148 20 66MB
German Pages 320 Year 1982
Linguistische Arbeiten
123
Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Eva Mayerthaler
Unbetonter Vokalismus und Silbenstruktur im Romanischen Beiträge zu einer dynamischen Prozeßtypologie
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek MayerthalcE, Eva:
Unbetonter Vokalismus und Silbenstruktur im Romanischen : Beitr. zu e. dynam. Prozesstypologie / Eva Mayerthaler. Tübingen : Niemeyer, 1982. (Linguistische Arbeiten ; 123) NE:GT ISBN 3-484-30123-6
ISSN 0344-6727
) Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder leite daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: fotokop Wilhelm Weihert KG, Darmstadt.
Für meine Eltern und Willi
VII
INHALT
Vorwort
X
Symbole
XII
Verzeichnis der Abkürzungen
XIII
1. EINLEITUNG 1.
Allgemeine Vorbemerkungen zur Phonologietheorie
1.1.
Überlegungen zum Objektbereich
der Arbeit
Grundsätzliche Überlegungen zur Standortbestimmung der Arbeit im Rahmen verschiedener Ansätze in der Linguistik 1 . 2 . 1 . Idiolektale und polylektale Grammatik
1
1.2.
1 . 2 . 2 . Synchronie und Diachronie 1 . 2 . 3 . Hypothesen, Beschreibung und Erklärung Nähere Ausführungen zum phonologietheoretischen Rahmen 1 . 3 . 1 . Generative Phonologie 1 . 3 . 2 . Die Markiertheitstheorie als Modell für universelle segmentale Natürlichkeit 1 . 3 . 3 . Natürliche generative Phonologie
5 6 10 12
1.3.
14 14 17 2O
1 . 3 . 4 . Das Modell der "Entwicklungsphonologie" 1.4. Beziehungen zwischen der Phonologie von Einzelsprachen und phonologischen Teiltypologien
3O
1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.5.
31 34 34
2. 2.1.
Das dynamische und das typologische Pattern Segmentale Typologie Prozeßtypologie Anmerkungen zur Beziehung zwischen Phonologie und Morphologie Allgemeine Vorbemerkungen zum unbetonten Vokalismus Natürliche Prozesse beim unbetonten Vokalismus
31
35
38
2 . 1 . 1 . Probleme der Begrifflichkeit
38
2 . 1 . 2 . Einige Prozeßtypen im Einzelnen
43
2.2.
Beziehungen zwischen Sprachtyp, Silbenstruktur und Vokalismus
5O
2.3. 2.4.
Probleme der Silbenstruktur 53 Die Funktion des Akzents im phonologischen Wandel ... 58
3.
Hypothesen zur Veränderung des unbetonten Vokalismus aus dem Bereich der allgemeinen Romanistik 6O
VIII
II. HAUPTTEIL 1. Das Verhalten unbetonter Vokale im Bündnerromanischen Allgemeine Vorbemerkungen 1.1.
1.2. 1.3.
66
Die verwendeten Arbeiten zum Bündnerromanischen (Datenbasis)
68
Methodische Anmerkungen zur Aufbereitung der Daten
72
1.4.
Analyse des Vortonvokalismus
1.4.1.
Die Synkope von Vortonvokalen "Entwicklungsphonologie"
im Modell der 73
1 . 4 . 1 . 1 . Erster Schritt: Welches Muster ergeben die synchron vorliegenden Daten?
74
1 . 4 . 1 . 2 . Exkurs: Wiederherstellung des Vortonvokals im Untereng, durch nicht-linguistische Faktoren? ....
99
1 . 4 . 1 .3. Erstellung eines Pattern für alle Konzepte
103
1 . 4 . 1 . 4 . Zweiter Schritt: Implikationen zwischen den Kontexten
107
1 . 4 . 1 . 5 . Dritter Schritt: Formulierung einer gradienten Regel
109
1 .4.1.6.
111
1.4.2.
Kontextfreie Prozesse im Vortonvokalismus des Surselvischen
1 . 4 . 2 . 1 . Ein Fall ohne Veränderung: lt.
/!/
1 . 4 . 2 . 2 . Palatalisierung und Entrundung: lt.
118 119
/u/
119
1 . 4 . 2 . 3 . "Ausnahmen"
120
1 . 4 . 2 . 4 . Zielsegmente und Prozesse bei labialen Vortonvokalen und Diphthongen
130
1 . 4 . 2 . 5 . Zielsegmente und Prozesse bei palatalen Vortonvokalen und Diphthongen und /a/
137
1 .4.3.
Kontextsensitive Prozesse
1 . 4 . 3 . 1 . Labialisierung
148
1 . 4 . 3 . 2 . Dissimilation
154
1 . 4 . 3 . 3 . Dissimilation erzeugt eine charakteristische 164 Alternationsklasse des Surselvischen 1.4.4. Funktionale Analyse der bisher festgestellten 173 Prozesse 1.4.5. Abschwächung von labialen Vortonvokalen zu l»] ohne dissimilatorischen Kontext - eine Ausnahme? . 176 1.4.6.
Bemerkungen zu Zielstrukturen
190
1.5.
Anmerkungen zur Entwicklung von Vokalen in Nachtonsilben
198
IX
1.5.1. Apokope in historisch zugrundeliegenden Paroxytona .. 1.5.2. Synkope und Apokope in historisch zugrundeliegenden Proparoxytona 1.5.3. Gradienter Charakter von Synkope und Apokope in Proparoxytona 1.5.4. Zum Zusammenwirken von Tilgung und Epenthese in Nachtonsilben 1.6. Mögliche Evidenz für die Silbifizierung im Surs. und Engad. aus der Entwicklung des akzentuierten Vokalismus 2.
198 2OO 204 207
208
Silbenstrukturverändernde Prozesse in italienischen Dialekten
2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8. 2.8.1. 2.8.2. 2.8.3. 2.8.4. 2.9.
III
Vorbemerkung Synkope des Vortonvokals Überblick über affizierte Vokale Die Synkope palataler Vortonvokale Anmerkungen zu qualitativen Prozessen im Vortonvokalismus Zusammenfassung Synkope von Nachtonvokalen Apokope finaler Vokale Hierarchie der Tilgungsprozesse bei Nachtonvokalen .. Epenthetische Prozesse Übersicht über die resultierenden Silben- und Akzentstrukturen Klassifikation der Dialekte nach ihren Zielstrukturen Klassifikation unter dem Gesichtspunkt der Phonotaktik Klassifikation unter dem Gesichtspunkt der Silbenstruktur Klassifikation unter dem Gesichtspunkt der Akzentstruktur . Versuch einer typologischen Einordnung Funktionale Interpretation von Prozessen und Zielstrukturen
214 215 217 233 237 240 241 243 247 248 256 257 259 26O 261 264
ERGEBNISSE
1. 2.
Markiertheitswerte für unbetonte Vokale Thesenartige Zusammenfassung
268 270
3.
Abschließende und weiterführende Überlegungen
277
Anhang
279
Literatur
293
VORWORT
In der vorliegenden Arbeit* werden verschiedene phonologische Prozesse (Abschwächung, Tilgung und Epenthese) untersucht, die im Laufe der historischen Entwicklung einiger bündnerromanischer und italienischer Dialekte eingetreten sind. Wir verstehen dies als Beitrag zu einer phonologischen Teiltypologie insofern, als wir der Frage nachgehen, ob typische Gruppierungen (im günstigsten Fall: Implikationen) zwischen den genannten Prozessen, der Silbenstruktur und den Akzentverhältnissen der jeweiligen Dialekte feststellbar sind. Die Arbeit mit Dialektdaten und mit phonologischen Prozessen, die von Akzentverhältnissen abhängen, konfrontieren den Phonologen unausweichlich mit dem Problem der sprachlichen Variation. Aus diesem Grund wird die Untersuchung in dem theoretischen Rahmen der "dynamischen" oder "Entwicklungsphonologie"gestellt, wie sie im wesentlichen - herausgewachsen aus der Kreolistik und der historischen Linguistik in soziolinguistischer Perspektive - von Ch.-J. Bailey formuliert wurde. Dieser phonologietheoretische Ansatz verleiht nämlich dem Phänomen der sprachlichen Variation einen systematischen Status. Mit der detaillierten Analyse des unbetonten Vokalismus eines bündnerromanischen Dialekts, des Surselvischen, glauben wir, über die Beschreibung der obengenannten phonologischen Probleme hinaus exemplarisch auch wichtige Beziehungen zwischen phonologischer und morphologischer Entwicklung aufzuzeigen. Zu Dank verpflichtet bin ich all denjenigen, die zum Zustandekommen dieser Arbeit beigetragen haben, insbesondere meinem Doktorvater, Prof. Dr. H. Stimm (Universität München), auf den viele wichtige Hinweise, besonders im Bereich des Bündnerromanischen, zurückgehen, sowie Prof. Dr.Dr. Ch.-J. Bailey (TU Berlin) * Die Arbeit wurde im Frühjahr 1981 als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität, München, angenommen.
XI
und Dr. W . U . Wurzel (Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin)· für viele Gespräche über Probleme der Phonologie und Morphologie. Die mühevolle Arbeit der Erstellung des Manuskripts wurde von Riki Wieser (Klagenfurt) mit Akribie und Sachkunde bewältigt. Danken möchte ich besonders meinem Mann, nicht nur wegen vieler Stunden anregender Diskussion, sondern auch für die Kooperation bei der Erziehung und Betreuung unseres Sohnes, ohne die diese Arbeit nicht hätte beendet werden können. Grafenstein, im April 1982
XII
Symbole: Großbuchstaben bezeichnen Etyma / /:
zugrundeliegende Formen oder Zwischenformen, die bei phonologischen Ableitungen auftreten
£ 3 : phonetische Oberflächenformen # : Silbengrenze ^3 : Implikation —* : phonologischer Prozeß i > F . : der phonologische Prozeß P . , in dem diese Symbolkette auftritt, wird gradient umso eher angewendet, je mehr sich das Vorzeichen des Merkmals F. dem Wert "+" nähert. Bei dreiwertigen Merkmalen z . B . wird P . in der Reihenfolge "- F . ,
F . , + F . " zunehmend stärker.
< = F . : P. wird umso stärker, je mehr sich das Vorzeichen des Merkmals F..^ dem Wert "-" nähert.
Phonetische Transkription; 8
stimmloser mediopalataler Laut wie in surs. tgasa
g
stimmhafter mediopalataler Laut wie in surs. gidar
l, r, n
silbische Sonoranten
}., r, p
stimmlose Sonoranten
Die übrigen verwendeten Zeichen entsprechen der API
XIII
Verzeichnis der Abkürzungen 1. Sprachen, Dialekte und Regionen:
afz. Bas. bg. dt. em., Em. eng., engad. frank. fz. germ. got. it. k a l . , Kai. kamp., Kamp. katal. käst. lig., Lig. lomb., Lomb. monf. obereng. piem., Piem. romagn. s i z . , Siz. surm. surs. suts. tosk., Tosk. umbr., Umbr. untereng. ven., Ven.
altfranzösisch Basilicata bergünerisch deutsch emilianisch, Emilia engadinisch fränkisch französisch germanisch gotisch italienisch kalabresisch, Kalabrien kampanisch, Kampanien katalanisch kastilisch ligurisch, Ligurien lombardisch, Lombardei monferrinisch oberengadinisch piemontesisch, Piemont romagnolisch sizilianisch, Sizilien surmeirisch surselvisch sutselvisch toskanisch, Toskana umbrisch, Umbrien unterengadinisch venezianisch, Venezien
2. Wörterbücher: AGI
Archivio Glottologico Italiano
DRG FEW REW
Dicziunari Rumantsch Grischun Französisches Etymologisches Wörterbuch Romanisches Etymologisches Wörterbuch
I.
EINLEITUNG
1. Allgemeine Vorbemerkungen zur Phonologietheorie 1.1. Überlegungen zum Objektbereich
der Arbeit
Das Unterfangen, phonologische Phänomene romanischer Dialekte in einen Zusammenhang mit Fragestellungen über typologische phonologische Eigenschaften natürlicher Sprachen zu bringen, kann sich natürlich nicht auf die gesamte Phonologie erstrecken; wir haben daher als Untersuchungsobjekt einen Teilbereich ausgewählt, nämlich den unbetonten Vokalismus. Zwei Gründe lassen u.E. diesen Bereich als lohnend für eine Analyse mit der oben erwähnten Zielrichtung erscheinen. Einmal zeigt das Verhalten unbetonter Vokale sowohl in der historischen Entwicklung als auch in synchronen Prozessen interessante Zusammenhänge mit der Silbenstruktur und der rhythmischen Organisation von Sprachen. Obwohl diese Zusammenhänge in unserer Arbeit keiner endgültigen Klärung zugeführt werden können, werden sie doch in einer Weise thematisiert, wie dies bisher innerhalb der Romanistik allenfalls andeutungsweise geschehen ist. Der zweite Grund liegt darin, daß Systeme, Prozesse und historische Entwicklungen, die den unbetonten Vokalismus betreffen, in den Darstellungen romanischer Sprachen meist viel kürzer und globaler abgehandelt werden als der betonte Vokalismus und der Konsonantismus; auch existieren über diesen Datenbereich weniger
Einzeluntersuchungen.
l So z . B . im Rahmeri e i n e r s y n c h r o n e n G r a m m a t i k k o n z e p t i o n bei Malmberg (1965) und Delattre ( 1 9 6 6 ) . Bei der historischen Analyse der Entwicklung des lt. Vokalsystems wird oft der Akzent als auslösender Faktor angesehen. Einen Zusammenhang zwischen der E n t w i c k l u n g des Vokalismus und der Silbenstrukt u r s t e l l e n W e i n r i c h ( 1 9 5 8 ) u n d Kiss ( 1 9 7 2 ) h e r , a l l e r d i n g s g l e i c h f a l l s ohne g e n a u e r e A n a l y s e d e s u n b e t o n t e n V o k a l i s m u s . Siehe d a z u auch A b s c h n i t t 3 . , S . 6 O f f .
Eine Ausnahme hierzu bilden teilweise die großen romanischen Standardsprachen, die deshalb auch aus der Untersuchung ausgeklammert oder höchstens von Fall zu Fall komparativ herangezogen werden. Arbeiten über die Phonologie kleinerer Sprachen und Dialekte im Bereich der Romanistik kommen anfangs entweder von der sprachgeographischen oder von der historischen Richtung her. Der erste Typ umfaßt die Dokumentation eines bestimmten Dialekts, die mit Hilfe eines Questionnaires und Tonbandaufnahmen erarbeitet wird. Diese Art von Feldarbeit ist in der Romanistik auf Grund des frühen Interesses für Sprachgeographie 2 und Dialektologie bekanntlich schon recht alt und hat einen ihrer prominentesten Niederschläge im AIS (ab 1928) gefunden. Diese Materialsammlungen haben meist eine onomasiologische Zielrichtung und sind deshalb vom phonologischen Gesichtspunkt her sehr atheoretisch angelegt; sie bedienen sich oft einer impressionistischen Transkription und bieten im wesentlichen Listen von Wörtern und Satzgliedern. Auf deskriptive Aus2 Da der s p r a c h g e o g r a p h i s c h e A s p e k t in u n s e r e r A r b e i t nur e i n e untergeordnete Rolle spielt, möchten wir h i e r f ü r nur auf R o h l f s ( 1 9 7 1 ) v e r w e i s e n , w o sich a u c h w e i t e r e L i t e r a t u r a n gaben f i n d e n ; e i n e W ü r d i g u n g d e r s p r a c h g e o g r a p h i s c h e n A r b e i t innerhalb der Romanistik bietet auch die E i n f ü h r u n g von Vidos ( 1 9 6 8 ) . 3 Vgl. zu dieser Problematik Jaberg ( 1 9 2 7 ) . Einen deutlichen K o n t r a s t z w i s c h e n r e i n i m p r e s s i o n i s t i s c h e r u n d q u a s i p h o n e m i s c h e r T r a n s k r i p t i o n b i e t e t d e r A I S selbst j e w e i l s i n den Transkriptionen von Scheuermeier und R o h l f s . Scheuermeier unterscheidet z . B . beim betonten Vokalismus zwischen s i e b e n H ö h e n s t u f e n , w a s wohl s e l b s t f ü r e i n e n g e ü b t e n P h o n e tiker an der Grenze der P e r z i p i e r b a r k e i t liegen d ü r f t e . W a l berg ( 1 9 O 7 ) gibt f ü r d e n b e t o n t e n V o k a l i s m u s d e s D i a l e k t s von C e l e r i n a sechs H ö h e n s t u f e n an; es ist e v i d e n t , daß man b e i A r b e i t e n d i e s e s Typs ü b e r w i e g e n d m i t a l l o p h o n i s c h e n D a ten k o n f r o n t i e r t wird, da sie eine Unterscheidung zwischen p h o n e t i s c h e r und p h o n e m i s c h e r Ebene n i c h t k e n n e n . So gibt es z . B . in der g e g e n w ä r t i g e n U n i v e r s a l i e n f o r s c h u n g eine Ü b e r e i n s t i m m u n g d a r ü b e r , d a ß n a t ü r l i c h e S p r a c h e n n i c h t mehr a l s vier p h o n e m i s c h e H ö h e n s t u f e n u n t e r s c h e i d e n ( s . Donegan ( 1 9 7 8 ) , Lindau ( 1 9 7 8 ) und Crothers ( 1 9 7 8 ) ) .
sagen über Kontraste, Phonotaktik und Alternationen wird in 4 vielen Arbeiten dieser Art verzichtet. Ein (Oberflächen-)Phoneminventar findet sich - entsprechend dem theoretischen Rahmen - erst in Untersuchungen, die vom Strukturalismus geprägt sind; systematische Angaben über phonotaktische Regularitäten, Akzentuierung und Alternationen fehlen aber auch in diesen häufig. Publikationen im Rahmen der generativen Phonologie oder einer ihrer Varianten haben in der Mehrzahl das Französische als Objektbereich; generative Arbeiten über einzelne Dialekte sind noch recht selten. Der zweite Typ von Untersuchungen legt das Hauptgewicht auf die historische Entwicklung eines Dialekts vom Vulgärlatein zum modernen Zustand, beschränkt sich dabei zumeist auf die Lautgeschichte (gelegentlich wird auch die Morphologie behandelt) , und arbeitet im Rahmen eines junggrammatischen Para4 Es gibt auch A u s n a h m e n h i e r z u , z . B . die A r b e i t von Pagani ( 1 9 1 8 ) , die das Vorkommen von bestimmten Lauten in Abhängigk e i t vom K o n t e x t b e h a n d e l t und d a m i t I n f o r m a t i o n e n über die W o r t s t r u k t u r l i e f e r t , oder d i e b e m e r k e n s w e r t e p i e m o n t e s i s c h e Grammatik von Aly-Belfadel ( 1 9 3 3 ) , die eine wahre Fundgrube f ü r A l t e r n a t i o n e n e n t h ä l t ; aber auch solche h e r a u s r a g e n d e L e i s t u n g e n e n t s p r i n g e n eher e i n e r I n t u i t i o n d e r A u t o r e n , a l s daß sie von e i n e m b e s t i m m t e n t h e o r e t i s c h e n R a h m e n a b g e l e i t e t würden. 5 So z . B . bei K r a m e r ( 1 9 7 2 ) , wo für das S u r s e l v i s c h e auss c h l i e ß l i c h eine L i s t e von Oppositionen a n g e g e b e n w i r d . Wes e n t l i c h e r g i e b i g e r sind s ä m t l i c h e Bände des " P r o f i l o dei dialetti italiani", in denen, ebenfalls in strukturalistischem R a h m e n , p r ä z i s e A n g a b e n über d a s P h o n e m i n v e n t a r , d i e Wort- und A k z e n t s t r u k t u r der beschriebenen Dialekte geliefert werden. 6 F ü r w e i t e r e L i t e r a t u r z u m F r z . möchten w i r h i e r n u r a u f K l a u senburger ( 1 9 7 9 ) verweisen. Beispiele für Beiträge zu roman i s c h e n D i a l e k t e n a u f g e n e r a t i v e r Basis sind z . B . C l i v i o (1971; piemontesisch), Forner (1975; g e n u e s i s c h ) , Kaiman ( 1 9 7 2 ; s u r s e l v i s c h ) , Stimm ( 1 9 8 O ; h i s t o r i s c h e M o r p h o p h o n o l o gie des S u r s e l v i s c h e n ) sowie v e r s c h i e d e n e A u f s ä t z e in J. C a s a g r a n d e u n d B . Saciuk ( H r s g . 1 9 7 2 ) , M . S a l t a r e l l i u n d D . Wanner (Hrsg. 1975) und M . P . Hagiwara (Hrsg. 1 9 7 7 ) . 7 A n f a n g s sind es e r w a r t u n g s g e m ä ß M u t t e r s p r a c h l e r , die A r b e i t e n dieser A r t e r s t e l l e n ( P u l t ( 1 8 9 7 ) , Schorta ( 1 9 3 8 ) , H u o n d e r ( 1 9 O O ) ) ; g e l e g e n t l i c h wird a u c h d i e D o k u m e n t a t i o n d e s modern e n L a u t s t a n d e s m i t H i l f e v o n I n f o r m a n t e n k o m b i n i e r t m i t einer historischen Lautlehre (Walberg ( 1 9 O 7 ) ) .
g
digmas. Im allgemeinen wird zunächst die "lautgesetzliche" Entwicklung der einzelnen vulgärlateinischen Laute abgehandelt und mit Beispielen belegt, gefolgt von einer Liste von Ausnahmen und sog. "allgemeinen Erscheinungen" wie Aphärese, Epenthese, Metathese etc. Viele dieser Arbeiten liefern im Grunde nicht mehr als Wortlisten mit vulgärlateinischen Ausgangsformen und modernen Endformen. Allerdings gibt es Ausnahmen, die sich um eine phonetisch-phonologische Erklärung sowohl der lautgesetzlichen Entwicklung als auch einzelner Ausnahmen bemühen oder gar in systematischer Weise Alternationen als Ergebnis des LautQ wandels feststellen. Die Anzahl der so erstellten "Lautlehren" verringert sich deutlich mit dem Einsetzen des Strukturalismus, wird aber, unbeeindruckt von jeglichem Theoriewandel in der Linguistik, bis in die späten sechziger und sogar bis in die siebziger Jahre hinein weitergeführt. Zusammenfassend steht man so in Teilbereichen der Romanistik vor der Situation, daß einerseits viele Daten angehäuft und leicht zugänglich sind, daß diese aber andererseits seit der junggrammatischen Periode und ihren Ausläufern kaum mehr einer modernen Analyse unterzogen wurden. Im vollen Bewußtsein 8 Der B e g r i f f verwendet.
" P a r a d i g m a " w i r d h i e r im Sinne von Kühn
(1967)
9 P h o n e t i s c h e E r k l ä r u n g s v e r s u c h e f i n d e n sich z . B . sporadisch b e i P u l t ( 1 8 9 7 ) , Schorta ( 1 9 3 8 ) ; h i n s i c h t l i c h d e r F e s t s t e l lung phonologischer und morphophonemischer Alternationen sticht besonders die Arbeit von Huonder (19OO) hervor. 10 Z . B . S c h n e i d e r ( 1 9 6 8 ) , K r a m e r ( 1 9 6 3 ) , Widmer ( 1 9 6 3 - 1 9 7 O ) .
(Konsonantismus,
1 9 7 5 ) , Rupp
11 Der G r u n d h i e r f ü r liegt d a r i n , daß mit dem S t r u k t u r a l i s m u s das I n t e r e s s e an h i s t o r i s c h e n F r a g e s t e l l u n g e n z u n ä c h s t verloren g i n g ; die Ü b e r n a h m e der g e n e r a t i v e n Grammatik verlagerte in E u r o p a den I n t e r e s s e n s c h w e r p u n k t z u n ä c h s t auf Probleme der S y n t a x und S e m a n t i k und a l l e n f a l l s der s y n c h r o n e n Phonologie und ä n d e r t e damit w e n i g an der g e s c h i l d e r t e n Sit u a t i o n i n d e r R o m a n i s t i k . Beispiele f ü r diachronische roman i s t i s c h e A r b e i t e n im R a h m e n der g e n e r a t i v e n Phonologie sind
der Problematik, die die Zugrundelegung von "Buchdaten" für eine phonologische Arbeit beinhaltet, glaube ich daher doch, daß das hier gewählte Verfahren, die gesammelten Daten erst einmal zu systematisieren und im Licht einer anderen Theorie zu betrachten, nicht nur im Sinne der oben erwähnten Zielsetzung für eine Teiltypologie, sondern auch für die Romanistik selbst von Interesse sein kann. Die Beschränkung des Objektbereichs auf einige rätoromanische und italienische Teildialekte ergibt sich zum einen daraus, daß sich hier besonders interessante Erscheinungen im Bereich des unbetonten Vokalismus zeigen, zum anderen daraus, daß der AIS neben den Dialektmonographien eine besonders günstige Arbeitsgrundlage darstellt.
1.2. Grundsätzliche Überlegungen zur Standortbestimmung der Arbeit im Rahmen verschiedener Ansätze in der Linguistik Entsprechend der Zielsetzung der Arbeit kann es hier nicht darum gehen, eine Darstellung der Theorieentwicklung in der Phonologie und der historischen Linguistik oder eine kritische Auseinandersetzung mit all den Ansätzen in der Phonologie seit dem Erscheinen von Chomsky und Halles einflußreichem "Sound Pattern of English" (1968) zu leisten. Auf Grund einer gewissen Theorieproliferation 1 2 in den letzten Jahren erscheint es jedoch unerläßlich zu umreißen, in welchem theoretischen Rahmen die vorliegende Untersuchung arbeitet. z . B . Foley ( 1 9 7 7 ) , Schane ( 1 9 7 1 ) , P o s n e r R e b e c c a ( 1 9 7 1 ) , Mayerthaler W. ( 1 9 7 2 ) , Klausenburger (1974, 1 9 7 9 ) , L o n g c h a m p / C a r t o n ( 1 9 7 9 ) , W a l k e r ( 1 9 7 8 ) sowie v e r s c h i e d e n e Beiträge in S a l t a r e l l i / W a n n e r ( 1 9 7 5 ) und Fisiak ( H r s g . 1978) 12 Z . B . "autosegmentale" Phonologie, verschiedene V a r i a n t e n d e r sog. " n a t ü r l i c h e n P h o n o l o g i e " ( s . d a z u 1 . 3 . 2 . ) , sowie eine extensive Diskussion über das Problem der Regelordnung.
1.2.1. Idiolektale und polylektale Grammatik Die vieldiskutierte Frage, welche der Varianten in den Äußerungen von Sprechern denn die Beschreibungsgrundlage für den Linguisten liefere, wird hier thematisiert, weil jeder, der . sich nicht mit der kodifizierten Form einer Standardsprache, sondern mit Dialektdaten beschäftigt, sofort mit ihr konfrontiert wird. Die Tatsache der Variation sprachlicher Äußerungen von Individuum zu Individuum und auch in den Äußerungen eines einzelnen Individuums wurde in der Sprachwissenschaft schon sehr früh erkannt. Das daraus resultierende Problem, wie man aus den sprachlichen Varianten den Objektbereich für die linguistische Beschreibung gewinnen könne, versuchte man auf verschiedene Weise zu lösen; die genaue Nachzeichnung dieser Ansätze muß wissenschaftshistorischen Arbeiten überlassen bleiben. Im wesentlichen lassen sich jedoch zwei Lösungsversuche unterscheiden: entweder man begreift die Sprache als soziales Phänomen und versucht, alle überindividuellen Eigenschaften mit Systemcharakter im Sinne einer "langue" herauszufiltern, oder man begreift Sprache als individuelles Phänomen im Sinne einer "Kompetenz" und versucht, alle in einem einheitlichen Regelapparat faßbaren, homogenen Eigenschaften eines Idiolekts zu beschreiben. Beide Idealisierungen schieben die sprachliche Variation in eine - als nebensächlich erklärte - Schublade ab, die als "parole" oder "Performanz" bezeichnet wird und über die dann keine wissenschaftlichen Aussagen mehr gemacht werden. Im Kompetenzmodell wird der Tatsache der Variation nur insofern Rechnung getragen, als man die Möglichkeit hat anzunehmen, daß ein Sprecher eben über zwei oder mehrere Einzelgrammatiken nebeneinander verfügen kann. 13 Zur s p e z i e l l e n P r o b l e m a t i k i d i o l e k t a l e r vs. p o l y l e k t a l e r G r a m m a t i k e n s e i h i e r n u r a u f Bailey ( 1 9 7 7 a ) , ( 1 9 7 7 b ) u n d (1979) verwiesen.
Die Annahme des homogenen Idiolekts als Objekt der linguistischen Beschreibung hat verschiedene gravierende Nachteile. Bailey (1977a:10) hat (neben anderen) zu Recht darauf hingewiesen, daß sie die Gefahr einer Immunisierungsstrategie in sich birgt. Wenn linguistische Analysen und die theoretischen Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden, ausschließlich auf der Basis eines Idiolekts erstellt werden, können Daten, die die vorgeschlagene Analyse falsifizieren, immer mit dem Argument zurückgewiesen werden, sie gehörten nicht zum selben Idiolekt. Der wichtigste Nachteil dieser Lösung besteht darin, daß sie der Tatsache nicht gerecht wird, daß sich sprachliche Variation nicht einfach als "code-switching", als Verwendung verschiedener Grammatiken in Abhängigkeit vom situativen Kontext vollzieht, sondern oft innerhalb eines einzelnen Satzes, von Wort zu Wort und in einer großen Menge von "Isolekten", d.h. minimalen sprachlichen Unterschieden. Dies gilt umso mehr, als man bei der Variation nicht nur soziolektale und dialektale Unterschiede, sondern auch solche des Sprechtempos berücksichtigen muß. Es ist nicht erstaunlich, daß Ansätze zu Grammatiken, die das Konzept des homogenen Sprecher/Hörers überschreiten, also nicht "minilektal" 1 4 sind, von Seiten der Soziolinguistik, der Kreolistik und der historischen Linguistik in soziolinguistischer Perspektive her kamen. Einem Soziolinguisten, W. Labov, gebührt auch das Verdienst, mit der Formulierung seiner Variablenregeln zum ersten Mal einen zumindest vorläufigen Ausweg aus dem Problem der deskriptiven Erfassung sprachlicher Varianten gezeigt zu haben. 14 Mit " m i n i l e k t a l " b e z e i c h n e t Bailey die T a t s a c h e , daß die mit dem B e g r i f f der "Kompetenz" vorgenommene Idealisierung n i c h t e i n m a l einen I d i o l e k t u m f a ß t , s o n d e r n n u r e i n e V a r i a n t e eines I d i o l e k t s , einen " M i n i l e k t " . 15 Z u r E n t w i c k l u n g p o l y l e k t a l e r G r a m m a t i k m o d e l l e v g l . d a s V o r wort v o n Bailey i n d e m S a m m e l b a n d B a i l e y u n d Shuy ( e d s . ) (1973). 16 Siehe W e i n r e i c h / L a b o v / H e r z o g
( 1 9 6 8 ) , Labov
(1969,197O)
8 Dieser Ansatz wurde besonders von Bailey (1973) so ausgebaut und (unter Aufgabe der Variablenregeln) modifiziert, daß die Beschreibung gradienter Daten generell möglich wird, gleich, ob es sich dabei um lektale Variation, Variation des Sprechtempos oder sprachinhärente Gradienz handelt (s. 1 . 3 . 3 . ) Was sind die Hauptthesen der "polylektalen Grammatik"? 1. Es ist ein konstitutives Merkmal der Sprachfähigkeit, eine infinite Menge an variablen Daten zu produzieren, zu verstehen und konnotativ·einzuordnen ( z . B . bezüglich soziolektaler, dialektaler und generationenspezifischer Zugehörigkeit) . Es darf in der linguistischen Theorie daher keine Trennung zwischen Kompetenz und Performanz geben. 2. Aus dieser Annahme folgt, daß sprachliche Variation keine Zufallsverteilung zeigen kann, sondern irgendeine Art von Organisation aufweisen muß. 3. Nicht homogene Sprachen sind normal, sondern Sprachmischung. "Jede Sprache hat (mindestens) zwei Eltern". Die in 2. angesprochene Organisation sprachlicher Varianten läßt sich - so die Annahme der polylektalen Grammatik - in Form einer Implikationskette darstellen: d Z> c :D b ri a
wobei a, b, c, d Abkürzungen für verschiedene Regeln sein können, oder für Subregeln der Art, daß a der eingeschränkteste Kontext einer Regel ist, d der generellste. Diese Implikationskette ergibt ein Pattern der Art: 17 Gegen das S t a m m b a u m d e n k e n in der S p r a c h w i s s e n s c h a f t siehe Bailey ( 1 9 8 O ) . In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache Erwähnung, daß in der Romanistik durch das f r ü h e Interesse für Substrat- und Superstrat-Probleme die Vorstellung der E n t w i c k l u n g von S p r a c h e n in S t a m m b ä u m e n , also ohne Sprachm i s c h u n g , k a u m eine R o l l e s p i e l t e .
1 a b c d
2 a b c
3 a b
4 a
Dieses Pattern kann folgendermaßen interpretiert werden: 1. Räumlich-sprachgeographisch: Die Punkte 1 - 4 stellen verschiedene geographische Orte dar. Im Falle einer Regelgeneralisierung von a nach d ist 4 die archaischste Zone; sie besitzt die Regel im eingeschränktesten Kontext; 1 ist die "fortschrittlichste" Zone; sie ist das NeuerungsZentrum, von dem sich die Regelgeneralisierung 18 wellenförmig in Richtung auf 4 ausdehnt:
Entsprechendes gilt, wenn a-d verschiedene Regeln sind; dann ist a die älteste und d die jüngste Regel. 2. Soziolektal; Die Punkte 1 - 4 repräsentieren verschiedene Schichten oder soziale Gruppen. 1 repräsentiert die sprachlich fortschrittlichste Gruppe (nach den Untersuchungen von W. Labov in Indu18 Der "Vater" dieses W e l l e n m o d e l l s ist der I n d o g e r m a n i s t J o h a n nes S c h m i d t . Das Konzept wurde auch in der v o r - s t r u k t u r a l i stischen Romanistik übernommen, wie folgendes Z i t a t aus M e y e r - L ü b k e ( 1 8 9 O : 6 9 ) zeigt: "Die L a u t g e o g r a p h i e k a n n i n s o f e r n a l s eine H i l f s w i s s e n s c h a f t d e r s p r a c h l i c h e n Biologie b e t r a c h t e t w e r d e n , a l s s i e w e n i g s t e n s e i n e n Teil d e r s p r a c h l i c h e n V e r ä n d e r u n g e n verstehen l ä ß t . M a n f i n d e t n ä m l i c h b a l d , d a ß m a n c h e E r s c h e i n u n gen von einem b e s t i m m t e n P u n k t e aus g e w a n d e r t s i n d , ihr Geb i e t langsam verschoben h a b e n , m a n k a n n also b e o b a c h t e n , wie ein Sprachtypus allmählich einen anderen v e r d r ä n g t . "
10
Striegeseilschaften europäischen oder amerikanischen Typs die untere Mittelschicht, und hier wieder besonders junge Frauen), 4 die konservativste Gruppe. 3. Generationen- und geschlechtsspezifisch; Nach den bisher in industriealisierten Ländern gemachten Untersuchungen wird 1 häufig die Gruppe junger Frauen und der Kinder, 4 die Gruppe alter Männer umfassen. 4. Tempospezifisch; Hier kann 4 als die kontrollierteste, langsamste, formellste Variante, 1 als die schnellste, informellste Variante inter19 pretiert werden. Es muß betont werden, daß bei der Erstellung eines solchen, implikationalen Pattern ausschließlich von interner Evidenz, also von den sprachlichen Daten selbst, ausgegangen wird, nicht von externer Evidenz (sozialen, geographischen, historischen Gegebenheiten).
1 . 2 . 2 . Synchronie und Diachronie Unsere eigene Sicht der Entwicklung des Verhältnisses von Synchronie und Diachronie in der Sprachwissenschaft wird von Bailey (1980) besser und ausführlicher dargestellt, als wir es hier tun könnten. So dienen die folgenden Bemerkungen wiederum nur einer Einordnung der vorliegenden Arbeit. In der "klassischen" Form der generativen Grammatik galt es trotz eines wiedererwachten Interesses an der historischen Linguistik als selbstverständlich, einerseits Grammatiken synchroner Sprachzustände zu erstellen und andererseits deren historische Entwicklung durch RegelVeränderung, Regeladdition oder -verlust, Regelumordnung und Restrukturierung zu beschreiben. Diese Theorie hält also an der in der Linguistik so einfluß19 Das S t u d i u m von A l l e g r o s t i l e n w u r d e in E u r o p a vor a l l e m von W. D r e s s l e r ( z . B . 1974b, 1 9 7 4 c ) v o r a n g e t r i e b e n .
11
reichen Vorstellung der Trennung von Synchronie und Diachronie fest. Demgegenüber sind die Vertreter der Variationsgrammatik und der sog. "Entwicklungstheorie" ("developmental framework" bei Bailey) der Ansicht, daß die Trennung von Synchronie und Diachronie in der Linguistik eine ebenso falsche und unnötige Idealisierung darstelle, wie die Unterscheidung in "langue" und "parole" oder in Kompetenz vs. Performanz. Da sich Sprache in ständiger Entwicklung befinde, könne es eine synchronische Beschreibung eines "Sprachzustands" gar nicht geben; alle Linguistik müsse daher dynamisch sein. Die Darstellung der Distribution sprachlicher Daten in Bezug auf verschiedene "Lekte" (die soziale, räumliche, generationen- und geschlechtsspezifische Variation einer Sprache) ist somit gleichsam nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stellt das Implikationsmuster auch eine zeitliche Ordnung zwischen Regeln oder Subregeln dar. So ist das Pattern auf S. 9 nicht nur polylektal, sondern auch temporal interpretierbar: Entweder stellt a die älteste und d die jüngste Regel dar, oder a ist der älteste Output einer Subregel, und d der jüngste. Wichtig ist, daß mit dieser temporalen Interpretation auch eine Prognose verknüpft ist: die sprachliche Entwicklung wird sich (ohne Beeinflussung durch Sprachmischung) in Richtung auf 1 zu bewegen. Eine wichtige Modifikation des Entwicklungsmodells gegenüber der generativen Grammatik wurde auch bezüglich der Frage vorgenommen, wie sich phonologischer Wandel vollzieht. Das Konzept der Regelgeneralisierung und Regelumordnung (soweit es sich dabei um "natürliche" Regeln handelt, s. unten) wurde übernommen, nicht aber das Konzept der Regelentlehnung. Die Tatsache, die in der vor-generativen Grammatik schon längst bekannt war, daß nämlich nicht Regeln, sondern einzelne Wortformen aus anderen Sprachen oder Sprachvarianten entlehnt
12
werden, wird von der Variationsgrammatik in einen neuen Rahmen gestellt. Der Sprecher vergleicht Wortformen in einem Stil mit älteren Formen in anderen Stilen oder Lekten. Erst aus diesem Wort-zu-Wort-Vergleich werden dann Regeln erstellt. Regeln repräsentieren also Generalisierungen, die aus dem Vergleich früherer und späterer Formen resultieren. Auf dem Hintergrund dieser Hypothese wäre es lohnend, die vielen sog. "Ausnahmen" der junggrammatischen "Lautlehren" einer neuerlichen Betrachtung zu unterziehen. Indem die vorliegende Arbeit in den Rahmen des Entwicklungsmodells gestellt wird, beschäftigt sie sich also sowohl mit der historischen Entwicklung als auch mit der gegenwärtig auffindbaren Variation sprachlicher Daten.
1.2.3. Hypothesen, Beschreibung und Erklärung Viele der Arbeiten, die mir als Materialbasis dienen (besonders solche in der Nachfolge der Junggrammatiker, s. 1 . 1 . ) , verfolgen die Praxis, einmal geäußerte Hypothesen Über einen 2O Vgl. z . B . Meyer-Lübke ( 1 8 9 O : 6 9 ) : "Man sieht a l s o , daß z u e r s t nur e i n z e l n e W ö r t e r mit der n e u e n L a u t f o r m e i n d r i n g e n , d i e z u n ä c h s t noch a l s F r e m d l i n g e b e z e i c h n e t w e r d e n k ö n n e n . N i m m t ihre Zahl nun Ü b e r h a n d , so k ö n n e n sie s c h l i e ß l i c h die alten Formen ganz v e r d r ä n g e n und die G r e n z e des L a u t w a n d e l s s c h e i n t d a d u r c h v e r s c h o b e n , obschon es sich hier nun s t r e n g genommen n i c h t mehr um L a u t w a n d e l , d . h . um die a l l m ä h l i c h e n V e r ä n d e r u n g e n der Art i k u l a t i o n s s t e l l e , sondern um einen auf l e x i k a l i s c h e Mischung z u r ü c k g e h e n d e n L a u t e r s a t z h a n d e l t . A u s dieser Tatsache ... e r h e l l t z u g l e i c h , daß man bei der F e s t s t e l l u n g der G r e n z e eines L a u t w a n d e l s sich n i c h t auf ein e i n z e l n e s Wort s t ü t z e n d a r f , sondern m ö g l i c h s t viele z u bekommen t r a c h t e n m u ß , b z w . n i c h t v o n e i n e r G r e n z l i n i e , sondern v o n e i n e r G r e n z z o n e sprechen w i r d . " B e m e r k e n s w e r t ist an diesem Z i t a t , daß Meyer-Lübke selbst Probleme mit der V o r s t e l l u n g von der a l l m ä h l i c h e n V e r s c h i e bung der A r t i k u l a t i o n beim L a u t w a n d e l s i e h t , und daß er die Idee der l e x i k a l i s c h e n G r a d i e n z beim L a u t w a n d e l schon and e u t e t . Dieses Konzept ist ü b r i g e n s inkompatibel mit dem der " a u s n a h m s l o s e n " W i r k u n g der L a u t g e s e t z e . Zur Frage der E n t l e h n u n g s u n i v e r s a l i e n v g l . auch M o r a v c s i k , E . ( 1 9 7 8 ) .
