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German Pages [213] Year 2021
Pädagogik und Philosophie 10
Daniel Löffelmann Mario Ziegler (Hg.)
Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824153
.
B
Daniel Löffelmann / Mario Ziegler (Hg.) Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung
PÄDAGOGIK UND PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Pädagogik und Philosophie 10 Wissenschaftlicher Beirat: Daniela G. Camhy, Ursula Frost, Ekkehard Martens, Käte Meyer-Drawe, Hans-Bernhard Petermann, Matthias Rath, Volker Steenblock †, Barbara Weber und Franz Josef Wetz
https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann Mario Ziegler (Hg.)
Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann / Mario Ziegler (Eds.) Teaching under the sign of perception and representation Philosophical incitements to an outmoded didactics Today, connections between philosophy and didactics rarely end happily. The book shows how such a relationship could perhaps succeed after all. Along the two categories of perception and representation, it is clearly shown that there is a close connection between perception theory and teaching. In this liaison, philosophy is encouraged to persistently ask about the complex achievements we make when we recognize something. Didactics, for its part, is encouraged to think out of the box, for example by focusing on independent insight and didactic forms of staging.
The Editors: Daniel Löffelmann is currently writing a dissertation on a topic from the field of historical pedagogy at the College of Global Education at the Institute for Education and Culture at the Friedrich Schiller University of Jena. He is also involved in the Jena School of Didactics. Mario Ziegler is a research assistant at the Institute of Philosophy at the Friedrich Schiller University Jena, responsible for the didactics of philosophy and ethics. He is currently working on a book project on the didactics of learning plays. He is also involved in the Jena School of Didactics.
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Daniel Löffelmann / Mario Ziegler (Hg.) Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik Verbindungen von Philosophie und Didaktik enden heute nur noch selten glücklich. Das Buch führt vor, wie ein solches Verhältnis vielleicht doch gelingen könnte. Entlang der beiden Kategorien Wahrnehmung und Darstellung zeigt sich anschaulich, dass ein enger Zusammenhang von Wahrnehmungstheorie und Unterricht besteht. In dieser Liaison sieht sich die Philosophie ermuntert, hartnäckig nach den komplexen Leistungen zu fragen, die wir vollbringen, wenn wir etwas erkennen. Die Didaktik wird ihrerseits zu unzeitgemäßen Überlegungen angestiftet, indem sie zum Beispiel die selbstständige Einsichtsgewinnung und lehrstückhafte Inszenierungsformen ins Zentrum rückt.
Die Herausgeber: Daniel Löffelmann verfasst derzeit eine Dissertationsschrift zu einem Thema aus der historischen Pädagogik im Kolleg Globale Bildung am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Außerdem engagiert er sich im Rahmen der Jenaer Schule der Didaktik. Mario Ziegler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, verantwortlich für die Fachdidaktik der Philosophie und Ethik. Derzeit arbeitet er an einem Buchprojekt zur Lehrstückdidaktik. Außerdem engagiert er sich im Rahmen der Jenaer Schule der Didaktik.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49136-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82415-3
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Inhalt
Daniel Löffelmann, Mario Ziegler
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Von philosophischen Anstiftungen … Heinrich Schwier
Spiegelscherben des Universums – Bemerkungen zu Johannes Hachmöllers Leibnizbuch Lebensunruhe und Weltgegenwart . . . . . . . . . . . . . . .
27
Käte Meyer-Drawe
»Das geblendete Kamera-Subjekt« . . . . . . . . . . . . . .
40
Anne Gnielka
Wenn die Aufmerksamkeit spazieren geht – Ein kleiner wahrnehmungstheoretischer Lehrgang . . . . .
53
… zu didaktischen Prinzipien … Daniel Löffelmann
Man kam, sah und lernte? – »Wahrnehmung« als didaktisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
7 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Inhalt
Mario Ziegler
Die Kunst der Darstellung. Mimetische Lehrstückdidaktik nach Aristoteles . . . . . . .
92
Ralf Koerrenz
Didaktik des Erinnerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
… und über hervorgehobene Medien der Didaktik … Jens Bonnemann
Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild. Zum Bildungspotenzial des Films . . . . . . . . . . . . . . 125 Peter Starke
Von Mitspielern und Zuschauern: Literarisches Verstehen und moralisches Urteilen im Wechselspiel . . . . . . . . . 139
… zurück in die Schule und Universität. Stella Wieg
Achilles und die Schildkröte. Eine didaktische Fabel zur Exemplifikation des Exemplarischen in der Lehrstückdidaktik . . . . . . . . . . 157 Anna Pickhan
Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach – Reflexionen über Johannes Hachmöllers Lehrstück zur Geschichtsphilosophie
175
Mirka Dickel
Transformative Lehrerbildung. »Hören können heißt, verstehen können.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
8 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Bibliographie der Schriften von Johannes Hachmöller
. . . 211
9 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
Einleitung
»Aus dem in voller Gestalt Sichtbaren wird demnach nichts herausgeschnitten, wenn etwas Eigenartiges an ihm so deutlich erfasst wird, dass es festgehalten werden kann. Aber dem Sichtbaren wird dabei gleichwohl etwas abgeschaut, das nicht erscheinen kann, obwohl es ein Konstituens des Erscheinenden ist.« 1
I.
Einleitende Bemerkungen zum Buch und seinem Aufbau
Verbindungen von Philosophie und Didaktik enden heutzutage nur noch selten wirklich glücklich, 2 noch seltener für beide Beteiligten. Deshalb ist es besonders hervorzuheben, wenn ein solches Verhältnis doch einmal gelingt. Das 2015 erschienene Buch Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer stellt insofern eine bemerkenswerte Ausnahme dar, als es zeigt, wie beide Seiten wechselseitig voneinander profitieren können. Ergebnis dieser Beziehung ist einerseits eine lebhafte Lehrweise, die die selbstständige Einsichtsgewinnung der SchülerInnen ins Zentrum rückt und zu diesem Zweck auf lehrstückhafte Inszenierungen setzt. Die Philosophie andererseits wird in dieser Liaison ermuntert, hartnäckig nach den komplexen Leistungen zu fragen, die wir vollbringen, wenn wir etwas begreifen, erkennen oder lernen. In der Folge besinnt sie sich auf ein in der Welt stehendes, für sie empfängliches und empfindliches Individuum. Damit bricht sie nicht nur mit dem teilweise bis heute dominierenden Subjektverständnis der modernen Philosophiegeschichte, sondern eben Johannes Hachmöller (2015), Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. Würzburg: Ergon, S. 169. 2 Vgl. Günther Buck (1989), Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Darmstadt: WBG, S. 29. Buck stellt den Philosophen kein gutes Zeugnis aus, denn er konstatiert bereits 1989, dass das Lernen als »philosophisches Problem immer mehr in Vergessenheit geraten ist« (ebd.). 1
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Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
