Hintergrund der vielen Entwicklungsaufgaben, die Kinder und Jugendliche zu bewältigen haben, zum anderen wegen der vielen fachspezifischen Inhalte, die transportiert und auch fächerübergreifend erarbeitet werden können. Nicht zuletzt werden viele medienpädagogische Inhalte von diesem Projekt berührt. Wie zum

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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Beispiel die Medienerziehung, die Mediendidaktik oder die informationstechnische Bildung, die in vielen einschlägigen Foren heftig diskutiert werden. Diese Diskussion kann im Rahmen dieses Aufsatzes nur angedeutet werden. An dieser Stelle möchte ich nur einige Aspekte dieser Arbeit hervorheben, um die Dimensionen des Potentials der Videoinstallationen für die Schule sichtbar zu machen. Von den spezifischen Inhalten des Faches Kunstpädagogik können hier bereits die vielfältigsten ästhetischen Überlegungen vermittelt werden. Zunächst zur dreidimensionalen Gestaltung im Raum: Wenn die Installation im Raum platziert wird, müssen viele Aspekte der Raumproportionen, der Raumgestaltung und der Nutzungsmöglichkeit beachtet werden. Überlegungen zum Betrachterstandpunkt und zur Wirkung auf den Betrachter schließen sich an, des Weiteren Aspekte wie die Gestaltung mit Licht, die Durchgängigkeit der Betrachterführung, aber auch Akustik und technische Machbarkeit müssen unter einen Hut gebracht werden, ohne dass die Inszenierung vom Inhalt ablenkt. Im Gegenteil, die Inszenierung muss Teil des Inhalts werden. Auch die Materialität der Dinge muss in die ästhetisch-inhaltlichen Überlegungen mit einbezogen werden. So macht es für die Aussage einen großen Unterschied, ob die Inszenierung eher sakral anmutend gerät oder ob sie einen lapidar baustellenartigen Charakter annimmt. All dies darf nicht einfach den Sachzwängen unterworfen sein, sondern muss in die fachspezifischen Überlegungen mit einfließen. Dies ist sicherlich ein Aspekt, den die Studierenden beim Verwirklichen ihrer Projekte nicht sofort in den Fokus nehmen werden. Der Blickwinkel der Lehrkräfte kann dies von einem ganz anderen Standpunkt aus beleuchten und die Problematik in den Fokus rücken, von dem aus dies mit Schülern oder Heranwachsenden diskutiert werden kann. Kunstbetrachtungen aus dem Bereich der Objektkunst liefern hier viel Anschauungsmaterial. Bei alledem können auch allgemeine Inhalte der Rauminszenierung angesprochen werden. So könnte sich die Inszenierung sakraler Räume im Gegensatz zu Räumen für profane Inszenierungen, wie Theater oder Schaufenster, thematisieren lassen. Das Bewusstmachen und Sensibilisieren für diese verschiedenartigen Inszenierungen und die Wirkung der Materialien dabei kann den Blick und die Sensibilität für unsere gebaute und inszenierte Umwelt schärfen. So macht es zum Beispiel bei dem Material der Projektionsebene einen großen Unterschied, ob die Bilder etwa auf eine Milchglasscheibe, auf ein gespanntes Tuch oder einen flatternden Seidenstoff geworfen werden. Jedes Mal werden sich andere Assoziationsräume öffnen und dementsprechend die Inhalte beeinflussen. So würde zum Beispiel die Milchglasscheibe wohl eher eine Erinnerung an funktionale technische Architekturräume hervorrufen, vielleicht sogar mit einem Anklang an medizinische Installationen bzw. Einrichtungen, während der Seidenstoff eher an sinnliche, leichte, sich in ständiger Bewegung befindliche, naturnahe Dimensionen verweisen wird. Der gespannte Stoff könnte an zeltartige, wind-schützende Dinge erinnern oder auch auf Flächen verweisen, die Werbeträger sind oder bei Großveranstaltungen als

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Projektionsflächen für Videoübertragungen vertraut sind. Im letzteren Falle wäre der Gedanke an ein Konzert im Freien nahe liegend und der Verweis auf die Freizeitkultur gegeben. Beim Bewusstwerden dieser Rauminszenierungen kann hier auch ein kunsthistorischer Blick auf inszenierte Räume eine große didaktische Hilfe sein. Beim Aufnehmen des Videomaterials können all die Dinge vermittelt werden, die zur Aufnahmetechnik des Films gehören: das wären, um nur einige Beispiele zu nennen, der Kamerastandpunkt, die Einstellungsgröße, die Lichtverhältnisse, der Hintergrund, das Umgehen mit dem Fokus, die Positionierung des Modells und die Inszenierung im Raum usw. Auch hier sind es erfahrungsgemäß die Lehrkräfte, denen klar ist, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern über eigene Sequenzen eingeübt oder gelehrt werden sollten. Dies könnte zum Beispiel durch die Analyse eines Filmes geschehen, bei dem die unterschiedlichen Wirkungen der Kameraführung bzw. der Kameraeinstellungen aufgezeigt werden. Im ersten Umgang mit der Kamera und den Aufnahmebedingungen ist nichts selbstverständlich und alle intuitiv vorgenommenen Einstellungen sollten ob ihrer Wirkungen reflektiert werden. Ein weiteres Feld, an dem sich didaktische Überlegungen anschließen können, ist die Inszenierung der Tänzer. Hier ist es möglich, die Wirkung von Mode, Überlegungen zur Genderproblematik, oder auch zu Problematiken, die Integration, Inklusion, Fremdheit usw. berühren, mit einzubeziehen. In unserem Video wurden Kommilitonen und Kommilitoninnen gebeten, zu einer gängigen Disco-Musik Tanzbewegungen auszuführen. Für die Schulpraxis wäre es nun noch sehr interessant diese Inszenierung zu hinterfragen: Welche Art von Tanz wird hier projiziert? Handelt es sich nur um Jugendkultur oder werden auch Tanzformen und Tanzfiguren aus anderen Bereichen der Kultur und des Lebens mit einbezogen? Es könnten auch Formen des Balletts, oder Tanzformen aus anderen Kulturen einbezogen werden oder wären gar ganz andere Formen der nonverbalen Kommunikation denkbar? Diese Intervention würde Wirkung und Interpretation der Arbeit um einige Dimensionen erweitern. So ergäben sich auch Anknüpfungspunkte für den Sportunterricht oder auch für sozialkundliche Fragestellungen, die Überlegungen zu Inklusion und Integration einbeziehen. Noch weiteres Potenzial steckt in dieser Inszenierung, wenn man sich vorstellt, dass die projizierten Tänzer nicht nur Mitglieder der eigenen Peer-Group sind, sondern zum Beispiel Behinderte, Mitglieder anderer Ethnien oder sozialer Gruppen usw. Auch verschiedenste Gruppenverhalten könnten zum Gegenstand ästhetischer Forschung werden. Das nonverbale, bildnerisch intuitive Arbeiten an diesen Inhalten lässt viel stärkere emotionale Erlebnisse zu, als dies ein ausschließlich reflektiertes Arbeiten zulassen würde und öffnet einen erlebnisorientierten Zugang für mehr nachhaltiges Lernen. Auch die Frage nach dem Tanz und der gewählten Musik zeigt Berührungspunkte mit dem Musikunterricht und dessen Fragestellungen.

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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An dieser Stelle wird sicherlich auch ein Brückenstein zurück zum Künstler geschlagen. Diese Überlegungen können auch Kunstwerke weitertreiben und helfen auch den Künstlern bei den inhaltlich-ästhetischen Entscheidungen, die in jedem Moment bei der Gestaltung der Arbeit getroffen werden müssen. Weitere Überlegungen bei der Gestaltung der Projektionswand führen zu weiteren inhaltlichen Diskussionen. So führt die Frage, welche Teile der fragmentierten Projektion gespiegelt werden, auf Problemfelder wie die Rollenverteilung, Anonymität, Stärke von Übertragungen usw. Werden zum Beispiel der Bereich der Oberkörper verspiegelt und Köpfe projiziert, werden sicherlich die Effekte der Rollenübertragung wesentlich stärker werden. Eine ästhetische Fragestellung bei dieser Performance ist dann, ob die Inszenierung immer noch so intensiv wirkt, wenn das eigene Gesicht als Projektionsfläche bereitsteht, oder ob es nicht besser funktioniert, wenn es ausgeblendet wird. Eine starke Erfahrung entsteht obendrein durch die Fragestellung, inwiefern das Gesicht und der eigene Ausdruck losgelöst vom Körper an der Bildung der eigenen Identität beteiligt sind. Vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit mit mehreren Projektionswänden dies unterschiedlich zu erfahren. Wir berühren hier Bereiche der Psychologie, psychosozialer Ebenen und phänomenologischer Fragestellungen. 5.2.2

Videoinstallation „Im Olivenhain“ – Projektionen im öffentlichen Raum

Grob umrissen sei hier ein weiteres Projekt, das bei einer einwöchigen Exkursion nach Gaino am Gardasee stattgefunden hat. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es den öffentlichen Raum in die Arbeit einbezogen hat. Das Projekt fand in einem landwirtschaftlich nicht mehr genutzten Olivenhain statt, der zurzeit von Münchner Künstlern als Freiluftatelier und Kunstraum genutzt wird. Studierende des Instituts für Kunstpädagogik konnten diesen Ort eine Woche lang nutzen. Von besonderem Interesse war hier, dass dieses Mal der öffentliche Raum in die Arbeit einbezogen werden konnte. Die Situation stellte sich so dar, dass die alten Olivenhaine stark in ihrem Bestand bedroht sind. Dies hat einerseits damit zu tun, dass sich die wirtschaftliche Nutzung der Olivenhaine nicht mehr rentiert, und andererseits damit, dass diese Olivenhaine in der ganzen Gegend mit lukrativen Apartmentblocks bebaut werden, die als Ferienwohnungen oder Reihenhäuser für teures Geld verkauft werden. Dieser Strukturwandel hat zur Folge, dass sich das Gesicht dieser Landschaft, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hat, nun mit einer ungeahnten Geschwindigkeit verändert und die alten Strukturen zerfallen. Bei einem Kunstprojekt, das in diesem Raum agiert, kann diese Tatsache nicht außer Acht gelassen werden. Das Projekt beginnt deshalb zunächst mit einer Recherche in der Umgebung und auf dem Grundstück selbst. Die gesellschaftlichen und ökonomisch-ökologischen Bedingungen werden hinterfragt und erst dann wird versucht, auf diese Tatsache mit

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Günter Stöber

Bildern zu reagieren, ohne in eine bloß illustrative Sprache zu verfallen oder nur einen platten Kommentar abzugeben, der auch mit Texten möglich wäre. Beim Austesten der Projektionsmöglichkeiten zeigte sich, dass die weiter entfernt liegenden Zypressen und Wacholderbüsche bestens geeignet waren, um darauf Gesichter und Körper zu projizieren. Es kam deshalb die Idee auf, die Landschaft um die Olivenhaine herum zu beleben und wie im Märchen sprechen zu lassen. Die Projektionen erwiesen sich als äußerst eindrucksvoll und gingen tatsächlich eine starke Symbiose mit der Vegetation ein und lösten sich von der Illusion, lediglich eine Projektion zu sein.

Abbilung 10: Projektion im Olivenhain 1

Abbildung 11: Projektion im Olivenahin 2

Vom technischen her gesehen liegt die Besonderheit dieser Installation darin, dass im öffentlichen Raum häufig kein Strom bzw. kein öffentliches Netzwerk verfügbar ist. Dieses Problem wurde dadurch gelöst, dass die Stromversorgung der Beamer und Laptops über Akkus bzw. über Autobatterien sichergestellt wurde. Dies ist technisch anspruchsvoll und wurde in einem aufwändigen Verfahren von den Studierenden entwickelt, so dass der Gleichstrom einer Autobatterie, auch für den Betrieb eines Beamers, der eigentlich nur mit Wechselstrom funktioniert, geeignet ist. Das WLAN Netz wurde über einen mobilen Router eingerichtet. Als Transfer für die Schule bzw. für Schulprojekte kann nun der Bauplan dieses Gleichstromwandlers eingesetzt werden, um überall da, wo dies nötig ist oder gewünscht wird, den Beamer unabhängig vom Wechselstromnetz einsetzen zu können. Was den Aufwand von der Softwareseite her betrifft, ist dieses Projekt noch einfacher zu realisieren als das vorhergehende, da hier lediglich geeignete Gesichter bzw. Körper vor dunklem Hintergrund gefilmt werden müssen. Allerdings kann die Wirkung erst nach Einbruch der Dunkelheit erprobt werden. Der Sound bzw. die Musik wird von außen dazu gespielt. Von der inhaltlichen Seite sei nur kurz angedeutet, wie stark dieser Bereich mit den spezifischen Inhalten der Germanistik bzw. der Musikpädagogik kooperieren könnte. Man stelle sich vor, was geeignete Texte bzw. Lautmalereien oder Musik bzw. Sounds zu diesen Videos noch ermöglichen würden. Sehr leicht ist ein Transfer auf öffentliche Bereiche in der Schule bzw. an den einzelnen Standorten der Schule und deren Umgebung vorstellbar. Die didaktischen Möglichkeiten, die sich hierbei auftun, gehen von ortsspezifischen Bedingungen, wie der Geographie und

Künstlerisch-didaktisches Handeln mit Videoinstallationen

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der Historie, bis hin zu anderen räumlichen, gesellschaftlichen oder politischen Bedingungen. Auch hier wird neben den fachspezifischen Inhalten, die hier nicht weiter ausgearbeitet werden sollen, deutlich, wie stark kooperatives Handeln diese Projekte vorantreiben kann.

6

Resümee

Ich denke an diesen kurzen Beispielen wird sehr schön deutlich, inwiefern ästhetisch-künstlerisches Forschen und didaktisch-pädagogisches Handeln Hand in Hand gehen können und eine Fülle spannender Fragestellungen aufwerfen, die über das Projekt hinweg behandelt werden können. Deutlich ist auch geworden, wie wichtig das gemeinsame Handeln von Künstlern, Studierenden und Lehrkräften ist und wie wichtig die Brückensteine werden, in denen sich die verschiedenen Bereiche des Wissens, aber auch des Bewusstseins und der Gestaltungsmöglichkeiten überlappen. Dies macht auch die Notwendigkeit klar, in einer mediatisierten und durchästhetisierten Umwelt miteinander zu kommunizieren und Projekte gemeinsam voranzutreiben, um die Komplexität der Probleme erfassen zu können, angefangen von den technischen Bedingungen über die ästhetischen und wissenschaftlichen Implikationen hinaus. Die Dimensionen dieser Aufgaben können von einzelnen Akteuren nicht mehr bewältigt werden. Der Kunstpädagogik fallen an diesen Schnittstellen von analoger und digitaler Umwelt ganz besonders relevante Aufgaben im Bereich der Vermittlung, Praxis und Reflexion zu.

III

„Brückensteine“ als Konkretionen

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“ Michael A. Anton „Unternehmer sind keine Didaktiker – Lehrkräfte sind keine Unternehmer – Ist eine Zusammenarbeit von Schulen, Didaktiken und Lehrmaterialentwicklern mit Experten aus der Unternehmenspraxis denkbar?“ So lautete das Motto der tecnopediaFachtagung am 21.1.2014 in Berlin. Offensichtlich will man sich der fachdidaktischen Expertise auch außerhalb ihres traditionellen Kerngeschäfts der universitären Lehrerausbildung gewinnbringend bedienen. Dies ließe sich als „Anmaßung“ verstehen. Es kann aber auch als eine berechtigte gesellschaftliche Forderung an eine Expertengruppe, an die Didaktiken interpretiert werden, deren Leistungspool bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Kann es sein, dass die eingeforderte Vermittlungsfunktion zwischen Wirtschaft und Industrie sowie Gesellschaft große Ähnlichkeit besitzt mit der Übersetzung fachwissenschaftlicher Grundlagen und Forschungsergebnisse in besondere Lehrformate, welche den unterschiedlichen, auch inklusiven Ansprüchen und Lernvoraussetzungen der SchülerInnen in den diversen Schularten angepasst sein müssen? Diese Frage muss heute mit einem klaren Ja beantwortet werden. Aus dieser offensichtlichen Übereinstimmung leitet sich eine fachdidaktische Aufgabenstellung ab, die mit dem Bild des Brückenbauens durchaus zutreffend veranschaulicht werden kann (Abb. 1).

Four teaching competences Lehrer

Vermilungskompetenz

I Fachorienerung

Schülerorienerung S Erkenntnis

Unterrichtsmanagement

Abb. 1: Die vermittlungswissenschaftliche Kompetenz erleichtert die Verständigung zwischen den fachlich orientierten Innovationsquellen (Forschung und Wirtschaft) einerseits und der notwendigen Aufklärung des Laien und der Sicherung seiner Beurteilungsfähigkeit andererseits.

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Michael A. Anton

Worin besteht jedoch der Unterschied? In der traditionellen fachdidaktischen Arbeit verlief das Procedere der Fachdidaktiken in der Regel folgendermaßen: Die kultusministerielle Seite legte das politische Bildungsinstrument des Lehrplans im Verein mit der Stundentafel vor. Die Fachdidaktiken konnten sich lehrplanrelevante Inhalte auswählen und daran die didaktischen Präparationen in ihren Prinzipien verdeutlichen, den Studierenden vorstellen und ihnen zur Erprobung anbieten. Da in früherer Zeit viele Fachdidaktiken lehrplanunabhängig und primär orientiert an der Systematik ihres Faches wirkten, geschah es nicht selten, dass die fachdidaktische Expertise eher schulfremd und weniger schulartspezifisch gewirkt hat. Dieses Wirken und das damit einhergehende Selbstverständnis waren in den fachdidaktischen Unterweisungen für Grund- und Mittelschulen deutlich weniger ausgeprägt als man das für Realschulen und vor allem für Gymnasien feststellen konnte. Die gerade bei naturwissenschaftlichen Fächern unverzichtbare enge Anbindung der Fachdidaktiken an ihre Fachwissenschaft war auch eine der Ursachen für die klassische Entfremdung gegenüber den Erziehungswissenschaften, insbesondere der Schulpädagogik. Deren Unabhängigkeit von fachlichen Inhalten brachte es mit sich, dass aus dem jeweiligen Inhalteangebot nur eine sporadische Beispielswahl in den Dienst genommen wurde. Mit Beginn des neuen Jahrtausends hat sich ein dramatischer Wandel vollzogen. Bei der Genese von Lehrplänen wurden teilweise auch Fachdidaktiken beratend hinzugezogen. Die Einführung der Bildungsstandards und der Basiskonzepte haben bewirkt, dass die Fachsystematik nicht mehr die alleinige Orientierung bei der Inhaltswahl darstellen musste. Die Zunahme der medientechnisch allseits und jederzeit verfügbaren Informationen, die bei der Entwicklung systematischen und anwendbaren Wissens verfügbar sind, hat es erforderlich gemacht, auszuwählen, Spreu vom Weizen zu trennen und das wirklich Wichtige als solches zu begründen, um es dann in den Vordergrund stellen und als verbindlichen Wissensinhalt erklären zu können. Die Verfügbarkeit dieses flexibel einsetzbaren Wissens kann nicht mehr auf die Herstellung von Schulbüchern und anderen langfristig einsetzbaren Lehr- und Lernmitteln warten. Die Marktlagen der Wirtschaft und die Forschungsschwerpunkte in der Wissenschaft wechseln schneller als es früher der Fall war, Nachwuchsförderung setzt also schon früh in der Schule ein. Somit drängen auch solche Einrichtungen (Industriezweige, Einzelfirmen) auf Vermittlung, die sich bisher nicht um ein schulnahes Bekanntwerden, etwa ihrer Produkte, bemüht hatten (s.o.). All diese neuen Bedingungen stoßen auf ein gemeinsames Hindernis. Die Komplexität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Produkte ist sehr hoch und das Allgemeinwissen reicht für dessen Verstehbarkeit nicht mehr aus. Um an solchen schwerverständlichen Themengebieten Interesse zu entzünden, sind mehr als nur argumentative Begründungen und freundliche Beschreibungen erforderlich. Zudem reicht es nicht, Informationen bereitzuhalten, etwa über das Internet, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, deren individuelle Adaptierbarkeit sicherzustellen.

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

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Dieser oftmals als unüberwindlich erscheinende Graben darf jedoch nicht schicksalshaft hingenommen werden, wenn die gesellschaftlich relevante Schere zwischen Laien und Experten, Produzenten und Nutzern, Insidern und Outsidern, Kreativität und Kontrolle, Machbarkeit und Ethik und letztlich zwischen Unbildung1 und Bildung2 nicht weiter aufgehen soll. Hier sind vor allem die Fachdidaktiken gefordert und mit ihnen ihre Fähigkeit, zwischen den gegenüberliegenden Ufern vermittelnde Brücken zu erstellen und deren Tauglichkeit für das Überqueren in beide Richtungen durchgehend und immer wieder neu sicherzustellen. Wie kann es einer Fachdidaktik, wie etwa der Chemiedidaktik gelingen, diese architektonische und konstruktionelle Leistung anspruchsgerecht zu erbringen? Hierzu sollen einige Beispiele für Brückenschläge erläutert und zur Diskussion gestellt werden. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in der Praxis schon bewährt haben. Und sie erfüllen noch ein weiteres Kriterium, nämlich das der Lernwirksamkeit. Die moderne Lehrlernpsychologie weist in Übereinstimmung mit reformpädagogischer Heuristik und moderner Hirnforschung ein Modell des Lernens aus, welches als „moderater Konstruktivismus“3 den Lerner zum Architekten seines Wissens macht, indem immer auf dem Kenntnisstand aufgebaut wird, welcher schon vorhanden ist: Wir lernen immer mit dem, was wir schon wissen! Damit bleibt der Lehrer als Co-Konstrukteur widerspruchsfrei im Bild, zusammen mit dem Fachdidaktiker, mit dessen Hilfe die Planungs- und Konstruktionsprinzipien entwickelt und erprobt werden. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Fachdidaktik zudem als zentraler Brückenpfeiler oder Eckstein. Sie bestimmt durch ihre Qualität und Kompetenz letztlich dessen Tragfähigkeit und damit die Belastbarkeit der gesamten Brücke. Die Chemiedidaktik, also die Vermittlungswissenschaft für Chemie, hat sich neben der Erfüllung ihres Kerngeschäfts „Lehreraus- und Lehrerfortbildung“ bereits seit vielen Jahren mit den folgenden „Brückenschlägen“ in Theorie und Praxis auseinandergesetzt: − Verbindung zwischen den Generationen: Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse für hochbegabte und besonders interessierte Kinder zwischen acht und zwölf Jahren − Verbindung zwischen den Schularten: Experimentiertage an Grund- und Mittelschulen werden betreut durch Lehramtsstudierende für Chemie an Realschulen und Gymnasien im Verein mit bedarfsspezifischen Lehrerfortbildungen vor Ort − Verbindung zwischen den (Schul)Fächern: Betonung von interdisziplinären Projekten 1 2 3

Vgl. Liessman 2006, Liessman 2014. Vgl. Nida-Rümelin 2013. Mandl/Rothmeier 1996.

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Michael A. Anton

− Verbindungen zwischen Industrie und Schule: Entwicklung von Schulversuchs-



− −

− −

− −

koffern zu innovativen alltagsrelevanten Chemiesubstanzen für den schulischen Einsatz Verbindungen zwischen universitärer Forschungsarbeit und schulartspezifischem Chemieunterricht: Durchführung von Lehrerfortbildungen im Zusammenspiel von Fachwissenschaft und Fachdidaktik Verbindungen zwischen Chemiekenntnissen und Jugendinteressen: Produktion von Filmen zur Vermittlung von Alltagschemie Verbindungen zwischen chemischen Grundlagen und Bildungsanspruch von Schule und Öffentlichkeit: Erstellung von medialem Unterrichtsmaterial für die Vor- und Nachbereitung von Unterrichtsinhalten Verbindung zwischen Alltagssprache und chemischer Fachsprache: Fachsprachensensibler Chemieunterricht Verbindungen zwischen fachdidaktischer Erkenntnisgewinnung und der Weiterentwicklung von Chemieunterricht: Durchführung von chemiedidaktischen Forschungskolloquien für Studierende aller Lehrämter mit dem Fach Chemie Verbindung zwischen Schulunterricht und speziellen Lernbedürfnissen: Inklusion vs. Integration Verbindungen zwischen chemiespezifischen Ansprüchen sowie Leistungen und dem Bild der Chemie in der Öffentlichkeit: Zusammenwirken mit Wissenschaftsjournalismus

Die elf Beispiele für die Entdeckung, Durchführung und Pflege solcher „Brückenschläge“ werden im Weiteren ausgeführt und dem Leser und der Leserin zur Diskussion angeboten.

1

Verbindung zwischen den Generationen

Seit 1996 gestaltet die Chemiedidaktik Experimentierkurse für hochbegabte, später dann auch für besonders interessierte Kinder. Anlass war eine Anfrage der „Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V.“, ob den Kindern, die primär aus der Mathematik, musischen und sprachlichen Bereichen Fördermöglichkeiten angeboten bekamen, nicht auch aus dem Fachbereich Chemie ein interessanter Zugang eröffnet werden könne. Damit könnten die Jungen und Mädchen aus dem Grundschulbereich sowie aus der Unterstufe aller weiterführenden Schulen intensiver, als es der lehrplankonforme Schulunterricht vorsieht, mit der praktischen Seite der Chemie Kontakt aufnehmen. Solche Experimentierkurse werden seit dieser Zeit über jeweils vier bis sechs Freitagnachmittage durchgeführt und sind mittlerweile auf Fortgeschrittenenkurse ausgedehnt worden. Das Besondere an dieser Funktion der Universität als außerschulischer

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

271

Lernort4 ist u.a., dass den Teilnehmern und Teilnehmerinnen auch die Theorie zu den jeweils selbst durchgeführten Experimenten vermittelt wird. Damit gelingt es, das chemiespezifische Koppeln von beobachtbarem Phänomen und abstrakter Erklärung auf der Teilchenebene frühzeitig anzubahnen und langfristig zu sichern. Deutlich festzustellen ist, dass eine Überforderung nicht stattfindet. Die Kinder sind von Fragen und Wissbegier getrieben und möchten den erlebten Erfahrungen auf den Grund gehen, was wiederum nur durch didaktische Hilfe erfüllbar wird. Das Nachverfolgen der Ausbildungswege der teilnehmenden Kinder zeigt, dass die gewonnenen Erfahrungen Studien- und Berufswahl nachhaltig beeinflussen. Nebenbei sei bemerkt, dass diese intensive Beschäftigung mit chemischen Inhalten bei zwei Kindern zur kreativen Entwicklung eines Brettspiels geführt hatte (Abb. 1). Dieses „CHEMIKUM“ gewann auf der Nürnberger Erfindermesse eine Goldmedaille.

Abb. 1: Das Brettspiel „CHEMIKUM“ in Anlehnung an das bekannte Spiel „Monopoly“.

2

Verbindung zwischen den Schularten

In ihren Interessenbezeugungen äußerten einzelne Lehrerinnen und Lehrer als Teilnehmer an Lehrerfortbildungsveranstaltungen die Idee, dass es doch wirklich toll wäre, wenn Vertreter der Chemiedidaktik an ihre Schule kämen und dort vor Ort mit den Schülerinnen und Schülern experimentierten. Nach anfänglicher Zurückhaltung, insbesondere wegen des zeitlichen, apparativen, sicherheitsrelevanten und organisatorischen Aufwands kam es zwischen der Didaktik und ausgewählten Schulen zu ersten jährlichen Experimentierevents. Dabei ergab es sich zwingend, dass Lehramtsstudierende mitwirkten. Genau hieraus konnte sich eine Win-win-Situation entwickeln. Hatten die Schüler nun die Gelegenheit, weit über die üblichen Schulverhält-

4

Vgl. ASLO, Anton 2010a.

272

Michael A. Anton

nisse hinaus chemische Experimente selbstständig zu erleben, so konnten die Studierenden den Umgang mit Schülern beim chemischen Experimentieren in der Gruppenbetreuung und vor allem auch in anderen Schularten live erfahren (Abb. 2).

Abb. 2: Studierende und Schüler einer Grundschule experimentieren gemeinsam an Experimentiertagen.

Eines der immer wiederkehrenden Statements der angehenden Lehrer und Lehrerinnen bezog sich auf die hohe Motivation der Kinder und auf deren kognitive wie manuelle Belastbarkeit, welche sie so nicht erwartet hatten. Um zu verhindern, dass es sich bei den Schulen einbürgert, alle chemischen Unterrichtsanteile elegant „out zu sourcen“, erhielten die betreffenden Lehrkräfte einerseits gezielte Fortbildungen vor Ort und an der Universität und wurden sukzessive in die Gruppenbetreuung integriert. Andererseits wurde den Schulen und Kindergärten durch die Wahl von Geräten und Chemikalien sowie Versuchsanleitungen verdeutlicht, wie sie auch schulintern diese Experimentierangebote leisten können. Im Kindergartenbereich konnte im Jahr 2015 erstmals die Experimentierfreude auf die Eltern der Kiga-Kinder ausgedehnt werden. Ziel war es, dadurch die Gesprächsanlässe auf die familieninterne Kommunikation auszudehnen und damit die allgemeinbildungsrelevante Präsenz erlebter Chemie zu erhöhen.

3

Verbindung zwischen den (Schul)Fächern

Der fachübergreifende oder fächerverbindende Unterricht zählt nicht zu den Neuerungen der Unterrichtsorganisation. Dennoch gibt es auch hier mehrere Besonderheiten, die sich als Brücken oder zumindest als Stege zwischen den Ufern bewähren. Zwei Projekte seien hier angeführt, welche in der Chemiedidaktik ihren Ursprung haben. Zunächst gibt es hier das Projekt „W3 – WALD, WASSER, WIESE“, bei dem SchülerInnen und Schüler der Jahrgangsstufe 8 Untersuchungen vor Ort durchführen, nämlich Pflanzenbestimmung auf Wiesen, Bodenuntersuchungen im Wald und chemische Analysen von Gewässern.

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

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Dann ist hier das Unterfangen „GEOCACHING“ zu nennen. Es geht dabei um die Nutzung des GPS der Handys, von Learning-Apps, von QR-Codes und GeocachingTools, um beispielsweise auf dem Campus der Universität versteckte Experimentierstationen zu finden und dort „chemische Schätze zu bergen“. Beide Projekte werden von Lehramtsstudierenden unter professioneller Anleitung einer Didaktikerin konzipiert, durchgeführt und evaluiert. Hier kommt es besonders auf die Fächerverbindungen Chemie/Biologie und Chemie/Erdkunde sowie Chemie/Informationstechnische Grundbildung (ITG) an.

4

Verbindungen zwischen Industrie und Schule

Wie schon zu Beginn des Artikels erwähnt, gehört es mittlerweile zu den Anliegen eines modernen wirtschaftlichen Selbstverständnisses, sich nicht mehr ausschließlich an den fertigen Konsumenten zu richten und die Produktwerbung rein über die Medien zu organisieren. Man wird sich zunehmend bewusst, dass eine frühzeitige und eher spielerische Beschäftigung mit Stoffen, die den Marktprodukten zugrunde liegen, das Grundverständnis, die sachliche Auseinandersetzung mit und die Bedeutung von chemischen Produktionswegen und deren Bedingungen deutlich besser zu vermitteln vermögen und zugleich nachwuchsfördernd wirken. Unter diesen Prämissen entstand eine intensive, jedoch auch immer wieder kritisch reflektierte Zusammenarbeit von Chemieindustrie und Fachdidaktik bei der Entwicklung und der Verbreitung eines Schulversuchskoffers (Abb. 3). Die Firma WACKER-CHEMIE und die Chemiedidaktiken der Universität Wuppertal und der LMU München entwickelten ein Experimentierset zum Thema Silicone und Cyclodextrine für die Sekundarstufe I und II sowie ein Set zu den Siliconen für die bayerische Mittelschule.5

Abb. 3.: Blick in den Schulversuchskoffer für die Sekundarstufe I mit den Themen „Silicone“ und „Cyclodextrine“. 5

Vgl. Tausch/Anton 2015.

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Um die Einsatzwahrscheinlichkeit im Unterricht zu erhöhen, erhalten den Koffer nur solche Lehrkräfte, die an einer halbtägigen Fortbildung teilgenommen haben. In ihrem Verlauf wird die Theorie besonders anschaulich und schulartgerecht vermittelt und die Lehrer führen alle Versuche des Experimentierkoffers selbst durch. So wird die Hürde vor dem Selbsterarbeiten eines noch wenig geläufigen Fachinhalts abgesenkt, und der unterrichtspraktische Einsatz des Koffers gestaltet sich deutlich unproblematischer als dies bei anderen nicht erprobten Info-Sets der Fall gewesen wäre. Diese Vorgehensweise hat sich ebenso nachhaltig bewährt wie die Möglichkeit, das Verbrauchsmaterial kostenlos nachbestellen zu können.

5

Verbindungen zwischen universitärer Forschungsarbeit und schulartspezifischem Chemieunterricht

Entgegen den früheren Regelungen, wonach die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer mit den lehrplangebundenen Inhalten zurechtkommen mussten, und auch die Schulbuchautoren kaum die aktuellen Innovationen (Entwicklung neuer Werkstoffe, alternative Synthesewege, umweltrelevante Stoffsubstitutionen etc.), insbesondere in der Chemie, zeitnah verarbeiten konnten, ist es heute eigentlich kaum mehr möglich und auch nicht sinnvoll, moderne Entwicklungen im Unterricht deshalb auszusparen, weil sie sich noch nicht im Lehrplan finden lassen. Um die neue Generation von Lehrplänen zu unterstützen, hat die Chemiedidaktik schon früh damit begonnen, aktuelle Forschungsleistungen an das Niveau des Schulanspruchs anzupassen und den Lehrpersonen möglichst unmittelbar zur Umsetzung in ihrem Unterricht anzubieten. Diese Konzeption der anfangs als Abonnement angebotenen Lehrerfortbildungen wurde vom Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) 2001 mit dem „2. Förderpreis für innovative Projekte in der wissenschaftlichen Lehrerbildung“ ausgezeichnet. Heute finden solche Lehrerfortbildungen LFB zu thematischen Highlights in regelmäßigen Abständen statt. Themen sind u.a. „Fotochemie“, „Strukturorientierte Chemie“ oder „Schülerorientiertes Arbeiten im sprachlichen Zweig des Gymnasiums und der Realschule“. Dabei wird besonderer Wert auf die Unmittelbarkeit der Vermittlung gelegt, soll heißen, die Fortbildung hat immer einen praktischen Teil. Informationsmaterial wird stets schulartspezifisch aufbereitet und den TeilnehmerInnen in Form von Handreichungen zur Verfügung gestellt.

6

Verbindungen zwischen Chemiekenntnissen und Jugendinteressen

Die allgemeingesellschaftliche Interessenlage gegenüber naturwissenschaftlichen Fragestellungen hat dazu geführt, dass sowohl Tagespresse wie auch Rundfunk- und Fernsehanstalten (sowohl öffentliche als auch private) wissenschaftsorientierte

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

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Programmformate anbieten. Hierzu gehören, neben vielen anderen, beispielsweise „Willi will‘s wissen“, „Checker Can“ und „Checker Tobi“. Diese drei Reihen enthalten Folgen, die in der Chemiedidaktik gedreht wurden und bei denen es von besonderer Herausforderung war, faszinierende Phänomene zu „Experimentieren im Chemie-Labor“, „Gase“ und „Kunststoffe“ kindgerecht und medienwirksam aufzubereiten. Da es sich hier letztlich um „didaktische Präparationen“ handelt, also um eine typische Aufgabe der Fachdidaktiken, sollte sie und muss sie auch bewältigt werden. Die Ergebnisse solcher plausibler Vereinfachungen fanden direkt und indirekt Eingang in die Qualitätsentwicklung der Lehrerbildung. Dies gilt besonders für die Ausbildung von Lehramtsstudierenden der Grund- und Mittelschule. In solchem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass sich im Bereich von Firmenphilosophien auch die Förderung naturwissenschaftlicher Grundbildung findet. Das gilt z.B. für die BMW AG. Sie beauftragte den Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und die Chemiedidaktik mit der Erstellung einer DVD für Kinder und Jugendliche mit dem Titel „Entdecke Chemie“ (Abb. 4). Im Zuge einer spannenden Geschichte sollten mehrere chemische Experimente an unterschiedlichen Orten in vielen Laboratorien virtuell durchgeführt werden.

Abb. 4: Cover der DVD „Entdecke Chemie“ mit einem interaktiven Spiel und einem umfangreichen Glossar. Am Ende der DVD wird der Spieler nach seinem neuen Wissen gefragt und erhält ein differenziertes Feedback.

Ziel war es dabei, einerseits eine Aufgabe zu lösen und andererseits jeweils zusätzliche Informationen zu erhalten, die wiederum über den erzählerischen Inhalt hinausgehen sollten. Dabei gestaltete sich die Genese eines solchen komplexen Produkts als sehr schwierig, jedoch auch als unglaublich erfahrungsbereichernd. Psychologische Bedingungen, chemische Fachinhalte und attraktives Design, welches eine Software-Firma zu verantworten hatte, mussten aufeinander abgestimmt werden. Heraus kam ein sehr anspruchsvolles Spiel, das BMW auf Anfrage an Kinder und Jugendliche kostenlos versandte.