13
Lautwandel so abzuschwächen, daß sie unfalsifizierbar werden. Nur um mich von dieser Praxis und der Vorstellung, daß Hypothesen "wahr" sein sollen, abzusetzen, möchte ich folgenden Abschnitt zum Stellenwert von Hypothesen zitieren: "One can only bewail the fact that some linguistis have not learned from the Chomskians something so methodologically fundamental as the nature of a scientific claim. It will not be otiouse to stress here that a claim is not an assertion of irrefragability, but a hypothesis whose empirical predictions are vulnerable, i.e. testable. False predictions do not always require rejecting hypotheses in their entirety. Rather, theory-building progresses by constantly revising claims in the light of new data - replicable data: we approach truth by successive approximations. This is obviously not understood by those who think it immodest to project anything beyond that which has already been discovered, or by those who think that the discorroboration of a claim is something that one should be ashamed of. On the contrary> progress is made by discorroborating claims, not by invulnerable descriptions, which some scholars rest content with in the misguided conviction that it would be injudicious not to hedge their assertions as much as possible, simply reducing them to descriptions to known data, descriptions that no longer predict anything. Such descriptions are of course not theoretical claims. The fact is that the most useful claims are the broadest ones that are compatible which what is known, for these are the most empirically vulnerable predictions that one can make. Progress is made by taking two steps forward and one step backward, and then repeating it all over again. The maxim, "nothing ventured, nothing gained", is as valid here as elsewhere". Zum Verhältnis von Beschreibung und Erklärung in der Phonologie möchte ich mich mit den folgenden Bemerkungen nur auf das Nötigste beschränken. Die Erfassung von Daten mit Hilfe von Segmentinventaren, phonotaktischen Regeln und Variationsregeln und ihre Anordnung in ein implikationales Pattern gehören zunächst in den Bereich der Deskription. Von einer Erklärung der Daten kann man erst dann sprechen, wenn andere Wissenschaftsbereiche wie Neurologie, Anatomie, Psychologie, Soziologie, Geographie und Ge21 Bailey
(1981a:4O)
14
schichte zur Interpretation der Daten herangezogen werden. Entsprechend dem Schwerpunkt der Arbeit, einen Beitrag zur Kenntnis natürlicher phonologischer Prozesse zu leisten, wird hier von soziologischen, geographischen und historischen Interpretationen weitgehend abgesehen. Artikulatorische und perzeptive Erklärungen sollen jedoch herangezogen werden, soweit sie von der Experimentalphonetik geliefert werden können. Als sehr brauchbares Bindeglied zwischen Deskription und Erklärung hat sich m . E . die Markiertheitstheorie erwiesen,
in-
sofern, als sie Ergebnisse aus der Erforschung des Spracherwerbs, der Sprachstörungen und aus dem typologischen Sprachvergleich in ein und dasselbe Modell integriert und so oft für die Erforschung mentaler, artikulatorischer und perzeptiver Beschränkungen erst die Richtung weist.
1.3. Nähere Ausführungen zum phonologietheoretischen Rahmen 1.3.1. Generative Phonologie Die generative Phonologie war insofern von großer Wichtigkeit für die Entwicklung der Phonologietheorie, als sie im Gegensatz zum Strukturalismus eine Unterscheidung in eine zugrundeliegende
(abstrakt-phonologische) und eine abgeleitete (kon-
kret-phonetische) Repräsentationsebene traf, die durch Regeln von der zugrundeliegenden abgeleitet wird. So wurde der prozessuale Charakter der Phonologie thematisiert und damit die spätere Forschungsrichtung, die sich mit universell natürlichen Prozessen beschäftigt, erst möglich. Die Grundannahmen der generativen Phonologie sind folgende: 22 22 Die Konzeption phonologischen W a n d e l s in dieser Form wurde vor allem von Kiparsky ( 1 9 6 5 , 1968, 1 9 7 1 , 1 9 7 3 ) ausgearbeitet und in der Monographie von King ( 1 9 6 9 ) dargestellt.
15
(i)
Sprachwandel ist Kompetenzwandel. Dies resultiert in der linguistischen Beschreibung als Grammatikwandel. Von Performanzfaktoren wird abstrahiert.
(ii)
Das Modell basiert auf einem homogenen Kompetenzbeg r i f f , d.h. auf der Vorstellung, daß jeder Sprecher/ Hörer ein in sich homogenes sprachliches System beherrscht. Von Mischungen verschiedener Stile, Dialekte oder Soziolekte wird abstrahiert.
(iii)
Das Modell konzipiert Lautwandel in formalen Termen von Regelwandel. Es macht keine Aussagen über die Substanz von Einheiten, die einem Wandel unterzogen werden.
(iv)
Innovation vollzieht sich in der Grammatik von Erwachsenen durch Regeladdition, in der Grammatik von Kindern durch Optimierung der Erwachsenengrammatik, durch Regelumordnung, Regelverlust, Veränderungen in der Struktur von Regeln. Die Veränderungen in der Grammatik von Kindern können im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung zusammengefaßt werden.
In dieser 'klassischen' Variante der generativen Phonologie sollen Notationsvorschriften zusammen mit einer Evaluationsprozedur den Begriff "linguistisch signifikante Generalisierung" charakterisieren, der durch die Untersuchung sprachlicher üniversalien, des Sprachwandels und des Spracherwerbs prinzipiell empirisch testbar ist. Die Notation limitiert (idealiter) die Form möglicher Grammatiken. Das Zusammenwirken von Notationsvorschriften und Evaluationsprozedur soll die mögliche Form phonologischen Wandels beschränken, derart, daß ein Wandel, der sich in einer stärkeren Vereinfachung abbilden läßt als ein anderer, als wahrscheinlicher und damit häufiger anzusehen ist. Die empirische Untersuchung des Sprachwandels hat aber Fälle zutage gefördert, in denen sich häufige, in vielen Sprachen beobachtbare phonologische Veränderungen nicht als Vereinfachung abbilden lassen. Zu dieser Frage
16
kehren wir in den nächsten beiden Abschnitten zurück und wenden uns zunächst noch zwei Problemen zu, die innerhalb der generativen Phonologie sehr bald heftig diskutiert wurden. Das eine dieser Probleme ist der Grad der Abstraktheit zugrundeliegender Formen und das zweite die Frage, ob Regeln extrinsisch geordnet werden dürfen oder nicht. Diese Probleme hängen insofern zusammen, als die Abstraktheit der zugrundeliegenden Formen die Anzahl der phonologischen Regeln in einer Grammatik determiniert: je konkreter die zugrundeliegenden Formen, umso weniger Regeln werden benötigt, um die Oberflächenrepräsentation zu erreichen. Während in der Anfangsphase der generativen Phonologie noch sehr abstrakte zugrundeliegende Formen angenommen wurden, 23 geht gegenwärtig die Tendenz eher dahin, zugrundeliegende Formen möglichst konkret zu halten; im Extremfall ist sogar in Teilen der "natürlichen" generativen Phonologie eine Rückwendung zum Strukturalismus zu beobachten, insofern als postuliert wird, daß jede Oberflächenform, auch jede einzelne Flexionsform, im Lexikon stehen müsse und nur mehr phonetische Details durch Regeln abgeleitet werden. 24 23 Siehe z . B . Schane ( 1 9 6 8 b ) , w o f ü r d a s F r z . a n n ä h e r n d etymologische z u g r u n d e l i e g e n d e Formen angenommen w e r d e n , ebenso b e i Foley ( 1 9 7 O ) . F ü r dieses Vorgehen k ö n n e n m . E . zwei G r ü n de angegeben w e r d e n : einmal w ä h l t e man die z u g r u n d e l i e g e n den Formen danach a u s , ob sie die f o r m a l e i n f a c h s t e und eleganteste Lösung e r l a u b t e n , was zu e i n e r völligen N i c h t b e a c h t u n g der Frage f ü h r t e , ob die für diese Lösung benötigten Regeln s u b s t a n t i e l l - p h o n e t i s c h auch zu r e c h t f e r t i g e n sind. Zum z w e i t e n war beim damaligen Stand der Theorie kein P l a t z für e i n e e i g e n s t ä n d i g e M o r p h o l o g i e , so daß man auch solche Flexions- und D e r i v a t i o n s f o r m e n von einer g e m e i n s a men z u g r u n d e l i e g e n d e n Form a b l e i t e t e , die n i c h t mehr durch phonologische, sondern nur noch d u r c h morphologische Regeln m i t e i n a n d e r verbunden w a r e n . D a s s k i z z i e r t e V e r f a h r e n i s t auch in C h o m s k y / H a l l e ( 1 9 6 8 ) sehr stark a u s g e p r ä g t . 24 So z . B . V e n n e m a n n ( 1 9 7 4 a , b ; 1978a; 1979 ( M a n u s k r i p t ) ) , Hooper ( 1 9 7 3 ) , S e l k i r k / V e r g n a u d ( 1 9 7 3 ) . Z u r A b s t r a k t h e i t s diskussion s . K e n s t o w i c z / K i s s e b e r t h ( 1 9 7 7 ) , Schane ( ( H o w abstract i s a b s t r a c t ? ) u n d 1 9 7 2 ) , Kiparsky (1968, 1 9 7 3 ) .
17
Es liegt in der Natur der Sache, daß diejenigen Linguisten, die für möglichst konkrete Formen eintreten, auch gleichzeitig die Notwendigkeit einer extrinsischen Regelordnung bestreiten. Leider ist meines Wissens bisher weder von interner noch von externer Evidenz her entscheidbar, ob für extrinsische Regelordnung eine gewisse psychische Realität angenommen werden kann; auch hat die Regelordnungsdiskussion einen solchen Spezialisierungsgrad angenommen, daß es unmöglich ist, hierauf einzugehen. 25 Ich möchte für meine Arbeit eine Position beziehen, die sich mit den oben bereits umrissenen und im folgenden noch zu verdeutlichenden Annahmen vereinbaren läßt. Nachdem man im Rahmen des dynamischen Konzepts der Phonologie auf die Annahme phonologischer Prozesse nicht verzichten kann, sollen abstrakte zugrundeliegende Formen zugelassen werden, allerdings mit starken Einschränkungen. Die zugrundeliegenden Formen dürfen nur so abstrakt sein, daß Oberflächenformen durch natürliche phonologische Regeln ableitbar sind. Zum Begriff der "natürlichen Regel" s. 1.3.3. Morphologische und morphophonologische Regeln bieten zwar wichtige Hinweise auf frühere phonologische Regeln, dürfen aber nicht als solche formuliert werden. Extrinsische Regelordnung wird zugelassen; gleichzeitig wird angenommen, daß die Regelordnung natürlicherweise zu einer Minimierung der Opakheit tendiert, und daß sich Dialekte :t€ (und Lekte) durch die Regelordnung unterscheiden können. 27
1.3.2. Die Markiertheitstheorie als Modell für universelle segmentale Natürlichkeit Gemäß dem formalen Einfachheitsmaß in der generativen Phonologie sollte das Inventar der systematischen Phoneme einer 25 Siehe z . B . Koutsoudas, A . / S a n d e r s , G . / N o l l , G. ( 1 9 7 1 ) 26 Kiparsky ( 1 9 7 3 ) 27 Siehe dazu z . B . Dressier ( 1 9 7 2 b ) und Bailey
(1977b)
18
Sprache, das mit weniger Merkmalen darstellbar ist, einfacher und damit häufiger anzutreffen sein als das einer Sprache, das mit mehr Merkmalen dargestellt werden muß. Linguisten, die mit dem Modell der generativen Phonologie gearbeitet haben, bemerkten bald, daß man mit dieser Prozedur die Einfachheit 28 oder Natürlichkeit von Inventaren nicht messen kann. Aus diesem Grunde wurde bereits in Chomsky/Halle (1968) das Konzept der "Merkmalhaftigkeit" und "Merkmallosigkeit" der Prager Schule weiterentwickelt zur sog. "Markiertheitstheorie". Die Markiertheitstheorie ist zunächst ein Instrumentarium für die Darstellung der Komplexität zugrundeliegender Segmente. Statt der - - Belegungen von Merkmalen verwendet man die Werte m für "markiert" und u für "unmarkiert". Diese m,u - Werte werden durch sog. Markiertheitskonventionen zu ± - Werten konvertiert. Diese haben die allgemeine Form: ßF. Bezüglich "Stimmhaftigkeit" wäre z . B . die entsprechende Markiertheitskonvention für Obstruenten: u sth
-»
-sth
+obstr
Diese Markiertheitsbedingungen ersetzen die Segmentstrukturbedingungen; sie legen fest, welche Kombinationen von Merk28 Das f o l g e n d e Beispiel soll dies v e r d e u t l i c h e n . Die beiden Angaben i n T e r m e n v o n M e r k m a l e n s i n d genau g l e i c h e i n f a c h : 1. CarundD, C a t i e f D 2. CahintD, CarundU Die erste Angabe s t e l l t f o l g e n d e s I n v e n t a r d a r : 1. / i / , / e / , / i / , /OB /, /»/ die z w e i t e f o l g e n d e s : 2. /L/, / e / , / a / , / o / , / u / Wie man s o f o r t s i e h t , ist die z w e i t e Klasse sehr n a t ü r l i c h und kommt in v i e l e n Sprachen v o r , die erste dagegen sehr u n n a t ü r l i c h . Der F e h l e r bei dieser F o r m u l i e r u n g des E i n f a c h h e i t s m a ß e s liegt s e l b s t v e r s t ä n d l i c h d a r i n , daß auf den i n t r i n s i s c h e n , s u b s t a n t i e l l e n Gehalt der M e r k m a l e k e i n Bezug genommen w i r d .
19
malen innerhalb eines Segments komplexer, welche einfacher sind. Schon bei Chomsky/Halle (1968) finden sich darüber hinaus einige Markiertheitskonventionen, die die Komplexität von phonotaktischen Kombinationen ausdrücken sollen. Sie haben die Form:
ß
h]
F j
und ersetzen Morphemstrukturbedingungen. Bailey ( 1 9 7 3 , 1977c, 1979 (Manuskript)) hat diese phonotaktische Bedingungen ausdrückenden Markiertheitskonventionen insofern um einen wichtigen Gesichtspunkt erweitert, als er die Silbe zur wichtigsten Domäne der in Abhängigkeit von der Posi29 tion variierenden Markiertheit erklärte. Er unterscheidet drei Positionen: Position A
Position B
Unmittelbar vor einem tautosyllabischen Nukleus
Nukleus
nach T oder N:
Position C Unmittelbar nach tautosyllabischem Nukleus
sonst: T
V
(G)
F
G
N
N
r
r
N
l
l
l
F
r
N
F
T
G
F
T
G r l
Dabei sind T und F jeweils Abkürzungen für okklusive bzw.
fri-
kative Obstruenten, N für Nasal, G für Gleitlaut, V für Vo29 B a i l e y ( p a s s i m ) b e n ü t z t d r e i w e r t i g e M e r k m a l e m i t d e n Vorz e i c h e n + , x , - , wobei "x" e i n e n M i t t e l w e r t d a r s t e l l t , u n d e n t s p r e c h e n d d r e i w e r t i g e M a r k i e r t h e i t s w e r t e : u_, m, M_, wobei "M" "übermarkiert" bedeutet. Zur Auswahl des Merkmalsi n v e n t a r s f ü r diese A r b e i t s . 2 . 1 .
20
kal.
Die Reihenfolge der Segmentklassen von oben nach unten
bedeutet jeweils zunehmende Markiertheit in der
betreffenden
Position. Die bisher vorgeschlagenen Markiertheitswerte sollen im Einzelnen zusammen mit der Einführung des für die Arbeit notwendigen MerkmalsInventars in 2 . 1 . behandelt werden.
1.3.3. Natürliche generative Phonologie Ebenso wie bei einzelnen Segmenten hat man auch bei phonologischen Regeln sehr schnell bemerkt, daß ihre formale Einfach-
3O N a t ü r l i c h sind diese S k a l e n z u n ä c h s t nichts a n d e r e s als die bekannten "Stärkehierarchien", mit denen von Jespersen und de S a u s s u r e über G r a m m o n t bis zu Z w i c k y , V e n n e m a n n , Foley, D r a c h m a n n immer w i e d e r g e a r b e i t e t w u r d e . Manche Ling u i s t e n w i e z . B . d e S a u s s u r e o r d n e t e n diese H i e r a r c h i e n i n erster Linie i m H i n b l i c k a u f d e n a r t i k u l a t o r i s c h e n " Ö f f nungsgrad" b z w . den perzeptiven "Sonoritätsgrad" hin an. Grammont ( 1 9 7 1 ) d a g e g e n w a r sich b e r e i t s darüber i m k l a r e n , daß f ü r d i e " S t ä r k e " eines Segments - d . h . f ü r d a s A u s m a ß , in dem das Segment von p h o n o l o g i s c h e n P r o z e s s e n b e t r o f f e n w i r d oder s t a b i l b l e i b t - a u c h die A r t i k u l a t i o n s s t e l l e eine Rolle s p i e l t . Bei den m e i s t e n der g e n a n n t e n A u t o r e n w e r d e n diese H i e r a r c h i e n r e i n a u f G r u n d a b s t r a k t - p h o n o l o g i s c h e r Evidenz erstellt, d . h . aus der Beobachtung des Verhaltens eines Segments im S p r a c h w a n d e l und in s y n c h r o n e n P r o z e s s e n . N u r v e r e i n z e l t ( z . B . V e n n e m a n n 1 9 7 2 c ) wird eine p h o n e t i s c h e E x p l i k a t i o n dieses V e r h a l t e n s v e r s u c h t . D r a c h m a n n ( 1 9 7 6 ) hat darauf hingewiesen, daß man hierarchische Beziehungen n i c h t n u r f i n d e n k a n n , indem m a n d i e Segmente b e o b a c h t e t , d i e v o n p h o n o l o g i s c h e n P r o z e s s e n a f f i z i e r t w e r d e n , sondern daß auch d i e d e n W a n d e l v e r u r s a c h e n d e U m g e b u n g eine h i e r a r chische Ordnung a u f w e i s t . So werden z . B . Velarkonsonanten am l e i c h t e s t e n d u r c h f o l g e n d e s / j / , dann d u r c h / i / , dann d u r c h / e / , dann d u r c h / a / p a l a t a l i s i e r t ( v g l . h i e r z u auch Bhat ( 1 9 7 8 ) ) . F ü r solche P r o b l e m s t e l l u n g e n f i n d e n sich b e r e i t s ä u ß e r s t i n t e r e s s a n t e H i n w e i s e bei G r a m m o n t ; in letzter Z e i t bei V e r t r e t e r n der sog. N a t ü r l i c h e n Phonologie (s. u n t e n ) .
21
heit nicht ihrer durch interne und externe Evidenz feststellbaren Einfachheit entspricht. Bevor wir zu dem Problem der natürlichen Regeln zurückkehren, das in dieser Arbeit eine sehr wichtige Rolle spielt, sollen ganz kurz diejenigen Weiterentwicklungen der generativen Phonologie skizziert werden, die für sich das Epitheton "natürlich" beanspruchen, da dieser Begriff immer wieder zu großen Mißverständnissen Anlaß gibt. 32 In der sog. "natürlichen Phonologie" gibt es im wesentlichen vier HauptStrömungen, nämlich: 1. "Natural Phonology" Hier wird unterschieden zwischen phonologischen Prozessen und (morphologischen) Regeln; die phonemische Repräsentation wird durch das Zusammenspiel der Prozesse definiert. Sie wird dadurch "seichter" als in den vorhergehenden Varianten der generativen Phonologie, weil durch die Prozesse nur mehr allo3l Dies k a n n man L e i c h t am Beispiel f o l g e n d e r regeln zeigen: 1)
V
->
C+nasD
/
2)
V
->
C+nasH
/
+tief
V
-»
C+nasD
/
4)
V
—*
C+nasH
/
l
-hoch -tief _
3)
Nasalierungs-
l +hoch
—
l
N
R e g e l ( 4 ) s i e h t a m e i n f a c h s t e n a u s , R e g e l ( 1 ) u n d ( 3 ) etwas k o m p l i z i e r t e r , Regel (2) am k o m p l i z i e r t e s t e n . Im Gegensatz d a z u hat man am V e r g l e i c h v i e l e r Sprachen f e s t g e s t e l l t , daß Nasalierung von t i e f e n Vokalen verbreiteter ist als die von hohen und daß der P r o z e ß der N a s a l i e r u n g d i a c h r o n i s c h gesehen b e i t i e f e n V o k a l e n a n f ä n g t u n d n a c h u n d n a c h auch d i e h ö h e r e n e r f a s s e n k a n n , aber n i c h t m u ß (Chen 1 9 7 3 ) . Diese P r o z e ß f o l g e i s t ü b r i g e n s auch f ü r d i e f r z . N a s a l i e r u n g a n z u n e h m e n . Es g i l t also die I m p l i k a t i o n : wenn in e i n e r Sprache V o k a l e der Höhe n_ n a s a l i e r t s i n d , so auch V o k a l e der Höhe k^ (wobei k 4 n) . 32 D i e s e r O b e r b l i c k f o l g t i n w e i t e n T e i l e n Bailey ( 1 9 7 6 b ) .
22
phonische Variation beschrieben wird. Diese Phonologie steht externer Evidenz sehr aufgeschlossen gegenüber; sie nahm ihren Ausgangspunkt eigentlich mit verschiedenen Arbeiten von Q. Stampe und seiner Hypothese, daß ein Kind zu Beginn des Spracherlernungsprozesses alle "natürlichen" Prozesse besitze und diese im Verlauf der Erlernung der Muttersprache sukzessive unterdrücke, bis es die spezielle Phonologie der Muttersprache beherrsche. Diese Variante wird u . a . repräsentiert durch Patricia Donegan-Miller, G. Drachmann und W. Dressler. Sie hat den Blick auch auf bestimmte Phänomene gelenkt, die im deskriptiven Rahmen der generativen Phonologie mit verschiedenen Regeltypen dargestellt werden müssen, aber funktional gesehen auf ein gleiches Ergebnis hinwirken. Die Diskussion dieser Phänomene wurde unter dem Begriff "conspiracy" 34 bekannt. Dieses funktional gleiche Resultat des Zusammenwirkens mehrerer Regeln und Regeltypen wurde in der amerikanischen Literatur als "target" bezeichnet; wir wollen im weiteren den Begriff "Zielstruktur" gebrauchen. Das formale Problem der Darstellung von "conspiracies" spielt in dieser Arbeit keine Rolle, wohl aber bestimmte, phonetisch oder funktional interpretierbare Zielstrukturen. In der phonologischen Diskussion der letzten Jahre sind einige universelle Zielstrukturen festgestellt worden; daneben gibt es auch typologische und sprachspezifische Zielstrukturen. Auf die letzteren beiden wird in der vorliegenden Arbeit besonders eingegangen. 33 S i e h e Stampe ( 1 9 6 9 ) ; M i l l e r ( 1 9 7 2 , l 9 7 3 ) , D o n e g a n ( 1 9 7 8 ) ; D r e s s l e r / D r a c h m a n n ( 1 9 7 7 ) , Dressler ( 1 9 7 9 ) , ( 1 9 7 8 ) ; Drachm a n n ( 1 9 7 8 ) ; C a m p b e l l ( 1 9 7 9 ) ; S c h a n e ( 1 9 7 1 ) ; Chen ( 1 9 7 3 ) ; u . a . m . Diese F o r s c h u n g s r i c h t u n g wird f l a n k i e r t von neuen F r a g e s t e l l u n g e n i n d e r P h o n e t i k , d i e sich t e i l w e i s e v o n r e i n a k u s t i s c h e n P r o b l e m e n a b - u n d f u n k t i o n a l i s t i s c h e n Problemen z u w e n d e t , wobei vor allem neue V e r f a h r e n zum Testen der Perzeption e n t w i c k e l t w e r d e n . In diesen Forschungss t r a n g gehören Lehiste ( 1 9 7 O , 1 9 7 4 ) , Fromkin (1968, 197O, 1971, 1 9 7 3 ) , die als eine der ersten auf die Bedeutung und die Regelhaftigkeit von Performanzdaten hingewiesen hat, Lindblom ( 1 9 6 3 ) , Li Ijencrants/Lindblom ( 1 9 7 2 ) , Kim ( 1 9 7 1 ) , Bannert ( 1 9 7 6 ) , Kozhevnikov/Chistovich ( 1 9 6 7 ) , Ohala (1974a, 1974b) u . a . m . 34 Z . B . Kisseberth
( 1 9 7 O ) , Mayerthaler-Wimmer
(1972)
23
In diesem Zusammenhang erscheint es uns wichtig, ein häufiges Mißverständnis über das Zustandekommen und den Stellenwert von Zielstrukturen zurechtzurücken. Es wird funktionalistischen Phonologen nämlich öfters vorgeworfen, der Begriff "Zielstruktur" sei teleologisch, insofern als damit postuliert werde, der Sprecher visiere ein bestimmtes artikulatorisches Ziel an. Wir schließen uns hingegen der Ansicht an, daß "targets" nicht in erster Linie artikulatorische, sondern perzeptive Zielstrukturen darstellen. Daß bestimmte Zielstrukturen universell immer wieder auftreten,
läßt sich dadurch erklären, daß der
Hörer aus einer Menge von Äußerungen diejenigen selegiert, die er am besten perzipieren kann: nur die perzeptiv relativ günstigeren Formen werden in der Sprachentwicklung weiter fortgesetzt. Die Perzeption wirkt also hier wie eine Art Filter. Vgl. dazu Lieberman ( 1 9 7 7 ) : "The nature of some vowel targets is much more likely to be auditory than articulatory. The particular articulatory mechanism that a speaker makes use of to attain a vowel target is of secondary importance only." ( S . 1 4 4 ) 2. "Natural generative Phonology" Diese Variante schließt extrinsische Regelordnung aus; phonologische Regeln haben ausnahmslos zu sein. Die lexikalische Repräsentation muß entweder mit einer der vorkommenden Oberflächenformen einer Alternation übereinstimmen oder, neuerdings bei Vennemann, jede einzelne Wortform muß im Lexikon stehen. Phonotaktische Beschränkungen sind entweder identisch mit phonologischen Regeln, oder es gibt die letzteren gar nicht mehr. Ein wichtiger Unterschied zwischen 1. und 2. scheint darin zu bestehen, daß für die "Natürliche generative Phonologie" Natürlichkeitseigenschaften die Rolle von Evaluationskriterien spielen, während für die "Natürliche Phonologie" Natürlichkeit ein grundlegendes Axiom ist. wird u . a . von Th. Vennemann und J. 3 5 Siehe V e n n e m a n n (1973)
(1974,
Diese Position
Hooper vertreten.
1978, 1979 ( M a n u s k r i p t ) ) ,
Hooper
24 3. Eine Variante dieser "konkreten" Phonologie, angereichert mit gradientem und temporalem deskriptivem Instrumentarium, vertreten vor allem Chen, Cheng und Wang. Diese Autoren gehörten auch zu den ersten, die auf das Problem hingewiesen haben, daß die Natürlichkeit von Regeln im Modell der Generativen Phonologie nicht erfaßt wird. Chen hat vorgeschlagen, die implikationalen Beziehungen von natürlichen Prozessen mit Hilfe von Metaregeln auszudrücken, die Bezug auf mehrwertige Merkmalswerte nehmen. So läßt sich z . B . im typologischen Vergleich feststellen, daß die Nasalierung von Vokalen vor den hintersten Nasalkonsonanten beginnt und nach und nach auch vor den vorderen eintreten kann, aber nicht muß. Aus dieser temporalen Abfolge ergibt sich das typologische Implikationsmuster, daß Vokalnasalierung vor vorderen Nasalkonsonanten die vor hinteren impliziert. Wenn man nun Nasalkonsonanten an einer Skala aufträgt, die bezüglich des Merkmals "hinten" mehrwertige Merkmale aufweist: m
n
n
1 2 3 hinten
4
So kann man eine Metabedingung der Art formulieren: V
_ [ jn + 1 ) h i n t
Eine solche Metabedingung ist universell; die Werte für n sind jeweils sprachspezifisch. Ebenso haben Chen, Wang und Cheng auf eine wichtige weitere zu starke Idealisierung aufmerksam gemacht, die sowohl im Strukturalismus als auch in der generativen Phonologie zu finden ist, nämlich daß phonologischer Wandel sofort kategorisch sei, also ohne Ausnahmen operiere. Sie konnten dagegen zeigen, 3 6 Z . B . Chen
(1973)
25
daß sich phonologischer Wandel nach und nach im Lexikon ausbreitet ("lexical d i f f u s i o n " ) . Dieser Aspekt wurde in letzter Zeit von Fidelholtz noch dahingehend verfeinert, daß bestimmte phonologische Regeln (er nennt sie Frequenzregeln) je nach der Häufigkeit oder Vertrautheit eines Wortes variieren. 38 4. Phonetologie oder dynamische Phonologie Sowohl der idealistische (Chomsky) als auch der empirizistische (Labov) Standpunkt werden verworfen, ebenso der monolektale Ansatz und die Dichotomie zwischen phonetischer und phonologischer Analyse. Das Ziel der Phonetologie ist eine polylektale, psychische Realität beanspruchende Analyse, die auch transstilistische und interpersonale Varianten einer Sprache beschreibt. Natürliche Regeln, die Merkmale unmarkiert 37 Z . B . Wang/Cheng
(197O)
und Chen/Wang
(1975)
3 8 F i d e l h o l t z ( 1 9 7 5 ) . F . m e i n t , d a ß eine F r e q u e n z r e g e l a u f zweierlei Parameter anspricht: einmal auf die relative V e r t r a u t h e i t eines Wortes und zum zweiten auf eine Hierarchie v o n p h o n o l o g i s c h e n K o n t e x t e n , i n d e n e n e i n e R e g e l u n a b h ä n g i g v o n d e r F r e q u e n z s t ä r k e r oder w e n i g e r s t a r k a n g e w e n d e t w i r d . D i e Domäne d e r U n t e r s u c h u n g i s t d i e A n f a n g s silbe v o n e n g l i s c h e n W ö r t e r n , d i e a u f d e r 2 . Silbe b e t o n t w e r d e n , w e n n d i e s e Silbe e i n e n u n g e s p a n n t e n V o k a l e n t h ä l t , g e f o l g t v o n zwei o d e r m e h r K o n s o n a n t e n . A b g e s e h e n v o n b e stimmten phonologischen Beschränkungen, die eine Gradienz in der Stabilität bestimmter S i l b e n s t r u k t u r e n sichtbar m a c h e n , k a n n m a n auch f e s t s t e l l e n , d a ß v e r t r a u t e r e W ö r t e r stärkere Reduktion der Anfangssilbe aufweisen als seltenere W ö r t e r , j a i n d i e s e n i s t sogar d e r u m g e k e h r t e P r o z e ß beobachtbar, daß nämlich ein ursprünglich ungespannter Vokal gespannt wird, a n s t a t t , wie der phonologische Kontext allein v e r m u t e n l a s s e n w ü r d e , r e d u z i e r t z u w e r d e n . Diese V a r i a t i o n f i n d e t sich sogar i n n e r h a l b e i n e s P a r a d i g m a s . So w i r d der V o k a l der A n f a n g s s i l b e in der Form mistook n i c h t r e d u z i e r t , wohl aber in der v e r t r a u t e r e n Form mistake. D i e s k a n n a u c h auf verschiedene Silbifizierung zurückgehen, nämlich mi$stake ( V o k a l e i n o f f e n e r Silbe w e r d e n l e i c h t e r r e d u z i e r t ) v s . mis$took. D i e s z e i g t m . E . , d a ß b e i h ä u f i g e r e n W ö r t e r n der Hauptakzent stärker ist (je stärker der Hauptakzent, umso m e h r K o n s o n a n t e n w e r d e n i n d i e T o n s i l b e g e z o g e n ) , w ä h rend in dem selteneren Wort der A k z e n t gleichmäßiger v e r teilt ist (vielleicht weil die Anfangssilbe als Information gebraucht w i r d ? ) . Bei der S i l b i f i z i e r u n g von h ä u f i g e n Wört e r n t r i t t also d e r s e l b e E f f e k t e i n w i e b e i d e r v o n S c h n e l l sprechformen .
26 machen, werden von solchen unterschieden,
die "higher-level-
unmarking" verursachen (s. dazu u n t e n ) . Die Regeln verwenden Markiertheitsrelationen und gradiente Merkmalswerte. Phonologischer Wandel wird als unidirektional interpretiert. Die Ursache unnatürlichen Wandels lokalisiert man in Kreolisierung und Entlehnung. Diese Variante wurde im wesentlichen von Bailey ausgearbeitet. Zwischen der ersten und der vierten Variante existieren starke Konvergenzen; insbesondere akzeptieren viele der Phonologen, die sich für natürliche Prozesse interessieren, die Notwendigkeit, mit gradienten Modellen zu arbeiten. In diesem Rahmen sehe ich auch die vorliegende Arbeit angesiedelt: sie will nicht nur zum Wissen über natürliche Regeln in einem Teilbereich der Phonologie beitragen, sondern gleichzeitig auch die Notwendigkeit gradienter, dynamischer Modelle demonstrieren. Es soll hier die in Variante 1. gebräuchliche Unterscheidung von (natürlichen) phonetologischen Prozessen und morphophonemischen und morphologischen Regeln übernommen werden, wobei das eigentliche Interesse bei den Prosessen liegt. 'Natürlich* wird in dieser Arbeit im Sinne von Variante 1. und 4. benützt. Evidenz für die Natürlichkeit phonologischer Prozesse läßt sich danach aus folgenden Quellen gewinnen: (1) Externe Evidenz: Ein Prozeß kann direkt von der Struktur neuronaler Befehle, der Innervation, der Phonation, der Artikulation oder Perzeption her begründet werden. Diese Ebene, die einer Erklärung gleichkommt, ist häufig nicht vollständig erreichbar. Weitere Bereiche der Gewinnung externer Evidenz für Natürlichkeit sind 39 4O sprachliche Fehlleistungen, Kindersprache, Sprachstörun3 9 Siehe z . B . F r o m k i n ( 1 9 7 1 , 1 9 7 3 ) , d i e m i t d i e s e n A r b e i t e n als eine der ersten auf den systematischen Charakter von sog. P e r f o r m a n z d a t e n a u f m e r k s a m m a c h t e . Z u P e r z e p t i o n s f e h lern s. Garnes/Bond ( 1 9 7 5 ) . 40 D i e s e r g e d a n k l i c h e S t r a n g b e g i n n t m i t J a k o b s o n ' s " K i n d e r sprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze" ( 1 9 4 4 ) . Dressler (1974a) und Drachmann (1978) haben mit Recht darauf verwie-
27
gen, die phonetische Form von Entlehnungen, Strukturabbau in Pidgins und Strukturaufbau in Kreolsprachen. (2) Interne Evidenz gewinnt man aus dem Vergleich verschiedener Sprachen und Lekte; die dabei festgestellten Invarianten, (absolute oder implikationale Universalien) kann man als natürlich ansehen. Interne Evidenz läßt sich weiterhin aus der Beobachtung des phonologischen Wandels gewinnen, insofern als man Typen von Wandel, die in verschiedenen Sprachen und zu verschiedenen Zeiten immer wieder auftreten, als natürlich bezeichnen kann. Die Evidenzen aus ( 1 ) und (2) dürfen sich nicht widersprechen, sondern sollen im Gegenteil konvergieren, damit man ein phonologisches Segment oder einen Prozeß als mehr oder minder natürlich klassifizieren kann. Über den Stellenwert beider Arten von Evidenz herrscht unter Phonologen durchaus Uneinigkeit. Solche, die mehr an substantiellen Faktoren interessiert sind, benützen interne Evidenz eigentlich nur als heuristischen Hinweis für die substantielle Erklärung von Daten mit Hilfe experimenteller Methoden. 41 So z . B . Ohala, der keine Erklärung zulassen will, die akustische und artikulatorische Fakten überschreitet; er wendet sich vor allem gegen traditionelle Begriffe wie "ease of articulation", aber auch gegen Beschreibungsmodelle wie Stärkehierarsen, daß die Parallelität zwischen Erwerbungschronologie bei Kindern und der Richtung sprachlichen Wandels nicht imm e r g e g e b e n ist. Dressler nennt als Beispiel die Tatsache, daß Kinder A f f r i k a t e n durch okklusive Obstruenten e r s e t z e n , während im Sprachwandel immer nur das umgekehrte geschieht, m . E . kann man kindersprachliche Daten, die zu einem so frühen Z e i t p u n k t g e w o n n e n w e r d e n , w o K i n d e r n u r e i n b e g r e n z t e s Inventar b e h e r r s c h e n , nicht sinnvoll als Evidenz h e r a n z i e hen, weil die kommunikativen Möglichkeiten der Kinderspräche in so f r ü h e m Stadium noch nicht den k o m m u n i k a t i v e n A n f o r d e rungen der Erwachsenensprache entsprechen. Zur Einbeziehung externer Evidenz s. auch D r e s s l e r / D r a c h m a n n ( 1 9 7 7 ) und Dressler (1979b) 41 z . B . Ohala
(1974a,b),
Linell
(1979)
28
chien und Markiertheitstheorie, weil sie nicht restlos in phonetischen Termen explizierbar sind. Auch Vennemann (1979, Manuskript) tritt in diesem Sinne für die Autonomie der Phonetik ein. Diese Ansätze sind u.E. insofern richtig, als sie davor warnen, ein abstraktes Beschreibungsmodell,(wie z.B. die Markiertheitstheorie) das mit phonetischen Daten nicht eindeutig korrelierbar ist, schon für eine Erklärung zu halten. Auf der anderen Seite gerät man mit dieser Beschränkung der Phonologie auf substantielle Evidenz sehr bald dann in Schwierigkeiten, wenn man nicht nur universelle, sondern auch typologische und sprachspezifische phonologische Erscheinungen einer Erklärung näherbringen will. Hier ist der Einwand Dressler m.E. gerechtfertigt, daß die Ubertreibung der neuralen und physikalisch-phonetischen Basis der Phonologie zu einer UnterSchätzung der Beziehungen zwischen Phonologie, Morphologie und Lexikon führt (1979b). Wir stimmen daher mit den Funktionalisten in der Phonologie überein, 42 daß neben der substantiellen Basis auch die kommunikative Funktion, die "purposiveness" (Zweckgerichtetheit) in der Phonologie beachtet werden muß, gerade wenn man sich für typologische und sprachspezifische Regularitäten interessiert. Es bleibt die Frage nach einem deskriptiven Apparat für natürliche Prozesse. Die Markiertheitstheorie ist hier insofern von Nutzen, als mit ihrer Hilfe evaluiert werden kann, ob der Output einer Regel segmental weniger oder stärker markiert ist als der Input. Man betrachte z . B . die folgenden beiden Regeln:
(D
Cm sthJ V
**
+ eth] _ dau
L
J
cu sth:
·>· c-sth:
/
42 Beispiele f ü r d i e f u n k t i o n a l i s t i s c h e I n t e r p r e t a t i o n phonol o g i s c h e r P r o z e s s e m i t r o m a n i s c h e n Daten f i n d e n sich i n Schane ( 1 9 7 1 ) .
29
(2)
cu sth: ~*
cm sth:
Die erste Zeile der Regeln bezieht sich jeweils auf die Inter43 pretationsebene, die zweite auf die Deskriptionsebene. Sicher wird jeder Phonologe darin übereinstimmen, daß Regel (1) natürlicher ist als Regel ( 2 ) . Es zeigt sich aber sofort, daß mit diesem Maß für segmentale Einfachheit kein allgemeines Kriterium für die Natürlichkeit von Prozessen zu gewinnen ist; man kann sich das am folgenden Beispiel klar machen. Es gibt wahrscheinlich keinen Zweifel darüber, daß die Sonorisierung intervokalischer Obstruenten (3) ein natürlicher Prozeß ist, nicht aber die Desonorisierung intervokalischer Konsonanten ( 4 ) .
(3)
cu sthD
~*
cm sth:
[ £ .] -» "sth] ' (4)
Cm sth:
r**.
Cu sth:
[tcoSs]
-»
^
l
v
-v
V
-V
In (4) führt die segmental-markiertheitstheoretische Interpretation zu einem bezüglich "Prozeßnatürlichkeit" offensichtlich, unbefriedigenden Ergebnis. Dies zeigt, daß segmentale und prozessuale Natürlichkeit zwei verschiedene, oft konkurrierende Prinzipien darstellen. Bailey spricht in diesem Zusammenhang von "higher-order-unmarking", d.h. Markiertheitsabbau auf höherer Ebene. Diese Terminologie soll ausdrücken, daß z.B. das Eintreten intervokalischer Sonorisierung in einer Sprache L trotz segmentaler Markiertheitszunahme als Markiertheitsabbau 43 Diese Notation stammt von Vennemann
(1972b)
30
zu deuten sei, weil in der Hierarchie der Markiertheitsebenen 44 Prozeßnatürlichkeit über segmentaler Natürlichkeit steht. Wir meinen, daß gradiente Markiertheitsrelationen ebenso wie die von Chen und anderen vorgeschlagenen Metaregeln vorläufig ein nützliches Instrumentarium zur Feststellung eines Inventars gut abgesicherter Prozesse darstellen, auch wenn dieses Instrumentarium eher den Charakter einer abgekürzten Sprechweise als den eines formalen Beschreibungsapparats hat.
1 . 3 . 4 . Das Modell der "Entwicklungsphonologie" Wesentliche Züge der "Entwicklungsphonologie" wurden bereits in Abschnitt 1.2. und 1.3.3. dargestellt. Die Präsentation des Modells an Hand linguistischen Materials wird am Beispiel der Synkope im Bündnerromanischen im Hauptteil der Arbeit geleistet; dies deshalb, weil Regeln im Rahmen der "Entwicklungsphonologie" bisher hauptsächlich für sehr detaillierte Probleme des Englischen formuliert wurden 45 und es unnötig Raum beanspruchen würde, diese komplizierten Datenbereiche hier erneut vorzustellen.
44 E r n e n n t u . a . f o l g e n d e P r o z e s s e , d i e als M a r k i e r t h e i t s a b b a u a u f h ö h e r e r Ebene z u d e u t e n s i n d : A s s i m i l a t i o n , D i s s i milation, Polarisierung, Generalisierung, MerkmalsverLust, R e g e l u m o r d n u n g ( 1 9 7 3 : 37; 1 9 7 7 ) . C a i r n s ( 1969 ) hat versucht, natürliche Prozesse mit H i l f e der Markiertheitstheorie deskriptiv zu e r f a s s e n , indem er durch sprachspezifische N e u t r a l i s i e r u n g s r e g e l n m a r k i e r t e Werte in bestimmten Positionen ausschließt und durch Adaptionsregeln die universellen M a r k i e r t h e i t s w e r t e in bestimmten Position e n u m k e h r t . Selbst w e n n d i e s e s M o d e l l f u n k t i o n i e r t e , h ä t t e es u . E . den Nachteil, die beiden oft gegenläufigen Prinzipien der segmentalen und der sequentiellen M a r k i e r t h e i t zu vermischen. 45 B a i l e y (1981b : 5 7 f f . )
31
1.4.
Beziehungen zwischen der Phonologie von Einzelsprachen und phonologischen Teiltypologien
Während die Universalienforschung diejenigen Invarianten aufzufinden versucht, die allen oder einer statistisch relevanten Anzahl natürlicher Sprachen zugrundeliegen und somit eine Ausgangsbasis für die Typologie liefert, beschäftigt sich die Typologie mit solchen Invarianten, die gewisse typologische Gruppierungen charakterisieren. Im Idealfall ist der Typ ein Bündel aufeinander abgestimmter Erscheinungen: abgestimmt in der Weise, daß gewisse Eigenschaften nicht isoliert, sondern im gegenseitigen Verhältnis der Implikation bzw. zumindest der "Wahlverwandtschaft" stehen. Das Ziel der Typologie besteht also in der Feststellung struktureller Möglichkeiten und Präferenzen natürlicher Sprachen. Daraus folgt als weiteres Ziel die Prognostizierung im Hinblick auf den Sprachwandel. Es wird gefragt, welches im Rahmen einer gegebenen Struktur die möglichen Entwicklungsalternativen sind. Da wir uns hier nur mit einem Teilsystem, der Phonologie, beschäftigen, liegt unser Ziel in einer Teiltypologie in dem Sinne, daß charakteristische Gruppierungen von phonologischen Eigenschaften gefunden werden sollen. Das Verfahren besteht darin, bereits vorgeschlagene Hypothesen über solche Gruppierungen durch den Vergleich verschiedener diachronischer Stadien einer Sprache und den Vergleich einiger genetisch verwandter Dialekte und Sprachen zu überprüfen; es handelt sich also um eine "limitier te" Typologie.