auch mit den Erkenntnis- und Lerntheorien, die bewusst oder unbewusst aus dieser philosophischen Tradition hervorgegangen sind. Genau an diese produktive Arbeitsbeziehung zwischen Philosophie und Didaktik knüpft der vorliegende Band an. Was die selbstständigen Einzelbeiträge in ihrer Summe erkennbar werden lassen, ist eine von philosophischer Theorie geleitete, aber zugleich didaktisch reflektierte und unterrichtspraktisch erprobte Lehr- und Lernkonzeption. Aus pragmatischen Gründen der besseren Adressierbarkeit bezeichnen wir diesen natürlich in sich vielfältigen und heterogenen Ansatz im Folgenden als »Didaktik des Lehrstücks«. Bereits der Begriff macht die große Nähe zur »Didaktik der Lehrkunst« und ihren Hauptvertretern Martin Wagenschein, Hans Christoph Berg und Theodor Schulze sehr deutlich. 3 So bestehen denn auch viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen. Sie sind vor allem in der »genetisch-sokratisch-exemplarischen-dramaturgischen Lehrweise« 4 und damit in einem in vielerlei Hinsicht übereinstimmenden methodischen Verständnis zu sehen. Abgesehen davon gibt es aber auch einige Unterschiede festzustellen, die hauptsächlich auf theoretischer und konzeptueller Ebene angesiedelt sind (und sich hoffentlich bei der Lektüre der Beiträge erschließen, ohne dass sie stets explizit hervorgehoben werden), 5 sich aber mitunter auch bei der konkreten Unterrichtsinszenierung zeigen. So glauben wir, mit der Lehrstückdidaktik ein bescheideneres, insgesamt inklusiveres Konzept anbieten zu können als die Lehrkunstdidaktik: Beispielsweise muss es sich unserer Ansicht nach, wenn ein Thema zum Protagonisten eines Lehrstücks werden soll, dabei nicht zwingend um eine unvergleichliche Sternstunde der Wissenschaft handeln, wie es Berg und Schulze mit ihren »Menschheitsthemen« 6 vorauszusetzen scheinen. Auf der Seite der Lehrenden setzen wir zudem weniger auf didaktisches Genie, wie es etwa Martin Hans Christoph Berg, Theodor Schulze (1995), Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand. 4 Martin Wagenschein (1999[1968]), Verstehen lehren. Weinheim, Basel: Beltz. Gottfried Hausmann (1959), Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg: Quelle & Meyer. Berg, Schulze (1995), Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. 5 So weist beispielsweise Peter Bonati auf das deutlich erkennbare Theoriedefizit der Lehrkunstdidaktik hin. Vgl. Peter Bonati (2003), »Lehrkunstdidaktik und Lehrstücke – ihr Beitrag zu Didaktik und Unterrichtsentwicklung«. Beiträge zur Lehrerbildung 21, S. 93–107, hier S. 100 f. 6 Berg, Schulze (1995), Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 386 f. 3
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Einleitung
Wagenschein verkörpert, sondern auf klare Grundsätze oder eben Prinzipien, die immer wieder neu taktvoll in konkrete Unterrichtsentwürfe und Handlungsentscheidungen übersetzt werden müssen. Dafür braucht man als Lehrperson keine besondere Begabung, etwa in der Gesprächslenkung, als vielmehr gedankliche Flexibilität, vielfältige Erfahrungen sowie vor allem eine prinzipiengeleitete Schulung der didaktischen Urteilskraft. Eine gute Möglichkeit, für eine solche didaktische Schulung zu sorgen, stellen z. B. Fortbildungen dar, bei denen mit Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam ein exemplarisches Lehrstück ›durchgespielt‹ wird, um es anschließend unter didaktischen Gesichtspunkten zu reflektieren. 7 Auf diese Weise können die Lehrenden auf ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen zurückgreifen, was den entscheidenden Vorteil hat, dass man ihnen die didaktische Theorie und ihre Prinzipien nicht durch viele Worte zu vermitteln versucht, sondern sich alle Teilnehmenden auf das beziehen und besinnen können, was sie bei der Durchführung selbst erfahren haben. 8 Die Gespräche, die dann entstehen, sind häufig sehr fundiert und auch insofern verständnisorientiert, als man davon ausgehen darf, dass alle Beteiligten die gerade angesprochene Unterrichtszene vor Augen haben. Dieser Band geht dennoch einen anderen Weg, der als wichtige Ergänzung zu Formaten wie dem eben beschriebenen verstanden werden kann. Der Grundriss guten Unterrichts, dessen verschiedene Facetten die Beiträge des Buches entwerfen, wird hier nicht nur ›vorgeführt‹, sondern explizit und ausführlich begründet. Diese Begründung stellt, metaphorisch gesprochen, ein Fundament 9 dar, das zwei Ebenen umfasst. Arbeitet man sich in die Tiefe vor, stößt man zunächst auf das, was man gemeinhin didaktische Prinzipien nennt. Mit Rotraud Coriand werden darunter »allgemeine, wesentliche Grundsätze der Unterrichtsführung mit Aufforderungscharakter
Vgl. http://jenaerschule.de/category/veranstaltungen/ (Stand: 11. 08. 2019). In der Lehrerbildung spricht man in diesem Zusammenhang von einem »erfahrungsgeleiteten Ansatz des Lehrer-Lernens«. Vgl. Karin Kleinespel (1998), Schulpädagogik als Experiment. Der Beitrag der Versuchsschulen in Jena, Chicago und Bielefeld zur pädagogischen Entwicklung der Schule. Weinheim, Basel: Beltz, S. 112 ff. 9 Aber nota bene ein solches, das eben keine falsche Sicherheit suggeriert und auch grundsätzliche Diskussionen nicht abbricht, sondern einen echten Dialog erst ermöglicht, weil es den eigenen Standpunkt markiert und für das Gegenüber offenlegt. 7 8
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Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
und relativer Verbindlichkeit« 10 verstanden. Was sie anbelangt, bieten wir eine einfache Formel: »Wahrnehmung« und »Darstellung«. Unseres Erachtens sind diese beiden didaktischen Prinzipien absolut grundlegend für ein Lernen, bei dem das Verstehen im Mittelpunkt steht. Wir sind deshalb der festen Überzeugung, dass sie zu Unrecht heutzutage nicht mehr zum »didaktischen Allgemeingut« 11 gehören. Aus diesem Grund ist den Prinzipien der »Wahrnehmung« (gr. aisthesis) und »Darstellung« (gr. mimesis) in diesem Band jeweils ein eigener Beitrag gewidmet. Dabei ist es uns wichtig, deutlich zu machen, dass die beiden Prinzipien konstitutiv miteinander verknüpft sind: Die zwei Grundsätze verweisen aufeinander – genau genommen handelt es sich um ein Doppelprinzip mit allgemeindidaktischem Charakter. Obwohl personenbedingt in diesem Band ein Themenschwerpunkt in der Didaktik der Philosophie und Ethik feststellbar ist, kann von einer exklusiven fachdidaktischen Bindung deshalb keine Rede sein. Das zeigt auch einer der Beiträge, welcher in ein Lehrstück aus dem Bereich der Mathematik einführt. Gewissermaßen noch einmal tiefer innerhalb des besagten Fundaments – also unterhalb der didaktischen Prinzipien – liegen die Konzepte von Welt (Ontologie) und Mensch (Anthropologie). Diese tragende Grundschicht bildet die zweite, philosophische Ebene, auf der wir uns in diesem Band bewegen und von der aus erst richtig verständlich wird, warum die Lehrstückdidaktik konzeptionell so und nicht anders ausgestaltet ist. In der als Deutungsangebot gedachten Gliederung haben wir die entsprechenden Texte unter der Überschrift »philosophische Anstiftungen« zusammengefasst und an den Anfang gestellt (noch vor die didaktischen Prinzipien). In den dort versammelten Beiträgen wird deutlich, wie wichtig eine solche philosophische Tiefbauarbeit ist. Erst sie fördert zutage, wie es zu bestimmten Vorstellungsbildern des Erkenntnisvorgangs oder des Menschen kommt und welche entscheidenden Folgen das – z. B. in Form eines bestimmten Subjektverständnisses – für die Theorien des Lernens haben kann. Steigt man aus der Tiefe wieder herauf und wirft einen Blick auf die Bauarbeiten über Tage, so kann man beobachten, wie die vielfältigen Konsequenzen vermessen werden, die sich aus den philosophiVgl. Rotraud Coriand (2015), Allgemeine Didaktik. Ein erziehungstheoretischer Umriss. Stuttgart: Kohlhammer, S. 133–136, hier S. 135. 11 Coriand (2015), Allgemeine Didaktik, S. 134 (wie in Anm. 10). 10
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Einleitung
schen und didaktischen Überlegungen für die Kunst des Lehrens ergeben. Zunächst rücken die »Medien der Didaktik« in den Fokus, namentlich Film und Literatur. Es wird gezeigt, wie diese als notwendiger Vermittler zwischen den Teilnehmenden auf der einen Seite und der Sache auf der anderen Seite fungieren. Im Lehrstückunterricht spielen solche Medien eine tragende Rolle, weil mit ihrer Hilfe jeweils etwas ganz Bestimmtes zur Darstellung gebracht werden kann. Dadurch wird dieser besondere sachliche oder thematische Aspekt überhaupt erst für alle Beteiligten deutlich wahrnehmbar und gelangt somit in Reichweite einer fundierten Verständigung. Mittels ihrer spezifischen Darstellungsmöglichkeiten können Filme und literarische Texte also unseren Blick auf die Welt und uns selbst verändern – ein Bildungspotential, das man sich didaktisch zu Nutze machen kann. Die Texte des vierten und letzten Gliederungsabschnittes setzen sich stärker mit der konkreten Unterrichtspraxis auseinander. Die Beiträge exemplifizieren, wie Lehrstückunterricht inszeniert werden kann und richten das Augenmerk vor allem auf methodische Fragen im engeren Sinne. Weiterhin wird hier die Lehrerbildung thematisiert, insbesondere im Hinblick auf bestehende und mögliche »Gesprächskulturen« – was zeichnet ein lebendiges Gespräch aus und worauf sollte man Acht geben, damit es für die Beteiligten einen »transformativen« und bildenden Charakter erlangen kann? 12 Gerade in einer Zeit, in der in der Erziehungswissenschaft die geisteswissenschaftliche – mithin auch historische – Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragen marginalisiert wird, ist es erfrischend unzeitgemäß, wenn die »vermeintliche Normalität des Vorfindlichen« und Gegenwärtigen durch einen »verfremdenden Spiegel« betrachtet wird. 13 Und schließlich muss nach Nietzsche der Philosoph [bei uns auch der Pädagoge und Didaktiker; D. L. & M. Z.] seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden, nämlich unbemerkbar machen und gleichsam übermalen. Dies ist eine schwere, ja kaum lösbare Aufgabe. 14 Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Mirka Dickel. Die Zitate stammen aus dem Beitrag von Ralf Koerrenz. 14 Friedrich Nietzsche (1999[1874]), Unzeitgemäße Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher 3. In: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Kritische Studienausgabe (KSA I), herausgegeben v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV, S. 361. 12 13