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Verbindungen zwischen chemischen Grundlagen und Bildungsanspruch von Schule und Öffentlichkeit

Im Jahr 2012 begann der Bayerische Rundfunk/Fernsehen mit der Konzeption eines internetfähigen Bildungsprogramms, welches sich an Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen richtet. Dieses GRIPS ist ein kostenloses InternetLernangebot (bisher für die Fächer Mathe, Deutsch und Englisch), das sich mit dem Prüfungsstoff „Abschluss Mittelschule“ auseinandersetzt. Mit „GRIPS“ sollte der Auftrag erfüllt werden, Schülern die Gelegenheit zu eröffnen, schulische Inhalte aus den einzelnen Fächern, u.a. auch im Fach Chemie für sich in animierter Form nachzubereiten. Dabei ging es darum, alltagsspezifische Anwendbarkeiten des Gelernten bzw. des zu Erlernenden ins Spiel zu bringen. Die entsprechenden Szenen sollten aufs Handy geladen werden können und kurzfristig einzusetzen sein. Hierzu bedurfte es gleichermaßen fachdidaktisch wie fachwissenschaftlich besonders ausgewiesener Experten. Unter ihnen waren demnach auch Mitarbeiterinnen der Chemiedidaktik, welche sich hier als Projektmitglieder bewährten. Ihr Ziel war es, chemische Grundlagen in einer Form aufzuarbeiten, in der sie jenseits des Schulunterrichts auf neue Weise ausreichend attraktiv werden, damit Schüler in ihrer Freizeit gerne davon Gebrauch machen wollen. Sich dieser Herausforderung zu stellen, bedeutete erneutes fachdidaktisches Engagement und permanente Abstimmung mit dem Sender und dessen Bildungsansprüchen sowie den technischen Machbarkeiten.

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Verbindung zwischen Alltagssprache und chemischer Fachsprache

Im Zuge der Ursachenforschung für den von Lehrer und Schüler subjektiv unterschiedlich empfundenen Schwierigkeitsgrad eines Faches, hier der Chemie, kristallisiert sich deutlich heraus, dass insbesondere die Fachsprache und der ständige Wechsel zwischen der abstrakten Teilchenebene und den anschaulichen Phänomenen, das „Zwiedenken“6 eine immer noch zu vernachlässigte Rolle spielen.7 In der Chemiedidaktik wird aus diesem Grund immer deutlicher und dezidierter auf ein langsames, behutsames Vorbereiten des Einsatzes der fachsprachlichen Besonderheiten wie Gerätebenennung, Chemikalienbezeichnung, Prozesschronologie bei chemischen Versuchen sowie Abfolge von Definitionsformulierungen eingegangen.8 Praktisch äußert sich das darin, dass bei den Experimentiertagen mit Schülern der Primarstufe und der Sekundarstufe I auf das Protokollieren besonderer Wert gelegt wird. Es hat sich bereits gezeigt, dass gerade durch das Nachzeichnen eines Ver6 7 8

Vgl. Christen 1990. Vgl. Anton 2010b. Vgl. Anton 2015.

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suchsablaufes die Fragen nach den Namen und die Rückversicherung nach der richtigen Abfolge der Reaktionsschritte an Bedeutung gewinnen und die Fokussierung der Aufmerksamkeit und damit auch die Merkleistung unterstützen. Erst wenn dies verstanden ist, gewinnt der Schüler Sicherheit und traut sich, in der Alltagssituation auch chemische Bezeichnungen integrativ anzuwenden und darüber zu erzählen Insbesondere dann, wenn die deutsche Sprache nicht muttersprachlich beherrscht wird, wird das Erlernen einer neuen Fachsprache, also von „Chemisch“ (wie „Englisch“), zu einer Herausforderung, welche sich durch einen „fachsprachsensiblen Chemieunterricht“ bewältigen lässt9 (Abb. 5). Auch hier kann also von einem kommunikativen Brückenschlag gesprochen werden. Zugleich wird der Kompetenzbereich „Kommunikation“ aus den Bildungsstandards bedient.

Abb. 5: An diesen zwei Folien aus dem Vortrag von Frau Mag. Eva Voitic von der Mittelschule Graz – Ferdinandeum anlässlich des 13. Europäischen Chemielehrerkongresses am 10.4.2015 in Innsbruck lässt sich deutlich machen, dass die chemische Fachsprache ebenso wie die englischen Vokabeln im Alltagsdeutsch kaum bis nicht vorkommen.

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Verbindungen zwischen fachdidaktischer Erkenntnisgewinnung und der Weiterentwicklung von Chemieunterricht

Im Feld der Wissenschaft ist es üblich, dass Doktoranden in unterschiedlichen Abständen vor ihren Kollegen, und den Betreuern über den Arbeitsstand referieren. Einmal geht es dabei um die klare Präsentation einer eingrenzbaren Fragestellung und Hypothesenprüfung, dann soll konstruktive Kritik zur Korrektur bzw. Vertiefung einzelner Aspekte der Arbeit beitragen und zum Dritten können so Arbeitsausrichtungen ganzer Lehrstühle einer interessierten Kollegenschaft vorgestellt werden. Dabei ist immer zu beobachten, dass die Ergebnisse, die spezifischen Erkenntnisse innerhalb der ‚Community‘ verbleiben und dort auf Anerkennung und Kritik stoßen können. 9

Vgl. Voitic 2015.

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Im Bereich der Fachdidaktik und deren Forschung ist dies nicht anders. Die Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik (GDCP) sowie die Fachgruppe Chemieunterricht innerhalb der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) zeigen bei ihren Jahrestagungen dasselbe Konzept. Dies gilt auch für die angeschlossenen Doktorandentagungen. Da es sich jedoch in vielen Forschungsprojekten um Unterrichtsforschung handelt, ist der Verbleib der gewonnenen Einsichten auf der Universitätsebene nicht zielführend. Dies gilt auch für die vereinzelten Veröffentlichungen solcher Arbeiten in diversen Zeitschriften, welche den Chemielehrkräften im Lande durchaus zugänglich sind. Lehrer scheuen sich jedoch vor der Lektüre von Forschungsarbeiten, wenn sie nicht zugleich direkte praktische Handlungsvorschläge anbieten. Damit distanzieren sie sich von genau der Forschung, die ihren eigenen Wirkungsbereich betrifft. Dass das kontraproduktiv ist, versteht sich von selbst. Um bereits angehende Lehrer für solche wissenschaftlichen Untersuchungen zu sensibilisieren und ihnen das Verständnis von Unterrichtsforschung nahezubringen, gibt es das „Bayerische Chemiedidaktische Forschungskolloquium“, welches seit nunmehr zehn Jahren von der Chemiedidaktik der LMU ausgerichtet wird. Dabei treffen sich immer in der ersten Woche im Juli ca. 25 Studierende verschiedener Lehrämter mit Chemie zum Austausch der Erkenntnisse, die sie durch ihre Zulassungsarbeiten in Chemiedidaktik gewinnen konnten (Abb. 7).

Abb. 7: Szene aus einem Vortrag im Juli 2014 auf Frauenchiemsee aus der eigenen Zulassungsarbeit vor Mitstudierenden.

Die zahlreichen Studierenden aus allen Universitäten Bayerns, die Chemiestudiengänge für das Lehramt anbieten, konnten am eigenen Leib erfahren, welchen Bedingungen Unterrichtsforschung im Kleinen zu gehorchen hat, ist aber im Gegensatz zu den Didaktik-Doktoranden auf dem Weg in die schulische Praxis. Mit diesem Unterfangen soll langfristig und nachhaltig erreicht werden, dass gerade sie als spätere Lehrkräfte für die Literatur aus der universitären Unterrichtsforschung

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

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sensibilisiert werden und sich als potenzielle kritische Umsetzer der dort vorgeschlagenen Innovationen erweisen. Diese Veranstaltung, die bundesweit einzigartig ist, kann eine Brücke sein zwischen der Erforschung und der Weiterentwicklung des Chemieunterrichts. Um den betreffenden TeilnehmerInnen zusätzliche Inputs für ihre Arbeit zu geben und sie an randständige Arbeits- und Denkbereiche ihrer zukünftigen Profession heranzuführen, werden jedes Jahr ReferentInnen auch aus nichtdidaktischen Bereichen eingeladen. Sie sollen den Horizont der Studierenden erweitern und den Aufbau eines kritischen Bewusstseins unterstützten. 2015 jährt sich dieses Treffen zum zehnten Mal. In der folgenden Übersicht soll dieser Brückenschlag zu weiteren unterrichtsrelevanten Arbeitsgebieten verdeutlicht werden. Jahr 2006

2006 2006 2007 2007

2007

2008

2008

2008

Referent PD Dr. Huber Fak. für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, LMU AkOR Walter Wagner Chemiedidaktik, Universität Bayreuth Prof. em. Dr. Horst Werner IDN, Universität Salzburg Dr. Marc Weitze Deutsches Museum München (DMM) Prof. Dr. Klaus von der Helm Fak. für Medizin, LMU Prof, Dr. Heinz Neber Pädagogische Psychologie, LMU, Uni Saarbrücken; Uni Ulm Prof. Dr. Herbert Altrichter Erziehungswissenschaften Universität Linz Dieter Müller Projektleiter Industrieanlagen Betriebsgesellschaft (IABG) Franz Eschlberger RS-Rektor

2009

Dr. Norbert Kober Professioneller erzähler

2009

Prof. Dr. Claudia Nerdel Life Sciences, TUM

Titel „Bildender Unterricht“ – Technik oder Sakrament? „Chemieunterricht in Indonesien – Exkursion mit LA-Studierenden“ Didaktik aus Passion – Blick zurück in die Zukunft! „Welche Öffentlichkeit braucht die Chemie?“ „Universitäre Forschung und allgemeine Anwendung – Von der Biochemie zur HIV-Chemotherapie!“ „Wissen und Fragen – Was verbindet beides?“ „Unterrichtsforschung und Unterrichtsentwicklung“ „Beherrschung komplexer Szenarien – Was hat das mit (Chemie)Unterricht zu tun?“ „Messwerterfassungssysteme im Chemieunterricht zwischen Faszination und Nutzen“ „Nur erzählend bin ich Lehrer!“ – Von der erzählerischen Mündlichkeit! „Life-Sciences – Was ist das?”

280

Jahr 2009

2010

2010 2010

2011

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2012

2012

2012

2012 2013

Michael A. Anton

Referent AkD Dr. Bruno Hügel Naturwissenschaftsdidaktik, Uni Eichstätt Veronika Käferle Rektorin Justus-von-Liebig-Schule Bruckmühl/Heufeld Prof. Dr. Karin Stachelscheid Chemiedidaktik Uni Duisburg-Essen Dr. Eva-Maria Natzer Geschäftsführung Bayerische Naturwissenschaftliche Staatssammlungen München Prof. Dr. Ulrike Unterbruner, Abt. Fachdidaktik LehrerInnenbildung Universität Salzburg StD Reinhold Freud Fachberater der Chemieseminarlehrer an Gymnasien in Bayern Josef Weißl Regierungschuldirektor Regierung von Oberbayern Eva Bauderer Studentin Universität Wien Dr. Clemens Prokop Richter und Direktor des Amtsgerichts Regensburg Präsident des Deutschen Leichtathletikverbands Dr. Kurt Haim Leiter des Fachdidaktikzentrums Naturwissenschaften OÖ, Linz AkD Dr. Bruno Hügel Naturwissenschaftsdidaktik, Uni Eichstätt StR Michael Achter TUM School of Education Prof. Dr. Christiane S. Reiners Chemie und ihre Didaktik Universität zu Köln National Representative of the IUPAC Committee on Chemistry Education

Titel „Rettung von Kulturgut als besondere Aufgabe eines Didaktikers!“ „Wie leitet man ein Kollegium und 300 SchülerInnen?“

„Chemiedidaktische Forschung, die Spaß macht!“ „Moderne Naturkunde in Museen – Die Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns als außerschulischer Bildungsort“ „Einstellungen von SchülerInnen gegenüber globalen Problemlagen und die Rolle des Biologieunterrichts“ „Die Ansprüche und Chancen des Referendariats – Die Wirksamkeit der Seminarlehrer“ „Die Ansprüche und Chancen des Vorbereitungsdienstes – Die Wirksamkeit der Seminarrektoren“ „Die Lehrerbildung in Österreich aus der Sicht der Studierenden“ „Schulsport – Die Basis für geistige Beweglichkeit!“

„Kreativität und Chemieunterricht – Geht das?“ „Wie haltbar sind die €-Münzen?“

„Microscales im Chemieunterricht“ „Vom Systematischen zum Systemischen – oder von der Einübung des Verstehens von Chemie“

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

Jahr

2013

2014

2015

281

Referent (CCE) Mitglied des Administration Council des European Chemistry and Chemical Engineering Education Network (EC2E2N) Prof. Dr. Manuela Welzel-Breuer Pädagogische Hochschule Heidelberg Fak. III Physik Direktorin der Forscherstation des Klaus-Tschira-Kompetenzzentrums für frühe naturwissenschaftliche Bildung Präsidentin der European Science Education Research Association (ESERA) Mitglied im naturwissenschaftlichen Beirat der Stiftung Jugend und Wissenschaft Heidelberg Senatsbeauftragte für die internationalen Beziehungen mit Kolumbien (Medellin, Copacabana) Dr. Silvija Markic Institut für Didaktik der Naturwissenschaften, Abt. Chemiedidaktik Universität Bremen Projektleitungen (u.a.): PROFILES – Professional Reflectionoriented Focus on Inquiry-learning and Education through Science Diagnose und Förderung Diagnose und Förderung von heterogenen Lerngruppen Prof. Dr. Gisela Lück Institut für Chemie und Didaktik der Chemie I der Universität Bielefeld

Titel

Prof. Drs. Wolfgang Mastnak Präsident des Österreichischen Herzverbandes „One of the 1000 world’s top thinkers st and intellectuals of the 21 Century (American Biographical Institute)

„… wenn Schule Lernen und Entwicklung stört. Kognitive, motorische und somatische Belastungsfaktoren im Unterricht und deren pathogene Konsequenzen“

Prof. Dr. Dr. Berend Feddersen Oberarzt im Klinikum der LMU, Finalist beim Science Slam 2010

Wenn Wissenschaft verständlich wird!

„Physik für Straßenkinder – oder die Anwendung fachdidaktischer Forschungsergebnisse auf ein Entwicklungsprojekt in Kolumbien“

„Sprachliche Heterogenität – Eine Herausforderung oder eine Chance für den Chemieunterricht?“

„Der frühe Kontakt mit Chemie in Praxis und Theorie – Bedeutungen für die Bildungspolitik“

282

Michael A. Anton

Neben diesem aufwändigen Verfahren zur Förderung junger Chemielehreraspiranten ist es auch Bestreben der Chemiedidaktik, bei Lehrerfortbildungsveranstaltungen Studierende in die Referentenebene einzugliedern. Sie berichten von den Ergebnissen ihrer schriftlichen Hausarbeiten und erleben so die unmittelbare Resonanz ihrer Schlussfolgerungen aus der praktizierenden Lehrerschaft.

10 Verbindung zwischen Schulunterricht und speziellen Lernbedürfnissen Das Thema Inklusion beschäftigt die Chemie auf eine ganz besondere Weise. Einerseits sollen alle Kinder, alle interessierten SchülerInnen an die experimentelle Chemie herangeführt werden, auch an ein ausreichendes Theorieverständnis. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade hier das Sicherheitsproblem keinesfalls leicht lösbar ist. Der Autor selbst hat eine Klasse von körperlich gehandicapten SchülerInnen einer 10. Jahrgangsstufe („Rollstuhlklasse“) durch ein vormittägliches Experimentierprogramm begleitet. Zusammen mit Lehramtsstudierenden wurden alle diese Schülerinnen und Schüler in einem wie üblich ausgestatteten Praktikumsraum mit anspruchsgerechten Experimenten vertraut gemacht. Dazu bedurfte es keinerlei Animation. Die Motiviertheit dieser SchülerInnen war wie zu erwarten genauso groß wie bei allen anderen Schülern der Mittelstufe. Es konnten auch alle Versuche gemacht werden. Allerdings war die Betreuungsarbeit sehr hoch. Auf der anderen Seite war jedem Beteiligten, Schüler wie Student völlig klar, dass das ein wünschenswerter und unter Beachtung der Sicherheitsbedingungen ein gangbarer Weg ist, Chemie für alle Schülerbedürfnisse zu öffnen. Die schulische Alltagspraxis zeigt, dass für diese ungewohnten Aufgabenstellungen Lösungen zu finden sind. Damit ist inklusiver Chemieunterricht möglich, jedoch nicht ohne neue Perspektiven auf die inklusiven Momente des Chemieunterrichts einzunehmen und Maßnahmen zu ergreifen, was sich aber unzweifelhaft lohnt.

11 Verbindungen zwischen chemiespezifischen Ansprüchen sowie Leistungen und dem Bild der Chemie in der Öffentlichkeit Es häufen sich die Anfragen gegenüber der Chemiedidaktik, inwiefern sie auch Mittler sein kann für die Verbesserung des Images der Chemie in der breiten Bevölkerung. Die Veranstaltung „Chemie und Gesellschaft“ im Deutschen Museum, München (15.–17.4.2015) ist ein deutliches Beispiel hierfür. Neben Vertretern der Wirtschaft und Industrie, Wissenschaftsjournalisten und Vertretern der Berufsverbände werden auch Fachdidaktiker aus der Chemie um öffentliche Stellungnahmen, etwa zu den Beiträgen des Chemieunterrichts für ein sachliches Bild von Chemie, gebeten und dorthin eingeladen.

„ChemielehrerInnen als Brückenbauer und Chemiedidaktik als Bauherrin“

283

Analoges gilt für die Mitwirkung bei der Erstellung von publikumswirksamen Ausstellungen. So erstellte die Chemiedidaktik der LMU zusammen mit der Leitung des Münchner Kinder- und Jugendmuseums die europaweit erste Chemieausstellung. Sie fand im Jahr der Chemie 2003 statt und dauerte acht Monate. In dieser Zeit besuchten über 41000 Menschen aller Altersstufen diese Mitmachausstellung, bei der auch die Studierenden des Lehramts unverzichtbare Teilhabe hatten. Für die Konzeption und Ausführung der neuen Chemieausstellung im Deutschen Museum, die 2019 eröffnet werden soll, sind ebenfalls Chemiedidaktiker der LMU im Kernteam und im Beirat mitverantwortlich. In der Summe lässt sich konstatieren, dass die Chemiedidaktik und mit ihr alle anderen Didaktiken weit über ihr Kerngeschäft hinausgehende und äußerst anspruchsvolle Aufgaben übernehmen, deren Wirkungen auf das Bildungsniveau der Bevölkerung als unverzichtbar und nachhaltig eingeschätzt werden müssen. In jedem Fall handelt es sich um Brückenschläge zwischen den Wissenschaften und denen, die sich mit ihren Erkenntnissen kritisch, konstruktiv und kulturförderlich auseinandersetzen. Ziel ist es durchgehend, die Scherenöffnung zwischen dem wissenschaftlichen Fachwissen und dem lebensweltlichen Orientierungswissen nicht weiter als zwingend erforderlich aufgehen zu lassen. Genau daran wird ebenso weiter zu arbeiten sein wie an der Fortentwicklung der Unterrichtsqualität, hier im Fach Chemie!

Literatur Anton, Michael. A.: Das Verhältnis von Außerschulischen Lernorten (ASLO) zu Innerschulischen Lernorten (ISLO) – Eine science-didaktische Verortung, Chim. &ct. did. 36, 2010, 4–38. Anton, Michael A.: Wie heißt das auf Chemisch? – Sprachebenen der Kommunikation im und nach dem Chemieunterricht, in: Gabriele Fenkart/Anja Lembens/Edith ErlacherZeitlinger (Hrsgg.): Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften, Innsbruck 2010, 63–86. Anton, Michael A.: Professionalität zur Weiterentwicklung von Chemieunterricht (Manuskript 2015, erhältlich beim Verfasser). Christen, Hans Rudolf: Chemieunterricht – Eine praxisorientierte Didaktik, Basel 1990. Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung, Wien 2006. Liessmann, Konrad Paul: Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung – Eine Streitschrift, Wien 2014. Mandl, Heinz/Reinmann-Rothmeier, Gabi: Lernen auf der Basis des Konstruktivismus – Wie Lernen aktiver und anwendungsorientierter wird, Computer und Unterricht 23, 1996, 41–44. Nida-Rümelin, Julian: Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013. Tausch, Michael. W./Anton, Michael. A. :CHEM2DO – LehrLernmaterial für einen innovativen Unterricht, ChemKon 2015. Voitic, Eva:. Muss ich jetzt auch noch Deutsch unterrichten? PP-Präsentation zum Vortrag anlässlichh des 13. Europäischen Chemielehrerkongresses am 10.4.2015 in Innsbruck.

Politische Bildung trifft Politische Theorie Ein Beispiel für die Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudium für das Fach Sozialkunde Markus Gloe 1 1.1

Vorbemerkung Die Trias Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaften

Die Beziehung bzw. die Nicht-Beziehung zwischen Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Bildungswissenschaften gehört seit Jahren zu den zentralen Problemen der Lehrerbildung. Oft fehlt ihnen eine gemeinsame Plattform, so dass Bezüge untereinander nicht erkennbar werden. Dabei ist jede Säule eminent wichtig und eine Verzahnung dringend geboten. Obwohl ein nicht unerheblicher Unterschied zwischen „wissen“ und „Wissen weitergeben“ existiert, zeigen Studien, dass Fachwissen für die inhaltliche Qualität des Unterrichts bedeutsam ist.1 Dabei erfüllt die Fachwissenschaft zwei Funktionen: Zum einen bestimmt sie Gegenwarts- und Zukunftsprobleme (Leitfunktion), zum anderen darf im Schulfach nichts Unterricht werden, was fachwissenschaftlich nicht haltbar ist (Prüffunktion). In Bezug auf politisches Wissen zeigen Studien, dass dieses sich als „relevant für politische Urteilsbildung [erweist] und durchgängig bedeutsam für politische Partizipation“2 ist. Dennoch darf die Fachdidaktik nicht als reines Anhängsel der Fachwissenschaft betrachtet werden. Fachdidaktiken sind eigenständige Wissenschaftsdisziplinen und kein Teilbereich der Fachwissenschaft.3 Aus einer intensiven Beschäftigung mit Fachwissen entsteht nicht zwangsläufig fachdidaktische Expertise.4 Deshalb macht es wenig Sinn, beispielsweise erst in einem Bachelor-Studiengang lediglich fachwissenschaftliche Inhalte zu unterrichten und dann in einem darauf folgenden Master of Education o.ä. fachdidaktische Elemente hinzuzufügen. Im Zuge der Reform der Lehrerbildung 2005 bis 2008 wurden die Hochschulen in Bayern deshalb auch dazu verpflichtet, in den lehramtsgeeigneten Studiengängen die Erschließung fachwissenschaftlicher Inhalte für den Unterricht auch in den fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen mit zu berücksichtigen. 1 2 3 4

Für einen Überblick über die Lehrer-Expertiseforschung siehe Bromme 1992. Westle 2001, 849. Vgl. Sander, http://www.spd-hessen-nord.de/db/docs/doc_45509_20137465741. pdf [zuletzt: 22.4.2015]. Vgl. Schneider, www.bwpat.de/ausgabe1/[email protected] [zuletzt: 22.4.2015].

Politische Bildung trifft Politische Theorie

285

Nur in enger Verzahnung können grundlegende fachspezifische Wissensbestände identifiziert und im Rahmen eines Wissenstransfers für die Öffentlichkeit, z.B. für Schülerinnen und Schüler, didaktisch aufgearbeitet werden.5 Die Fachwissenschaft definiert die inhaltlichen Grundlagen und stellt erste Ansatzpunkte zur Lösung des Problems bereit. Die Erziehungswissenschaften eröffnen Wege zum Kompetenzaufbau durch lerntheoretische Begründungen oder die Forschung zur Effektivität von Lehr-Lern-Methoden. Schließlich benennt die Fachdidaktik die anzustrebenden Einsichten und arbeitet die Zusammenhänge von Zielen, Inhalten und Methoden heraus. 1.2

Die domänspezifische Perspektive auf die Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik

Für die Didaktik der Sozialkunde ergibt sich im Hinblick auf die Verzahnung mit der Fachwissenschaft eine besondere Schwierigkeit in zweierlei Hinsicht. Zum einen umfasst das Lehramtsstudium für das Fach Sozialkunde in Bayern bereits mit Politikwissenschaft und Soziologie zwei Bezugswissenschaften, zum anderen gibt es innerhalb der Fachcommunity einen Dissens darüber, was die zentrale Bezugswissenschaft ist bzw. die zentralen Bezugswissenschaften sind. So plädieren Weißeno u.a. dafür, ausschließlich die Politikwissenschaft als Bezugswissenschaft zu sehen. Sie entwickeln daraus einen Kanon aus drei Basis- und dreißig Fachkonzepten, über die Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit verfügen sollten.6 Diese Fokussierung auf die Politikwissenschaft scheint aus der Perspektive der 1950er und 1960er Jahre als sich Politikwissenschaft noch „als normativ orientierte Demokratiewissenschaft mit einem breiten demokratiepädagogischen Auftrag“7 verstand, auch konsequent. Nachdem sich zahlreiche Teilgebiete in der Politikwissenschaft etabliert haben, können die „neuere[n] Entwicklungen […] kaum noch sachkundig zum pädagogisch-didaktischen Nutzen der Politischen Bildung an Schulen verfolgt werden“8. Außerdem beklagen einige Fachwissenschaftler, dass die Politische Bildung „vergessen oder sträflich vernachlässigt“ wurde und die Lehrerbildung als „nachrangige und lästige Pflicht“9 betrachtet werde. Des Weiteren sieht die „Autorengruppe Fachdidaktik“ in der Fokussierung der Politikwissenschaft als Bezugsdisziplin eine kritische Verengung. In ihrer „Streitschrift“ plädiert die Autorengruppe dafür, Sozialwissenschaften, also die Fachfelder Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht, insgesamt als Bezugswissenschaften zu sehen.10 Himmelmann konstatiert dazu: „Aus der Sicht der Schülerinnen und Schü5 6 7 8 9 10

Vgl. Klein 2012, 135. Vgl. Weißeno u.a. 2010. Himmelmann 2006, 149. Himmelmann 2006, 150. Greven 2004, 141–157. Vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011.

286

Markus Gloe

ler (,Vorbereitung auf das Leben‘) sowie der Schule und Unterrichtspraxis (,das Ganze sehen‘) spricht ohnehin vieles für eine solche sozialwissenschaftliche Verbreiterung des fachlichen Inhalts im ,gesellschaftlichen Lernfeld‘ der Schule.“11 Im Folgenden soll eine Konzeption für ein Seminar vorgestellt werden, das die Verzahnung von Politischer Theorie und Politischer Bildung anstrebt. Ziel ist es, dass die Studierenden aus ihrem theoretischen Wissen pädagogische Handlungsstrategien entwickeln, „ohne die Fachwissenschaft zur Magd der Fachdidaktik zu degradieren“12. Dazu wird zunächst der politiktheoretische Ansatz vorgestellt, in dessen Zentrum eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Politischen steht. Es folgt die Beschreibung der Unterrichtskonzeption der Lehrkunstdidaktik anhand von fachspezifischen Beispielen. Diese lassen sich sowohl im Seminar als auch in der Schule für die Erarbeitung und Durchdringung entsprechender Inhalte nutzen. Nach der Skizze der Seminarkonzeption schließt der Aufsatz mit einem Verweis auf die Möglichkeiten von Kollegialem Feedback als „Nebenprodukt“ einer Zusammenarbeit von Fachwissenschaftlerinnen/Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikerinnen/Fachdidaktikern.

2

Politische Bildung trifft Politische Theorie: Der politiktheoretische Ansatz

„Ohne Kenntnis und Übung im Studium der großen politischen Denker bleibt der eigene politische Horizont eng. Um die Weite in der gegenwärtigen Weltsituation zu erfassen als etwas in der Tat Neues, das unser aller Schicksal wird, ist die Weite des überlieferten politischen Denkens, wie es in den wenigen politischen Denkern sich zeigt, unerlässlich“13, so Karl Jaspers. Nicht nur deshalb forderte Micha Brumlik im Jahr 1997: „Wir sollten politische Bildung auf den Boden der politischen Philosophie zurückholen.“14 Diese Forderung ist bis heute weitgehend unerfüllt. Erst einige wenige Arbeiten nach dem politiktheoretischen Ansatz15 wurden dazu vorgelegt.16 Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die politische Ordnung für Kinder und Jugendliche fremd ist, sie diese Ordnung aber verstehen müssen um an der Welt teilhaben zu können. Eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Politischen würde Kindern und Jugendlichen in einer Zeit des permanenten Wandels helfen, ordnende Konstanten zu finden. Dieser Ansatz darf jedoch auf keinen Fall mit einer Abbilddidaktik gleichgesetzt werden: „Es geht nicht darum, politikwis-

11 12 13 14 15 16

Himmelmann 2006, 160. Schmoll 2012, 171. Jaspers 1988, 207. Brumlik 1997, 12. Vgl. Breier/Meyer 2013. Vgl. Meyer-Heidemann 2015, Öeftering 2013.

Politische Bildung trifft Politische Theorie

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senschaftliche Einsichten abbildgetreu in den Unterricht zu übertragen.“17 Während aus der Perspektive der Politischen Theorie nach Stärken und Schwächen der jeweiligen Denker und ihrer Ansätze gefragt wird, will der politiktheoretische Ansatz bildungsfördernde Einsichten und Deutungsmuster in fachdidaktischer Absicht freilegen.18 Es geht für die Schülerinnen und Schüler also nicht darum, Platon, Aristoteles, Thomas Hobbes oder Max Weber namentlich zu kennen oder ihre bedeutendsten Werke aufzuzählen, sondern ihre Fragen und Denkbewegungen haben für Kinder und Jugendliche existenzielle Bedeutung.19 „Mit den Denkern zu denken, heißt, in ihrem Licht die Welt zu sehen und politischen Grundfragen nachzugehen, die sich Menschen, denen ihr politisches Leben am Herzen liegt, immer wieder neu stellen.“20 Vertreter des Ansatzes betonen: „Für eine gelungene didaktische Reduktion kommt es darauf an, dass Politiklehrende wesentliche Fragen geistig durchdrungen haben, die von politischen Denkern bereits mustergültig thematisiert worden sind. Eingeübt in diese Denkwege können die politischen Bildner [in unserem Fall Lehrerinnen und Lehrer, Anm. d. Verf.] an die Denkgewohnheiten der Heranwachsenden anknüpfen und sich mit ihnen auf einen gemeinsamen Erkundungsgang begeben.“21

3

Lehrstücke in der Politiklehrerausbildung

Solche Denkwege können mit Hilfen von Lehrstücken im Sinne der Lehrkunstdidaktik nachvollzogen werden. Das Unterrichtskonzept der Lehrkunstdidaktik gehört in anderen Fachbereichen schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts durch die Beiträge von Martin Wagenschein zum Standard.22 In der Politischen Bildung ist es – mit Ausnahme der Arbeiten von Ingo Juchler,23 Horst Leps24 und Andreas Petrik25 – bisher eher wenig etabliert. Die Lehrkunstdidaktik setzt auf forschendes Lernen, bei dem Schülerinnen und Schüler die gleichen Lern- und Forschungswege gehen, die bereits frühere Forscher gegangen sind. Grundlage dafür sind durchkomponierte, mehrfach erprobte und immer wieder variierte Lehrstücke zu „Sternstunden der Menschheit“ oder „epochenübergreifenden Menschheitsthemen“26. Dabei ist die Methodentrias „exemplarisch – genetisch – dramaturgisch“ von zentraler Bedeutung. Dies bedeu-

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Breier/Meyer 2013, 189. Breier/Meyer 2013, 189. Breier/Meyer 2013, 190. Breier/Meyer 2013, 191. Breier/Meyer 2013, 190. Vgl. www.lehrkunst.ch [30.3.2015], vgl. Wagenschein 1991. Vgl. Juchler 2012. Vgl. Leps 2013. Vgl. Petrik 2007. www.lehrkunst.ch [30.3.2015].

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Markus Gloe

tet, dass die Lehrstücke exemplarisch bedeutsame Schlüsselfragen thematisieren27 und die Lehrstücke dabei genetisch auf originären Quellen von Forscherinnen und Forschern, Dichterinnen und Dichtern, Künstlerinnen und Künstlern und Denkerinnen und Denkern beruhen.28 Dramaturgisch wird die gemeinsame Bearbeitung und Lösung der Lernaufgabe inszeniert, d.h. die Schülerinnen und Schüler werden in bestimmte problemhaltige Situationen hineinversetzt.

Hauptmerkmale

Leitfigur

Exemplarisch Eine Sternstunde der Menschheit kennenlernen Phänomen/ Exemplar Kategorialer Aufschluss und Transferierbarkeit und Paradigmatische Bedeutung (sachlich-fachliche Breite und philosophische Tiefe) Die Lernenden erklettern einen lockenden und zugänglichen Erkenntnisgipfel unter behutsamer Führung und erfahren dabei das Gebirge und das Klettern, also Inhalt samt Methode.

Genetisch Ein Gewordenes als Werdendes entdecken Gegenstandszentrierung Gang zu den Quellen Schülerzentrierung

Die Lernenden nehmen den Gegenstand im eigenen Lehrgang wahr als Werdegang des menschheitlichen und des individuellen Wissens vom ersten Staunen bis zur eigenen Erkenntnis.

Dramaturgisch Die Dramatik eines Bildungsprozesses erleben Theaterähnliche Gliederung und Gestaltung Dramatische Entwicklung des Lernprozesses Entfaltung der Lehridee bis zum Erkenntnisprodukt

Die Lernenden ringen um die Erschließung des Gegenstandes und der Gegenstand ringt mit den Lernenden um seine Erschließbarkeit.

Abbildung: Die lehrkunstdidaktische Methodentrias „Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch“ nach Martin Wagenschein und Gottfried Hausmann. Quelle: http://www.lehrkunst.ch/index-lehrkunst-2/ [22.4.2015]

Ausgangspunkt eines Lehrstücks ist ein aktueller Fall, der die grundsätzliche(n) Frage(n) für das Lehrstück aufwirft und aus dem die Lernaufgabe erwächst. So zählt beispielsweise Leps als Beispiele für sein Lehrstück „Welches ist nun aber die beste Verfassung?“ den gescheiterten Vertragsentwurf für eine Europäische Ver27 28

Vgl. Grammes 2014. Vgl. Petrik 2013.

Politische Bildung trifft Politische Theorie

289

fassung von 2004, Stuttgart 21 oder die Katastrophe um das Atomkraftwerk in Fukushima als aktuelle Fälle auf. Der gewählte Fall solle in jedem Fall folgende Fragen aufwerfen: „Warum hat man solche Verfahrensregeln in der Politik? Ist das Zufall? Hat das eine tiefere Bedeutung, die nicht sofort zu erkennen ist, die man aber erkennen und verstehen sollte, weil man sonst keinen rechten Zugang zu den aktuellen Dingen findet?“29. Ein solcher Fall bildet den Rahmen des gesamten Lehrstücks. An diesen Prolog schließen sich im gewählten Beispiel drei Akte an. Im Zentrum des ersten Akts (Entdecken) stehen die Verfassungsdebatte von Herodot und die Verfassungslehre von Aristoteles. Auf der Grundlage von Textauszügen spielen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Lehrstück die Verfassungsdebatte Herodots nach. In der Auseinandersetzung mit Aristoteles Verfassungslehre entwerfen sie schließlich eine eigene Verfassung. Dieser Entwurf wird entsprechend der lehrkunstdidaktischen Methodentrias exemplarisch – genetisch – dramaturgisch ausgestaltet. Im 2. Akt (Systematisieren) übertragen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Erkenntnisse und Einsichten auf gegenwärtige politische Systeme. Leps vergleicht diese Art der Betrachtung mit der Arbeit im Bereich der Vergleichenden Regierungslehre. Im 3. Akt (Anwenden) gehen die Schülerinnen und Schüler der Frage nach, ob das Grundgesetz die Erkenntnisse und Einsichten der 30 Griechen eingearbeitet hat.

4

Das Lehrstück „Dorfgründung“

Ein weiteres Lehrstück, das sich sowohl im Seminar als auch im Politikunterricht einsetzen lässt, ist die so genannte „Dorfgründung“, für dessen Verbreitung sich Andreas Petrik stark machte.31 Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass „jüngere Jugendliche (8. Klasse, häufiger Beginn des Politikunterrichts) […] mit politischen Gruppierungen, Parteien und Grundrichtungen noch wenig anfangen [können], […] aber in überschaubaren Konflikten schon tendenziell liberale, libertäre, konservative und sozialistische Werteprioritäten [zeigen] – ohne sich dessen bewusst zu sein.“32 Aber auch ältere Jugendliche würden verstärkt nach einer weltanschaulichen Orientierung suchen. Im ersten Akt (Entdecken) bildet folgendes Szenario die Grundlage: Schülerinnen und Schüler wandern gemeinsam in ein abgelegenes Bergdorf aus und gründen dort eine Dorfgemeinschaft. In der konstitutiven Dorfversammlung klären sie Entscheidungs-, Verteilungs-, Wirtschafts- und Religionsfragen. Sie gründen „Parteien“, um ihre Interessen zu verwirklichen. Im zweiten Akt (Systematisieren) werden mit Hilfe von Textauszügen aus Adam Smith „Wohlstand der Nationen“, Edmund Burke „Betrachtungen über die französische Revolu29 30 31 32

Leps 2013, 15. Vgl. Leps, 60. Vgl. Petrik 2007. Petrik 2010, 5.