1 . 4 . 1 . Das dynamische und das typologische Pattern Die Idee, daß das mögliche Vorkommen phonologischer Segmente in Sprachen ein implikationales Muster aufweist, geht bekanntlich auf die Prager Schule und besonders auf R. Jakobson zu46
Siehe I n e i c h e n
(1979:22)
32 rück und wird bereits dort mit dem Prinzip der "Merkmalhaftigkeit korreliert.
47
Auf dem Prinzip der implikationalen Ord-
nung sprachlicher Phänomene basiert auch Greenbergs Universalienforschung. Das Konzept wurde von Bailey (1973, 1977 und passim) weiterentwickelt, der auch am klarsten den Zusammenhang zwischen dem Prinzip des Sprachwandels und den Implikationsuniversalien formuliert
hat:
(1) Prinzip des Sprachwandels (dynamisches Pattern):
m
-> m
(2) Prinzip der Implikationsuniversalien (typologisches >
m
^
Z>
Pattern)
m
47 Danach i m p l i z i e r t das Vorkommen eines m e r k m a l h a f t e n Segments j e w e i l s das eines m e r k m a l l o s e n . An dieses P r i n z i p schließen auch die M a r k i e r t h e i t s k o n v e n t i o n e n der generativen Phonologie und der n a t ü r l i c h e n Phonologie a n . Das P r i n z i p kann am Beispiel der E n t w i c k l u n g der i n t e r v o k a lischen O k k l u s i v e im W e s t r o m a n i s c h e n k u r z i l l u s t r i e r t werden. Als erstes werden die s t i m m h a f t e n K o n s o n a n t e n /b d g/ spirantisiert (also C + d a u D : /b A g/). Später werden die stimmlosen Okklusive /p t k / s o n o r i s i e r t zu /b d g/. In dem r e s u l t i e r e n d e n System gibt es j e t z t im Inlaut keine /p t k / m e h r ; u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g des W e g f a l l s der auslautenden V e r s c h l u ß l a u t e sind /p t k / also a l l e i n auf den A n l a u t b e s c h r ä n k t . Da die s t i m m h a f t e n /b d g/ die bezüglich " S t i m m h a f t i g k e i t " u n m a r k i e r t e n /p t k / i m p l i z i e r e n , scheint es u n n a t ü r l i c h zu sein, daß die u n m a r k i e r t e s t e Serie /p t k/ in b e s c h r ä n k t e r e n Positionen vorkommt als die m a r k i e r t e r e Serie /b d g / . Die s o g e n a n n t e n "Geminaten" /pp tt kk/ werden daher v e r e i n f a c h t und r ü c k e n in die Stelle von /p t k / ein. Ein solcher Wandel wurde im S t r u k t u r a l i s mus ( M a r t i n e t ) meist a l s " d r a g - c h a i n " ( " Z u g " ) b e z e i c h n e t . Es sollte im gegebenen Zusammenhang jedoch n i c h t übersehen w e r d e n , daß B e g r i f f e wie "hole in the p a t t e r n , drag c h a i n " etc. im S t r u k t u r a l i s m u s nur weitgehend u n r e s t r i n g i e r t e Metaphern d a r s t e l l e n . E r s t der M a r k i e r t h e i t s t h e o r i e gelingt es, den B e g r i f f "mögliche d r a g - c h a i n " zu e x p l i z i e r e n : eine "Zug-Kette" ist m ö g l i c h , genau d a n n , wenn es sich um eine Kette von E n t w i c k l u n g e n des Typs ii —» m h a n d e l t .
33
Die beiden Prinzipien können verbalisiert werden als: ( 1 ) : Markiertere Eigenschaften werden im Sprachwandel zu unmarkierteren; ( 2 ) : eine markiertere Eigenschaft impliziert das Vorhandensein der entsprechenden unmarkierteren Eigenschaft. Diese beiden Prinzipien sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, denn Verletzungen von (2) werden durch (1) wieder beseitigt. Man kann sich nun natürlich fragen, wieso es überhaupt zu Verletzungen von (2) kommt, bzw. warum mit (1) Sprachen nicht immer unmarkierter werden. Ein Grund hierfür ist rein innerlinguistischer Natur; rein segmental unmarkierte Einheiten können durch Prozesse höherer Ordnung wie Assimilation markiert werden. Segmentale und sequentielle Einfachheit ist im allgemeinen also nicht gleichzeitig optimierbar. In gleicher Weise ist Einfachheit der Artikulation und der Perzeption nicht gleichzeitig optimierbar, denn artikulatorisch relativ einfachere Äußerungen in unkontrollierten oder Schnellsprechstilen sind oft schwerer zu verstehen als solche in kontrollierter, expliziter Aussprache; für die Einfachheit der Artikulation gilt das Umgekehrte. Die jeweiligen Strategien richten sich hier nach den Erfordernissen der Kommunikationssituation. Außerdem stehen die Komponenten der Grammatik - Phonologie, Morphologie und Syntax - miteinander in einer Beziehung der Art, daß die Vereinfachung aller Komponenten gleichzeitig ebenfalls nicht möglich ist, da sonst die Kommunikationsfunktion der Sprache nicht voll aufrechterhalten werden kann. Tatsächlich finden sich Vereinfachungen in allen Komponenten gleichzeitig nur in reduzierten Sprachen (Pidgins, Sprachtod). Ein zweiter Grund für Verletzungen von (2) liegt in externen Faktoren wie Lektmischung, Entlehnung und Hyperkorrektion. Alle diese Erscheinungen sind - wohlgemerkt - im Leben von Sprachen völlig "normal", nur erzeugen sie eben keinen natürlichen Wandel im oben dargelegten Sinne von "natürlich". 48 Siehe Bailey
(1977b)
34
1 . 4 . 2 . Segmentale Typologie Der typologische Vergleich von Segmentinventaren und die Erstellung von Implikationen der oben beschriebenen Art (und damit auch der Gewinnung von Markiertheitsrelationen)
er-
scheint unproblematisch, solange man auf der Basis einer Phonologietheorie arbeitet, die etwa wie die strukturalistische nur eine Repräsentationsebene kennt. In einer Phonologie mit verschiedenen Repräsentationsebenen (und seien diese auch relativ "seicht"), stellt sich die Frage, ob man zugrundeliegende Phoneme oder Oberflächenphoneme vergleichen soll. Wir halten das letztere für adäquater, da die Natürlichkeit der Artikulation und Perzeption von Segmenten nur an Oberflächenformen festgemacht werden kann. Bei diesem Problem zeigt sich, daß die Art typologischer Untersuchungen vom jeweiligen Grammatikmodell abhängig ist.
Denn in einer Phonologie, die annimmt,
daß es verschiedene Repräsentationsebenen gibt und Prozesse, die diese miteinander verbinden, ist
ein reiner Vergleich von
Segmentinventaren für die Erstellung phonologischer Typologien unvollständig. Daher hat erst die generative Phonologie und besonders die natürliche Phonologie die Erstellung von Prozeßtypologien als Forschungsgebiet ausgewiesen.
1 . 4 . 3 . Prozeßtypologie Eine (qualitative) Prozeßtypologie muß sich u . E . die Frage stellen, ob sich Gruppierungen oder - noch besser - Implikationen von phonologischen Prozessen finden lassen, die für 49 bestimmte Gruppen von Sprachen typisch sind. Dressler ( 1 9 7 9 ) hat darauf hingewiesen, daß man daneben auch an eine quantita49 W i r m ö c h t e n h i e r P r o z e s s e n i c h t i m S i n n e v o n Stampe ( 1 9 7 3 ) oder Donegan ( 1 9 7 8 ) v e r s t e h e n , d . h . als M e c h a n i s m e n , d i e a l l e d e n k b a r e n p h o n e t i s c h e n E i n h e i t e n nach u n d n a c h eins c h r ä n k e n , bis e i n s p r a c h s p e z i f i s c h e s I n v e n t a r ü b r i g b l e i b t . Wir v e r s t e h e n d a r u n t e r v i e l m e h r solche p h o n o l o g i s c h e n R e geln, die sich durch A l t e r n a t i o n e n a u f f i n d e n lassen, aber im oben e x p l i z i e r t e n Sinne " n a t ü r l i c h " , d . h . p h o n e t i s c h motiviert sind.
35
tive Typologie denken könnte, in der Sprachen geordnet werden bezüglich der Anzahl der phonologischen Prozesse, die sie besitzen. Eine weitergehende wichtige Fragestellung würde dann darauf abzielen, inwieweit Anzahl und Art der Prozesse vom Typ der Wortbildungs- und Flexionsmorphologie sowie der Anordnung und Anzahl zugrundeliegender Phoneme abhängt. Ein solches Unterfangen erfordert die Einbeziehung von Sprachen, die sich hinsichtlich ihrer morphosyntaktischen Eigenschaften typologisch unterscheiden und kann hier nicht geleistet werden. Wir werden uns auf das bescheidenere Ziel beschränken, typische Gruppierungen (oder Implikationen) von Prozessen sowie mögliche Hierarchien der Kontexte phonologischer Prozesse im Verlauf ihrer schrittweisen Generalisierung aufzufinden. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, ob es systematische Beziehungen zwischen bestimmten Prozessen und der rhythmischen Organisation von Sprachen gibt. "Rhythmisch" wollen wir dabei nicht im Sinne einer metrischen Struktur gebrauchen, sondern damit jenes Phänomen bezeichnen, das dem englischen "timing" entspricht, also der Tatsache, daß der gesprochenen Kette eine bestimmte Zeiteinteilung aufgeprägt wird.
1.5. Anmerkungen zur Beziehung zwischen Phonologie und Morphologie Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß eine der stärksten Definzienzen der generativen Phonologie in der mangelnden Unterscheidung von phonologischen Prozessen und morphologischen Regeln lag. Obwohl morphologische Regeln wertvolle Hinweise auf ehemals phonologische Prozesse liefern können, soll in dieser Arbeit versucht werden, die Trennung zwischen beiden Typen von Regeln schärfer zu ziehen; aus diesem Grunde scheinen die folgenden Anmerkungen nötig. 50 Dressler
(1979a:6)
51 Auf die v e r s c h i e d e n e n M ö g l i c h k e i t e n des " t i m i n g s " in n a t ü r lichen Sprachen w i r d i n 2 . 2 . e i n g e g a n g e n .
36
Morphophonologie Es ist hier nicht möglich nachzuzeichnen, was im Laufe der linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte jeweils unter dem Begriff "Morphophonologie" verstanden wurde; statt dessen möchte ich mich einer Charakterisierung dieses Begriffs anschließen, wie sie kürzlich 52 von Wurzel formuliert wurde. Danach beginnt der Bereich der Morphophonologie mit der Einschränkung der Natürlichkeit einer phonologischen Regel, deren Anwendung aus irgendwelchen Gründen nicht mehr durch rein phonetische Faktoren gesteuert wird. Der weitere Abbau der phonetischen Natürlichkeit ist dann vorprogrammiert. Dies kann geschehen durch Verlust des Kontexts aufgrund der Anwendung eines anderen Prozesses, durch Opakheit oder durch morphologische Uminterpretation einer ursprünglich rein phonetisch motivierten Regel. Es handelt sich bei morphonologischen Regeln um solche, die noch nicht ausschließlich grammatisch gesteuert sind, sondern ein gewisses Ausmaß an phonologischer Motivation bewahrt haben.
Das ikonische Prinzip Da phonologische "regelmäßige" Pattern bekanntermaßen sehr oft durch Paradigmaausgleich ("Analogie") durchbrochen werden, sollen in diesem und dem folgenden Abschnitt kurz zwei Prinzipien besprochen werden, die offenbar bei der Regularisierung morphologischer Pattern eine Rolle spielen. Das sog. "ikonische" Prinzip bezieht sich auf eine Relation zwischen Zeichen, Objekt und Zeichenbenutzer in der Weise, daß die Morphologie natürlicher Sprachen so aufgebaut ist, daß im allgemeinen semantisch markiertere Einheiten in der morphologischen Kodierung "komplexer", d.h. merkmalhafter (im Sinne der Prager Schule) aufscheinen. So ist z . B . zu erwarten, daß (abgesehen von 52 Wurzel
(198O)
53 Die Darstellung folgt W. Mayerthaler
(198O)
37
Singulativa) der Plural von Nomina merkmalhafter kodiert wird als der Singular. Was die Bedeutung des Begriffs "semantisch markierter" im einzelnen anbelangt, so müssen wir uns hier auf die Andeutung beschränken, daß dieser interpretiert werden kann als "kognitiv komplexer"; im übrigen wollen wir auf W. Mayerthaler (1980, 1981) verweisen.
Das Prinzip der Systemangemessenheit Dem erstgenannten, universell wirksamen Prinzip der Ikonizität morphologischer Kodierungen wirkt ein zweites, sprachspezifisches System entgegen, auf das vor allem Wurzel (198O, Manuskript) hingewiesen hat, und das er mit "Systemangemessenheit" bezeichnet. Nach Wurzel wird morphologischer Wandel außer durch das Prinzip der ikonischen Kodierung auch durch die systemdefinierenden Eigenschaften einer Sprache determiniert (dazu gehören z.B. die Phonotaktik, die Silbenstruktur, die Art der phonologischen Prozesse und der Typ der morphologischen Kodierung). Er verdeutlicht dieses Prinzip an folgendem Beispiel aus dem Deutschen: ich gibe > gebe du gibst er gibt wir geben
vs.
ich schlage du schlägst er schlägt wir schlagen
Wie kommt es zu dem Wandel gibe > gebe? Im Deutschen sind Umlautverben mit Vokalalternation im Präs. Ind. (V., in der 1. PS. Sing, und im PI. vs. V- in der 2 . / 3 . PS. Sing.) viel häufiger als Verben des i/e - Alternationstyps; zusätzlich umfaßt der Umlaut viel größere Vokalklassen und ist im Deutschen als Mittel morphologischer Kodierung auch außerhalb des Verbalparadigmas expansiv. Der Wandel verletzt zwar das Prinzip: "one meaning - one form", ist aber dennoch für das deutsche System angemessen. Eine gute indirekte Bestätigung hierfür bieten Dialekte, die keinen Umlaut kennen, wie das Bair. (du schlaget) , und dementsprechend den obigen Wandel nicht aufweisen (i gib) .
38
2. Allgemeine Vorbemerkungen zum unbetonten Vokalismus 2.1. Natürliche Prozesse beim unbetonten Vokalismus In diesem Abschnitt möchten wir einige Ergebnisse aus Untersuchungen zum Vokalismus im Rahmen der "Natürlichen Phonologie" referieren. Zuvor jedoch soll das bei Analysen von Verbalprozessen übliche Begriffsinventar geordnet und vereinfacht wer-
den.
2 . 1 . 1 . Probleme der Begrifflichkeit "Verstärkung" und "Abschwächung" Die Begriffe "Verstärkung" und "Abschwächung" finden sich in der Phonologie seit langem; sie beziehen sich meist auf ver54 schiedene "Stärkehierarchien" für Segmente. In diesem Fall bedeutet "Verstärkung", daß ein Segment durch ein anderes ersetzt wird, das sich in der Stärkehierarchie weiter oben befindet; für "Abschwächung" gilt das Umgekehrte. Es ist aber wichtig festzustellen, daß nicht alle Phonologen diese Begriffe im selben Sinn benützen. Während etwa Foley (1970) die Stärke eines Segments allein aufgrund seines phonologischen Verhaltens bestimmt, und zwar ohne Rekurs auf phonetische Gegebenheiten, findet sich bei de Saussure und Grammont schon die Idee, die Stärke von Segmenten mit phonetischen Parametern wie einem (artikulatorischen) "Öffnungsgrad" ("Schallfüllegrad" bei Lausberg ( 1 9 5 6 ) ) oder einem (perzeptiven) "Resonanzgrad" zu korrelieren. Ganz abgesehen davon, daß keiner dieser Begriffe einer eindeutigen, in phonetischen Termen angebbaren Eigenschaft entspricht (vielmehr sind die Begriffe "Öffnungsgrad", "Schallfüllgrad", "Resonanzgrad" ebenso metaphorisch wie "Stärke"), zeigt sich bei der empirischen Untersuchung von Sprachen sehr 54 Siehe dazu A b s c h n i t t 1 . 3 . 2 .
39 bald, daß aus keiner dieser Skalen das phonologische Verhalten von Segmenten eindeutig ableitbar ist. Andere Vertreter der sogenannten "Natürlichen Phonologie", wie vor allem D. Stampe und P. Donegan, verbinden die Begriffe "Verstärkung" und "Abschwächung" einerseits mit den in der Phonologie ebenso altbekannten Prinzipien der "Leichtigkeit der Artikulation" und "Leichtigkeit der Perzeption", andererseits mit dem Konzept der segmentalen vs. sequentiellen Einfachheit. Danach verdeutlichen Verstärkungsprozesse die phonetischen Eigenschaften von individuellen Segmenten und machen sie daher leichter perzipierbar (aber oft auch leichter aussprechbar), während Abschwächungsprozesse die Aussprechbarkeit einer Segmentsequenz erleichtern. Dies scheint mir eine brauchbare Konzeption von "Abschwächung" und "Verstärkung" (trotz der auf S. 41 geäusserten Vorbehalte), obwohl der Nachweis, ob es sich bei einzelnen Prozessen wirklich um eine Verstärkung oder Abschwächung der typischen phonetischen Eigenschaft eines Segments handelt, in vielen Fällen der Phonetik überlassen bleiben muß. Nach dieser Konzeption ist zu erwarten, daß Verstärkungsprozesse besonders in "starken" Positionen vorkommen, z . B . bei betonten Vokalen (Silbennukleus) oder bei silbeninitialen Konsonanten. Sie treten eher in langsamer, korrekter oder hyperkorrekter Sprechweise auf und sind oft kontextfrei oder dissimilativ. Dagegen vermindern Abschwächungsprozesse die phonetischen Eigenschaften eines Segments, indem der Kontrast zwischen dem Segment und seiner Umgebung eliminiert wird. Sie sind besonders 55 Um nur ein Beispiel zu n e n n e n : In v i e l e n " S t ä r k e h i e r a r c h i e n ' w e r d e n d i e Segmente /s l r / i n d i e s e r R e i h e n f o l g e a b s t e i g e n d e r S t ä r k e a n g e o r d n e t . Demnach w ä r e z u e r w a r t e n , d a ß / r / a l s s c h w ä c h s t e s Segment m i t v o r a u s g e h e n d e n O k k l u s i v e n a m l e i c h t e s t e n e i n e n N e x u s b i l d e t , d a n n /!/, d a n n / s / . W i e a n verschiedenen Beispielen gezeigt werden kann ( z . B . Bailey 1977c, A b s c h n i t t e über Synkope i n d e r v o r l i e g e n d e n A r b e i t ) , s t i m m t diese R a n g f o l g e n u r f ü r / r / , w ä h r e n d z . B . ( t l / seltener vorkommt als /ts/. 56 Siehe z . B . Passy
(1890:229)
40
in "schwachen" Positionen zu erwarten, so z.B. bei unbetonten Vokalen und silbenfinalen Konsonanten. Sie treten eher in schneller und unkontrollierter Sprechweise ein, sind oft kontextsensitiv, assimilativ oder reduktiv. 57 Beispiele für Verstärkungsprozesse bei Vokalen sind das peripher-(gespannt-)Werden, Längung, Dissimilation zweier Bestandteile eines Diphthongs, sowie verschiedene Prozesse, die von den phonetischen Eigenschaften des jeweiligen Segments abhängen. Abschwächungsprozesse bei Vokalen sind z . B . Zentralisierung, Desonorisierung, Tilgung, Kürzung, Assimilation, Monophthongierung.
"Verdeutlichung" und "Entdeutlichung", "Strukturbewahrung" und "Strukturabbau" Statt der Begriffe "Verstärkung" und "Abschwächung" verwendet Dressler (1979a) "Verdeutlichung" und "Entdeutlichung", was stärker auf die perzeptive Funktion der jeweiligen Prozesse hinweist; "Strukturerhaltung" und "Strukturabbau", u.a. ebenfalls bei Dressler, bezeichnet eher das Ergebnis von Prozessen als die Prozesse selbst; ansonsten besteht m.E. kein Unter58 schied zu dem erstgenannten Begriffspaar.
"Zentrifugale" und "zentripetale" Prozesse Dieses Begriffspaar wird ebenfalls von Dressler gebraucht und bezieht sich auf Vokalprozesse. Zentrifugale Prozesse sind Palatalisierung, Velarisierung und 5 7 S i e h e Donegan
(1978:2O f . )
58 E m p i r i s c h i n t e r e s s a n t e r ist ein H i n w e i s in D r e s s l e r / D r a c h mann ( 1 9 7 7 ) im Zusammenhang mit Ver- und Entdeutlichungsp r o z e s s e n , der sich d a r a u f b e z i e h t , daß bei der P l a n u n g des g e s a m t e n S p r e c h a k t s Silben a l s r h y t h m i s c h e Gruppen eine große Rolle spielen, und daß daher V e r d e u t l i c h u n g s p r o z e s s e in hervorgehobenen ( " s a l i e n t " ) Silben, Entdeutlichungsprozesse in " s c h w a c h e n " Silben zu e r w a r t e n s i n d .
41
Senkung durch Pharyngale und Laryngale, also Artikulationsbewegungen, die in die peripheren Räume führen. Labialisierung und Nasalisierung gehören nicht dazu, weil sie andere Resonanzräume betreffen. Sie können aber zentrifugale Prozesse auslösen und zwar Labialisierung gleichzeitige Velarisierung und Anhebung, Nasalierung gleichzeitige Velarisierung und Senkung. Zentripetale Prozesse sind Verlust von Eigenton und Sonorität. Bei labiovelaren und palatalen Vokalen handelt es sich um Zentralisierung, bei /a/ um Zentralisierung und Anhebung. Auf der Basis dieser Klassifikation kann man die empirische Frage stellen, ob das Vorkommen einer der Prozeßklassen besonders oder ausschließlich beim unbetonten Vokalismus zu beobachten ist.
Perzeptive und artikulatorische Motivation Es wurde bereits auf S. 38 f. festgestellt, daß sehr viele Phonologen folgende Verbindungen zwischen Prozeßtypen und deren Funktion herstellen: Prozeßtypen
Verstärkung Verdeutlichung Strukturerhaltung Zentrifugalisierung (bei Vokalen)
Abschwächung Entdeutlichung Strukturabbau Zentripetalisierung (bei Vokalen)
Funktion
Vereinfachung der Perzeption oder der Artikulation einzelner Segmente
Vereinfachung der Artikulation von SegmentSequenzen
Verschiedene phonetische Untersuchungen zeigen jedoch, daß die Maximierung der phonetischen Eigenschaften eines einzelnen Segments nicht gleichbedeutend mit der optimalen Perzipierbarkeit ist; zumindest für Phänomene der Koartikulation gilt, daß sie die Perzipierbarkeit nicht verschlechtern, sondern ver-
42
bessern. 59 Ohala (1974a) weist explizit darauf hin, daß viele artikulatorisch bedingte Wandel nicht die Wirkung einer Reduzierung von Kontrasten haben, und daß einige auditiv bedingte Wandel nicht den E f f e k t haben, neue Kontraste zu schaffen.
"Diphthongierung" und "Monophthongierung" In einem Aufsatz von Andersen ( 1 9 7 2 ) findet sich eine interessante Erweiterung dieses Begriffspaares über vokalische Prozesse hinaus, derart, daß jede Aufspaltung eines Segments in zwei heterogene Bestandteile oder in zwei Segmente als Diphthongierung, jede Kontraktion von Segmenten als Monophthongierung bezeichnet wird. Andersen unterscheidet zwei Arten von Diphthongierung und ordnet ihnen folgende Wirkungen und Motivationen zu: 5 9 Siehe z . B . L i n d b l o m ( 1 9 6 3 ) , O h a l a ( 1 9 7 4 b ) . O s t r e i c h e r / S h a r f ( 1 9 7 6 ) h a b e n f e s t g e s t e l l t , d a ß A r t i k u l a t i o n s s t e l l e , Stimmh a f t i g k e i t und A r t i k u l a t i o n s a r t von Konsonanten von a d j a zenten Vokalen h e r , Zungenhöhe und vordere Z u n g e n a r t i k u l a tion von Vokalen von a d j a z e n t e n Konsonanten her bestimmt werden können. 60 E i n B e i s p i e l f ü r e i n e n " a u t o m a t i s c h " e i n t r e t e n d e n a r t i k u l a t o r i s c h e n P r o z e ß , d e r k e i n e K o n t r a s t e t i l g t , f i n d e t sich z . B . i n O h a l a ( 1 9 7 4 a ) . E s geht dabei u m d i e E p e n t h e s e v o n K o n s o n a n t e n z w i s c h e n N a s a l e n oder L i q u i d e n u n d f o l g e n d e n O b s t r u e n t e n , also z . B . / m s / —> C r a p s ] ; / I s / —>· clts;]. Ohala z e i g t , d a ß d i e s e r W a n d e l e i n d e u t i g a r t i k u l a t o r i s c h ist, weil es zwischen den beiden Ausgangssegmenten praktisch z w a n g s l ä u f i g zu e i n e m Stop des L u f t s t r o m s k o m m t , so d a ß e i n O k k l u s i v p e r z i p i e r t w i r d . Obwohl a r t i k u l a t o r i s c h b e d i n g t , w i r k t dieser W a n d e l aber e h e r s t r u k t u r e r h a l t e n d ( e r stabilisiert die S i l b e n s t r u k t u r ) , nicht strukturabbauend. Ein Beispiel für einen perzeptiv bedingten Wandel, der keine neuen Kontraste s c h a f f t , ist m . E . der Wandel von /k/ zu /p/ im R u m ä n i s c h e n in F ä l l e n wie lt. noate > r u m . noapte. Dieser Wandel ist kaum artikulatorisch zu erklären; die sehr ä h n l i c h e n F o r m a n t p a t t e r n v o n / k / u n d / p / z e i g e n a b e r , daß e i n A u s t a u s c h d e r Segmente d u r c h a u d i t i v e " V e r w e c h s lung" denkbar ist ("Abduktion" in Andersens Terminologie; s. dazu Andersen ( 1 9 7 3 ) ) . Der Wandel verursacht im Rumänischen k e i n e n e u e n K o n t r a s t e .
43
Name des Prozesses
phonetische Diphthongierung
phonemische Diphthongierung
Wirkung
Aufspaltung eines Segments in zwei heterogene Bestandteile
Aufspaltung eines Segments in zwei Segmente
Motivation
artikulatorisch "deduktiver" Wandel
perzeptiv "abduktiver" Wandel
Danach sind auch alle Arten von epenthetischen Prozessen als Diphthongierung aufzufassen. Empirisch interessant ist dabei die These von Andersen, daß Diphthongierung normalerweise dem Prinzip der "intra-segmentalen Variation" folgt; dabei werden die jeweils entgegengesetzten Merkmalswerte des Merkmals, bezüglich dessen diphthongiert wird, in der Ordnung "unmarkiertmarkiert" über die Gesamtdauer des Segments verteilt. Diphthongierung, die diesem Prinzip nicht folgt, zielt auf das Prinzip der unmarkierten Silbenstruktur, also auf offene Silben, hin.
2 . 1 . 2 . Einige Prozeßtypen im Einzelnen Die folgende Besprechung einiger Prozeßtypen erfolgt im wesentlichen auf der Basis von Donegan ( 1 9 7 8 ) ; dies deshalb, weil in dieser Arbeit Ergebnisse sehr vieler, auch europäischer Phonologen kompiliert sind und weil Untersuchungen über eine relativ große Anzahl von Sprachen konsultiert wurden. Zwar beziehen sich die referierten Prozesse und deren funktionale Interpretation auf den betonten Vokalismus, doch können daraus trotzdem einige Arbeitshypothesen gewonnen werden. Falls sich erweisen sollte, daß sich in einer Sprache unbetonte Vokale gleich verhalten wie betonte, kann man daraus schließen, daß es sich um eine Sprache mit Silbenrhythmus handelt (s. unten).
44
Per.ipherisierunq/Zentralisierung
V
V
otgra
lab slang 3 hoch
agra C+per]
lab
c-per:
clang choch
Peripherisierung ("tensing", Gespanntwerden) kommt bei palatalen und labialen Vokalen vor. Es gilt: je höher und länger der Vokal, umso leichter wird er peripher. Die Funktion der Peripherisierung besteht in der Hinzufügung von Klangfarbe; daher werden auch nur solche Vokale affiziert, die bereits Klangfarbe besitzen. Daß vor allem lange Vokale betroffen werden hängt damit zusammen, daß diese mehr Zeit für die Ausführung der (bei peripheren Vokalen in extremen Positionen liegenden) Artikulationsbewegungen zur Verfügung stellen. Zentralisierung kommt bei der komplementären Klasse vor, nämlich bei nicht-palatalen, nicht-labialen, eher kurzen und tiefen Vokalen. Der Grund, warum Zentralisierung von Donegan überhaupt als Verstärkungsprozeß interpretiert wird,liegt darin, daß seine Funktion bei der oben angeführten Vokalklasse in der Vermehrung der vokalischen Eigenschaft par excellence, nämlich der Sonorität, liegt. Während Peripherisierung als Abschwächungsprozeß wohl nicht vorkommt (mir ist kein Fall bekannt, in dem kurze Vokale ohne Klangfarbe peripherisiert werden), hat Zentralisierung ganz klar auch Abschwächungsfunktion, nämlich dann, wenn sie auf die Klasse der hohen Vokale mit Klangfarbe angewendet wird. 61 Diese Beobachtung f i n d e t sich schon viel f r ü h e r , z . B . in Straka ( 1 9 5 9 ) , ebenso Weiß ( 1 9 7 6 ) , der als Ergebnis von P e r z e p t i o n s t e s t s im Deutschen f e s t s t e l l t : "The results by and large c o n f i r m the existence in perception of the same type of r e l a t i o n s h i p that exists in p r o d u c t i o n . The vowels showing the greatest percentage of agreement were those which exhibited the close-tense long or the open-lax short relationship."
45
Längung/Kürzung Länge und Kürze von Vokalen sind insofern besonders kompliziert/ als sie mit dem rhythmischen Aufbau einer Sprache zusammenhängen und Veränderungen in der Vokallänge offenbar mit einem Wandel von einem Rhythmustyp zu einem anderen verbunden sind. In Sprachen mit Silbenrhythmus 62 sind alle Vokale in CV-Silben gleich lang; wenn es Silben mit CVC-Struktur gibt, ist der Vokal in diesen kürzer. In Sprachen mit Akzentrhythmus sind betonte Vokale länger, oft doppelt so lang, wie unbetonte, und der betonte Vokal eines einsilbigen Wortes ist länger als der von zwei- oder mehrsilbigen Wörtern. In Morensprachen ist die Vokallänge distinktiv; es gibt einen Kontrast zwischen kurzen Silben (CV) und langen Silben (CV oder CVC, gelegentlich gibt es auch überlange Silben, CVC). Beim Übergang vom Morenrhythmus zum Akzent- oder Silbenrhythmus können die distinktiven Vokallängen nicht aufrechterhalten werden; im ersten Fall werden alle betonten Vokale gelängt und alle unbetonten gekürzt; im zweiten Fall werden alle Vokale in offenen Silben gelängt, alle in geschlossenen Silben, die nicht schon kurz sind, gekürzt. Beim Übergang von einer Akzent- in eine Silbenrhythmussprache werden die betonten Silben gekürzt, die unbetonten gelängt. Möglicherweise kann man von den jeweils vorkommenden Längungen und Kürzungen auf die rhythmische Organisation einer Sprache schließen.
Anhebung/Senkung
v n hoch
gra lab => per c hoch
v n hoch
—»
+1 hoch:
gra lab c per o lang
Bed.: eher wenn
cn-1 hoch3
^
62 Zu den B e g r i f f e n , die sich auf den R h y t h m u s t y p e i n e r Sprache beziehen, s. Abschnitt 2 . 2 .
46
Kontextfreie Anhebung affiziert vorzugsweise gespannte, eher tiefe Vokale mit Klangfarbe. Die Funktion der Anhebung besteht in der Verstärkung der Klangfarbe. Senkung kommt vor bei langen, ungespannten Vokalen ohne oder mit geringer Klangfarbe, was eine Verstärkung der Sonorität bewirkt. Perzeptionstests in Weiß (1976) bestätigen, daß es sich sowohl bei Anhebung als auch bei Senkung in den angegebenen Segmenttypen um auditive Verstärkung handelt: "High vowels are distinguished primarily by quality (length is secondary). Low vowels are distinguished primarily by length (quality is secondary). Mid vowels are distinguished by both length and quality factors." (S. 273) Die phonemische Relevanz von Länge vergrößert sich mit tieferer Artikulation, die phonemische Relevanz von Qualität erhöht sich mit höherer Artikulation (Weiß S. 2 7 5 ) . Demnach müßte die Anhebung von Vokalen ohne oder mit geringer Klangfarbe und die Senkung von Vokalen mit Klangfarbe als Abschwächung interpretierbar sein. Es bleibt ein Problem, ob die oft beobachtbare Anhebung von unbetontem /e, o, ö/ zu /i, u, ü/ als Verstärkung oder als Abschwächung zu interpretieren ist, denn einerseits haben diese Vokale Klangfarbe und bekommen durch die Anhebung noch mehr; andererseits aber sind sie wohl (wie alle unbetonten Vokale in Akzentsprachen) ungespannt und sollten daher eher nicht angehoben werden. Vielleicht bringt uns die Betrachtung dieses Prozesses in Zusammenhang mit anderen Prozeßtypen einer Antwort näher.
63 Ohala ( 1 9 7 4 a : 2 6 5 f f . ) weist darauf h i n , d a ß d i e Tendenz z e n t r a l e r V o k a l e , sich zu e r n i e d r i g e n , und die p e r i pherer Vokale, sich zu e r h ö h e n , phonetisch noch n i c h t r e s t l o s g e k l ä r t sei. Zur K o r r e l a t i o n z w i s c h e n Dauer und Höhe bei auch L e h i s t e ( 1 9 7 O : 1 8 f f . )
V o k a l e n siehe
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Palatalisierung und Labialisierung V -lab Dhoch
C-gra:
V +gra
C+lab3
Palatalisierung ist eher zu erwarten bei nicht-labialen, hohen Vokalen; Labialisierung bei nicht-palatalen, hohen Vokalen. Die Funktion liegt jeweils in der Verstärkung der Klangfarbe. Beide Prozesse sind nur dann als Verstärkung zu betrachten, wenn sie kontextfrei oder dissimilativ auftreten; assimilativ sind sie abschwächend.
Entpalatalisierung und Entlabialisierung V c hoch cper gra lab
C-labD
V c hoch cper gra 0 lab
C-gra]
Beide Prozesse kommen eher bei tieferen, ungespannten Vokalen mit gemischter Klangfarbe (labiopalatal oder nicht-labial und velar) vor. Namentlich bei gemischten Vokalen ist Entlabialisierung viel häufiger als Entpalatalisierung, also z.B. /oe / —> /o / ist seltener als /OB / —»· /. Die Funktion der Prozesse liegt bei tiefen Vokalen in einer Verstärkung der Sonorität, bei gemischten in einer Verstärkung der Klangfarbe. Demnach sind beide Prozesse als Abschwächung anzusehen, wenn sie eher hohe Vokale mit eindeutiger Klangfarbe betreffen, also z.B. Entlabialisierung von /u/ zu /±/.
Vokaleinschub und Vokaltilgung Mit "Vokaleinschub" werden hier Prozesse wie Prosthese, Epenthese, Epithese, mit "Vokaltilgung" Prozesse wie Aphärese, Synkope, Apokope zusammengefaßt. Nachdem mir bisher keine romanistische Arbeit bekannt ist, die diese Prozeßtypen unter über-
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greifenden Fragestellungen behandelt, möchten wir in diesem Abschnitt einen Problemkatalog bezüglich dieser Prozesse erstellen. Ein solcher Katalog müßte m.E. folgende Fragestellungen enthalten: 64 - Inwieweit hängt das Eintreten der Prozesse mit der rhythmischen Organisation einer Sprache zusammen? - Welche sind die resultierenden Silbenstrukturen? - Findet sich als Ergebnis ein verändertes, funktional interpretierbares Akzentmuster? - Geht der Vokaltilgung eine Abschwächung voraus? - Gibt es in der Sprache sowohl Vokaltilgung als auch -insertion und an welchen Stellen im Wort erfolgen die jeweiligen Prozesse? - Welche Vokalqualitäten und -quantitäten werden betroffen? Läßt sich hier eine temporale Gradienz feststellen? - In welchem unmittelbaren Kontext (Konsonantenrahmen) finden die Prozesse statt? Ist das Eintreten der Prozesse bezüglich des Kontexte gradient? - In welchem weiteren Kontext (Stellung zur Haupt tons Übe) finden die Prozesse statt? - Welches sind die resultierenden Konsonantennexus (bei Tilgung) oder Silbentypen (bei Einschub)? - Welche Konsequenzen haben die Prozesse für die Silbifizierung? Wenn man sich um eine funktionale Interpretation dieser Prozeßtypen bemüht, dann sieht es zunächst so aus, als ob Vokaleinschub der Strukturbewahrung diene (perzeptive Motivation), Vokaltilgung hingegen einen Strukturabbau bewirke (artikulatorische Motivation). Wie im Vorgriff auf spätere Ergebnisse jetzt schon gesagt werden kann, erweist sich dies bei näherem Zusehen als unzulässige Simplifikation. So tut z . B . die Synkope 64 Diese Z u s a m m e n s t e l l u n g e n t h ä l t viele Anregungen aus Dressler ( 1 9 7 5 ) , Dressler/Drachmann ( 1 9 7 7 ) .
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eines Vortonvokals zwischen C und /r/ (woraus ein wortanlautender Nexus Cr entsteht) der Perzipierbarkeit eines Wortes überhaupt keinen Abbruch, verstärkt aber den Anlaut der folgenden betonten Silbe, wie z.B. in lt. farina > surs. C f r i n » : (Mehl). Der häufig zu beobachtende Vokaleinschub an der gleichen Stelle (zwischen wortanlautendem C und / r / ) , der nach der obigen Anfangshypothese strukturbewahrend oder -erweiternd und daher eher perzeptiv motiviert sein sollte, ist dagegen auf die starke Sonorität des /r/ zurückzuführen und artikulatorisch bedingt. So wurden z.B. im Oberengadin alle palatalen Vokale in unbetonten Anfangssilben unabhängig vom Konsonantenrahmen getilgt, was die Perzipierbarkeit der betroffenen Wörter offenbar nicht beeinträchtigt hat. Zwischen C und /r/ jedoch wurde später an der Stelle des ursprünglichen Vokals ein epenthetisches / » / eingeschoben, während die übrigen, durch die Synkope entstandenen Konsonantennexus unverändert blieben. Läge hier wirklich eine perzeptive Motivation vor, dann hätten m.E. alle diese Nexus durch Epenthese aufgebrochen werden müssen. Generell darf nicht angenommen werden, daß Vokaltilgung immer perzeptiv nachteilig ist: sie kann vielmehr auch zu einer Normierung des Akzentmusters und damit zu einer leichteren Erkennbarkeit von Wortgrenzen führen; dies ist evident im Frz., wo Vokaltilgungen so lange durchgeführt wurden, bis (ohne Verschiebung der ursprünglichen Position des Akzents) ein einheitlich oxytoner Akzent vorlag.
Diphthongierung/Monophthongierung Wie schon oben bemerkt, kann nach Andersen Vokaleinschub unter den übergeordneten Begriff der "Diphthongierung", Vokaltilgung unter den der "Monophthongierung" eingereiht werden. Dies soll 65 D . h . , die Regel wurde in einer b e s t i m m t e n Phase k a t e g o r i a l . Zur s c h r i t t w e i s e n G e n e r a l i s i e r u n g der Regel s. Teil II, 1.4.1. 66 Dies wird a u s f ü h r l i c h in Schane ( 1 9 7 1 )
behandelt.
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für Diphthongierung kurz am Beispiel von Prosthese und Epithese demonstriert werden. Bei Prosthese wird der konsonantische Anlaut eines Wortes bezüglich des Merkmals "konsonantisch" gemäß dem Prinzip der intrasegmentalen Variation in der Ordnung: unmarkiert-markiert diphthongiert, also aufgespalten in zwei Bestandteile, deren erster C-konsD, und deren zweiter C+konsD ist. Bei Epithese dagegen tritt das Prinzip der unmarkierten Silbenstruktur in Kraft. In Sprachen mit "losem Anschluß" in CVCV-Sequenzen machen Konsonanten am Wortende oft den Eindruck, als ob sie zu einer folgenden Silbe gehörten. Solche Konsonanten entwickeln oft einen sog. "paragogischen Auslaut". Es handelt sich dabei um eine Primärdiphthongierung der Art C+konsD C-konsn, wobei sekundär das zweite Element vokalähnlich werden kann. Ein solcher Prozeß findet sich z . B . im Ital. bei der Aussprache von Fremdwörtern,die auf Konsonant enden: [ s p a r t » ] (Sport).
2.2. Beziehungen zwischen Sprachtyp, Silbenstruktur und Vokalismus Silbenstruktur und Vokalismus in Sprachen mit Morenrhythmus Diese Sprachen machen einen Unterschied zwischen kurzen Silben (CV) und langen Silben (CV, CVC, CVC), derart/ daß jeder kurze Vokal oder jeder silbenfinale Konsonant auf ein Zeitintervall abgebildet wird, jeder lange Vokal auf zwei Zeitintervalle. Vokallänge ist in diesen Sprachen distinktiv. Vermutlich war das Lateinische ursprünglich eine Morensprache.
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Silbenstruktur und Vokalismus in Sprachen mit Silbenrhythmus Die grundlegende rhythmische Einheit ist die Silbe. Jede Silbe nimmt ein annähernd identisches prosodisches Intervall ein. Falls es geschlossene Silben gibt, sind die Vokale in diesen kürzer als in offenen Silben. Meist jedoch haben diese Sprachen eine Tendenz zu CVCV-Struktur.
Silbenstmktur und Vokalismus in Sprachen mit Akzentrhythmus Für Sprachen mit Akzent-timing wird meist als charakteristisch angesehen, daß akzentuierte Silben in gleichen Zeitintervallen aufeinanderfolgen (Isochronie). In Lehiste ( 1 9 7 7 ) findet sich eine Zusammenfassung wichtiger Arbeiten zum Problem der Isochronie in den letzten 3O Jahren. Das Ergebnis der dort aufgeführten experimentellen Untersuchungen und die Experimente der Autorin selbst zeigen, daß Isochronie in der Produktion nur tendentiell nachweisbar ist; exakt gleiche Zeitintervalle zwischen akzentuierten Silben konnten nicht festgestellt werden. Eine Tendenz zur Isochronie zeigt sich dennoch darin, daß Segmente umso kürzer sind, je mehr Silben das Wort, in dem sie erscheinen, nach dem Hauptakzent enthält. Ebenso werden einsilbige Stämme umso mehr gekürzt, je mehr Suffixe an diese Stämme angehängt werden. Das Erreichen einer etwa gleichen Wortlänge scheint also auch für die Produktion eine Zielstruktur darzustellen. Was die Perzeption anbelangt, so zeigen Hörertests über die perzipierte Länge von Intervallen zwischen betonten Silben dreierlei wichtige Ergebnisse: 1. Wenn die Zeitdifferenzen der Intervalle untereinander weniger als 9O msec betragen, werden sie sehr wahrscheinlich überhaupt nicht perzipiert. 2. Auch wenn die Intervalle größere Differenzen aufweisen, werden sie bis zu einem gewissen Ausmaß als gleich lang inter-
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pretiert, weil beim Hörer die Tendenz vorliegt, die Perzeption von Intervallen in Richtung auf eine bestimmte durchschnittliche Dauer zu adjustieren und jede Sequenz von Intervallen in eine rhythmische Struktur zu bringen. 3. Die Perzeption der Länge von Intervallen kann auch von syntaktischen Faktoren abhängen: so wurde von englisch-sprachigen Hörern in einer Sequenz von vier objektiv gleich langen Intervallen immer das letzte als das kürzeste beurteilt, offenbar weil im Englischen eine Tendenz besteht, das letzte Intervall einer Äußerung zu längen, so daß bei gleich langen Intervallen eine Hörererwartung verletzt wird. Bezüglich der Silbifizierung besteht die Tendenz, daß in Sprachen mit Akzent-timing bei steigendem Sprechtempo immer mehr Konsonanten mit dem akzentuierten Nukleus silbifiziert werden. Bailey (1978) hat dies aufgrund phonologischer Evidenz für das Englische auf überzeugende Weise gezeigt.