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Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
Vielleicht aber ist auch schon viel erreicht, wenn das Gegenwärtige, das unseren Blick so schablonenhaft fixiert, durch einen Rückblick in die Geschichte der Philosophie und Pädagogik ein wenig irritiert wird, so dass sich auf diesem Wege – wie Ralf Koerrenz in seinem Beitrag schreibt – ein »Fenster (in eine mögliche andere Welt)« öffnet. 15 In den Texten dieses Buches führt der Weg deshalb häufig zu und über ›alte‹ Denker wie Platon, Aristoteles, Leibniz und Herbart. Aber der Blick in den Rückspiegel der Geschichte lohnt sich bekanntlich »nur soweit die Historie dem Leben dient« 16 . Deshalb steht am Ende der Ausflüge in die Vergangenheit immer ein handfestes Ergebnis für die Gegenwart – z. B. die Klärung des Begriffs der Lebendigkeit. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir im Hier und Jetzt Schülerinnen und Schüler in der Lehrstückdidaktik als sehr vitale und agile Individuen mit vielerlei Bestrebungen denken und so auch einen Unterricht inszenieren können, der versucht, dieser Lebendigkeit gerecht zu werden. Wir sind also durchaus der Ansicht, dass eine Verbindung von Philosophie und Didaktik immer noch glücklich enden und für beide Beteiligten einen lebendigen Austausch ermöglichen kann. Ganz besonders heutzutage, in der sich der Zeitgeist für die geistesgeschichtlichen Linien und Gedankenanstöße häufig überhaupt nicht offen zeigt – und somit das kritisch-produktive Potential, das eine gezielte Auseinandersetzung mit Klassikern der Philosophie und Pädagogik bereitstellen kann, gerne leichthin übersehen wird. Sich daran zu stören, dass sich die verschiedenen Texte, die hier zusammengekommen sind, nicht immer vollharmonisch auf ›einer
Ohne das Pathos zu teilen, mit dem Nietzsche als Philosoph und Philologe seine Unzeitgemäßheit vor sich herträgt, teilen wir doch die Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit älteren Zeiten und Gedanken dem eigenen Denken unzeitgemäße (Denk-)Erfahrungen ermöglicht, die sich auch kritisch auf die eigene Zeit wenden lassen: »dass ich nur sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemäßen Erfahrungen komme. So viel muss ich mir aber selbst von Berufs wegen als classischer Philologe zugestehen dürfen: denn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.« Friedrich Nietzsche (1999(1874]), Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. Vorwort. A. a. O., S. 247. 16 Nietzsche (1999(1874]), Vom Nutzen und Nachtheil der Historie. Vorwort, S. 245 (wie in Anm. 15). 15
16 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Einleitung
Linie‹ bewegen, hieße primär in der Kategorie der Zugehörigkeit (in diesem Fall zu einem didaktischen Ansatz) zu denken – etwas, was wir für fragwürdig halten. Tatsächlich nämlich erstrecken sich diese mithin in viele unterschiedliche, ihre jeweils eigenen Richtungen, sodass sie eine Art Netzstruktur bilden, bei der es auch schon mal vorkommen kann, dass zwei Linien sich kreuzen. Wir finden das gut und richtig. Es freut uns, dass die Beiträge dieses Bandes den ganzen Facettenreichtum einer philosophischen Didaktik und didaktischen Philosophie widerspiegeln.
II.
Vorstellung der Beiträge
Der Beitrag von Heinrich Schwier dreht sich um die essenzielle Frage, wie wir als lebendige Wesen – als Individuen – verfasst und auf die Welt um uns herum bezogen sind. Entlang der leitmotivischen Metapher der »Spiegelscherbe« führt er den Leser ohne Umschweife ins Zentrum der Philosophie der Erkenntnis. Die Leitung bei dieser Expedition übernimmt Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Text bestätigt das philosophiegeschichtlich ungewöhnliche Urteil, dass Leibniz das Kompliment verdiene, der erste und in dieser Form einzige zu sein, der das wahrnehmungstheoretisch falsche und fatale »Gehäusemodell« überwunden habe. Mit Letzterem ist die zum Teil bis heute wirksame Vorstellung gemeint, dass man sich den menschlichen Geist quasi als in den Körper eingeschlossen zu denken habe, sodass jener aufgrund dieser nur schwer zu überquerenden physiologischen Grenze prinzipiell von der Welt abgeschnitten und zur Passivität verdammt sei. Dieser auch für schulisches Handeln folgenschweren Fehlkonzeption wird Leibniz’ Konzept des Individuums als Monade entgegengesetzt. Ihre ganz anders gelagerten Eigenschaften bringt er mit Johannes Hachmöller als »Lebensunruhe und Weltgegenwart« auf den Punkt. Käte Meyer-Drawe schlägt in dieselbe Kerbe, nur von einer anderen Seite. Auch ihr geht es um die Art und Weise, wie wir uns selbst begreifen. Besonders sensibilisiert sie dafür, welche Metaphern für den uns auszeichnenden Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang verwendet werden. Und auch in diesem Punkt spielt Leibniz wieder eine wichtige Rolle, weil er mit seinem berühmten Mühlenexempel und dem Diktum von der Fensterlosigkeit der Monaden bereits zu seiner Zeit eine substanzielle Bilderkritik geübt habe, die etwa 17 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
allzu naive Empiristen mit ihren mechanistischen Vorstellungen betreffe. Ob die dunkle Kammer der camera obscura oder der geschützte Innenraum eines Beduinenzeltes, hinter dessen milchigen Zeltwänden die wirkliche Welt nur schemenhaft zu erahnen ist – immer implizierten diese erkenntnis- und wahrnehmungstheoretischen Imaginationen ein ganz bestimmtes Subjektverständnis, das es herauszuarbeiten und kritisch auf seine Implikationen zu prüfen gelte. Nur dann werde man sich der enormen Tragweite klar, die Selbstbildnisse als philosophische Geschäftsgrundlage aller weiteren Vorgänge (auch des Unterrichtens) für uns im Einzelnen wie für uns als Gesellschaft besitzen. Anne Gnielka nimmt den Leser mit auf einen »kleinen wahrnehmungstheoretischen Lehr(-spazier-)gang«. Dabei wird dem Leser mit Blick auf ein kleines Pantoffeltierchen oder bei der Betrachtung ihrer Katze kleinschrittig vorgeführt, wie wir Menschen zu unserem Wissen von der Welt gelangen. Ohne auf die einzelnen Gewährsmänner dieser Wahrnehmungstheorie genauer einzugehen – genannt werden Platon, Aristoteles, Leibniz, Condillac, Husserl und MerleauPonty – wird deutlich, was diese Autoren verbindet, indem sie die »innere Logik dieser Wahrnehmungstheorie« zur Darstellung bringt. Besonders interessant ist dabei die Methode, die Gnielka wählt, um z. B. das Prinzip der Lebendigkeit oder das spezifische Vermögen der Aufmerksamkeit innerhalb dieser Wahrnehmungstheorie zu beleuchten. Ganz in phänomenologischer Manier erklärt sie nämlich nicht die wesentlichen Begriffe der Theorie, sondern sie beschreibt die Phänomene so nuancenreich, dass der Leser – im besten Fall – auf seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zurückgreifen kann. Sie vertraut also darauf, dass ihm etwas vor Augen tritt und er sich auf diesem Weg der Selbstbeobachtung und -besinnung die innere Logik dieser Wahrnehmungstheorie verständlich machen kann. Dabei entwickelt sie zugleich eine Theorie des Lernens und bahnt so den Weg zu den didaktischen Prinzipien, die dann in den Beiträgen von Daniel Löffelmann und Mario Ziegler genauer betrachtet werden. Daniel Löffelmann legt in seinem Beitrag den Fokus auf die Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmungsleistungen beim Lernen. Er zeigt auf, dass Johann Friedrich Herbarts Lerntheorie zunächst vor allem als eine Wahrnehmungstheorie verstanden werden muss. Denn Lernen findet nach Herbart nur dann statt, wenn sich dem Lernenden etwas in seinen »verschiedenen Sinneshorizonten zeigt«. Im Zen18 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Einleitung