290

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tion“, Karl Marx „Manifest der kommunistischen Partei“/„Das Kapital“ und Pierre Joseph Proudhon „Bekenntnisse eines Revolutionärs“ grundlegende Begriffe und Denkfiguren der vier Gesellschaftstheorien Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus und Anarchismus herausgearbeitet. Anschließend werden sie szenisch auf das gemeinsame Dorf übertragen und entsprechende Folgen diskutiert, d.h. die Schülerinnen und Schüler übertragen die Folgen aus den entsprechenden Gesellschaftstheorien auf ihr Dorfleben. Somit können die Gesellschaftstheorien mit konkreten Vorstellungen gefüllt werden. Am Ende des zweiten Aktes steht der Versuch der Einigung auf ein (Patchwork-)Dorfmodell. Im dritten Akt (Anwenden) werden Grundkonflikte an aktuellen Beispielen aus den vier Perspektiven erörtert: Homo-Ehe, Volksentscheide, Klimawandel, Religionsunterricht, Privatisierung, etc. Am Ende des dritten Aktes steht die Diskussion, wie die Bundesrepublik gestaltet 33 werden soll. Eine Reisebilanz schließt das Lehrstück ab. Mit diesem Lehrstück lassen sich folgende Teilkompetenzen in den Bereichen Urteilskompetenz − Perspektivübernahme, − Analyse, − fremde Urteile prüfen, − kategoriengeleitet eigene Urteile fällen und im Bereich der Handlungskompetenz − Artikulieren − Argumentieren − und Entscheiden fördern.

5

Die Seminarkonzeption

Zur Einführung in das Seminar wird ein fachdidaktisches Grundgerüst (Politische Mündigkeit, Kompetenzmodelle, fachdidaktische Unterrichtsprinzipien, verschiedene ausgewählte Lernfelder, aktuelle Studienergebnisse, etc.) wiederholt, so dass alle Studierenden sich noch einmal die Grundlagen der Politischen Bildung vergegenwärtigen können. Eine Klärung des politiktheoretischen Ansatzes erscheint unerlässlich für den Erfolg des Seminars. Außerdem schließt sich eine knappe Einführung in die Lehrkunstdidaktik an, um Sinn und Ziel des Unterrichtskonzepts ersichtlich zu machen. In den folgenden Sitzungen wird zuerst das Dorfgründungsspiel (s.o.) praktisch durchgeführt. Die Studierenden reflektieren Auswanderungsmotive, entwickeln Zukunftswünsche, diskutieren über die Häuserverteilung und erörtern eigene und fremde Gesellschaftsbilder. Anhand der gemachten Erfahrungen setzen die Studierenden sich mit den politischen Grundorientierungen Liberalismus, Konservatis33

Vgl. Petrik 2010.

Politische Bildung trifft Politische Theorie

291

mus, Sozialismus und Anarchismus auseinander. Neben den oben genannten Texten können noch die Denkwege weiterer Philosophen, Theoretikern oder Soziologen behandelt werden: Beispielsweise die Beschreibung des Inselstaats Atlantis durch Platon, „Utopia“ des englischen Staatsmanns Thomas Morus, die Kommunikationstheorie nach Habermas oder die Systemtheorie nach Luhmann. Dabei kommt in erster Linie die hermeneutische Textinterpretation als Methode zur Anwendung.34 Das Dorfgründungsszenario und die gesammelten Erfahrungen bieten dabei immer wieder eine entsprechende Diskussionsgrundlage. Den Ausgangspunkt des zweiten Teils des Seminars bildet die Verfassungsdebatte bei Herodot.35 Die Studierenden entwickeln aufgrund der Frage nach der besten politischen Ordnung eine eigene Verfassung. Sie setzen sich mit dem Zusammenhang zwischen der äußeren Verfassung der Polis und der inneren Verfassung der Bürger, der Theorie der Gerechtigkeit und der Theorie der besten Polis in Platons Poleteia auseinander. Sie erörtern die Verfassungsformen nach Aristoteles und vergleichen die eigenen Entwürfe mit modernen politischen Systemen (USA, Großbritannien, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland, Europäische Union). Im Anschluss diskutieren sie die Frage, welche nun aber die beste Verfassung ist. Das Seminar endet mit einer Erörterung der Konsequenzen aus den Seminarinhalten für den Politikunterricht sowie einer Reflexion der beiden Lehrstücke. Außerdem entwerfen die Studierenden eine Klassenarbeit und den passenden Erwartungshorizont. Dies lässt noch einmal deutlich werden, ob sie das Grundanliegen des politiktheoretischen Ansatzes verstanden haben.

6

Kollegiales Feedback als „Nebenprodukt“ der Verzahnung

Im Rahmen eines gemeinsamen Seminars von Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikern lässt sich auch kollegiales Feedback als effektives Mittel zur Qualitätssicherung in der Lehre einsetzen. Oft arbeiten Kolleginnen und Kollegen am selben Institut teils über Jahrzehnte zusammen, ohne sich bei dem Kerngeschäft, dem Lehren, wahrgenommen zu haben. Kollegiales Feedback bietet hier die Möglichkeit eines konstruktiven, zielführenden Austauschs mit Kolleginnen und Kollegen über die Lehre. Es ermöglicht den Lehrenden, sich und die eigene Lehre kontinuierlich zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Dabei wird ihre Selbstwahrnehmung und Selbstanalyse durch die Fremdwahrnehmung durch andere Lehrende bereichert. Die Lehrenden gewinnen durch das Kollegiale Feedback Einsichten in eigene Stärken und Schwächen, lernen, wie ihr Verhalten von anderen wahrgenommen wird, erhalten Anstöße, die helfen, die Lehre auf die Lerngruppe abzustimmen und erfahren Anerkennung. Auch die Rolle der Ratgebenden für Kolleginnen und Kolle-

34 35

Vgl. Juchler 2007. Vgl. Leps 2013.

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Markus Gloe

gen schult die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in Gesprächsführung und Teamarbeit. Mit Hilfe eines Leitfadens, der sowohl Beobachtungs- und Auswertungsbögen sowie Checklisten zur Ergebnissicherung bietet, wird Kollegiales Feedback zu einem Instrumentarium, das mit geringem zeitlichen Aufwand die eigene Lehre nachhaltig qualitativ verbessert.36 Seminare, die eine Verzahnung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik leisten, können auch die Grundlage dafür schaffen, dass Kollegiales Feedback ein selbstverständlicher Teil der Lehre im Hochschulalltag wird.

Literaturverzeichnis Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift, Schwalbach/Ts. 2011. Breier, Karl-Heinz/Meyer, Christian: Der politiktheoretische Ansatz, in: Carl Deichmann/ Christian Tischner (Hrsgg.): Handbuch Dimensionen und Ansätze in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2013, 188–200. Bromme, Rainer: Der Lehrer als Experte: Zur Psychologie des professionellen Wissens, Bern 1992. Brumlik, Micha: Braucht politische Bildung eine normative Theorie, kursiv, Journal für die politische Bildung 4, 1997, 12–19. Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft (GSI): Kollegiales Feedback am Geschwister-Scholl-Institut. Ein Leitfaden, verfügbar unter: http://www.gsi.uni-muenchen. de/lehreinheiten/sozialkunde/forschung-projekte/kollegiales-feedback-amgsi/leitfaden-kollegiales-feedback.pdf [13.4.2015] Grammes, Tilman: Exemplarisches Lernen, in: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2014, 249–257. Greven, Michael: Zur Situation der Politikwissenschaft in Deutschland, in: Rundbrief der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft 131, 2004, 141–157. Himmelmann, Gerhard: Gefährdung und Chancen für Fachwissenschaft und Fachdidaktik der demokratisch-politischen Bildung, Politische Bildung 1, 2006, 149–162. Jaspers, Karl: Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1988. Juchler, Ingo: Hermeneutik, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hrsgg.): Methoden Politischer Bildung. Basiswissen politische Bildung, Band 6, Baltmannsweiler 2007, 10–15. Juchler, Ingo: Der narrative Ansatz in der politischen Bildung, Berlin 2012. Klein, Hans Peter: Chaos in der Lehrerbildung. Die verhängnisvolle Abkehr der Fachdidaktik von der Fachwissenschaft, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2, 2012, 134–136. Lehrkunst. Durch Verstehen zur Bildung, verfügbar unter: www.lehrkunst.ch [30.3.2015] Leps, Horst: Lehrstücke im Politikunterricht. Welches ist nun aber die beste Verfassung?, Schwalbach/Ts. 2013. Meyer-Heidemann, Christian: Selbstbildung und Bürgeridentität. Politische Bildung vor dem Hintergrund der politischen Theorie von Charles Taylor, Schwalbach/Ts. 2015.

36

Leitfaden unter http://www.gsi.uni-muenchen.de/lehreinheiten/sozialkunde/forschung-projekte/ kollegiales-feedback-am-gsi/leitfaden-kollegiales-feedback.pdf [13.4.2015].

Politische Bildung trifft Politische Theorie

293

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Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion Das „Wissensnetzwerk Deutschdidaktik“ Sabine Anselm, Andreas Schöffmann, Anna Waczek 1

Vorüberlegungen

Aktuell entstehen an vielen Orten Schreibzentren, die Studierende1 unterstützen sollen. Und auch der große Ansturm auf universitäre Angebote wie etwa die „Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten“ lässt vermuten, dass Schreibberatung ein Desiderat und dass der Umgang mit Verschriftlichung von Wissensinhalten eine Herausforderung darstellt, die es zu bewältigen gilt. Auch die Idee zur Gestaltung des Wissensnetzwerkes Deutschdidaktik ist eine Reaktion auf studienspezifische Anforderungen. Sie entstand einerseits vor dem Hintergrund einer durch medialen Wandel veränderten Schreibkultur2 und andererseits aus Überlegungen, wie das forschende Interesse in der wissenschaftlichen Arbeitsweise der Studierenden gefördert werden könne, sowie drittens aus der Überzeugung heraus, dass die Entwicklung von Schreibkompetenz als Prozess innerhalb des Studiums zu verstehen ist. Demzufolge soll durch einen realistischen Schreibauftrag die Motivation der Studierenden beim Verfassen einer innovativen Form der Seminararbeit erhöht und verbunden damit die Qualität der Leistungsnachweise gesteigert werden. Denn ein zentrales Ergebnis schreibdidaktischer Forschung besteht in der Erkenntnis, dass die Motivation der Schreibenden durch sogenannte ‚echte‘ Aufgaben gesteigert werden kann.3 Dazu gehört neben der Schaffung sinnvoller und in einen konkreten kommunikativen Kontext eingebetteter Schreibanlässe auch die Bezugnahme auf die Lebenswelt der Schreibenden. Da sich diese durch mediale Entwicklungen rasant wandelt, galt es zu überlegen, inwiefern mediale Schreib- und Aufgabenformate einbezogen werden können. Die Entscheidung fiel auf zwei Schreibformen: zum einen den enzyklopädischen Wiki-Artikel, zum zweiten den Essay. Hinzu kam die hochschuldidaktische Frage danach, wie es im Rahmen universitärer Lehre gelingen kann, den Studierenden nicht nur kurzfristiges Wissen, sondern nachhaltige Kompetenzen zu vermitteln, also ein langfristiges Wissensfundament sowie die Fähigkeit zur Anwendung des Wissens aufzubauen. In diesem Zusammenhang wird dem forschenden Lehren und Lernen eine besondere Bedeutung beigemessen. Dadurch befähigt man Studierende als künftige Lehrende, neue 1

2 3

Im Folgenden werden, wenn dies möglich ist, Partizipformen im Plural verwendet, um sowohl das männliche wie das weibliche Geschlecht zu bezeichnen. Wenn dies nicht möglich ist, wird zur besseren Lesbarkeit auf das generische Maskulinum zurückgegriffen. Vgl. dazu Ruf 2015, 8. Vgl. Merz-Grötsch 2010.

Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion

295

Wissensgebiete für sich selbst und andere zu erschließen.4 Im Sinne des heuristischen Schreibens stellen darum die kooperative Arbeit an einem Wissensnetzwerk Deutschdidaktik und das essayistische Schreiben den Versuch dar, auf diese Anforderungen zu reagieren. Hinzu kommt, dass mittels des eigenen Schreibens zugleich Schreibkompetenzen für die schulische Vermittlungs- und Beurteilungspraxis entwickelt werden. Somit erfüllt das im Folgenden dargestellte Projekt in mehrfacher Hinsicht eine ‚Brücken(stein)funktion‘. 1.1

Vom Leistungsnachweis zum Wissensnetzwerk Deutschdidaktik

Die Beiträge im ‚Wissensnetzwerk Deutschdidaktik‘ thematisieren aktuelle, forschungsrelevante Fragestellungen. Sie verschreiben sich einer prozessorientierten Herangehensweise, welche die Phasen der Planung, des Schreibens und Überarbeitens in den Blick nimmt.5 So erhalten die Studierenden zunächst den Auftrag, einen ansprechenden thematischen Bezugspunkt zu generieren, zentrale Aspekte zu sammeln und im Anschluss daran den Text zu verfassen. Dieser bezieht auch die Diskussionen über die in Seminarsitzungen vorgestellten Ergebnisse ein. Zur Begleitung des Verschriftlichungsprozesses werden Schreibpartnerschaften mit anderen Seminarteilnehmern vereinbart. Dadurch kann eine gegenseitige Beratung bei der Erstellung stattfinden, wobei durch die Zerdehnung der Kommunikationssituation auch eine spätere Überarbeitung des Textes möglich ist. Denn der Text eines Autors ist als offen für weitere Kommentatoren zu verstehen, was dem aktuellen medialen Nutzungsverhalten, beispielsweise bei Wikis, entspricht.6 Zudem wird der Adressatenkreis in realistischer und motivierender Weise bestimmt, denn der zu schreibende Text richtet sich konzeptionell zunächst an den jeweiligen Tandempartner, sodann an die Seminargruppe und auch an den betreuenden Dozierenden. In beiden Fällen erfolgt nach der Erstellung der jeweiligen Textformen die Kommentierung durch einen Schreibpartner.7 Daran schließt sich eine Phase der Überarbeitung des Textes und der freie Zugang der Beiträge für alle Seminarteilnehmenden im Kurswiki an. Dieses Vorgehen entspricht dem Prinzip kooperativen Lernens im Sinne eines ‚think – pair – share‘-Formates.8 Die Vorteile bestehen darin, dass der Arbeitsprozess als solcher transparenter wird, ein Perspektivenwechsel vom Bewerteten in die Rolle des Bewertenden ermöglicht wird und sich für die Studierenden Möglichkeiten eröffnen, einen Austausch über ihre Arbeitsweisen anzuregen bzw. das Vorgehen anderer nachzuvollziehen.

4 5 6 7

8

Vgl. Euler 2005 sowie BAK – Bundesassistentenkonferenz (1970). Siehe dazu Fix 2008. Vgl. dazu Ruf 2015, 11. Hiermit kommt die Konzeption des Projekts dem von Seufert und Käser beobachteten Problem zuvor, dass durch das Fehlen von Kommentierungen und Überarbeitungen keine Steigerung der Qualität stattfindet. Vgl. Seufert/Käser 2010, 169. Vgl. Schüler 2012, 286–289.

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Darüber hinaus sollen die Beiträge der Studierenden nicht nur in dieser ‚geschützten Öffentlichkeit‘ innerhalb des virtuellen Seminarraums gelesen werden. Vielmehr ist es wünschenswert, dass die Ergebnisse nach Möglichkeit und Qualität innerhalb des universitätsinternen Netzes und darüber hinaus potentiell auch frei im Netz des world-wide-web verfügbar gemacht werden. Somit wird einerseits darauf geachtet, Einblicke in Schreibprozesse zu Lernzwecken zunächst nur für das Seminar zu öffnen und eine gewisse Privatheit des Schreibens zu gewährleisten und andererseits einen sinnvollen Bezug hin zur Öffentlichkeit zu ermöglichen.9 Ein besonderer Anreiz soll nämlich daraus entstehen, dass Artikel, die dem Stand der Forschung und guter wissenschaftlicher Praxis entsprechen, als solche gekennzeichnet werden und für andere Studierende zentrale Anregungen geben können. Eventuell ist sogar daran zu denken, dass diese Beiträge potentiell zitierfähig werden.10 Damit wird die Vermittlung von Wissen und Können „nicht nur vertikal, vom Lehrenden zum Studierenden und umgekehrt, sondern auch horizontal, zwischen den Studierenden [gefördert]“11. Lisa Schüler beschreibt diesen Effekt sowohl für synchrone als auch asynchrone Wissensstände und Kompetenzniveaus der Lernenden: Lerntheoretisch begründen lassen sich diese Vorgänge einerseits mit Piaget (durch die kooperative und hierarchieflache Auseinandersetzung mit kognitiven Konflikten – Konfrontation mit Sichtweisen und Gedanken Anderer zu einem Thema, die man bisher nicht bedacht hat – kann sich der Einzelne weiterentwickeln) andererseits mit Wygotzki (in heterogenen Lerngruppen haben Lernende immer die Möglichkeit, Lernen anderer u.U. fortgeschrittener, sich an der Zone der nächsten Ent12 wicklung befindender Lernender zu beobachten).

Durch diese Auseinandersetzung mit den Texten der Kommilitonen bzw. auch durch die sich an den Produktionsprozess anschließende Kommentierung der jeweils entstandenen Wiki-Artikel werden die Studierenden veranlasst, sich einerseits explizit über Kriterien des guten wissenschaftlichen Schreibens Gedanken zu machen, und sie üben sich andererseits in Formen der fördernden Rückmeldungen. Auf diese Weise verändern die Studierenden zum einen ihren Blick auf den eigenen Beitrag zusätzlich zur Kommentierung des Artikels durch andere Studierende. Zum anderen führt die Bearbeitung des eigenen Wiki-Artikels, die sich an diese Kommentierungsphase anschließt, auf Grund der Rückmeldungen dazu, dass erfahrbar wird, wie notwendig eine Überarbeitungsphase für den Arbeitsprozess ist. Zudem verdeutlicht die Hypertextstruktur mit ihren Verlinkungen die Eingebundenheit des wissenschaftlichen Schreibens in einen größeren Kontext zur Generierung eines Wissensnetzwerkes. Dieses erscheint als aktive Arbeitsplattform, auf der Kreativität 9 10 11 12

Vgl. zu den Vor- und Nachteilen von „Öffentlichkeit und Privatheit“ bzw. „Offenheit versus Geschlossenheit“ universitärer Leistungsnachweise: Hofhues 2012 sowie Bremer 2012, 96. Kaeding/Scholz 2012, 181. Kaeding/Scholz 2012, 177. Schüler 2012, 289.

Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion

297

durch Kollaboration erreicht wird. Darum ist in Weiterführung dieser Idee des kollaborativen Arbeitens geplant, dass die Studierenden nachfolgender Semester die Option erhalten, aktuell bestehende Inhalte der Wiki-Artikel zu nutzen und im Anschluss zu erweitern. Auf diese Weise sollen möglicherweise vorhandene Berührungsängste beim Eingriff in fremde Textstrukturen abgebaut werden. Grundsätzlich waren bei der Gestaltung des innovativen Leistungsnachweisformates unterschiedliche Zielsetzungen leitend: Der Wiki-Artikel sollte eine wissenschaftliche Arbeitsweise zur sachlichen Darstellung eines Gegenstandes fokussieren und den Studierenden ermöglichen, die Arbeit der anderen Studierenden einzusehen. Dabei entwickelten sich aus der Arbeit am eigenen Text, der Kommentierung der Texte des Schreibpartners sowie durch die Lektüre der Texte der Kommilitonen implizit Kriterien für einen guten Beitrag. Auf dieser Grundlage wurde es möglich, Rückfragen an Kommilitonen und Kommilitoninnen zu stellen und so deren wissenschaftliches Arbeiten zu begleiten. Zugleich wurde erkannt, dass Schreiben ein Prozess ist, der sich strukturieren lässt. 1.2

Zwischen Essay und Wiki – Eine schreib- und mediendidaktische Verortung

Die Erstellung eines Wissensnetzwerkes trägt in hohem Maße dazu bei, sowohl schreibdidaktische als auch mediendidaktische Überlegungen in der Lehre zu implementieren und die Vermittlungsprozesse im Sinne einer performativen Didaktik zu gestalten. So stellt das gemeinsame Arbeiten an den Wiki-Artikeln eine Form des prozessorientierten und kooperativen Schreibens dar. Überdies führt die Auseinandersetzung mit Kriterien guter Texte den Studierenden die Funktion und damit die gestalterischen Möglichkeiten der Schreibform vor Augen. Michael Becker-Mrotzek und Ingrid Böttcher13 machen darauf aufmerksam, dass das kooperative Schreiben nicht nur eine besonders berufsrelevante Form des Schreibens darstellt (was für Lehrkräfte freilich bislang nur begrenzt zutrifft), sondern überdies hinsichtlich der Motivation bedeutsam erscheint. Dabei stützen sie sich auf Überlegungen von Katrin Lehnen,14 die in einer Untersuchung zum wissenschaftlichen Schreiben zu dem Schluss kommt, dass insbesondere Schreibnovizen das gemeinsame Schreiben als sinnvolle Aufgabe wahrnehmen15 und in der Entwicklung ihrer Schreibkompetenzen von einem kollaborativen Prozess profitieren.16 Diese Annahmen lassen sich durch die Arbeit im Seminar mit Studierenden bzw. durch die Auswertung einer evaluativen Befragung bestätigen. Sie können im Folgenden durch exemplarische Antworten der Studierenden veranschaulicht wer-

13 14 15 16

Becker-Mrotzek/Böttcher 2006, 41. Lehnen 2000. Lehnen 2000, 254. Lehnen 2000, 257.

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den.17 Diese verdeutlichen, wie vielfältig die gewonnenen Impulse sind. Sie reichen von Anregungen für die sprachliche Gestaltung von Es war interessant, einmal einen offenen Blick auf andere Arbeiten zu werfen. So erkannte man allein schon gravierende stilistische Unterschiede.

oder Besonders unter stilistischen Gesichtspunkten konnte mein Wiki, denke ich, profitieren. Mir war vorher nicht bewusst, wie wichtig eine klare Darstellung des Textes den Lesefluss befördern kann.

bis zum Hinweis auf spezifische Arbeitsstrategien: Anfangs war die Arbeit mit dem Wiki eher befremdlich, aber mit der Zeit habe ich mich an das Konzept gewöhnt und für mich festgestellt, dass ich diese Art des Arbeitens fast sinnvoller finde als die herkömmlichen Hausarbeiten, auf diese Weise hat man Zugang zu den Forschungsergebnissen der Kommilitonen und erhält Einblick in deren Herangehensweise.

In Bezug auf die Erstellung der Wiki-Artikel melden die Studierenden also zurück, dass sie durch die Kommentierungen und Vergleiche mit den Artikeln anderer Seminarteilnehmenden viel über Schreibstile, Leseflüssigkeit und unterschiedliche Denkansätze bei der Konzeption von Artikeln lernen konnten. Auch die unterschiedlichen Herangehensweisen der Studierenden an das Schreiben werden als inspirierend wahrgenommen und zum Abschluss des Schreibprozesses im Plenum reflektiert. In diesem Zusammenhang wird auch thematisiert, dass das Peer-Feedback eine professionelle Schreibberatung zwar nicht ersetzen kann, dass aber die Studierenden nicht nur von den Rückmeldungen der Kommilitonen profitieren, sondern auch davon, selber Beratende zu sein und sich dabei aus der LeserPerspektive mit den Schreibprodukten auseinanderzusetzen. Dieses Ergebnis kann man auch bei anderen Untersuchungen nachvollziehen. So weisen beispielsweise Becker-Mrotzek und Böttcher darauf hin, dass die „Distanz zum fremden Text (…) zu einem verstärkten Nachdenken über eigene Schreibroutinen und -strategien bzw. Schriftlichkeitsnormen“18 führt. In vergleichbarer Weise ergibt sich eine klare Adressatenorientierung aus einem funktionalen Zusammenhang des Schreibprozesses: durch die Einbettung in ein Wissensnetzwerk erhält das einzelne Schreibprodukt einen klaren kommunikativen Zweck19. So zeigt sich, auf welche Aspekte es 17

18 19

Die Zitate stammen aus eigenen Befragungen, die zwischen SoSe 2013 und WS 2014/15 im Anschluss an drei Seminare mit innovativen Leistungsnachweisen mittels einer online-Umfrage durchgeführt wurden. Becker-Mrotzek/Böttcher 2006, 43. Fix 2008, 148.

Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion

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beim informierenden Schreiben ankommt, und die Kriterien für einen guten WikiArtikel werden erfahrbar. Überdies wird den Studierenden in der Überarbeitung der Texte die Rekursivität des Schreibprozesses bewusst, d.h. es handelt sich nicht um einen linearen Prozess, der von der Planung zur Verschriftlichung und Überarbeitung voranschreitet, sondern es werden Zwischenschritte der Überarbeitung und neuen Planung von einzelnen Abschnitten des Textes erkennbar. Nicht zuletzt trägt es zur Motivation der Schreibenden bei, dass das eigene Schreibprodukt nicht nur von dem Bewertenden und dem Schreibpartner gelesen wird, sondern auch einem breiteren Adressatenkreis zur Verfügung gestellt werden kann; damit gewinnt das eigene Wissen an Bedeutung, es wird weiter getragen und genutzt. Steht beim Verfassen von Wiki-Artikeln das sachlich-informierende Schreiben im Vordergrund, weisen Essays andere stilistische Merkmale auf. Prinzipiell offener gestaltet wird das essayistische Schreiben charakterisiert durch die „assoziative Denkbewegung“ und eine subjektivere Herangehensweise bei gleichzeitiger kognitiver Durchdringung,20 die weniger auf die Klärung als vielmehr die Erörterung einer Frage angelegt ist. Damit ist, so konstatieren Matthias Thies et al., eine „freiheitlich-kritische Denkhaltung des Essayisten (…) unverzichtbar“,21 denn mit bloßer Reproduktion ist es nicht getan. Die Erprobung essayistischen Schreibens ist damit in mehrfacher Hinsicht lohnenswert für Studierende des Lehramts. Der erste Grund ist ein pragmatischer: In den „Bildungsstandards für die allgemeine Hochschulreife“22 ist der Essay nicht nur im Bereich „Gestaltend schreiben” genannt, sondern erscheint auch in der abiturrelevanten Aufgabenart „Materialgestütztes Verfassen argumentativer Texte“. Damit rückt der Essay in den Kernbereich des Unterrichtsgeschehens in der Oberstufe und erfährt eine deutliche Aufwertung. Dies zeigt sich daran, dass in mehreren Bundesländern (so beispielsweise in Baden-Württemberg und Bayern) das Verfassen eines Essays als neuer Aufgabentyp in den Kanon der Arbeitsbereiche im Fach Deutsch für das Abitur aufgenommen wurde. Um angehende Lehrkräfte zu befähigen, diese Schreibform nicht nur zu vermitteln, sondern auch zu bewerten, ist es unabdingbar, dass sie sich nicht nur rezeptiv, sondern auch produktiv damit auseinandersetzen. Beim Verfassen von Wiki-Artikeln und Essays zum gleichen Thema schulen Studierende ihr Bewusstsein für unterschiedliche Schreibformen und Schreibnormen, im kooperativen Schreiben klären sie Kriterien guter Texte und geben konstruktives Feedback. Thies u.a. machen darauf aufmerksam, dass mit der Einführung von Essays als Aufgabentyp des Abiturs von einem „echten

20 21 22

Vgl. Haas 1969. Thies/Ulmer u.a. 2012, 11. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). Abrufbar unter: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf [15.05.15].

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Sabine Anselm, Andreas Schöffmann, Anna Waczek

Paradigmenwechsel gesprochen worden“ ist, der ein „freiheitlich-kritisches Bildungsideal generiert“.23 Daran knüpft der zweite Begründungszusammenhang an, der in eben diesem Modus liegt. Durch die heuristische und erörternde Herangehensweise werden Reflexionsprozesse angestoßen, Haltungen geklärt und argumentativ vertreten. Damit kann das Erproben dieser Schreibform einen Beitrag zur Entwicklung einer reflektierten und forschenden (Lehrer-)Persönlichkeit leisten. Dabei soll reflektiert werden, dass es das Ziel eines Essays ist, mit einer bestimmten Strategie einen anspruchsvollen Text zu verfassen, der dem Leser eigene Denkansätze, Standpunkte und Überlegungen zu einem Thema vorstellt und sie zum Mitdenken anregt. In ähnlicher Weise wie das Verfassen eines Wiki-Artikels dient also auch der Essay als Schreibform, die den Studierenden eine argumentierende und pointierte Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlich erarbeiteten Gegenstand erlaubt und sie durch die Art der Textform dazu reizt, das Thema zu sich selbst in Beziehung zu setzen, um weiterführende Gedanken zu entwickeln. Schlussendlich spielen hinsichtlich der Erstellung von Wissensnetzwerken nicht nur schreibdidaktische, sondern auch mediendidaktische Überlegungen eine Rolle. Da der Einsatz von Medien in hohem Maße davon abhängt, ob die Lehrpersonen mit der Nutzung der Medien vertraut sind, stellt das Wissensnetzwerk einen Ansatz dar, um dem Desiderat einer unzureichenden mediendidaktischen Ausbildung entgegenzuwirken.24 Darüber hinaus rückt die Auseinandersetzung mit einer digitalen Schreibform und dem kollaborativen Schreiben25 die Veränderung von Textgestalten und Arbeitsweisen in den Blick, die sich mit der digitalen Revolution vollzogen haben. Auf der einen Seite wird so deutlich, dass ein Wiki eine neue Qualität in die Beobachtung des Schreibprozesses bringt: Die Dokumentation aller Subprozesse auf dem Weg zum Textprodukt, da es sowohl 26 den Text als auch die Diskussion über den Text enthält.

Auf der anderen Seite offenbart die Arbeit an hypertextuellen Schreibprodukten neue Anforderungen an die Kohärenzbildung, denn die Zusammenhänge in multilinearen27 sowie multimedialen Texten müssen stets transparent gemacht werden. Zudem erfordert das kollaborative Schreiben Kompetenzen im Bereich des selbstorganisierten Arbeitens, damit unter anderem aus dem Nebeneinander der Textgestaltung ein Miteinander in der Texterarbeitung gemacht werden kann.28 Denn die 23 24 25 26 27 28

Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife ,19. Eine Zusammenfassung dieses Desiderats findet sich bei Schüler 2012, 283ff. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die Arbeit von Endres 2012 zum kollaborativen Schreiben in Wikis. Enders 2012, 125. Vgl. Storrer 2004. Vgl. Enders 2012, 124 sowie l Beißwenger/Storer 2010, 18f.

Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion

301

Studierenden erwerben dabei – in Aufnahme des Kompetenzbegriffes von Gerhard Rupp29 – nicht nur instrumentelle Medien- und produktive Verarbeitungskompetenz im Umgang mit den Wikifunktionen und der Erstellung von (z.T. multimedialen) Artikeln, sondern sie entwickeln durch die Kommentierungsfunktion und die darin geführten Diskussionen zugleich analytische Verarbeitungs- und interaktive Medienkompetenz. So verstanden ist die Arbeit am Wissensnetzwerk Deutschdidaktik ein wertvoller Beitrag zur Förderung umfassender Medienkompetenz, da die Anforderungen an die instrumentelle Medienkompetenz gering sind und so der Schwerpunkt des Lernzuwachses auf Formen des kollaborativen Arbeitens und Schreibens gelegt werden kann, sofern es gelingt, die Schreibmotivation durch die Struktur des Projekts zu fördern.30 Dies bestätigen auch Rückmeldungen aus der Evaluation im Anschluss an das Seminar wie die folgende: Neben der inhaltlichen Komponente bin ich sehr froh, dass ich den Umgang mit alternativen Darstellungs- und Textbearbeitungsformen vertiefen konnte. Ich habe im Seminar beim Vorbereiten des Essays und beim Schreiben des Wikis viel gelernt. Mir ging das Abfassen schneller von der Hand als das Verfassen einer vollständigen Hauptseminararbeit.

Es wird also deutlich, dass vielfältige Lernprozesse angeregt worden sind. Darüber hinaus stellt Brigitte Enders dar, wie mittels Wikis und der Verwendung des Schreibprozessmodells nach Hayes und Flowers mit den drei Phasen des Planens, Schreibens und Überarbeitens eine systematische Schreibprozessförderung stattfinden kann.31 Ein Gedanke, der auch von den Seminarteilnehmenden aufgegriffen und ausgeweitet wird: Ich fand die Einarbeitung in das Wiki sehr sinnvoll, da es zum ersten Mal der Fall war, mich in innovativere und progressivere Textdarstellungsmöglichkeiten einzuarbeiten. Ich würde auch gerne in Zukunft mehr auf solche Darstellungsformen zurückgreifen.

Zudem wird in mehreren Rückmeldungen deutlich, dass Schreiben als Methode zur Wissensspeicherung gesehen wird und eine übersichtliche Wissensarchivierung ermöglicht: Lernplattformen werden auch im normalen Schulalltag immer wichtiger. Die Arbeit mit dem Wiki ist eine sinnvolle neue Methode, die gesamten Inhalte für alle einfach und direkt sichtbar zu machen.

29 30 31

Rupp 2011, 205–252. Vgl. zur Motivationsförderung in kollaborativen Schreibprojekten Moskaliuk/Kimmerle 2008 sowie Cress/Kimmerle 2008. Enders 2012, 143.

302

2 2.1

Sabine Anselm, Andreas Schöffmann, Anna Waczek

Konzeption der Arbeit am Wissensnetzwerk Organisation der Seminare

Im Anschluss an die jeweiligen Seminarveranstaltungen konnten sich die Studierenden für das Verfassen von Wiki bzw. Essay selbstständig für Themen im Rahmen der Seminarinhalte entscheiden. Allerdings mussten sie sich diesbezüglich bis zu einem vorgegebenen Termin auf der Hauptseite des Kurswikis mit einem festen Arbeitstitel eintragen, damit so Doppelungen vermieden bzw. ähnliche Themen sinnvoll vernetzt werden konnten. In der ersten Phase hatten die Studierenden die Aufgabe, sich in das Thema einzuarbeiten, also zu recherchieren und die Ergebnisse auszuwerten. Für die Erstellung des jeweiligen Wiki-Artikels wurden keine Kriterien vorgegeben, vielmehr erhielten die Studierenden durch ein induktives Herangehen die Möglichkeit, sich während des Schreibens über zielführende Kriterien klar zu werden. Hierbei erhielten die Studierenden zeitlich festgelegte Termine, damit die Arbeitsschritte strukturiert werden und relativ parallel verlaufen konnten. Um zu gewährleisten, dass die Studierenden im Anschluss an die Erstellung der Artikel gegenseitige Kommentierungen vornehmen, wurden mittels eines Losverfahrens die Schreibtandems zusammengestellt. Dadurch entstanden sehr gemischte Zusammensetzungen, die zuweilen eine Herausforderung waren. Um dies in Zukunft zu vermeiden, könnten auch vorab homogenere Teams gebildet werden. Aufgabe der Tandems war lediglich im Sinne eines vernetzten Lernens die gegenseitige Reflexion des Geschriebenen. Denn im Gegensatz zu anderen kollaborativen Schreibprojekten wurde das Wiki in erster Linie nicht genutzt, um Texte gemeinsam zu planen und zu schreiben,32 sondern der Fokus lag getreu der Idee vom ‚think – pair – share‘ nach einer Einzelarbeitsphase in der Kommentierung und Überarbeitung. Gleichwohl ist das kollaborative Arbeiten durch die Schreibumgebung Wiki33 immer potentiell enthalten. Damit konnte dem Grundsatz, dass Lernende behutsam an kollaborative Schreibformen heranzuführen sind,34 entsprochen werden. Nach Abschluss der Schreibphase war es den Kursteilnehmenden freigestellt, zu einer beliebigen Anzahl an Artikeln Rückmeldungen abzugeben. Vereinzelt waren die Studierenden so motiviert, dass sie Kommentierungen zu jedem der Artikel schrieben und sich ausgehend von diesen Rückmeldungen weiterführende fachliche Diskussionen ergaben. Der Eingriff in die Textstruktur erfolgte in vielen Fällen trotz der medial möglichen Einblicke in die unterschiedlichen Textversionen, die sog. „transparente[] Versionierung“,35 die Wikis gewähren, sehr behutsam 32 33 34 35

Vgl. Platten 2008. Eine plausible Herleitung und Begründung, warum Wikis als Schreibumgebungen bezeichnet werden können, liefert Endres 2012, 126ff. Beißwenger/Storrer 2010, 32. Hodel/Haber 2007.

Kollaboratives Schreiben mit Brücken(stein)funktion

303

und hauptsächlich mit dem Augenmerk auf Stil, Rechtschreibung und Grammatik. Dies deckt sich mit den Beobachtungen anderer Autoren, dass Konzepte der Mehrautorschaft für ungeübte (kollaborative) Schreiber große Widerstände vor dem Eingriff in die Textstruktur anderer hervorrufen.36 Es gilt also Hemmungen davor, Verbesserungen bei Fragen des Stils und des Inhaltes der Beiträge vorzunehmen, zu überwinden. In der letzten Phase hatten die Studierenden den Auftrag, ihre Beiträge zu redigieren. Die Erfahrungen mit der Kommentierung der anderen Beiträge und die Kommentare zum eigenen Beitrag sollten bei der abschließenden Überarbeitung der Wiki-Artikel einen Ansatz liefern. 2.2

Gestaltung der Lernumgebung

Die Wikis waren bei allen durchgeführten Kursen in die Lernplattform Moodle eingebunden und damit in einem durch die Shibboleth-Authentifizierung geschützten Bereich nur für die jeweiligen Kurse zugänglich. Die in Moodle standardmäßig implementierte Wiki-Engine ErfurtWiki unterscheidet sich von dem weiter verbreiteten MediaWiki in erster Linie durch die verwendete Wiki-Syntax. Eine Besonderheit des ErfurtWikis liegt darin, dass die Benutzer über einen Editor HTML-Befehle verwenden können, um die Textgestalt der Seiten zu verändern. Für die Überarbeitungsprozesse wäre eine farbliche Abhebung von Veränderungen in der Textstruktur, wie sie WikiWiki, Seedwiki oder die kollaborative Schreiboberfläche Titanpad nutzen, wünschenswert gewesen. Aus der Beobachtung Enders’ heraus,37 dass Kursteilnehmende fehlende Strukturen wie Diskussionsseiten oder farbliche Markierungen, die sie aus der kollaborativen Arbeit mit anderen Medien kennen, gegebenenfalls simulieren, kann der Gedanke abgeleitet werden, dass die Nutzung von Schreibumgebungen mit ihren vorgegebenen Strukturen, wie sie beispielsweise in Wiki-Artikeln gegeben sind, eine ‚Stützräder-Funktion‘ erfüllt. Fehlende Strukturen könnten demnach durch das Sammeln von Erfahrung mit unterschiedlichen Schreibumgebungen ausgeglichen werden. Beispielsweise könnte man Aufgaben mit Titanpad zukünftig als Vorübungen zum kollaborativen Schreiben im (Erfurt)Wiki nutzen. Zur Einführung in die Nutzung des Wikis wurde die Hauptseite als Inhaltsverzeichnis angelegt und als eine Art Stylesheet gestaltet. Dieses Verzeichnis enthält dabei Beispiele für die wichtigsten Bedienungsfunktionen, wie die Erstellung von Beiträgen, die Nutzung von Formatvorlagen zur Erstellung eines Inhaltsverzeichnisses und die Verlinkung. Für an der schulischen Arbeit mit Wikis Interessierte wurde auf der Hauptseite ein Link auf das Großprojekt ZUM-Wiki38 gesetzt. Für Fragen, welche die Bedienung und Nutzung des Wikis betrafen, stand den Studie36 37 38

Vgl. Schüler 2012, 300. Enders 2012, 134 Fußnote. ZUM – Zentrale Unterrichtsmedien im Internet. Verfügbar unter: http://wikis.zum.de [24.04.2015].