Akzent und Vokalreduktion Es bleibt die Frage, wie es in unbetonten Silben überhaupt zu Vokalreduktion und -abschwächung kommt. Es scheint in den meisten phonologischen Arbeiten ein gewisser Konsens dahingehend zu bestehen, daß diese Phänomene besonders in Sprachen mit "dynamischem Akzent" (stress) vorkommen und dadurch bedingt sind, daß die Haupttonsilbe die meiste Energie und Zeit in einem Wort absorbiert und damit nur wenig Energie und Zeit für die Nebentonsilben übrigbleibt, so daß gespannte Vokale oder solche mit großem Öffnungsgrad nicht mehr realisiert werden können. Wie aber eine Übersicht über neuere Arbeiten zu diesem Problem in dem für prosodische Phänomene wichtigen 67 E i n e e r s c h ö p f e n d e Liste a l l g e m e i n - l i n g u i s t i s c h e r A r b e i t e n , d i e diese Annahme z u g r u n d e l e g e n , k a n n hier n i c h t angegeben w e r d e n ; exemplarisch sei auf Grammont ( 1 9 3 3 ; 1971:115) und f ü r d i e j ü n g e r e Z e i t a u f B a i l e y ( 1 9 7 8 ) sowie Donegan (1978:119) v e r w i e s e n . Auf ähnliche Hypothesen innerhalb der Romanistik wird in Abschnitt 3. eingegangen.
53
Buch von Lehiste (1970) zeigt, ist
die Klärung dieser Frage
keineswegs als abgeschlossen zu betrachten. Es gibt Experimente, die darauf hinweisen, daß der Faktor des "timing" für Vokalabschwächung wichtiger sein könnte als der Faktor der Artikulationsenergie, z . B . Lindblom ( 1 9 6 3 ) . Lehiste (1970) schreibt dazu: "... Lindblom concluded that the talker does not adjust the control of his vocal tract at fast rates to compensate for its response delay. Vowel reduction is thus, according to Lindblom's hypothesis, due to timing, rather than to a lesser degree of effort in the articulation of unstressed vowels. Lindblom's theory seems to presuppose that unstressed syllables are progressively shortened . . . " (S. 139) Hier ist auch das von Bailey übernommene Prinzip bereits ausgesprochen, daß die Vokalreduktion mit steigendem Sprechtempo immer stärker wird. Da aber andererseits trotz elektromyographischer Messungen der Aktivität der Artikulationsmuskeln und der Messung des subglottalen Drucks und trotz akustischer Messungen weder ein eindeutiges physiologisches noch akustisches Korrelat für das Phänomen "Akzent" gefunden werden konnte, muß man damit rechnen, daß Vokalreduktion auch die Funktion haben könnte, die Unterscheidung zwischen betonten und unbetonten Vokalen für den Hörer zu erleichtern (Lehiste S. 1 4 O ) . Sicher scheint jedenfalls zu sein, daß stress ohne segmentale Zusatzinformation nicht erkennbar ist - Vokalreduktion mag dazu ein Mittel sein.
2 . 3 . Probleme der Silbenstruktur Nachdem weder in den Hauptströmungen des Strukturalismus noch in der Generativen Phonologie die Silbe als phonologische Einheit eine große Rolle gespielt hat, ist neuerdings die Silbe
54 68 wieder ins Zentrum des Interesses gerückt. Da Akzentphänomene in Termen von Silben beschrieben werden müssen, kann eine Untersuchung über den unbetonten Vokalismus das Problem der Silbe nicht aussparen. Tatsächlich gibt es verschiedene Evidenz für die Bedeutung der Silbe als grundlegende phonetische Einheit. Kim ( 1 9 7 1 ) führt z . B . folgende an: - Silbenschriften - Versprecher werden erst korrigiert, wenn die ganze Silbe ausgesprochen ist - Stottern - Metathesen innerhalb einer Silbe sind häufiger als über Silbengrenzen hinweg.
Phonetische und phonologische Silbe Es wird oft eine Unterscheidung in phonetische und phonologische Silben getroffen. Phonologische Silben dienen seit langer Zeit als Basis für die Deskription phonologischer Regularitäten. Die Evidenz für phonologische Silben kommt aus dem Verhalten phonologischer Segmente (s. 55 f . ) . Was phonetische Silben anbelangt so ist sicher, daß für sie bisher kein einzelnes physiologisches Korrelat auffindbar war. Auch Spektogramme zeigen keine invarianten akustischen Eigenschaften an Silbengrenzen. Vielleicht liefert der Hirnrhythmus 68 D a n e b e n gibt es a u c h immer e i n e n F o r s c h u n g s s t r a n g , der sich m i t Silben b e s c h ä f t i g t , s o z . B . M a l m b e r g ( 1 9 5 5 , 1 9 6 5 ) . R e f e r e n z e n a u f f r ü h e r e L i t e r a t u r f i n d e n sich i n H ä l a ( 1 9 6 1 ) , f ü r neuere L i t e r a t u r B a i l e y ( 1 9 7 8 ) . Eine z e n t r a l e Rolle w i r d der Silbe in V e n n e m a n n ( 1 9 7 9 ) z u g e w i e s e n . 69 Weitere Evidenz ist 70 Siehe Kim ( 1 9 7 1 )
z.B. in Fromkin
(1973)
angeführt.
55
das Organisationsprinzip und Zeitmaß für das Sprechen. Die Periodizität der dominanten Gehirnwellen am Vertex und der temporoparietalen Region liegt bei ungefähr 7,3 cps, was mit der Durchschnittszahl von Silben pro Sekunde in normalem Sprechtempo übereinstimmt. Doch ist es gänzlich unsicher, ob damit das Problem der phonetischen Silbe abgedeckt ist: "And we do not even know whether it is true that a basic packaging of signal from the motor brain to the speech organs is syllable-sized in syllable-timed languages and measure-sized in stress-timed ones." (Bailey, 1981a;44) Wir werden uns im folgenden ausschließlich auf phonologische Silben beschränken und daher nun kurz einige Probleme bei der Bestimmung phonologischer Silbengrenzen besprechen.
Phonologische Evidenz zur Bestimmung der Silbenstruktur Zahlreich sind die Versuche, Silbengrenzen mit Hilfe von Stärkehierarchien zu bestimmen. Meistens verfährt man dabei so, daß die "offensten" oder "sonorantesten" Segmente einer Kette als Silbennuklei ausgezeichnet werden, während die Silbengrenzen dann irgendwo zwischen den jeweils "geschlossensten", am wenigsten "sonoranten" Segmenten liegen. 7l So z . B . bei Jespersen ( 1 8 8 9 ) , Grammont (1933; 1 9 7 1 ) , V e n n e m a n n ( 1 9 7 2 c ) , R e i m o l d ( 1 9 7 4 ) , d e r sich a u f d e S a u s s u r e s t ü t z t . Für den Bereich der Romanistik sei hier nur Lausb e r g a n g e f ü h r t , d e r d i e S i l b e m i t d e m "Tal t i e f p u n k t " d e s S c h a l l f ü l l e g r a d s b e g i n n e n l ä ß t ; nach d e m G i p f e l k o m m t d e r " A b g l i t t " ; die neue Silbe b e g i n n t mit einem n e u e n T i e f p u n k t . Da d i e s e D e f i n i t i o n n i c h t i m m e r f u n k t i o n i e r t , w i r d s i e d u r c h ein anderes Prinzip k o r r i g i e r t : der so gewonnene Silbenanl a u t i s t n u r d a n n k o r r e k t , w e n n e r a u c h im W o r t a n l a u t m ö g l i c h w ä r e . Dieses P r i n z i p f i n d e t sich w i e d e r b e i V e n n e m a n n ( 1 9 7 2 c ) als "law of i n i t i a l s " und e n t s p r e c h e n d "law of f i n a l s " . Wie Vennemann ( 1 9 7 9 , M a n u s k r i p t ) aber selbst f e s t s t e l l t , t r i f f t das P r i n z i p i n v i e l e n S p r a c h e n n i c h t z u . S o k e n n t z . B . d a s T o s k . s e h r wohl S o n o r a n t e n i m S i l b e n a u s l a u t in W ö r t e r n oder g e s p r o c h e n e n K e t t e n : ai'ma, alto, canto; aver fatto, gentildonna3 man mano, a b e r n i c h t im a b s o l u t e n Auslaut von Wörtern in Isolation.
56 Die Festlegung der Silbengrenzen geschieht dann mittels der Feststellung, welchen "Stärkegrad" Segmente am Ende und am Anfang von Silben in einer Sprache haben dürfen und wie groß der Abstand im "Stärkegrad" an der Silbengrenze mindestens sein muß. Interne Evidenz für die Erstellung von Silbengrenzen gewinnt man aus phonologisehen Prozessen, wobei man von der Hypothese ausgeht, daß Silbenanlaut und -nukleus stärker sind als der Auslaut und eher Verstärkungs- als Abschwächungsprozesse zeigen; für den Silbenauslaut gilt das Umgekehrte. So finden sich, um nur ein paar Beispiele zu nennen, /r/- und /l/-Vokalisierung und Nasaltilgung nur in silbenfinaler Position oder in silbenfinalen Nexus. Diese Annahme wird durch externe Evidenz gestützt. Die poetischen Phänomene Alliteration und Reim zeigen, daß Silbenanlaut und -nukleus eine besondere Rolle spielen. In der Kindersprache ist Abschwächung silbenfinaler Konsonanten eine universelle Tendenz. In ihrer extremsten Form führt diese Abschwächung zur Öffnung aller Silben (Braine,1974). Es ist das Verdienst von Bailey und anderen Vertretern der Natürlichen Phonologie darauf hingewiesen zu haben, daß nicht nur solche Prozesse für die Bestimmung von Silbengrenzen relevant sind, die den "Resonanzgrad" verändern, sondern auch solche, die mit der Artikulationsstelle zu tun haben, da im Silbenanlaut Apikaie und im Silbenauslaut Velare optimal sind. Wenn z . B . im Oberengad. ( u . a . in den Punkten 28, 47 AIS) ein Wandel der Art eintritt: lt. SCATULA>: J k ai l a D > c j k a k i a : , dann läßt der Ersatz von /t/ durch /k/ auf folgende Silbifizierung schließen: C / k a k # i a : . Dies ist umso zwingender, als in denselben Punkten der sonst ungewöhnliche Nexus /tl/ im Silbenanlaut erlaubt wäre: lt. TEL- > C t i e r ] (Webstuhl). Noch wichtiger ist, daß Bailey (1978) einen Zusammenhang zwischen dem Rhythmustyp von Sprachen und ihrer Silbifizierung herstellt. Er zeigt, daß nur Sprachen mit Silbenrhythmus eine 72 A b e r a u c h s c h o n i n s o f r ü h e n A r b e i t e n w i e G r a m m o n t ( 1 9 3 3 ; 1 9 7 1 ) f i n d e n sich H y p o t h e s e n d i e s e r A r t .
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konstante Silbifizierung aufweisen. In Sprachen mit Akzentrhythmus dagegen ist die Silbifizierung gradient der Art, daß beim langsamsten Sprechtempo noch eine dem Silbenrhythmus ähnliche Silbifizierung vorliegt, während mit Erhöhung des Tempos immer mehr Konsonanten zu der Haupttonsilbe herangezogen werden, so daß die akzentuierten Silben relativ immer mehr Zeit, die unakzentuierten weniger Zeit beanspruchen. Fidelholtz (1975) hat außerdem nachgewiesen, daß seltene Wörter eher eine dem Silbenrhythmus entsprechende Silbif izierung aufweisen als häufige, vertraute Wörter, die nach Akzentrhythmus silbifiziert werden; dieses unterschiedliche Verhalten kann sogar quer durch morphologische Paradigmen gehen. Diese Feststellungen sind für unsere Arbeit insofern wichtig, als Sprachwandel häufig in schnellen, unkontrollierten Stilen beginnt und sich dann auf Langsamsprechformen ausdehnt. Wenn sich also im Lautwandel Evidenz für eine Resilbifizierung der Art findet, daß immer mehr Konsonanten zur Tonsilbe herangezogen werden, kann man daraus schließen, daß die Sprache in dieser Phase einen Akzentrhythmus gehabt hat. Unklar ist allerdings, wie es zum Übergang von einem Rhythmustyp zum anderen kommt; möglicherweise spielt hier Kreolisierung eine Rolle.
Darstellungsprobleme Wir können in dieser Arbeit, deren Schwerpunkt nicht auf der Silbentheorie liegt, nicht die Frage entscheiden, ob die Silbe 73 Beispiele für solche Sprachen im B e r e i c h der R o m a n i s t i k s i n d d a s ( m o d e r n e ) Spanische (das w a h r s c h e i n l i c h e i n m a l d u r c h eine a n d e r e , a k z e n t r h y t h m i s c h e , Phase g i n g ) u n d d a s S i z i l i a n i s c h e . F ü r d a s Spanische w i r d diese A n n a h m e a u ß e r d u r c h d i e T a t s a c h e , d a ß j e d e Silbe e i n etwa g l e i c h e s Z e i t m a ß e i n n i m m t , auch k o r r o b o r i e r t d u r c h S a n d h i - P r o z e s s e , d i e d i e Zielstruktur CVCV... anstreben (vgl. z . B . S.P. Hutchinson 1 9 7 4 ) . Im Sizilianischen f ü h r e n epenthetische Prozesse zu einer C V C V . . . - S t r u k t u r , v g l . T o s k . magvo > s i z . maghiru.
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als primitive Einheit anzunehmen ist, der dann eine Segment74 Struktur zugewiesen wird, oder ob primär Segmentsequenzen anzunehmen sind, denen eine Silbenstruktur zugewiesen wird. Ebenso sollen formale Probleme bei der Deskription von Silbengrenzen ausgeklammert bleiben. Wir werden uns darauf beschränken, Silbengrenzen auf der Basis phonologischer Evidenz in Segmentsequenzen zu inserieren, wo dies für die Formulierung von Prozessen nötig ist. Im übrigen soll angenommen werden, daß Resilbifizierung in verschiedenen Sprechtempi und nach der Applikation phonologischer Prozesse jederzeit möglich ist. 75
2 . 4 . Die Funktion des Akzents im phonologischen Wandel Wie oben schon angedeutet, kann der Akzent im Laufe des Sprachwandels eine Funktionsveränderung durchmachen. Eine Zusammenstellung möglicher Funktionen des Wortakzents auf der Basis einer Untersuchung des Deutschen findet sich in Wurzel (1979b) ; die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit sollen hier kurz referiert werden. Danach kann der Wortakzent folgende Funktionen übernehmen: (A) Verdeutlichung der Distinktivität auf der phonetischen Ebene, z . B . Verstärkung des Kontrasts zwischen langen Vokalen (akzenttragend) und kurzen Vokalen (nicht akzenttragend}: Segmentalphonologisches Prinzip. (B) Funktion der Signalisierung einer Morphemklasse, z . B . it. canto vs. canto (ich singe vs. er sang): Morphologisches Prinzip. (C) Akzentzuweisung unter Bezugnahme auf die syntaktische Struktur der Lautketten. Der Akzent hat die Funktion der Signalisierung syntaktischer Strukturverhältnisse. Wurzel führt hier 74 Wie z . B . in
Vennemann
75 Dies w u r d e schon
(1979, Manuskript)
i n V e n n e m a n n 1972c v o r g e s c h l a g e n .
59 als Beispiel die unterschiedliche Betonung von ansonsten sich gleichenden Komposita an, die sich in ihrer morphosyntaktischen Binnenstruktur unterscheiden, z . B . Fuß-ball-wett-kämpf und Haupt-schiff-fahrts-weg (jeweils mit der Struktur ( ( W W) (W W ) ) und (W ( ( W W) W ) ) : syntaktisches Prinzig. (D) Signalisierung der Zugehörigkeit eines Wortes zu einer semantischen Klasse ( z . B . haben grammatische Termini im Dt. immer den Akzent auf der 1. Silbe: Aktiv vs. das (gesellschaftliche) Aktiv) das semantische Prinzip. (E) Hervorhebung von kommunikativ wichtigen Einheiten, die normalerweise nicht kodiert werden (be- und entladen e t c . ) : kommunikatives Prinzip. (F) Erzeugung von artikulatorisch und/oder perzeptiy einfachen Akzentmustern ( z . B . der Nebenakzent der letzten Silbe in dt. freiheitlich, für den es keinerlei grammatische Gründe gibt): rhythmisches Prinzip. Alle Prinzipien können in Konkurrenz miteinander treten und ein Prinzip kann unter Umständen ein anderes ausschalten.
6O
3. Hypothesen zur Veränderung des unbetonten Vokalismus aus dem Bereich der allgemeinen Romanistik Soweit in Monographien oder Aufsätzen über einzelne Dialekte Hypothesen zum Verhalten unbetonter Vokale vorkommen, werden sie an den Stellen im Text besprochen, die sich mit dem jeweiligen Text befassen. Im vorliegenden Abschnitt referieren wir allein generelle Überlegungen zur Entwicklung des unbetonten romanischen Vokalismus. Der überwiegende Teil der Arbeiten zum romanischen Vokalismus beschäftigt sich in erster Linie mit dem betonten Vokalismus; auf Hypothesen über den letzteren soll nur dann eingegangen werden, wenn sich aus ihnen ein Bezug zur Entwicklung des unbetonten Vokalismus ergibt. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Akzent- und Silbifizierungsprobleme zur Sprache kommen. Aus unmittelbar einsichtigen Gründen haben wir keine direkte Kenntnis der prosodischen Verhältnisse des Lateinischen. Wie die Entwicklung des Vokalismus in den romanischen Sprachen zeigt, muß man sich davor hüten, externe Evidenz aus der Metrik auf die prosodischen Verhältnisse der gesprochenen Sprache zu übertragen. Während z.B. die romanische Entwicklung von TECTUM und LECTUM zeigt, daß das /e/ des ersten Wortes lang, das des zweiten Wortes kurz gewesen sein muß, gilt in der Metrik die erste Silbe beider Wörter als lang, die in LECTUM als "positionslang". Was nun die Verhältnisse der gesprochenen Sprache anbelangt, so scheint darüber Einigkeit zu bestehen, daß die Quantität (Vokallänge) ein distinktives Merkmal war, insofern als sie sowohl von der Silbenstruktur als auch vom Akzent unabhängig war. Über die Rolle des Akzents und die Entwicklung des Vokalsystems von distinktiver Länge zu distinktiver Höhe gehen die Meinungen jedoch auseinander.
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Für eine Zusammenfassung nicht-strukturalistischer und strukturalistischer Hypothesen möchte ich auf Spence (1965) und Tekavcic ( 1 9 7 4 ) verweisen. Es lassen sich m.E. drei Haupttypen von Erklärungsversuchen unterscheiden: 1. Mit Hilfe von Substratwirkung (Lausberg 1956, Bonioli 1 9 6 2 ) . 2. Vor-strukturalistische Erklärungsversuche unter Einbeziehung des Konzepts "expiratorischer" vs. "melodischer" Akzent. 3. Strukturalistische Erklärungsversuche unter Einbeziehung der Konzepte "Aufrechterhaltung von Oppositionen" und "Gleichgewicht des Systems". 4. Strukturalistische Erklärungsversuche unter Einbeziehung der Silbenstruktur (Weinrich 1958). Die erste Art von Erklärungsversuchen ist für unsere Frage unergiebig, da über die prosodischen Eigenschaften der keltischen Substratsprache ( f ü r das Rätoromanische und norditalienische Dialekte) nur Mutmaßungen angestellt werden können. Den Erklärungsversuchen der zweiten Art ist die Annahme gemeinsam, daß in einer bestimmten Phase der Sprachentwicklung (oft wird dafür die laut Fouche (1959) mit dem 1. Jahrhundert v. Chr. einsetzende Kürzung der unbetonten Vokale angesetzt), der Akzent entweder von einem melodischen zu einem expiratorischen geworden sei oder seine Intensität verstärkt habe. Meist wird in diesen Arbeiten der Akzent als auslösendes Moment für die Veränderung des Vokalsystems betrachtet: "C'est l'accent tonique ... qui desormai est le principe tout-puissant de la langue, et toutes les voyelles ont du avoir a peu pres la meme duree qui a ete relativement breve." (Nyrop, 1 9 6 7 : 1 8 9 ) 76 z . B . Nyrop ( 1 9 6 7 : 1 6 9 ) , Brunot ( 1 9 6 6 : 6 7 ) , Tagliavini ( 1 9 5 2 : 2 4 0 f f . ) , Kiss ( 1 9 7 2 : 1 0 4 f . ) 77 z . B . Rheinfelder
( 1 9 6 3 : 1 4 ) , Brunot ( 1 9 6 6 : 6 7 )
62
Da, wie schon gesagt, Akzentphänomene im Lat. nicht direkt zugänglich sind, herrscht Uneinigkeit über die Herkunft des expiratorischen Akzents. Den Substrattheoretikern wird die jahrhundertelange Dauer von Vokalkürzungs- und -tilgungsprozessen in unbetonter Position entgegengehalten. Eine ziemlich differenzierte Hypothese zu diesem Problem bietet Schurr (1954) an, der auf Grund vieler Fälle von Synkope und Vokalreduktion schon für das Altlatein die Existenz eines expiratorischen Akzents annimmt. In der klassischen Periode sei unter Einfluß des Griechischen für die literarische, gehobene Sprache der melodische Akzent übernommen worden. Nach dem Zusammenbruch des Imperiums sei der in den niedrigen Sprachschichten noch vorhandene expiratorische Akzent wieder stärker zur Geltung gekommen und durch Sprachmischung mit dem Keltischen noch verstärkt worden. Dem halten strukturalistische Phonologen ( z . B . Lüdtke 1956, Weinrich 1958) entgegen, daß man überhaupt nicht wisse, was ein expiratorischer oder ein melodischer Akzent sei, daß diese Akzenttypen niemals gehört oder von einem Gerät aufgezeichnet worden seien. Hier möchte ich, stellvertretend für neuere Untersuchungen, nochmals Lehiste (197O) heranziehen, die eine Möglichkeit der Unterscheidung beider Akzenttypen zumindest für den Hörer ebenfalls anzweifelt. Der Sprecher kann laut Lehiste vielleicht Grundfrequenz und Intensität getrennt kontrollieren, doch muß man auch hier mit dem Phänomen rechnen, daß eine Erhöhung des subglottalen Drucks eine Erhöhung der Vibrationsgeschwindigkeit der Stimmbänder und eine größere Amplitude mit sich bringen kann. Für den Hörer ist die Möglichkeit der Unterscheidung deshalb zweifelhaft, weil der Eindruck der Lautheit einerseits von der Amplitude herrühren kann, aber auch von einer größeren Anzahl von Pulsen pro Zeiteinheit. Daher verursache höhere Grundfrequenz nicht nur den Eindruck von höherem Tonverlauf, sondern auch von größerer Lautheit. Daß die genannten physiologischen und akustischen Korrelate allein ohnehin nicht zur Akzenterkennung ausreichen, wurde weiter oben bereits angedeutet.
63
Das Schwergewicht der Untersuchungen verlegt sich im Strukturalismus auf die Erklärung der Umgestaltung der Quantitäten in Qualitäten mit Hilfe des Konzepts vom "Ungleichgewicht des Systems", (das durch die Monophthongierung von A E > C e D ent78 standen sei ) und des Konzepts der notwendigen Aufrechterhaltung von Kontrasten. So meint z . B . Martinet (1955:169) man solle den Einfluß des Akzents auf unbetonte Silben nicht überschätzen: solche Silben könnten auch einfach deshalb abgeschwächt oder getilgt werden, weil die in ihnen vorhandenen Kontraste nicht mehr nötig seien. 79 Dennoch wird dem Akzent auch in Spence (1965) und Lüdtke (1956) eine gewisse Rolle bei der Veränderung des Vokalsystems eingeräumt. Zwei Untersuchungen, die sich explizit mit der Veränderung der Silbenstruktur beschäftigen, sind Weinrich (1958) und Kiss 80 (1972), doch lassen sich daraus keine neuen Aussagen über die Rolle des Akzents gewinnen; beide Autoren betonen den Wandel im Konsonantismus. Was bleibt nach dieser kurzen und unvollständigen Übersicht über die Rolle des Akzents? Sicher ist, daß die lateinischen Quantitäten unabhängig vom Akzent und von der Silbenstruktur waren. Dieser Befund ist an sich untypisch für Sprachen mit Silbenrhythmus, ebenso wie für solche mit Akzentrhythmus. Am ehesten kann man von einem Morenrhythmus sprechen. Die z.T. sehr frühen Synkopierungserscheinungen dagegen verweisen eher auf Akzentrhythmus, ebenso die Kürzung der unbetonten Vokale und Zunahme der Synkopierung in "vulgärlateinischer" Zeit. 78 z . B .
Haudricourt/Juilland
( 1 9 4 9 ) , Lausberg
(1963)
79 Spence ( 1 9 6 5 ) m e i n t d a g e g e n , daß der A k z e n t zwar in p h o n e t i scher .Hinsicht viel zum Abbau der Q u a n t i t ä t e n b e i g e t r a g e n h a b e , indem z u e r s t die u n a k z e n t u i e r t e n Vokale g e k ü r z t und die a k z e n t u i e r t e n in o f f e n e r Silbe gelängt w u r d e n , daß aber der Ü b e r g a n g zum phonologisch r e l e v a n t e n S t a t u s des A k z e n t s n i c h t so k l a r sei. V ä ä n ä n e n ( 1 9 7 1 ) h ä l t d i e r h y t h m i s c h e n I n n o v a t i o n e n f ü r eine Konsequenz des V e r l u s t s der q u a n t i t a t i v e n Oppositionen. 80 Dort f i n d e t sich w e r t v o l l e s M a t e r i a l zur V e r ä n d e r u n g der K o n s o n a n t e n n e x u s und zu Synkope und E p e n t h e s e .
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Vielleicht liegt die Lösung wirklich in einer Abwandlung der Hypothese von Schurr, die am besten der Tatsache der sozialen Differenzierung Rechnung trägt und auch im Einklang mit den oben gemachten Annahmen zur polylektalen Grammatik steht. Danach könnte man für die altlat. Periode bereits eine Mischung von Silbenrhythmus und Akzentrhythmus annehmen derart, daß in kontrollierteren Stilen nach Silbenzeit, in unkontrollierteren nach Akzentzeit silbifiziert wurde, woraus die Vokal81 reduzierungen und Synkopen erklärbar wären. In der klassischen Zeit mag sich darüber, zumindest in der Metrik und vielleicht auch in gehobenen, sehr kontrollierten Stilen, ein Morenrhythmus (oder eine Mischung aus Silben- und Morenrhythmus) gelagert haben. Die Zählung nach Moren ( d . h . die Unterv " _ Scheidung zwischen kurzen (CV) und langen Silben (CVC, CV, CVC)) wurde zum Kriterium für die Position des Akzents, der in mehrsilbigen Wörtern auf die Paenultima fällt, wenn diese lang ist, sonst auf die Antepaenultima. Abgesehen von dieser wichtigen Umstrukturierung könnte sich aber der Akzentrhythmuscharakter des älteren Latein in den niedrigeren Sprachschichten erhalten haben. 82 81 V g l . z . B . NOVOS > N O V U S , FACIO v s . C O N F I C I O , CLAUDO V S . CONCLÜDO, V A L I D U S > V A L D E , R E P E P U L I ^ R E P P U L I ( w e i t e r e Daten i n Väänänen 1971:93 f f . ) .
82 E v i d e n z h i e r f ü r mag der der Synkope g e g e n l ä u f i g e P r o z e ß der Anaptyxe s e i n , z . B . im S u f f i x *-tlom > C ( U ) L U M , der auf eine C V C V . . . - S t r u k t u r a b z i e l t . D i e F o r m e n ohne V o k a l e i n schub ( - C L U M ) b l i e b e n d a n e b e n e r h a l t e n u n d w u r d e n später a l s s y n k o p i e r t e Formen d e s D i m i n u t i v s u f f i x e s -CULUS i n t e r pretiert (Väänänen S. 9 7 ) . Väänänen schreibt weiter zur soz i a l e n D i f f e r e n z i e r u n g u n d z u r Rolle d e s S p r e c h t e m p o s : "Le sincopi s o p r a v v e n u t o nel l a t i n o storico sono c a r a t t e r i z z a t e d a l l a p e r s i s t e n z a , per un periodo p i u o meno l u n g o , d e l l a f o r m a non r i d o t t a a f i a n c o della forma a b b r e v i a t e : la prima era c o n s i d e r a t a , g e n e r a l m e n t e , la piu c o r r e t t a ... La sincope e un f e n o m e n o d ' a s p e t t o e m i n e n t e m e n t e popolare o f a m i l i ä r e ... Questo f e n o m e n o e d e t e r m i n a t e , a l l ' o r i g i n e , da un ritmo del discorso r e l a t i v a m e n t e rapido e libero, proprio della lingua p a r l a t a . . . " ( S . 9 4 f . ) Dies s p r i c h t m . E . f ü r d i e A n n a h m e eines A k z e n t r h y t h m u s i n u n k o n t r o l l i e r t e r e n Stilen. Auch Kiss ( 1 9 7 2 : 1 9 ) nimmt an, daß das l a t . einen " a c c e n t d ' i n t e n s i t e " gehabt h a b e ; er m e i n t , daß sich auch die Til-
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Es ist denkbar, daß der Wegfall des normativen Drucks nach dem Zusammenbrach des Imperiums schon genügte, um die Wirkungen des Akzentrhythmus wieder zu verstärken, indem Varianten aus unkontrollierten und Allegrostilen lexikalisiert werden (und den Morenrhythmus zum Verschwinden bringen). 83 Tatsächlich gehen ja Synkope und Vokalabschwächung in Mittelitalien über den vulgärlateinischen Stand kaum hinaus. Es scheint, daß das Tosk. nach der Normierung der Quantitäten in Abhängigkeit von der Silbenstruktur wieder zu einem Silbenrhythmus zurückgekehrt ist. Warum andere Teile der Romania dagegen die Tendenz zum Akzentrhythmus sogar verstärkten, muß vorerst im Bereich der Spekulation bleiben - Kreolisierung mag hier eine Rolle spielen.
gung s i l b e n f i n a l e r K o n s o n a n t e n , sonst eher e i n C h a r a k t e r i s t i k u m f ü r S i l b e n r h y t h m u s , d i e s e m F a k t u m u n t e r o r d n e n lasse weil sie zur Reduzierung des Wortkörpers (und damit zur stärkeren Prominenz der Tonsilbe) beiträgt. 8 3 Kiss ( 1 9 7 2 : 1 0 7 f . ) m e i n t , d a s Z e n t r u m d i e s e r E n t w i c k l u n g s e i R o m i m 2 . / 3 . J a h r h u n d e r t n . C h r . g e w e s e n , also zu einer Z e i t , als es noch volle H a u p t s t a d t f u n k t i o n h a t t e . Die V e r s t ä r k u n g des A k z e n t r h y t h m u s habe zu einer V e r e i n fachung der Kommunikation unter Sprechern f ü h r e n können, die zwar L a t e i n k o n n t e n , aber sehr v e r s c h i e d e n e r sprachlicher H e r k u n f t w a r e n .
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II.
HAUPTTEIL
1. Das Verhalten unbetonter Vokale im Bündnerromanisehen 1.1. Allgemeine Vorbemerkungen Entsprechend der eingangs dargelegten Zielsetzung der Arbeit soll dieser Abschnitt einerseits die Erstellung eines implikational geordneten Inventars unbetonter Vokale in verschiedenen Positionen innerhalb des Wortes und andererseits die Feststellung derjenigen Prozesse erbringen, die auf unbetonte Vokale im Verlauf der Sprachentwicklung des Bündnerromanischen gewirkt haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der zweiten, vergleichsweise komplizierteren Aufgabe; auch hier soll versucht werden, wenn möglich eine implikationale Ordnung zwischen den Prozessen herzustellen. Aus Gründen der Stoffbeschränkung werden wir auf den Vortonvokalismus (den Vokal der Anfangssilbe) etwas detaillierter eingehen als auf den Nachtonvokalismus, weil beim Nachtonvokalismus insbesondere die Synkope in der Literatur bereits etwas ausführlicher behandelt wird und weil außerdem beim Nachtonvokalismus komplizierte Fragen der relativen Chronologie der Synkope in verschiedenen phonologisehen Kontexten berücksichtigt werden müßten, die die Arbeit zu sehr in einen anderen als den ursprünglich abgesteckten Bereich ausufern lassen würden. Es werden außerdem Erscheinungen ausgeschlossen, die auf Lektmischung und Entlehnung (Latinisierung, kirchensprachlicher Einfluß) zurückzuführen sind, weil sich bei diesen keine natürlichen Prozesse finden lassen. Ebenso aus Gründen der Stoffbeschränkung werden nicht alle Teildialekte des Bündnerromanischen gleich ausführlich behandelt. Am Beispiel des Surselvischen soll exemplarisch gezeigt werden, wie kompliziert die phonologische Analyse auch nur eines Teilbereichs der Phonologie werden kann, wenn man versucht, auch auf einzelne Formen und scheinbare Ausnahmen von phonologischen Prozessen einzugehen und eine Erklärung für
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Faktoren wie die Blockierung oder die Ubergeneralisierung einer Regel zu finden. Die Bevorzugung des Surs. erfolgt aus zwei Gründen: einmal liegt in der Arbeit von Huonder (19OO) eine außergewöhnlich detaillierte Darstellung des Vokalismus eines Subdialekts vor; zum zweiten konnte in verschiedenen Zweifelsfällen auch auf die Kompetenz von H. Stimm, Universität München, rekurriert werden. Die übrigen bündnerromanischen Dialekte werden wesentlich globaler und hauptsächlich auf der Basis der in den Daten des AIS indirekt dokumentierten phonologischen Prozesse behandelt; morphophonologische und morphologische Faktoren bleiben dabei ausgeschlossen. Die Untersuchung dieser Dialekte verfolgt vor allem den Zweck, ein implikationales Bild der verschiedenen Prozesse zu vervollständigen. Verschiedene Prozesse, die im Surs. nur unvollständig durchgeführt sind, erscheinen so in einem neuen Licht, weil gezeigt werden kann, daß das Ausmaß der Durchführung eines Prozesses in den einzelnen dokumentierten Ortschaften ein gradientes Muster ergibt. Da wir uns dabei auf die Daten des AIS und einzelner Monographien beschränken müssen, ist allerdings a priori klar, daß wir kein lückenloses Implikationsmuster erhalten werden. Schließlich soll noch versucht werden, wenigstens andeutungsweise einen Zusammenhang zwischen den festgestellten Prozessen und der Silbenstruktur der jeweiligen Subdialekte herzustellen.
68
1.2. Die verwendeten Arbeiten zum Bündnerromanischen (Datenbasis) Der Aufbau der wichtigsten Datenbasis, des AIS, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Um das Lesen der folgenden Analyse zu vereinfachen, wird auf der nächsten Seite eine Übersicht über die bündnerromani sehen Punkte des AIS mit Ortsnamen und dialektaler Gliederung aufgeführt. 0 Camischollas , Tavetsch/Tuietsch 1 Brigels (Breil) 11 Surrhein; Somvix (Sumvitg) 3 Pitasch 1 3 Vrin 5 14 15
Ems (Domat) Dal in; Präz Mathon
16
Scharans
17 25
Lenz (Lansch) Reams (Riom) Tinizong
27
Bergün (Bravuogn) Filisur
29
Santa Maria
Müstair
9 7 19
Remüs (Ramosch) Ar de z Zernez
Unterengadin
28
Zuoz (Schlarigna) Celerina Sils
47
Surselvisch
Sutselvisch
Sutselvisch/Surmeirisch
Oberengadin
Für Belege, die wir nicht aus dem AIS, sondern aus Monogra phien entnehmen, werden folgende Abkürzungen benützt:
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Huonder: (H) Grisch: (G) Lutta: (L)
Walberg: (W) Pult: (P) Schneider: (Seh)
Die folgende Charakterisierung der verwendeten Monographien und Aufsätze dient als Basis für die methodischen Anmerkungen in 1.3. Als wichtigste Materialgrundlage für das Surs. dient die Arbeit von Huonder (1900); sie wird durch verschiedene Lexika ergänzt. Gelegentlich ziehe ich auch die übersichtlichere, wenn auch globalere und materialärmere Arbeit von Caduff über die Tavetscher Variante des Surs. heran. Die unbestreitbaren Verdienste der Arbeit Huonders liegen in der Materialsammlung, die jedoch nicht ganz unproblematisch handzuhaben ist. Ihr theoretischer Ansatz ist in der Junggrammatikernachfolge anzusiedeln und teilt aus heutiger Sicht deren prinzipielle Mängel; außerdem machen es die Vagheit der Formulierungen und die Relativierung einmal eingenommener Positionen schwierig, über die reinen Wortlisten hinaus Informationen über Regularitäten zu bekommen. Die hauptsächlichen Schwierigkeiten bei der Arbeit mit dieser und ähnlichen "Lautlehren" sind m.E. die folgenden: 1. In einer Theorie, die in der Synchronie nur eine Lautebene kennt, besteht keine Möglichkeit, dem Phänomen "Alternation" einen systematischen Platz zuzuweisen. An manchen Stellen wird zwar angedeutet, daß bestimmte Alternationen auch in der Synchronie vorhanden sind, z . B . : "u steht zunächst im Wechsel (von mir hervorgehoben) mit u, u_, u » , o ..." (S. 1OO) , aber es wird kein Zusammenhang hergestellt zwischen solchen Aussagen und der Fülle von phonologischen Prozessen, die der Diachronie zugehörig betrachtet werden. 1 Vor a l l e m d u r c h das D i c z i u n a r i R u m a n t s c h G r i s c h u n und Viel!/ Decurtins ( 1 9 5 2 ) . 2 Eine gute A n a l y s e von V e r d i e n s t e n und D e f e k t e n der j u n g grammatischen P h o n o l o g i e t h e o r i e f i n d e t sich i n M . R e i s (1974).
70
2. Alternationen sind für Huonder nur dann relevant, wenn die "lautgerechte" Entwicklung durch "Analogie" "gestört" wird/ denn dann braucht man eine Analogiequelle, und zwar am besten innerhalb des Flexions- oder Derivationsparadigmas. Indirekte Hinweise auf Alternationen kann man daher am ehesten aus den Stellen gewinnen, wo von Analogiewirkungen die Rede ist. 3. Als Lautwandel klassifiziert werden praktisch nur Veränderungen der phonetischen Substanz; Erscheinungen wie Veränderungen der Phonotaktik oder phonologische Regeln zur Aufrechterhaltung einer gewissen Phonotaktik werden als "Störungen" betrachtet. Dem Aufsatz von J. Kramer ( 1 9 7 2 ) : "Abbozzo di una fonematica del sursilvano letterario" ist nur eine Liste von Oppositionen (strukturalistischer) Phoneme zu entnehmen. Interessanter für die Belange unserer Arbeit ist ein Aufsatz desselben Autors über die historische Entwicklung des Konsonantismus der Mundart von Disentis ( 1 9 7 5 ) . Dies ist eine nützliche - wenn auch für die Siebziger-Jahre sehr traditionelle - Ergänzung zu Huonder, die vor allem als Evidenz für die Feststellung von Silbengrenzen herangezogen werden kann. Von A. Widmer existiert eine Serie von Aufsätzen über die Mundart von Medels; es handelt sich hierbei neben Mundarttexten im wesentlichen um Listen, in denen die phonologische Form von Wörtern jeweils in den drei Orten Medels, Tavetsch und Disentis verglichen wird. Ebenfalls im traditionellen Paradigma gehalten ist die Arbeit von Th. Rupp: "Lautlehre der Mundarten von Domat, Trin und Flem zur Bestimmung der Lautgrenzen am Flimser Wald und beim Zusammenfluß des Vorder- und Hinterrheins" ( 1 9 6 3 ) . Wie der Titel zeigt, ist die primäre Zielsetzung hier eine sprachgeographische. Rupp listet zunächst rein deskriptiv die Lautentwicklung 3 ( 1 9 6 2 , 1963, 1967, 1 9 7 O ) ; mit dem u n b e t o n t e n Vokalisraus s c h ä f t i g t sich der A u f s a t z von 1967.
be-
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lateinischer Vokale und Konsonanten in den verschiedenen Ortschaften auf, um dann auf Grund der festgestellten Entwicklungen einige "Lautgrenzen" zu ziehen. Das Schwergewicht liegt dabei, wie der geographisch-historisch-politische Teil zeigt, auf der Analyse solcher Phänomene, die auf die externe Geschichte zurückzuführen sind, wie etwa Regressionsformen; auf die Erklärung phonologischer Prozesse wird weitgehend verzichtet. In dem Aufsatz von K. Rogers ( 1 9 7 2 ) : "Vocalic Alternation in the Sursilvan Verb" finden sich Alternationslisten von Verbformen, allerdings wird dabei ausschließlich von den synchron vorliegenden Oberflächenformen ausgegangen, ohne Rücksicht darauf, auf Grund welcher phonologischen Prozesse die Alternationen entstanden sind. Der generative Phonologe Kaiman beschäftigt sich in einem Aufsatz von 1972 mit dem Problem von "targets", Zielstrukturen, in unbetonten Silben. Dabei wird das Surs. als Beispiel einer Sprache angeführt, die in unbetonten Silben die Zielstruktur eines reduzierten Vokalinventars realisiert. Leider ist die Darstellung der surs. Daten äußerst ungenau, ja falsch; so spricht Kaiman z . B . kontrafaktisch von einem a i. u - Inventar in unbetonten Silben des Surselvischen. Alle übrigen verwendeten Monographien zum Sutselvischen und Engadinischen folgen dem üblichen Aufbau junggrammatischer 4 Lautlehren: sie enthalten Korrespondenzlisten von vlt. Wörtern und Wörtern des jeweiligen Dialekts zum betonten Vokalismus, unbetonten Vokalismus, Konsonantismus, sowie "allgemeine Erscheinungen" wie Dissimilation, Metathese, Aphärese, Epenthese (Synkope findet sich meist unter "unbetonter Vokalism u s " ) . Darüber hinaus liefern fast alle Arbeiten Wortlisten aus verschiedenen Ortschaften oder Dialektgebieten, die einen Vergleich einzelner Wortformen ermöglichen, so bei Luzi (19O4) 4 Luzi (1904, S u t s . ) , Grisch ( 1 9 3 9 , S u r m . ) , Pult (1897, SentU n t e r e n g . ) , Lutta ( 1 9 2 3 , B e r g ü n ) , Walberg ( 1 9 O 7 , CelerinaC r e s t a ) , Schneider (1968, R a m o s c h ) .