trum seiner Lerntheorie steht deshalb auch die Bildung der Anschauung des Kindes. Löffelmann macht in einem zweiten Schritt deutlich, dass Herbarts »didaktischer Empirismus« ein Menschenbild voraussetzt, das er mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen Mitteln nicht einholen kann, das sich aber mit Hilfe von Leibniz’ Konzept eines lebendigen Individuums genauer explizieren lässt. So liefere Hachmöllers Leibniz-Interpretation genau die Wahrnehmungstheorie, die man benötigt, um ein Erkenntnissubjekt zu denken, das der Welt nicht gegenübersteht, sondern dass in der Welt – auch leiblich – verhaftet bleibt – und somit überhaupt erst etwas über sich und die Welt, in der es lebt, zum Ausdruck bringen kann. Im letzten Teil seines Beitrages buchstabiert Löffelmann die didaktischen Konsequenzen und die unterrichtlichen Gestaltungsmöglichkeiten einer solchen Wahrnehmungs- und Lerntheorie genauer aus. Dabei beleuchtet er das Kernstück der Jenaer Schule der Didaktik, sprich: das Doppelprinzip von Wahrnehmung und Darstellung. Im Rückgriff auf die Lehrstückdidaktik Martin Wagenscheins macht er abschließend deutlich, dass ein Unterricht nach diesem Prinzip einer Revolution der gegenwärtigen Unterrichtspraxis gleichkommen würde. Anhand der Kategorie der Darstellung führt Mario Ziegler vor, wie Philosophie (Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie) und Didaktik (Lerntheorie) systematisch ineinandergreifen. Der Beitrag ist primär fachdidaktisch gelagert, besitzt jedoch explizit allgemeindidaktische Tragweite. Unter Rückgriff auf das aristotelische Konzept der Mimesis als »nachahmende Darstellungskunst« wird herausgearbeitet, dass dem Anschaulich-Machen und dem Zur-Schau-Stellen für den Ethikunterricht entscheidende Bedeutung zukommt. Auf Grundlage seiner Lehrerfahrung wird der Grundriss einer lehrstückhaften Didaktik gezeichnet, die mitunter auch Schülern und Lehrern neue Rollen zuteilt. So liege der Fokus dieser Form des Unterrichtens (die sich unter anderem auch auf Johann Friedrich Herbart berufen darf) darauf, eine gemeinsame Ausleuchtung des »Schauspiels menschlichen Handelns« zu inszenieren, die den Schülerinnen und Schülern Vertrauen in ihr eigenes Urteilsvermögen vermittelt. Um eine solche gemeinschaftliche Übung und Schulung der ethischen Urteilsfähigkeit ins Werk zu setzen, müsse die Lehrperson in der Lage sein, souverän verschiedene Darstellungsformen zu handhaben. Unter dem Titel »Didaktik des Erinnerns« regt Ralf Koerrenz mit seinem Beitrag dazu an, noch einmal grundsätzlich neu über die Ausrichtung und Arbeitsweise der Pädagogik als Wissenschaft ins19 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
gesamt nachzudenken, insbesondere ihrer historisch ausgerichteten Fachbereiche. Am Anfang des Denkwegs steht Lernen als anthropologische Universalie, die zugleich auf die unaufhebbare Kulturalität des Menschen verweise. Andererseits offenbarten gerade postkoloniale Erwägungen, dass die Universalität in der Partikularität ein Gegengewicht bekommt. Angesichts der niemals abschließend zu klärenden ontologischen Frage ›Was ist wirklich?‹ gelte es, einen herrschaftsund machtkritischen Blick einzuüben, der vorschnelle Schlussfolgerungen und vermeintlich zweifelsfreie Identifizierungen (nicht zuletzt in der Geschichte der Pädagogik) als interessengeleitete Täuschungen sichtbar hält. Gegen die Rhetorik der Alternativlosigkeit, gegen das angeblich Eindeutige und Feststehende wird der »Widerstreit« gesetzt, werden Ambivalenz und Ambiguität starkgemacht. Die auszuhaltende Existenz von Multiperspektivität sowie die anzuerkennende Begrenztheit des Logos ließen andere Aufgaben der Pädagogik hervortreten, die begrifflich als »Verfremdung« gefasst werden können. Wenn das distanzierende Hinterfragen und die produktive Irritation in den Vordergrund rückten, so impliziere dies schließlich auch die Reduktion hegemonialer Methodik und Ausdrucksformen. Anders als die Sprache der Wissenschaft seien z. B. Poesie und Metaphorik (im Anschluss an Ricœur) nicht von vorneherein darauf geeicht, eine einzelne und damit verarmte Wirklichkeit als Wahrheit zu behaupten. Der Beitrag von Jens Bonnemann beschäftigt sich mit einem speziellen Medium der Didaktik: dem Film. Bonnemann geht der berechtigten Frage nach, ob Filme ein Bildungspotential besitzen. Dabei stellt er zunächst fest, dass das »Bildliche« in der Geschichte der Pädagogik und Philosophie häufig als »zweitrangig gegenüber dem Sprachlichen« angesehen worden ist. Dieser Befund hält ihn nicht davon ab, dieser Frage weiter nachzugehen. Ausgehend von leibphilosophischen Überlegungen und im Rückgriff auf einen frühen Filmtheoretiker, Béla Balázs, stellt er die These auf, dass der Film vor allem deshalb ein Bildungspotential in sich birgt, weil er »wie kein anderes Medium« »eine Sensibilisierung für den leiblichen Ausdruck fördert«. Wir können uns beim Filmschauen etwas vergegenwärtigen, was Worte uns nicht in der gleichen Weise sagen können. Denn es wird hier unser Blick für die »leibliche Erscheinungsweise des Menschen« geschult. Das Ergebnis einer solchen wahrnehmungsbezogenen Blickschulung stellt nach Ansicht von Bonnemann nicht nur eine »Weiterentwicklung des Verständnisses für den nicht-sprachlichen 20 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Einleitung
Ausdruck von Menschen« dar, sondern ermöglicht auch die Ausbildung eines »Taktgefühls« für das soziale Zusammenleben, das sich anders nicht vermitteln lässt. Vor diesem Hintergrund hält er am Ende des Beitrags auch noch – ganz im Sinne der Lehrstückdidaktik – eine didaktische Pointe bereit. Er stellt heraus, dass sich ein solches Taktgefühl genauso wenig wie »Sinn für Humor« durch die sprachliche und begriffliche Auseinandersetzung mit moralphilosophischen Positionen oder in Diskussionen entwickelt. Peter Starke beleuchtet in seinem Beitrag – analog zu Bonnemanns Überlegungen zum Film – die Bildungspotentiale der Literatur. Dabei kann man die Literatur ebenfalls als ein didaktisches Medium verstehen, das im Unterricht eine Hilfe sein kann, die Urteilsbildung der SchülerInnen anzuregen. Beim Lesen von Literatur sind wir nach Ansicht von Starke zugleich Mitspieler und Zuschauer. Zuschauer sind wir, weil wir die dargestellten Geschehnisse in Literatur aus der Distanz heraus beobachten können und somit eine Außenperspektive einnehmen. Diese Distanz versetzt uns als Leser in die Lage, die dargestellte Situation oder Handlung zu beurteilen. Mitspieler sind wir, weil wir uns aus der »Innenperspektive heraus in andere Figuren hineinversetzen« können und ihre ggf. fremden Sichtweisen auch verstehen können, ohne dass wir ihre Ansichten und Urteile zwingend teilen müssten. Starkes These ist nun, dass wir durch Literatur »ästhetische Erfahrungen« machen können, weil uns als Leser stets beide Perspektiven – also die Innen- und die Außenperspektive – zugemutet werden und sich diese Zumutung für uns häufig ambivalent darstellt: »[D]as Ineinandergreifen von Verstehen und Urteil im Moment der literarischen Erfahrung« hat daher das Potential, unseren Blick nachhaltig zu verändern. Unter einem didaktischen Blickwinkel ist diese Zumutung der Ambivalenz vor allem deshalb wünschenswert, weil so nicht nur unser Blick auf die dargestellten Geschehnisse geschärft wird, sondern – viel wichtiger – damit indirekt unsere eigenen (Wert)-Urteile überhaupt erst einer Reflexion zugänglich gemacht werden. Stella Wieg nimmt uns in ihrem Text mit in ein mathematischphilosophisches Lehrstück zum Thema Unendlichkeit, das sie selbst entwickelt und erprobt hat. Im kommentierten Durchgang durch dessen einzelne Schritte geht es ihr darum, anschaulich die zentrale Bedeutung herauszuarbeiten, die das »Exemplarische« im Sinne von Martin Wagenschein für die Lehrstückdidaktik besitzt. Gezeigt wird, wie sich die Investition in die Grundlagenarbeit im Bereich Wahrneh21 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