304

Sabine Anselm, Andreas Schöffmann, Anna Waczek

renden ein Forum zur Verfügung, aus dem sich im Laufe des Projekts eine F.A.Q.Liste ergab, die bei Folgeveranstaltungen jedem Wiki beigefügt wurde und von Semester zu Semester erweitert wird.

3

Schlussfolgerungen aus den bisherigen Erfahrungen

Im Rückblick auf die veränderten Anforderungen an die Leistungserhebungen innerhalb der Universität wird deutlich, dass die Studierenden die Erprobung und Reflexion schreibdidaktischer Ansätze, die sie später selbst vermitteln sollen, sehr positiv beurteilen. Eine verbesserte Qualität der Arbeiten, die auf eine Steigerung der Motivation der Studierenden zurückzuführen ist, lässt sich zwar nicht direkt ‚beweisen‘, zeigt sich jedoch durch einen motivierten Umgang mit der Schreibaufgabe und den Ergebnissen des Wikis. Alle Beiträge wurden beispielsweise pünktlich erstellt und in gewinnbringender Weise gegenseitig redigiert. Auch die Korrigierenden wurden durch die wechselweise durchgeführten Korrekturen der Studierenden und die im Wiki-Verlauf nachzuvollziehenden Überarbeitungen besonders im Blick auf sprachliche Fehler und Argumentationsprobleme entlastet.39 Zudem lassen die motivierten Rückmeldungen und Auseinandersetzungen mit dem Schreibprozess auf ein gesteigertes Interesse seitens der Studierenden schließen. Vor allem wurden aber auch die inhaltlichen Ergebnisse der Bearbeitung als nachhaltige Bereicherung gesehen. Damit werden Überlegungen aufgenommen, wie sie Sabine Seufert und Reto Käser etwa formulieren, wenn sie die Ziele im Einsatz kollaborativer Netze im Bereich der Didaktik darin sehen, dass den Studierenden als Lehrenden beim Transfer des Veranstaltungskonzepts auf die Sekundarstufe II eine Wissensdatenbank zur Verfügung steht. Diese Wissensdatenbank soll den Lehrenden langfristig als Hilfestellung bei der Umsetzung der Metho40 de und anderen aktuellen, didaktischen Fragestellungen dienen.

Diesen Aspekt greifen auch die Rückmeldungen der Befragung bezüglich der Veröffentlichung des Wissensnetzwerks auf. Sie lassen darauf schließen, dass die Studierenden stolz auf die sichtbaren Ergebnisse ihrer Arbeit sind und dass sie die Dokumentation und Weiterentwicklung der Ansätze auch im Hinblick auf diesen Rückgriff der theoretisch erarbeiteten Inhalte aus der Schulpraxis begrüßen. Dies steht vermutlich gerade deshalb im Gegensatz zu der von Sandra Hofhues dargestellten Angst der Lernenden davor, Lerninhalte öffentlich preiszugeben und sich damit potentieller Kritik auszusetzen,41 da es sich bei den Veröffentlichungen um möglichst objektiv geschriebene Wiki-Artikel handelt, deren Autorenzuordnung 39 40 41

Insofern bestätigt sich hier die Zufriedenheit mit der studentischen Qualitätssicherung, welche Panke/Teillosen 2008, 20 äußern. Seufert/Käser 2010, 170. Vgl. Hofhues 2010, 405ff..

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gerade durch die Weiterentwicklung und die Mehrautorschaft uneindeutig wird. Auf diese Weise tritt die sachliche Auseinandersetzung mit einem Forschungsgegenstand in den Vordergrund. Die Rückmeldungen zeigen zudem, dass die Studierenden daran denken, auf das Arbeiten mit Wikis in der Schule zurückzugreifen: Ich habe im Zuge des Wikis gelernt, zumindest einen einfachen Code zu verwenden (das hat mir Spaß gemacht), außerdem kann man jetzt besser überlegen, ob man eine Wiki bei einem Projekt in der Schule anwenden kann/möchte. Ob ich später das Format selber nutze, weiß ich noch nicht, ich werde mir aber darüber Gedanken machen. Das hätte ich vor dem Seminar nicht gemacht.

Bedenken gegenüber dem Umgang der Schüler mit der Technik und gegenüber der Kontrolle der Inhalte, die sich bei der durch Seufert und Käser unter Wirtschaftspädagogen durchgeführten Befragung zeigten, teilen die von uns befragten Studierenden.42 Diesen Bedenken sind die vielen Projekte entgegenzusetzen, die über das ZUM-Wiki umgesetzt werden. Sie zeigen, dass Lernende gerade mit der einfach zu erlernenden Wiki-Bedienung ohne größere Probleme umgehen können,43 Potentiale ausloten und sich zur Qualitätssicherung der Inhalte verschiedener Möglichkeiten bedienen.44 Zudem sehen sie den gemeinsamen Austausch als Bereicherung. Problematischen Tendenzen wie beispielsweise Vereinzelungsphänomenen wird durch die Einbindung der einzelnen Arbeit in ein größeres Netzwerk sowie in einen Arbeitsprozess parallel mit dem der Kommilitonen entgegengewirkt. Der Vergleich und der Austausch haben viel geholfen, da man nicht völlig alleine da steht mit seiner Konzeption und sich unterstützt fühlt. Man kann ohne großen Aufwand Fragen anderer direkt beantworten oder eigene Fragen werden direkt beantwortet.

Die Studierenden ziehen auch dadurch Motivation aus der gemeinsamen Tätigkeit, dass sie Fragen in das beigefügte Moodleforum stellen und sich gegenseitig bei der Beantwortung unterstützen. Mindestens die Hälfte der Fragen, die sich für gewöhnlich an die betreuenden Dozenten richten, beantworten die Studierenden auf diese Weise selbst bzw. können zugleich für alle Studierenden beantwortet werden. Darüber hinaus ermöglicht die Lektüre der anderen Beiträge einen Vergleich der Texte, der Austausch der Studierenden untereinander stärkt die Fähigkeit zum kooperativen Lernen und sorgt für eine gewisse Form gegenseitiger Weiterbildung. Gerade die vorgegebene Notwendigkeit der Kommentierung anderer Beiträge begründet 42 43 44

Seufert/Käser 2010, 170. Vgl. auch Anskeit 2012. Vgl. ZUM – Zentrale Unterrichtsmedien im Internet. Verfügbar unter: http://wikis.zum.de [24.04.2015].

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diesen Austausch und stellt gleichzeitig eine erste Vorbereitung der angehenden Lehrkräfte auf die Korrekturpraxis im späteren Beruf dar. Hinzu kommt, dass sich die Seminare im Sinne forschungsorientierter Lehre mit noch teils wenig bearbeiteten Forschungsthemen befassen. Die Artikel im Wissensnetzwerk Deutschdidaktik werden damit Teil einer Erschließung dieser Themen und geben den Studierenden einen Anreiz zum forschenden Lernen. Förderlich hierbei ist die Möglichkeit, den Beitrag direkt im Wiki zu entwickeln und den Kommilitonen dadurch Einblicke in verschiedene Bearbeitungsstände zu ermöglichen. Diese prozesshafte Form der Wissenserschließung wird allerdings nicht von allen Studierenden in gleicher Weise umgesetzt, sondern zuweilen werden die Texte erst nach ihrer Fertigstellung in ihrer Gesamtheit in das Wiki eingebettet. Das beispielsweise auch von Seufert und Käser beschriebene Phänomen der „plötzlich entstandenen Beiträge“ kann also im Kontext der vorliegenden Erfahrungswerte bestätigt werden.45 Seufert und Käser beschreiben, dass „die Definitionen (…) in einem doc-File angefertigt und anschließend in das Wiki gestellt [wurden], ohne der klassisch sequenziellen Erstellungsweise eines Wiki-Beitrags gerecht zu werden.46 Dies kann auf eine zweifache Verunsicherung zurückgeführt werden. Zum einen möchten manche der Studierenden ihren Erarbeitungsprozess nicht offenlegen, auch aus dem Vorbehalt heraus, die eigene Herangehensweise der Kritik auszusetzen.47 Zum anderen birgt die Arbeit an Wikidokumenten die Gefahr, dass es an verschiedenen Schnittstellen zu Problemen kommt und Bearbeitungsstände dadurch nicht gespeichert sind, anders als dies bei kollaborativen Dokumenten wie Etherpad oder GoogleDocs der Fall ist. Insgesamt lässt sich resümieren, dass das gemeinsame Arbeiten an Wissensnetzwerken in mehrfacher Hinsicht als Brückenstein fungieren kann: zunächst erproben und reflektieren die Studierenden schreibdidaktische Ansätze, die sie später als Lehrkräfte für die Vermittlung von Schreibkompetenz nutzen. Weiterhin werden die Wiki-Artikel der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wobei die Studierenden in den Seminaren Wissen generieren und systematisieren, auf das von Kommilitonen, Referendaren und Lehrkräften schnell und einfach zurückgegriffen werden kann. Damit stellt die Mitarbeit an einem Wissensnetzwerk eine Möglichkeit dar, eine Brücke im Blick auf die vielfach beklagte fehlende Passung und Verbindung zwischen erstem und zweitem Ausbildungsabschnitt sowie dem Berufsfeld zu schlagen. Schließlich sind durch die Nutzung von Informationstechnologien weiterführende Kooperationen zwischen Universitäten denkbar.

45 46 47

Seufert/Käser 2010, 169. Seufert/Käser 2010, 169. Insofern bestätigt dies die Bedenken Hofhues‘ zum Problem öffentlicher Leistungsnachweise. Vgl. Hofhues 2010, hier: 405ff.

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4

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Ausweitung des Netzwerks

Mittlerweile gibt es 60 Wiki-Artikel im Wissensnetzwerk Deutschdidaktik. Bisher ist die Erstellung von Beiträgen im geschützten Bereich als mediale Anreicherung der Seminare von Vorteil, da die Studierenden hierdurch einen Anreiz sehen, direkt im Wiki zu arbeiten und die Bearbeitungsschritte für die parallel schreibenden Kommilitonen sichtbar zu machen. Dies scheint neben dem Ansatz, zur Einführung in die Arbeit mit Wikis mit dem Redigieren alter Beiträge zu beginnen,48 eine notwendige Bedingung, um dem Phänomen „plötzlich entstehender Beiträge“49 entgegenzuwirken. Dies ist insbesondere deswegen zentral, weil der nächste Schritt des Projektes eine Veröffentlichung der Ergebnisse mit der Möglichkeit eines freien Zugriffs zur Weiterentwicklung der bestehenden und der Entstehung neuer Inhalte und der Schaffung einer notwendigen Kontinuität für das Bestehen des Projekts sein sollte. Mit dieser radikalen Öffnung des Projekts stellt sich erneut die Frage nach der Qualitätssicherung.50 Wo nämlich die beteiligten Dozierenden bisher für die Qualitätskontrolle verantwortlich waren,51 müsste mit einer steigenden Anzahl an Nutzern eine Community entstehen, wie sie sich in bewährten Projekten wie ZUM-Wiki entwickelt hat.52 Eine weitere Möglichkeit besteht in der interdisziplinären Kooperation mit anderen Universitäten, um bayernweit (beispielsweise mit den Universitäten Eichstätt und Augsburg) oder bundesweit (beispielsweise mit den Universitäten Halle53 oder Dortmund54) Partner zu finden und so eine Communitybildung zu befördern. Zu klären ist hier allerdings, wie eine Übertragung der in den Moodle- oder Ilias-Kursen entstehenden Wikis in ein gemeinsames Format realisiert werden könnte. Die Implementierung eines Mediawiki Plug-Ins in die derzeit verwendete Lernplattform Moodle würde die Erstellung neuer Beiträge in einem geschützten Bereich mit der Möglichkeit verbinden, sie anschließend in ein offenes Wikiformat zu übertragen. Dies scheitert im Moment allerdings noch an fehlenden finanziellen und technischen Mitteln im E-Learning-Bereich und ist als Hinweis darauf zu sehen, dass die

48 49 50 51 52

53 54

Brahm u.a. 2007, 56. Seufert/Käser 2010, 169. Vgl. Gaiser/Thillosen 2009. Dies entspricht der Forderung Kleimanns (2007, 157), eine Qualitätssicherung müsse sich an approbierten wissenschaftlichen Kriterien ausrichten. Mit einer Einbindung des Projekts in schon bestehende Strukturen wie beispielsweise eine Integration in das ZUM-Wiki könnte die notwendige Verstetigung, Infrastruktur und unter Umständen der Rückgriff auf eine vorhandene Community gewährleistet sein. Durch die sich von anderen WikiEngines unterscheidende Wiki-Syntax der Beiträge im Moodle eigenen Erfurt-Wiki gestaltet sich eine Übertragung allerdings als zeitaufwändig. Deutschdidaktik 2.0. Verfügbar unter: https://deutschdidaktik.uni-halle.de/kategorie/deutschdidaktik-2-0/wiki/ [24.04.15]. Internetbasierte Kommunikation im Deutschunterricht. Verfügbar unter: http://www.ibkdu.unidortmund.de/wiki/wibk/ [25.05.15].

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Nützlichkeit des Medieneinsatzes noch keineswegs rundum erkannt worden ist.55 So verstanden hat die Zukunft des Brückenbauens eben erst begonnen.

Literaturverzeichnis Anastoassoff, Elke: Essays korrigieren und bewerten, in: Matthias Thies u.a. (Hrsgg.): Der Essay in der Schule, Baltmannsweiler 2012, 144–178. Anskeit, Nadine: WikiWiki in die Schule. Unterrichtsbeispiele und Praxiserfahrungen zum Einsatz von Wikis in der Schule, in: Nadine Anskeit/Michael Beißwengerl/Angelika Storrer (Hrsgg.): Wikis in Schule und Hochschule, Boizenburg 2012, 13–46. Becker-Mrotzek, Michael/Böttcher, Ingrid: Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen, Berlin 2006. Beißwenger, Michael/Anskeit, Nadine/Storrer, Angelika (Hrsgg.): Wikis in Schule und Hochschule, Boizenburg 2012. Beißwenger, Michael/Storrer, Angelika: Kollaborative Hypertextproduktion mit Wiki-Technologie. Beispiele und Erfahrungen im Bereich Schule und Hochschule, in: Eva-Maria Jacobs/Katrin Lehnen (Hrsgg.): Schreiben und Medien. Schule, Hochschule, Beruf, Frankfurt 2010, 13–36. Beißwenger, Michael: Kompetenzen für das Schreiben mit webbasierten Schreibtechnologien, in: Helmuth Feilke/Juiane Köster/Michael Steinmetz (Hrsgg.): Textkompetenzen in der Sekundarstufe II, Freiburg 2012, 233–267. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). Abrufbar unter: http://www.kmk.org/ fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-DeutschAbi.pdf [24.04.15] Brahm, Taiga/Ingold, Selina: Pädagogische Einsatzszenarien von Wikis unter besonderer Berücksichtigung der Nutzung an der FHS St. Gallen – Hochschule für Angewandte Wissenschaften, in: Taiga Brahm/Sabine Seufert (Hrsgg.): „Ne(x)t Generation Learning“: Wikis, Blogs, Mediacasts & Co. – Social Software und Personal Broadcasting auf der Spur, St. Gallen 2007, 54–68. Bremer, Claudia: Wikis in der Hochschullehre, in: Nadine Anskeit/Michael Beißwengerl/Angelika Storrer (Hrsgg.): Wikis in Schule und Hochschule, Boizenburg 2012, 79–119. Brüning, Ludge/Saum, Tobias: Warum eigentlich kooperieren? Worin eigentlich besteht der Gewinn von Kooperation? Neue Deutsche Schule 6–7. 2006, 10–11, verfügbar unter: http://wikis.zum.de/vielfalt-lernen/images/4/4f/Warum_eigentlich_kooperieren.pdf [zuletzt aufgerufen am 24.05.15] Cress, Ulrike/Kimmerle, Joachim: A Systemic and Cognitive Perspektive on Collaborative Knowledge Building with Wikis, International Journal of Computer-Supported Collaborative Learning 3 (2), 105–122.

55

Insbesondere fehlen im Kontext der Förderung von einfachen Systemen wie Moodle für die Präsenzlehre Investitionen, wohingegen großzügig in den Aufbau von MOOCs und anderen Projekte investiert wird, welche die internationale „Visibilität“ der LMU München befördern. (vgl. AFK.TV: Bildung für alle – jederzeit und kostenlos: Die MOOCs der LMU. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=r7mNxx2BLbg [24.04.15]).

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Endres, Brigitte Odile: Kollaboratives Schreiben in Wikis: ein Schreibprozessmodell als Diagnoseinstrument, in: Nadine Anskeit/Michael Beißwengerl/Angelika Storrer (Hrsgg.): Wikis in Schule und Hochschule, Boizenburg 2012, 121–147. Erlach, Dietrich/Bernd Schurf (Hrsgg.): Werkstatt Essay. Rezeption und Produktion, erarbeitet von Winfried Harst und Matthias Wasel, Berlin 2012. Euler, Dieter: Forschendes Lernen, in: Sascha Spoun/WernerWunderlich (Hrsgg.): Studienziel Persönlichkeit, Frankfurt am Main 2005, 253–271. Fix, Martin: Texte schreiben. Schreibprozesse im Deutschunterricht, Paderborn 2008. Gaiser, Birgit/Thillosen, Anne: Hochschullehre 2.0 zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in: Nikolas Apostopoulos/Harriet Hoffmann u.a. (Hrsgg.): E-Learning. Lernen im digitalen Zeitalter, Münster 2009, 185–196. Gräsel, Cornelia/Gruber, Hans: Kooperatives Lernen in der Schule. Theoretische Ansätze – Empirische Befunde – Desiderate für die Lehramtsausbildung, in: Norbert Seibert (Hrsg.): Unterrichtsmethoden kontrovers, Perspektive Schulpädagogik, Bad Heilbrunn/Obb. 2000, 161–175. Haas, Gerhard: Essay, Stuttgart 1969. Hetweck, Sabine/Langermann, Detlef/Wuttke, Carola: Essaywerkstatt, Berlin/Mannheim 2012. Hodel, Jan/Haber, Peter: Das kollaboralive Schreiben von Geschichte als Lernprozess. Eigenheiten und Potential von Wiki-Systemen und Wikipedia, in: Marianne Merkt u.a. (Hrsgg.): Studieren neu erfinden – Hochschule neu denken, Münster u.a. 2007, 43–53. Hofhues, Sandra: Die Rolle von Öffentlichkeit im Lehr-Lernprozess, in: Schewa Mandel/Manuel Rutishauser u.a. (Hrsgg.): Digitale Medien für Lehre und Forschung, Münster 2010, 405– 413. Kaeding, Nadja/Scholz, Lydia: Der Einsatz von Wikis als ein Instrument für Forschung und Lehre, in: Gottfried Csanyi/Franz Reichl/Andras Steiner (Hrsgg.): Digitale Medien – Werkzeuge für exzellente Forschung und Lehre, München,Münster u.a. 2012, 175–186. Kellermann, Ralf (Hrsg.): Der Essay. Texte und Materialien, Stuttgart 2012. Kleimann, Bernd: eLearning 2.0 an deutschen Hochschulen, in: Marianne Merkt u.a. (Hrsgg.): Studieren neu erfinden – Hochschule neu denken, Münster u.a. 2007, 149–201. Lehnen, Katrin: Kooperative Textproduktion. Zur gemeinsamen Herstellung wissenschaftlicher Texte im Vergleich von ungeübten, fortgeschrittenen und sehr geübten SchreiberInnen, Dissertation Bielefeld 2000, verfügbar unter: https://www.uni-giessen.de/cms/ fbz/fb05/germanistik/absprache/mediensprachdidaktik/ about/lehnen/veroeffentlichungen/materialpub/diss [zuletzt aufgerufen am 24.04.15] Merz-Grötsch, Jasmin: Texte schreiben lernen. Grundlagen, Methoden, Unterrichtsvorschläge, Seelze 2010. Moskaliuk, Johannes/Kimmerle, Joachim: Wikis in der Hochschule – Faktoren für den erfolgreichen Einsatz, in: eTeaching.org, 19.11.2008, verfügbar unter: https://www.e-teaching.org/didaktik/kommunikation/wikis/08-11-19_MoskaliukKimmmerle_Wikis.pdf [zletzt aufgerufen am 24.04.15] Panke, Stefane/Teillosen, Anne: Unterwegs auf dem Wiki-Way. Wikis in Lehr- und Lernsettings, in: eTeaching.org. Didaktisches Design, verfügbar unter: http://www.eteaching.org/didaktik/kommunikation/wikis/08-09-12_Wiki_Panke-Thillosen.pdf [zuletzt aufgerufen am 24.04.15] Platten, Eva: Gemeinsames Schreiben im Wiki-Web -Aktivitäten in einer untutoriertcn Schreibwerkstatt für fortgeschrittene Deutschlernende, Zeitschrift für interkulturellen

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Fremdsprachenunterricht, 2008. Verfügbar unter: https://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-131/beitrag/Platten1.htm [zuletzt aufgerufen am 24.04.15] Ruf, Oliver: Was ist Schreiben heute? Schulmagazin 5–10, 2015 Heft 3, 7–14. Rupp, Gerhard: Mediendidaktik, in: Ralph Köhnen (Hrsg.): Einführung in die Deutschdidaktik. Stuttgart 2011, 205–252. Schüler, Lisa: Wikis als Lerngegenstand und Lernmittel. Ein schreib- und mediendidaktisches Seminarkonzept für die Lehramtsausbildung, in: Nadine Anskeit/Michael Beißwengerl/Angelika Storrer (Hrsgg.): Wikis in Schule und Hochschule, Boizenburg 2012, 283–309. Seufert, Sabine/Käser, Reto: Einsatz von Wikis als Kollaborationstool für die forschungsbasierte Lehre, in: Schewa Mandel/Manuel Rutishauser u.a. (Hrsgg.): Digitale Medien für Lehre und Forschung, Münster 2010, 159–172. Storrer, Angelika: Kohärenz in Hypertexten, Zeitschrift für germanistische Linguistik 31, 2004, Heft 2, 274–292. Thies, Matthias/Ulmer, Judith S. u.a. (Hrsgg.): Der Essay in der Schule. Theorie, Unterricht, Aufgabenstellung, Bewertung, Baltmannsweiler 2012.

Medienkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Ein Unterrichtsprojekt für den Sprachunterricht Laura Klotz In diesem Beitrag geht es um die Emulation von Mündlichkeit in Zeitungstexten und die Integration sprachkritischer Aspekte in den Sprachunterricht am Gymnasium. Die Arbeit ist im Rahmen des fächerverbindenden Seminars Sprachwandel an der Ludwig-Maximilians-Universität entstanden. Der innovative Ansatz des Seminars, das sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische Zugänge verbunden hat, ermöglichte die Analyse und Diskussion der Interviews sowohl im universitären Hauptseminar als auch in einer elften Klasse am Gymnasium.

1

Variation und Wandel in geschriebener und gesprochener Sprache

„Ungeschriebene Sprache des Alltags! Schriebe sie doch einmal einer! Genau so, wie gesprochen wird: ohne Verkürzung, ohne Beschönigung, ohne Schminke und Puder, nicht zurecht gemacht! Man sollte mitstenographieren. Und das so Erraffte dann am besten in ein Grammophon sprechen, es aufziehen und denen, die gesprochen haben, vorlaufen lassen. Sie wendeten sich mit Grausen (…).“1 Kurt Tucholsky bringt in seinen Beobachtungen der gesprochenen Sprache ein weit verbreitetes Vorurteil zum Ausdruck, das sich „nicht nur bei gebildeten Laien“2 hält: Da in Gesellschaften mit ausgebauten Schriftsprachen die Vorstellung darüber, was Sprache ist, von der Schriftsprache dominiert ist, wird das Gesprochene als ein „defizienter Modus“3 des Geschriebenen begriffen. Aufgrund dieser von Linell als „written language bias“4 beschriebenen Orientierung an der Schriftsprache ist es allzu verständlich, dass Martin Gehr und Josef Kurz im Lehrbuch Stilistik für Journalisten angehenden Journalisten dazu raten, Interviewtexte zu redigieren: „Ein unredigiertes Interview kann den Partner, z.B. mit ‚äh‘ und anderen Lauten oder mit Satzbrüchen und unter Druck falsch gewählten Ausdrücken, diskreditieren“.5 Auch der ehemalige Leiter der Hamburger Journalistenschule Wolf Schneider legt besonderen Wert darauf, dass Journalisten gutes Deutsch 1 2 3 4 5

Tucholsky, hier zitiert nach Schwitalla 2012, 13. Koch/Oesterreicher 1985, 25. Koch/Oesterreicher 1985, 25. Linell 2005, 4. Gehr/Kurz 2010, 204.

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schreiben; in Deutsch für Profis geht er in einem Kapitel der Frage nach, ob man schreiben solle, wie man spricht. Es kommen dabei die prototypischen Vorstellungen von Zeitungssprache zum Ausdruck: „Richtig sei es (…), die Funktion der mündlichen Rede (Direktheit, Anschaulichkeit) zu übernehmen, die sprachlichen Formen der mündlichen Rede (Schneider nennt syntaktische Eigenheiten, Alternativformen, drastische Formulierungen und Modalpartikel) seien jedoch zu vermeiden.“6 Tatsächlich jedoch werden im gegenwärtigen Printjournalismus zahlreiche gesprochensprachliche Konzeptionen verwendet: Ein Theaterkritiker resümierte beispielsweise im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Naja, halt so ein Einfall“7. In einer Stern-Ausgabe aus dem Jahr 2006 findet sich ein typisches Beispiel fragmentierter Syntax: „Sie hat es geschafft, doch noch: Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland – die erste Frau, die nach oben durchgekommen ist.“8 Mitunter kann man online sogar Interviews im Wortlaut lesen. In einem Interview auf taz.de kann man beispielsweise nachvollziehen, wie der Interviewte um eine Kaffeepause bemüht ist: „Wollen Sie eigentlich ’nen Kaffee? Ich mach mir erstmal ’nen Kaffee.“9 Nun mag sich der ein oder andere Rezipient angesichts solcher Zeilen tatsächlich mit Grausen abwenden. Unter linguistischem Blickwinkel können die Beispiele jedoch deskriptiv als „Ausgleichsprozesse zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“10 verstanden werden, die in der Geschichte der Kommunikation immer wieder auftraten. Die 68er-Bewegung und die Entstehung neuer Medien werden maßgeblich für die momentane Verbreitung gesprochensprachlicher Phänomene in der Öffentlichkeit verantwortlich gemacht.11 Speziell für mündliche Formen in Tageszeitungen stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Sprachverwendung, steht sie doch den Forderungen einschlägiger journalistischer Ratgeber entgegen. Zur Erfassung des Problembereichs Mündlichkeit und Schriftlichkeit hat sich das Modell der Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher durchgesetzt: Ihr Nähe-Distanz-Modell genießt in der linguistischen Diskussion „den Status einer Grundlage, auf die man sich unbesorgt berufen kann“12. Dem Modell liegt die Beobachtung zugrunde, dass ‚Mündlichkeit‘ nicht mit ‚gesprochener Sprache‘ gleichzusetzen ist. Ludwig Sölls Vierfelderschema folgend unterscheiden Koch und Oesterreicher den Bereich des ‚Mediums‘ und den der ‚Konzeption‘: Graphischer und phonischer Kode sind im Modell die beiden Realisierungsformen sprachlicher Äu-

6 7 8 9 10 11 12

Betz 2006, 51. Zitiert nach Schwitalla/Betz 2006, 389. Stern 48, 24.11.2006, 29. Hier zitiert nach Schuster 2008, 166. Interview von Sascha Frischmuth mit Christopher Lauer vom 17.02.2014: „Ich find‘ die Frage blöd“, vgl. http://www.taz.de/!5048284/ [30.06.2015]. Schwitalla/Betz 2006, 400. Schwitalla/Betz 2006, 389–391, vgl. http://www.verlag-gespraechsforschung.de/2006/betz.htm [01.07.2015]. Hennig 2001, 219.

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ßerung, die als dichotomisch gekennzeichnet werden.13 Auf der konzeptionellen Ebene unterscheidet das Modell von Koch und Oesterreicher ‚Nähe‘ und ‚Distanz‘. Das Modell leistet insofern eine wichtige Grundlage für die Erfassung von Mündlichkeit, als ein konzeptionelles Kontinuum eingeführt wird: Die Autoren definieren „das konzeptionelle Kontinuum (…) als den Raum, in dem nähe- und distanzsprachliche Komponenten im Rahmen der einzelnen Parameter sich mischen und bestimmte Äußerungsformen konstituieren.“14 Das vertraute Gespräch, das Telefonat mit einem Freund, das Interview, das abgedruckte Interview, der Tagebucheintrag, der Privatbrief, das Vorstellungsgespräch, die Predigt, der Vortrag, der FAZ-Artikel und die Verwaltungsvorschrift werden im Text als prototypische Äußerungsformen ausgewählt. Anhand dieser werden relative Abstufungen im Kontinuum verdeutlicht und als „abnehmend ‚sprecherbezogen‘ und zunehmend ‚schreibbezogen‘ charakterisiert“15. Aus den Äußerungsformen leiten Koch und Oesterreicher dann kommunikative Parameter ab, die sie in Kommunikationsbedingungen und Redekonstellationsbedingungen differenzieren. Dadurch, dass in der Kommunikation immer unterschiedliche Bedingungen zusammenwirken, entstehe „ein mehrdimensionaler Raum“16 zwischen den Polen Nähe und Distanz. Zwar wird im Modell die Vielschichtigkeit der Sprachrealität sowie die Mehrdeutigkeit der Termini mündlich/schriftlich deutlich,17 im Nähe-Distanz-Modell werden die Äußerungsformen – etwa also das abgedruckte Interview und der FAZ-Artikel – nur „relativ“18 situiert. Aufgrund der Textsortenvielfalt bleibt Analyse des Einzelfalls und das Heranziehen von Belegen für die Einordnung im morphosyntaktischen, lexikalischen und textuell-pragmatischen Bereich daher unentbehrlich.19

2

Ein Interview in Wort und Schrift

In der schematischen Darstellung von Koch/Oesterreicher werden das Interview und das abgedruckte Interview unkommentiert als Äußerungsformen auf unterschiedlicher Ebene im Nähe-Distanz-Kontinuum eingeordnet. Während also der Vortrag und der Abdruck des Vortrags als „Transpositionen“20 der genannten Äußerungsformen auf derselben Ebene im Kontinuum eingetragen werden, setzen die Autoren voraus, dass geführte Interviews nie wortwörtlich abgedruckt werden, sondern aufgrund der Arbeit des Journalisten am Text näher an den distanzsprach-

13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 17. Koch/Oesterreicher 1985, 21. Koch/Oesterreicher 1985, 18. Vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 21. Vgl. dazu Spitzmüller 2005, 6. Koch/Oesterreicher 1985, 18. Vgl. Dürscheid 2003, 11. Koch/Oesterreicher 1985, 18.

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lichen Pol heranrücken. Um diesen Vorgang transparenter zu machen, werden von Harald Burger und Martin Luginbühl drei Schritte benannt:21 I. Primär gesprochene Originalsituation II. Transformation in sekundär geschriebenen Text (z.B. mit Merkmalen emulierter Mündlichkeit) III. Einbettung in das grafische Medium Presse Die für gesprochene Sprache typischen Merkmale – Burger und Luginbühl nennen hier exemplarisch Abtönungspartikeln – werden ebenso wie die kommunikative 22 Konstellation in den Text übernommen. Der „innere[] Kommunikationskreis“ der Primärsituation wird daher auch im grafischen Medium abgebildet. Durch den einleitenden redaktionellen Text, der das Interview begleitet, entsteht ein „äußere[r] Kommunikationskreis“23, der zwischen Redaktion und Rezipient stattfindet. Den seltenen Fall, beide Kommunikationskreise und alle drei Schritte des Dialogs einzusehen, ergab sich für ein Interview im Rahmen des SZ-Führungstreffens Wirtschaft 2013. Auf dem Wirtschaftskongress, der dieses Jahr zum neunten Mal stattfindet,24 referieren nationale und internationale Referenten aus Wirtschaft und Politik. Die im Jahr 2013 entstandenen Reden können nicht nur mit Hilfe der Berichterstattung der Zeitung nachvollzogen werden, sondern die Zeitung stellt auch Videomitschnitte im Internet zur Verfügung.25 In einer dieser Aufnahmen ist der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, zu sehen. Auf dem Kongress stellte er sich den Fragen von Kurt Kister, dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung. Kurz nachdem zu diesem Interview ein Artikel von Claus Hulverscheidt in der Wochenendausgabe der SZ erschien (Ausgabe vom 23./24. November 2013),26 wurde auch das ungekürzte Video auf dem YouTube-Kanal der Zeitung publiziert;27 ein weiterer Artikel von Thorsten Denkler wurde online veröffentlicht.28 Um der Frage nach der Funktion und Emulation von Mündlichkeit im Interview nachzugehen, eignet sich vor allem der in der Zeitung gedruckte Artikel, der im Folgenden im Fokus stehen soll und vergleichend mit dem real geführten Interview betrachtet wird.

21 22 23 24 25

26 27 28

Vgl. Burger/Luginbühl 2014, 177. Burger/Luginbühl 2014, 177. Burger/Luginbühl 2014, 177. Vgl. http://www.sueddeutsche.de/thema/SZ-F%C3%BChrungstreffen_Wirtschaft_2013 [01.07.2015]. Vgl. http://www.sz-wirtschaftsgipfel.de/historie/historie-2013/ (01.07.2015). Aus dem Jahr 2012 gibt es nur kürzere Ausschnitte aus wenigen der geführten Interviews oder Reden zu sehen. Vgl. zudem http://www.sueddeutsche.de/thema/SZ-F%C3%BChrungstreffen_Wirtschaft_2013 [01.07.2015]. Vgl. http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013-Seite25. pdf [01.07.2015]. Vgl. https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [14.07.2015] Vgl. http://sz.de/1.1825084 [01.07.2015].

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Kister beginnt das Interview mit einer Gliederungsvorstellung, die im Zeitungsartikel durch einen Vorspann ersetzt wird, der die Beziehung der beiden an den Anfang stellt – Kister und Steinbrück kennen sich seit vielen Jahren – und das Gespräch bereits bewertet: Es „entspinn[e] sich ein Gespräch – voller Spitzen, Spott und kleiner Frotzeleien.“29 Dieses Fazit trifft einerseits die Stimmung des Gesprächs, andererseits kann das geschriebene Interview diese Stimmung insgesamt weniger gut ausdrücken. Womöglich stellt Hulverscheidt die besondere Beziehung der beiden daher für die lesenden Rezipienten des Dialogs so klar heraus. Das graphische Medium ist weniger wirkungsvoll: Schweigen, Gelächter und Applaus aus dem Publikum oder auch prosodische Besonderheiten können im Text nur bedingt abgebildet werden; Mimik und Gestik werden weitgehend außen vor gelassen. Dessen ungeachtet sind einige sprachliche Änderungen im gedruckten Interview augenscheinlich: Claus Hulverscheidt normiert in seinem Protokoll falsche 30 31 Konjunktiv- und Tempusverwendung. Bezüglich Lexik und Ausdruck werden 32 33 Füllwörter, Wiederholungen und Schwierigkeiten bei der Formulierung34 nicht ins gedruckte Interview übernommen. Unabhängig vom Inhalt des Interviews fällt bei einem Vergleich der Dialoge auf, dass sich Deiktika nicht problemlos in den zweiten Kommunikationskreis übertragen lassen: Sie verhalten sich kontextsensibel, „[d]enn ich kann jeder sagen und jeder, der es sagt, weist auf einen anderen Gegenstand hin als jeder andere“35. Beim Vergleich der Redeanteile insgesamt wird deutlich, dass die Antworten zum Teil sehr stark komprimiert werden. Dies führt zu einer besseren Lesbarkeit, denn so kann der Rezipient der inneren Logik des Dialogs besser folgen. Durch eine vorgenommene Kürzung entsteht mitunter inhaltlich jedoch eine andere Aussage. Ab Minute 3:18 beantwortet Steinbrück beispielsweise die Frage, weshalb die SPD die Wahl so deutlich verloren habe, mit einem Verweis auf eine fehlende Wechselstimmung und auf die Leistungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im gedruck29 30 31

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http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013-Seite25.pdf [01.07.2015]. Z.B. ‚stünde‘ statt ‚geschrieben werden würde‘ und ‚hätte‘ statt ‚würde haben‘. Z.B. wurde die Frage Kisters in Minute 4:58 bis 5:03 umgeändert. Er sagte: „Wann haben Sie erkannt oder haben Sie erkannt, dass es nicht reichen würde.“ (Verschriftung des Zitats und Hervorhebung von L.K.) Im Text heißt es: „Wann wussten Sie: Es reicht nicht?“ (Hervorhebung von L.K.) Das verwendete Perfekt wird durch Präteritum ersetzt. Vgl. z.B. das ‚Ähm‘ (Nominalisierung) gleich zu Beginn der ersten Frage (Minute 0:37 bis 0:55). Vgl. z.B. https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk. [01.07.2015], hier Minute 4:03 bis 4:13. „Und es kann sein, dass die SPD nach wie vor in ihrem Gesellschafts- und Wirtschaftsbild nach wie vor von Strukturen überzeugt ist oder ihnen folgt, die sich längst als überholt erwiesen haben.“ (Verschriftung und Hervorhebung von L.K.); eine inhaltliche Dopplung findet sich in Minute 0:37 bis 0:55 („hier an diesem Ort“; im Text keine Lokaladverbiale); vgl. auch die Antwort Steinbrücks in Minute 1:07 bis 1:30 („mal wieder einer“ hier zweimal hintereinander). Vgl. z.B. sehr deutlich in Minute 2:05 bis Minute 2:11: „Oh, das ist das Pathos, auf dem sie mich, in das Sie mich führen wollen.“ (Verschriftung des Zitats von L.K.). Bühler 1965, 103. Die Kursivierung wurde übernommen.