72
zu verschiedenen sutselvischen Varianten, bei Lutta (1923) außer zu den Ortschaften Bergün, Filisur und Alvagni des Albulatals auch zum Oberengadinischen; die Arbeit von Grisch (1939) ist explizit nicht nur historisch, sondern auch vergleichend aufgebaut. Die Kapiteleinteilung gibt eine Deskription der lautlichen, morphologischen und lexikalischen Unterschiede zwischen folgenden Bereichen: surm.-engad., surm.-surs., surm.suts., Sur- und Sutses.
1.3. Methodische Anmerkungen zur Aufbereitung der Daten Ein erstes Problem für die Aufbereitung der Daten bietet die phonetische Transkription, die praktisch mit jeder der verwendeten Arbeiten variiert; die Spannweite geht hier von einer weiten, eigentlich phonemischen Transkription ( z . B . in Caduff) bis zur impressionistischen Transkription von Scheuermeier im AIS. Da die exakte (gradiente) Qualität von betonten Vokalen und von Konsonanten für unsere Arbeit belanglos ist und da bei unbetonten Vokalen ohnehin nur wenige Kontraste perzipierbar sind, werden wir nur eine weite Transkription benützen, die sich an den minimalen Oberflächenkontrasten orientiert; die Notation basiert auf der A . P . I . , Merkmals- und Markiertheitsrelationen finden sich im Anhang. Das zweite methodische Problem betrifft das Auffinden historischer Prozesse. Dies ist deshalb schwierig, weil in den Monographien jede Art von lautlicher Veränderung aufgeführt wird, gleich ob es sich dabei um natürliche oder um unnatürliche teleskopierte oder um morphophonologische Regeln handelt. Für die Untersuchung von Prozessen, die sich in früheren Phasen der Sprachentwicklung vollzogen haben,ist es unerläßlich, die heutigen Wortformen bis auf ihre vlt. Etyma zurückzuverfolgen. Wo die Etyma nicht evident sind oder in den Monographien als gesichert angegeben werden, soll, soweit möglich, das Dicziunari, in den anderen Fällen das REW oder FEW herangezogen wer-
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den; es ist offensichtlich, daß wir im Rahmen dieser Arbeit dem Problem einzelner Etymologien nicht selbst nachgehen können. Für solche Wörter, die lexikalisch nicht isoliert sind, sondern in einem Flexions- oder Derivationsparadigma stehen, kommt als Methode zur Feststellung phonologischer Prozesse außerdem der Vergleich verschiedener Wortformen (jeweils mit betontem und unbetontem Vokal) in Frage; allerdings muß man hier besonders sorgfältig zwischen phonologischen Prozessen und morphophonologischen Regeln unterscheiden, da innerhalb von Paradigmen phonologische Kontraste sehr schnell eine morphologische Funktion übernehmen können.
1.4. Analyse des Vortonvokalismus 1.4.1. Die Synkope von Vortonvokalen im Modell der "Entwicklungsphonologie" In diesem Abschnitt soll die Synkope von Vortonvokalen in verschiedenen konsonantischen Kontexten mit Hilfe dynamischer Regeln erfaßt werden. Bei Kontexten, für die der AIS (der ja auf der Basis onomasiologischer, nicht phonologischer Kriterien erstellt ist) keine Evidenz liefert, ziehen wir die in 1.1. erwähnten Arbeiten heran. Da für die Untersuchung die volle Wortform in den einzelnen Subdialekten keine Rolle spielt, sondern nur der unmittelbare Konsonantenrahmen des Vortonvokals, geben wir in den Tabellen in den meisten Fällen nicht die volle Wortform an, sondern nur den resultierenden Vortonvokal; Synkope wird durch "0" symbolisiert. In jedem Fall wird außerdem das lateinische Etymon aufgeführt; der Anhang der Arbeit enthält dazu eine vollständige Liste der benutzten Karten des AIS mit Kartennummer und italienischem Titel.
74
1 . 4 . 1 . 1 . Erster Schritt: Welches Muster ergeben die synchron vorliegenden Daten? Zunächst werden einfach die verfügbaren Daten je nach Verhalten des Vortonvokals (Erhaltung oder Synkope) aufgelistet. Wie alle konsultierten Arbeiten und Daten des AIS zeigen, sind die affizierten Segmente der Synkopenregel palatale Vokale oder /a/. Da diejenigen Vortonvokale, die auf Grund einer bestimmten konsonantischen Umgebung nicht synkopiert wurden, heute im allgemeinen in der Form von Schwa (» ) vorliegen, wird angenommen, daß alle palatalen Vokale und /a/ im Vorton zunächst zentralisiert wurden, so daß der Input der Synkopenregel generell der Vokal H a : i s t . 6 Aus den so geordneten Daten soll dann versucht werden, eine Implikationskette zu erstellen, der in einem zweiten Schritt folgene Informationen entnommen werden können: 1. Gradienz bezüglich des phonologischen Kontexts: in welchen Kontexten ist Synkope stärker ausgeprägt, in welchen weniger stark? 2. Gradienz bezüglich des Sprechtempos 3. Das Implikationspattern kann typologisch interpretiert werden und damit kann Gradienz bezüglich verschiedener Lekte (hier Dialekte) aufgezeigt werden; es kann hypothetisch ein geographisches Zentrum der Synkopenregel festgestellt werden, von dem aus sich die Regel wellenförmig ausgebreitet hat. 5 D a g e g e n s p r e c h e n a n s c h e i n e n d F ä l l e wie CORONA > [k r u n a l l oder CORROTARE > U h r u d a : : , w o a u c h labiale V o r t o n v o k a l e s y n k o p i e r t w e r d e n . Es g i b t aber g u t e G r ü n d e a n z u n e h m e n , daß h i e r vor der Synkope eine D i s s i m i l a t i o n des v o r t o n i g e n l a b i a l e n , v e l a r e n V o k a l s v o r h a u p t t o n i g e m L a b i a l e n , v e l a r e n Vokal e i n t r i t t , so daß als I n p u t für die S y n k o p i e r u n g s r e g e l auch h i e r ein z e n t r a l e r Vokal C a D v o r l i e g t . D i e s e s P r o b l e m w i r d a u s f ü h r l i c h i n d e m A b s c h n i t t über D i s s i m i l a t i o n b e h a n d e l t . 6 In den r e g i o n a l e n V a r i a n t e n , wo s t a t t [ s ] ein C a ] v o r l i e g t , wie in Bergün und Filisur (nach L u t t a , S. 132 f . ) , kann es sich um e i n e s e k u n d ä r e E n t w i c k l u n g aus Ca 3 h a n d e l n .
75 4. Unter der dynamischen Interpretation des Implikationspattern kann die Gradienz der Synkopenregel in der temporalen Dimension aufgezeigt werden: wo die Regel am generellsten durchgeführt ist, dort ist sie am frühesten eingetreten, wo sie den eingeschränktesten Kontext hat, am spätesten. Daneben stellen die gewonnenen Implikationen einen Test für die Markiertheitskonventionen von Konsonanten dar (s. Anhang); allerdings muß dabei sorgfältig zwischen "natürlichem" und "nicht-natürlichem" oder durch rein sprachspezifische Faktoren induziertem Wandel unterschieden werden. Für die Untersuchung der Bedingungen, unter denen Synkope eintritt, wird die folgende Arbeitshypothese zugrundegelegt: Arbeitshypothese: Die Synkope tritt dort am frühesten ein (ist dort am weitesten verbreitet), wo der resultierende Konsonantennexus am unmarkiertesten ist; sie generalisiert sich sukzessive auf markiertere Nexus. Kontext I; Synkope zwischen Konsonant und /r/ Tabelle I zeigt die Verbreitung der Synkope zwischen Konsonant und / r / . Was den phonologischen Kontext anbelangt, so tritt sie offenbar ein zwischen Okklusiv oder / f , v / und - möglicherweise nur im Oberengadin - auch zwischen /s/ und /r/. Hinsichtlich der geographischen Verteilung der Synkope ergibt sich auf den ersten Blick das Bild, daß sie regelmäßig im Surs. durchgeführt ist; mit einer gewissen Variation im Suts. (regelmäßiger zwischen Okklusiv und /r/ als zwischen Dauerlaut und / r / ) und im allgemeinen nicht im Surmeirischen und Engadinischen. Diese Verbreitung der Synkope wäre nicht 7 Für das S u r m e i r i s c h e b e z e i c h n e t G r i s c h (S. 87) F ä l l e wie CORONA > [ k r i n » ] , FERITA > [ f r e j d a ] , FARINA > [ f r e i » » ] , PAROLA > C p r s w l a ] eher a l s A u s n a h m e n : "Die s u r s . E r s c h e i n u n g , daß Vokale der A n l a u t s i l b e vor R und t e i l w e i s e auch vor L, f a l l e n , ... z e i g t sich i m S u r m e i r n u r b e i w e n i g e n W ö r t e r n . . . Hingegen blieb der Anlautsvokal in folgenden Fällen erhalten ..." ( e s f o l g t eine Reihe v o n B e i s p i e l e n ohne S y n k o p e ) . D i e U n t e r s u c h u n g der lexikalischen V e r t e i l u n g der Synkope im Surm e i r i s c h e n u n d S u t s e l v i s c h e n w ü r d e hier z u w e i t f ü h r e n .
76
weiter erstaunlich, w rde man sie nicht mit den Befunden ber die brigen konsonantischen Kontexte in den folgenden Tabellen vergleichen. TABELLE I: Synkope zwischen Konsonant und /r/ 8 Kontexte 10 1
1 p-r
2 b-r
3 t-r
4 d-r
5 k-r
6 f-r
0
7 v-r
0
— 0
0
0
—
11
0 0
3
0
0
0
13 5 14
0
0
0
0 0
8
C U T f ki e:
3
0
9
3
i
0
3
a
3
0
»
3
3
15 16 17 25
Tin. 27 Fil. 29 9 7 19 28 Schi. 47
(G). 3
C b r el ] Ct r a t / D (G) (H, G)
Cd r e f ] H k r δ n a ] (N.) (G)
(G): C k r ιίηβ]
(G.): Ct β r at /:
a
(L):
3
(G): 0
CkaroqaD
a
Γ k 3 r o qa3
β
[ e r v f k l 3]
(G) 3 ~
3
3
3
3
-
-
3
-
8 s-r
-
3 β -
C b a r { 11 (G)
L d r e t: C k u r u mal (W) (L)
—
Ltruers] (W)
3
8 F r die Graphie der engad. W rter werden die W rterb cher von V e l l e m a n n ( 1 9 2 9 ) und B e z z o l a / T n j a c h e n ( 1 9 4 4 ) herangezogen .
77 1: PAR(I)ETE, surs. preit C p r i j t : 1 eng. C p » r a t : 'Wand 2: BARILE, surs. brel C b r e i : eng. baril C b e r i i ] 'Faß' 3: TERR-, surs. tratsch C t r a t j : eng. tavatsah C t a - i "Erde 1 4: DIRECTU, surs. dvetg C a r i f : eng. dret C d r ^ t n 'Recht, rechts 1 5: CORONA, surs. oruna C k r i n a : eng. -una C k a - : 'Krone' 6: FARINA, surs. frina eng. farina C f a - D 'Mehl 1 7: VERRUCULA, surs. briala C b r f k l » : eng. varüala C v a - 3 'Warze' 8: SORORES Es zeigt sich dabei nämlich, daß die Synkope in anderen Kontexten als zwischen Konsonant und /r/ genau dort am stärksten ist, wo sie zwischen Konsonant und /r/ fast nie vorliegt, Q nämlich im Oberengadinischen. Es kann als recht gut abgesichertes Ergebnis gelten, daß der wahrscheinlichste Kontext, in dem Synkope eintritt, genau der vor /r/ ist und nicht vor anderen Konsonanten. Es wäre daher zu erwarten, daß Synkope zwischen beliebigen Konsonanten Synkope zwischen Konsonant (oder zumindest Okklusiv) und /r/ impliziert. 9 W a l b e r g z i t i e r t zwar f ü r S c h l a r i g n a ein paar Beispiele ausser d e m i n T a b e l l e I a n g e f ü h r t e n D I R E C T U _ > C a r e t ] , n ä m l i c h : DIRECTIÄRE > C d r i t s i r D ( r i c h t e n ) ; QUIRITÄRE > C k r l d e r ] ( r u f e n ) ; GORROTÄRE > I k r u < U r 3 ( f a l l e n ) . E s h a n d e l t sich dabei aber um W ö r t e r mit sehr f r ü h e r g e m e i n r o m a n i s c h e r Synkope. 1O Diese Hypothese läßt sich z u m i n d e s t im r o m a n i s c h e n Bereich g u t b e l e g e n ; s o z i t i e r t z . B . R h e i n f e l d e r f ü r d e n Schwund von V o r t o n v o k a l e n im F r z . : VERACE > a f z . Verai, n f z . Vrai; BIROTA ( z w e i r ä d e r i g e r K a r r e n ) > a f z . *beroue, dazu D i m . a f z . beroute ( S c h u b k a r r e n ) , n f z . brouette; DIRECTU (gerade);* schon v l t . ? *drectu > a f z . dreit, n f z . droit; *DIRECTIAT (er r i c h t e t a u f ) '> a f z . dreeet, n f z . dresse; QuTRITAT (er s c h r e i t ) > a f z . oridet ( 1 O . J h . ) > n f z . ovie; *CORROTULAT (er r o l l t z u s a m m e n ) > *crollat >· a f z . orole (er e r s c h ü t t e r t , s t ü r z t z u s a m m e n ) > n f z . aroule. Sonst f i n d e t sich völliger Schwund des V o r t o n v o k a l s nur vor /!/, wo es in der S c h r i f t oft noch e r h a l t e n ist: *PILOTA ( k l e i n e r B a l l ) > a f z . pelo-
78 Einiges spricht daher für die Annahme, daß dort, wo im Suts., Surm. und Engad. zwischen Konsonant und /r/ ein Vortonvokal vorliegt, sich dieser nach dem Eintreten der Synkope auf Grund des sonoranten Charakters von /r/ sekundär epenthetisch entwickelt hat. Welche zusätzliche Evidenz läßt sich für die Hypothese anführen? 1. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß auch im Surs. (das nach den Daten des AIS die Synkope ausnahmslos aufweist), Epenthese zwischen C und /r/ in der historisch zugrundeliegenden Sequenz /Cr/ eintreten kann. Die folgenden Beispiele hierzu lassen sich dem DRG entnehmen. griech.
C b r i k D und
SChwdeUtSCh CHRANK
C k a r awn D
*KRAC?
Ckr a t J D und
brak (eng. brach) caraun (engad. aranz) oratsoh
C f r awt D und
fraud
•Elster, Häher 1 C k a r a t / :
FRAUDE
'kürzleibig, untersetzt 1 'Wegkehre' 'jüngstes Kind, Nesthäkchen· 1 Betrug'
Cf a r awt D
t e > n f z . pelote C p l o t : , · *PILUCCARE ( e n t h a a r e n ) afz. peluahier ( z u p f e n ) > n f z . epluchev ( a b z u p f e n ) . . . " ( R h e i n f e l d e r S. 52, § 1 3 9 ) . In a l l e n a n d e r e n K o n t e x t e n ist v o r t o n i ges Call noch in A b h ä n g i g k e i t von s a t z p h o n e t i s c h e n Gegebenheiten v e r f ü g b a r ; vgl. venir C a v n i i R ] v s . pour venir C p u : R V a n : R D oder C p u i R v n i : » ] j e nach S p r e c h t e m p o . F ü r d a s K a t a l a n i s c h e f ü h r t z . B . Moll ( 1 9 5 2 : 1 6 5 ) f o l g e n d e V a r i a n t e n mit d i a l e k t a l e m C h a r a k t e r an: brana v s . barana, brenar v s . berenar, vremav v s . veremar, vr-itat v s . veritat. Für das Spanische z i t i e r t G a r c i a de D i e g o : V I R I L I A ( p a r t e s v i r i l e s ) > ber-illa, brilla und k ä s t , verija. DIRECTU ? _ dreoho * D I R E C T I A R E > drezar-, VOLUCULU ( e n v o l t u r a del n i n o ) burujo, burujon, d i a l , brutto, bruyo; CARILYON > gorullo, govotto und grutto ( h o l l e j o de la u v a ) ; CARIES "> * C A R I S I A > queresa, oareea > oreea ( g u s a n i l l o ) . Für d a s Tosk. f ü h r t R o h l f s ( S . 2 2 4 ) f o l g e n d e F ä l l e a n : sprone, drittOj gridare, tri.T)e11o, Grollaret THERlACA>triaca. In diesem Z u s a m m e n h a n g i s t n a t ü r l i c h e n t s c h e i d e n d , d a ß weder K a t a l . , noch K ä s t . , noch Tosk. eine w e i t e r g e h e n d e Synkope des Vortonvokals a u f w e i s e n . 11 Im DRG w i r d dieser Epenthesevokal a l l e r d i n g s nicht-phonologisch e r k l ä r t : " S u r s e l v . C b a r a k D e r k l ä r t sich a l s f a l s c h e R ü c k b i l d u n g nach dem Beispiel braaaa "> baracca..".
79 FRENU
if r a j n ] und tfer ajn]12
frein (engad. fvain)
'Zaum..., Bremse*
Bei Huonder (S. 112) findet sich u.a.: t / t a r a j a ] für [J t r a j a ] 'Hexe 1 , [ / t a r i a w n a j f ü r [ j t r i a w n a ] 'Alpenrose1 (eigentlich 'Hexenblume'), [k a r i a n t s a ] 'Anstand, Höflichkeit'. Derselbe Prozeß findet sich auch zwischen C und /!/. So z . B . f i n det sich im DRG aus dt. 'Glück 1 : [ki e*i und [ k a i e £ ] cletg, aus dt. "Flasche 1 : [ f a i e j » ) flesaha in der Bedeutung 'Wärmflasche 1 . Huonder (S. 111) führt u . a . an: [ g a i o n d a ] glonda < GLANDA 'Drüse'; t b a i a d a ] blada < OBLATA 'Hostie, Oblate'. 2. Die Qualität des Vortonvokals zwischen Konsonant und /r/ und zwischen anderen Konsonanten stimmt nicht immer überein. So legt Lutta (S. 132 f.) für Filisur folgende Daten vor: FARINA
>
[fareqa]
VS. CENARE
>
[t J a n e r ]
essen
CORONA
>
[keroija)
GELARE
>
[30! i r ]
frieren
FINESTRA >
[fone:jtra]
Fenster
MINARE
(mane:r]
führen
>
Während die palatalen Vortonvokale in allen Kontexten außer vor /r/ - vielleicht über eine frühere Zwischenstufe [a] - zu [o] gesenkt werden, findet sich zwischen Konsonant und [ r ] der zentrale Vokal [a] ; die plausibleste Erklärung für diesen Unterschied liegt m.E. darin, diesen nach dem Eintreten der Synkope in diesem Kontext als späteren Epenthesevokal zu betrachten. 13 12 feTein f i n d e t sich auch im "Roman u H i s t o r i a de O c t a v i a n u s " , in einem M a n u s k r i p t Ende des 17., A n f a n g des 18. Jahrhunderts ( i n : "Vier surselvische T e x t e " , h r s g g . v. D. D e c u r t i n s , S. 3 1 7 , 3 1 9 ) . Diesen Hinweis v e r d a n k e ich H. Stimm, M ü n c h e n , dem d i e Form [ f a r a j n ] auch v o n seiner I n f o r m a n t i n a u s Disentis v e r t r a u t ist. 13 Die Form [ k u r u m a ] , die Lutta (S. 132, § 112) für das Oberengad. a n g i b t , ist dadurch zu e r k l ä r e n , daß in diesem Raum Dissimilation weniger stark ausgeprägt ist als z . B . im Surs. Wenn aber der vortonige Labialvokal nicht dissimiliert wird, wird er auch nicht synkopiert.
80
3. Es ist nicht unplausibel anzunehmen, daß die metathetisierte Form VERRUCULA > C a r v f k i » : in Punkt 16 AIS über die Zwischenstufe einer Synkope entstanden ist: VERRUCULA > C v a r y k i e ] , C v a r f k l a : > d v r f k l a : > Ha r v f k i a D ; vielleicht hat auch eine Agglutination des femininen Artikels und anschließend Resilbifizierung stattgefunden: m a $ v r f k l a : (la vricla) > * n » v $ r f k i a Ml'avricla) > c i t i f v i k i · : (l'arvicla). Dafür spricht, daß /r/ in silbenfinaler Position unmarkierter ist als /v/. Wir nehmen daher an, daß Synkope zwischen Okklusiv oder /f,v/ und /r/ früher im gesamten bündnerromanischen Gebiet eingetre14 ten war. Diesen Prozeß (der selbstverständlich in der heutigen Sprache nicht mehr produktiv ist, da die betreffenden Wörter längst restrukturiert sind) formulieren wir vorläufig folgendermaßen: Synkope C-r:
'
-»•cons c-daull C-linHj
{
[
x cons l lat J
Mögliche historische Stufen einer Generalisierung dieser Regel können wir aus dem synchronen Befund nicht rekonstruieren. 15 Wir wollen uns nun dem wichtigeren, dem dynamischen Teil der Regel zuwenden. Kontext II; Synkope zwischen Konsonant und /!/. 14 Die Synkope zwischen /s/ und / r / , die Walberg f o r Schlarigna angibt, ist w a h r s c h e i n l i c h eine G e n e r a l i s i e r u n g dieser R e g e l , doch f e h l e n mir für diesen phonologischen K o n t e x t Belege f ü r den ü b r i g e n B e r e i c h . 15 Die F o r m u l i e r u n g der E p e n t h e s e r e g e l , die v e r m u t l i c h insof e r n variabel ist, als sie vom Sprechtempo a b h ä n g t , soll u n t e r b l e i b e n , da wir hier nur den Zweck v e r f o l g e n , die F o r m u l i e r u n g von g r a d i e n t e n Regeln an Hand der Synkope zu exemplifizieren. 16 Bei den konsonantischen K o n t e x t e n werden z u e r s t die lt. z u g r u n d e l i e g e n d a n phonetischen Werte angegeben, d a r u n t e r in Klammern die b ü n d n e r r o m a n i s c h e n .
81
TABELLE
Kontexte
10 1 11
II:
1 f-1
2 pl
3 p-1
4 k-1 (Ct/D-)
5 g- 1 ( C d 3 :-)
6 v-1
7 t-1
0
a
a
a
a
0
a
a
a
a
0
a
a
—
a
3 13 5 14 15
0
a
a
—
a
0
»
a
a
a
9
9
9
a
a
a
9
9
—
a
a
9
9
16
a
9
9
— a
a a
17 25 Tin
3
9
9
a
9
9
— a
a a
—
—
—
-
*
* t: g0 1
-
0
-
-
a
0
0
-
a
a
a
0
0
-
a
a
a
0
0
-
a
a
a
0
0
0
0
0
a
0
-
0 (H)
17
27
Fil. 29 9 7 19 28 Schi. 47
-
(G)
1
f 1 e *a (W) a
0
-
8
0 0 (W ) 0
0 0 (W)
0 (W) 0
17 Dazu f i n d e n sich im DRG folgende Daten: FAISCHEL, FELSCH, m . , e n g a d . , FELISCH, m . , s u r m . , FLETGA, f . , k o l l . , surs. F a r n k r a u t , felaeh, feliech wird von < FILEX, FILICE abgeleitet, fletga von < FILICT-. FILICT-INA- Flutgina und Flutginae kommt v e r s c h i e d e n t l i c h als Ortsname vor und ist 1375 (Frau de Flitginas in Haladers ( S c h a n f i g g ) ) u r k u n d l i c h belegt. 18 Vgl. Celerina - ( T ) s c h l a r i g n a mit Synkope
82
1: FILICTA, surs. flutginas 'Farn 1 2: PLAN-, surs. plantsohiu eng. palantsohieu, E P S - ] 'Boden1 3: PELLICEA, surs. pletsaha eng. paletscha, C p » - D 'Apfelschale 1 4: CELLARIU, surs. tsohalev, C t / o - ] eng. achler 'Keller' 5: GELARE, surs. schelar, 1:39-3 eng. (d)sch-ilarf dsahler "frieren" 6: VILLU-, surs. vali, H v a M ] eng. valüd, vlüd 'Samt' 7: TEL-, surs. taler, C t a - D eng. tier 'Webstuhl 1 Ein Blick auf Tabelle II zeigt, daß die Synkope zwischen Konsonant und /!/ ein gradientes Bild aufweist; nur Spalte 2 paßt nicht in dieses Muster, da hier genau dort kein Vokal vorliegt, wo sonst die Synkope am wenigsten generell ist, nämlich im Surs. und gerade dort ein Vokal vorhanden ist, wo die Synkope am generellsten ist, nämlich im Oberengadinischen. Tatsächlich ist das Etymon von Spalte 2, "PLAN-" kein möglicher Input für die Synkopenregel, sondern für eine Regel, die einen epenthetischen Vokal zwischen P und L inseriert. Ich habe dieses Beispiel im Vergleich zu Spalte 3 "PELLICEA" nur deshalb aufgeführt, um den Parallelismus zu den Verhältnissen zwischen Konsonant und /r/ aufzuzeigen; in.beiden Fällen kann Tendenz zur Synkope auf der einen Seite und zu Epenthese zwischen Konsonant und relativ sonoranten Segmenten (wie Liquiden) auf der anderen Seite nebeneinander existieren. Gleichzeitig zeigt sich auch, daß die Synkope zwischen Konsonant und /r/ früher eingetreten sein muß als die zwischen Konsonant und /!/. Denn während die Epenthesenregel im Kontext zwischen Konsonant und /r/ auch solche Wörter erfaßt, die bereits die Synkope durchlaufen haben, findet Epenthese zwischen Konsonant und /!/ anscheinend nur bei historisch zugrundeliegender Sequenz "Konsonant + /!/" statt. Welche Feststellungen lassen sich nun bezüglich des Kontexte der Synkope aus Tabelle II treffen? Unerwartet ist zunächst die
83
Disparität zwischen dem Kontext f-1, wo vermutlich überall eine synkopierte Form vorliegt, 1 9 und dem Kontext v-1, wo der Vokal nur im Bereich der am stärksten ausgeprägten Synkopierungstendenz getilgt wurde. Weitere Daten mit dem Kontext f-1 wären nötig, um zu überprüfen, wie generell diese Verschiedenheit zwischen dem stimmlosen und dem stimmhaften Kontext ist. Ein Grund, warum Synkope in dem Wort FILICT- + Suffix" so generell ist, könnte in der Mehrsilbigkeit dieses Wortes liegen. Was die Serie der Okklusive /p t k/ anbelangt so kann festgestellt werden, daß sich die Kontexte zwischen lt. /p/ und /k/ (das im Romanischen normalerweise palatalisiert wurde; auf Regressionserscheinungen kann hier nicht eingegangen werden) und /!/ bezüglich der Synkope gleich verhalten. Dies gilt trotz der leider fehlenden Daten in den Punkten 29, 9 und 7 des AIS für GELARE vermutlich auch für historisch zugrundeliegendes /g/. Deutlich eingeschränkter jedoch ist die Synkope zwischen /t/ und /!/ (Spalte 7 ) , was darauf hinweist, daß es Beschränkungen für das Vorkommen von Apikaien im Silbenanlaut geben muß. Auch wo Synkope eintritt wird anlautendes /t/ oft zu /k/: 21 Ct a l S r : » Ct l £r u :* C k l fr D . Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Synkope zwischen /p/, Palatal ( / f / ? ) und /!/ verbreiteter ist als zwischen /t/ oder Spiranten und /!/. 19 Dies ist d a r a u s zu s c h l i e ß e n , daß sogar das S u r s . , das Synkope im e i n g e s c h r ä n k t e s t e n Kontext a u f w e i s t , bei diesem Wort den V o r t o n v o k a l t i l g t . 20 Aus dem DRG l ä ß t sich k e i n e Evidenz d a f ü r g e w i n n e n , daß die Synkope zwischen C und /!/ noch in a n d e r e n W ö r t e r n e i n g e t r e ten ist. Die M e h r s i l b i g k e i t k ö n n t e hier i n s o f e r n eine Rolle s p i e l e n , als ein f u n k t i o n a l e s Ziel der Synkope in der Norm i e r u n g des Z e i t m a ß e s von W ö r t e r n l i e g t . 21 Während das S u r s . Synkope nur bei r e l a t i v u n m a r k i e r t e r e n Nexus t o l e r i e r t , ist im E n g . die Synkope so s t a r k , daß sogar ein so m a r k i e r t e r N e x u s wie / t l / k e i n H i n d e r u n g s g r u n d für das E i n t r e t e n der Synkope ist ( s e k u n d ä r kann die M a r k i e r t h e i t dieser N e x u s jedoch wieder abgebaut w e r d e n : / k l / ) . I m Surs. hat also die r e l a t i v e U n m a r k i e r t h e i t r e s u l t i e r e n d e r Nexus den V o r r a n g ; im E n g . hingegen die G e n e r a l i s i e r u n g des Synkopierungsprozesses.
84
Kontext III; Synkope zwischen /s/ und /t/ und /t/ und /s/ Tabelle III zeigt, daß der Kontext zwischen /s/ und /t/ und das Spiegelbild, t-s, die Synkope stark favorisiert. Während anscheinend zwischen /t/ und /s/ Synkope im ganzen Bereich eintreten kann, ist der Befund bei /s/ und /t/ nicht so klar. Der einzig auffindbare Beleg im AIS, der Eintrag sott-ile < SUBTILIS (Spalte 1} zeigt Erhaltung des Vortons in der Surund Sutselva; hingegen findet sich bei Huonder das Datum SEXTARIUS > [ J t e r ] . Bei SEXTARIUS ist wahrscheinlich einfach die erste Silbe gekürzt worden: *sestarius > *sster > c / t £ r j wobei die Mehrsilbigkeit des Wortes unterstützend gewirkt haben mag. Bei SUBTILIS besteht die Möglichkeit, daß die Synkope erst später eintrat, weil der vortonige Labialvokal erst zu [ a l dissimiliert werden mußte (s. dazu Abschnitt 1 . 4 . 3 . 2 . } , bevor er synkopiert werden konnte, so daß bei diesem Wort die Synkope nicht mehr das ganze Gebiet erfaßt hat.
85
TABELLE III: Synkope zwischen /s/ und /t/ und /t/ und /s/. Kontexte 10 1 11 3 13 5 14 15 16 17 25 Tin. 27 Fil. 29 9
1 s-t
3 t-s
4 t-s
β 9
8
C/ t £ r J C t s a η ύ : r 3 (H) (H)
3
a a 3 9 3
0 0 0 _ u 0 (Sch)
7
2 s-t
0
fr her:0 Ct s i n t s ](Sch) heute : Cd 1 3 u n u : r 11
(P) 19 28
0 0
Schi. 47
Ct s u n t s 3 Ct s e r t D (W) Ct s f a v a 3
0
1: SUBTILIS, surs. satel, C s · - : eng. stigl, CJ t i * : 'fein' 2: SEXTARIUS, surs. ster, C / t e r ] 'Ster 1 3: DIS-HONORE, surs. zanur, dt s a - ] 'Unehre' 4: TEX-, eng. zum 'Weber 1 DESERTU, eng. zert 'elend, abgezehrt 1 *DESEQUAT, eng. zieva, C t s f a v a ] 'nach(her)
86
Man kann wohl davon ausgehen, daß Synkope zwischen /s/ und /t/ im gesamten bündnerromanischen Bereich eintreten konnte, wenn sie auch im Engad. offenbar genereller durchgeführt ist als in den übrigen Gebieten. Ein gewisses Problem ergibt sich durch die Parallelität des Wandels zwischen /s/ und /t/ und /t/ und /s/, bzw. durch die Tatsache, daß die Synkope zwischen /t/ und /s/ im Surs. zumindest in manchen Wörtern sogar stärker ausgeprägt zu sein scheint als die zwischen /s/ und /t/. 22 Ein Blick auf die Markiertheitswerte im Anhang S. 284 und S.287 bestätigt die Erwartung, daß die Sequenz /st/ im Anlaut eher vorkommen sollte als /ts/. Da die Markiertheitskonventionen eine Art Extrakt aus der empirischen Beobachtung der phonotaktischen Strukturen verschiedener Sprachen sind, liegt es nahe, für die Fakten des Surs. zunächst eine sprachspezifische Erklärung zu suchen, bevor man die Markiertheitskonventionen ändert. Es muß in diesem Zusammenhang die Möglichkeit ins Auge gefaßt werden, daß die Markiertheit der resultierenden Konsonantennexus kein entscheidender Faktor für die Verbreitung und schrittweise Generalisierung der Synkope ist; die Frage soll aber erst nach der Präsentation der Oaten erörtert werden. An dieser Stelle möchte ich zunächst auf einen Umstand hinweisen, der an eine sprachspezifische Erklärung der Synkope zwischen /t/ und /s/ heranführen könnte. Es fällt a u f , daß zwischen dem durch Synkope im Anlaut auftretenden /ts/ und der aus anderen Quellen (z.B. aus lt. C t j -D 22 Leider f e h l t mir a u s r e i c h e n d k o m p a r a t i v e E v i d e n z , um über die " N a t ü r l i c h k e i t " der Synkope in diesen K o n t e x t e n eine s i g n i f i k a n t e Aussage machen zu k ö n n e n . Komparativ r e l e v a n t sind n a t ü r l i c h nur solche Sprachen und D i a l e k t e , die keine g e n e r a l i s i e r t e Synkope a u f w e i s e n (also z . B . nicht p i e m . oder r o m a g n o l i s c h ) . R o h l f s ( 1 9 4 9 : 2 2 4 ) gibt z . B . f ü r d a s T o s k . nur Belege für Synkope bei s-t, n i c h t bei t-s: setaccio > staacio, a l t i t . a'tu vieni (se tu vieni). Im Afz und teilweise noch M i t t e l f r z . dagegen gab es auch Synkope zwischen / t , d / u n d / s / ; R h e i n f e l d e r ( S . 4 1 ) f ü h r t d a s B e ispiel desirer > d'sirer (noch 17. J h . ) an und e r k l ä r t Formen wie des-irer·, desert als g e l e h r t .
87
und germ, / z / ) stammenden Affrikata
/ts/ kein Unterschied be-
steht. Diese Tatsache allein wäre nicht weiter signifikant, da auch das Tosk. z.B. die Affrikate /ts/ im Anlaut kennt, trotzdem aber keine Synkope zwischen /t/ und /s/
aufweist.
Für das Surs. kommt aber noch hinzu, daß der Anlaut /ts/ anscheinend eine angestrebte Zielstruktur darstellt. Diese wird vor allem durch eine Verstärkung von anlautendem /s/ erreicht, wie z.B. in den folgenden Beispielen: SACRU-
zacherdi zafrauna
*SAFRANA SINISTRSACCSOBRINÜ SAPPA SAPPA+ICIARE SEPARARE SERCÜLARE SULCU SUMPONIÜ
Ct s a k a r d f D Ct s a f r £ wn 3 ]
zanistrar
Ct s a n i J t r a: D
zatget zavrin
Ct s a *e t : und
zappa
Ct s a p 3 3
zapitsahev zavrav
Ct s api t f £: ]
zaralar zuola
Ct s ä r kl a: D
zampugn
Ct s a mp u n 3
Ctsavrfn]
Ct s s v r a: ]
Ct s u a l k :
1
Donnerwetter 1 '
und safrauna 1
'Safran'
umkehren"
satget 'Säckchen 1 'Vetter 2. Grades' 'Haue' 2 3 24 ' zerstampfen 1 'aussondern' 'jäten' 'Furche 1 'Kuhglocke 1
Diese Zielstruktur kann gelegentlich auch durch Aphärese erreicht werden (siehe dazu Abschnitt 1 . 4 . 6 . ) . Es ist bemerkenswert, daß Synkope zwischen /s/ und /t/ und /t/ und /s/ im Bündnerromanischen sogar weiter verbreitet ist als Synkope zwischen Konsonant und /!/. 26 Zwischen allen sonstigen Konsonantenkombinationen findet Synkope im Surs., Suts., Surmeirischen und in Müstair nicht mehr 23 Kramer ( 1 9 7 5 : 1 5 ) 24 Rupp
(1963:107)
25 Kramer ( 1 9 7 5 : 1 5 ) 26 V g l . das T o s k . , wo Synkope des V o r t o n v o k a l s z w i s c h e n Konsonant und / r / g e l e g e n t l i c h , zwischen /s/ und / t / sporadisch und zwischen Konsonant und /!/ nie v o r k o m m t .
88 statt; 27 wir führen daher in den folgenden Tabellen nur mehr die Ortschaften des Engadins und des Albulatals an. Kontext IV; Synkope zwischen nicht-labialen Konsonanten und N, sowie zwischen /s/ und Konsonant und Konsonant und /s/
TABELLE IV
Kontexte
27
k-n
g-n
s-n 1
et j ] -n
Cd 3] -n 3
0
0
2
0
s-k s-CgD 4 ^
p-s 5 T p s e : r]
t-m 6
t-n 7a
t-n 7b
t-n 7c
0
(6)
(fe)
0
-
-
e
(6)
e
e
0
0
—
—
(L)
Fil. 9 7
a 0 0
a -
a 0 0
0
Cbz3ij:
(P) 19 28 Schi. 47
0
0
0
0
0
0
-
0
0
0
0
i
0 i
0 (W)
0 (W)
0 (W)
—
0 (W)
0 (W)
—
—
0
0
0
0
0
(e)
i
i
0
Cbz öq]
(W)
27 Im S u r s . f i n d e n sich immer C » D o d e r , bei p a l a t a l e m oder d e n t a l e m Kontext Ll D oder, bei l a b i a l e m Kontext C u J ; siehe d a z u d i e A b s c h n i t t e 1 . 4 . 2 . u n d 1 . 4 . 3 . D a t e n , d i e die E r h a l t u n g des V o r t o n v o k a l s im S u t s . , S u r m e i r i s c h e n und M ü s t a i r b e l e g e n , f i n d e n sich j e w e i l s b e i L u z i ( 1 9 O 4 ) , Grisch ( 1 9 3 9 ; dort f i n d e t sich auf S. 85 f. eine a u s f ü h r liche G e g e n ü b e r s t e l l u n g von W ö r t e r n aus dem D i a l e k t von T i n i z o n g und dem O b e r e n g . ) und Schorta ( 1 9 3 8 ) in den A b s c h n i t t e n zum V o r t o n v o k a l i s m u s . Wir geben daher in den f o l g e n d e n T a b e l l e n n u r mehr d i e s u r s . E n t s p r e c h u n g e n d e r eng. Wörter an.
89
1: 28 SINISTRA, eng. eehnester 2: CENARE, eng. tschner 3: GENUCULU, eng. sahnugl 4: SECURE, eng. sgür 5: PE(N)SARE, *BISONEUM, eng. pser, bsögn 6: Abltg. von TEME-, eng. tmüah 'furchtsam' 7a: TENERE, Infinitiv, eng. tgnair 7b: 1. Ps.Pl. 7c: 2. Ps.Pl. Da anlautendes /k/ vor palatalen Vokalen bereits vor Eintreten der Synkope palatalisiert wurde und somit als Kontext nicht mehr in Betracht kommt,kann man feststellen, daß Synkope im ganzen Bereich zwischen nicht-labialen Konsonanten und N gewirkt hat. Einzige Ausnahme hierzu scheint der Kontext zwischen /t/ und N in Punkt 9 zu sein. Andere Abweichungen beim Verbalparadigma von TENERE haben mit morphologischen Faktoren zu tun, auf die wir hier nicht eingehen können. Was den Kontext zwischen /s/ und Konsonant anbelangt, so gilt für /s/ und /k/, daß sich kaum ein Kontext finden läßt, in dem /k/ erhalten ist; SECURE ergibt [ z g y : r ] ,
[ z f y k r j etc.;
SICCARE ergibt [ / ? e r ] . Leider ließ sich kein Beispiel für /s/ und /p,b/ finden; /f/ kommt zwischenvokalisch im Lt. ohnehin kaum vor und fällt somit als möglicher Kontext weg. Trotz dieser Lücken ist unter Einbeziehung der vorhergehenden Tabellen wohl die Generalisierung möglich, daß im Engad. die Synkope zwischen /s/ und Konsonant möglich ist; das gleiche gilt für die Synkope zwischen Okklusiv und /s/. 28 1: surs. eanieeter ' l i n k s ' , 2: s u r s . tschenar ' z u Abend e s s e n 1 , 3: s u r s . sohanugl [3»nu*·] ' K n i e ' , 4: surs. sigir • B e i l 1 , 5 : s u r s . pasar L p s z a : ] ' w i e g e n ' , bueignua ( ' b e d ü r f t i g 1 ; D R G a u c h : [ b a r l n u s ] ) , 7 a : s u r s . tener ' h a l t e n 1 .