mungstheorie (z. B. zur Rolle der Darstellung) in der Praxis bezahlt macht. In diesem Sinne lässt sie am konkreten Beispiel nachvollziehbar werden, wie der unterrichtspraktische Fokus auf exemplarische Inszenierungen in der Lehrstückdidaktik dazu führt, dass alle Teilnehmenden stets etwas vor Augen haben, über das sie sich gemeinsam verständigen und das sie im Laufe des Unterrichts im produktiven Gespräch miteinander immer weiter und genauer ausleuchten. Um ein Thema wie das der Unendlichkeit überhaupt fasslich zu machen, wird auf das berühmte antike Paradoxon des Zenon von Elea zurückgegriffen; das klassische Gedankenexperiment vom Wettlauf zwischen Achill und einer Schildkröte wird im Klassenraum reinszeniert und im Folgenden als Ausgangspunkt für immer neue Variationen, Abwandlungen und sachbezogene Überlegungen genutzt. In diesem Punkt, dem methodischen Vor-Augen-Stellen und GreifbarMachen zunächst abstrakter Begriffe oder Konzepte durch Darstellung exemplarischer Situationen, Szenen oder Sachverhalte im Unterricht, liegt zugleich die allgemeindidaktische Reichweite des Beitrags. Der Beitrag von Anna Pickhan widmet sich der Frage nach den didaktischen Potentialen des Lehrstückansatzes. Zu diesem Zweck wird, nach einer vorgelagerten Begriffsklärung, ein Lehrstück zur Geschichtsphilosophie von Johannes Hachmöller untersucht. Dort setzen sich die Teilnehmenden mit den gesellschafts- und geschichtstheoretischen Konzeptionen von Kant, Fichte und Hegel auseinander und beziehen diese kritisch aufeinander. Durch die Nachzeichnung der Grobstruktur wird deutlich, dass sich der Lehrstück-Dramaturg zur Umsetzung dieses kühnen Vorhabens einerseits anschaulicher Gedankenexperimente bedient, andererseits Ausschnitte aus philosophischen Primärtexten einsetzt. Anlässlich dieser Feststellung werden die besonderen, zum Teil aufeinander verweisenden Rollen von Gedankenexperiment und Textarbeit in der Lehrstückdidaktik charakterisiert. Besonderes Augenmerk genießt dabei die dialektische und dramaturgische Gestaltung des Unterrichtsgangs. Mirka Dickel richtet ihren Blick auf eine gängige Praxis an der Universität und an den Schulen; sie beleuchtet die große Bedeutung des Gesprächs für die Lehrerbildung. Doch nach Ansicht von Dickel kann dieses Potential nicht angemessen zur Geltung kommen, wenn man das Gespräch (wie es in der Lehrerbildung an der Universität und in den »Beratungsgesprächen« an den Studienseminaren in der zweiten Ausbildungsphase häufig geschieht) »methodisch« in ein Korsett 22 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Einleitung
zwängt, dass seine Lebendigkeit abschnürt. In diesem Zusammenhang greift sie auf unterschiedliche Bezugstheorien zurück, die sich alle der philosophischen Disziplin der »phänomenologischen Hermeneutik« zuordnen lassen. So leugne oder übersehe jede »(Schul-)Programmatik« in der Lehrerbildung, die ein bestimmtes »(Gesprächs)Schema« vorgibt, die Unverfügbarkeit des »Widerfahrnisses« und bewege sich damit im »Fahrwasser dogmatischer Ideologie«. Wer hingegen ein »lebendiges Gespräch« z. B. mit Lehramtsstudierenden anstrebe, müsse lernen hinzuhören, was sie zu sagen haben – und zwar so genau, dass man dabei für einen Moment (fast) sich selbst vergisst und so offen ist für die »tieferliegenden Sinnschichten«, die sich in den Worten der Anderen auftun. Gelingt den Gesprächsteilnehmern diese Abstandnahme, dann entstehe nicht selten ein lebendiges Gespräch, in dem sie sich selbst verändern können. Bildung ist für Dickel daher ein »Transformationsprozess«, der dann vonstatten geht, wenn die allzu vertrauten Sichtweisen durch »neuartige Problemlagen« eine Veränderung erfahren. Eine transformative Lehrerbildung nach dieser Fasson enthält eine ganze Reihe von »pädagogischen, ethischen und politischen Implikationen«, die Dickel im letzten Teil ihres Beitrags herausarbeitet.
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Von philosophischen Anstiftungen …
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Heinrich Schwier
Spiegelscherben des Universums – Bemerkungen zu Johannes Hachmöllers Leibnizbuch Lebensunruhe und Weltgegenwart »Wer sich zu sehr bemüht, hinter die Dinge zu sehen, sieht die Dinge am Ende selbst nicht mehr.« (Augustinus) Die Geschichte des Menschen ist, soweit wir wissen, von Anfang an immer auch mit Medien verbunden, Vermittlungsinstanzen, derer Homo sapiens sich bedient, um die vielfältigen Geschäfte, die er mit sich, seinesgleichen und der Welt auszumachen hat, möglichst lebensdienlich führen zu können. Die Sprache, die Schrift, das Buch und in ihrer Nachfolge dann endlich auch die Rechner scheinen in dieser Hinsicht immer effektiver funktionierende Vermittlungsinstanzen zu sein, um sich die Welt anzueignen, das Leben zu führen, zu verstehen, ja zu erleben und womöglich sogar zu ersetzen, und das alles von Menschen, die vor den Bildschirmen von toten Maschinen sitzen. Wenn es nun aber stimmen sollte – vieles spricht dafür –, dass – nach McLuhan – Medien die Tendenz haben, vor allem ihre eigene Botschaft zu sein, dass sie keine Welt-Anschauungen bieten, sondern erst einmal nicht mehr und nicht weniger als bloße Vokabelmischungen, dann könnte man angesichts des immensen Einflusses der uns allseits umgebenden Ver-Mittler auf die Vermutung kommen, dass der Medien-Mensch in die Gefahr gerät, vor lauter Bäumen der Erkenntnis den Wald der Welt nicht mehr wahrzunehmen. Man könnte annehmen, dass immer mehr vermitteltes Wissen nicht nur zu immer mehr Wissen und damit auch zu einer zunehmenden Beherrschbarkeit der Welt führt, sondern womöglich parallel dazu zu immer weniger unvermittelter, unmittelbarer Weltgegenwart und Lebendigkeit, d. h. letztlich zu Weltblindheit und Weltverlust. Mit den Einflüssen und Einwirkungen des Hauptmediums des »druckpapierenen Zeitalters« 1 , dem Buch, ist die Entwicklung und Jean Paul, Die Vorschule der Ästhetik. In: Sämtliche Werke. Abteilung 1, Bd. 5. München, Wien: Hanser, S. 25.
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Heinrich Schwier
Verbreitung der Philosophie bekanntlich eng verbunden. So geht auch die spätestens mit Descartes anhebende, aus dem fundamentalen Zweifel und der Kritik an der Tradition geborene Erkenntnistheorie, die die Seinsphilosophie der Alten abzulösen beginnt und die deshalb nicht ganz zu Unrecht als Gründungsurkunde der Philosophie der Moderne gelten kann, von einer vermittelnden Instanz aus, die die Weltaneignung und -bewältigung leisten muss. Sie setzt sozusagen ein Medium aller Medien voraus, das denkende Subjekt, dem dann konsequenterweise eine Welt der Objekte gegenübergestellt wird, so dass sich jedem Erkenntnistheoretiker in der Nachfolge Descartes’, Lockes und Kants erneut die Aufgabe stellt, sich dem Problem der getrennt gegeneinander stehenden Sphären des Subjektiven und Objektiven zu stellen. Dabei spielt das Subjekt als Vermittlungsinstanz im Anschluss an Descartes eine herausragende Rolle. Johannes Hachmöller zeichnet in seinem Buch »Weltgegenwart und Lebensunruhe« 2 diesen mit Descartes beginnenden, über Locke und Hume, Kant und Schopenhauer bis zu Nietzsche und Rorty führenden Weg der modernen Erkenntnistheorie nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die genannten Positionen sich allesamt auf diese Trennung von subjektiver und objektiver Sphäre als Voraussetzung und den Versuch zurückführen lassen, die getrennten Bereiche zusammenzuführen, wobei sich die Trennungslinie zwischen den Sphären des Subjektiven und Objektiven schlussendlich als unüberbrückbarer Hiatus erweist. Der ergibt sich daraus, dass der moderne Erkenntnistheoretiker, wenn er erst einmal das Sein in zwei Sphären auseinandergesetzt hat, sei er Rationalist wie Descartes oder Empirist wie Locke, zuletzt unausweichlich auf das Subjekt als Vermittlungsinstanz zwischen den gegeneinander stehenden Sphären zurückgeworfen wird, so dass die Welt dem Subjekt immer nur in der Weise erscheinen kann, den es sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihr macht. Zu diesem Ergebnis kommt in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit auch Jochen Hörisch in seinem Buch über die modernen Denkschulen des letzten Halbjahrhunderts: »Darüber, daß die Wirklichkeit, das Reale, kantisch gesprochen: ›das Ding an sich‹, kognitiv und sprachlich nicht erreichbar ist (was nicht heißt, daß es es nicht
Vgl. Johannes Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe. Leibnizianische Studien. Stuttgart: Neske.