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ten Interview wird dieser Teil der Antwort wiedergegeben; die sich daran anschließende Kritik an der eigenen Partei wird dagegen ausgespart: Auf dem Kongress fügt er an, dass das Wahlprogramm der SPD in der Gesamtheit wenig mehrheitsfähig gewesen sei.36 Zudem spricht Steinbrück die Strukturen der eigenen Partei an: „Und es kann sein, dass die SPD nach wie vor in ihrem Gesellschafts- und Wirtschaftsbild (…) von Strukturen überzeugt ist oder ihnen folgt, die sich längst als überholt erwiesen haben.“37 In der Printversion des Interviews endet Steinbrücks Antwort mit einer Anerkennung der Arbeit Merkels, die von Steinbrück nahezu poetisch formuliert wird: „Frau Merkel hat das Land aus der Wahrnehmung einer großen Mehrheit in den vergangenen Jahren durch manche Fährnisse geführt.“38 Dadurch dass die Kritik an der eigenen Partei getilgt wurde, erscheint die SPD insgesamt in einem besseren Licht. An anderen Stellen sind umfangreiche Kürzungen nachvollziehbarer, so etwa in einem Exkurs zum Finanzministerium und zu dessen Besetzung. Da sich Steinbrück zur Besetzung der Ressorts nicht äußern will, „muss“ er, wie er selbst sagt, „rumeiern“.39 Kisters Kommentar dazu ist: „Das klang jetzt eher wie Jens Weidmann als wie Peer Steinbrück.“40 Sieht man über die Dopplung der Vergleichspartikel (‚als wie‘) hinweg, deren umgangssprachlicher Anklang im gedruckten Interview sicher zu vermeiden wäre, so bleibt darüber hinaus die Anspielung auf den Präsidenten der Deutschen Bundesbank unverständlich. Da Steinbrück auch bei der Nachfrage nach konkreten Personen eine Aussage zur Besetzung des Finanzministeriums verweigert, bringt dieser Abschnitt des Gesprächs ferner inhaltlich keine neuen Aspekte. Die Zeitung tut gut daran, die etwas spöttisch formulierte rhetorische Frage Kisters nicht in die Reihe der „kleinen Frotzeleien“41 zu stellen. „Werden wir dafür bezahlt, fair zu sein?“42, konterte er auf sein Berufsverständnis anspielend. In einem ZEIT-Interview vom 1. Dezember 2013 kommentierte Peer Steinbrück seine Zweifel am positiven Ausgang des SPD-Mitgliedervotums zur Großen Koalition mit folgendem Satz: „Der Fisch ist noch nicht gebürstet.“43 Das Handels36 Vgl. https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], hier Minute 3:50 bis 4:02. 37 Vgl. https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], hier Minute 4:03 bis 4:13. 38 http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013-Seite25.pdf [01.07.2015]. 39 https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], Minute 2:22 bis 2:26. 40 https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], Minute 2:46 bis 48. 41 So C. Hulverscheidt im Teaser: http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/ 11/SZ-23.11.2013-Seite25.pdf [01.07.2015]. 42 https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], hier Minute 2:58 bis 3:04. 43 http://www.zeit.de/2013/48/peer-steinbrueck-wahlkampf/seite-3 [01.07.2015].

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blatt bewertete diese Aussage sogar als ein Zitat der Woche.44 Auffallend ist, dass zuvor Kurt Kister im Interview auf dem SZ-Führungstreffens diesen Phraseologismus verwendet hatte,45 indessen die Formulierung im Allgemeinen eher unüblich ist. Womöglich übernahm Hulverscheidt ihn deshalb nicht in das Protokoll des Interviews. Die ZEIT aber titelte mit dieser Aussage Steinbrücks. Darin zeigt sich wiederum, welch große Deutungshoheit Medien auch bei der Bewertung von Sprache und ihrer Normierung inne haben. Zugleich kann der intensive Austausch zweier Menschen vermutet werden, wählten beide doch – Steinbrück und Kister – denselben, seltenen Phraseologismus zur Beschreibung der aktuellen politischen Lage. Bei all den sprachlichen Veränderungen und Anpassungen an die schriftsprachliche Norm, gelingt es Hulverscheidt dennoch, Mündlichkeit zu fingieren. Auf typografischer Ebene heben die Gliederung des Textes und der Schriftschnitt die Dialogizität hervor. Außerdem werden die Reaktionen des Publikums in die Antworten des Interviewten kursiviert und in Klammern gesetzt eingeflochten. Der kursive Schriftschnitt markiert im normalen Schriftschnitt Betonungen, sodass die prosodische Ebene nicht völlig ausgeblendet wird. Ausrufe wie „Oh, oh“ und „Ha!“ wurden abgedruckt und fingieren Mündlichkeit ebenso wie ein schneller Sprecher46 wechsel und kurze Rückfragen. Fluchen passt normalerweise wenig zum angemessenen Sprachniveau eines Interviews;47 Unterbrechungen seitens des Interviewten können unhöflich wirken. Die beiden Kommunikationspartner treten im Interview jedoch so professionell und als ein so eingespieltes Team auf, dass der Rezipient der Interviews ihnen die Verletzungen des höflichen Umgangs nicht übel nehmen kann und das Interview insgesamt als charmantes, unterhaltsames Gespräch wahrgenommen wird:48 Was ist eigentlich mit der NRW-SPD? Sie waren früher ein herausragender Vertreter ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen. Ich verstehe nicht viel von Politik … Ha! (Gelächter im Saal) Das Understatement lasse ich Ihnen nicht durchgehen.

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Vgl. dazu die Bildergalerie vom 22.11.2013: http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/zitate-der-woche-der-fisch-ist-noch-nichtgebuerstet/9116006.html?slp=false&p=4&a=false#image [01.07.2015]. Vgl. https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [01.07.2015], hier Minute 3:50 bis 4:02. Vgl. http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013-Seite25. pdf [01.07.2015]: „Rücktritt? Ich bleibe bei der Formulierung: unabsehbare Konsequenzen. Sigmar Gabriel? Netter Versuch. Hannelore Kraft? (Steinbrück grinst und schweigt)“. Gehr/Kurz 2010, 202. http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013-Seite25.pdf [01.07.2015].

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… aber ich tue mich wahnsinnig schwer, jenseits von Frau Kraft ein bedeutendes Mitglied der NRW-SPD zu finden. Sie können nicht von mir erwarten, dass ich hier Zensuren verteile. Um Gottes willen. Sie laden mich doch dazu ein. Aber diese Attitüde älterer Männer, dass früher alles besser war, die läuft auch in der Politik nicht. Aber dieser Meinung sind wir doch, oder? Natürlich nicht! (Gelächter im Publikum)

Beim Lesen dieser Zeilen wird klar, dass sich Steinbrück und Kister schon lange kennen, wie Hulverscheidt im Vorspann zum Protokoll des Interviews festhält. Alles in allem zeigte sich bei der Analyse des Interview-Beispiels, dass bei der Transformation des Dialogs in einen sekundär geschriebenen Text die sprachlichen Formen der mündlichen Rede nicht übernommen werden – ganz im Sinne Wolf Schneiders. Das Protokoll versucht an den Stellen, an denen das gute Verhältnis von Steinbrück und Kister besonders zum Ausdruck kommt, so nah wie möglich an die face-to-faceSituation heranzukommen und Mündlichkeit zu fingieren.49 Deutlich wird dies etwa am unterbrechenden Ausruf Steinbrücks im oben zitierten Ausschnitt. Neben solchen redigierten Interviews gibt es seltene Interview-Beispiele, die im Wortlaut gedruckt werden, etwa das Interview in der taz mit Christopher Lauer vom 17. Februar 2014.50 Dies hat zur Folge, dass man Satzabbrüche und zahlreiche Gegenfragen, umgangssprachliche Einsprengsel (z.B. ‚halt‘, ‚Jungs‘ für Parteimitglieder) und belanglose Sätze beispielsweise über das Kaffetrinken lesen kann bzw. muss. Sicherlich wird die Deutungshoheit des Rezipienten bei einem solchen Vorgehen erhöht, allein jedoch die Länge des Dialogs spricht gegen ein reguläres Vorgehen der Journalisten nach diesem Prinzip. Als exemplarische Beispiele eignen sich die beiden Interviews durchaus für den Deutschunterricht am Gymnasium: Anhand eines Vergleichs der Interviews kann die Wirkung von Nähesprache und der Einsatz von fingierter Mündlichkeit im Zeitungstext reflektiert werden. Die Schülerinnen und Schüler können zudem zur Diskussion darüber angeregt werden, was die Vorzüge und Nachteile der beiden Interviews sind. Der Lehrplan für die 11. Jahrgangsstufe des Gymnasiums in Bayern sieht vor, dass „Probleme[] der Mediengesellschaft“51 untersucht und diskutiert werden; in Jahrgangsstufe 11 setzen sich die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf den Bereich Sprache untersuchen, verwenden und gestalten – Sprachbetrach-

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50 51

Paul Goetsch bezeichnete bereits im Jahr 1985 den Einsatz von Mündlichkeit in geschriebenen Texten mit dem Begriff ‚fingierte Mündlichkeit‘ und interpretierte ihn als einen bewusst eingesetzten Schreibstil des Autors. Zwar bezog sich Goetsch damit ausschließlich auf Werke der erzählenden Literatur, angesichts der Analysen von Betz und Schwitalla kann man dieses Konzept jedoch ausdehnen und auch auf nicht-literarische Texte anwenden. Vgl. Goetsch 1985, 202–218. Vgl. http://www.taz.de/!5048284/ [01.07.2015]. http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26539 [4.07.2015].

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tung auch mit sprachtheoretischen Fragestellungen auseinander. Die Beschäftigung mit dem Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher und die Einordnung konkreter sprachlicher Beispiele im Kontinuum zwischen dem nähesprachlichen und distanzsprachlichen Pol leistet einen Beitrag zur Erweiterung des Sprachbewusstseins der Schülerinnen und Schüler, weshalb sich die Analyse und Diskussion der Interviews in der elften Jahrgangsstufe besonders eignet.

3

Medienkritik im Sprachunterricht?

Problematisiert man in einer Unterrichtseinheit zum Thema Medienkommunikation zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit das Vorgehen der Massenmedien, dann wird fächerübergreifend eine gesellschaftliche Frage fokussiert, die für die heutige Generation eine Schlüsselfrage im Sinne Klafkis darstellt. Zentral für die Auswahl des Unterrichtsgegenstandes ist nach Klafki u.a. die Bildung im Allgemeinen. Es ist „dasjenige, das über sich selbst hinaus weist und einen größeren Lebensbereich o. ä. erschließt.“52 Klafki dachte dabei etwa an die Friedensfrage oder Umweltfragen, soziale Ungleichheiten, Probleme der Informationstechnologien, Demokratie, Gerechtigkeit und Glück.53 Da die ‚Medialisierung‘ Schule und Unterricht in den letzten Jahren vor neue Herausforderungen stellt,54 ist die Befähigung zur Medienkritik dringend erforderlich und man kann nur daran appellieren, das Potenzial der neuen Medien auszuschöpfen, auch wenn Schülerinnen und Schüler dabei möglicherweise kompetenter sind als ihre Lehrerinnen und Lehrer.55 Ebenso wie für die Literaturkritik ist zu bedenken, dass Medienkritik von der „Pluralität der Urteile lebt“.56 Wenn die Funktion von fingierter Mündlichkeit in der Tagespresse reflektiert wird und die Vor- und Nachteile des Redigierens erörtert werden, sollen die Schülerinnen und Schüler eine reflektierte Haltung zu den Medien entwickeln. Die Schüler können den Einfluss der Medien auf die Sprache erkennen: Hulverscheidt beispielsweise übernimmt nicht die Formulierung, ‚den Fisch noch zu bürsten‘, wohingegen sein Kollege bei der ZEIT diesen explizit herausstellt. Zudem kann anhand der Interviews aufgezeigt werden, dass Ausgleichsprozesse in der Tagespresse stattfinden, die bewusst mit den Funktionen der mündlichen Sprache spielen: „Mündlichkeit in geschriebenen Texten erscheint (…) als eine Art Kontextualisierung von Authentizität, Natürlichkeit, Jugendlichkeit, Unbeküm52 53 54 55

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Peterßen 2000, 76. Vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2013, 339. Barsch 2006, 128. Vgl. Sieber 2004, 28f: „Vor diesem Hintergrund ist die Schule aufgerufen, die entsprechenden Ressourcen ihrer Schülerinnen und Schüler für die gezielte Förderung im Unterricht zu nutzen. Dies wird nicht einfach sein, denn Lehrkräfte sind es noch kaum gewohnt, Ressourcen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht wahrzunehmen und zu nutzen, über die sie selbst nicht verfügen. Dies kann aber gerade fruchtbar sein für die Entwicklung einer veränderten Lehrerrolle, bei der Wissen und Kompetenz (Lehrer- und Schülerrolle) nicht mehr einseitig verteilt sind.“ Nickel-Bacon 2004, 176.

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mertheit um strenge Norm etc.“57 Bedient sich der Schreibende daher des sprachlichen Registers der Mündlichkeit, eröffnet sich ein Spektrum neuer sprachlicher Funktionen, die von Emotionalität und Expressivität, über Dialogizität bis hin zu „Formen der literarischen Mündlichkeit und Imitation produktionsbedingter Merkmale der medialen Mündlichkeit“58 reichen. Insofern sind gesprochensprachliche Konzeptionen in Tageszeitungen nicht als Ausdruck eines Sprachverfalls zu bewerten, sondern sie „sind Zeichen der notwendigen Anpassung an eine Gegenwart, die schnell, global und emotional veraltete Normen hinwegfegt.“59 Da der Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler gemäß dem bayerischen Lehrplan dazu befähigt, „unterschiedlichste Wissensbereiche zu erschließen und an öffentlichen Diskursen teilzuhaben“,60 können die Interviews zur Bundestagswahl sowie die Befragung des ehemaligen Vorsitzenden des Berliner Landesverbandes der Piratenpartei Unterrichtsgegenstand des Deutschunterrichts sein, eines Deutschunterrichts, der dann gleichfalls zur politischen Bildung beiträgt. Indem die Themen Journalismus und Medien in den Blick genommen werden, vermittelt man Grundzüge des politischen Systems. Kommunikation zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern findet zuvörderst über Massenkommunikation statt, wobei sprachliche Eigenheiten zum Einsatz kommen, die gerade im Deutschunterricht thematisiert werden sollten und mit Hilfe der theoretischen Fundierung durch das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher auch differenziert thematisiert werden können.

Literaturverzeichnis Barsch, Achim: Mediendidaktik Deutsch, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006. Betz, Ruth: Gesprochensprachliche Elemente in deutschen Zeitunge, Radolfzell 2006, onine verfügbar unter www.verlag-gespraechsforschung.de/2006/pdf/zeitung.pdf [30.06.2015] Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1965. Burger, Harald/Luginbühl, Martin: Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien, Berlin/New York 2014 Dörpinghaus, Andreas/Uphoff, Ina Katharina: Bildung als Aufgabe der Schule, in: Hans Jürgen Apel/Werner Sacher/Sibylle Rahm/Ludwig Haag (Hrsgg.): Studienbuch Schulpädagogik, Bad Heilbrunn 2013, 325–34. Dürscheid, Christa: Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme. Zeitschrift für Angewandte Linguistik 23, 2003, 37–56, online verfügbar unter www.uni-koblenz.de/~diekmann/zfal/ zfalarchiv/ zfal38_2.pdf [30.06.2015]

57 58 59 60

Schwitalla/Betz 2012, 399. Schwitalla/Betz 2012, 393. http://www.verlag-gespraechsforschung.de/2006/betz.htm [02.07.2015]. http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26358 [14.07.2015].

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Gehr, Martin/Kurz, Josef: Interview, in: Josef Kurz/Daniel Müller/Joachim Pötschke/Horst Pöttker/Martin Gehr: Stilistik für Journalisten, Wiesbaden 2010, 200–241. Goetsch, Paul: Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen. Poetica 17, 1985, 202–218. Hennig, Mathilde: Das Phänomen des Chats. Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2001, 215–239. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. Romanistisches Jahrbuch 36, Berlin/New York 1985, 15–43. Linell, Per: The Written Language Bias in Linguistics. Its nature, origins and transformations, London/New York 2005. Nickel-Bacon, Irmgard: Kritischer Medienunterricht und das Motivationsproblem: Lösungsansätze für ein didaktisches Dilemma, in: Matthias Kesper/ Irmgard Nickel-Bacon (Hrsgg.): Medienkritik im Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2004, 170–177. Peterßen, Wilhelm H.: Handbuch Unterrichtsplanung. Grundfragen, Modelle, Stufen, Dimensionen, München 2000. Schuster, Britt-Marie: Verarmung oder Bereicherung der Schriftkultur? Zur Beschreibung und Interpretation der Übergangsformen zwischen Parataxe und Hypotaxe im gegenwärtigen Printjournalismus, Deutsche Sprache 2008 Heft2, 146–175. Schwitalla, Johannes/Betz, Ruth: Ausgleichsprozesse zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Eva Neuland (Hrsg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht, Frankfurt am Main 2006, 389–401. Schwitalla, Johannes: Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung, Berlin 2012. Sieber, Peter: Lesekompetenz und neue Medien: Chancen und Herausforderungen für die Schule, ph akzente 2004 Heft 2, 23–29. Spitzmüller, Jürgen: Spricht da jemand? Repräsentation und Konzeption in virtuellen Räumen, in: Galina Kramorenko (Hrsg.): Aktualnije problemi germanistiki i romanistiki. Band. 9/I, Smolensk 2005, 33–56, online verfügbar über www.spitzmueller.org/ docs/chat-05.pdf [01.07.2015] Wild, Elke/Möller, Jens: Pädagogische Psychologie, Heidelberg 2009.

Interview-Beispiele „Dann muss Helmut Schmid antreten“. SZ Nr. 271 (23./24.11.2013), online verfügbar unter http://www.sz-fuehrungstreffen.de/wp-content/uploads/2013/11/SZ-23.11.2013Seite25.pdf [14.07.2015] Interview von Sascha Frischmuth mit Christopher Lauer vom 17.02.2014: „Ich find’ die Frage blöd“, online verfügbar unter http://www.taz.de/!5048284/ [30.06.2015] YouTube-Video Peer Steinbrück beim SZ-Führungstreffen, online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=lZpiV2Qtdfk [14.07.2015]

Dialekt als Unterrichtsgegenstand Ein methodischer Ansatz an der Schnittstelle von Sprachwissenschaft und Didaktik Alexander Laube, Florian Menner 1

Einleitung

Dialekte sind im gesamten deutschsprachigen Raum verbreitet und prägen die Gesellschaft sowohl linguistisch als auch sozial. Dialekt ist für seine Sprecher die natürlichste aller Sprachvarietäten und wird mit Familie, Freunden und Heimat assoziiert. Daher ist es sowohl logisch als auch notwendig, dass Dialekte einen festen Platz in den Lehrplänen der deutschen Bundesländer haben. In diesem Beitrag – entstanden im Rahmen des Projektes „Brückensteine“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München – werden wir uns aus verschiedenen Perspektiven mit Dialekt im Schulunterricht beschäftigen.1 Dabei werden wir das Phänomen Dialekt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive beleuchten und verschiedene Möglichkeiten der Realisierbarkeit im Deutschunterricht diskutieren. Die vordergründige Frage, welche in diesem Beitrag thematisiert werden soll, ist, inwieweit und in welchem Maß Dialekt im Deutschunterricht berücksichtigt werden sollte und welcher Mehrwert für die Schülerinnen und Schüler zu erwarten ist. Ausgehend von einer knappen Einführung in die sprachwissenschaftliche Terminologie sowie einem kurzen Abriss des Dialektunterrichts im schulischen Kontext liefert dieser Beitrag didaktische Überlegungen und methodische Vorschläge zur Realisierbarkeit des Themas Dialekt und Nonstandard-Varietäten im Deutschunterricht.2 Des Weiteren werden zwei konkrete Beispielprojekte vorgestellt, welche den Schülerinnen und Schülern unter anderem einen ersten Einblick in Methodik und Arbeitsweisen der Sprachwissenschaft geben sollen. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass die Beschäftigung mit dialektalen Varietäten im Rahmen einer ganzheitlichen sprachlichen Bildung wichtig für die Schülerinnen und Schüler ist. Im Fokus der Unterrichtsvorschläge und Beispielprojekte stehen vor allem die Vermittlung und der Umgang mit der Vielschichtigkeit deutscher 1 2

An dieser Stelle bedanken wir uns herzlich bei Sabine Anselm und Ute Hofmann für die hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags. Es muss angemerkt werden, dass dieser Beitrag vor dem Hintergrund des gültigen Lehrplans für Gymnasien in Bayern entstanden ist und die bairischen Dialekte im Vordergrund der Betrachtung zu stehen scheinen. Vor allem im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Wechselbeziehung zwischen Dialekt und Identität bzw. mit den sozialen Funktionen von Dialekt und Standard bietet sich eine Varietät aus dem lokalen Sprachraum als Referenz an. Die theoretischen Ansätze und Unterrichtsvorschläge sind natürlich unbeschränkt auf andere Dialekte und Varietäten übertragbar.

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

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Dialekte und Varietäten, das Ausbilden einer inneren Mehrsprachigkeit und der Abbau von Vorurteilen gegenüber unbekannten Dialekten und deren Sprechern.

2 2.1

Methodik Dialekt vs. Standard – Sprache als heterogenes Phänomen

Bereits Luther3 beschreibt die Heterogenität von Sprache und erkennt „in der deutschen Sprache viel Dialecti, unterschiedene Arten zu reden, daß oft einer den Anderen nicht wohl versteht“. Luther beschreibt hier, dass Sprache kein statisches System ist, sondern sich durch Variation, ständigen Wandel und konstante Veränderung durch ihre Sprecher auszeichnet. Dialekte, welche die natürlichste im Alltag kommunikativ gebrauchte Form von Sprache sind, zeichnen sich in besonderem Maße durch regionale und soziale Variation aus, weshalb die gegenseitige Verständlichkeit teilweise durchaus gestört sein kann. Im Folgenden wird zunächst eine knappe Einführung in die Terminologie gegeben und vor einem dialektologischen Hintergrund problematisiert. Dafür soll das Konzept der Standard- bzw. Schriftsprache definiert und von dem Begriff des Dialekts abgegrenzt werden. Max Weinreich, Linguist des Jiddischen des 20. Jahrhunderts, beschreibt das Verhältnis der Konzepte zueinander folgendermaßen: „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“, d.h. die Abgrenzung von Sprache und Dialekt kann weniger aufgrund linguistischer, sondern eher aufgrund sozialer und politischer Charakteristika vorgenommen werden. Einen in der Sprachwissenschaft weit verbreiteten Ansatz für die Abgrenzung von Dialekt und Sprache liefert Kloss4, der drei Kriterien zur Abgrenzung anführt. Eine Sprachvarietät muss demnach sowohl Abstandssprache als auch Ausbausprache und Dachsprache sein, um, in Abgrenzung zu regionalen bzw. sozialen Varietäten, als eigenständige Sprache zu gelten. Abstand bezieht sich vor allem auf die qualitativen linguistischen Unterschiede zwischen Sprachvarietäten und Ausbau beschreibt den Grad der Normierung und Institutionalisierung der Varietät, d.h. inwieweit die Sprache durch standardisierte Orthografie, Grammatiken, Wörterbücher, Verschriftlichung in sowohl literarischen als auch wissenschaftlichen Texten und die Verwendung als Amtssprache ausgebaut ist. Eine Ausbausprache ist daher, stark vereinfacht, ein formell institutionalisierter Dialekt. Als Dachsprache wird letztlich eine Sprachvarietät bezeichnet, welche als gemeinsamer Standard für eine Reihe an Nonstandard-Varietäten bzw. Dialekten fungiert. Das Deutsche dient somit beispielsweise als Dachsprache für die bairischen Dialekte. Auf dieser Grundlage lässt sich die Standard- bzw. Schriftsprache in ihren Grundzügen als normiertes Sprachsystem mit standardisierter Phonologie, Gram3 4

Luther 1916, 78–79. Vgl. Kloss 1967; vgl. Kloss 1978.

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matik und Orthografie verstehen, welche überregionale Kommunikation und gegenseitige Verständlichkeit ermöglicht. Der Standard ist die offizielle Sprache mit intranationalen Funktionen, z.B. in der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, den Medien und öffentlichen Bildungseinrichtungen, und stiftet nationale Identität. In Abgrenzung dazu soll Dialekt im Folgenden als regionale bzw. soziale Varietät ohne standardisierte Orthografie und offizielle Funktionen auf nationaler Ebene verstanden werden. Eine Verschriftlichung des Dialekts in Form von literarischen Werken und teils sogar in Dialektwörterbüchern und Grammatiken ist möglich, wobei der Fokus meist darauf liegt, phonetische und grammatische Unterschiede zum Standard orthografisch zu repräsentieren. Des Weiteren stiften Dialekte eine regionale bzw. soziale Identität innerhalb ihrer Sprechergemeinschaften und werden, wie bereits erwähnt, mit Familie, Freunden und Heimat assoziiert. Eine gegenseitige Verständlichkeit zwischen verschiedenen Dialekten derselben Dachsprache kann, je nachdem wie weit diese auf einem Dialektkontinuum voneinander entfernt sind, d.h. je nachdem wieviel geografisch bzw. sozial bedingter linguistischer Abstand zwischen ihnen liegt, gegeben sein. 2.2

Dialekt und Schule

Der folgende Abschnitt soll zunächst einen Überblick über die Entwicklung des Dialektgebrauchs im schulischen Kontext geben und dabei die relevante Forschung, Einstellungen gegenüber Dialekt und Dialektsprechern und sprachliche Bildungsziele einbeziehen. Vor diesem Hintergrund wird zudem die Verankerung des Themas in den Lehrplänen und Lehrwerken Bayerns skizziert. Dialekt hatte lange Zeit keine Bedeutung für den Schulunterricht, da dieser mit niedrigem sozialen Status und unzureichender Bildung assoziiert wurde und daher mit dem Grundgedanken der Schule unvereinbar zu sein schien. Dialekt wurde in Folge der durch Bernstein in den 60er und 70er Jahren ausgelösten Diskussion als Sprachbarriere verstanden, welche eines der wichtigsten Bildungsziele, die Erziehung zur Hochsprache, gefährde. Bernstein5 unterscheidet zwischen dem „restringierten Code“ der Unterschicht und dem „elaborierten Code“ der Oberschicht, wobei der „restringierte Code“, entgegen der Intention Bernsteins, als defizitär und damit als Hürde in der Sprachentwicklung aufgefasst wurde. Daher sollte, um eine von sozialen Faktoren unabhängige Bildung zu gewährleisten, der Unterricht ausschließlich in der Hochsprache gehalten werden. Obwohl diese Auffassung von Nonstandard-Varietäten, vor allem im Zuge der Entwicklung der Variationslinguistik und Soziolinguistik, heute nicht länger aktuell ist, scheinen dialektale Varietäten und Dialektsprecher bisweilen noch immer stigmatisiert zu sein:

5

Vgl. Bernstein 1972.

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Bezüglich der öffentlichen Rezeption soziolinguistischer und varietätenlinguistischer Forschungen in Deutschland drängt sich der Verdacht auf, dass die Diskussion auf dem Stand der Bernsteinschen Defizittheorie stehen geblieben ist und schließlich auch dazu geführt hat, dass Dialekte als sprachlich reduzierte Systeme und als Sprache der unteren Schichten bis heute als minderwertig angesehen werden. Diese verkürzte Sichtweise von Dialekt hatte sich schnell in den Köpfen festgesetzt und lässt die Konstellation Dialekt und Schule bis heute als problematisch erscheinen. Vielfach hat die Diskussion auch dazu geführt, dass in dialektgeprägten Regionen alle Probleme des Spracherwerbsprozesses mit der Dialektsprachigkeit 6 begründet wurden.

Mittlerweile werden Nonstandard-Varietäten und Dialekte nicht länger als Sprachbarriere bzw. defizitäre oder gar minderwertige Subvarietäten der Hochsprache angesehen. Alle Sprachsysteme sind gleich bzw. ähnlich komplex und eine innere und äußere Mehrsprachigkeit ist im Rahmen einer ganzheitlichen sprachlichen Bildung wünschenswert. Nach dem gegenwärtigen Stand der Spracherwerbsforschung spricht vieles dafür, dass eine mehrsprachige Erziehung (und dies trifft sowohl für die innere wie für die äußere Mehrsprachigkeit zu) die sprachliche, kognitive und soziale Entwicklung der Kinder positiv beeinflusst. Besonders von Vorteil ist das durch aktive Mehrsprachigkeit zwangsläufig ausgeprägte Sprachbewusstsein. In Hinblick auf das weiter zusammenwachsende Europa ist dieses Sprachbewusstsein, das auch als Sprachdifferenzbewusstsein wahrgenommen wird, eine wichtige Grundlage für die mutter7 sprachliche Sprachkompetenz, aber auch für das Erlernen von Fremdsprachen.

„Die Schule ist bis heute – was die didaktische Seite betrifft – ein Dialekt-‚Sperrbezirk‘ geblieben.“8 Zwar hat sich in den letzten 20 Jahren bereits einiges getan, aber noch immer stellt sich (…) die Frage, ob eine einheitliche deutsche Standardsprache weiter alleinige Zielnorm des Deutschunterrichts sein kann und welchen Stellenwert die nationalen und regionalen Standardvarietäten als Einflussgröße auf den muttersprachlichen Unterricht einnehmen sollen und können. Auch aufgrund der durch Migration und Mobilität entstandenen neuen Sprachkontaktsituationen folgt, dass die innere und äußere Mehrsprachigkeit mittlerweile ein zentraler Aspekt schuli9 scher Ausbildung sein muss.

6 7 8 9

Hochholzer 2006, 80. Hochholzer 2006, 81. Rosenberg 1993, 44. Neuland/Hochholzer 2006, 188.

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Alexander Laube, Florian Menner

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit und zu welchem Grad dialektale Varietäten in den Lehrplänen und Lehrmaterialien repräsentiert sind.10 „Im Fachprofil [Deutsch des gültigen Lehrplans für Gymnasien in Bayern] wird das Thema ‚Mundart‘ nicht (…) explizit erwähnt und auch in den Fachlehrplänen nicht (…) in allen Jahrgangsstufen berücksichtigt.“11 Genau genommen ist die Beschäftigung mit Dialekt und Mundarten im Lehrplan für bayerische Gymnasien eigentlich nur in der achten Jahrgangsstufe vorgesehen. Jedoch werden der Lehrkraft entsprechende didaktische Freiheiten eingeräumt, sodass das Thema auch in der Sekundarstufe II verortet werden kann. Dennoch schlussfolgert Kanz, dass es „wünschenswert [wäre], wenn im Sinne einer ganzheitlichen sprachlichen Erziehung und Bildung der Kinder mundartliche Themen noch stärker in die Lehrpläne eingebunden würden.“12 In den Lehrwerken Bayerns sind Unterrichtseinheiten zum Thema Dialekt enthalten, aber nach einer Analyse von Präsentation, Lernzielen und Methodik der entsprechenden Abschnitte, kommt Kanz zu dem Schluss, dass „kein Unterrichtswerk alle die für das vom Lehrplan vorgeschriebene Thema Dialekt betreffenden Wissensaspekte behandeln“ kann.13 Die untersuchten Lehrwerke beschränken sich auf einige Aspekte, z.B. Sprachgebrauchsregelwissen und dialektgeografisches Varietätenwissen. Daher kann das Lehrwerk für eine intensive Beschäftigung mit dem Thema keinesfalls ausreichen und die notwendigen Materialien müssen durch die Lehrkraft gestellt werden. Anregungen und mögliche Beispielprojekte werden im Folgenden gegeben. 2.3

Didaktische Überlegungen

In diesem Abschnitt soll zunächst der bildungstheoretische Hintergrund erläutert werden, vor welchem die im Folgenden diskutierten Unterrichtsvorschläge entstanden sind, d.h. die systemisch-konstruktivistische Pädagogik14 und die kritisch-konstruktive Didaktik nach Klafki15. Weiterhin soll an dieser Stelle ein Überblick über mögliche Unterrichtsprinzipien gegeben werden. Zum einen orientiert sich dieser Beitrag an der interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik nach Reich16, deren lerntheoretische Grundlage im interaktionistischen Konstruktivismus begründet liegt. Dieser Ansatz besagt, dass Wissen vom denkenden Subjekt niemals passiv aufgenommen werden kann, sondern 10

11 12 13 14 15 16

Hier wird exemplarisch der gültige Lehrplan für Gymnasien in Bayern behandelt. Für einen detaillierten Überblick über die Repräsentation des Themas Dialekt im aktuellen Lehrplan für Gymnasien in Bayern vgl. Kanz 2006 und Ferstl 2009. Kanz 2006, 87. Kanz 2006, 88. Kanz 2009, 111. Vgl. Reich 2005. Vgl. Klafki 2007. Vgl. Reich 2005.

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

327

grundsätzlich aktiv auf der Basis von Vorwissen aufgebaut bzw. angeeignet werden muss.17 Hierbei kann die Lehrperson das Lernen lediglich anregen, d.h. sie schafft die Lernumgebung und stellt Material zur Verfügung. Der Lernprozess an sich ist selbstgesteuert und unterstützt den aktiven Aufbau von intelligentem Wissen. Intelligentes Wissen gilt als eines der wichtigsten Bildungsziele und definiert sich als „wohlorganisiertes, disziplinär, interdisziplinär und lebenspraktisch vernetztes System von flexibel nutzbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitiven Kompetenzen“18. Des Weiteren ist der vorliegende Ansatz vor dem Hintergrund der kritischkonstruktiven Didaktik nach Klafki19 entstanden und wird daher kurz auf Gegenwartsbezug für die Schülerinnen und Schüler, eine Zukunftsbedeutung des Lerninhaltes und die Exemplarizität des Materials eingehen. Die Exemplarizität ist beim Thema Dialekt eindeutig gewährleistet, da jede im Unterricht thematisierte dialektale Varietät exemplarisch für die Gesamtheit der deutschen Dialekte steht und damit als Beispiel für das große Spektrum der Dialekte, Varietäten und Sprachen dienen kann. Gegenwartsbezug und Zukunftsbedeutung werden wie folgt berücksichtigt: − Gegenwartsbezug · innere Mehrsprachigkeit bzw. code-switching (Standard, Dialekt, Soziolekt, Jugendsprache) · Bezugspunkt Medien (Comics, Film, Musik) · Kommunikation/Reflexion von vorhandenen Einstellungen zu Dialekten bzw. Varietäten (Stereotype, Vorurteile, soziale Stigmata) · Identifikation durch Sprache (Dialekt und Jugendsprache) − Zukunftsbedeutung · Abbau von Vorurteilen (Globalisierung) · Sensibilisierung gegenüber anderen Sprachvarietäten · politische und gesellschaftliche Ungleichheit als epochaltypisches Schlüsselproblem · Sprache als mächtiges Instrument in der modernen Gesellschaft Die grundlegenden Unterrichtsprinzipien Schülerorientierung, Handlungsorientierung und Sachorientierung werden mit besonderem Fokus auf Kreativität, Kooperation, Artikulation, Übung, Motivierung, Selbstständigkeit, Autonomie und Differenzierung berücksichtigt.

17

18 19

Das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler wird in den folgenden Unterrichtsansätzen und Beispielprojekten berücksichtigt und, wenn notwendig, aktiviert. Das zu aktivierende Vorwissen entstammt entweder der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler, beispielsweise bei bekanntem medialem Material, oder lässt sich als fachliches Vorwissen klassifizieren. Eine aktive Aktivierung durch die Lehrkraft ist aber nur bei fachlichem Vorwissen zu empfehlen. Weinert 2000, 5. Vgl. Klafki 2007.