90
Kontext V; Synkope zwischen beliebigen Konsonanten TABELLE V
v-k Kontexte
27
f-n 1
v-n 2
0
v- et
v-s v-t 5
[V-t]
3
tv-j i 4
-
-
-
_
[V-31
_
9 7 19
a
28 Schi. 47
1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9:
3
V
-
6
b-t 7 0
3
3
a
0
a
3
0
0
0
0
0
0 -
0
0
0 (W)
0
0 (G)
0 (W)
0
0
0 (W, G)
0 (W)
P-k [ -
8
m-n 9
_
_
-
-
0 (W, G)
0 (WfG)
0
FINESTRA, eng. fnestra 29 Venezia, eng. [f n e 3 a] , [v n e s a ] (W) VICINU, eng. vschin VESSICA, eng. vschia [ f / f a ] VITELLU, eng. DC?«? 30 VECTURA, eng. vtüva BETULLA, eng. bduogn PECCATU, eng. pahS MINARE, eng. mner
Tabelle V betrifft die Kontexte /v,f/ + Konsonant und Abfolgen von zwei Okklusiven oder zwei Nasalen; die Beispiele für Abfolgen von zwei Okklusiven sind leider nicht allzu häufig. 29 1: s u r s . fanestra ' F e n s t e r 1 , 3: surs. vaaohin ' B ü r g e r 1 , 4: s u r s . vascheia ' B l a s e ' , 5: s u r s . vadi ' K a l b 1 , 6: s u r s . vitgira ' F r a c h t 1 , 7: s u r s . badugn 'Birke1, 8: surs. pueoau • S ü n d e 1 , 9: s u r s . menar • f ü h r e n 1 . a_ oder e_ in der Graphie entsprechen dabei j e w e i l s einem Schwa. 30 Grisch gibt für das Obereng, [ f f y g r a ] an und Walberg [f t y g r a] ,
91
Im Untereng, wurde die Synkope offenbar nicht mehr generell durchgeführt, während sie im Obereng, kategorisch, also ganz generalisiert wurde; Punkt 19 geht dabei mit dem Oberengad. Der letzte verbliebene Kontext betrifft anlautende Sonoranten. TABELLE VI Kontexte
r- 1 1
1-t 2
1-v 3
27
r a m u
sib
/
sib:
(d) Vor N Unsere Kontexte umfassen für Okklusive nur Beispiele für /t/N; es ist aber wahrscheinlich, daß /k/N unmarkierter ist als /t/N; (vgl. das Dt., wo es zwar /kn/ (Knabe, knapp etc.) aber kein /t/N im Anlaut gibt) /p/N scheint nach unseren Daten etwas markierter zu sein als /t/N. Tentativ gilt also für diesen Kontext die Generalisierung von ( M 3 ) :
(M3)'
/k/, /t / + /t/ /P/
lin
u M m
lin
Für Frikative in Erstposition vor N ist
/
c+ lat: N
anscheinend /s/
und /;/ natürlicher als / f / ; die Werte in Tabelle II (Anhang) können also übernommen werden. (e) Vor Okklusiv Hier ist
möglicherweise Cx linD ( / t / ) markierter als
(/p/) ; doch ist
C
die Evidenz aus unseren Daten zu gering, um
darauf Änderungsvorschläge zu gründen. 42 A n l a u t e n d e s / t l / kann zu / k l / w e r d e n : TEL[k l e r ] ( o b e r e n g . )
taler
117
Zusammenfassung: Wir schlagen also für eine Teilmenge von Segmenten in Erstposition von wortanlautenden Nexus folgende Markiertheitswerte vor: Vor /!/ und N:
Vor Liquid und C + ,x p
t
k
f
+
+
+
+
s J +
+
-
-
-
M
M
-
+
sib lin
M
m
+ M
m
t
k
f
s
+
+
+
+
+
+
M
M
M
-
+ X
m
M
+
-
+
u
u
m M
cons
cons dau
p
M
dau -
m
+ M
-
-
sib -
lin
m
M
Einige dieser Markiertheitswerte decken sich mit Beobachtungen in Bailey ( 1 9 7 6 ) , die aber dort nicht explizit formuliert werden. Der Vergleich zwischen diesen Beobachtungen Baileys über die Natürlichkeit von anlautenden Nexus in verschiedenen Sprachen und den Kontexten, in denen sich die Synkope schrittweise generalisiert, ergibt im großen und ganzen eine Übereinstimmung der Art, daß man die anfängliche Arbeitshypothese als validiert ansehen kann: Ausgehend von natürlichen Konsonantennexus breitet sich die Synkope schrittweise auf unnatürlichere aus. Im Stadium der völligen Kategorisierung der Regel im Obereng, scheint allerdings die Frage der Natürlichkeit der resultierenden Cluster keine Rolle mehr gespielt zu haben, denn hier entstehen auch unmögliche Nexus wie die mit anlautendem Sonoranten, die durch Prosthese der Phonotaktik wieder angeglichen werden, oder sehr komplizierte Cluster wie /tl/, die durch Segmentsubstitution (/kl/) sekundär vereinfacht werden.
118
Das typologische und das dynamische Pattern; Ausbreitung der Regel im Raum und in der Zeit Entsprechend der Implikationskette: Kontexte ( 4 ) 3 Kontexte (3) 3 Kontexte ( 2 ) ^ Kontexte (1) läßt sich für die räumliche Ausbreitung der Regel schematisiert folgendes Bild gewinnen, das ihre wellenförmige Ausbreitung widerspiegelt: Bhein
Kontexte ) Kontexte (2) Kontexte (3) und (4
Vom dynamischen Aspekt her sieht es zunächst so aus, als ob das Obereng, für den gesamten bündnerromanischen Raum als Irradiationszentrum der Synkope anzusehen wäre; doch ist dieser abstrakte Befund wohl auf Grund der verkehrsgeographischen Verhältnisse zu korrigieren. Die jahrhundertelange schwere Zugänglichkeit des Julier- und Albulapasses lassen es eher plausibel erscheinen, nur für das Engadin eine wellenförmige Ausbreitung der Regel anzunehmen und für das Sur- und Suts. einen eigenen Ursprung der Synkope zu vermuten.
1 . 4 . 2 . Kontextfreie Prozesse im Vortonvokalismus des Surs. Die in diesem Abschnitt behandelten Prozesse werden in dem Sinne als kontextfrei bezeichnet, als sie nicht von unmittelbar adjazenten Segmenten abhängen; sie sind allerdings
119
insofern kontextsensitiv, als sie unbetonte Anfangssilben affixieren.
1.4.2.1. Ein Fall ohne Veränderung: lt.
/i/.
Vortoniges lt. /!/ bleibt ohne Kontexteinflüsse normalerweise erhalten. 43 FINIRE FILARE
[ f i n i':] finir i f i i a : ] filar
'beenden1 'spinnen 1
etc.
1 . 4 . 2 . 2 . Palatalisierung und Entrundung: lt.
/u/.
Komplizierter ist der Fall des vortonigen / u / , das sich normalerweise wie unter dem Hauptakzent über Palatalisierung zu /y/ und Entrundung zu /i/ entwickelt. Da im Laufe der folgenden Analyse Alternationsmuster eine Rolle spielen, werden zu allen Beispielen nach Möglichkeit auch solche Flexions-oder Derivationsformen angegeben, in denen der fragliche Vokal unter dem Hauptakzent steht. Zunächst seien einige Daten zur normalen Entwicklung von vortoni— 44 gern lt. /u/ angeführt:
(D FRÜCT[ f r i c a : ] fz-i tgai·' fruchten ' vs. el ÜSARE [i z a : ] isar 'abnutzen 1 vs. el ADIÜTARE [g i d a : ] gidar 'helfen 1 vs. el
ifrefy] (izs) [i'dai
f vet g a isa gida
43 F ä l l e wie LIMARE -*· gliemar, die v e r m u t l i c h auf P a r a d i g m a a u s g l e i c h z u r ü c k g e h e n (von LIMA —> gliema; b e t o n t e s / i / a u s l t . / i / oder / u / w i r d v o r / m / u n d a n d e r e n Konson a n t e n z u / e / g e s e n k t ) w e r d e n n i c h t b e r ü c k s i c h t i g t . Wie analoge Fälle z e i g e n , b l e i b t die A l t e r n a t i o n i/e^ m e i s t e r h a l t e n : fimai'/el fema ( r a u c h e n / e r r a u c h t ) . 44 A u f f ä l l i g s i n d d i e v o n W i d m e r ( 1 9 6 7 : 3d) z i t i e r t e n D a t e n : IÜRATU —> [ f f a r a w j gerau ( G e s c h w o r e n e r , O r t s v o r s t e h e r ) , und I Ü D A E U —*· [ f a d / w ] gediu ( J u d e ) , wo j e w e i l s / i / z u e r w a r t e n w ä r e (aber v g l . [ i f i d i w j i m T a v e t s c h ) . Es scheint Variation vorzuliegen, vgl. auch C. M a n i , P l e d a r i SutsiIvan : giudiu, giro; S o n d e r / G r i s c h , V o c a b u l a r i da S u r m e i r : gidiu. Das DRG f ü h r t gediu u n t e r e n g a d .
120
MATÜRARE MÜRARE JEJUNARE IÜBILFÜMARE PLUM-
tmadiri:] [m ir a: ] [gi g*i n a : ] [fibiada] [fiml:] [plime:]
madirar1 reifen 1 vs. el 1 mivav 'mauern vs. el 1 1 giginar fasten vs. el 1 giblada ' Jubel vs. fimap 'rauchen' vs. el plimer ' Federbusch1 vs.
[ma d i r a] [mfra] [gigfna] [gibai] [fema] [piema]
mad-Ira mira gigina gibel fema plema (Feder)
Diese Entwicklung des Vortonvokals führt in den angeführten Fällen entweder zu keiner Alternation oder zu einer Alternation der Art i/£; andere Fälle werden in den beiden folgenden Abschnitten behandelt.
1 . 4 . 2 . 3 . "Ausnahmen" Blockierung der Palatalisierung und Entrundung? Es fällt auf, daß in einigen Wörtern mit historisch zugrundeliegendem /u/ im Surs. /u/ statt des zu erwartenden /i/ vorliegt: (2)
MPLUM-
[ ppll u m m aattJj ]
MÜGIRE
Imuji : ]
PRÜN-
[ b u r n f w]
MÜR-
[murfrfna ]
RÜV-
[r u g a d a : ]
MÜSTELA
[mu/ t e j 1 a ]
PRÜINA
[p u r g i n a ]
plumatsah plumatsa, mugir buvni-u murglina rugadar
Kissen vs. plema Feder muhen vs. el [meg*a] megia Feuer
musteila purgina
Wiesel Reif
Mäusedreck vs. [miwr] miur Maus durchwühlen vs. el [r a g id a raguda
Huonder (S. 1O1) führt folgende Möglichkeiten an, die zu dieser Entwicklung geführt haben könnten: "Wo ursprünglich 11 gestanden, kann man zweifeln, ob zunächst i_ anzusetzen ist, oder ob u geblieben, resp. ü wieder zu u wurde." güdeu und kann daher noch nicht herangezogen w e r d e n . Unter gevau werden v a r i i e r e n d e Formen mit [ i ] und C» ] angegeben; es f i n d e t sich keine E r k l ä r u n g für [ a ] . Das zu erwartende [ i ] haben jedoch die V e r b f o r m e n von IURARE: angiraf ( M a n i , Pledari S u t s i l v a n ) ; (an)girar ( S o n d e r / G r i s c h , Vocabulari da S u r m e i r ) , engirar ( V i e l i / D e c u r t i n s ) .
121
Er versucht aber im weiteren nicht, zwischen diesen Möglichkeiten zu evaluieren. Etwas exakter umformuliert lauten diese Hypothesen folgendermaßen: Hypothese 1: Alle vortonigen lt. /ü/ wurden zunächst zu /i/. Dies erfordert eine Begründung, warum in den Daten (2) Cu: vorliegt. Hypothese 2 ( a ) : Der Wandel von /u/ zu /i/ hat nur in einem Teil des Lexikons stattgefunden, im anderen Teil blieb /u/ erhalten; dies fordert eine Begründung, warum der Wandel in bestimmten Wörtern blockiert wurde. Hypothese 2 ( b ) : Der Wandel von /u/ zu /y/ hat das ganze Lexikon erfaßt; vor der Entrundung zu /i/ ging jedoch ein Teil des Lexikons zu /u/ zurück. Dies erfordert eine Begründung, warum die Entrundung in bestimmten Wörtern blockiert wurde und warum die Regression zu /u/ eintrat. Lassen sich diese Hypothesen evaluieren? Zweierlei fällt an der Datenliste (2) auf: einmal die Tatsache, daß in allen Fällen die Vortonvokale im Kontext labialer Konsonanten stehen und zum zweiten, daß mit Ausnahme von plumatsoh/plema und mugir/el megia der Vortonvokal C u D nirgends mit einem palatalen Haupttonvokal alterniert. Bei plumatsah/plema ist überdies fraglich, ob der lexikalische Zusammenhang zwischen den beiden Wörtern überhaupt bewußt ist; bei mugir scheint Variation des Vortonvokals vorzuliegen; es findet sich bei Vieli/Decurtins und Nay auch die entrundete Form migir. Zum Stamm PRÜN- gibt es noch die Ableitung burnida, zu fulin ein Verb fulinar, alle mit vortonigem C u H . Alternationen der Art rugadar/ et raguda werden in einem eigenen Kapitel behandelt. Musteila und puvgina sind lexikalisch isoliert. Ausgehend von der ersten Beobachtung kann man die Hypothesen von Huonder folgendermaßen umformulieren: Hypothese 1': Alle vortonigen lt. /ü/ wurden zunächst zu /i/. Wo heute CuD vorliegt, ist es auf Labialisierung zurückzuführen.
122 Hypothese 2 ( a ) ' : Der Wandel /u/ —> /y/ wurde durch labialen Kontext blockiert; im Kontext labialer Konsonanten blieb /u/ erhalten. Hypothese 2 ( b ) ' : Der Wandel /u/ -> /y/ hat das ganze Lexikon erfaßt; die /y/ in labialem Kontext wurden zu C u D , die übrigen zu C i 3 entrundet. Da Cy] ebenso wie CUD das Merkmal c+ labj zukommt, ergibt sich aus den Hypothesen 2 ( a ) 1 und 2 ( b ) ' das Problem, wieso der Wandel /u/ -»· /y/ in labialem Kontext blockiert wurde bzw. wieso /y/ wieder zu /u/ wurde. Wir werden weiter unten auf dieses Problem zurückkommen. Bei allen Hypothesen müßte weiter begründet werden, warum in folgenden Daten keine Labialisierung eintrat bzw. der labiale Kontext keine Blockierung der Palatalisierung und Entrundung bewirkt hat: (3) MÜRARE [ m i r a : ] mirai'
'mauern 1
PLUM[pi i m e : ] plimer FÜMARE [ f i r n ä : ] fimar MÜGIRE [mi g : ] migir [ m u g f . · ] mugii' IÜBIL- [ g i b i a : ] giblai'
'Federbusch' vs. 'rauchen' vs. el neben: vs. el 'muhen' 'jubeln' vs.
vs. el
[ m f r a j ml r a, mi P'Mauer' [ p i f m a ] plema 'Feder 1 [ f i m a ] fema [megS] meg-la [ g i b a i j gibel
Im Gegensatz zu den Daten (2) haben wir hier überall eine Alternationsform mit akzentuiertem Ci: oder Ce3, also Alternationen der Art i/i oder i/£. Diese Beobachtung legt die Möglichkeit nahe, daß man bei der Analyse der Daten zweierlei Faktoren berücksichtigen muß: einmal die Rolle der Labialisierung als phonologischem Prozeß, und zum zweiten die Rolle von Zielstrukturen für morphologische Alternationen. Wir wollen im folgenden zunächst den ersten Faktor diskutieren, um im nächsten Abschnitt kurz auf den morphologischen Faktor einzugehen. Um die Rolle der Labialisierung zu verdeutlichen,ist es nützlich, zunächst einmal die Ausbreitung der Labialisierung von Vortonvokalen im Bündnerromanischen zu betrachten;
123
hierfür diene wiederum der AIS als Datenbasis. TABELLE IX zeigt den gradienten Charakter der Labialisierungsregel, wobei teiidentiell die Labialisierung im Surs. am stärksten und im Engad. fast gar nicht ausgeprägt ist. Im Vergleich dazu wird in TABELLE X der Bereich von Palatalisierung und Entrundung (Spalte 1) sowie das Verhalten von lt. /u/ im Kontext labialer Konsonanten dargestellt. Leider finden sich für das letztere in manchen AlS-Punkten zu wenig Belege. Zusätzlich verdunkeln gelegentlich andere phonologische Prozesse das Bild. So kann in Formen wie Untereng, [ b r s i n a ] (Spalte 3) Dissimilation eine Rolle gespielt haben; bei Sur- und Suts. [ b a r n ' w j (Spalte 5) kommt die /r/-Methathese mit ins Spiel, bei der oft zunächst der neutrale Vokal eintritt. Im großen und ganzen läßt sich dennoch die Tendenz feststellen, daß vortoniges lt. /u/ eher in jenen Bereichen als Hu: vorliegt, wo auch die Labialisierung von palatalen Vortonvokalen stark ist, also im Surs. und, in der aufgelisteten Reihenfolge, mehr oder minder in den suts. Punkten des AIS. Diese Übereinstimmung stützt m.E. die Annahme, daß bündnerromanisches vortoniges Lul (aus lt. /u/) tatsächlich mit Labialisierung zu tun hat.
124
TABELLE IX: Labialisierung von palatalen Vortonvokalen und /a/ 8
Kontexte 10 1
u »
u u
u u
n
β
U
U
3 13
u
u
u
β
U
U.
5 14 16 17 15 25
u u u u u u
u
u u
u u u u u u
u
β
27
u u u u i
u
U
U
U
U
u u u u
u u u u
u u u u
u u u u
u
u u u
u
u
u u u
U
U |a
-
i β β -
a
1
a
β
9
β
a
a
a
β
a
a ,U
9
—
—
a
β
0
a β
u a » a 8
a 9
9
29
U
a
β
a
β
a
-
-
e
9 7 19
i
»
0
a
1
a
-
9
e
1
a
β
a
i
a
a
9
0
i, u 9
a
a
i
»
β
9
0
β
β
9
a
9
0
a
a
i
a
a a
a
0
28 47
i i
a β
1: INFANTE, surs.
f f on;
45
eng. -infant,
infaunt,
uffant,
iffant 'Kind' etc. 2: EPIPHANIA, surs. Buaniat eng. Babania 'Dreik nigsfest1 3: LABOR-, surs. luvvarj eng. lavurav 'arbeiten' PRAESEPIU, surs. pursepen; eng. prasepan, parsepan 1 Krippe ' 45 vortoniges [»l kommt hier durch D i s s i m i l a t i o n z u s t a n d e , s. Abschnitt 1 . 4 . 3 . 2 . 46 Zur Metathese bei / r / s.
Abschnitt 1.4.6.
125
4: 5: 6: 7: 8: 9:
FAMILIÜ, surs. fumegl; eng. famagl 'Knecht' INFERNU, surs. uffiern} eng. infiern, iffiern 'Hölle 1 47 CEREBELLU, surs. teohurvij eng. tsoharve 'Gehirn' 48 BEV-, surs. buedev; eng. bavader, baveder 'Säufer' MASTICARE, surs. mustigiar; eng. mas-char "kauen 1 TEM- (Abltg), surs. temeletg} eng. tmüah 'furchtsam'
TABELLE X: Verhalten von vortonigem lt.
/u/ in labialem
Kontext
Kontexte 10 1 11 3
13
i i
u u u u u
i i i
i U U
—
"
_
II
i
i
u u u u -
27
-
-
29
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Ü
9
brain«
Ü
7 19
ü ü ü
br ü f na
Ü
br a
a
Ü
28 47
ü ü
pr u i n a
Ü
—
Ü
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i* i
ba r n{ w
U
5 14 16 17 15 25
i i
b ur n w
U
bur -
i
bur -
—
bur—
i
ba r -
Ü
br i n i
47 Hier kommt L a b i a l i s i e r u n g durch die sekundär labiale Artikulation des / t / / zustande. 48 b a e d e r , bavader sind laut ORG N o m e n - a g e n t i s - B i l d u n g e n zu baiver ( t r i n k e n ) .
126
1: ÜSARE, FÜMARE, surs. isar, fimar} eng. Üsai', fümer •abnutzen; rauchen* 2: PRÜINA, surs. purgina; eng. bvainat pruina 'Reif 3: MÜSTELA, surs. musteila, misteila; eng. müstaila •Wiesel 1 49 4: PRUN- (Abltg.), surs. burniu Bei Annahme von Hypothese 1' müßte die Entwicklung über folgende Prozesse verlaufen sein: 1. Palatalisierung von /u/: /u/
—*
C-graD
2. Entrundung: /Y/
-*
C-labD
3. Labialisierung: V
-*
C+labD
/
Auf die Problematik der Palatalisierung von /u/, die ja auch den Haupttonvokalismus und andere romanische Sprachen betrifft, können wir hier natürlich nicht eingehen. 2. und 3. sind jedenfalls mit Sicherheit als natürliche Prozesse anzusehen. Entrundung muß bei Annahme der obigen Entwicklung im gesamten Bereich des Sur- und Suts. eingetreten sein, während Labialisierung das Lexikon unterschiedlich stark erfaßt haben muß. Hypothese 2 ( a ) 1 erfordert die Annahme, daß die Palatalisierung von /ü/ ihren Ausgangspunkt im Kontext nicht-labialer Konsonanten hatte und sich sukzessive auf den Kontext labialer Konsonanten ausdehnte, wobei diese Generalisierung das Lexikon größtenteils nicht mehr erfaßte (nämlich jenen 49 Die A b l e i t u n g von dem Stamm PRUN- w i r d von Huonder und im DRG a n g e n o m m e n . Die W ö r t e r burniu, burnida, br>in& e x i s t i e r e n l a u t DRG nicht im Eng.
127
Teil, der CUD in labialem Kontext aufweist). Dies entspricht folgendem Prozeß: /u/ -» c-graj
/
c l~ _|_-labjl* /
l
(C) L+akzJ
Diese Lösung ist u.E. deshalb unplausibel, weil cyu ja ebenso ein labialer Vokal ist wie [u]; warum sollte also die Palatalisierung von /u/ durch labialen Kontext verzögert oder blockiert werden? Hypothese 2 ( b ) ' erfordert die Annahme folgender Entwicklung: 1. Palatalisierung 2. Entrundung in nicht-labialem Kontext:
fc /y/ -* C-labu
/
T*
fv
l
_ [ _ - l a b J / (C) |_+akzj
3. /y/ wird in labialem Kontext wieder zu Cu3: /y/ -»- C+gra:
/
fc
l*
_ l +lab l / (C)
"v
1
Regel 2. hat formal das Aussehen einer Assimilationsregel; wenn man allerdings die beteiligten Merkmale betrachtet, erscheint eine solche Entrundungsregel in nicht-labialem Kontext recht ungewöhnlich; mir ist jedenfalls bisher kein Beispiel eines solchen Prozesses begegnet. Regel 3. ist wohl ebenfalls kaum als natürlich anzusehen und könnte daher nur als Regression auf den ursprünglichen Zustand interpretiert werden. Regressionen kommen aber, soweit nicht natürliche Prozesse involviert sind, als Ergebnis normativer Eingriffe vor. Im Fall romanischer Sprachen -handelt es sich dabei meist um Rückgriffe auf lt. Formen. Bei dem Lexikonmaterial, das t u n als Ergebnis von lt. /u/ auf weist, verbietet sich jedoch eine solche Erklärungsmöglichkeit, da die phonologische Form dieser Wörter i. a. eine erbwörtliche Entwicklung aufweist. Zusammenfassend kann man wohl feststellen, daß Hypothese 2 (b) ' eine recht unplausible, auf jeden Fall aber komplizierte
128
Entwicklung beinhaltet. Am einsichtigsten und einfachsten erscheint daher Hypothese T . Dies deshalb, weil hier für den ganzen Bereich der Surselva und Sutselva ein einheitliches Wirken der Entrundung von /y/ angenommen werden kann. Damit erklären sich alle Wörter und Wortvarianten, in denen CiD vorliegt. Das Vorkommen von CuH kommt durch die Labialisierungsregel zustande, die ohnehin auch Vokale aus anderen historischen Quellen erfaßt. TABELLE IX erlaubt folgende Interpretation: Die Labialisierungsregel hat sich sukzessive durch das Lexikon ausgebreitet. So wurde z.B. FAMILIU früher erfaßt als CEREBELLU etc. Die Ci: in MÜSTELA in den Punkten 10, 17 und 25 sind daher als ältere Formen zu bezeichnen, wie sie vor der Labialisierung im ganzen Dialektgebiet vorhanden waren. Für diese Annahme spricht auch, daß Cul in MÜSTELA mit Ausnahme von Punkt 10 mit dem Bereich koinzidiert, in dem die Labialisierungsregel am generellsten durchgeführt ist; ein Zusammenhang, der bei den Hypothesen 2 ( a ) ' und 2 ( b ) ' verlorengeht. Ich meine, daß aus dieser Argumentation hervorgeht, daß Hypothese 1' den einsichtigsten Zusammenhang zwischen dem Auftreten von CuU aus lt. /ü/ in labialem Kontext und dem in der Sprache ohnehin vorhandenen Labialisierungsprozeß herstellt. "Ausnahmen der Ausnahmen"; Erklärung durch morphologische Systemangemessenheit Die Annahme, daß vortoniges bündnerromanisches /u/, das auf historisch zugrundeliegendes /ü/ zurückgeht, durch Labialisierung zustande kommt, erfordert eine Begründung, warum in der Datenmenge (3) diese Labialisierung nicht eingetreten ist. Wie bereits angesprochen wurde, besteht der Unterschied zwischen der Datenmenge (2) (mit Labialisierung) und der Datenmenge (3) (ohne Labialisierung) darin, daß
129
die Wörter in Datenmenge (2) keine transparenten Alternationen mit haupttonigen palatalen Vokalen aufweisen, während dies bei der Datenmenge (3) gerade der Fall ist. Das Fehlen einer qualitativen Alternation (i/i) oder eine Alternation innerhalb der palatalen Skala (i/e,£) sind also im Surs. Zielstrukturen, die eher realisiert werden als eine Alternation zwischen Vokalen der labialvelaren und solchen der palatalen Skala ( u / e , e ) , wie sie zwangsläufig im Datenbereich (3) resultieren würden, wenn die Labialisierung zur Anwendung käme. Wie im Abschnitt Über Labialisierung gezeigt werden kann, ist diese Restriktion über Alternationen auch bei der Labialisierung palataler Vortonvokale wirksam; dieser Prozeß wird nämlich oft dann blockiert, wenn eine u/e, -Alternation entstehen würde. Wir glauben, daß die Zielstruktur einer Alternation innerhalb der palatalen Skala unter dem oben erläuterten Begriff der "Systemangemessenheit" einzuordnen ist. Zweierlei Faktoren machen m.E. eine Alternation innerhalb der palatalen Skala systemangemessener als eine zwischen Vokalen verschiedener Klangfarbe. Einmal sind Alternationen zwischen Vokalen der gleichen Klangfarbe (palatal/ungerundet oder velar/gerundet) auf Grund anderer Prozesse (vor allem der Anhebung von Vortonvokalen) für große Klassen von Paradigmen im Surs. charakteristisch; sie haben die Funktion eines distinktiven Signals für verschiedene Flexionsformen ( z . B . kündigt ein erhöhter Vokal in einer bestimmten Verbform bereits in der ersten Silbe an, daß es sich um eine endbetonte Form handeln kann). Alternationen zwischen Vokalen verschiedener Klangfarbe sind dagegen vereinzelt, bilden keine Klassen und tendieren dementsprechend zum Abbau. 5O So z . B . in Fällen wie olamar/el aloma ( [ k l e m a i l / [kl o m » ] ) , wo das betonte [5] historisch durch den folgenden Nasal entstanden ist; hier gibt es eine Tendenz zu systemangemessenen Alternati'onen der Art [kl u m a : ] / [kl Sms ] .
130
Zum zweiten sind Alternationen innerhalb derselben Klangfarbe wie i/e,« oder u/ , noch von einer gewissen phonologischen Natürlichkeit gekennzeichnet, auch wenn die phonologischen Prozesse, die die Alternation erzeugt haben, nicht mehr produktiv sind. Regeln, die solche Alternationen beschreiben, bezeichnen wir mit Wurzel (1980) deswegen eher als morphophonologisch, denn als morphologisch.
1 . 4 . 2 . 4 . Zielsegmente und Prozesse bei labialen Vortonvokalen und Diphthongen Alternationen Lt. /u/, /ö/ und /o/ erscheinen im Surs. im Vorton als /u/. Je nach der Entwicklung des Haupttonvokals, auf die hier nicht eingegangen wird, alterniert dieses vortonige /u/ mit verschiedenen Vokalen und Diphthongen unter dem Hauptakzent. Im folgenden werden der Reihe nach Beispiele für historisch zugrundeliegendes /u/, /ö/ und /o/ angeführt. 51
(1) Lt. /u/ [f u n d a: ]
SUSPIRÄRE
fundar euspirar
UMBR-
umbriva
[umb r 1 v a ]
UNIRE
unir
[unf : ]
FÜNDÄRE
[s u J p i r a:
'gründen' 'seufzen 1 'Schatten' 'verbinden'
Alternationen:
1. u/ut CRÜCIÄRE FRUSTIÄRE
arusohar/ e~i arusaha fursahav/ ei frueaha
[kr u 3 a: ] / ' kreuzen/ [kr 39 j er kreuzt' t f u r / a: i /'reiben/ [f r u j ] er reibt'
51 Da es hier nicht um die h i s t o r i s c h z u g r u n d e l i e g e n d e n Formen der S u f f i x e g e h t , werden bei den lt. Etyma ö f t e r s nur die S t a m m f o r m e n angegeben. Ebenso geben wir Vokallänge in lt. Etyma nur bei d e n j e n i g e n V o k a l e n systematisch a n , die von den j e w e i l s b e h a n d e l t e n p h o n o l o g i s c h e n Prozessen a f f i z i e r t w e r d e n .
131 2. u/u
BUCCA-
buQcada, buacav-i/ bucca
[ b u k äds ] [buka ]
JÜNGERE
nus schunschein/ schunscher
[3 111133 r ]
sufflar/ ei suffla
[ s u f 1 a: ] [s u f 1 a ]
SUFFLÄRE
[bukär i ] /
/
"Bissen, Becher/ Mund.'
'wir spannen an/ anspannen 'blasen/ er bläst'
3. u/üa ;
BUTT IS
butritg / buot
[b u t r f ? ] / [bua t ]
'Fäßchen/ Faß 1
CURRERE
nus currin/ ouorer
[kür ] / [ki a r a r ]
'wir laufen/ laufen'
ANGUSTIÄRE
anguschar/ ei anguosoha urlar/ ei uorla
[a ijg u / i: } / [a i j g u a J a ]
"ängstigen/ er ängstigt'
[ur 1 a: ] / [ua r 1 a ]
"brüllen/ er brüllt'
ULULÄRE
(2) Lt. /5/;
SÖLCOOPERIRE
sulegl ouvierep
tsui i f }
ÖRARE
urar
[u r a: ]
'Sonne' 'bedecken' 'beten'
Alternationen; 1. u/u;
PERDONARE PERSONA RATIÖNÖRARE
perdunar/ el perduna persunal/ persuna raschuneivel/ rasahun
'verzeihen/ er verzeiht 1 [parsunal]/ 'persönlich/ [parsuna] Person* [r 9 3 u na j v a 1 ] / 'vernünftig/ [r 93 in ] Vernunft' [ura: ] / 'beten/ [u r a ] er betet' [v u 3 a: ] / •stimmen/ [v. ii/ ] Stimme' [parduna: ] / (par d u na ]
urar/ ura vuschar/vusch
2 . u/u :
NÖM-
CONFLARE
1
numnar / num cuflar/ ei cufla
t
[ n u m n a i l / 'nennen/ [n u m ] Name ' [ k u f i £ : ] / "schneien 1 [kuf i a ] "es schneit'
132
3. u/üd: CURTINU
52
CÖNSTARE MÖNSTRARE
cuvtg-Ln/ ouort oustar/ ei cuosta mussai·/ ei muossa
[ k ü r cl n] /
[kuar t J [ k u j t a: ] /
[kus»J t s] [m u s a : ] / [m u a s a ]
1
Baumgarten/ Hof ' kosten/ es kostet' 1 zeigen/ er zeigt"
(3) Lt. /O/r
Alternationen; 1. u / u ;
HOMO
Männchen/ Mann' 'besteigen/ Anhöhe'
umet/ um
tumj
MONT-
muntar·/ munt
[munt a : ] / [mun)
PONT-
puntera/
[ p u n t e ' r e ] / 'Floß/
DOM(I)NA(+ICELLA)
pun t dunschala/ dunna
[pun] Brücke' [ d u n 3 a l a ] / 'Fräulein/ [dvn*] Frau1
2. u/u»; CORN- D3
TORN-
eurnar/ cworn turnar/ eZ tworna
[ k ü r na: ] / 'ins Hörn stoßen/ [k r n ] Hörn ' [t u r n a : ] / ' zurückkehren/ [tua r na] er kehrt zurück'
3. u/iw; FOCU LOCU LONGMOL-
fugar/ f-iug lugar/ liug 54 lunghezia/ liung nus mule-in/ miult
[f u g : j / ifiwkj [i u g a: ] / [ilwk] [lungetsia]/ [i i w n ] [mui»jn]/ [mi wi t ]
'Feuer anfachen/ Feuer' Ordnen/ Ort 1 'Länge/ lang1 'wir mahlen/ gemahlen'
52 Das DRG l e i t e t ourtgin aus s p ä t l a t . CURTINUM ab, das sein e r s e i t s als A d j e k t i v - A b l e i t u n g von CURTIS und COHORS —*· ouort a n g e s e h e n w i r d . 53 Curnar ist
l a u t DRG eine A b l e i t u n g von CORNU.
54 Diese A l t e r n a t i o n w i r d w a h r s c h e i n l i c h von heutigen Sprec h e r n n i c h t mehr a l s z u e i n e m P a r a d i g m a g e h ö r i g e m p f u n d e n ,
133
SOLV-/SOLT-
nus sulvein/ siult
Isulvajn]/ [s iwi t ]
VOLV-/VOLT-
nue vulvein/ viult
[ v u i v S j n ] / 'wir wenden/ [viwi t ] aewendet'
nus murdein/ miere murir/ el miera
d » j n ] / ' w i r beißen/ [mfais] gebissen1
curnar/ el corna durmir/ el dorma, dierma dustar/ el do s to. empruar/ el emprova
[k u r n / : ] / ' ins Hörn stoßen/ [kirn»] er stößt ins Hörn' [durmf:]/ 'schlafen/
'wir frühstücken/ gefrühstückt'
4. u/ia ;
MORD-/MORSU *MORIRE
fmurf:]/ [m iai a ]
'sterben/ er stirbt'
5. u/o:
CORNARE DORMIRE DE-OBSTARE PROBARE FORARE MOLA NODARE PORGERE PORTARE POTERE ROTOLARE
furav/ el fova mulet/ mola nudar/ el noda nus purschein/ el porsoha purtar/ el porta puder/ el po
ruclar/ el rocla SE RECORDARE seregurdar/ el sevegorda SOLVERE nus sulvein/ solver 55 EX-TORQUE RE nus stursohe-in/ storscher 55 REH 3O94
[darma] [dfarma]
er
schläft'
[ d u / t i : ] / 'abwehren/ [di; ta] er wehrt ab' u £: ] /'probieren/ i v » ] er probiert 1 [f u r a: ] / ' durchbohren/ [f»r a] er durchbohrt 1 imuiet]/ 'Schleifer/ [miia] Mühlstein' in u d a : ] / ' kennzeichnen/ [nid»] er kennzeichnet 1 [pur [pot [pur {pit
3 aj n ] /'wir reichen dar/ 3*1 er reicht dar" t ä: ] / ' tragen/ t a] er trägt 1
[pude : ]/ 'können/ [p i ] er kann 1 [ r u k i a: ] / 'rollen/ [r in a ] er rollt 1 [s e r a gur d a: ] / ' sich erinnern/ [sarago'rda] er erinnert sich' [s u i v « j n] /'wir frühstücken/ [silver] frühstücken* [ j t u r / » j n ] / 'wir biegen/ [/ t a r ; a r ) biegen'
134
VOLVERE CORROTARE CORROTULARE DE-OPERARE
[vuivajn]/ nus vulvein/ [v S 3 r ] volver [kür da: ] / ourdar/ [kr S d 3 ] el oroda [J k u r l a : ] / saurlar/ {/ k r 5 l s ) el [d u v r a : ] / duvrar/ [dr o v a ] el drova
'wir wenden/ wenden' 'fallen/ er fällt' 'schütteln/ er schüttelt 1 'brauchen/ 1 er braucht
Die Reduktion von historisch zugrundeliegenden (primären) Dipththongen ( 4 ) : Alternationen: u/äw; CLAÜDERE
GAUDERE LAUDARE AUDIRE PAUPERTAUR-
nus eludein/ olauder guder/ el gauda ludar/ el lauda udiv/ el auda pupratsch/ pauper turanohel/taur mulaun/maula
[kl u d i j n ] / ' w i r schließen/ schließen1 1 [gude: ] / genießen/ [g awd 3 ] er genießt 1 1 [l ud a: ] / loben/ [l awd a ] er lobt' 1 [udi : ] / hören/ [awd a ] er hört' [ p u p r at n /' armer Kerl 1 [p a w p e r ] arm1 [t u r a n k a l ]/[t awr ] ' Stierlein/Stier' [mul !wn]/[mawi a ] 'Motte/Raupe'
u/wa; QUADRA(GI)NTA/ auvonta/ [ k u r i n t e ] 'vierzig 1 QUATTUOR quater [kwätst] 'vier 1 COAGULARE enougliar/el enauaglia [a n k u i - a : j / [3 'gerinnen/er gerinnt' AEQUAL- -*· [ w a l i f ] -> [ u l i f ] uliv 'gleichmäßig, eben' QUARTARIU -> [ k ü r t e : ] aurter 'Viertelmaß 1
u/we; INQUIRERE QUIESCERE
enourir/ el enqueva nus cuschein/ cuescher
ta n k u r f : ]/'suchen/ [enkwers]
er
SUCht'
[ k u j / j n ] / 'wir ruhen aus 1 [kwe/ar] 'ausruhen'
135
we —*· u: langob. DWERH
56
uvschiar/ uivsoh
[ u r f i a : ] / 'biegen/ [wir/]
krumm, schräg 1
Anhebung labialer Vortonvokale Als Generalisierung aus diesem Datenmaterial läßt sich festhalten, daß, unabhängig von den Prozessen, die die lateinischen Velarvokale im Hauptton mitgemacht haben, diese im Vorton immer als /u/ auftreten. Wir sehen keine Möglichkeit zu entscheiden, ob die velaren Vortonvokale wie unter dem Hauptton zunächst in vlt. Zeit zu COD ( < U , Ö ) und Lyl ( cumedia zeigt.
Reduktion von Diphthongen Die Beispiele (4) zeigen, daß im Surs. historisch zugrundeliegende Diphthonge mit labialem Bestandteil im Vorton zu /u/ reduziert werden, wodurch sich folgende Alternationen ergeben: 56 V g l . REW 2812 und F E W ; l a n g o b . DWERH b e d e u t e t " s c h r ä g , quer".
136
u/aw, wä, we. Durch Diphthongierung und Metaphonie akzentuierter Vokale ergeben sich außerdem folgende Alternationen mit sekundären Diphthongen (Datensätze ( 1 ) 3 . , ( 2 ) 3 . , ( 3 ) 2 . , 3., 4.) u/ua, iw, ia. Mit Ausnahme von [f a ] enthalten auch die 58 sekundären Diphthonge einen labialen Bestandteil , so daß es sinnvoll erscheint, für die heutige Phonologie des Surs. eine morphophonologische Regel anzunehmen, die generell Diphthonge mit labialem Bestandteil im Vorton zu [u] reduziert. 59 Diese Annahme findet zusätzliche Bestätigung darin, daß auch solche Diphthonge mit labialem Bestandteil zu iu i reduziert werden, denen weder lt. U noch O zugrundeliegt, wo also keine gemeinsame Quelle für vortoniges [u] und haupttonigen Diphthong gegeben ist: LIQUAT/ LIQUARE AQUA/ AQUALE
el liua/ luar aua/ ual
[liwa]/ [l u a: ] [awa]/ [wai j
er schmilzt/ schmelzen Wasser Wasser-
Zusammenfassung von Prozessen und Regeln 1. Der Prozeß zur Anhebung labialer Vortonvokale kann folgendermaßen formuliert werden: P(1)
I~V l [l 9ra]
^
:+hoch]
/
cn
57 Der Diphthong l» bildet dabei nur synchron eine A u s n a h m e , da er auf f r ü h e r e s ü> z u r ü c k g e h t . 58 Die A l t e r n a t i o n u/i ist ü b e r d i e s nur für eine k l e i n e Klasse von P a r a d i g m e n c h a r a k t e r i s t i s c h ; so n e n n t z . B . K. Rogers in seiner A u f s t e l l u n g über A l t e r n a t i o n e n beim s u r s . Verb ( 1 9 7 2 ) f ü r diese Klasse n u r zwei F ä l l e . 59 D i p h t h o n g i e r u n g und M e t a p h o n i e sind im h e u t i g e n S u r s . sicher k e i n e p r o d u k t i v e n Prozesse m e h r ; f ü r M e t a p h o n i e ist ü b e r d i e s durch W e g f a l l des A u s l a u t v o k a l s die phonologische B e d i n g u n g e n t f a l l e n .
137
Falls dieser Prozeß im Surs. nicht mehr produktiv ist, handelt es sich um eine morphophonologische Regel. 2. Bei der Diphthongreduzierung ergibt sich das Problem, daß immer der labiale Bestandteil übrigbleibt, gleich ob dieser den Nukleus oder den Satelliten des Diphthongs bildet. Wir nehmen daher an, daß die Diphthonge zugrundeliegend nicht aus Vokal (Nukleus) und Gleitlaut (Satellit) bestehen, sondern aus zwei Vokalen; der unakzentuierte Teil des Diphthongs kann durch eine spätere Regel zum Gleitlaut (Satellit) verändert werden. Mit dieser Annahme läßt sich folgende morphophonologische Regel (die aus einem ehemaligen Prozeß hervorgegangen ist) formulieren:
Rd)
|v
I -»,0
/
+ g r a1 l iI V
C n l+· akz 1 I
Bei der Alternation u/ia handelt es sich dagegen um eine rein morphologische Zuordnung. P ( 1 ) und R ( 1 ) haben das gemeinsame Zielsegment [u] als Output.
1.4.2.5. Zielsegmente und Prozesse bei palatalen Vortonvokalen und Diphthongen und /a/ Alternationen; Die palatalen Vokale lt. /e/, /e/, / / werden im Vorton, wenn keine Assimilation durch adjazente Konsonanten eintritt, zu C a ] abgeschwächt; unter bestimmten Bedingungen werden sie zu C i H . Zunächst seien wieder nur einige Beispiele aufgeführt. 6O Es gibt einige "gelehrte" W ö r t e r , die im V o r t o n Co] a u f w e i s e n : z . B . dolur neben normal e n t w i c k e l t e m dalur. U n a b h ä n g i g von solchen D a t e n k a n n der Prozeß für u n k o n t r o l l i e r t e r e Stile dennoch p r o d u k t i v s e i n . H u o n d e r ( S . 116) weist allerdings darauf h i n , daß die Vokalabschwächung in jüngeren Ableitungen oft nicht mehr e i n t r i t t , weil in ihnen d e r A k z e n t n i c h t mehr e i n d e u t i g a u f d e m S u f f i x l i e g t . F ü r l a b i a l e V o k a l e n e n n t er das B e i s p i e l [ t o k e t ] (zu [t o k ] ) .
138
Lt. /e/ a/e: TENERE VENIRE
i/e:
tener/ el tegn
[t a n e : ] / 'halten/
vegniv/ el vegn
[van']/ [v e ff]
er hält 1
[ten]
'kommen/ er kommt'
61
DIRECTIARE
dvizzav/ el dvezza
[ d r i t s a i ] / "richten/ [dretsa] er richtet 1
a/ja:
INFERRARE
enfevrav/ el enfiava
[a n f a r a : ] / [anfjara]
'mit Eisen beschlagen/ e r beschlägt m i t Eisen'
HIBERNARE
envernar/ el enviarna
[ a n v a r n a : ] / 'überwintern/ [a n v j Sr na ] er überwintert'
PERDERE
nus pevdein/ piardev
[p a r d « j n ] / [pj ar d a r ]
'wir verlieren/ verlieren 1
* SERRARE
servar/ el siava
[s s r a: ) / [s j ar a ]
1
schließen/ er schließt'
Lt. /i/ und /e/ (Vlt. / e / ) : 3/£: PRAEDICARE
MITTERE
perdegar/ el perdegia
nus mettein/ metter
[pardaga: ] / [ p a r de g a ]
ari
'predigen/ er predigt'
'wir stellen/ stellen '
61 H a i m a n ( 1 9 7 2 ) gibt die F o r m e l an: " u n s t r e s s e d e_ becomes i_" (S. 3 7 O ) . Wie die e n t s p r e c h e n d e n B e i s p i e l m e n g e n zeig e n , i s t diese Formel r e i n o b s e r v a t i o n a l f a l s c h , w e n n sie im Sinne e i n e r h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g v e r s t a n d e n w e r d e n s o l l , denn d a s n o r m a l e A b s c h w ä c h u n g s e r g e b n i s v o n e^ und _ ist _a und n i c h t i^ das nur in b e s t i m m t e n K o n t e x t e n a u f t r i t t . E i n i g e Fälle von iY£,_£ - Ä l t e r n a t i o n e n e n t s t e h e n a u c h d u r c h P r o z e s s e , die den H a u p t t o n v o k a l i s mus a f f i z i e r e n , wie die S e n k u n g von i_ vor b e s t i m m t e n K o n s o n a n t e n (fimar/el fema). Die h i e r f e s t s t e l l b a r e m a n g e l n d e S o r g f a l t d u r c h z i e h t d i e gesamte U n t e r s u c h u n g von H a i m a n .