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Spiegelscherben des Universums
gibt), herrscht mittlerweile so etwas wie weitgehender Konsens zwischen den Denkschulen.« 3 Hachmöller entwickelt dieses Dilemma anhand der Vorstellung eines »Gehäusemodells« am Beispiel der Erkenntnistheorie des bekanntlich hier weitgehend im Fahrwasser Kants segelnden Arthur Schopenhauer, ein Modell, nach dem man sich das erkennende Subjekt mit seinen Sinnesorganen wie in einem Gehäuse eingesperrt und ganz ohne Kontakt mit der physikalischen Außenwelt denken muss. Was Hörisch in seiner These nur behauptet, lässt sich bei Hachmöller in einer lückenlosen Ableitung nachvollziehen, die zu folgenden folgerichtigen Konsequenzen führt: Eine Theorie, die sich in der gehörigen Strenge an das Gehäusemodell hält, kommt unausweichlich zum Begriff des 1. apathischen, 2. rein cogitativ agierenden, 3. insensiblen, 4. tätigen 5. leib-abgenabelten, 6. wirklichkeitsabgehobenen also in diesem Sinne absoluten Subjekts, das sich die Erscheinungswelt bloß vorstellt, deren Formen und Bewegungsgesetzte es zwar in notwendig wahren Urteilen erkennen und in entsprechenden Sätzen ausdrücken kann; wobei aber von dieser Erscheinungswelt zugleich gesagt werden muß, daß sie mit der tatsächlichen Realität ebensowenig etwas zu tun hat, wie sie den Willen und das lebendige Wesen des erkennenden Individuums etwas angeht. 4
Während Hörisch es jedoch offensichtlich für unumstößlich hält, dass es eine Brücke zwischen der subjektiven und objektiven Sphäre nicht geben kann – er spricht hier ja sogar von einem »Konsens zwischen den Denkschulen« – geht Hachmöller davon aus, dass sich die Unhaltbarkeit einer Theorie, die sich über zwei Jahrhunderte so zäh zu halten vermochte, sehr wohl nachweisen lässt, ohne dabei gleich wieder mit einem allzu voreiligen Nachweis einer adaequatio rei et intellectus in einen naiven Realismus zurückzufallen zu müssen. Dass es dazu auch noch gerade dem vermeintlichen Rationalisten Gottfried Wilhelm Leibniz gelungen sein soll, das Dilemma, das Jochen Hörisch (2004), Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt a. M.: Eichborn, S. 267. 4 Hachmöller (1996): Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 42 (wie in Anm. 2). 3
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sich aus dem »Gehäusemodell« ergibt, endgültig zu überwinden, und das auch noch im Namen einer am Sensualismus orientierten Philosophie, muss gegenüber der Erwartungshaltung einer Gelehrtenwelt, die ihre Denkwerkstatt zudem eher gemütlich mit gewohntem Theoriedesign einzurichten gewohnt ist, auf den ersten Blick unglaubwürdig und wie eine doppelte Provokation erscheinen – wenn es denn überhaupt erscheint. Wie ernst es Hachmöller jedoch mit seiner Aufgabe nimmt, belegt allein die Tatsache, dass er wesentliche Passagen der für seine Überlegungen entscheidenden Leibniz-Texte, hier sind es vor allem der »Discours métaphysique« 5 , die »Monadologie« 6 und die »Principes de la Nature et la Grace, fondés en rasion« 7 , aus dem Französischen neu übersetzt hat, schon um sie vom Schutt einer Übersetzungstradition zu befreien, die augenscheinlich unter dem übermächtigen Einfluss und in Abhängigkeit eines unzulässig vorweggenommenen Transzendentalismus Kants steht. Dabei wird Leibniz zudem überhaupt erst deutlich als der Sensualist und Empirist sichtbar, der nicht nur stur in den Fußstapfen Lockes und der nachfolgenden Empiristen weiterstapft, sondern der eine von den Sinnen ausgehende Ableitung der Erkenntnisfunktionen vornimmt, in der er nicht in die Falle einer vermeintlich unumstößlichen Trennung von Subjekt und Objekt tappt, sondern in der er weitaus strenger und tiefgreifender als die zeitgenössische Philosophie vorgeht, die in den Vorurteilen des »Gehäusemodells« befangen bleibt. Nach Hachmöller illustriert Leibniz die Unhaltbarkeit des »Gehäusemodells« z. B. auch anhand seines berühmten Mühlenexempels, wie es im § 17 seiner »Monadologie« 8 steht. Dazu soll hier zunächst die Übersetzung Hachmöllers zitiert werden: Man muß übrigens notwendig zugestehen, daß die Perzeption und das, was von ihr abhängt, aus mechanischen Gründen, das heißt aus Gestalt und Bewe-
Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (1880), Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. J. Gerhardt. Bd. 4: Philosophische Abhandlungen II. Ohne Überschrift, enthaltend den »Discours métaphysique«, S. 427 ff., künftig zitiert als »Disc«. 6 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (1875), Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. J. Gerhardt. Bd. 6: Philosophische Abhandlungen 1702–1716. Berlin, Nachdruck Hildesheim 1965. Ohne Überschrift. Enthaltend die sogenannte »Monadologie«. 7 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (1875), Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. J. Gerhardt. Bd. 6: Philosophische Abhandlungen 1702–1716. Principes de la Nature et de la Grace, § 3. Berlin, Nachdruck Hildesheim 1965. 8 Vgl. Hachmöller (1996): Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 45 f. (wie in Anm. 2). 5
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gung, nicht erklärbar ist. Denkt man sich etwa eine Maschine, die so konstruiert wäre, daß sie denken, empfinden und perzipieren könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert denken, daß man in sie wie in eine Mühle eintreten kann. Dies vorausgesetzt, wird man bei der Besichtigung ihres Innern nichts weiter als einzelne Teile finden, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre. Also muß man diese in der einfachen Substanz suchen und nicht im Zusammengesetzten und in der Maschine. Auch läßt sich in der einfachen Substanz nichts anderes finden als eben dieses: Perzeptionen und deren Changements. Denn aus diesen Changements können allein die inneren Tätigkeiten der einfachen Substanzen bestehen.
Hachmöller zieht zwei Schlussfolgerungen aus dem berühmt-berüchtigten Mühlenexempel, nämlich dass 1. die Wahrnehmungsund Hirnphysiologen keineswegs auf eine unüberwindliche Schranke stoßen, wenn sie z. B. die Funktionsweise der menschlichen Physis untersuchen, sondern dass sich ihnen ganz im Gegenteil schier unbegrenzte Möglichkeit der empirischen Forschung eröffnen, und dass 2. damit natürlich noch gar nichts darüber ausgesagt ist, was und wie ein Lebewesen perzipiert, d. h. auf welche Weise ein Wesen die Welt wirklich empfindet, wahrnimmt und erkennt. Perzeptionen lassen sich anhand des cartesischen Mechanismus demgemäß eben gerade nicht erklären, und damit auch nicht die wirkliche Natur des Menschen. Damit ist die Hauptaufgabe gestellt, nämlich die, eine vom falschen »Gehäusemodell« befreite Erkenntnistheorie auf eine neue Grundlage zu stellen und auf einen neuen Weg zu bringen. Und folgerichtig beschreitet Hachmöller mit Leibniz einen Weg des erkennenden Menschen in Richtung Wirklichkeit, d. h. zu wirklichen, den Menschen unmittelbar treffenden Weltzuständen, ein Weg, der eben nicht über den menschlichen Intellekt führt, sondern über dessen Sinnlichkeit. Um das Denken auf diese neue Bahn zu lenken, greift Hachmöller mit Leibniz als Ausgangspunkt »auf den Renaissancegedanken von der Wesensgleichheit zwischen Gott und allen Geschöpfen« 9 zurück, um sich »zuerst einen Begriff vom endlichen lebendigen Wesen« 10 zu machen, wobei er zu folgendem Schluss kommt:
Vgl. Disc, S. 427 ff. (wie in Anm. 5). Vgl. Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 182 (wie in Anm. 2).