328

Alexander Laube, Florian Menner

Die bildungstheoretischen Überlegungen wurden in den folgenden Unterrichtsvorschlägen praxisorientiert umgesetzt, sodass die aktive Lernarbeit den Schülerinnen und Schülern überlassen werden kann und die Lehrkraft größtenteils unterstützend tätig wird. Dabei ist das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler von entscheidender Bedeutung, da neues Wissen auf diesem aktiv konstruiert werden muss. Das erforderte Vorwissen beschränkt sich aufgrund der Alltäglichkeit und Allgegenwärtigkeit der Thematik auf Alltagwissen bezüglich Sprache, Sprachvarietäten und Dialekt im Allgemeinen, und kann daher vorausgesetzt werden.

3

Realisierbarkeit im Unterricht

Der folgende Abschnitt soll einen knappen Überblick über verschiedene Möglichkeiten des Dialektunterrichts geben, bespielhaft eine Auswahl an Lehr- und Lernmaterialien anführen und mögliche Lernziele für die Schülerinnen und Schüler thematisieren. Wie bereits angeführt, handelt es sich beim Dialekt um ein allgegenwärtiges und alltägliches Phänomen, mit welchem die Schülerinnen und Schüler aus ihrem persönlichen Umfeld vertraut sind. Weiterhin führt die Allgegenwärtigkeit dialektaler Sprachformen dazu, dass eine Fülle an Medien und Möglichkeiten für Lernmaterialien verfügbar ist. Beispielsweise können literarische Werke, obwohl Literatur für gewöhnlich eher eine Domäne des Standards ist, als Grundlage für die Beschäftigung mit Dialekten und deren orthografischer Repräsentation dienen. Eine Auswahl geeigneter Texte, anhand derer dialektale Varietäten im Unterricht thema20 tisiert werden können, gibt Ferstl nach einer Analyse des aktuellen Lehrplans für Gymnasien in Bayern. Für die Jahrgansstufe 8 führt er beispielsweise Der Talisman von J. Nestroy, Die Lokalbahn von L. Thoma und Der Brandner Kaspar und das ewig‘ Leben von K. Wilhelm auf.21 An dieser Stelle stellt sich die Frage, warum es förderlich ist, sich mit der Repräsentation von Dialekt in literarischen Werken auseinanderzusetzen bzw. das Thema Dialekt in den Literaturunterricht zu integrieren. Dialekt ist, wie oben bereits thematisiert, eigentlich eine rein gesprochene Varietät ohne standardisierte Orthografie, d.h. es existieren keine Konventionen für Dialektgrafie. Für den Schriftsteller, welcher das Ziel hat, die Varietät möglichst realitätsnah zu verschriftlichen, d.h. phonetische, lexikalische und grammatische Eigenheiten des Dialekts hervorzuheben, hat das zur Folge, dass er einen Weg finden muss, das Schriftbild dialektal wirken zu lassen. Hier können die Schülerinnen und Schüler die konkrete Umsetzung der Dialektgrafie analysieren und Merkmale bzw. Strategien herausarbeiten. Beispielsweise kann das durch George Krapp geprägte Konzept des eye dialect, bei dem eine dialektal anmutende Schreibung verwendet wird, obwohl das Wort phone20 21

Ferstl 2009, 123–127. Vgl. Ferstl 2009, 125.

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

329

tisch keine Unterschiede zum Standard aufweist (z.B. Schbaas ‚Spaß‘), hier thematisiert werden. Des Weiteren können Wirkung und Funktion von Dialekt in literarischen Texten, wie z.B. die soziale Markierung und Charakterisierung von Dialekt sprechenden Figuren, untersucht werden. Gerade weil Dialekte sich vor allem durch ihre Mündlichkeit auszeichnen, ist eine Betrachtung schriftlicher Repräsentationsformen solcher Varietäten besonders interessant und aufschlussreich. Abgesehen von literarischen Werken, kann das Thema Dialekt anhand weiterer Mediengruppen vermittelt werden. Repräsentationen von dialektalen Varietäten finden sich sowohl in rein auditiven, audiovisuellen und visuellen Medien. Beispiele dafür sind unter anderem: − Interviews bzw. Unterhaltungen mit Dialektsprechern (auditiv oder audiovisuell) − mundartliche Musik, z.B. „Autobahn“ von LaBrassBanda − Filmausschnitte (z.B. in verschiedenen Dialekten synchronisierte Zeichentrickfilme von Asterix und Obelix) − mundartliches Kabarett − mundartliche Comics oder Karikaturen − Zeitungen bzw. Zeitschriften − Internetmedien (z.B. Podcasts) Die wichtigsten Lernziele, welche im Rahmen des Dialektunterrichts anhand der aufgeführten Medien erreicht werden können, sind im Folgenden aufgeführt: − Die Schülerinnen und Schüler haben einen Überblick über die Vielschichtigkeit der deutschen Dialekte und Varietäten. − Die Schülerinnen und Schüler erkennen und beschreiben sprachliche Merkmale und Besonderheiten in den Bereichen Phonetik und Phonologie (orthografische Repräsentation phonetischer Merkmale), Morphologie und Syntax. − Die Schülerinnen und Schüler reflektieren über Möglichkeiten von verschiedenen Sprachvarietäten bzw. Dialekten. − Die Schülerinnen und Schüler können produktiv gestaltend mit Sprache umgehen. − Die Schülerinnen und Schüler erkennen den Wert und die Leistung von Mundart und Dialekt (lokale Identität, innere Mehrsprachigkeit, Mehrwert in der Kommunikation). − Die Schülerinnen und Schüler reflektieren über sprachliche Kommunikation in verschiedenen sozialen Sprechsituationen. − Die Schülerinnen und Schüler können sich situations- und adressatengerecht mitteilen (innere Mehrsprachigkeit). − Die Schülerinnen und Schüler erkennen Wirkungszusammenhänge sprachlicher Äußerungen. − Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit gesellschaftspolitischen Problemen auseinander. − Die Schülerinnen und Schüler erkennen die Möglichkeiten moderner Medien.

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4

Alexander Laube, Florian Menner

Beispielprojekte für den Deutschunterricht

Im folgenden Abschnitt sollen zwei Beispielprojekte zum Thema NonstandardVarietäten und Dialekt für den gymnasialen Deutschunterricht vorgestellt werden. Das erste Projekt, bei welchem die Schülerinnen und Schüler dialektgeografische Sprachforschung betreiben, ist für die achte Jahrgangsstufe konzipiert. Das zweite Beispielprojekt, welches eine postkoloniale Varietät des Deutschen, das Unserdeutsch, thematisiert, ist aufgrund seiner Komplexität in der gymnasialen Oberstufe zu verorten. 4.1

Sprachforschung im Deutschunterricht

In den Unterricht integrierte Forschungsprojekte und Experimente sind bereits in einigen Unterrichtsfächern verbreitet und erfreuen sich großer Beliebtheit unter den Schülerinnen und Schülern. Ein sprachwissenschaftliches Feldforschungsprojekt kann daher eine Bereicherung für den modernen Deutschunterricht sein und fördert die intrinsische Motivation der Lernenden. Bei der vorgeschlagenen Unterrichtseinheit handelt es sich um ein auf einen kurzen Zeitraum angelegtes Projekt mit den Schülerinnen und Schülern, im Zuge dessen diese eigene Sprachforschung betreiben.22 Auf der theoretischen Grundlage der klassischen Dialektgeografie, sollen die Lernenden eine Telefonumfrage durchführen. Die Schülerinnen und Schüler bekommen die Aufgabe, Verwandte, Freunde und Bekannte in ganz Deutschland anzurufen und zur Aussprache bzw. Verwendung zuvor festgelegter Begriffe direkt zu befragen. Die Ergebnisse sollen in der folgenden Stunde/Woche zusammengetragen und auf einer Deutschlandkarte festgehalten werden. Mögliche Begriffe, welche beforscht werden könnten, beinhalten lokale Bezeichnungen für eine Auswahl von Esswaren (Brötchen, Berliner, Apfel, …), Berufe und weitere Konzepte. Alternativ kann dieses Projekt ausschließlich für den bayerischen Raum durchgeführt werden (z.B. falls die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler nur Informanten in Bayern zur Verfügung hätte). Entsprechende dialektgeografische Informationen zum deutschen Sprachraum finden sich vor allem in Königs dtv-Atlas Deutsche Sprache23 bzw. sind frei im Internet verfügbar. Das Projekt ist handlungs-, schüler- und sachorientiert angelegt und fördert somit als ganzheitliche Methode die Selbstorganisation und Selbstverantwortung. 22

23

Ein ähnliches Projekt beschreibt auch Arzberger, welcher aber einen eher regionalen Fokus setzt, da „das Hauptanliegen des (…) Unterrichtsprojekts“ vor allem darin bestand, den „sprachlichen Ausdrucksreichtum ihrer Heimat den Schülern bewusst zu machen“ (Arzberger 2008, 51). Wir favorisieren einen überregionalen Fokus, um die linguistische Variation im gesamtdeutschen Sprachraum abzudecken und den Abbau von Vorurteilen gegenüber fremden Dialekten und ihren Sprechern zu begünstigen. Eine auf den lokalen Sprachraum beschränkte Betrachtung von dialektalen Varietäten kann das nicht leisten und wird daher von uns abgelehnt. Vgl. König 2007.

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

331

Des Weiteren kann das Projekt, welches sich vor allem für die Sekundarstufe I (vorwiegend Jahrgangsstufe 8) des Gymnasiums eignet, als kleine Einführung in sprachwissenschaftliche Arbeitsweisen und Methodik dienen. Es werden vor allem die Lernbereiche Sprechen und Sprache untersuchen, verwenden und gestalten – Sprachbetrachtung berücksichtigt.24 Im Folgenden werden die vordergründigen Lernziele und der Lehr-Lernprozess kurz umrissen: 4.1.1

Lernziele

− Die Schülerinnen und Schüler erhalten einen Einblick in empirische Arbeitswei-

sen und sprachwissenschaftliche Methodik. − Die Schülerinnen und Schüler haben einen Überblick über die Vielschichtigkeit

der deutschen Dialekte und Varietäten. − Die Schülerinnen und Schüler erkennen und beschreiben sprachliche Merkmale

− − − −



und Besonderheiten in den Bereichen Phonetik und Phonologie (orthografische Repräsentation phonetischer Merkmale), Morphologie und Syntax. Die Schülerinnen und Schüler können sich situations- und adressatengerecht mitteilen (innere Mehrsprachigkeit). Die Schülerinnen und Schüler reflektieren über sprachliche Kommunikation in verschiedenen (sozialen) Sprechsituationen. Die Schülerinnen und Schüler erkennen Wirkungszusammenhänge sprachlicher Äußerungen. Die Schülerinnen und Schüler erkennen den Wert und die Leistung von Mundart und Dialekt (lokale Identität, innere Mehrsprachigkeit, Mehrwert in der Kommunikation). Die Schülerinnen und Schüler können visuelles Material gestalten und verwenden.

4.1.2

Lehr-Lernprozess

− Hinführung:

· Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zum Thema Sprachvariation in Deutschland wird aktiviert → Stichworte werden gesammelt (Tafel/OHP)

− Begegnung:

· Die Schülerinnen und Schüler werden mit der Aufgabe bzw. dem „Forschungsauftrag“ konfrontiert (Möglichkeit zur Beantwortung von Fragen), welcher in Heimarbeit erledigt werden soll.

24

Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2004.

332

Alexander Laube, Florian Menner

− Erarbeitung:

· Vor der selbstständigen Erarbeitung werden eventuelle Fragen geklärt und Tipps für eine erfolgreiche Forschung gegeben: · Warum sollten die Informanten über den Zweck und die Ziele des Projektes aufgeklärt sein? · Welche Gefahren kann eine direkte Befragung der Informanten bergen? (Stigmatisierung des Dialekts → fehlerhafte Antworten) · Welche Alternativen zu einer direkten Befragung gibt es? Welche Interviewstrategien lassen sich nutzen?25 · Wie werden Daten kompiliert und ausgewertet? (Anonymität, usw.) · Die Lehrkraft einigt sich mit den Lernenden auf die zu beforschenden Wörter. · Die Schülerinnen und Schüler erfüllen die Aufgabe in Heimarbeit und bringen ihre Ergebnisse zum vorgegebenen Termin mit. · Die Ergebnisse werden in verschiedenen Stationen gesammelt. Hierbei wird pro „erforschtem“ Wort eine Station eingerichtet. Die Schüler wechseln in kleinen Gruppen die Stationen und tragen ihre Ergebnisse an jeder Station auf der jeweiligen Landkarte ein. Die Karten können alternativ als Folie oder Poster zur Verfügung gestellt werden. (Poster können später als informative Dekoration des Klassenzimmers verwendet werden.) · Die erstellten linguistischen Deutschlandkarten werden im Plenum besprochen und eventuell ersichtliche Isoglossen werden eingezeichnet und diskutiert. Falls die Datenlage keine Rückschlüsse auf die regionale Verteilung der linguistischen Varianten zulassen sollte, kann mithilfe von zusätzlichem Material26 der erwünschte Lerneffekt erzielt werden. Möglicherweise wäre es in diesem Fall interessant, über eventuelle Gründe für eine erfolglose Studie zu diskutieren (z.B. regionale Nähe aller Informanten, insgesamt zu wenig Daten, fehlerhafte Aussagen von Informanten, usw.). − Weiterarbeit: · Denkbar wäre hier ein weiteres Schülerprojekt (auf freiwilliger Basis) mit dem Ziel, weitere Sprachforschung zu betreiben und die Forschungsmethodik auszubauen. Ein Projekt zum Thema Jugendsprache wäre beispielsweise denkbar. 4.2

Unserdeutsch – Eine postkoloniale Varietät des Deutschen

Die deutsche Sprache wird nicht nur in Deutschland bzw. im mitteleuropäischen Raum gesprochen, sondern es gibt weltweit kleine Sprachgemeinschaften, welche bis heute Varietäten des Deutschen sprechen. Eine dieser Sprachinseln ist in PapuaNeuguinea und wurde für diesen Beitrag ausgewählt, um zu zeigen, dass Deutsch ein weltweites Phänomen und nicht nur ein Unterrichtsfach ist.

25 26

Vgl. Labov 1984. Vgl. König 2004.

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

333

Unserdeutsch ist Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Missionsstation in Vunapope im heutigen Papua-Neuguinea im Zuge der Kolonisation entstanden und wird als die weltweit einzige auf Deutsch basierende Kreolsprache gehandelt.27 Die Varietät wurde von einer Gruppe Internatsschüler, welche mit verschiedenen linguistischen Hintergründen in die Mission kamen und in deutscher Sprache erzogen und unterrichtet wurden, entwickelt und fungierte unter ihnen als lingua franca. Mittlerweile verbleiben nur noch wenige Muttersprachler der Varietät. Obwohl es sich bei der Varietät nicht um einen klassischen Dialekt handelt, soll das Unserdeutsch exemplarisch für die Gesamtheit aller deutschen Varietäten weltweit stehen und wird daher in diesem Beitrag berücksichtigt. Die entworfene Unterrichtseinheit zum Thema Unserdeutsch basiert auf dem Material, welches von Craig Volker Ende der 70er Jahre gesammelt wurde und auf den Internetseiten der Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. an der Universität Köln frei verfügbar ist.28 Für den Unterricht bietet sich vor allem die Geschichte vom Rumpelstilzchen an, da die Schülerinnen und Schüler hier auf Vorwissen zurückgreifen können. Die Geschichte ist als Audiodatei und als Transkription verfügbar. Durch die sowohl auditive als auch schriftliche Form der Präsentation werden die Lernenden auf verschiedenen Kanälen angesprochen, was die Rezeption dieses recht schwierigen Materials erleichtert. Die Einheit wird in der Sekundarstufe II (vorwiegend Jahrgangstufe 11) des Gymnasiums verortet. Es werden vor allem die Lernbereiche Sprechen, Sprache untersuchen, verwenden und gestalten – Sprachbetrachtung und sich mit Literatur und Sachtexten auseinandersetzen berücksichtigt.29 Zudem bieten sich fächerübergreifende Möglichkeiten, z.B. in Kooperation mit Geschichte und Sozialkunde, an. Im Folgenden werden die vordergründigen Lernziele und der LehrLernprozess kurz umrissen: 4.2.1

Lernziele

− Die Schülerinnen und Schüler erhalten einen Einblick in die Vielfältigkeit der

deutschen Dialekte und Varietäten. − Die Schülerinnen und Schüler erkennen und beschreiben sprachliche Merkmale

und Besonderheiten in den Bereichen Phonetik und Phonologie (orthografische Repräsentation phonetischer Merkmale), Morphologie und Syntax.

27

28 29

Soziohistorische und linguistische Informationen zum Unserdeutsch finden sich vor allem in Volker 1982, Volker 1989, Volker 1991. Diese und weitere Beiträge zur Varietät sind frei auf der Projektseite des derzeit an der Universität Augsburg laufenden Forschungsprojektes Unserdeutsch verfügbar (vgl. Philologisch-Historische Fakultät der Universität Augsburg). Vgl. Gesellschaft für bedrohte Sprachen e.V. Vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2004.

334

Alexander Laube, Florian Menner

− Die Schülerinnen und Schüler erkennen den Wert und die Leistung von Mundart

und Dialekt (lokale Identität, innere Mehrsprachigkeit, Mehrwert in der Kommunikation). − Die Schülerinnen und Schüler reflektieren über sprachliche Kommunikation in verschiedenen (sozialen) Sprechsituationen. 4.2.2

Lehr- Lernprozess

− Hinführung (Option 1):

· Vorwissen zur Kolonisation und den damit verbundenen sozialen und gesell−







schaftspolitischen Problemen aktivieren (gegebenenfalls notwendiges Wissen über Pidgin- und Kreolsprachen vermitteln) Hinführung (Option 2): · Sammeln von deutschsprachigen Regionen und Ländern weltweit → Festhalten an der Tafel oder einer Weltkarte → Übergang zu einer unkommentierten Begegnung Begegnung: · Die Schülerinnen und Schüler rezipieren das Audiomaterial vorerst ohne Transkription. · Wahlweise kann das Audiomaterial auch vor der Hinführung vorgespielt werden, um das Interesse der Lernenden zu wecken. (Es wäre beispielsweise möglich, die Schülerinnen und Schüler raten zu lassen, wo die gehörte Varietät des Deutschen gesprochen wird.) Erarbeitung: · Die Schülerinnen und Schüler rezipieren das Audiomaterial ein weiteres Mal parallel zum Text und suchen besondere sprachliche Merkmale. Sie werden zudem auf die Authentizität des Materials und damit verbundene Ungenauigkeiten in der Transkription hingewiesen. → Zwischensicherung: Die Ergebnisse werden an der Tafel/dem OHP festgehalten. · Die Schülerinnen und Schüler diskutieren in kleinen Gruppen oder in der Klasse über die Frage, ob Unserdeutsch überhaupt „Deutsch“ ist. Folgende Aspekte sind hier zu berücksichtigen: · Gibt es ein „richtiges“ Deutsch bzw. kann man Unserdeutsch als „falsches, korruptes, gebrochenes“ Deutsch bezeichnen? · Was ist Standarddeutsch? Wer spricht Standard? Gibt es Standard überhaupt? · Was genau ist Unserdeutsch? Ist es ein Dialekt oder eine andere Sprache? · Ist Unserdeutsch eine Art „Ausländerdeutsch“? · Wie hängen Sprache und Identität zusammen? Weiterarbeit: · Weitere deutsche Varietäten (im Ausland) können als Projektarbeit untersucht werden (z.B. verschiedene Dialekte, Schweizerdeutsch, Sprachinseln in den USA, usw.).

Dialekt als Unterrichtsgegenstand

5

335

Zusammenfassung

Dieser Beitrag stellt einen kurzen interdisziplinären Abriss zum Thema Dialektunterricht im schulischen Kontext dar, welcher im Rahmen des Projektes „Brückensteine“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden ist und das Thema vor einem sprachwissenschaftlichen Hintergrund didaktisch aufbereitet. Es wurden, ausgehend von einer Beschreibung der aktuellen Situation des Themas Dialekt in den Schulen, didaktisch-theoretische Grundlagen und Vorschläge zur Realisierbarkeit des Dialektunterrichts sowie zwei Beispielprojekte dargelegt. Im Rahmen einer ganzheitlichen sprachlichen Bildung sollten Dialekte und Nonstandard-Varietäten stärker im Deutschunterricht berücksichtigt werden, da diese das Wesen und die eigentliche Macht von Sprache verkörpern. Sprache lässt sich nicht in Wörterbüchern und Grammatiken einfangen bzw. in Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ einteilen, sondern Sprache ist dynamisch, ständigem Wandel unterworfen und wird erst durch ihre Sprecher lebendig; selbst Goethe war stolzer Dialektsprecher. Es ist daher wichtig, dass Dialekte als Teil der inneren Mehrsprachigkeit und nicht länger als defizitäre Abarten vom Standard behandelt werden. Für den muttersprachlichen Deutschunterricht stellt die Entwicklung von Bewusstsein über den besonderen Wert der deutschen Dialekte und den Aufbau von positiven Spracheinstellungen gegenüber regionalsprachlichem Gebrauch eine wichtige Aufgabe dar. Dialekte sind Zeugen sprach- und kulturhistorischer Traditionen, aus denen die heutige Standardsprache erst in einer über 1000 Jahre alten sprachge30 schichtlichen Entwicklung hervorgegangen ist.

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30

Neuland/Hochholzer 2006, 188.

336

Alexander Laube, Florian Menner

Hochholzer, Rupert: Dialekt und Schule. Vom Nutzen der Mehrsprachigkeit, in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Dialekte in Bayern. Handreichung für den Unterricht. Teil II: Dialekte und Schule – Grundlagen und Konzepte, 2006, 76– 83. Kanz, Ulrich: Dialekt und Lehrplan. Ein Überblick, in: Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.): Dialekte in Bayern. Handreichung für den Unterricht. Teil II: Dialekte und Schule – Grundlagen und Konzepte, 2006, 84–88. Kanz, Ulrich: Dialekt als Thema in den Deutschbüchern für Gymnasien in Bayern – Eine kritische Analyse, in: Christian Ferstl (Hrsg.): Dem Dorfschullehrer sein neues Latein … Beiträge zu Stellenwert und Bedeutung des Dialekts in Erziehung, Unterricht und Wissenschaft, Regensburg 2009, 91–114. Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, Weinheim/Basel 2007. Kloss, Heinz: „Abstand Languages“ und „Ausbau Languages“, Anthropological Linguistics 9.7, 1967, 29–41. Kloss, Heinz: Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800, Düsseldorf 1978. König, Werner: dtv-Atlas Deutsche Sprache, München 2007. Labov, William: Field Methods of the Project on Linguistic Change and Variation, in: John Baugh/Joel Sherzer (Hrsgg.): Language in Use: Readings in Sociolinguistics, Englewood Cliffs, NJ 1984, 28–53. Luther, Martin: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 2: Tischreden. Band 4, Weimar 1916. Neuland, Eva/Hochholzer, Rupert: Regionale Sprachvarietäten im muttersprachlichen Deutschunterricht, in: Eva Neuland (Hrsg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht, Frankfurt am Main 2006, 175–193. Philologisch-Historische Fakultät der Universität Augsburg: Unserdeutsch (Rabaul Creole German), online verfügbar unter https://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/ germanistik/sprachwissenschaft/Unserdeutsch/ [zuletzt aufgerufen am 06.04.2015] Reich, Kersten: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik, Weinheim/Basel, 2005. Rosenberg, Peter: Dialekt und Schule: Bilanz und Aufgaben eines Forschungsgebiets, in: Peter Klotz/Peter Sieber (Hrsgg.): Vielerlei Deutsch. Umgang mit Sprachvarietäten in der Schule, Stuttgart 1993, 12–58. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung: Lehrplan für das Gymnasium in Bayern, 2004, online verfügbar unter http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/ 3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=1 [zuletzt aufgerufen am 06.04.2015] Volker, Craig: An Introduction to Rabaul Creole German (Unserdeutsch). Unveröffentlichte M.A. Arbeit, University of Queensland, 1982. Volker, Craig: Rabaul Creole German Syntax, Working Papers in Linguistics 21/1, University of Hawaii, Department of Linguistics, 1989, 153–189. Volker, Craig: The Birth and Decline of Rabaul Creole German, Language and Linguistics in Melanesia 22, 1991, 143–156. Weinert, Franz Emanuel: Lehren und Lernen für die Zukunft – Ansprüche an das Lernen in der Schule, in: Pädagogisches Zentrum Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Pädagogische Nachrichten Rheinland-Pfalz, 2.Vortrag, gehalten am 29.2.2000 im Pädagogischen Zentrum Rheinland-Pfalz in Bad Kreuznach, Sonderdruck, 2000, 1–16.

Jüdische Geschichte an die Schulen! Theoretische Überlegungen zu Methodik, Didaktik und 1 Erkenntnisinteresse Philipp Lenhard, Gregor Pelger „Wenn wir uns in kommenden Jahren erinnern möchten, warum es so wichtig war, ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen“, schrieb Tony Judt in seiner monumentalen Geschichte Europas, dann „kann uns nur die Geschichte helfen.“2 Habe zu Zeiten Heinrich Heines für Juden die Taufe als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ gegolten, so sei es heute für Europäer die „Anerkennung der Vernichtung“3. Diese Feststellung indiziert die immense Bedeutung der Erinnerung an die Shoah für die Konstruktion einer europäischen Identität. Die „Anerkennung der Vernichtung“ soll alle Europäer vereinen und sie dazu bewegen, an einem vielfältigen, demokratischen und friedlichen Europa mitzubauen. Allein, Geschichtsschreibung und Sinnstiftung verschmelzen in diesem Diktum so sehr miteinander, dass das Streben nach wissenschaftlicher Objektivität auf der Strecke bleiben muss. An die Stelle der Historiographie tritt Geschichtspolitik, die ein klar abgestecktes Ziel verfolgt: der so furchtbaren Vergangenheit einen Sinn abzuringen. Ein solch strategischer Umgang mit Geschichte hat nicht den Anspruch, den historischen Akteuren gerecht zu werden. Diese fungieren vielmehr als Marionetten in einem Schauspiel, das den Regieanweisungen des Geschichtspolitikers folgt. Die Shoah wird zum europäischen Gründungsmythos stilisiert und dadurch zum sinnhaften Ereignis umgedeutet. Das europäische „Wir“ ist das der Überlebenden, die sich ihrer gemeinsamen Identität versichern, indem die Toten zu Objekten gemacht werden, an die sich Projektionen fast beliebig heften können. In diesem „Wir“ verschwimmen die Unterschiede zwischen den Kindern der Opfer und denen der Täter, als sei jede historische Erfahrung identisch. Dass aus der Shoah die Gründung der Europäischen Union moralisch zwingend folge, muss bei einer solchen Sichtweise nicht mehr begründet, sondern nur noch vermittelt werden. Während in den Geschichtswissenschaften heute jedoch ein gewisses methodisches Problembewusstsein vorausgesetzt werden kann, das der Liaison von Wissenschaft und politischer Sinnstiftung kritisch gegenüber steht, verhält es sich beim 1

2 3

Der vorliegende Text basiert auf einem Aufsatz, den die Autoren gemeinsam mit Mirjam Zadoff unter dem Titel Von der Sondergeschichte zur integrierten Geschichte: Jüdische Geschichte im Schulunterricht in den Münchner Beiträgen zur jüdischen Geschichte und Kultur (Heft 1/2015, 11–26) veröffentlicht haben. Judt 2006, 966. Judt 2006, 933.

338

Philipp Lenhard, Gregor Pelger

Geschichtsunterricht an Schulen genau umgekehrt: Dieser ist darauf ausgerichtet, Schüler zu mündigen Staatsbürgern zu erziehen.4 Die Verinnerlichung demokratischer Werte schließt zwar eine kritische Distanz zu dekretierten Meinungen und Autoritäten ein, aber das ändert nichts daran, dass die Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Schulunterricht pädagogischen Zwecken dient, die stets aufs Neue überprüft werden müssen. Insofern die „Lehren aus der Vergangenheit“ unbestreitbar einen besonderen Stellenwert in der Selbstlegitimation der Bundesrepublik einnehmen, ist die Bedeutung der Shoah als zentrales Thema des Geschichtsunterrichts evident. Die Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den europäischen Juden fördert im Schulunterricht auf didaktischer Ebene das Wissen um die historischen Ursprünge, Tatsachen sowie Zusammenhänge der Shoah und bewirkt im besten Fall ein verantwortungsvolles Erinnern. Doch dieses Erinnern droht die jüdische Geschichte auf eine reine Verfolgungsgeschichte zu reduzieren und durch die primäre Absicht des Erziehungsauftrags über alles hinwegzugehen, was für eine teleologische Geschichtsdarstellung überflüssig scheint. Dass Juden als Akteure an einer allgemeinen Geschichte teilnahmen und teilnehmen sowie diese mitbestimmten und auch heute mitgestalten, wird dabei allzu leichtfertig übersehen. Jüdische Geschichte wird stattdessen oftmals mit der Geschichte des Antisemitismus gleichgesetzt und es scheint mitunter, dass Juden in diesem Narrativ einzig als Opfer eine Berechtigung hätten, zur Kenntnis genommen zu werden. Zugespitzt formuliert, gerinnt „Europa“ in der skizzierten Geschichtspolitik zu einem per definitionem nichtjüdischen bzw. postjüdischen Raum, in dem Juden keinen Platz mehr haben – es sei denn als Tote, die der Selbstvergewisserung eines europäischen Bewusstseins dienen. Natürlich sind zielführende Geschichtspolitik und möglichst wertfreie Geschichtswissenschaft grundsätzlich und vor allem im Schulunterricht nicht strikt voneinander zu trennen. Das ist im Rahmen einer politischen Bildung, die auch oder gerade im heutigen Deutschland und Europa dringend notwendig ist, auch in gewissem Grad wünschenswert. Hinzu kommt, dass Geschichtsunterricht keine Geschichtswissenschaft sein kann und soll. Doch bei der Darstellung der Geschichte, Kultur und Religion der Juden ist die Vermittlung eines differenzierten Geschichtsbildes jenseits einer reinen Opfergeschichte unabdingbar. Soll eine solche differenzierte Sicht vermittelt werden, so muss die allgemeine Geschichte die der partikularen Gemeinschaften und der Einzelgänger, welche lange Zeit vom nationalen Geschichtsnarrativ ausgeschlossen wurden, enthalten.

4

„Die Schüler werden sich der Wurzeln unserer christlich-abendländischen Kultur und deren Bedeutung für die Identitätsfindung in Staat und Gesellschaft bewusst. Das Wissen um die Entstehung sowie um Chancen und Grenzen demokratischer Strukturen führt zur Wertschätzung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und verdeutlicht die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements.“ Auszug aus dem Fachprofil Geschichte für das Gymnasium in Bayern. http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index. php?StoryID=26390 [Stand 7. Januar 2015].

Jüdische Geschichte an die Schulen!

339

Dies gilt nicht nur für die jüdische Kultur, aber hier ist die Exklusion besonders augenfällig. Wie kann eine solche Behandlung der jüdischen Geschichte als Bestandteil der allgemeinen Geschichte praktisch gestaltet werden? Und welche didaktischen Methoden bieten sich bei der Vermittlung jüdischer Geschichte an? Dies sind zentrale Fragen bei der Behandlung jüdischer Geschichte, Kultur und Religion im Schulunterricht, die den vorliegenden Beitrag und die Seminare „Jüdische Geschichte im Unterricht – theoretische Konzepte und praktische Anwendung“ am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU München in den letzten Jahren motivierten.

1

Anfänge

Die Diskussion um die Integration der jüdischen Geschichte in den Unterricht ist nicht neu, sondern kann selbst als ideologisches Barometer der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit in der deutschen Geschichte nach 1945 betrachtet werden. Während die bundesdeutschen Geschichtsbücher bis in die späten 1960er Jahre mit national-deutschem Ethnozentrismus an politischen Großnarrativen sowie den Einzelleistungen hervorstehender historischer Persönlichkeiten festhielten und die DDR-Schulbücher zwischen 1949 und 1990 bis auf wenige Ausnahmen das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus zugunsten einer antifaschistischen Ideologie gänzlich ausblendeten,5 wurde die Behandlung der Themen „Antisemitismus“ und „Geschichte der Juden“ in der Bundesrepublik Deutschland weniger durch Lehrpläne als durch außerschulische Ereignisse angeregt.6 Zunächst führten die Synagogenschändung in Köln im Jahr 1959 und die folgenden Hakenkreuzschmierereien zur Einrichtung des Faches „Gemeinschaftskunde“ (1960) in der Bundesrepublik Deutschland.7 Für die Ausschreitungen wurde ein unzureichender Geschichtsunterricht verantwortlich gemacht, woraufhin 1963 im Auftrag des Internationalen Schulbuchinstituts (seit 1975 Georg-Eckert-Institut) in Braunschweig eine erste Schulbuchanalyse durchgeführt wurde. Darüber hinaus wirkten in den kommenden Jahren der Eichmannprozess in Jerusalem (1961), die Frankfurter Auschwitzprozesse (seit 1963) und die Diskussion über die Verjährung der NS-Verbrechen im Bundestag (1965) maßgeblich auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Genozid an der jüdischen Bevölkerung im Geschichtsunterricht. Theodor W. Adornos Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) und die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ (1979) waren weitere Auslöser für eine öffentliche Debatte um die Verantwortung am Massenmord und ihrer schulischen Vermittlung. Die zunehmende Beschäftigung mit dem Thema entsprach seit den 1970er Jahren einer Wende in der Geschichtsdidaktik,8 die von nun an mit dem 5 6 7 8

Vgl. Schatzker 1994, vgl. Groehler 1992, vgl. Küchler 2000. Lange 1994, 12f. und 21. Vgl. Baumgärtner 2007. Rohlfes 1986, 14.

340

Philipp Lenhard, Gregor Pelger

Wechsel vom Lehr- und Lernbuch zum Arbeitsbuch jenseits politikgeschichtlicher Erklärungsmuster auch historisch-anthropologische, subjektiv-individuelle sowie alltagsgeschichtliche Betrachtungen ermöglichte und damit überhaupt erstmals eine ausführlichere Einbeziehung der Geschichte der Juden in den Geschichtsunterricht zuließ. Durch die zunehmende Quellenorientierung der Darstellungen verhärtete sich dabei allerdings ein distanzierter Blick, der mit der thematischen Schwerpunktsetzung „Shoah“ jüdische Geschichte vor allem als Opfergeschichte wahrnahm.9 Diese inhaltliche und teleologische Perspektivierung des Themas wurde bereits bei der ersten Schulbuchuntersuchung 1963 von den Autoren Saul Robinsohn und Chaim Schatzker bemängelt.10 Hier wurde festgestellt, dass die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zwar in allen 25 untersuchten Unterrichtswerken Erwähnung fänden, doch erst eine bisher fehlende Darstellung der „Wendepunkte jüdischer Geschichte und ihrer kausalen Zusammenhänge (…) der Auffassung von einem ‚geisterhaften‘ unmotivierten Auftauchen der Juden auf allen Bühnen der Weltgeschichte und den damit verbundenen Vorurteilen und Ressentiments entgegenwirken“ könne.11 Die Wissenschaftler des 1975 an der Duisburger Universität gegründeten Forschungsschwerpunkts „Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel in Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“ brachten die Frage nach der Motivation und Legitimation für die ausführlichere Behandlung jüdischer Geschichte, Kultur und Religion im Unterricht in die Schulbuchforschung mit ein. Dabei wurde festgehalten, dass jüdische Inhalte ein notwendiges Element historisch-politischer Bildung darstellen, diese allerdings nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der europäischen und vor allem deutschen Geistes- und Kulturgeschichte zu betrachten seien. Doch auch die ethische Verpflichtung zur Behandlung jüdischer Geschichte wurde nach wie vor betont.12 Die von Schatzker 1981 im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung vorgenommene Analyse von weiteren 34 Unterrichtswerken griff eigene Ansätze und die Duisburger Untersuchungen auf und wies weiterhin auf das Fehlen einer differenzierten, aber vor allem kontinuierlichen Darstellung jüdischer Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart hin. Stattdessen kritisierte der Autor stereotype Darstellungen jüdischer Lebenswelten im Mittelalter sowie in der Frühen Neuzeit und die mangelnde Erörterung der historischen Situation der Juden in der Neuzeit von der Aufklärung bis zur Weimarer Republik: „Es wurde bereits von verschiedener Seite darauf hingewiesen, daß der Eintritt der europäischen Judenheit in die moderne Gesellschaft im Zuge der Emanzipation und der Assimilation von ihren ersten Anfängen an in den Lehrbüchern aus der Sicht der gegen sie gerichteten antisemitischen Reaktionen behandelt wird. In die-

9 10 11 12

Vgl. Baumgärtner 2003. Vgl. Robinsohn/Schatzker 1963, 12. Schatzker 1994, 38. Vgl. Schatzker 1976, besonders 153f.

Jüdische Geschichte an die Schulen!