139
i/e; *FIGICARE
62
*LIGICARE
63
*PICCARE -
If f a : ] / "anheften/ [feia] er heftet an' litgar/ U i ia: ] / 'lecken/ e I letga e£a ] er leckt' fitgar/ el fetga
[pi f a : ] / pitgar/ el petga [ p e t » ]
'schlagen/ er schlägt 1
-(Abltg.) 64
stizzar/ f / t i t s ä : ] / 'auslöschen/ el stezza [/t e t s ä ] er löscht aus 1 visitar/ [ v i z i t ä : ] / 'besuchen/ ei ytseta [ v i z e t a ] e r besucht 1
VISITARE PIGNORARE 65
a/aj;
pinärar/ t p i n d r a : ] / "pfänden/ eZ. pendra [ p e n d r a ] er pfändet 1
EX-PILÄRE
spelav/ el speila
C / p a l a: ] / [J p 5 J l a ]
'rupfen/ er r u p f t '
IMPLENÄRE
emplenir/ el empleina
[amplani:]/ [amplajna]
'füllen/ er füllt'
FEN-ÄRE
fenar/ el feina
[f a na: ] / [f 5 j n a ]
MINARE CENÄRE PE(N)SÄRE *TITULARE REPERE RECIPERE SEPARÄRE
' heuen/ er heut 1 1 [ma n a : ] / menar/ führen/ [mS j n a ] el meina er führt 1 1 [t J » n a : ] / tsohenar/ zu Abend essen/ eZ tschei.na er ißt zu Abend1 1 [pa z a: ] / wägen/ [pa j z a ] eZ peisa er wägt" [t a d l ä: ] / tedlar/ ' anhören/ [t a j dl a ] er hört an1 el teidla nus revein/ [ r a v a j n ] 'wir klettern/ reiver· [r a j v a r ] klettern' n u s retsahevein/ [ r a t f a v a j n j / 'wir empfangen/ retsoheiver [ratjajvar] empfangen 1 y.
zavrar/ el zeivra
ttsavra:]/ ttsajvra]
'trennen/ er trennt 1
62 REW 3 2 9 0 , DRG 63 REW 6 4 9 5 ; h i e r , wie in stezza, viseta, kommt die A l t e r n a tion nicht durch P a l a t a l i s i e r u n g des vortonigen Vokals, sondern durch die für das Surs. c h a r a k t e r i s t i s c h e Senkung von / i / v o r m a n c h e n K o n s o n a n t e n z u s t a n d e . 64 REW 8758 65 REW 6489
140
*LISÜ
66
ORDINÄRE *PAGINARE
67
lischnar/ el leisohna
[i i / n i: ] / ' gleiten/ Ii ä j / na] er gleitet'
ordinär/ el ordeina
[or di n £ ] / ior da j na ]
ordnen/ 1 er ordnet
pinar/ el peina
[pi na: ] / [paj n a ]
vorbereiten/ er bereitet vor1
i/M: PLACIT-
plidar/ el plaida
i p l i da: ] / [pl aj d a ]
1
reden/ er redet'
Es liegen also folgende Alternationen vor: _a,i/£;
a/ja;
_a/_f; _i».i/_£i; !/Ü· Analog zu den im vorigen Abschnitt besprochenen Verhältnissen bei den velar-gerundeten Vokalen halten sich hier alle Alternationen im Bereich der nichtvelaren, ungerundeten Vokale. Für das Vorkommen von /i/ statt / a / im Vorton scheint, soweit nicht langes lt. /!/ zugrundeliegt und die Alternation durch die Senkung dieses /i/ zu /e/ im Hauptton entsteht, die Position vor palatalen oder alveolaren Konsonanten eine Rolle zu spielen. Es handelt sich dabei sicher um einen gradienten Prozeß, wie der Vergleich verschiedener Subdialekte zeigt, doch wollen wir aus Gründen der räumlichen Begrenzung der Arbeit diese
66 Die Etymologie des Verbs ist ganz u n k l a r , vgl. REW 5091 "... ebenso sind im Vokal und in der Stammbildung obw. leisgn "glatt", liSnä. "ausgleiten", sp. lezne "glatt", " s c h l ü p f r i g " , deleznar "ausgleiten", "rutschen" unverständlich. 67 REH 6 1 4 7
68 Im Gegensatz zu den A l t e r n a t i o n e n a , i / a j , wo kontextf r e i e D i p h t h o n g i e r u n g des Haupttonvokals vorliegt, ist die A l t e r n a t i o n i / a j soweit ich sehe, auf dieses eine Beispiel b e s c h r ä n k t , weil der Diphthong a j hier d u r c h den A u s f a l l des i n t e r v o k a l i s c h e n -c- z u s t a n d e kommt.
141
Palatalisierung von Vortonvokalen nicht weiter ausführen. 69 Alternationen von lt.
/a/:
3/a:
ARDERE
nus ardein/ ardev
[ a r d a j n ] / 'wir verbrennen/ [ardar] verbrennen 1
APERIRE 70
nus arvein/ arver
[ a r v a j n j / 'wir öffnen/ larver] öffnen 1
71
[ b a r s a: ] / 'braten/ barsar/ [br äs 9 ] er brät' el brassa IN-CRASS-(Abltg.) engarschar/ [ e n g e r / a : ] / "mästen/ el engrascha [ a n g r a j e ] er mästet 1
germ. BRASA
BABBU
72
babuns/ bab
b i n s ] / "Vorfahren/ Vater'
[bap]
69 D i a l e k t a l e V a r i a t i o n bei der P a l a t a l i s i e r u n g des V o r tonvokals zeigen die Listen zu M e d e l s , Tavetsch und D i s e n t i s b e i Widmer ( 1 9 6 7 : 2 8 ) : Disentis JEJUNAT
el
el
[ J p i 2a: ]
SPECTARE VISITA
Igl g f n a ]
el
[vi zet a ]
Medels
Tavetsch [faff n a ]
el
[ J p a f i: )
U Pa t e : J el
[v a z e t a J
[Ja S i n e ]
el
[yazeta]
Danach scheint die P a l a t a l i s i e r u n g in Disentis r e l a t i v stark zu sein im Vergleich mit Medels und Tavetsch. P a l a t a l i s i e r t e Formen von SPECTARE und JEJUNARE z i t i e r t Rupp (S. 34, § 66) auch für Plims: / : ] , [g*i g*i n a : ] ; auch die übrigen Beispiele für F l i m s , die dort angegeben sind, zeigen starke P a l a t a l i s i e r u n g s t e n d e n z . Huonder und Nay geben zu el vegn den I n f i n i t i v vegnir, Gärtner dagegen vignir (S. 16O, § 189),· Huonder hat seglir zu el eeglia, V i e l i / D e c u r t i n s dagegen f ü h r e n siglir an. 70 Auf die r-Metathese wird in einem eigenen Abschnitt eingegangen. 71 REW 1276; laut DRG: "in braaear hat sich ASSARE mit Abkömmlingen von BRASIA —k- breecha, BRASIARE -*· braBohav, b z w . von v u l g ä r l a t . BRUSTULARE "braten" —* brastular v e r b u n d e n . 72 REW 857
142 , ,. 73 i/a; IMPASTARE
empistar, empastav/ ei empasta
t e m p i J t a: ] , [ a m p a / t a: ] / [ampaftaj
durchkneten/er knetet durch'
QWAC
74
s ' empitsahav/ el s'empatsaha
[ a m p i t / a : ] / 'sich kümmern/ [am p a t / a ] er kümmert sich 1
rubigliar/ el rubaglia
[r ü b i* a: ] / [r u b a 4 * a ]
1
runzeln/ er runzelt 1
wir werden geboren/ geboren werden1
/in] / /ar ]
nus nasahin/ nesaher
[ [
squitschar/ el squetscha
[J kwi t J i: ] / [Jkwet J 9 ]
quetschen er quetscht'
Durch verschiedene Entwicklungen des haupttonigen /a/ entstehen noch weitere Alternationen:
CANTARE
oantar/ el eonta
[ k a n t a: ] / [ka n t a ]
1
PLANTARE
plantar/ el plonta
tpl a n t a: ] / [pi in t a ]
'pflanzen/ er pflanzt 1
singen/ er singt'
73 Bei Rupp ( 1 9 6 3 ) f i n d e n sich w e i t e r e B e i s p i e l e zur Palatalisierung von vortonigem / a / ; wie bei vlt. /e/ scheint auch h i e r die P o s i t i o n vor p a l a t a l e n und a l v e o l a r e n K o n s o n a n t e n der b e d i n g e n d e F a k t o r der P a l a t a l i s i e r u n g zu s e i n . Bei den B e i s p i e l e n in Rupp (S. 34, § 65) h a n d e l t es sich um W ö r t e r ohne A l t e r n a t i o n e n , aus denen sich keine w e i t e r g e h e n d e n A u f s c h l ü s s e g e w i n n e n l a s s e n ; i c h möchte daher d a r a u f v e r z i c h t e n , s i e hier a u f z u f ü h r e n . Für die B e r e i c h e M e d e l s , Tavetsch und D i s e n t i s f i n d e n sich Beispiele für das V e r h a l t e n von v o r t o n i g e m lt. / a / b e i Widmer ( 1 9 6 7 : 2 8 ) , a u s denen h e r v o r g e h t , d a ß Disentis o f f e n b a r ein relativ starkes Palatalisierungsgebiet ist: Disentis Tavetsch Medels PATIRE MAXILLARE
pitif tpitf:] mischlav [ m l / l a : ]
[patf:] [mi J l i\ ]
[pa t i : ] [ma/la:]
Es h a n d e l t sich also a u c h hier w i e d e r um eine g r a d i e n t e Regel. 74 REW 6941a
75 / a / vor / n / , g e f o l g t von Palatal oder / a / v o r / m / wurde z u / o / : CANTAT e l aonta [konta] BILANCIAT e l ballontaoha [ b a l i n t j a ] [kl i m a ] CLAMAT el aloma
A l v e o l a r , sowie 'er singt1 'er schaukelt' 'er r u f t '
143
* ABANTIARE
s 'avanzar/ et s 'avonza
[avantsa:]/ [avantsa]
'vorrücken/ er rückt vor
cumandar/ -,, el oamonda dumandar/ el damonda olamar/ el cloma
[ k u m a n d a: ] [k a mo n d a ]
'befehlen/ er befiehlt' ' fragen/ er fragt' 1 rufen/ er r u f t '
MANERE BILANCIARE COMANDARE DEMANDARE CLAMARE
4Z£=
[kl a m a : ] [kl am» ]
77
*COMPANIARE
it.
[d um» n d a : ] [d » m i n d a )
guadagnare
[k u m p i n a : ] /'begleiten aumpignar/ [ k u m p 3 if a ] er begleitet' el aumpogna [g u d i n*a: ] / ' verdienen/ gudignar/ [g u d s n 3 ] er verdient 1 el gudogna tschintsohar/ [ t / i n t / a : ] / 'plaudern/ e l tschontsoha [ t / s n t / a ] er plaudert'
.X
CLAMARE BALINEARE TANGERE PLANGERE DAMN-. MANICA
olumar/ el cloma bugnar/ el bogna nus tunsohein/ tonsoher nus plunsohein/ plonsoher dunnus/ donn mungetta/ mongia
[ k l um a: ] / [kl oma ]
[buna: ] / [bana] [t u 3» j n] / [t 3ar J
[pl u n s » j n ] / [pl 5 n j a r ] [d u n u s J / [do* n ] [mu n g t a ] [mo n Ja ]
' rufen/ er ruft 1 ' baden/ er badet 1 1 reichen/ er reicht 1 'wir klagen/ klagen 1 ' schädlich/ Schaden1 1 Manschette/ Ärmel1
76 Das [ » ] der ersten Silbe in el camonda, el damonda entsteht durch D i s s i m i l a t i o n von dem v e l a r - g r u n d e t e n Haupttonvokal . 77 Bedingt d u r c h P a l a t a l i s i e r u n g des v o r t o n i g e n / a / durch den f o l g e n d e n p a l a t a l e n K o n s o n a n t e n . 78 DRG: s p ä t l a t . COMPANIO, -ONIS "Genösse". REW 2O93
144
Bei dieser Datenmenge fällt zunächst auf, daß teilweise Variation vorliegt: alamar vs. . Bei manchen Formen könnte man an eine Labialisierung des eigentlich zu erwartenden (»l durch adjazente Labialkonsonanten denken (bei nus tunechein und nus plunsohein durch die sekundär labiale Artikulation des [31) , doch wird damit nicht der Fall dunnus abgedeckt. Wir meinen - obwohl Labialisierung eine gewisse unterstützende Funktion gehabt haben kann - daß die obigen vortonigen [u] Ergebnis einer morphologischen Ausgleichtendenz sind, durch die nicht systemangemessene Alternation {t/»» bei der jeweils ein zentral- oder palatal-ungerundeter und ein velar-gerundeter Vokal beteiligt ist, zugunsten einer systemangemesseneren aus der velar-gerundeten Reihe beseitigt wird. 79
,/*„. 80 SANPANPLANSANGBRANCA-
81
eanar/ saun panada/ paun planira/ plaun eanganai·/ eaung brancar/ et braunca
[sanä: ] / [s a w n ] [panada] / [pawn] [pl a ni r » ] / [pi a w n I
[s a i j g a na: ] / [s a w n ] [br a o k a : ] / [br a'wqka ]
"verbessern/ gesund ' 1 Brotsuppe/ Brot' ' Ebene/ Boden ' 1 bluten/ Blut 1 ' umklammern/ 1 er umklammert
79 D a f ü r spricht u . E . a u c h , daß im O b e r e n g . , wo der ProzeS der V e l a r i s i e r u n g von h a u p t t o n i g e m /a/ vor Nasal n i c h t eingetreten ist, sich auch im Vorton k e i n / u / f i n d e t . So gibt das DRG z . B . für bagnar e n g . , bugner s u r s . für E 12-13 [ b a f f a r ] ( 3 . P S . [b i n*a ] ), für E 4-5 dagegen [bane : r ] (3.PS. [batfa] ) . 80 Vor / n / und folgendem Vokal oder V e l a r k o n s o n a n t e n wird lt. /a/ unter dem H a u p t a k z e n t zu [awl d i p h t h o n g i e r t . 81 REW 1271; D R G : s p ä t l a t . BRANCA, in T e i l b e r e i c h e n S u r s . ( D R G : S. 7 O - 7 4 ) auch : [b r u ijk a : l
des
145
1 [mug k a: ] / muncav/ fehlen/ [miwqka ] el maunoa er fehlt 1 1 [ m u q g l a: ] / munglar/ mangeln/ el maungla es mangelt1 [j t a n t a : ] /'ermüden/ atunelentar/ *STANC- 82 [/ t e w i j k a i ] staunahel müde1 STRANGULARE strunglar/ [Jtruqgla:]/ 'würgen/ el straungla [/ t r a w q g l a ] er würgt* In den obigen Fällen können bei dem Wandel von vortonigem lt. /a/ zu /u/ zwei Faktoren eine Rolle gespielt haben: einmal wieder die morphologische Systemangemessenheit: wie bei der Besprechung der Diphthongreduzierung von Diphthongen mit labialem Bestandteil schon gezeigt wurde/ ist als unbetontes Gegenstück eines solchen Diphthongs im Surs. ein [u] und nicht [a ] zu erwarten; deshalb sollte eine Alternation der Art u/aw systemangemessener sein als eine der Art »/ o w. Zum zweiten kann in den obigen Beispielen eine Assimilation des Vortonvokals an die Zungenstellung des velaren / / vor /k/ eine Rolle gespielt haben. 83
MANCARE
a/aw;
84
»ALTIARE
85
SALTARE EXCALDARE
alzar/
el aulza saltar/ el saulta Bcaldar/ el soaulda
1
heben/ er hebt1 [ s a l t a: l 'tanzen/ [s awl t a ] er tanzt 1 t; k » l d a : ] 'wärmen/ erwärmt' [a l t s a : ] tawl t s a ]
82 REW 8 2 2 5
83 Widmer f ü h r t diese Fälle s e l t s a m e r w e i s e unter dem Stichwort "Dissimilation" zusammen mit Fällen wie mantun auf ( 1 9 6 7 : 3 O ) . Diese Interpretation ist a b e r , abgesehen davon, daß sie f ü r Fälle wie etunolentar nicht f u n k t i o n i e r t , r e c h t u n w a h r s c h e i n l i c h ; tatsächlich scheint bei einer D i s s i m i l a t i o n der d i s s i m i l i e r t e Vokal normalerweise an K l a n g f a r b e zu verlieren anstatt dazuzugewinnen (vgl. den Abschnitt " D i s s i m i l a t i o n " ) . 84 Vor /!/ und folgendem Alveolarkonsonanten w i r d akzentuiertes / a / zu /äw/ d i p h t h o n g i e r t . 85 REW 385
146
u/aw; *ALTIARE ALGERE
ulzar/
[ u l t s a : ] / "heben/
el aulza
[awitsa]
nus ulschein/ aulsaher
[ u i s / j n ] / 'wir frieren stark/ [awijar] stark frieren 1
er hebt'
Ein besonderes Problem bietet noch die isolierte Alternation barsahar/el
brisoha [bs r 3 a: ] / [br f 3« l / 'brennen/ er
brennt'; im DRG findet sich hierzu folgende Auskunft: Bvüsohay engad., bavsohav surselv. Die stammbetonten Formen surselv. brischa ( 3 . ) gegenüber dem endbetonten barschar zeigen genaue lautliche Übereinstimmung mit engad. brüscha ( 3 . ) ; die Urform ist *BRUSIARE... Der Stamm *BRUS-IARE ist m.E. im Spätlatein Italiens aus *BRAS-IARE 'glühen, brennen 1 (< *BRASIA ' G l u t ' ) unter Einwirkung des -U- von ÜS-TULARE (rum. ustura, a f r z . usler) USTRINARE ( c f . it. strina) USTRIRE (uengad. dustriv) entstanden. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß durch Reduktion und Palatalisierung von vortonigem lt.
/!/, /e/ und /£/
folgende Alternationen entstehen:|?J/e; a / j ä ; a/ ; [*] / a j ; i/äj. Sämtliche Alternationen bewegen sich innerhalb der Skala der nicht-velar-ungerundeten Vokale; sie haben daher eine relativ gute Systemangemessenheit und dementsprechend Stabilität. Am wenigsten gilt dies erwartungsgemäß für die Alternation 3/jä, denn zwischen dem Diphthong ja und dem reduzierten ^ besteht keinerlei natürliche phonologische Beziehung mehr. Aus diesem Grund hat sich hier oft die alte Alternation »/£_ erhalten und die jüngere Diphthongierung _£ —* ja wurde teilweise blockiert, z . B . perder neben piarder 86 'verlieren'. Ausgleichstendenzen zeigen sich aber auch bei den Alternationen
|?[
/ a j , z.B. el p-ina neben
el peina zum Infinitiv pinav·, öfters bringt in dieser Klasse auch die Erweiterung mit dem Infix -esch- eine Regularisierung der flektierten Formen, z.B. el emplenesaha 87 neben el empleina zum Infinitiv emplenar. Es läßt sich 86 V i e l i / D e c u r t i n s geben beide Formen an. 87 V i e l i / D e c u r t i n s f ü h r e n die e r w e i t e r t e Form el empleneBoha an, Huonder und Nay el empleina.
147 also zusammenfassend sagen, daß tendentiell die Diphthonge abgebaut werden, um systemangemessenere Alternationen zu erreichen. Das Zielsegment aller Prozesse (in der heutigen Grammatik sind als Reflex dieser Prozesse morphophonologische Regeln anzunehmen) ist das zentrale ca:; vor palatalen und alveolaren Konsonanten kann durch einen gradienten Prozeß ci] entstehen.
Regeln und Prozesse Historisch gesehen muß zu irgendeiner Zeit der Sprachentwicklung folgender Prozeß stattgefunden haben, der nichtvelare Vokale im Vorton zentralisiert oder vor palatalen und alveolaren Konsonanten anhebt: - gra {C) - gra] [l akz] p 12) rv . + hoch [x,- graj n x gra C [V l hoch _ 1+ akzj
f •
v
_ ·"·
u
l
ri i
Diese Formulierung ist aus verschiedenen Gründen nicht ganz zufriedenstellend. Einmal scheint es der Fall zu sein, daß palatale und alveolare Konsonanten stärker zur Palatalisierung des Vortonvokals führen als dentale, was sich mit dem Merkmal clin: ausdrücken läßt. Zum zweiten wird im ersten Teil der Regel der Assimilationscharakter nicht deutlich, weil nicht klar ist, wieso Vokale, die schon C- grau sind, vor Konsonanten, die auch c- gra: spezifiziert sind, noch C+ hoch: werden. Eine Möglichkeit läge darin, dem Merkmal Hgra] mehr als drei Werte zuzuordnen, so daß man ausdrücken könnte, daß C i 3 eben "weniger" Cgran ist als Ce3. Doch würde das an dem Problem des obigen Prozesses m.E. vorbeigehen, da die Assimilation im ersten Teil von P ( 2 ) sicher nicht perzeptiv, sondern durch die Zungenstellung, d.h. durch die Anhebung des vorderen Teils des Zungenrückens bei alveolaren und palatalen Konsonanten bedingt ist. Dies könnte man z.B. durch eine Korrespondenzregel zwischen dem Merkmal Choch] bei Vokalen
148
und dem Merkmal clinD bei Konsonanten deutlich machen. Wir reformulieren den Prozeß wie folgt:
P(2) '
f
v
l
|_x,- graj
hoch] /
- gra => + lin
Analog zu den Verhältnissen bei labial-gerundeten Vokalen scheint laut Huonder (S. 116) auch diese Regel an Produktivität verloren zu haben, da in jüngeren Ableitungen der Akzent nicht mehr eindeutig auf dem Suffix liegt, sondern variabel ist, z.B. ( g r e v a t / i , [ g r e v a t j ] , [ g r e v a t j ] , aber nicht [ g r e v a t j ] . sicher ist, daß die Regel zur Reduktion der Diphthonge jji und 9j_ rein morphologischen Charakter hat, da, wie oben bereits bemerkt, ein Teil des Lexikons diese Diphthonge zugunsten systemangemessener Segmente beseitigt, bzw. die Diphthongierung blockiert wurde.
1.4.3. Kontextsensitive Prozesse 1.4.3.1. Labialisierung Affizierte Segmente Bei Huonder finden sich für Disentis folgende Beispiele für die Labialisierung von Vortonvokalen: 88 MASTICARE mustiar [muj t i a: ] 'kauen' MATUTINAS [mudi n 9 s ] mudinas 'Frühmette' 1 ASPER[J p u r i a l 9 ] spuviala Zinnkraut 1 [r u m i 9 n ] RAMENTU rumien 'Kehricht' [f ume'f a ] FAMILIA fumeglia 'Gesinde 1 FLAGELLU if l u g f ] flugi 'Geißel' MALEDI CERE [ J m u l di : ] smuldiv, 'verfluchen 1 smalediv
[J m 9 1 s d i : ]
88 Die Etyma werden in dieser Liste nach Huonder angegeben, 89 Zum Problem des g l e i c h z e i t i g e n A u f t r e t e n s l a b i a l i s i e r ter und n i c h t - l a b i a l i s i e r t e r Formen bei einem Wort oder i n n e r h a l b eines Paradigmas w i r d w e i t e r unten Stellung genommen.
149 PLATT-
plutiala platiala
[ p i u t j al a ] [ p i 9 t j al a ]
'Kuhschelle 1
LABOR-
luvrar luvrus luvrer luverdi
[1 [1 [l [1
'arbeiten 1 'arbeitsam' 'Arbeiter 1 'Werktag'
lavur el lavura
[1 9 v ir ] [1 a v u r a J
dt . PASTETE
pustetia
[pu/ t e t j a ]
PAS TORI CEU
pustvetsah paster
[puj t r £t/] [PO/ t a r ]
'Hi r ten lohn1 'Hirte'
REFUTAT
el
[r u f i d a ]
'er weist ab'
REMEDIUS
Eumetg
[r u m e
FEMINA-
fumitgasa
[f u m i
BENE FACTÜ
bufatg
[ b u f a*]
CEREBELLU
tsahurvi
[t / ur v f ]
'Gehirn'
rufida
uvr uvr uvr u va
i: ] is ] e': ] r df ]
'Arbeit' 'er arbeitet 1
] aJ
'Magd 1 'nett 1
TEMPO-
tumpriv
[t ump r f f ]
1
SERVIRE
survir survient survetsah
[s u r v ' i : ]·, [s u r v i 3 n ] [s ur v e t / ]
1
PECCATU
puoaau
[ p u k aw ]
'Sünde 1
dt. VERDÄMPFT
furtem
[f ur t e m]
1
dt.
ouma
[k u m a ]
'Abort 1
FILICT-
flutginas
[f 1 u§i n a s ]
'Farn'
(AE)STIMARE
91 stumor
[J t u mit: ]
1
pfänden 1
1
fürchten'
GEMACH
TIMBRE
r
[t u me : ] turner, temer3 el tema [t a m e : ]
früh 1
1
dienen 1 Diener 1 1 Dienst1 Ragout1
[t e m a )
dt.
SCHIRMEN
schurmegiav
,. «. t [/ u r m a g a : ]
it.
FRITTATA
furtada
[furtada]
1
Eierkuchen' schwellen 1
INFLARE
unflar
[ u m f I a: }
1
HIBERNU
unviern
[ um v i a r n 1
1
Winter'
[uf a n ]
1
Kind*
INFANTE
92
altsurs.
ufont
90 Hier w i r d die L a b i a l i s i e r u n g durch die d i s s i m i l a t i v e W i r k u n g des h a u p t t o n i g e n / u / b l o c k i e r t oder rückgängig g e m a c h t ; s. d a z u in dem A b s c h n i t t über D i s s i m i l a t i o n . 91 Daneben gibt es stimar ( a c h t e n , s c h ä t z e n ) / das möglicherweise aus dem It. e n t l e h n t i s t . 92 Im heutigen Surs. von D i s e n t i s affon [ a f 5 n ] . Auf diese Form wird in dem A b s c h n i t t über D i s s i m i l a t i o n nochmals eingegangen.
150
INFERNU
uffiern
[ufi»m]
'Hölle 1
Für Flims führt Rupp ( 1 9 6 3 : 3 4 ) zusätzlich an: CAPRARIÜ [ k ü r e : ] (Dis. [ k s v r £ : ] ) 'Ziegenhirt 1 EXPAVENTARE *AMBILATIU
[j p u a n t a: ] [umbiats]
' erschrecken' 'Jochschlaufe 1
SIBILARE SIMILARE
[Jula:] [suml+e: ]
'pfeifen 1 'ähneln'
INFANTE
[ufJn]
'Kind'
Die Liste zeigt, daß alle Vokale, die nicht bereits labial sind, der Labialisierung unterworfen werden können, also palatale Vokale und /a/.
Phonologische Kontexte In allen aufgeführten Fällen ist ein labialer Konsonant entweder direkt (links oder rechts) adjazent oder höchstens durch einen Liquid oder Nasal von dem Vortonvokal getrennt (flugi, plutiala, tsahurvi, survir, schurmeg-iav, unflaVf un ^ern) ufont, ufftem) . 93 Fälle wie: GINGIVA (sch)unsahiva uschl neben aschi
[un3fv3]
'Kiefer'
[u/f]
'so'
zeigen, daß auch die sekundär labialisierte Artikulation von [j , 31 zur Labialisierung führen kann. Der einstmals sicher produktive Prozeß der Labialisierung 94 läßt sich demnach wie folgt formulieren: P(3)
V -*
[+ lab]
/ __ ( [x cons])
93 Formen wie ufont, uffiern z e i g e n , daß m ö g l i c h e r w e i s e vor der L a b i a l i s i e r u n g N a s a l i e r u n g und T i l g u n g des N a s a l k o n s o n a n t e n e i n g e t r e t e n sein k a n n ; auch bei unfiav, unviern w i r d der N a s a l k o n s o n a n t sehr schwach ( l a b i o dental) artikuliert. 94 Im Z u s a m m e n h a n g mit A b d u k t i o n beim W a n d e l von v o r t o n i gem L a b i a l v o k a l z u [ a ] k a n n g e z e i g t w e r d e n , d a ß d i e L a bialisierung ihre Produktivität verloren hat.
151
"Ausnahmen" Doppelformen wie smuldiv/'smaledir,
plutiala/platiala.,
turner/temer, Variation innerhalb eines Derivationsparadigmas wie lavui'/luvrer und regionale Differenzierung wie bei
[küre]
(Flims) und [ k » v r e ]
(Disentis) zeigen, daß
die Labialisierung sicher nicht gleichmäßig und im gesamten geographischen Bereich gleich stark das ganze Lexikon erfaßt hat; es handelt sich hier um eine typische Variablenregel (siehe S. 1 2 4 ) . Eine Klasse von "Ausnahmen" zu dem Prozeß scheint mir jedoch systematischen Charakter zu haben, insofern als sie wieder mit morphologischer Systemangemessenheit zu tun hat. So gibt es zwar die Variation turner und temer vs. el tema, aber nicht: *buvschar statt barsahav
zu
el br-iseha 'brennen/er brennt 1
*bursar
statt barsar
zu
el brassa 'braten/er brät 1
*furdar *pwsar
statt ferdar statt pesar
zu zu
el freda el peisa
'riechen/er riecht 1 'wägen/er wägt 1
Zu den ersten drei Formen ist zu ergänzen, daß durchaus auch nach Eintreten der r-Metathese noch Labialisierung eintreten könnte, vgl. PRAESEPIU >pur>sepen, it. FRITTATA > furtada. Der Grund, warum Labialisierung in den oben angeführten Formen nicht vorkommt, liegt m . E . darin, Alternationen zwischen velar-gerundeten und palatal oder zentral-ungerundeten Vokalen innerhalb des Flexionsparadigmas zu vermeiden. Zum selben Ziel der Systemangemessenheit paßt auch, daß stimar/el stema die angemessene i/e-Alternation aufweist, während das labialisierte stumar mit Stammerweiterung flektiert wird (el stumescha), wodurch das Cu: immer im Vorton bleibt und dadurch eine Alternation vermieden wird; analoges gilt für survir/el survesoha. 95 95 A l t e r n a t i o n e n der Art luvrav/el "Dissimilation" besprochen.
lavura w e r d e n u n t e r
152
Gradienter Charakter der Labialisierung Es wurde bereits im vorigen Abschnitt darauf hingewiesen, daß es sich bei der Labialisierung um einen variablen Prozeß handelt. Wir möchten in diesem Zusammenhang nochmals auf TABELLE IX (S. 124) verweisen, die diesen gradienten Charakter anhand verschiedener Einträge des AIS veranschaulicht. Leider reicht hier das lexikalische Material nicht aus, um eine Formulierung mit einem gradienten phonologisehen Kontext zu erlauben; tatsächlich läßt sich aus den Daten in TABELLE IX keine Bevorzugung eines phonologischen Kontexts beobachten. Die Tabelle zeigt jedoch deutlich die Gradienz des Prozesses in dialektaler Hinsicht. Es lassen sich die bekannten drei Dialektzonen herauskristallisieren: Das Surs. zeigt fast durchgehende Labialisierung mit geringer Variation; das Suts. ist eine sehr heterogene Ubergangszone, während das Engad. von der Labialisierung unberührt geblieben ist. Wenn man die Verhältnisse entsprechend dem Wellenmodell auf eine stark vereinfachte Skizze überträgt, ergibt sich folgendes Bild:
Bhein
Dies entspricht folgender Implikationskette: 27 » 1 5 , 2 5 » 1 7 =» 1 4 , 1 6 » 5 , 1 3 3 3 , 1 1 S 1 , 1 O
153
Demnach liegt das Ausgangsgebiet des Prozesses im Vorderrheintal, von wo er sich sukzessive auf die anderen Talschaften ausgebreitet hat. Obwohl dieses Bild auf Grund einer relativ geringen Datenmenge erstellt wurde, ist es doch so konsistent, daß es m . E . als verstärkende Evidenz zugunsten der Wellentheorie angesehen werden kann. Daß die Labialisierungsregel auch in soziolektaler Hinsicht wahrscheinlich variabel war, läßt sich durch eine etwas komplizierte Überlegung zeigen, die vorerst nur in groben Zügen dargestellt wird; S. 178f.soll im Zusammenhang mit der Entwicklung von vortonigen Labialvokalen zu [a j detaillierter darauf eingegangen werden. Diese Entwicklung (die eigentlich nicht zu erwarten ist, da vortonige Labialvokale im Surs. normalerweise zu cuD werden) kommt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem im Kontext adjazenter Labialkonsonanten vor, also genau in dem Kontext, in dem auch die Labialisierung operiert. Beispiele fur solche Fälle sind: SUBINDE
savens
[savens]
Oft 1
SOBERINU SUBTERRARE FORMICULA SUBTILIS FONTANA
zavrin satrar farmicla satel fantauna
[tsavrfn] [sä t r a : ] [farmfkia] [satel] [f a n t a w n a ]
'Vetter 2. Grades1 'beerdigen 1 'Ameise 1 'dünn 1 ' Brunnen'
Nun ist die Entwicklung labialer Vokale im Kontext labialer Konsonanten zum zentralen Vokal extrem unnatürlich; sie sieht so aus, als ob die Labialisierungsregel in umgekehrter Richtung angewendet worden wäre. Es wurde bereits in verschiedenen Untersuchungen und anhand verschiedener Sprachen beobachtet, daß eine solche Konstellation mit dem Phänomen der segmentalen Hyperkorrektion korreliert werden kann. Diese Situation ist im Fall der Labialisierung m . E . leicht vorstellbar; wie es heute noch bei verschiedenen Wörtern der Fall ist, so müssen auch früher einige Zeit labialisierte und nicht labialisierte Formen nebeneinander
154
existiert haben, wobei vermutlich die nicht-labialisierten mit der Konnotation "gebildet, von höherem Prestige", die labialisierten mit "ungebildet, von niedrigem Prestige" belegt wurden. Infolgedessen wurden dann Wortformen mit zugrundeliegendem Labialvokal, in dessen Kontext sich zufällig ein Labialkonsonant befand, "fälschlich" als labialisierte Form interpretiert und einer (wohlgemerkt nichtnatürlichen) Delabialisierung unterworfen. Das Auftreten solcher hyperkorrekter Formen ist daher ein indirekter Hinweis auf die soziolektale Gradienz der Labialisierungsregel, die man folgendermaßen verbalisieren könnte: "je niedriger der soziale Status des Sprechers, umso eher ist mit der Anwendung der Labialisierung zu rechnen". In der heutigen Sprache sind viele labialisierte Formen allerdings bereits lexikalisiert.
1 . 4 . 3 . 2 . Dissimilation Affizierte Segmente Bei Huonder finden sich für Disentis folgende Daten; HONORE COLORE DOLORE DIS-HONORE RUMORE PÜNGERE
COLEO-
96
f
S
[D n u r ] , [a n u r ]
• Ehre '
[k D 1 ir ] , [ks 1 u r ]
1
[ d o 1 u"r J , [da 1 ur ]
'Schmerz ' 'Unehre 1 'Lärm' ' stechen 1 'Distel'
honur 3 hanur ooluv, oaluT dolur, daluic1 zanui' vamur punschev punsohun pansahun
[t s a n u r ]
augtiun cagliun cuglienar
[ku*in ] [ka+'u'n ] [kuVa n£: ]
[i a mu r ] t tp u n 3 3 r ] [pu n 3 u n ] [pa n 3 u n ]
96 REW 2 O 3 6 : COLEONE " F e i g l i n g " ; D R G : s p ä t l a t . COLEO-
Farbe '
'Betrüger 1 ' betrügen '
155 TOK
97
too tucun taoun
[t D k] [t u k u n] [t a k i n ]
'Stück 1
-
punt pantun munt mantun
[pun] [pant u n ] [m u n ] [ma n t u n ]
'Brücke' 'Brücke im Stall1 'Anhöhe 1 'Stoß, Haufen'
fuola fallun Baluna
[fuels] [f a 1 o n ]
'StampfVorrichtung1 1 Stampfkolben1
-
FÜLLARE
98
APOLLONIA
[b a 1 u n a )
griech. TYPHOS 99 tuffus, taffua . [t u f u s ) , [t a f u s ] ' stinkend ' [t u f a : ] • stinken' tuffar [g u a t a r ] ' Kröpf GUTTUR guotev 1 [gutrus] kropfig' gutrus [ k u / t a: ] CÖNSTARE 'kosten' oustar 1 [ku J t us ] kostspielig' oustus [a n g ua J a ] 'Angst' anguosaha ANGUSTIA [a qg u / a: ] ' ängstigen" angusahar [a n g u J u s ] 1 ängstlich' anguschue 1 rugnar 1OO [ r u n a : ] kratzen" [r u n u s ] 'krätzig' rugnus [ f f u?ä: ] 'wühlen r sfugnar [/funds] sfugnus ' wühlerisch1 , . 1O1 ,[ r a d o' n ],102 'rund 1 rodond ROTUNDÜ [uf 3 n] 'Kind' INFANTE altsurs . u fönt [ a f D n] neusurs . affon [naf ] ' neun ' NOVEnov [n a v o n t a ] "neunzig" navonta [kwat a r ] "vier" QUATTUOR quater [ k u r o n t a ] ' vierzig' our onto. [ku»l pa) 'Schuld 1 CÜLPA ouolpa 1 [k u 1 p a n ] schuldig1 oulpont 97 REW 8767: S c h a l l w o r t , "Schlag" 98 REW 356O: FULLARE "mit den Füßen a u s t r e t e n " , " w a l k e n " ; DRG: fuolla e n g . , fuola surs. ... D e v e r b . von FULLARE • w a l k e n ' statt FULLONE " W a l k e " —>· fallun 99 REW 2094 100 REW 3893:
1.
101 D i e s e G r a p h i e
GRUNDIRE findet
"grunzen", sich b e i
2. *GRUNJARE
Nay.
102 A l l e P u n k t e d e s A I S i m s u r s . B e r e i c h h a b e n i m V o r t o n R u p p ( 1 9 6 3 : 3 6 , § 7 O ) gibt d i e T r a n s k r i p t i o n [ r a d u n j .
[a];
156
ANGÜSTIA PORTARE DE-OBSTARE -
anguosoha angueahont puvtav purtonta dustar dustonza munt muntogna
[a r j g u a / a ] [a rj g u / 9 n ]
[ p u r t a: ] [p ur t on t s ] [ d u / t a: ] [d u / t 3 n t s 3 ] [mun ] [mu n t a n a ]
'Angst 1 ' ängstlich 1 tragen ' 1 schwanger 'wehren 1 ' Wehr ' 'Anhöhe 1 'Gebirge 1
Aus den Daten geht hervor, daß die affi2ierten Segmente bei der Dissimilation labiale Vortonvokale sind; der Output der Dissimilation ist in jedem Fall i» l . Dies entspricht einer bei Vokaldissimilation sehr häufig beobachtbaren Tendenz, nämlich daß der dissimilierte Vokal eher an Klangfarbe verliert als gewinnt, also sich auf die zentrale Position hin bewegt. Hierzu sollen im folgenden Abschnitt einige komparative Daten angeführt werden.
Komparative Evidenz zur Vokaldissimilation Grammont führt bei Vokaldissimilation folgende Entwicklungsmöglichkeiten an: 0-6 und o-u können dissimiliert werden zu e-|? a ~{fc ' B ~ l ü ' i-^ zu e ~^·' 9 ~^· oder a ~^' u ~ u zu o-ü; a-ä zu e-ä, 9 -a und e-e zu a-e. Außer im Fall der Dissimilation a-ä —^ e-a (wobei nicht ganz klar ist, ob e hier nicht einen mehr oder minder zentralen Vokal repräsentiert) verliert jedes Mal der dissimilierte Vokal im Vergleich mit seiner ursprünglichen Qualität an Klangfarbe. Grammont nennt ein Gegenbeispiel aus dem Siriakischen, wo angeblich eine Dissimilation i-1 —*· u-1 vorkommen soll, doch ist dies für mich unüberprüfbar. Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei romanischen Daten: Alttoskanisch: SORORCULA RUMORE -»· v-imore , BUBÜLCU
eivocohia, HONORARE · bifolao , ROTUNDU -
157
altveronesisch: s era r ( < SORORE) secovso (· Diss. el barsahuna
[bar/ una]
hat:
Der Output der Dissimilationsregel ist hier 2-opak im Sinne von Kiparsky ( 1 9 7 3 ) , das bedeutet: der Output der Regel ist verwechselbar mit solchen Formen, die aus einer anderen historischen Quelle entstehen, nämlich aus zugrundeliegen-
dem /a/. Nun kann Abduktion eintreten: P(4)
( = Dissimilationsregel):
Regel
= Prämisse 1
Segmente S , die aus der Klasse C + lab: sind und im Vorton stehen, werden vor betontem, labialem Vokal der folgenden Silbe zu Segmenten S
aus der Klasse
cx graD, ex hoch: [ t a l u n a ] enthält ein S , das vor
Schluß
labialem Haupttonvokal steht und zu Sm aus der Klasse Cx gra:, Cx hoch] geworden ist. Dieses S
se C+ lab:
ist
also aus der Klas-
Spezialis.
= Prämisse 2
172 Auf Grund dieser Abduktion werden zugrundeliegende Formen mit labialem Vortonvokal der Art /tulunä:/ rekonstruiert, die an Stelle des ursprünglichen /talunä:/ treten (Restrukturierung); die restrukturierten Formen haben denselben Vokalismus wie die schon vorhandenen Formen mit historisch zugrundeliegendem /u/ der Art /burschunä:/. Wie in diesen wird auch in den durch Abduktion entstandenen Formen die Oberflächenalternation durch die Dissimilationsregel und die Abschwächung im Zwischenton erzeugt.