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»[…] entscheidend ist, daß jedes lebendige Individuum als Quelle einer beschränkten Wirkung den Zustand aller Wirklichkeit beeinflußt, dabei aber in seinem Wirken auch den Bedingungen unterworfen ist, die sich aus dem Universum der Wirkungen ergeben – soweit es eben in seiner beschränkten Weise für diese Wirkungen von Natur aus empfindlich ist. 11
Hier rückt der für Leibniz zentrale Begriff der »Monade« in Gestalt des Individuums als natura naturans, als aktive Selbstmächtigkeit, und auch als natura naturata, als passive Empfindlichkeit, in den Blick, womit das lebendige Wesen unmittelbar als Ursache von Wirkungen auf die Welt angesehen werden kann und umgekehrt genauso unmittelbar zum Schauplatz von Wirkungen der in ständigem Wandel befindlichen Welt wird. Kurz: Lebendige Wesen können nicht nur direkt auf die Wirklichkeit einwirken, sondern sie können und müssen die sich verändernden Weltzustände auch direkt erleiden. Beschränkt sind die Wirkungen, die vom Menschen ausgehen und die, die diesen seinerseits treffen und beeinflussen, in Bezug auf die Unbeschränktheit Gottes bzw. in Bezug auf den Begriff, den sich Leibniz von einem göttlichen Wesen macht, das eben im Gegensatz zum Menschen nicht limitiert ist, sondern als schrankenlos wirkend und schrankenlos empfindend vorgestellt wird. In Hachmöllers Übersetzung fasst Leibniz das Wesen des Menschen anhand seines »Alexanderexempels« 12 wie folgt zusammen: Außerdem kann man, wenn man die (kausale) Verknüpftheit aller Dinge nur richtig betrachtet, durchaus sagen, daß es in der Seele Alexanders zu jedem Zeitpunkt eine Nachwirkung dessen gibt, was ihm je von der Wirklichkeit widerfahren ist, und damit von allem, was im Universum geschieht auch eine Spur in seiner Seele zu finden ist, obgleich es Gott vorbehalten ist, alles »zugleich, vollständig und unmittelbar« zu erkennen. 13
Hachmöller schreibt dazu: Wenn das menschliche Wesen in diesem Sinne als limitierte – aber ins Unendliche gehende – Perzeptionalität gedacht wird, dann wird es natürlich ebensowenig wie das göttliche Wesen als eine autarke, absolute, wirklichkeitsunabhängige und rein cogitative Selbstgenügsamkeit definiert, die alle wahren Sätze als apriorisches Wissen besitzt, das mit den Prädikationen nur noch festgestellt zu werden braucht. 14 11 12 13 14
Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 182 (wie in Anm. 2). Vgl. Disc, S. 433 (wie in Anm. 5). Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 199 (wie in Anm. 2). Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 198 (wie in Anm. 2).
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Auf diese Weise kommt das Lebewesen Mensch eben nicht als denkendes in den Blick, das nur die Größenverhältnisse an den Dingen erkennt, sondern als lebendige Substantialität mit einer aufs Unendliche gehenden Perzeption, die alles, was im Universum geschieht, empfinden und zum Ausdruck bringen kann, so »daß sich ein lebendiges Wesen nur denken läßt, wenn man es mit Leibniz als einen ›miroir vivant, ou doué d’action interne, representatif de l’univers‹ 15 zu begreifen lernt. Sprich als ein agiles Spiegel-Wesen, in dem Alles zur Wirklichkeit kommt, oder besser gesagt: in dem Alles immer schon Wirklichkeit ist.« 16 Nun wird allein der perzipierende Mensch – und gleich auf zweifache Weise und in des Wortes eigentlicher Bedeutung – zum Maß aller Dinge, einmal als unverwechselbares, einzigartiges Individuum, das auf seine ganz ureigene Weise die Weltzustände wirklich und unmittelbar zu spüren bekommt, dann als Ort, an dem potentiell die ganze Wirklichkeit zum Ausdruck kommen kann, so dass sich die Welt mit jedem weiteren Individuum weiter vervielfältigt. Da die einzigartige Individualität der Menschen bedingt, dass die Welt vor einem ins Unendliche gehenden Horizont des Menschen je verschieden erfahren wird, muss eine Verständigung der Menschen zunächst einmal grundsätzlich als ausgeschlossen gelten. Hier bringt Hachmöller Leibniz’ immer wieder missverstandenen Begriff der »prästabilierten Harmonie« ins Spiel, der eben nicht dazu dient, das vermeintliche Dilemma zu überwinden, das sich aus dem »Gehäusemodell« ergibt, nach dem zwischen Subjekt und Objekt eine vermeintlich unaufhebbare Schranke besteht, sondern der begründen soll, dass verschiedene Individuen, die als Einzelwesen jedes für sich eine ins Unendliche reichende Welt bilden, überhaupt zu gemeinsamen Urteilen kommen und zu einer gemeinsamen Sprache finden können. Schlussendlich heißt es folgerichtig zur Bestimmung der Substantialität des Menschen: Nimmt man […] nämlich den Grundsatz von der prinzipiellen Wesensgleichheit aller individuellen Substanzen so ernst, wie Leibniz es verlangt, dann muß man auch das menschliche Wesen zuerst als eine – allerdings limitierte Leibniz (1875), Die Philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. J. Gerhardt. Bd. 6: Philosophische Abhandlungen 1702–1716. Principes de la Nature et de la Grace, § 3. Berlin, Nachdruck Hildesheim 1965, S. 599. 16 Vgl. Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 8 (wie in Anm. 2). 15
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– Empfindlichkeit und Wirksamkeit betrachten, die notwendig und vorgängig auf alles bezogen und durch alles bedingt ist – und eben gerade nicht als ein Bewußtsein oder Denksubjekt, das sich nur durch cogitative Akte a posteriori in ein Verhältnis zur Welt setzten kann. 17
Während folglich bei Descartes das Denken Wahrheit verbürgt, das allein Ausgedehntheiten und Bewegungen feststellt und an Perzeptionen nur sekundäre Eigenschaften erfasst, ist es bei Leibniz genau umgekehrt, denn bei ihm sind allein die sinnlichen Wahrnehmungen wahr, da sie sich notwendig als unmittelbare Einwirkungen der Weltzustände auf den erkennenden Menschen ergeben. Die individuellen Substanzen, die sich notwendig und unmittelbar mit der Welt und ihresgleichen im Austausch, »en rapport«, befinden, d. h. die sich nicht nur als selbstmächtig erweisen, sondern eben auch als notwendig weltabhängig, tun dies demgemäß strikt kausal unter den direkten Bedingungen der Weltereignisse. Diese »zweite Kausalität« unterscheidet Hachmöller mit Leibniz strikt von der »ersten«, die in der Erscheinungswelt herrscht, die das denkende Subjekt sich vorstellt. So können auch nur aus dem Weltgeschehen hervorgehende Empfindungen unmittelbar die Ursache für das Motiv sein, das zur Veränderung der inneren Verfassung des Lebewesens führen kann und eben nicht Objekte, die das Denken sich vorstellt. Das heißt auch, dass nur die Perzeptionen eines Lebewesens notwendig immer wahr sind. Wie die Formen der Perzeptionen sich in den Individuen gestalten, demonstriert Hachmöller an dem von ihm neu übertragenen »Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade« 18 , aus denen hier zitiert wird: In der Natur ist alles erfüllt, und es gibt überall einfache Substanzen, die sich voneinander ›wirklich‹ durch die Art ihrer jeweiligen substantiellen Tätigkeit unterscheiden und die beständig die Qualität ihrer (verschiedenen) ›rapports‹ abwandeln, und jede einfache Substanz oder gegliederte Monade, die ein Gefüge von (elementaren) Substanzen zentriert und deren Einheit konstituiert, ist so von einer Masse oder von einer Unendlichkeit von anderen leiblichen Wesen umgeben, die den Eigenkörper der Monade bilden, so daß sie die verschiedenen Weltbezüge abhängig von den Erregungen (der verschiedenen Empfindlichkeiten) ihres Leibes wie eine Art Zentrum verkörpert. Organisch ist dieser Körper mithin deshalb, weil er eine Art Automat oder natürliche Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 241 (wie in Anm. 2). Vgl. G. W. Leibniz: Principes de la Nature et la Grace, fondés en raison. In: Philosophische Schriften. Hrsg. von C. I. Gerhardt, 1875–1890, VI, S. 598 ff.