341

sem Sinne wird die Judenfrage, werden die Judenverfolgungen und -morde auch für die spätere Zeit fast ausschließlich von der Selbststilisierung des ‚Dritten Reichs‘ her interpretiert, wenn auch mit negativem Vorzeichen und unter entschiedener Ablehnung (…).“13

Eine durch das Georg-Eckert-Institut und israelische Erziehungsministerium ins Leben gerufene deutsch-israelische Schulbuchkommission aus 18 Wissenschaftlern beider Länder beschäftigte sich im Laufe von fünf Tagungen zwischen 1981 und 1985 mit der Darstellung jüdischer Geschichte in deutschen und israelischen Geschichts- und Geographiebüchern der Sekundarstufe I. Die Befunde der kritischen Schulbuchanalyse betrafen Schwerpunkte der Darstellung, die Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit der sachlichen Aussagen, die Angemessenheit der aufgezeichneten historischen Bezüge sowie grundlegende Sichtweisen oder Wahrnehmungsperspektiven, die abschließend in einstimmig verabschiedeten „Empfehlungen“ für Richtlinien, Verlage, Schulbuchautoren und Lehrer gebündelt wurden.14 Zwar nahm die Kommission Abstand von moralischen Implikationen bei der Behandlung jüdischer Geschichte im deutschen Geschichtsunterricht, doch griff sie die Kritik vorausgegangener Untersuchungen wieder auf. Sie forderte eine stärkere Akzentuierung geschichtlicher Probleme und die deutliche Herausbildung historischer Zusammenhänge, eine klare Trennung zwischen geschichtlicher Beschreibung und ideologischer Wertung und durch die einzuführende Darstellung einer innerjüdischen Perspektive die Überwindung einseitiger, vorurteilsbehafteter Sichtweisen. Generell forderte die Kommission eine stärkere Differenzierung jüdischer Geschichte, Kultur und Religion und die Darstellung der Geschichte der Juden als eigenständige und zugleich handelnde Größe im weltgeschichtlichen Verlauf: „Die Empfehlungen gehen davon aus, daß die Geschichte der Juden seit der Antike durch die Besonderheit und die Vielfalt ihrer Beziehungen mit anderen Völkern gekennzeichnet ist. (…) Die Darstellung der deutschen Geschichte muß der Teilhabe der Juden an ihr Rechnung tragen, die unter veränderten Bedingungen auch nach dem Holocaust und nach der Grüdung des Staates Israel in Deutschland fortbe15 stand.“

Als das Georg-Eckert-Institut 1992 infolge der deutschen Wiedervereinigung die deutsch-israelischen Schulbuchempfehlungen noch einmal auflegte, stellte Schatzker, auch wenn weiterhin viele Empfehlungen nicht aufgegriffen wurden, deutliche Änderungen in neu erschienenen Schulbüchern fest.16 Eine Nachfolgeuntersuchung von Wolfgang Marienfeld aus dem Jahr 2000 bestätigte erneut, dass der deutschjüdischen Geschichte mehr Raum in Geschichtsbüchern zugestanden wurde, doch 13 14 15 16

Schatzker 1981, 138. Als Leiter der deutschen Arbeitsgruppe resümiert dies Marienfeld 2000, 1. Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen, 1985, 7. Vgl. Schatzker 1992.

342

Philipp Lenhard, Gregor Pelger

bezog sich dies weiterhin vor allem auf die Themen Judenverfolgung und Shoah.17 Auch die aktuelle Studie von Martin Liepach und Wolfgang Geiger mit einer umfassenden und detaillierten Untersuchung von 71 deutschen Geschichtsschulbüchern weist auf ein zunehmendes Bemühen der Verlage zur differenzierten Darstellung der Geschichte und Kultur der Juden im Schulunterricht hin, bemängelt dabei aber weiterhin stereotypische und klischeehafte Darstellungen einer jüdischen Opfergeschichte.18

2

Perspektiven

Um die Vermittlung von differenziertem Wissen über die jüdische Geschichte im Schulunterricht zu verbessern, ohne einer einseitigen, rein opferzentrierten geschichtspolitischen Erzählung zu folgen, ist es also wichtig, diese als Teil der allgemeinen Geschichte darzustellen. In enger Bezugnahme auf den Lehrplan müssen schlaglichtartig bestimmte Thematiken herausgegriffen werden, um an ihnen zu veranschaulichen, dass Juden nicht nur passive Opfer, sondern vor allem Akteure der Geschichte waren. Idealerweise wird diese Vermittlungsleistung anhand scheinbar ganz „unjüdischer“ Themen vollzogen und damit die allzu enge Fokussierung auf die „Sondergeschichte“ vermieden.19 So wichtig die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Herrschaft und der Shoah nach wie vor ist und so sehr es darauf ankommt, auch diese Geschichte nicht nur als Geschichte der Täter zu schreiben, sondern multiperspektivisch vorzugehen und die Erfahrungen der Verfolgten dezidiert einzubeziehen,20 so bedeutsam ist auch, jüdisches Leben jenseits dessen zu berücksichtigen – nicht zuletzt auch das der jüdischen Gemeinden nach 1945 in Deutschland und Europa. Vor diesem Hintergrund wurde im Sommersemester 2013 am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München das Projekt „Jüdische Geschichte im Schulunterricht“ ins Leben gerufen. Im Mittelpunkt dieses Projektes standen eine Übung und ein Vertiefungskurs mit dem Titel „Jüdische Geschichte im Unterricht – theoretische Konzepte und praktische Anwendungen“. Die Seminare waren und sind für fortgeschrittene Lehramtsstudierende konzipiert, die kurz vor ihren Schulpraktika oder Referendariaten stehen und mit ihrer Teilnahme am Schulprojekt Gelegenheit haben, unter fachlicher Betreuung eigene Unterrichtseinheiten zu entwickeln, in denen der Ansatz einer integrier-

17 18 19

20

Vgl. Marienfeld 2000, 43.Siehe auch Marienfeld 2003. Vgl. Liepach/Geiger 2014. Hierfür bieten sich mannigfaltige Möglichkeiten, als Beispiele seien nur genannt: Das Leben auf dem Lande im 18. und 19. Jahrhundert, die Entwicklung des Bildungs- und Schulwesens, das Aufkommen von Vereinen und Klubs, moderne Wirtschafts- und Industrialisierungsgeschichte, Migrationsbewegungen, Prozesse der Säkularisierung und religiösen Reform im 19. und 20. Jahrhundert und vieles mehr. Zwei weitere, in der Praxis bereits erprobte Beispiele folgen unten. Siehe dazu Friedländer 2007.

Jüdische Geschichte an die Schulen!

343

ten jüdischen Geschichtsschreibung praktisch umgesetzt wird. Die Einheiten werden im Seminar diskutiert und am Ende des Semesters auf einer Lehrerfortbildung vorgestellt, auf ihre konkrete Anwendbarkeit hin überprüft und schließlich mit den Lehrerinnen und Lehrern im Schulunterricht erprobt. Die ausformulierten Unterrichtseinheiten werden gesammelt und auf einer Internetplattform zum Download angeboten.21 Auf diese Weise erhalten Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, komplette Unterrichtseinheiten – einschließlich Unterrichtsmaterialien, fachlichen Hintergrundinformationen, Zeitplänen und Literaturangaben – in ihren Unterricht zu übernehmen. Zur Veranschaulichung, wie solche Unterrichtseinheiten konkret aussehen, seien hier zwei studentische Projekte vorgestellt. Im Sommersemester 2014 hat Maximilian Mayr eine Einheit zum Thema „Das Imperium Romanum“ mit unterschiedlichen Lernniveaus entsprechend des bayerischen Gymnasiallehrplans für die 6. oder 12. Jahrgangsstufe entwickelt. Um einen anderen Blick auf das Römische Reich zu gewinnen, hat Mayr die Perspektive der jüdischen Bevölkerung in der römischen Provinz Judäa gewählt. Damit kann er erstens zeigen, wie eine von den Römern beherrschte ethnisch-religiöse Gemeinschaft in der Antike das Imperium wahrgenommen hat und welche Konflikte und Widersprüche mit dieser Herrschaft verbunden waren; zweitens wird der homogenisierende Blick auf „die Juden“ aufgebrochen, indem verschiedene religiöse und politische Fraktionen innerhalb des antiken Judentums vorgestellt werden. Die auf wahlweise drei oder vier Unterrichtsstunden angelegte Einheit beginnt mit einer kurzen Szene aus Monty Pythons satirischem Film „Das Leben des Brian“22, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu wecken.23 Im Anschluss wird in einem Lehrervortrag bzw. einem Gespräch der reale sachliche Hintergrund römischer Herrschaft in Judäa in groben Umrissen erläutert, um einerseits eine kognitive Distanz zur Filmszene zu schaffen und andererseits die Grundlage für den weiteren Stundenverlauf zu legen. Danach bilden die Schüler vier Gruppen, die sich jeweils detaillierter mit einer der vier Fraktionen – römische Soldaten, Angehörige der jüdischen Oberschicht, religiöse Schriftgelehrte (Pharisäer) sowie Zeloten – beschäftigen. Grundlage dafür sind kurze Quellentexte und Charakterbeschreibungen auf Arbeitsblättern, die Mayr gestaltet hat. In Kurzreferaten präsentieren Gruppenvertreter dann ihre jeweilige „Fraktion“ auf einer simpel gestalteten Bühne. In der dritten Unterrichtsphase werden vorgegebene Konfliktsituationen gespielt, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen deutlich vor Augen zu führen. Ob und inwiefern die Schüler ihre Rolle „richtig“ gespielt und die jeweilige

21 22

23

http://www.jgk.geschichte.uni-muenchen.de/jued_gesch_im_schulunterricht/index.html. Dieser Film wurde im WS 2006/07 auch in einem Seminar zum „Römerfilm“ am Arbeitsbereich für Fachdidaktik der Alten Sprachen analysiert. Vgl. dazu das online verfügbare Material unter http://www.fachdidaktik.klassphil.uni-muenchen.de/forschung/seminarertraege/roemerfilm/ roemerfilm_archiv/referat_hornsteiner.pdf. Hier wird nur der grobe Verlauf der Unterrichtseinheit wiedergegeben. Im Originalentwurf sind zahlreiche Variationen und Erweiterungen berücksichtigt.

344

Philipp Lenhard, Gregor Pelger

Gruppe treffend vertreten haben, wird als Nachgang zusammen diskutiert. Dabei verfestigt sich das erlernte Wissen. Am Ende kann entweder ein Tafelbild erstellt oder ein vorbereitetes, zusammenfassendes Arbeitsblatt ausgeteilt werden. Als zweites Beispiel sei eine Unterrichtseinheit angeführt, die Christoffer Leber zum Thema „Die Haskala – die jüdische Aufklärungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert“ entwickelt hat. Im Lehrplan für das Gymnasium in Bayern soll in der 8. Jahrgangsstufe der Themenkomplex „Europa im Zeitalter der Revolutionen“ behandelt werden. Dabei nimmt die Betrachtung der Ursachen für den Ausbruch der Französischen Revolution eine zentrale Stellung ein, die unter anderem in der Aufklärungsbewegung erkannt werden. Zudem kann ein Haskala-Exkurs in der Jahrgangsstufe 11 an den Lehrplanabschnitt „Leben in der Ständegesellschaft des 15. bis 18. Jahrhunderts“ angelehnt werden, da hier die kulturellen wie sozialpolitischen Transformationen in der Frühen Neuzeit im Unterricht im Mittelpunkt stehen. Leber sieht hier eine Chance, jüdische und allgemeine Geschichte miteinander zu verbinden. Die Haskala wird als jüdische Aufklärungsbewegung vorgestellt, deren Programmatik und philosophische Grundlage sich einerseits mit derjenigen aus der christlichen Kultur stammender Aufklärer überschneidet, andererseits aber auch davon unterscheidet: „Die Maskilim, die Befürworter der Haskala, strebten zwei zentrale Ziele an: Die Emanzipation und Aufklärung der Juden als Menschen und als Juden. Damit ist zum einen die Integration, Assimilation und Gleichberechtigung der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft gemeint; zum anderen die Realisierung eines zeitgemäßen, modernisierten und weltoffenen Judentums, das die Rolle der Religion in der jüdischen Ge24 meinschaft neu definierte.“

Ziel der auf zwei bis drei Stunden angelegten Unterrichtseinheit ist es, die Vielfalt aufklärerischer Bewegungen deutlich und Juden als Akteure der Aufklärung sichtbar zu machen. In Gruppenarbeit werden zentrale Quellentexte prominenter Maskilim bearbeitet und im Anschluss der ganzen Klasse präsentiert. Sollte in vorherigen oder späteren Unterrichtseinheiten zusätzlich noch eine Auseinandersetzung mit wichtigen nichtjüdischen Aufklärern wie Immanuel Kant oder Voltaire stattfinden, so entsteht darüber hinaus ein vergleichender Horizont, der zu einem multiplen, reichhaltigen Begriff von „Aufklärung“ beiträgt. Außer diesen beiden Beispielen wurden von Studierenden weitere Unterrichtseinheiten zur jüdischen Geschichte, Kultur und Religion erarbeitet, die etwa als Handreichung für den Besuch eines jüdischen Friedhofs oder als Grundlage für die Darstellung jüdischen Lebens in der Industrialisierung dienen sollen. Die Beiträge werden auf der Homepage des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Download zur Verfügung gestellt. 24

Leber: http://www.jgk.geschichte.uni-muenchen.de/jued_gesch_ im_schulunterricht/unterrichtsstunden/index.html.

Jüdische Geschichte an die Schulen!

345

Das 2013 mit dem Lehrinnovationspreis der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnete Projekt „Jüdische Geschichte im Schulunterricht“ wird in den kommenden Jahren fortgeführt. Wenn im Schulunterricht ein Perspektivwechsel auf die jüdische Geschichte vollzogen werden soll – von der Sondergeschichte zur integrierten Geschichte –, dann ist es unerlässlich, dass angehende Pädagogen, aber auch schon unterrichtende Lehrerinnen und Lehrer auf methodische Anregungen und entsprechende Materialien zurückgreifen können. Nur so wird es möglich sein, die geläufige Darstellung jüdischer Geschichte als reine Verfolgungsgeschichte zu überwinden und den Schülerinnen und Schülern – als einer künftigen Generation europäischer Bürger – Juden als Akteure einer fortlaufenden Geschichte vorzustellen.

Literaturverzeichnis Arbeitsbereich für Fachdidaktik der Alten Sprachen: Römerfilm, online verfügbar unter http://www.fachdidaktik.klassphil.uni-muenchen.de/forschung/seminarertraege/roemerfilm/roemerfilm_archiv/referat_hornsteiner.pdf. Baumgärtner, Ulrich: „Holocaust education“ oder Geschichtsunterricht? Politisch-moralische Herausforderungen des historischen Lernens in der Schule, in: Eli Bar-Chen, Anthony D. Kauders (Hrsgg.): Jüdische Geschichte: Alte Herausforderungen, neue Ansätze, München 2003, 178–193. Baumgärtner, Ulrich: Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert, Idstein 2007, 447–462. Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen. Zur Darstellung der jüdischen Geschichte sowie der Geschichte und Geographie Israels in Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland – Zur Darstellung der deutschen Geschichte und der Geographie der Bundesrepublik Deutschland in israelischen Schulbüchern. Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Braunschweig 1985. Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften. Historisches Seminar. Jüdisches Leben und Kultur: Jüdische Geschichte im Schulunterricht, online verfügbar unter http://www.jgk.geschichte.uni-muenchen.de/jued_gesch_im_schulunterricht/index. html. Friedländer, Saul: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007. Groehler, Olaf: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Olaf Groehler/ Ulrich Herbert (Hrsgg.): Zweierlei Bewältigung: Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten, Hamburg 1992, 41–66 Judt, Tony: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006. Küchler, Stefan: DDR-Geschichtsbilder. Zur Interpretation des Nationalsozialismus, der jüdischen Geschichte und des Holocaust im Geschichtsunterricht der DDR, Internationale Schulbuchforschung 22, 2000, 31–48. Lange, Thomas: Judentum und jüdische Geschichte im Unterricht – Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Thomas Lange (Hrsg): Judentum und jüdische Geschichte im Schulunterricht nach 1945. Bestandsaufnahmen, Erfahrungen und Analysen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Israel, Wien/Köln 1994, 9–34

346

Philipp Lenhard, Gregor Pelger

Leber, Christoffer: Die Haskala – die jüdische Aufklärungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert. Elaborierte Unterrichtseinheit, online verfügbar unter: http://www. jgk.geschichte.uni-muenchen.de/jued_gesch_im_schulunterricht/unterrichtsstunden/ index.html. Liepach, Martin/Geiger, Wolfgang: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach/Ts. 2014. Marienfeld, Wolfgang: Die Geschichte des Judentums in deutschen Schulbüchern, Hannover 2000. Marienfeld, Wolfgang: Jüdische Geschichte im Schulbuch der Gegenwart, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 Heft 3, 2003, 167–173. Robinsohn, Saul/Schatzker, Chaim: Jüdische Geschichte in deutschen Geschichtsbüchern, Braunschweig 1963, 12. Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 1986. Schatzker, Chaim: Bemerkungen zur Legitimations- und Kriterienfrage des geplanten Schulbuchprojekts. Intentionen und Fragen zu einer multidisziplinären Analyse deutscher Lehrbücher in Bezug auf Juden, Judentum und Staat Israel, in: Gerd Stein/Horst Schallenberger (Hrsgg.): Schulbuchanalyse und Schulbuchkritik. Im Brennpunkt: Juden, Judentum und Staat Israel, Duisburg 1976, 150–160. Schatzker, Chaim: Die Juden in den deutschen Geschichtsbüchern. Schulbuchanalyse zur Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates Israel, Bonn 1981. Schatzker, Chaim: Was hat sich verändert, was ist geblieben? Analyse von seit 1985 in der Bundesrepublik Deutschland erschienenen Geschichtsbüchern für die Sekundarstufe I und II bezüglich ihrer Darstellung jüdischer Geschichte, in: Deutsch-Israelische Schulbuchempfehlungen, Frankfurt am Main 1992, 42–71. Schatzker, Chaim: Juden, Judentum und Staat Israel in den Geschichtsbüchern der DDR, Bonn 1994 Schatzker, Chaim: Juden und Judentum in den Geschichtsbüchern der Bundesrepublik Deutschland, in: Thomas Lange (Hrsg): Judentum und jüdische Geschichte im Schulunterricht nach 1945. Bestandsaufnahmen, Erfahrungen und Analysen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Israel, Wien/Köln 1994, 37–47. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung: Lehrplan für das Gymnasium in Bayern, online verfügbar unter http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/ g8.de/index. php?Story ID26390, Stand 7. Januar 2015.

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht Eine Unterrichtssequenz zur Geschichte der deutschen Sprache im Mittelalter Ira Noss 1

Einleitung

„Sprache untersuchen, verwenden und gestalten“1 heißt ein Kompetenzbereich im gymnasialen G8-Lehrplan des Deutschunterrichts für Bayern. Die Sprachbetrachtung bringt den Schülern2 die Geschichtlichkeit der Muttersprache nahe und weckt ihr kritisches Interesse an Veränderungen in der Gegenwartssprache. Die Beschäftigung mit Sprachgeschichte und Sprachwandel fördert und vertieft das sprachliche Verständnis und das Sprachbewusstsein der Schüler. Mit der Einführung der G8Lehrpläne ist eine breitere kultur- und sprachgeschichtliche Behandlung des Sprachwandelphänomens aber einer fakultativen vertiefenden Behandlung gewichen. Die meisten Lehrbücher greifen in der 7. Jahrgangsstufe die Themen Bedeutungswandel und Bedeutungsübertragung auf und enthalten zumindest kurze Sequenzen zu den Ursprüngen der deutschen Sprache und zur Entwicklung des Wortschatzes. Die Didaktik vermittelt den Lehramtsstudenten, dass variierende Sozialformen, abwechslungsreiche Methoden und spielerische Unterrichtsverfahren die Motivation und die Bereitschaft der Schüler fördern, sich aktiv am Lernen zu beteiligen. Das gilt, wie in jedem Unterrichtsfach, vor allem für Lerninhalte, an denen der Schüler (und auch Lehrer) inhaltlich meist wenig Anreiz findet, wie bei sprachwissenschaftlichen Themen. Im Rahmen eines Seminars „Sprache im Wandel – Sprache im Unterricht“ an der LMU München wurde der Sprachwandel im Deutschen im Hinblick auf die Umsetzbarkeit an der Schule und in Anbindung an die aktuellen Lehrpläne in Bayern thematisiert. Dass ein Interesse für Sprachwandelphänomene sowie das Erreichen der gesteckten kognitiven und affektiven Ziele auch in Form eines Stationentrainings erreicht werden kann, zeigen Auszüge aus der durchgeführten Unterrichtssequenz zur Geschichte der deutschen Sprache im Mittelalter in der siebten Jahrgangsstufe.

1 2

http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26291 [8.4.2015]. In diesem Aufsatz wird bei allgemeinen Aussagen auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung verzichtet und das generische Maskulinum verwendet.

348

2

2.1

Ira Noss

Konkretes Beispiel aus der Unterrichtspraxis. Didaktischmethodische Vorbemerkungen Zeitansatz und Konzeption des Stationentrainings

Für die hier vorgestellte Unterrichtssequenz sind zehn Unterrichtsstunden angesetzt, die sich in drei Teile gliedern: Die zweistündige Einführungsphase beinhaltet vor allem eine Erklärung der möglichen Arbeits- und Sozialformen, die Aushändigung der Laufzettel und das Vorstellen der einzelnen Stationen und Materialien.3 Die Arbeitsphase, in der die Schüler die zwölf Stationen bearbeiten sollen, umfasst sieben Unterrichtsstunden. Beendet wird der Übungszirkel mit einer einstündigen Schlussphase, die eine Auswertungs- und Evaluationsphase beinhaltet. Ein großes Thema im Deutschunterricht in der gymnasialen Mittelstufe ist das Vertrautwerden mit den Stoffen des Mittelalters. Es empfiehlt sich, hier an das in diesem Lesealter vorhandene Interesse an den Stoffen des mittelalterlichen Epos anzuknüpfen. Die themenorientierte Herangehensweise erleichtert es zudem, die älteren Texte gezielt zu neueren in Beziehung zu setzen, wie es das Grundwissen vorsieht. Häufig werden als Lektüre Jugendbücher wie „Parzival“ von Auguste Lechner oder „Der Brief für den König“ von Tonke Dragt gelesen, die den thematischen Schwerpunkt des Mittelalters aufgreifen. Mit der Angliederung des Stationentrainings an diverse mittelalterliche Lektüren wird zum einen der Tatsache Rechnung getragen, dass die Schüler bereits mit der mittelalterlichen Thematik vertraut sind, und zum anderen aber auch offen sind für weiterführende Auseinandersetzungen mit dieser Epoche. Sie können sprachliche Besonderheiten nun gut mit der Epoche verknüpfen oder Entwicklungen nachvollziehen. Gleichzeitig leitet dieses Stationentraining zur Geschichte der deutschen Sprache über zur Vorbereitung auf weitere Unterrichtssequenzen zur Grammatik. Bei der Konzeption des Stationentrainings werden mehrere Ebenen berücksichtigt: Verschiedene Sozialformen, verschiedene Lerntypen und eine inhaltliche Differenzierung kommen zum Tragen. Dem Laufzettel, den die Schüler erhalten, kann eine Übersicht über die Stationen und die geforderten Sozialformen entnommen werden. Um einen Eindruck zu vermitteln, welche Bereiche einbezogen wurden, werden alle Stationen abgebildet, jedoch oft nur in Ausschnitten bzw. stark verkürzt. Bei einigen Stationen erhalten die Schüler jeweils zunächst ein Grundlagen-Arbeitsblatt, auf dem das wesentliche Wissen zu den Lautverschiebungen vermittelt wird. Wichtig ist vor allem bei den spielerischen Übungsformen eine wiederholte Beschäftigung mit der jeweiligen Station, um den erwünschten Übungseffekt zu erreichen. 3

Die Materialien sollten verschiedene Lexika beinhalten wie Namenslexika, Ethymologische Wörterbücher, Universalwörterbücher, Fremdwörterbücher.

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

Stationentraining Laufzettel für das Stationentraining Name: _______________________________ Station

Sozialform

I) Verkehrssprachen der Erde

obligatorisch

frei wählbar

II) Die indoeuropäische Sprachfamilie

obligatorisch

frei wählbar

III) Die 1. oder germanische Lautverschiebung

obligatorisch

Partnerarbeit

IV) Die 2. oder hochdeutsche Lautverschiebung

a) obligatorisch

frei wählbar

b) fakultativ

Partnerarbeit

V) Vom Ahd zum Mhd

a) obligatorisch

frei wählbar

b) fakultativ

Partnerarbeit

c) fakultativ

Partnerarbeit

a) obligatorisch

Partnerarbeit

b) fakultativ

Partnerarbeit

a) obligatorisch

frei wählbar

b) fakultativ

frei wählbar

c) fakultativ

frei wählbar

VI) Vom Mhd zum Nhd

VII) Erb-, Lehn-, Fremdwörter

VIII) Entwicklungsphasen der dt. Sprache

obligatorisch

Hausaufgabe

bearbeitet am

bearbeitet mit

Fehleranzahl

349

350

Ira Noss

Station

IX) Bedeutungswandel

X) Redewendungen

Sozialform a) obligatorisch

frei wählbar

b) obligatorisch

frei wählbar

obligatorisch

frei wählbar

XI) Woher kommen a) obligatorisch unsere Namen? b) fakultativ XII) Brettspiel

2.2

obligatorisch

bearbeitet am

bearbeitet mit

Fehleranzahl

Gruppenarbeit frei wählbar Gruppenarbeit

Stationen

I. Station: Verkehrssprachen der Welt → Recherchiere im Internet oder in einem Sprachatlas eine Weltsprachenkarte! Formuliere mögliche Kernaussagen dieser Karte! → Auf der Erde werden ca. 10.000 Einzelsprachen gesprochen. Begründe, warum auf Weltsprachenkarten meist nur wenige Sprachen verzeichnet sind! → Finde mögliche Ursachen dafür, warum europäische Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch auch in anderen Erdteilen so weit verbreitet sind! → Die deutsche Sprache wird weltweit von ca. 110 Millionen Menschen gesprochen. Beurteile ihren Stellenwert! → Englisch, zurzeit von ca. 1,5 Milliarden Menschen gesprochen, wird nach Meinung von Sprachwissenschaftlern die wichtigste Sprache des 21. Jahrhunderts sein. Nenne Gründe für die Bedeutung der englischen Sprache!

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

351

II. Station: Die indoeuropäische Sprachfamilie Sprachen, die durch Herkunft und Geschichte miteinander verwandt sind, sich also auf eine Ursprache, aus der sie sich entwickelt haben, zurückführen lassen, werden in Sprachfamilien zusammengefasst. Heute gibt es auf der Erde einige hundert Sprachfamilien, denen alle bekannten Sprachen zugeordnet werden können. Das Lateinische und das Germanische z.B. gehören zu derselben Sprachfamilie. Man nimmt an, dass die Urform dieser Sprachfamilie vor etwa 6000 Jahren von einem Volk im Mündungsgebiet der Donau und nördlich des Schwarzen Meeres gesprochen wurde. Alle Sprachen, die sich aus der Ursprache entwickelt haben, fasst man unter dem Oberbegriff indoeuropäische Sprachfamilie zusammen, innerhalb derer die romanischen Sprachen eine eigene Gruppe bilden. Auch das Deutsche gehört zur indoeuropäischen Sprachfamilie, die von Indien bis Europa reicht und mehr als zwei Milliarden Sprecher umfasst. → Recherchiere im Internet oder in einem Sprachatlas eine Karte, die das Verbreitungsgebiet der indoeuropäischen Sprachen zeigt! Beschreibe was auf der Karte zu sehen ist und beschreibe dabei die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen auf der Erde! III. Station: Die erste (germanische) Lautverschiebung – Grundlagen Im Laufe der Entwicklung einer Sprache können nach bestimmten Regeln Konsonanten und/oder Vokale in andere umgewandelt werden. Diese Lautwandelphänomene bezeichnet man als Lautverschiebung. Die deutsche Sprache lässt sich in ihrer Entwicklung in verschiedene Sprachstufen einteilen:4 Indoeuropäisch

ca. 3. Jahrtausend v. Chr.

erste Lautverschiebung

Germanisch

ca. 1.–6. Jahrhundert

zweite Lautverschiebung

Althochdeutsch

ca. 700–1050

Mittelhochdeutsch

ca. 1050–1350

Frühneuhochdeutsch

ca. 1350–1650

Neuhochdeutsch

ca. 1650–heute

Bei der Entwicklung von einer Stufe zur nächsten lassen sich verschiedene charakteristische Erscheinungen feststellen.

4

Vgl. Wort & Co 8 2006, 102 und Bergmann/Pauly/Moulin-Fankhänel 1999, 126ff.

352

Ira Noss

Eine wichtige Veränderung findet beim Übergang vom Indoeuropäischen zum Germanischen statt. Diese 1. oder germanische Lautverschiebung zeigt sich in allen germanischen Sprachen und betrifft besonders die Konsonanten:5 Indogermanisch b

d

g

p

T

K

Germanisch

p

t

k

f

þ (wie engl. ,th‘)

ch/h

Beispiele:

„Apfel“

„zwei“

„Knie“

„viel“

„drei“

„Herz“

ohne Lautverschiebung

keltisch: aball altslaw.: abluko

latein: duo polnisch: dwa

hethitisch: genu latein.: genu

indogerm.: *pelu griech.: polý

griech.: treis latein.: tres

griech.: kardía latein.: cor

mit Lautverschiebung

engl.: apple niederl.: appel altsächs.: æppel

engl.: two niederl.: twee dänisch: to

engl.: knee gotisch.: kniu schwed.: knä

altengl.: feala althochdt.: filu altfriesisch: fëlo

engl.: three altsächs.: thria gotisch: þreis

engl.: heart gotisch: hairto altnord.: hjarta

III. Station: Die erste (germanische) Lautverschiebung In der folgenden Tabelle sind einige Wortbeispiele aus den indoeuropäischen Sprachfamilien einigen Beispielen aus den germanischen Sprachen, in denen sich die erste Lautverschiebung zeigt, einander gegenüber gestellt. → Verbindet die entsprechenden Wortpaare miteinander und erklärt euch gegenseitig, wo sich die Durchführung der ersten Lautverschiebung bei den konsonantischen Veränderungen zeigt! indoeuropäische Sprachfamilien

germanische Sprachen

lat. centum

dt. kalt

indogerm. kornu

dt. Vater

lat. gelidus

dt. hundert

lat. pater

dt. Horn

5

http://www.stefanjacob.de/Geschichte/Unterseiten/Sprachgeschichte.htm [Stand: 8.4.2015].

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

indoeuropäische Sprachfamilien

germanische Sprachen

lat. gula

dt. Vieh

lat. pecus

dt. Kehle

353

IV. Station: Die zweite (hochdeutsche) Lautverschiebung – Grundlagen Durch die 2. oder hochdeutsche Lautverschiebung gliedert sich das Deutsche aus dem Germanischen aus. Die Veränderung beginnt im oberdeutschen Sprachraum, dem heutigen Süddeutschland, und bedingt die Entstehung des Althochdeutschen. Im niederdeutschen Sprachgebiet, dem heutigen Norddeutschland, das von der 2. Lautverschiebung nicht betroffen ist, entwickelt sich das Altniederdeutsche. Die Veränderungen der 2. Lautverschiebung betreffen unter anderem die folgenden Konsonanten:6 Germanisch

v

ð (wie engl. ,th‘)

g (wie j/ch)

p

t

k

Althochdeutsch

b/p

d/t

g/k

pf/f

tz/ss

ch/h

Beispiele:

„Rabe“

„Vater“

„Gast“

„Pfeife“

„Straße“ „Buch“

ohne Lautengl.: raven verschiebung niederl.: raaf dänisch: ravn

engl.: father altnord.: faðir gotisch: faðar

altfries.: jest niederl.: gast (gesprochen ,ch‘)

engl.: pipe niederl.: pijp dänisch: pibe

altengl.: stræt niederl.: straat dänisch: stræde

engl.: book niederl.: boek altsächs.: bôk

mit Lautmittelverschiebung hochdt.: rab oder rapp

althochdt.: fater

althochdt.: mittelgast hochdt.: pfiif(e)

althochdt.: strâzza

mittelhochdt.: buoch

6

http://www.stefanjacob.de/Geschichte/Unterseiten/Sprachgeschichte.htm [Stand: 8.4.2015].

354

Ira Noss

IV. a Station: Die zweite (hochdeutsche) Lautverschiebung Zu den germanischen Sprachen, die die 2. Lautverschiebung nicht durchgeführt haben, gehört das Englische. → Erläutere dies, indem du den folgenden englischen Wörtern ihre deutsche Übersetzung gegenüberstellst: make apple pound water time eat open two foot milk

→ Suche aus dem folgenden niederdeutschen Gedicht7 alle Wörter mit p, t und k heraus, bei denen offensichtlich die 2. Lautverschiebung nicht durchgeführt wurde. Martha Müller-Grählert (1876–1939): Mine Heimat Wo de Ostseewellen trecken an den Strand, Wo de gele Ginster bleuht in’n Dünensand, Wo de Möwen schriegen, grell in’t Stormgebrus, – Da is mine Heimat, da bün ick tau Hus. Well- und Wogenrunschen, wir min Weigenlied, Un de hogen Dünen, seg’n min Kinnertied, Seg’n uch mine Sehnsucht, un min heit Begehr, In de Welt tau fleigen öwer Land un Meer.

7

http://www.gedichte-lyrik-poesie.de/Mueller-Graehlert_Mine_Heimat/index.html [8.4.2015].

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

355

Woll het mi dat Leben dit Verlangen stillt, Het mi allens geben, wat min Herz erfüllt, Allens is verswunden, wat mi quält un drew, Hev nu Frieden funden, doch de Sehnsucht blew. Sehnsucht na dat lütte, stille Inselland, Wo de Wellen trecken an den witten Strand, Wo de Möwen schriegen grell in’t Stormgebrus, – Denn da is min Heimat, da bün ick tau Hus. Bsp: ick

ich

IV. b Station: Die zweite (hochdeutsche) Lautverschiebung → Erkläre deinem Partner, inwiefern bei den Wörtern der folgenden Karte8 die Regel der 2. Lautverschiebung wirksam geworden ist!

Gliederung der deutschen Dialekte nach den Grenzen der 2. Lautverschiebung 8

Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. Mit Grafiken von Hans-Joachim Paul. © 1978, 1994, 2007 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 64.

356

Ira Noss

V. a Station: Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen Althochdeutsch: Fater unser, thū thar bist in himile, sī giheilagot thīn namo, quemo thīn rihhi, sī thīn uuillo, sō her in himile ist, sō sī her in erdu unsar brot tagalihhaz gib uns hiutu … Mittelhochdeutsch: Got vater unser, da du bist in dem himelrîche (…) geheiliget so werde dîn nam, zuo müeze uns komen das rîche dîn. Dîn wille werde (…) hie uf der erde als in den hîmeln (…) nû gip uns unser tegelîch brot (…) → Vergleiche die beiden Texte miteinander und ermittle die Veränderungen des Deutschen vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen hinsichtlich des Vokalismus (den Gesamtbestand der Vokale einer Sprache betreffend) und des Konsonantismus (den Gesamtbestand der Konsonanten einer Sprache betreffend)! V. b Station: Die Aussprache des Mittelhochdeutschen Ir sult sprechen willekomen: der iu mære bringet, daz bin ich. allez daz ir habt vernomen, daz ist gar ein wint: nû frâget mich. ich wil aber miete: wirt mîn lôn iht guot, ich gesage iu lîhte daz iu sanfte tuot. seht waz man mir êren biete.

Ihr sollt ‚Willkommen‘ sprechen: Der, der euch Neuigkeiten bringt, das bin ich. Alles was Ihr bisher erfahren habt, das ist belanglos: Nun fragt mich. Ich verlange aber Lohn. Fällt meine Belohnung gut aus, sage ich Euch vielleicht das, was Euch gefällt. Überlegt, was man mir an Ehren bietet.

→ Stelle mithilfe der Übersetzung Vermutungen darüber an, wer diesen Text gesprochen haben könnte! Hinweise zur Aussprache: − Ein Vokal ohne besondere Kennzeichnung wird im Mittelhochdeutschen immer kurz ausgesprochen. − Das Zeichen ^ gibt an, dass der Vokal lang zu sprechen ist. − Folgen zwei Vokale aufeinander, werden sie jeweils getrennt gesprochen. − Das Zeichen æ entspricht dem Umlaut ä. − Die Kombination iu wird als langes ü gesprochen. → Versuche nun den Text nach den Regeln richtig auszusprechen!

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

357

V.c Station: Das Nibelungenlied Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren von grôzer arebeit, von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget îr nu wunder hœren sagen. Ez wuohs in Búrgónden ein vil édel magedîn, daz in allen landen niht schœners mohte sîn; Kríemhílt was si geheizen: si wart ein schœne wîp. dar umbe muosen degene vil verlíesen den lîp. Worterklärungen: mære

Kunde, Nachricht, Bericht, Erzählung

wunders vil

viel Wunderbares

lobebære

lobenswert, löblich

arebeit

Mühe, Mühsal

hôchgezît

hohes Fest, höchste Freude

recke

Abenteurer, Krieger, Held

muget

könnt

vil

sehr

edel

adlig, von vornehmem Stand

magedîn

Jungfrau

wîp

Frau

muosen

mussten

degen

Krieger, Held

lîp

Leben, Leib

→ Übersetze die beiden Strophen, mit denen das mittelalterliche Nibelungenlied beginnt, mithilfe der Worterklärungen! → Suche die mittelhochdeutschen Wörter heraus, die ihre Bedeutung verändert haben!

358

Ira Noss

VI. Station: Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen – Grundlagen Bei dem lautlichen Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen lassen sich folgende Veränderungen beobachten: Veränderung bei den Vokalen Dehnung in offener Tonsilbe (=betonte Silbe, die mit einem Vokal auslautet):

edel > edel

Kürzung in Nebensilbe (oder Schwinden des Vokals):

arebeit > Arbeit

Abstoßen von Endungsvokalen:

frouwe > Frau

Diphthongierung (=Doppellaut aus langem Vokal):

zît > Zeit

Monophthongierung (=Einfachlaut aus Doppellaut):

muot > Mut

Veränderung bei den Konsonanten Ausgleichserscheinungen innerhalb der Konjugation der Verben: s zu r:

mhd. was – wâren > nhd. war – waren

z entwickelt sich nach kurzem Vokal, neben Konsonanten und im Auslaut zu stimmlosem s/ss:

daz > das/ dass

VI. a Station: Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen – Vokalismus Mittelhochdeutsch: Got vater unser, da du bist in dem himelrîche (…) geheiliget so werde dîn nam, zuo müeze uns komen das rîche dîn. Dîn wille werde (…) hie uf der erde als in den hîmeln (…) nû gip uns unser tegelîch brot (…) Neuhochdeutsch: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser täglich Brot gib uns heute (…) → Wodurch unterscheidet sich der mittelhochdeutsche Text vom heutigen Deutsch? Achtet besonders auf den Vokalismus! → Übertrage folgende mittelhochdeutschen Beispiele ins Neuhochdeutsche und benenne die jeweiligen Lautveränderungen:

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

Mittelhochdeutsch

Neuhochdeutsch

359

Lautveränderung

li-ebe gu-ote brü-eder

mîn niuwes (gesprochen: nüwes) hûs

VI. b Station: Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen – Domino9 Welcher lautliche Wandel vollzieht sich jeweils vom mittelhochdeutschen Wort zur neuhochdeutschen Bedeutung?