122
Man muß sich
122 Robert v. Planta hat in einem A u f s a t z über "Vokalmetathese und B i r k i c h t im R ä t i s c h e n " ( 1 9 2 6 ) ausgehend von den Namen für "Birke" und " B i r k i c h t " badugn und budagnaida bereits einige Ü b e r l e g u n g e n zu diesem W a n del a n g e s t e l l t . Er v e r w i r f t die M ö g l i c h k e i t , es k ö n n t e angesichts der vielen Fälle mit labialem Kontext Labialisierung im Spiel sein. Sein A r g u m e n t lautet, daß man die analoge E r s c h e i n u n g bei dem Pattern » - i/i - a beobachten k ö n n e ; neben misepai'/masira f i n d e t man z . B . in Samnaun midarar ( r e i f e n ) zu madir ( r e i f ) ; diese E n t w i c k l u n g k a n n m a n aber m . E . auch a l s E r g e b n i s einer P a l a t a l i s i e r u n g sehen. Planta n e n n t das Phänomen "Vok a l m e t a t h e s e " und s e t z t folgende hypothetische Entw i c k l u n g an: savunav —>· suVunar -^ suvanav. Diese A b l e i t u n g gründet er auf Formen wie (Livinall o n g o ) , misivar und silidav von solid ( O b e r h a l b s t e i n ) , Bodoleide ( U r k u n d e n f o r m für " B i r k i c h t " ) , in denen der Zwischenton noch nicht abgeschwächt ist. Das " U m s p r i n g e n " - wie er es nennt - der Vokale soll also über eine V o r s t u f e mit zwei identischen Vokalen gegangen sein, genau wie wir es auf Grund von Rekons t r u k t i o n d u r c h A b d u k t i o n angenommen haben. A n g l e i c h u n g an das Paradigma el bavsohuna, buTSuhanar lehnt v. Planta ab, weil es zu wenige Verben dieses Typs gebe. Dieses "Umspringen" ist aber recht metaphorisch und es ist nicht recht k l a r , w e l c h e r phonologische P r o z e ß t y p damit gemeint sein k ö n n t e , denn um eine e i g e n t l i c h e Metathese handelt es sich n i c h t , w e i l . v . Planta von Formen mit zwei gleichen Vokalen a u s g e h t . Die von v. Planta angef ü h r t e n Belege misirar, silidar, Bodoleide sind jedoch i n s o f e r n i n t e r e s s a n t , als sie die t a t s ä c h l i c h e Existenz von Formen der Art z e i g e n , wie sie von uns als durch Abduktion entstanden p o s t u l i e r t w u r d e n . A l l e r d i n g s i s t auch hier Vorsicht geboten, weil die Belege aus dem suts. Bereich stammen.
173
nun allerdings die Frage stellen, welches Charakteristikum die Formen mit der eigentlich recht komplizierten Stammalternation u - a / a - j i j j in einer bestimmten Sprachentwicklungsphase so attraktiv machte, daß sie als Muster für abduktiven Wandel dienen konnten. Unsere Hypothese für diesen Umstand lautet, daß der Wechsel von velar-gerundeten und palatal- oder zentral-ungerundeten Vokalen oder umgekehrt von Silbennukleus zu Silbennukleus im Surs. eine aus perzeptiven Gründen positive Zielstruktur war. Wir werden im folgenden versuchen, diese Hypothese durch eine funktionale Analyse der bisher betrachteten Prozesse zu erhärten.
1 . 4 . 4 . Funktionale Analyse der bisher festgestellten Prozesse Zur Übersicht seien die Prozesse, die den Vortonvokalismus affizieren, hier nochmals zusammengestellt: P(D
R(
11
D,»]
[:..«.] P(2)
P(3)
• |_x,r, graji V
C+ Iab3
gra l /' — L° g r alj LX" hochj
[x gra l Ix hoch! ' —
hoch! /
v (0 TV akz1 ' J_+ J
Cn
l
l + akz C - gra D + lin
consl)
174
v
P(4) V
+ gra + lab
—^
gra hoch - lab
(C)C#(Cn)
+ akz S hoch ^ gra + lab
P ( 1 ) beschreibt die Anhebung labialer Vortonvokale zu C u 3 ; R ( 1 ) die Reduzierung von Diphthongen mit labialem Bestandteil zu Cu3; der erste Teil von P ( 2 ) und P ( 2 ) ' die Palatalisierung nicht-velarer, nicht-gerundeter Vokale zu C i H ; der zweite Teil von P ( 2 ) die Zentralisierung dieser Vokalklasse; P ( 3 ) die Labialisierung und P ( 4 ) die Dissimilation. Zunächst ist festzustellen, daß der Output all dieser ver123 schiedenen Prozesse das reduzierte Inventar 5^,u,i schafft. Wir wollen im folgenden die obigen Prozesse unter dem Gesichtspunkt der Artikulation und der Perzeption etwas näher untersuchen. Palatale und labiale Vokale haben Klangfarbe; diese wird durch minimale Öffnung des Artikulationstraktes optimiert, denn Ci.: ist der palatalste und EU] der labialste Vokal. Je offener ein Vokal ist, umso weniger Klangfarbe hat er und umso mehr Sonorität. Bei den velar-labialen Vortonvokalen und Diphthongen wird durch P ( 1 ) und R ( 1 ) also folgendes erreicht: die Minimalisierung des Öffnungsgrads verstärkt die Klangfarbe und damit die perzeptive Deutlichkeit des Vokals, was gerade für die erste Silbe im Wort wichtig ist; gleichzeitig bewirkt die Minimalisierung des Öffnungsgrads eine Vereinfachung der Artikulation, weil in der Vortonsilbe weniger Zeit für Artikulationsbewegungen zur Verfügung steht als in der Haupttonsilbe. 123 D i e s e s I n v e n t a r wurde bereits von H u o n d e r festgestellt.
( S . 91
f.)
175 Das Analoge gilt für die Palatalisierung im ersten Teil von P ( 2 ) bzw. in P ( 2 ) ' . Von den palatal-ungerundeten Vokalen behält der palatalste, lt. / i / / seine Klangfarbe; die weniger palatalen, vlt. / , / werden jedoch zentralisiert, d.h. verlieren jede Klangfarbe (2. Teil von P ( 2 ) ) . Daß /a/ ebenfalls zentralisiert wird, liegt vermutlich einfach daran, daß in unbetonter Position die maximale Öffnung nicht günstig ist. Bemerkenswert ist jedoch, daß mittelhohe velar-labiale Vokale durch die Anhebung zu CuD an Klangfarbe gewinnen, während palatal-ungerundete und /a/ zentralisiert werden, d.h. der Kontrast velar-labial zu nicht-labial ist offenbar wichtiger als der zwischen "tief" und "hoch". Diese Feststellung läßt sich noch verstärken, wenn man die Labialisierungs- und Dissimilationsregel betrachtet. Die Labialisierungsregel wird nur dann angewendet, wenn der Hauptton keinen labialen Vokal enthält. Ihr Output ist daher eine Kette, in der eine Silbe mit labialem Vokal und eine mit nicht-labialem Vokal aufeinanderfolgen, wodurch der besagte Kontrast realisiert wird. Die Dissimilationsregel macht hingegen einen labialen Vokal vor einem betonten labialen Vokal nicht-labial. Ihr Output ist daher eine Kette, in der eine Silbe mit nicht-labialem und eine Silbe mit labialem Vokal aufeinanderfolgen, so daß derselbe Kontrast in umgekehrter Reihenfolge entsteht. Beide Prozesse "konspirieren" also, um einen maximalen Kontrast bei der Abfolge von Silbennuklei zu schaffen. Auf Grund von P ( 1 ) würde man erwarten, daß alle labialen Vortonvokale des Surs. mit maximaler Klangfarbe, also als CuJ auftreten. Leider gibt es jedoch ein paar Wörter, in denen statt dessen labiale Vortonvokale zentralisiert werden, ohne daß ein dissimilatorischer Kontext vorläge. Diesen wollen wir uns im nächsten Abschnitt zuwenden.
176 1.4.5. Abschwächung von labialen Vortonvokalen zu [»] ohne dissimilatorischen Kontext - eine Ausnahme? Daten Huonder führt folgende Daten an, in denen vortonig anstatt des zu erwartenden [u ] ein [»] erscheint, ohne daß ein dissimilatorischer Kontext vorliegt. Er hält dies anscheinend für die normale Variante der Entwicklung labialer Vortonvokale, denn er versucht im weiteren nicht, dieses Auftreten von [9] irgendwie zu motivieren.
SUBTERRARE
savens zavrin sfarfatg satrav
FORMICULA
farm-tola,
[f 3 mf kl a ] [f u r mf kl 3 ]
CLAUS-
furmiela farde let lamegl (segal) taniv bransina olassena
SCUTELLA
saadiala
SUBINDE SOBRINU
FORIS FACTO
FURN- ? LUMAUTUMNBRONZ-
[savens] ,. < , [tsavrin]
[J f e r f a f j [s a t
a: ]
[f 3 r d s l e t ]
'Vetter 2. Grades' 'ausgelassen 1 'beerdigen' 'Ameise' 'Pfannenknecht' Docht' 1 Herbstgetreide' 'Kuhglocke' 'Zaun' 'Schüssel' 1
[l s m e * ]
[t 3 n i f ] [bransfna]
[kl a s e
Oft1
3]
[J k s d j al a ]
Die folgenden Wörter sind nicht bei Huonder zu finden, gehören aber zu derselben Datenklasse: SUBTILIS FONTANA
sätet fantauna
[s 3 t e l ]
1
[f 3 n t a w n 3 ]
1
dünn' Brunnen'
Sucht man nach Alternationen zu diesen Wörtern, so kommt man zu folgendem Ergebnis: fantauna, savens, zavrin und efarfatg sind isoliert. Satrar hat Ableitungen wie satrada, soadiala wie soadler (Töpfer), scadluna (große Schüssel), saadlutta (Schüsselchen), zu satel gibt es satelladad. In diesen Paradigmen alterniert [s ] nicht mit irgendeinem
177
anderen Vokal. Neben farm-iala existiert auch die Form fuvmiola und die Ableitung furmialar, wo (u l allerdings nicht im direkten Vorton, sondern im Nebenton steht. Falls fardelet als von fuvnu abgeleitet betrachtet werden kann, 124 alterniert es mit fuorn und Ableitungen wie furnada etc. Bei lamegl ist fraglich, ob ein Zusammenhang etwa mit luminus noch als psychologisch real angesehen werden kann. Classena ist abgeleitet von olaus: außerdem ist im Paradigma noch vortoniges [u] vorhanden in Formen wie elude-in etc. Auf die Fälle taniv, bransina gehen wir auf S. ein. Fassen wir zusammen: 1. Einige Fälle von t » ] treten in isolierten Wörtern auf. 2. Die Fälle, in denen Alternation mit tu l besteht, setzen sich zusammen: 2 . 1 . Aus einem Wort mit Doppelform farmiala/furmiala 2 . 2 . Aus einer unsicheren Etymologie: favdelet 2.3. Aus einem Wort, das möglicherweise schon als isoliert betrachtet werden kann: lamegl 2.4. Aus einem Wort, das nur mehr in festgefügten Zusammensetzungen verwendet wird und daher als Relikt betrachtet werden kann: taniv 3. Einem Fall von Alternation mit betontem [awj : olassena 4. Einem Fall von Alternation mit betontem [5] : bransina. 5. In den übrigen Fällen existieren Ableitungen, die ebenfalls / o / aufweisen, so daß keine Alternation entsteht. 124 Das D i c z i u n a r i s c h r e i b t : " f a r d a n e t . Bei diesem Gebilde haben sich zwei W ö r t e r k o n t a m i n i e r t , einmal * f a n a c n e t « Pfannenknecht), woraus»fanaclet u n d* F U R N - E L L - I T U > furnellet farnalet > fardalet ( s o H U O N D E R , Dis. 1 O 5 ) . " Da die Bedingungen f ü r K o n t a m i n a t i o n recht u n k l a r sind, k ö n n t e man ebenso p o s t u l i e r e n , daß das vortonige / » / aus dem deutschen B e s t a n d t e i l k o m m t .
178
Fälle von Hyperkorrektion In diesem Abschnitt soll eine Hypothese expliziert werden, die wir im Zusammenhang mit der soziolektalen Variation der Labialisierungsregel (S. 153 f.) bereits angedeutet haben. Die Fälle 2.1. bis 2 . 4 . zeigen, daß die unerwünschte Alternation 8/u entweder als Variante einer systemangemessenen Alternation vorkommt oder in solchen Ableitungen, bei denen man synchron keine paradigmatische Beziehung mehr annehmen kann. Warum aber überhaupt diese Abschwächung zu [ 3 ] ? Eine Ableitung dieser Formen mit Hilfe von Synkope und anschließender Epenthese kommt auf Grund der umgebenden Konsonanten nicht in Betracht. Greifen wir zunächst einmal folgende Wörter heraus: savens, zavrin, sfavfatg, satrar, favmiola, favdelet, lamegl., taniv, satel und fantauna, so bemerken wir, daß der Vortonvokal in diesen Wörtern im Etymon (vgl. S. 153 in labialer Umgebung steht. Dies legt den Gedanken nahe, der Vokal könnte durch den labialen Konsonanten dissimiliert worden sein. Eine solche Dissimilationsregel (die wir (Diss 2) nennen wollen, um eine Verwechslung mit der Dissimilation des Vortonvokals vor labialem Haupttonvokal zu vermeiden) müßte folgende Form haben: R(Diss . 2 ) :
+ lab |_- hintj
. *[c l ' l + lab l
, cn ' —
|~V 1 l + akz
Ein Vergleich mit der Labialisierungsregel P ( 3 ) ergibt, daß beide Regeln im selben Kontext operieren, aber einen komplementären Output erzeugen. Aus diesem Grund erzeugt keine der beiden möglichen Regelordnungen zwischen P ( 3 ) und (Diss 2) ausschließlich grammatische Formen, wie die folgenden exemplarischen Ableitungen zeigen:
179
BEN(E)FACTU
SUBINDE
[a ] mbriva
s [a ] vens
R(Diss 2)
umbriva
bufatg
suvens
P(3)
UMBR-
oder bufatg
P(3) s [s i vens
R(Diss 2)
*b[al fatg
fa ] mbriva
Ein regionaler Vergleich der Verbreitung von P ( 3 ) und (Diss 2) zeigt, da vorkommen
beide Prozesse nur im Suts. und Surs
(TABELLE X I a ) .
TABELLE XI a
1O
LABORARE
SOBERINU
luvra:
t s avr i ns
1
t s avr i n
11
t savr i n
3
t s avr i n s iv r i n
13
5
t s a" v r e n
14
t s avr en
15
t s avr en
16
savrents
17
s avr α η s ~> s avr en
X
25
«*
27
lavurer
suvrerj
29
laurar
3 uv r i n
9
lavurar
tsuvrin
7
lavurar
suvrin
19
lavurar
suvrin
28
1a \ r u r S r
suvrin
47
1a
180
Die obige Analyse ergibt das paradoxe Bild, daß in genau den Dialektregionen, die Labialisierung des Vortonvokals kennen, der Prozeß (Diss 2) zugrundeliegende Labialvokale in labialem Kontext entlabialisiert. Diese Situation legt es nahe, den Status von (Diss 2) als phonologischen Prozeß anzuzweifeln. Ein Vergleich von P ( 3 ) und R(Diss 2) ergibt eine Art Regelumkehrung mit gleichbleibendem Kontext: ""^5 R(Lab): A —» B / R(Diss 2) : B —* A /
C (R1) C (R2)
Es läßt sich nun zeigen, daß eine Regelumkehrung dieser Form mit dem Auftreten von segmentaler Hyperkorrektion korreliert werden kann. (R1) ist dabei die ursprüngliche Regel der Grammatik, (R2) die hyperkorrekte Formen erzeugen126 de Regel. Es muß betont werden, daß sich anhand verschiedener Sprachen nachweisen läßt, daß segmentale Hyperkorrektion die Form einer Regelumkehrung von R ( 1 ) nach R ( 2 ) hat. Segmentale Hyperkorrektion kann dann eintreten, wenn sich eine bestimmte Lautung eindeutig mit soziolektalen Bewertungen verbinden läßt. Im vorliegenden Fall müßte die Labialisierung während einer gewissen Zeitspanne mit 'ungebildet 1 , 'von niedrigem Prestige' und ähnlichen negativen Konnotationen gegenüber den Formen mit vortonig /a / mit positiver Bewertung indiziert worden sein. Im Bestreben, solche Formen zu vermeiden, wären dann auch Wörter mit zugrundeliegendem labialem Vortonvokal mit / a / gesprochen worden, wenn sie den 'verdächtigen 1 labialen Konsonanten im Kontext hatten. 125 Diese R e g e l u m k e h r u n g hat n i c h t s mit ' r u l e - i n v e r s i o n 1 im Sinne von V e n n e r o a n n ( 1 9 7 2 a ) zu t u n , bei der die umgekehrte Regel im Komplement des Kontextes der u r s p r ü n g lichen Regel a n g e w e n d e t w i r d . 126 Dieses Konzept der ' s e g m e n t a l e n H y p e r k o r r e k t i o n 1 w i r d m i t B e i s p i e l e n a u s v e r s c h i e d e n e n Sprachen i n W . M a y e r thaler ( 1 9 7 5 : 2 3 6 f f . ) dargestellt.
181
Die Hyperkorrektionshypothese ist mit einem chronologischen Problem verknüpft, das wir hier nicht befriedigend beantworten können: da in Wörtern wie SUBTERRARE der Labial ziemlich früh an den folgenden Konsonanten assimiliert wurde und die Hyperkorrektion nur wirksam werden konnte, solange der labiale Kontext noch vorhanden war, muß man annehmen, daß auch die Labialisierung bereits sehr früh einsetzte. Da jedoch auch ein aus dem Dt. entlehntes Wort wie Pastete (laut Kluge (1967) im 14. Jh. zum erstenmal belegt), noch zu pustetia labialisiert wird, muß man gleichzeitig annehmen, daß die Labialisierung ein sehr langfristig wirkender Prozeß war. Diese Annahme verträgt sich mit dem Befund, daß die Labialisierung niemals systematisch das ganze Lexikon erfaßt hat, denn Regeln werden u.a. dadurch unproduktiv, daß sie keinen Input mehr haben (dies ist z.B. der Fall, wenn das ganze Lexikon erfaßt ist). Es ist also nicht unplausibel, daß die Labialisierung eine langfristige Tendenz darstellte, die sich auf Grund latinisierender Norm oder durch Einflüsse anderer Subdialekte nicht vollständig durchsetzen konnte. Nun zu den Fällen, in denen kein labialer Kontext vorliegt. Classena (Zaun) ist sicher eine Ableitung von claus (eingezäunt) ; es liegt also /kläws+ena/ zugrunde. Für diese Ableitung spricht auch das stimmlose /s/, das nach Halbkonsonant erhalten blieb; intervokalisch wurde /s/ nämlich sonorisiert. Es wurde bereits erwähnt, daß cäw] normalerweise mit vortonigem Cu: alterniert, daß aber vor /!/ aus zugrundeliegendem /a/ eine Alternation aw/£ entsteht, die im Gegensatz zu äw/u nicht systemangemessen ist; daher die Ausgleichstendenzen der Art aulza/alzav > ulzav.
182
Umso mehr erstaunt es, daß /kläws+ena/ nicht regulär zu [ k l u s e n a ] entwickelt wurde. Folgende Deutung scheint sich anzubieten: man kann häufig beobachten, daß ausgeglichene Formen ( z . B . ulzar) zunächst von der sprachlichen Norm ver127 worfen und daher als "ungebildet" betrachtet werden. Es mag sein, daß **clussena fälschlich als eine solche "ungebildete" Form interpretiert und dann statt dessen das vermeintlich korrekte classena gebildet wurde. Was schließlich den Fall SCUTELLA ~y saadiala anbelangt, wollen wir uns hier auf den Verweis auf einige komparative Daten beschränken, weil wir die Entwicklung des Vortonvokals in diesem Wort als ungelöst betrachten müssen. So zeigt der Ausfall des Vortonvokals in diesem Wort in einigen AlS-Punkten des piemontesischen Dialektgebiets, daß dort auch [ a ] vorgelegen haben muß; vortoniges /u/ bleibt 128 nämlich im Piemontesischen erhalten. Auch in einigen Punkten des provenzalischen Randgebiets im Piemont liegt 129 [3] oder [e ] vor. Bevor wir uns einer weiteren, nicht durch Hyperkorrektion erklärbaren Klasse von "Ausnahmen" zuwenden, soll für die Hyperkorrektion im Kontext labialer Konsonanten einige komparative Evidenz aus dem italienischen Dialektbereich angeführt werden.
Komparative Daten Hyperkorrektion wie auf S. 178 f f . findet sich in verschienen piemontesischen Subdialekten; zunächst Beispiele mit Ausfall des Vortonvokals, die zeigen, daß dieser nicht die Qualität /u/ oder /o/ sondern /&/ gehabt haben muß: 127 So gibt z . B . Nay ( 1 9 6 5 ) in seinem L e h r b u c h nur die Form alzav an. 128 Es sind d i e s die P u n k t e 159, 167 und 1 8 2 . 129
Punkte AIS.
121
((»]),
14O
137,
( [e y ] ) ,
153, 17O
155 ( T u r i n ) , ( [e ] ) ,
181
158,
( [e ] )
des
183
Torinese (Aly-Belfadel S. 5 7 ) : asedi (OBSIDIO) , gramisel (GLOMICELLUM) , ambüri. (UMBILICUM) (in diesen Beispielen ist /a/ nicht ausgefallen); Valsesia (Spoerri S. 4 0 5 ) : svens, i vlej (volete), spevbju al martel (murtella)
(superbio), kmari (commare),
Castellinaldo (monferr.)
(Toppino S. 527, 5 3 1 ) :
vrante (volentieri) , st-
(sottile) , stve (sotterrare) ,
Nördlich des Lago Maggiore (Salvioni S. 204 f . ) : [/ t i ] (sottile) , [ J m e j ] [ / m i n t s a] (scominciare)
(Borneo) , dmindia
(domenica) ,
Bezeichnenderweise haben diese Dialekte auch Labialisierung
im Vorton: Torinese (Aly-Belfadel § 74, 7 5 ) : turmentina (THEREBENTHINUM), duvej (DEBERE), duman (DE-MANE) pjuvan (PLABANUM), nuvuda neben n[»]vuda (*NIPOTAM), sübie (SIBILARE), nüfie (vgl. nifler) Valsesia (Spoerri S. 4 0 4 ) : [ d g y m i ] (gemere), [ d s y m e i ] (gemello), muntun (mentone), nularu (veratro), [ f u i e t c a ] ( f i l i c t a ) , buvuma (beviamo) Castellinaldo (Toppino S. 5 2 8 ) : puvrun neben p [9 ] vrun (peperone) , [ p w i f a ] (sbevazzare), zluve (liquare), fümela.
(pipita) , [z b a s e ]
Nördlich des Lago Maggiore (Salvioni S. 2 O 7 ) : chivil —^^cüvil (capello) , sopororo (sepolcro) , somna (seminare), ummo (ancora) , lova (dileguare), budeja (betulla), Bronzona (Bellinzona).
184
i/j. - Alternationen Die Fälle bransina und taniv, die wir nicht mit Hyperkorrektion erklären können, weisen folgende Alternationen
auf: AUTUMN-
it.
atun
[at in] taniv
Herbst
vs.
(segal)
[tanff]
BRONZO
bronz
[brants]
Bronze
bransina'
[bransfna]
Kuhglocke
In allen zwei Paradigmen findet sich eine Alternation der Art a / o , die schon von den bereits besprochenen Fällen mit Velarisierung von betontem /a/ vor Nasalen wie z . B . bei plantap/el plonta her bekannt ist. Wir möchten im Folgenden die Hypothese vertreten, daß die obigen Wörter mit Entwicklung des vortonigen Labialvokals zu t » ] nicht durch natürlilichen phonologischen Wandel, sondern durch (abduktive) Analogie zu Alternationen wie plantar/el plonta zustande kam. Um dies zu tun, müssen wir zuerst einen Blick auf die Entwicklung von akzentuiertem /a/ vor Nasalkonsonant werfen. 13O Der Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n atun und taniv ist in der modernen Sprache sicher nicht mehr durchsichtig, zumal das A d j e k t i v atunil e x i s t i e r t . 131 Zwei der W o r t p a a r e sind E n t l e h n u n g e n aus a n d e r e n Sprachen, das erste aus dem I t . , das zweite aus dem Dt. Zu b r a n s i n a f i n d e t sich im DRG: b r u n z i n a , e n g a d . , b r a n s i n ( a ) s u r s e l v . ... W i e o b e r i t a l . b r o n z a , b r o n z i n a A b l e i t u n g v o n ital. b r o n z o , bündnerrom. b r u o n z ' B r o n z e ' ... Der älteste b ü n d n e r r o m . Beleg stammt aus M s . Gloss. Sent. v. J. 1658, doch spricht die überall regelrecht e n t w i c k e l t e Endung -ina sowie d i e Abschwächung d e s unbetonten u > a f ü r bedeutend höheres A l t e r . Es d ü r f t e im ausgehenden M i t t e l a l t e r mit der Sache von Süden her e i n g e w a n d e r t s e i n . . .
185
Exkurs über die Entwicklung von akzentuiertem /a/ vor Nasalkonsonant Mit diesem Problem beschäftigen sich Huonder, Pult und, in einem eigens diesem Thema gewidmeten Aufsatz, De Poerck ( 1 9 6 2 ) . Jeder dieser Autoren vertritt eine andere Hypothese, wobei Pult und De Poerck insofern einen Gegenpol darstellen, als Pult der Ansicht ist, jedes /a/ vor Nasalkonsonant sei zunächst zu /äw/ diphthongiert und in einem zweiten Schritt, variabel nach phonologischen Kontexten und Dialektgebieten, zu [o] monophthongiert worden. De Poerck sieht hingegen von Anfang an eine Diversifizierung der Entwicklung von /a/ einerseits zu /äw/, andererseits zu [o ] , je nach phonologisehern Kontext und Dialektbereich. Wir können dieser Frage hier nicht weiter nachgehen, wollen aber anmerken, daß wir eher zur Hypothese von Pult tendieren. Wenn man die in De Poerck gesammelten Daten nach ihrem Oberflächenpattern ordnet, ergibt sich das Bild in TABELLE XII (S, 186 . Unter der Annahme der Wellentheorie sieht dieses Bild so aus, als ob sich die Monophthongierung ausgehend vom Rheintal bei Domat/Ems sukzessive entlang des Vorderrheins, dann in Richtung Bergün und Tinizong, schließlich entlang dem Hinterrheintal ausgebreitet habe. Für die Erklärung unserer Formen ist jedoch die Frage wichtiger, in welchem Dialektbereich jeweils die Formen bransina vs. brunzina vorliegen und inwieweit sie mit der Verbreitung von 1° l aus historisch zugrundeliegendem /a/ vor /n/ + Alveolarkonsonant koinzidieren; dies wird anhand von Daten aus dem AIS und aus De Poerck ( 1 9 6 2 ) in TABELLE XIII dargestellt. Aus dieser Tabelle geht klar hervor, daß l » l in bransina nur dort vorliegt, wo im selben konsonantischen Kontext auch /ä/ zu m verändert wurde. Im nächsten Abschnitt wird versucht, diesen Zusammenhang als abduktiven Wandel zu erklären.
186
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'Sommer' 'Kreuz 1
REGE TRABE
> [re£] > [tra:f]
retg trau
'König 1 'Balken'
DULCE
> [ d u t j ] } [ d d l t ; ] dultseh
'süß'
etc.
Das Verhalten von lt. auslautendem -u hingegen ist variabel; es scheint mit der Chronologie der Tilgung intervokalischer Konsonanten zu haben. Wo diese Konsonanten getilgt werden, also bei -d-, -p_- nach oder vor velarem Vokal und -g_- vor velarem Vokal, bleibt -u erhalten:
199
'nackt 1
NUDU
[niw]
n-iu
CAPU
[ c a w ] tgau
'Kopf
FAGU
[faw]
'Buche 1
fau
Am kompliziertesten sind die Fälle mit intervokalischem
-t-,
weil hier -u teilweise erhalten bleibt und teilweise apokopiert wird: VESTITU PALÜDU
[vaj ciw)
vs.
ACÜTU
PRÄTÜ vs. LÄTU
[p a 1 i w]
vestgiu paliu
'Kleidung' 'Sumpf
[i 3 i w]
ischiu
'Essig 1
[pr äw]
prau lad
'Wiese 1 'breit •breit·1
a: t ]] [i[1 a:
etc.
Bei allen übrigen Konsonanten und bei Nexus wird auslautendes -u apokopiert: lac
'See 1
LÄCÜ
[i a: k]
MELU MURU
[ m s j l ] meil *Apfel' [ m i r ] mir 'Mauer 1
'zerbrochen 1
RUPTU
[r u 11 rut
PUNCTU ALTU
[ p e c ] petg 'Stich' [a'wi ] ault 'hoch'
etc.
Lt. auslautendes -_i kommt als Kodierung des masc. Plural in der prädikativen Form des Partizip Perfekt Passiv vor. Im älteren Surs. hatte zusätzlich auch die prädikative Form des 1 42 Adjektivs im masc. Plural auslautendes -i. Diesen Problemkreis werden wir nicht weiter verfolgen, weil er zu weit in die Morphologie hineinführen würde. Während (sekundär) das auslautende -i in Formen wie neidi ^ NITIDU auf die Apokope einer ganzen Endsilbe lateinischer Proparoxytona zurückgeht, ist das Vorliegen von -i in Singularformen historisch zugrundeliegender Paroxytona wie z . B . 143 in: buo in soli plevon 'nicht ein einziger Pfarrer' ganz ungeklärt. Wir meinen, daß es keinen Sinn hat, Fälle wie diese 142 Beispiele f ü r P e r f e k t und P a s s i v i n d e r m o d e r n e n S p r a c h e : ils fravs ein turnai ( N a y S . 2 5 ) ' d i e B r ü d e r sind z u r ü c k g e k e h r t ' ; ils frars vegnan olamai ( M a y S . 5 6 ) 'die B r ü d e r w e r d e n g e r u f e n 1 . E i n B e i s p i e l f ü r ä l t e r e s -i_ b e i m p r ä d i k a t i v e n A d j e k t i v : GUY nus essen giesti tras sia grazgia ( h e u t e : gests) ' w e n n w i r d u r c h seine Gnade g e r e c h t s i n d 1 (aus: Alig, B a i z a r , 1 6 7 4 : 1 4 ) . Diesen Hinweis verdanke ich H. Stimm, München. 143 B e i s p i e l von H. S t i m m , M ü n c h e n
200
ohne eine Gesamtbetrachtung der Adjektiv- und Partizipmorphologie zu behandeln und gehen daher der Entwicklung von auslautendem -i_ nicht weiter nach. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß bei den übrigen lt. Auslautvokalen -a, -u, -e eine Hierarchie in der genannten Reihenfolge vorliegt, wobei bezüglich der Apokope -a der "stärkste" und -e der "schwächste" Vokal ist.
1.5.2. Synkope und Apokope in historisch zugrundeliegenden Proparoxytona Eine erste Welle von Synkopierungen, die größtenteils gemeinromanisch ist und sich bereits in vielen vlt. Wörtern nachweisen läßt, erfaßt den unmittelbaren Nachton. Von dieser frühen Erscheinung soll hier abgesehen werden. In einigen Fällen, so bei den Suffixen - I D U ( M ) , - I C U ( M ) , - I ü ( M ) , wird bei Proparoxytona im Surs. die ganze Auslautsilbe apokopiert; wir werden die Bedingungen dieser Art von Apokope nicht weiter untersuchen, sondern erwähnen sie allein deshalb, um eine Übersicht über die Zielstrukturen zu erhalten, die durch Veränderungen unbetonter Silben entstehen: Hier einige Beispiele: MARCIDU TEPIDU
144
martech
[märt/]
'welk 1
tievi
[tiavi]
'lau'
[mini]
'Stiel, Griff
[siami]
'Traum 1
MANICU SOMNIU
siemi
Das Ergebnis ist
entweder ein oxytones oder ein paroxytones
Wort mit auslautendem -£.
Abgesehen von diesen speziellen Fällen läßt sich feststellen, daß auslautendes -u und -e apokopiert werden; der unmittel144
I n F ä l l e n w i e [ m a r t j ] n i m m t Rupp ( S . 3 4 , § 6 4 a ) a n , daß Synkope des N a c h t o n v o k a l s und Apokope des A u s l a u t v o k a l s e i n g e t r e t e n sei. E s i s t j e d o c h a u c h d e n k b a r , daß nur Apokope g e w i r k t hat und das a u s l a u t e n d e -i_ mit dem v o r h e r g e h e n d e n P a l a t a l k o n s o n a n t e n v e r s c h m o l z e n i s t . Die verschiedenen Ergebnisse von MARCIDU und TEPIDU zeigen, daß auch hier die involvierten Konsonanten eine Rolle s p i e l e n .
201
bare Nachtonvokal in Wörtern mit diesen Auslautvokalen liegt als
[8l vor (abgesehen von den eingangs angesprochenen Fäl-
len früher Synkope wie SOLICULU > sulegl). Auslautendes -a als "stärkster" Vokal hingegen bleibt in Proparoxytona ebenso wie in Paroxytona als
[ a ] erhalten; es tritt dann Syn-
kope des unmittelbaren Nachtonvokals ein. Die folgenden Beispiele mögen dies illustrieren: DEBITU *CANAPU
deivet conav
CAESPITE AS INA
ASINU
[ k o ne f ]
'Schuld' 'Hanf
tsohespet asna äsen
[t i e j p a t ]
' Rasen 1
[äs n a ] [a z a n ]
'Eselin' 'Esel'
[d3j
V3 t ]
NUBILE
145
nivel
[nf v s 1 ]
'Wolke 1
NEBULA IUVENE
146
nevla giuven giuvna
[na'j v l a ]
'Wolke' 'jung1 ( m . ) 'jung' ( f . )
[g u v a n ] [*u v n a ]
Wir nehmen mit Bailey ( 1 9 7 8 ) an, daß bei der Veränderung phonologischer Segmente deren jeweilige Position innerhalb der Silbe eine Rolle spielt und versuchen, dies an der Entwicklung von Paaren wie ASINU/ASINA, IUVENE /IUVEN4-A zu illustrieren. A priori sind für Wörter dieser Struktur folgende Silbif izierungen denkbar: 1. AgSIgNU
2. A$SIN#U
3. ASgINgU
4.
A3SIJ5NA
Silbifizierung 1 . entspricht der unmarkierten Silbenstruktur einer Sprache mit silbenzählendem Rhythmus und ist sicher als Basis für eine Erhaltung sämtlicher Vokale wie etwa in tosk. asino anzunehmen; diese Möglichkeit kommt daher für die surs. Entwicklung nicht in Betracht. Für Wörter mit auslautendem -a erscheint uns Silbifizierung 4. als beste Grundlage für die Synkope des mittleren Vokals; man kann annehmen, daß in schnelleren Sprechstilen 145 Von Rupp S. 78, § 1 3 O f ü r F l i m s und T r i n s b e l e g t . 146 Von Rupp a . a . O . für
Disentis angegeben.
202
der auf den betonten Nukleus folgende Konsonant zur Tonsilbe gezogen wird; auf der anderen Seite ist das auslautende -a "stark" genug, um den vorhergehenden Konsonanten in der Auslautsilbe zu halten. Es ist folgende Entwicklung denkbar: Synkope Abschwächung
AS % I $ NA äs $ na [a s n a ]
Bei Wörtern mit auslautendem -u oder -e sind folgende Entwicklungen denkbar: (wir berücksichtigen nur die Prozesse "Abschwächung", "Apokope" , "Synkope") bei Silbifizierungen 2. oder 3.: AjSSINjSu —> Apokope —> ägsin —* Abschwächung —* ä#s»n bzw. > " -^ äsgin -*· " -> äs#»n anstatt Abschwächung kann nach der Apokope auch Synkope mit folgender a -Epenthese eingetreten sein: ä#sin —>· Synkope —> äjisn —>· Epenthese —> ä#san bzw. äsgin —V " —*· äsgn —» " —> äs$»n bei Silbif izierung 4 . : ÄS0IJ5NU -> Synkope —> äs$nu —* Apokope —*· äs$n —>· Epenthese —> äs#an Möglicherweise handelt es sich bei der Alternative: "Vokalabschwächung" vs. "Synkope mit folgender Epenthese" um ein Scheinproblem, das sich verflüchtigt, sobald man verschiedene Sprechtempi berücksichtigt. Beim langsamsten Sprechtempo und Silbif izierung 2. mag nur Apokope des Auslautvokals und Abschwächung des mittleren Vokals eingetreten sein, während in schnelleren Varianten und bei Silbif izierung 3. und 4. der mittlere Vokal durch Synkope getilgt worden sein mag. In schnelleren Stilen ist ohnehin damit zu rechnen, daß anstelle der Sequenz " [ a ] + Sonorant" nur ein silbischer Sonorant realisiert wird ( [ a zon ] ) .
203
Im folgenden wollen wir uns noch der Frage zuwenden, ob zwischen den in Nachtonsilben festgestellten Zielstrukturen der Art: . . . C » j N | und den möglichen Silbifizierungen ein Zusammenhang besteht. Diese Zielstrukturen sind ein Charakteristikum, das das Bündnerromanische und verschiedene nordit. Dialekte vom A f r z . und bestimmten Varianten des N e u f r z . unterscheidet, wo das Schwa am Wortende angefügt wird ( n a d r a ] , [ p a : t r s ] e t c . ) . Wir wollen die Frage der Silbifizierung nun kontrastiv an den beiden Beispielen surs. [i a d » r] und f r z . n a d r a] erörtern. Wie bereits in Abschnitt I, 2 . 1 . 2 . erwähnt, gibt es den Vorschlag von H. Andersen, eine solche Schwa-Insertion als Spezialfall einer Diphthongierung anzusehen. Solche Diphthongierungen folgen entweder dem Prinzip, daß das Merkmal, bezüglich dessen ein Segment aufgespalten wird, in der Ordnung unmarkiert-markiert über die Dauer des Segments verteilt wird, oder dem Prinzip der offenen Silbenstruktur. Wenn wir die Überlegungen von Andersen auf unser Problem anwenden,so zeigt sich, daß im Fall der Schwa-Insertion das Merkmal C + consD auf die Dauer des silbischen Sonoranten verteilt wird. Die Markiertheit dieses Merkmals ist aber kontextsensitiv und orientiert sich an der optimalen Silbenstruktur CV#CVJ5.. Daher sollte c + cons: in silbenanlautender Position unmarkiert sein, C- cons] hingegen markiert; C- consD sollte in der Position nach silbenanlautendem Konsonanten unmarkiert sein und c + cons] in silbenauslautender Position markiert. Nach dem Prinzip der unmarkierten Silbenstruktur kann daher vor Eintreten der Epenthese nur die Silbifizierung angenommen werden, was der a f r z . Struktur entspricht:
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9 F r Kontext 8 (r - C) ist aus dem AIS k e i n g nstiges Datum zu g e w i n n e n . Die k o n s u l t i e r t e n U n t e r s u c h u n g e n zum Piem. zeigen j e d o c h , da die Synkope in diesem K o n t e x t sehr r e g e l m ig e i n g e t r e t e n ist.
225
1: fevvare
6: tenaglie
10: diaembre
14: vescica
2: pelare
7: ginocohio
11: seccare
15: nipote
3: telaio
8: signora
12: s e t t a n t a
16: leviamo
4: sellaio
9: finestra
13: vicino
17: piooino
5: Velluto
In den Daten von Aly-Belfädel findet sich zwar eine Fülle synkopierter Formen, aber die AIS-Daten zeigen im Basso Piemontese verschiedene Fälle mit nicht-synkopiertem Vokal; die Häufung solcher Formen in Punkt 155 (Turin), wo der hochsprachliche Einfluß besonders stark ist, macht eine Restitution dieser Vokale wahrscheinlich. Am stärksten ist die Synkope im Monferrinisch-Longarolischen und im Monregalese durchgeführt. Das Biellese und Vercellese gehören bezüglich der Synkope eher zum Piem. als zum Lombardischen. Im Basso Piemontese ist Punkt 153 leicht abweichend; hier spielt entsprechend den neueren Untersuchungen von Grassi wohl ebenso wie im Alto Piem., das die Synkope ebenso weniger ausgeprägt zeigt, provenzalische Beeinflussung eine Rolle. Im Alessandrino tendiert besonders Punkt 169 schon stark zur Erhaltung des Vortonvokals, was ebenso wie in Punkt 179 bereits ein ligurisches Charakteristikum ist. 1O Es k a n n mit großer S i c h e r h e i t angenommen w e r d e n , daß im M o n f e r r i n i s c h e n die Synkope ihren A n f a n g im Kontext z w i schen K o n s o n a n t und / r / genommen h a t ; dies l ä ß t sich z u m i n d e s t der U n t e r s u c h u n g der "Färse C a r n o v a l e s c h e " des A l i o n e von G i a c o m i n o (19OO : 4 1 1 } e n t n e h m e n , die im D i a l e k t von Asti des 16. J h s . ( 1 5 2 1 ) g e s c h r i e b e n s i n d . Auch d i e Daten i n Toppino ( 1 9 O 5 : 5 2 7 f . ) b e s t ä r k e n das Bild, daß die Synkope im M o n f e r r i n i s c h e n sehr s t a r k ist; aus d i e s e m M a t e r i a l l ä ß t sich die R e g u l a r i t ä t gew i n n e n , d a ß n u r l a b i a l i s i e r t e oder p a l a t a l i s i e r t e Vokale von der Synkope a u s g e n o m m e n w e r d e n .
226 Randzonen des Piemontesischen Zu den piemontesischen Randzonen sei hier nur festgestellt, daß das Biellesische im wesentlichen mit dem Piemontesischen, das Valsesianische mit dem Lombardischen geht (d.h. keine Synkope aufweist), während das Novaresische (137, 138, 139) und die Lomellina (270, 271, 273) bezüglich der Synkope Übergangsgebiete darstellen. Eine grobe graphische Darstellung der Ausprägung der Synkope im piemontesischen Bereich ergibt das Bild auf Karte ( 1 ) . Die Ziffern sollen dabei die Stärke der Synkope von I (stark) bis V (weniger stark) symbolisieren. Emilia Romagna Bekanntlich ist in dem Dialekt dieser Region die Synkope des Vortonvokals am ausgeprägtesten. Ein Blick auf die Daten in Tabelle 2 zeigt, daß mit Ausnahme von Punkt 432 die Tendenz zur Synkope überall ziemlich gleichmäßig vorhanden ist. Für detailliertere Daten zum Romagnolischen müssen wir auf die Arbeiten von Schurr verweisen; wir wollen uns hier auf die eine Bemerkung beschränken, daß die Synkope in verschiedenen Fällen sogar dann eintritt, wenn daraus ein Nexus von drei Konsonanten resultiert. Zur Illustration seien einige ausgewählte Beispiele von Schurr angeführt: :+ consD /s/ c+ kons]: bstiola dstrutt
(bestiola) (distrutto)
1
Tierchen' ' zerstört 1
11 Die auf der Basis der Daten des AIS a u f f i n d b a r e n Kontexte der Synkope in diesen Ü b e r g a n g s g e b i e t e n e n t s p r e c h e n n i c h t dem n a t ü r l i c h e n P a t t e r n , das für die Synkope im Bündnerromanischen f e s t g e s t e l l t w u r d e . So weist z . B . das Novarese Synkope z w i s c h e n t-1 ( t e l a i o ) , aber nicht p-1- ( p e l a r e ) a u f , Ein solcher B e f u n d ist zu e r w a r t e n , da in e i n e m D i a l e k t m i s c h u n g s r a u m m i t der E n t l e h n u n g e i n z e l n e r W o r t f o r m e n z u rechnen is t. 12 Schurr I, S. 93
227
Karte (1)
imsCDon.it) Π79 ' rigels (JlrJtl) IOSS -jf 7.19 s< l t