Monophthongierung

hûs

Diphthongierung

muot

Monophthongierung

muoter

Monophthongierung

wît

Diphthongierung

suochen

Monophthongierung

güete

VII.a Station: Erbwörter – Lehnwörter – Fremdwörter Ihrer Herkunft nach unterscheidet man: Erbwörter

Lehnwörter

Fremdwörter

Wörter, die zum eigenen Bestand der deutschen Sprache seit den Anfängen der germanischen Stämme gehören: Burg; Weg

Wörter, die aus anderen Sprachen übernommen sind, aber die Laut- und Formgestaltung deutscher Wörter angenommen haben: Pfalz; Straße

Wörter, die fast oder völlig unverändert ins Deutsche übernommen sind: Palais; Chaussee

9

Diese Station ist hier sehr gekürzt dargestellt. Die Schüler erhalten beim Bearbeiten der Station paarweise je einen Satz Spielsteine auf entsprechenden Arbeitsblättern, die sie entlang der Linien noch ausschneiden müssen. Die Anzahl der Spielsteine kann von der Lehrkraft in beliebigem Umfang erstellt werden.

360

Ira Noss

→ Ordne folgenden lateinischen Ursprungswörtern jeweils das entsprechende deutsche Lehnwort zu und verbinde sie miteinander! (Zu einem Ursprungswort können auch mehrere Lehnwörter gehören.) pavo

Pforte

planta

Pfeiler Pfau

propositus

Pilger

peregrinus

Pflanze Probst

tegula

Pilgrim

pila

Pfeffer

porta

Pein

poena

Pfirsich

persicum (malum)

Pfeil

puteus (=Brunnen)

Ziegel

pilum

Portal

piper

Pfütze

→ Nenne die Bedeutungsfelder, zu denen die Lehnwörter jeweils gehören!

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

361

→ In dem folgenden Gitterrätsel verbergen sich 20 Fremdwörter. Notiere sie in der Tabelle und erkläre ihre Bedeutung – gegebenenfalls mithilfe eines Fremdwörterlexikons. D

X

S

Q G T

H P

U

M

S

H G T

C

A

E

Y

F

A

Q

T

R

E

T

A

E

D O H T

S

S W Y

R E

R

Y

R M R

B M

B

S

I

L

E K

T

G U

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T

I

K O L O N V

D

R

V

T

A

K

S

U H B

E

U C W E

N

T

R

E

I

L

K

I

T

A M M A

R G

F

E

H

T

F

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Y

A

D

A

I

F

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M B G M

J

L

N

U

D G

P

A S

E M

A

T

N W

J

L

K

J

N

T

I

D

I

T

U

D

E

X N U M

E

R A

L

E D

F

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N

I

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H

Y

A C

O

Z

I

X

P

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Z

T

R

T

E M V

O

A O L H

T

N

I

R

Y

B

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L

J

A

H

I

M

R

T

R

E

V

I

N U N

U

Y W S

E

Y

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L

K

I

Z

D

W U

T

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V

L S

I

E

R D G

F

N

I

D

T

A

J

Z

B

V X

Z

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Y

V E

R

B U M X

E

P

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I

O M H K U

H

T

J

T

E

S

T

A M

E

N

T

R

L

E

F

K Q

N

P

T

F

N

G T D

X

I

K

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B

D

T

P

O D A

O

A G O L O R

K

E

N

S

N

C

F

G U L

J

V

S

S

E

N

E

H

L

T

E

R R A

VII. b Station: Erbwörter – Lehnwörter – Fremdwörter Ihrer Herkunft nach unterscheidet man: Erbwörter

Lehnwörter

Fremdwörter

Wörter, die zum eigenen Bestand der deutschen Sprache seit den Anfängen der germanischen Stämme gehören: Burg; Weg

Wörter, die aus anderen Sprachen übernommen sind, aber die Laut- und Formgestaltung deutscher Wörter angenommen haben: Pfalz; Straße

Wörter, die fast oder völlig unverändert ins Deutsche übernommen sind: Palais; Chaussee

362

Ira Noss

→ Schlage in einem etymologischen Wörterbuch nach, aus welchen Sprachen folgende Lehnwörter stammen: Ziegel Mauer Keller Frucht Spiegel Zucker Kristall Zitrone Samt Konto Bank Summe Risiko

→ Übersetze mit Hilfe eines Lexikons folgende Fremdwörter ins Deutsche: dividieren sich engagieren formal generell fair Differenz Adresse Journalismus

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

363

VII. c Station: Erbwörter – Lehnwörter – Fremdwörter → Recherchiere im Internet den Artikel „Datenretter“ (http://www.geo.de/GEOlino/technik/datenretter-4162.html)10. → Der Artikel enthält eine Fülle von Begriffen und Ausdrücken aus der ComputerFachsprache, die aus dem Englischen stammt. Schreibe fünf Fachwörter heraus und informiere dich in einem Lexikon oder Fachbuch, was sie bedeuten. → Schlage in einem Fremdwörterbuch nach, um die Bedeutung der folgenden Wörter zu ermitteln: Monteur Ingenieur Jargon Eklat Parterre

VIII. Station: Die Entwicklungsphasen der deutschen Sprache im Überblick – Hausaufgabe Erstelle auf einem DIN A3-Blatt eine Zeitleiste, die von ca. 700 n.Chr. bis heute reicht. Ordne den Zeitangaben auf dieser Leiste historische Daten zu, die im Zusammenhang mit bedeutenden Persönlichkeiten oder Ereignissen stehen. (Zum Beispiel: Kaiser Karl der Große, Friedrich Barbarossa, Friedrich der Große, Luther, Goethe, Schiller, Büchner, G. Hauptmann, Th. Mann, Reformation, Dreißigjähriger Krieg, Französische Revolution, Kreuzzüge, Christianisierung der Germanen.) Es kann sich bei diesen Eintragungen um Lebensdaten, besondere Leistungen oder Auszeichnungen handeln.

10

Der Artikel kann von den Schülern im Internet recherchiert werden unter folgendem Link: http://www.geo.de/GEOlino/technik/datenretter-4162.html [8.4.2015].

364

Ira Noss

IX. Station: Bedeutungswandel – Grundlagen Im Lauf der Zeit haben sich nicht nur die Schreibweise und die Aussprache der Wörter verändert, sondern auch deren Bedeutung. Verändert ein Wort im Lauf seiner Geschichte seine Bedeutung, nennt man dies Bedeutungswandel. Dabei kann sich die Bedeutung in unterschiedlicher Weise verändern, sodass wir verschiedene Arten des Bedeutungswandels unterscheiden: Bedeutungsverengung

Der Bedeutungsumfang ist kleiner geworden dadurch, dass noch weitere, spezialisierende Merkmale zu dem ursprünglichen Inhalt gekommen sind. Das Wort „muos“ bezeichnete im Mittelhochdeutschen alle Arten von Speisen. Heute versteht man darunter nur noch eine breiartige Speise.

Bedeutungserweiterung

Der Umfang hat sich vergrößert, da inhaltlich spezifizierende Merkmale weggefallen sind. Das mittelhochdeutsche Wort „horn“ bezeichnete nur das Horn des Tieres. Heute gebrauchen wir das Wort zur Bezeichnung vieler Gegenstände, z.B. Horn des Tieres, Horn als Blasinstrument, Horn als Trinkgefäß.

Bedeutungsverbesserung

Das mittelhochdeutsche Wort „marschalc“ (Marschall) bedeutete Pferdeknecht. Heute bezeichnet dieses Wort einen sehr hohen militärischen Rang.

Bedeutungsverschlechterung

Die Bedeutung eines Wortes ist vom moralischen, sozialen oder stilistischen Gesichtspunkt aus „schlechter“ geworden und enthält oft eine negative Wertung. Das mittelhochdeutsche Wort „wīp“ (Weib) bezeichnete ursprünglich die Frau. Heute wird es oft eher abwertend gebraucht.

Bedeutungsverschiebung

Wenn ein sprachliches Bild ganz verblasst ist, sodass die ursprüngliche konkrete Bedeutung nur noch abstrakt ist, kann man von Bedeutungsverschiebung sprechen. Ein Beispiel hierfür ist das Wort „Flaschenhals“: Die Bezeichnung für den Körperteil „Hals“ wird hier auch auf nichtmenschliche Objekte (den „Flaschenhals“) übertragen.

Wenn wir wissen wollen, welche Bedeutung ein Wort ursprünglich hatte, müssen wir ein etymologisches Wörterbuch (Herkunftswörterbuch) zu Hilfe nehmen. Die Etymologie (von griechisch étymos = wahr und logos = Wort) gehört zur Sprachwissenschaft und befasst sich mit der Suche nach der Herkunft und der Geschichte unserer Wörter.

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

365

IX.a Station: Bedeutungswandel – „stehen“ Neue Wörter können dadurch entstehen, dass man Wortinhalte ändert, während der Wortkörper erhalten bleibt: Man greift auf vorhandene Wörter zurück, verbindet aber mit dem Wortkörper eine neue Bedeutung, einen neuen Bewusstseinsinhalt: Das Buch fällt auf den Boden. – Eine Entscheidung fällt.

Johann Peter Hebel: „stehen“ „Wie steht es um deine Gesundheit, mein Freund – um meine Gesundheit stünde es gut, aber in der Türkei stehen die Sachen schlecht. Der Feind steht im Lager von Rumelien; Adrianopel steht auf dem Spiel, so wenigstens steht es in der Zeitung …“ → Erkläre jeweils die Bedeutung des Verbs „stehen“, indem du Beispielsätze mit der jeweiligen Bedeutung bildest! (Verwende auch die Lexika!) → Finde weitere Redewendungen oder Ausdrücke, in denen „stehen“ nicht im eigentlichen Sinn verwendet wird! (Verwende auch die Lexika!)

IX. b Station: Bedeutungswandel – Was soll das bedeuten? → Bestimme die heutigen Bedeutungen der folgenden Wörter! Recherchiere, wie sich die Bedeutung dieser Wörter im Laufe der Zeit verändert hat. Nutze dazu die Nachschlagewerke! frühere Bedeutung Hochzeit Minister Mut Spießbürger Herberge Sache albern Dirne Fräulein

heutige Bedeutung

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Ira Noss

frühere Bedeutung

heutige Bedeutung

fertig elend Frauenzimmer

→ Ordne die Wörter einer der Arten von Bedeutungswandel zu! Bedeutungsverengung

Bedeutungserweiterung

Bedeutungsverschiebung

Bedeutungsverschlechterung

Bedeutungsverbesserung

X. Station: Redewendungen aus dem Mittelalter Redewendungen arbeiten mit sprachlichen Bildern und übertragenen Wortbedeutungen. Dadurch lassen sich bestimmte Verhaltensweisen oder Sachverhalte sehr lebendig und anschaulich darstellen. Die Herkunft vieler Redewendungen liegt in den Lebensbereichen der Vergangenheit (Rittertum, Handel, Handwerk).

→ Informiere dich in den Nachschlagewerken oder im Internet über die Herkunft und Bedeutung der folgenden Redewendungen: Das ist kein Beinbruch Brief und Siegel auf etwas geben Jemandem den Fehdehandschuh hinwerfen Für jemanden durchs Feuer gehen

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

367

XI. a Station: Woher kommen unsere Namen? – Vornamen der Klasse → Lies das Vorwort im Lexikon der Vornamen.11 → Welche verschiedenen Wurzeln unserer Namen werden genannt? → Gestaltet ein Wandplakat: Übertragt die Grafik auf ein Plakat, benennt die Wurzeln und ergänzt einige passende Beispielnamen! → Ordnet weitere Vornamen aus eurer Klasse ein! Notiert Namen, bei denen ihr Schwierigkeiten habt, zunächst separat! XI. b Station: Woher kommen unsere Namen? – Die Bedeutung germanischer Vornamen Friedrich, Wilhelm, Heidrun und Hildegard – das sind germanische Namen. Wie sind diese Namen entstanden? Die Vornamen germanischer Herkunft sind häufig aus zwei Wörtern zusammengesetzt und sollten ursprünglich auf herausragende Eigenschaften und Vorzüge des Trägers hinweisen.Theoderich (diotirîche) z.B. besteht aus den Wortbestandteilen „ein Mann im Volk“ und „mächtig“. Häufige Wortbestandteile sind außerdem: adal = edel; bert = glänzend; brant = Schwert; er(a) = Ehre; fried = Schutz, Friede; hard = stark; hlut, mari = berühmt; wig, gund, gang, hadu, hiltia = Kampf; heri = Heer; traut, trut = vertraut, lieb. Aus der Kombination dieser und anderer Wortbestandteile entstanden eine Vielzahl germanischer Namen. → Erkläre folgende Vornamen: Dietrich Dietmar Erhard Erich Hildebert Hildetraut Hadubrand Edeltraut Gunda

11

Duden 1998, 11–35.

368

Ira Noss

→ Welche Lebensbereiche scheinen bei den germanischen Namen im Vordergrund zu stehen? → Welche Rückschlüsse auf die vorherrschende Gedankenwelt bei den Germanen lassen sich daraus ziehen? XII. Station: Die Besonderheit der Station XII besteht darin, dass die Schüler in die Ausarbeitung und Erstellung der Spielpläne integriert wurden. In der Einführungsphase wurde der Klasse das Arbeitsblatt mit der Spielanleitung ausgehändigt und der Arbeitsauftrag erteilt, zu zweit oder in kleinen Gruppen möglichst zeitnah und unter Berücksichtigung der von der Lehrkraft vorgegebenen Aktionsfelder Spielpläne zu kreieren. Diese Spielpläne können sich an den gelesenen Lektüren orientieren oder aber unabhängig von mittelalterlichen Jugendbüchern die Thematik des Mittelalters aufgreifen. Die Aktionskarten werden von der Lehrkraft erstellt, um eine inhaltliche Lernzielsetzung vorzugeben. Das Brettspiel enthält verschiedene Aufgabentypen, die entsprechend abgebildet sind. Die Glückskarten, die von der Lehrkraft erstellt werden, ergänzen die Aktionskarten und nehmen entscheidend Einfluss auf den Verlauf des Spiels. Als „Joker“ können sie von den Schülern beliebig aufbewahrt und bei schwierigeren Aufgaben eingesetzt werden. Auf Lösungen zu den einzelnen Aktionskarten ist bei dieser Station bewusst verzichtet worden. Der Grund hierfür ist, dass die Schüler bei dieser Station die auf dem Materialtisch ausgelegten Lehrbücher, Lexika und Nachschlagewerke benutzen dürfen. Dank der in den Spielverlauf integrierten zahlreichen Fragekarten, haben sie außerdem die Möglichkeit, sich mit Fragen an Mitspieler oder die Lehrkraft zu wenden. Die Schüler können nach Belieben außerdem Ereigniskarten gestalten, über die sie den Spielverlauf zusätzlich beeinflussen können. Als Anregung hierzu können Ausschnitte aus „Parzival“ oder „Brief für den König“ oder auch Texte oder Abbildungen aus dem Geschichtsbuch dienen. Im Folgenden werden in Auszügen verschiedene Kartentypen vorgestellt:

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

369

XII. Station: Brettspiel – Aktionsfelder !

Bearbeite eine Karte!

?

Nimm dir eine Glückskarte vom Stapel!

Mönch

Bei deinem nächsten Aktionsfeld darfst du einen Mitspieler deiner Wahl um Rat fragen!

Pferd

Du hast dein müdes Pferd gegen ein neues eingetauscht. Rücke ein, zwei, … Spielfeld(er) vorwärts!

Ritterrüstung

Du hast Teile deiner Ausrüstung verloren. Du wirst ein, zwei, … Spielfeld(er) zurückgeschickt!

Bierkrug

Du kommst an einem Wirtshaus vorbei und setzt eine Runde aus.

Schriftrolle

Du kannst die Aktionskarte nicht beantworten? Dann darfst du jetzt eine Informationsquelle deiner Wahl (Grammatik, Fremdwörterlexikon, Mitschüler, Lehrer) heranziehen.

XII. Station: Brettspiel – Glückskarten Ein Mönch begegnet dir auf deiner Reise. Frage einen Mitschüler um Rat!

Du hast dein müdes Pferd Du darfst auf einer Kutsche gegen ein neues eingetauscht. mitfahren. Rücke ein Feld Rücke zwei Felder vor! vor!

Du findest eine Schriftrolle Du hast Teile deiner ritterliund darfst das „Nachschlage- chen Ausrüstung verloren. werk“ zu Rate ziehen! Geh ein Feld zurück!

Du hast Teile deiner ritterlichen Ausrüstung verloren. Geh zwei Felder zurück!

XII. Station: Brettspiel – Aktionskarten: Erkläre die 2. Lautverschiebung…! Zu den germanischen Sprachen, die die 2. Lautverschiebung nicht mitgemacht haben, gehört das Englische. Erläutere deinen Mitspielern dies, indem du folgendem englischen Wort die deutsche Übersetzung gegenüberstellst: make

Zu den germanischen Sprachen, die die 2. Lautverschiebung nicht mitgemacht haben, gehört das Englische. Erläutere deinen Mitspielern dies, indem du folgendem englischen Wort die deutsche Übersetzung gegenüberstellst: apple

Zu den germanischen Sprachen, die die 2. Lautverschiebung nicht mitgemacht haben, gehört das Englische. Erläutere deinen Mitspielern dies, indem du folgendem englischen Wort die deutsche Übersetzung gegenüberstellst: pound

370

Ira Noss

XII. Station: Brettspiel – Aktionskarten: Erkläre den lautlichen Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen…! Erläutere deinen Mitspielern den lautlichen Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen, indem du folgendem mittelhochdeutschen Wort die neuhochdeutsche Bedeutung gegenüberstellst: hûs

Erläutere deinen Mitspielern den lautlichen Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen, indem du folgendem mittelhochdeutschen Wort die neuhochdeutsche Bedeutung gegenüberstellst: sîn

Erläutere deinen Mitspielern den lautlichen Wandel vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen, indem du folgendem mittelhochdeutschen Wort die neuhochdeutsche Bedeutung gegenüberstellst: muot

XII. Station: Brettspiel – Aktionskarten: Stelle folgende Redewendung pantomimisch dar …! Stelle folgende Redewendung Stelle folgende Redewendung Stelle folgende Redewendung pantomimisch dar: pantomimisch dar: pantomimisch dar: etwas im Schilde führen in Harnisch geraten für jemanden eine Lanze brechen

3

Fazit

Die Unterrichtssequenz hat gezeigt, dass sich in der 7./8. Jahrgangsstufe des Gymnasiums konkrete Anknüpfungsmöglichkeiten an den Literatur- und Grammatikunterricht bieten. Anhand einiger Stationen wurde deutlich, wie den Schülern der gymnasialen Mittelstufe die Geschichte der deutschen Sprache im Mittelalter vermittelt werden kann und welche Schwerpunkte und sprachwissenschaftlichen Aspekte hierbei berücksichtigt werden können. In dem hier vorgestellten Stationentraining wird den Schülern eine gegenwartssprachliche Kompetenz abverlangt. Eingebettet in historische Dimensionen müssen sie ein Verständnis für Sprachwandel entwickeln und erhalten Einblick in wesentliche Mechanismen der Sprachwandelprozesse. Es würde zu weit führen, bei den Schülern der Klassen, die das Stationentraining durchlaufen haben, bereits eine linguistische Analyse- und Erklärungsfähigkeit als Teilziel anzusetzen oder gar feststellen zu wollen. Die Auswertungsgespräche mit den 7. Klassen zeigen aber, dass es einigen Schülern bereits in der Mittelstufe durchaus gelingt, ein erstes intuitives Verständnis von Sprachwandel zu entwickeln und Grundkenntnisse in den Sprachwandelprozessen zu erlangen. Wichtig wäre es gerade bei diesen Schülern, an den ersten Erfahrungen anzuknüpfen und ein vertieftes Verständnis der Entwicklungsprozesse durch konstante Auseinandersetzung mit der Thematik bis zur gymnasialen Oberstufe zu fördern.

Die Bedeutung des Sprachwandels für den Deutschunterricht

371

Literaturverzeichnis Lehrbücher und Nachschlagewerke Deutschbuch 7. Sprach- und Lesebuch. Gymnasium Bayern. Herausgegeben von Wilhelm Matthiessen, Bernd Schurf und Wieland Zirbs. Erarbeitet von Johann Anetzberger, KarlHeinz Brauner, Gertraud Fuchsberger-Zirbs, Michael Gollnau, Martin Hann, Andrea Mahlendorff, Wilhelm Matthiessen, Christl Ostertag, Gerhard Ruhland, Johanna Schlagbauer, Ina Schmidt, Annegret Schneider und Konrad Wieland. Unter Beratung von Kurt Finkenzeller und Rainer Meisch, 2. Auflage, Berlin 2006. Duden. Lexikon der Vornamen. Herkunft, Bedeutung und Gebrauch von mehreren Tausend Vornamen, 3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage von Rosa und Volker Kohlheim, Mannheim u.a. 1998. EinFach Deutsch. Unterrichtsmodell. Sprachursprung, Sprachskepsis, Sprachwandel. Diskussionen über die Sprache von Herder bis heute. Erarbeitet von Frank Schneider. Herausgegeben von Johannes Diekhans, Paderborn 2011. Kombi-Buch Deutsch 7. Lese- und Sprachbuch für Gymnasien. Herausgegeben von Karla Müller unter Mitarbeit von Gottlieb Gaiser. Bearbeitet von Ursula Hartmüller, Vera Hölzl, Markus Knebel, Markus Kondert, Oliver Kriegsmann, Elke Langendorf, Karla Müller, Armin Stadler und Silke Zeller, Bamberg 2005. Kursthemen Deutsch. Sprachwandel und Sprachvarietäten: Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Herausgegeben von Dietrich Erlach und Bernd Schurf. Erarbeitet von Gerd Brenner und Angela Mielke, Berlin 2011. Verstehen und Gestalten B8. Arbeitsbuch für Gymnasien. Ausgabe B. Band 8 (8. Jahrgangsstufe). Herausgegeben von Dieter Mayer und Gerhard Schoebe. Bearbeitet von Arthur Bartle, Rolf Oehl, Karl Track, Hubert Schießl, Lieselotte Schoebe, Gerhard Schoebe, 2. Auflage, München 1997. Verstehen und Gestalten F7. Arbeitsbuch für Gymnasien. Ausgabe F. Band 7 (7. Jahrgangsstufe). Herausgegeben von Konrad Notzon. Bearbeitet von Arthur Bartle, Wolfgang Bick, Karin Comfere, Christine Debold, Konrad Notzon, Ulrike Paschek, Christiane von Schachtmeyer und Eva Schrumpf. Unter Beratung von Ulrike Sheldon und Heinrich Pfuhlmann, München 2005. Verstehen und Gestalten F8. Arbeitsbuch für Gymnasien. Ausgabe F. Band 8 (8. Jahrgangsstufe). Herausgegeben von Konrad Notzon. Bearbeitet von Wolfgang Bick, Karin Comfere, Christine Debold, Konrad Notzon, Ulrike Paschek, Juliane Quent, Christiane von Schachtmeyer, Christoph Schappert und Eva Schrumpf. Unter Beratung von Ulrike Sheldon und Heinrich Pfuhlmann, München 2006. Wort & Co 7. Sprachbuch für Gymnasien. Erarbeitet von Andreas Hensel, Ulrike Korb, Frank Kubitza, Anja Kühn, Gerhard Loh, Gabriele Mages und Alois Mandl. Überarbeitet von Claudia Högemann und Reinhild Miedzybrocki, Bamberg 2005. WortArt 7. Sprachbuch für Gymnasien in Bayern. Herausgegeben von Prof. Dr. Claus Ensberg. Erarbeitet von Bernhard Emer, Prof. Dr. Claus Ensberg, Marc Hupfer, Ina Kästel, Dr. Gabriele Paule und Peter Waltner, Braunschweig 2005. Wort & Co 8. Sprachbuch für Gymnasien. Erarbeitet von Andreas Hensel, Markus Knebel, Ulrike Korb, Frank Kubitza, Anja Kühn, Gerhard Loh, Alois Mandl und Karla Müller. Überarbeitet von Claudia Högemann und Reinhild Miedzybrocki, Bamberg 2006.

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Ira Noss

Wortlaut. 7. Jahrgangsstufe. Sprachbuch für Gymnasien. Herausgegeben von Hans Gerd Rötzer und Rudolf Schmitt. Bearbeitet von Wolfgang Gast, Hans Gerd Rötzer, HansJoachim Schamriß, Rudolf Schmitt und Hubert Ulmer, Bamberg 1994. Wortlaut. 8. Jahrgangsstufe. Sprachbuch für Gymnasien. Herausgegeben von Hans Gerd Rötzer und Rudolf Schmitt. Bearbeitet von Wolfgang Gast, Barbara Krisl-Kaiser, Norbert Langer, Heinrich Pfuhlmann, Hans Gerd Rötzer, Hans-Joachim Schamriß, Rudolf Schmitt und Hubert Ulmer, Bamberg 1995.

Sekundärliteratur Akademie für Lehrerfortbildung (Hrsg.): Freies Arbeiten am Gymnasium. Band 1. Materialien mit Anregungen für die Durchführung im Fach Deutsch. Teil A und B, Dillingen 1999. Bauer, Roland: Schülergerechtes Arbeiten in der Sekundarstufe I: Lernen an Stationen, Berlin 1997. Bergmann, Rolf/Pauly, Peter/Moulin-Fankhänel, Claudine: Alt- und Mittelhochdeutsch, Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte, Göttingen 1999. van Dick, Lutz: Freie Arbeit – Offener Unterricht – Projektunterricht – Handelnder Unterricht – Praktisches Lernen. Versuch einer Synopse, Pädagogik 6/91, 31–34. Groß, Engelbert (Hrsg.): Freies Arbeiten in weiterführenden Schulen. Hinführung, Begründung, Beispiele, Donauwörth 1992. Hegele, Irmintraut (Hrsg.): Lernziel: Stationenarbeit. Eine neue Form des offenen Unterrichts, Weinheim/Basel 1999. Knapp, Annelie: Lernzirkel, in: Willy Potthoff: Lernen und üben mit allen Sinnen – Lernzirkel in der Sekundarstufe. Mit Beiträgen von Ralph Hepp, Wilmar Jakober, Annelie Knapp, Elke Meyer, Karin Oehler, Anette Pillich-Krogoll, Heinz Zimmermann, Freiburg 1996, 106–115. König, Werner/Elspaß, Stephan/Möller, Robert: dtv-Atlas Deutsche Sprache, München 2015. Weinert, Franz E.: Notwendige Methodenvielfalt. Unterschiedliche Lernfähigkeiten erfordern variable Unterrichtsmethoden, Friedrich Jahresheft 15, 1997, 50–52.

Internetadressen Lehrplan für das bayerische Gymnasium. Fachlehrplan für Deutsch: http://www.isb-gym8lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26291 [8.4.2015] http://www.linse.uni-due.de/kuntermund_loewenmaul/etymologie_html/bereiche/ bedeutungswandel/bed01.htm [8.4.2015] http://www.payer.de/kommkulturen/kultur0301.gif [7.4.2015] http://www.stefanjacob.de/Geschichte/Unterseiten/Sprachgeschichte.htm [8.4.2015] http://www.weikopf.de/files/indogerman._sprachen.gif [8.4.2015] http://www.gedichte-lyrik-poesie.de/Mueller-Graehlert_Mine_Heimat/index.html [8.4.2015] http://www.geo.de/GEOlino/technik/datenretter-4162.html [8.4.2015]

Register Ahtila, Eija-Li 246 Aitken, Doug 246 Betonungsmuster 73, 75f. Bildung 11, 13, 64, 101, 113f., 117, 119– 124, 132, 175, 177, 232, 259, 261, 269, 281, 283, 285–287, 290, 319f., 322, 324–326, 335, 338, 340 Bildung, ästhetische 11, 119, 171 Bildung, politische 13, 268, 284– 286, 340 Lehrerbildung 9f., 12f., 114, 123, 161, 186, 200–204, 207f., 210, 241, 274f., 280, 284f. Binnendifferenzierung 56, 185–187, 192 Brand, Martin 12, 118, 212–219, 221– 224, 226f., 229 Cicero, Marcus Tullius 10, 19–23, 25f., 27–35, 39–43, 45–59 Computerspiel 12, 161–168, 170–175, 178 Computerspielforschung (Gamestudies) 161, 163, 166 Desiderat 171, 294, 300 Dialekt 14, 91, 94f., 143, 322–335, 355 Didaktik 9f., 14, 36f., 108, 115, 185, 196, 267, 271, 278–283, 285, 297, 304, 322, 326f., 337, 347 Chemiedidaktik 13, 267, 269–283 Hochschuldidaktik 192 Lektüredidaktik, altsprachliche 36 Literaturdidaktik, themenorientierte (TOLD) 121 Mediendidaktik 170, 259 Differenzierung 31, 131, 135f., 175, 186, 190, 327, 341, 348 Doppellektüre 21, 27 Ecocriticism 113, 115f. E-Learning 205, 209, 307 Environmental doublethink 113, 115 Ergodic Literature 168 Erklärkraft 102 Erzähltheorie 182

Essay 23, 294, 297, 299–302 Feedback, kollegiales 14, 291f. Filmanalyse, neoformalistische 184 Fix, Martin 309 Forschungskolloquium 278 Funktionalität/Funktion 11, 15, 20, 25, 55, 62, 92, 94, 106, 110, 114, 120, 125f., 129–132, 135, 137, 139f., 150, 154f., 166, 168f., 174–177, 270, 284, 297, 303, 312, 314, 319, 322, 324, 329 Gebrauchsstandard 11, 81–95, 97 Geocaching 273 Geschichte 9, 14, 19, 23f., 35, 67, 116, 130, 166, 227, 275, 312, 333, 337– 342, 344f., 347f., 351–353, 364, 370 Geschichte, jüdische 14, 337–340, 344f. Opfergeschichte 338, 340, 342 Verfolgungsgeschichte 14, 338, 345 Graphem-Phonem-Beziehung 73f. Habitus 126f., 129f., 132, 138, 186 Harris, Robert 10, 19, 21–23, 25–34, 39 Haskala 344, 346 Heldenreise 169f., 172 Hypertext 310 Wiki 14, 294–308 Wissensnetzwerke 294, 296f., 300, 306 Identität 11, 19, 125f., 128–132, 138, 141, 149f., 155, 212, 216f., 221, 251, 257, 261, 322, 324, 329, 331, 334, 337 Innovationen 9, 274, 279 Interaktionsmodell 83, 91, 95f. Judäa 343 Kiezdeutsch 85, 93–95 Kommunikation 20, 40, 84, 128f., 131, 137, 143f., 147f., 151–155, 238, 240, 255, 260, 272, 277, 307, 312f., 320, 324, 327, 329, 331, 334

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Register

Kompetenz 11f., 37, 86, 114, 118–120, 144, 154, 177, 180, 190f., 203f., 206, 212, 238, 267, 269, 294, 300, 319, 327, 370 Kompetenz, literarische 179 Schreibkompetenz 294f., 297, 306 Spielkompetenz 175, 180 Vermittlungskompetenz 203 Kooperation 11, 129, 137, 186, 200, 205, 207f., 231, 234f., 238–241, 306f., 327, 333 Kunstbetrachtung 233f., 236f., 259 Kunstpädagogik 12f., 212, 231–234, 239, 243, 259, 261, 263 Kunstvermittlung 213f. Lautwandel 63, 72 Lehneinfluss 70, 76 Lehneinfluss, französischer 68, 70, 75, 78 Lehneinfluss, romanischer 76 Lehneinfluss, skandinavischer 68f. Lehrerfortbildung 207–209, 269f., 274, 343 Lehr-Lernkontexte 11, 125f., 129–131, 133, 136, 138–140, 150, 154f. Lehrplan-Plus 238 Lernen 66, 68, 78, 101f., 104, 106, 108, 111, 121, 123, 130, 136–138, 155, 185, 187, 189, 192, 203f., 206, 210, 228, 260, 269, 281, 287, 294–296, 302, 305f., 327, 347 Lernen, kooperatives 309 Lernen, lebenslanges 204f. Lern-Materialien 185f. Lernwerkstatt 12, 185–187, 190–192 Materialentwicklung 192f. Mayr, Maximilian 138, 150, 343 Medienkritik 319 Mehrsprachigkeit, innere 90, 327, 329, 331, 334 Methoden/Methodik 14f., 37, 65, 118, 133, 136, 141, 161, 163f., 166, 170, 199, 207, 213, 215, 237, 285, 288, 291, 301, 304, 309, 322f., 326, 330f., 337, 339, 347 Mischwortschatz 68

Mittelalter 109, 340, 347f., 366, 368, 370 Mittelhochdeutsch 351, 356, 358f., 364, 370 Mundart 326, 329, 331, 334 Mündlichkeit, fingierte 321 Musikunterricht 12, 198–210, 260 Nachhaltigkeit 116f., 122f. Nachwuchsförderung 268 Nähe-Distanz-Modell 312f., 319f. Netzwerk 12, 198, 200–210, 262, 305, 307 NuFormer 247 Obermaier, Klaus (& Ars Electronica Futurelab) 248 Octavianus, Gaius 38, 57 Oursler, Tony 249 Pedagogical content knowledge 100, 190 Percept-Phase 236–238 Persönlichkeit 11, 25f., 29, 59, 130, 138, 149f., 152, 226, 300, 339, 363 Perspektivität 109, 111 Philippische Reden 61 Plessi, Fabrizio 250 Plutarch 25, 30, 56f. Politikwissenschaft 285 Politische Theorie 13, 284, 286 Professionalisierung 11, 127, 129, 140, 149, 152, 210 Projektarbeit 10, 12, 216, 228, 334 Pullo, Titus 38, 50–52, 54f., 58 Referendariat 186, 231, 240f., 280 Reflexion 10f., 15, 22–25, 76, 78, 114, 126, 128, 131, 133, 135–138, 140– 144, 149–153, 155, 163, 173, 178, 186f., 189, 192, 194, 196, 202, 204f., 231, 233, 237–241, 263, 291, 302, 304, 327 Reflexionsfähigkeit 172, 204f. Rhetorik 19f., 35, 42f., 128 Robinsohn, Saul B. 340 Roman, historischer 21, 25f. Rome (TV-Serie, DVD) 10, 28, 33, 36– 39, 41, 45f., 50, 52, 54, 58 Schatzker, Chaim 339–341 Schreiben 54, 226, 295–303

Register

Schreiben, essayistisches 295, 299 Schreiben, kollaboratives 14, 294 Schreiben, prozessorientiertes 297 Schreibprozess 296, 298, 300, 304 Sozialkunde 284f., 333 Sozialwissenschaften 285 Sprachbewusstheit 64f., 67, 110, 130 Sprachbewusstsein 11, 63f., 67, 78, 82, 95f., 319, 325, 347 Sprachfamilie 349, 351f. Sprachkontakt 63, 66, 68f., 87 Sprachvarietäten 11, 81–95, 97, 143f., 322f., 327–329 Sprachvergleich 64, 66, 69, 71, 77f. Sprachwandel 11, 15, 63, 81–88, 90– 93, 96, 311, 347, 370 Sprechstil 11, 125–130, 132–136, 138, 140f., 144, 148–155 Standardsprache 82–84, 325, 335 Stationentraining 15, 347–349, 370 Team-Teaching 232f. Unserdeutsch 14, 330, 332–334 Unterricht 10, 12, 14, 20, 27, 36, 42, 49, 66, 78, 100–102, 104, 110, 119, 122, 155, 161, 171, 187f., 198–200, 202, 204f., 208–210, 215, 233, 239, 272, 274, 279, 281, 283f., 287, 319, 324f., 327f., 330, 333, 335, 339f., 342–345, 347

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Chemieunterricht, fachsprachensensibler 270 Englischunterricht 11, 62–67, 74f., 77, 185, 188, 190, 192, 194 Lateinunterricht 19, 37, 109 Musikunterricht 12, 198–210, 260 Unterrichtsprinzipien 237, 290, 326f. Unterrichtsqualität 150, 283 Urteilsbildung, politische 284 Variationenverschiebung 83–85 Vernetzung 9f., 12, 15, 67, 78, 200, 203f., 207, 209f. Videoinstallationen 13, 243–245, 251, 253, 256, 259 Villa Stuck (München) 12, 212, 214, 216, 218 Viola, Bill 247 Vokalverschiebung, Große 72, 74 Wissen 9, 12f., 25, 64, 74–76, 78, 100– 103, 110f., 113f., 121, 123, 139, 146, 151, 175, 179, 188–191, 193, 196, 200, 202, 209f., 231, 237, 243, 251– 253, 256, 263, 268f., 275, 279, 284, 286, 288, 294, 296, 299f., 306, 319, 326, 328, 334, 338, 342, 344, 348 Wissen, fachliches 100–102, 111 Wissen, institutionelles 100 Wissen, personales 100f. Wissenschaftsjournalismus 270 Xing, Yan 245