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Spiegelscherben des Universums
Maschine ist, die nicht nur als Ganzes eine Maschine ist, sondern vielmehr auch in ihren einfachsten substantiellen Bestandteilen, die sich (als Kräfte in diesem Getriebe) bemerkbar machen können. Und weil wegen der Erfülltheit der Welt alles verknüpft ist und jeder Körper den Zustand jedes andern beeinflußt und umgekehrt von den Gegenreaktionen affiziert [innerlich getroffen und bewegt] wird, und zwar je nach der Größe der Distanz mehr oder weniger, so kommt es, daß jede Monade ein lebendiger Spiegel ist und das Universum gemäß ihrer Sicht darstellt und so von derselben Natur ist wie das Universum selbst […]. 19
Hier wird die Monade eindeutig als ein einfaches, nicht aus Teilen bestehendes, aber gleichwohl vielfach gegliedertes Lebewesen gesehen, das in seiner Substanz leiblich ist und das Zentrum der ins unendliche gehenden Weltbezüge bildet. Das heißt auch, dass das substanzielle Wesen im gegliederten Körper als unteilbare Einheit zu finden ist und keinesfalls als Objekt angesehen werden kann, das dem objektiven Denken als teilbare Ausgedehntheit erscheint. Die Sensibilitäten der in sich gegliederten Monade bilden so »eine in sich differenzierte Empfindlichkeit und Agilität« 20 . Als leibliches, vielgliedriges Gefüge, d. h. als substanzieller Leib beeinflusst jede Monade unmittelbar jede andere und wird von jeder anderen unmittelbar durch die Gegenreaktionen »affiziert«. Auf diese Weise wird die Monade selbst zum unendlichen Universum, in der eine umfassende Empfindlichkeit, die sich in kausaler Abhängigkeit jedes lebendigen Wesens von den Weltzuständen bildet, die Wirklichkeit unmittelbar ausdrückt. Zugleich damit ist diese umfassende Empfindlichkeit auch dem ständigen Wechsel der Weltverhältnisse ausgesetzt, so dass die Perzeptionen ständig »changieren«, und zwar in Richtung auf eine bessere oder schlechtere Verfasstheit. So lässt sich erklären, dass ein Individuum sich je nach dem Weltzustand besser oder schlechter, wohler oder unwohler fühlen kann. In dieser Hinsicht stellt sich das Individuum aber auch als aktives perzeptionales Gefüge dar, das sich als Entelechie ansehen lässt, die von sich aus in ein Verhältnis zu den Weltzuständen kommt, die ihr am besten entsprechen. Der Wechsel (bei Leibniz »changement«) in den Perzeptionen geht notwendig und unmittelbar mit einer Reaktion einher, die das hervorbringt, was wir gemeinhin eine Emotion nennen. Und zusammengenommen ergeben sich diese Vor19 20
Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 279 f. (wie in Anm. 2). Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 280 (wie in Anm. 2).
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Heinrich Schwier
gänge notwendig aus dem Gesetz der substanziellen Kausalität, die jede Perzeption beherrscht. Zu jeder aufs Unendliche gehenden Perzeptionskomponente im substanziellen Gefüge des Individuums muss man somit die Fähigkeit der potentiellen Veränderung ihrer Gestimmtheit durch den Wechsel der Weltzustände hinzudenken, und zwar zum Besseren hin. Die in jeder Perzeption angelegte Spannung und die sich daraus ergebende Tendenz zur Veränderung ihres jeweiligen Wertes zum Besseren hin nennt Hachmöller das »appetitionale Gefälle« der Perzeption. Um diesen Zusammenhang zu veranschaulichen, vergleicht Hachmöller eine Perzeptionskomponente mit einer Uhrfeder: Was es heißt, von dem wechselnden »Wert« ein und derselben Perzeption zu sprechen, kann man demnach auch durchaus plastisch erklären, wenn man sich unter jeder Perzeptionskomponente des substantiellen Gefüges eine vorgängig abgemessene Skala potentieller Abwandelbarkeit vorstellt und wenn man sich die aktuelle Bestimmung durch die wirklichen Zustände als einen Zeiger vorstellt, der auf dieser Skala hin und her wandert. Stellt man sich die appetitionale Grundspannung in jeder Komponente des sustantiellen Gefüges, die die entelechische Dimension des lebendigen Wesens verkörpert, dementsprechend als eine Uhrfeder vor, die sich fortschreitend anspannt, wenn der Zeiger ungüstigere Werte erreicht, und die sich umgekehrt abspannt, wenn dieser günstigere Bedingungen repräsentiert, dann wird begreiflich, daß das perzeptionale System von einer unaufhebbaren Lebens-Unruhe erfüllt sein muß, welche ihren Grund in der Tatsache hat, daß jedes Lebewesen der Kausalität der herrschenden Weltbedingungen nicht nur unterworfen ist wie ein toter Gegenstand, sondern daß jedes lebendige Individuum von Natur aus danach streben muß, möglichst zuträgliche Werte anzustreben und von den weniger zuträglichen wegzukommen. 21
Nach der Bestimmung der Perzeptionen als leibseelische »Empfindlichkeitsdimensionen«, die das Wesen des Individuums konstituieren und die dafür verantwortlich sind, dass die Weltzustände einem Lebewesen überhaupt unmittelbar gegenwärtig werden können und dass umgekehrt das erkennende lebendige Wesen die Weltzustände nicht nur erleiden muss, sondern mit seinen aufs Unendliche gehenden Emotionen und den daraus resultierenden Handlungen darauf reagieren kann und muss, kommt hier der Mensch als ein sensibles, empfindendes, wahrnehmendes und darauf unmittelbar reagierendes, in »unaufhebbarer« Gespannt- und Gestimmtheit befindliches Bün21
Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 316 f. (wie in Anm. 2).
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del von Perzeptionen in den Blick, d. h. einer Gespanntheit, die sich bei sich verschlechternden Lebens- und Weltverhältnissen bis zu Zuständen tiefsten Schmerzes und Leidens vergrößert, die sich jedoch bei sich verbessernden Verhältnissen verringert, so dass sich jedes Lebewesen bis zum Menschen hinauf oder hinab – wie man es sehen will – als »unaufhebbare« Lebensunruhe zeigt, die danach streben muss, möglichst zuträgliche Werte zu erreichen. 22 Der Mensch ist folglich mitnichten in erster Linie ein objektiver Betrachter der Welthändel, sondern zuerst und vor allem ein unmittelbar beteiligter Mitspieler auf der Bühne des Lebens, wie es unvergleichlich Schopenhauer ausspricht, der mit seiner Willensmetaphysik Leibniz nähersteht als er es selbst in seinen Schriften wahrhaben will: Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, – dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. – Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehen in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Ströhmen, Pflanzen, Thieren u. s. f. – Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehn sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes. […] Aber wenn man zu den Resultaten des gepriesenen Werkes fortschreitet, die Spieler betrachtet, die auf der so dauerhaft gezimmerten Bühne agiren, und nun sieht, wie mit der Sensibilität der Schmerz sich einfindet und in dem Maaße, wie jene sich zur Intelligenz entwickelt, steigt, wie sodann, mit dieser gleichen Schritt haltend, Gier und Leiden immer stärker hervortreten und sich steigern, bis zuletzt das Menschenleben keinen andern Stoff darbietet, Bliebe noch die Aufgabe, dem Problem nachzugehen, wie das Denken, ausgehend von den Perzeptionen als den Konstituentien eines Lebewesens, zu sich selbst kommt, will sagen zu einer Theorie des Bewusstseins und damit auch eines objektiven Anschauungsvermögens. Während hier die Cartesianer konstatieren, dass Perzeptionen aus Apperzeptionen hervorgehen und dass das menschliche Wesen in seiner Substanz nichts anderes als Bewusstsein ist, geht Hachmöller mit Leibniz davon aus, dass sich Bewusstsein und damit verbunden die Form des objektiven Anschauungsvermögens aus den Perzeptionen herausheben lassen müssen, ganz nach der Maxime des Aristoteles: »est autem naturale homini ut per sensibilia ad intelligibilia veniat … ; (dt.): Es liegt nämlich in der Natur des Menschen, daß sie von dem, was den Sinnen gegeben, zu geistig einsehbaren Gegenständen kommen.«
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als den zu Tragödien und Komödien, – da wird, wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Hallelujahs anzustimmen. 23
Und obwohl nach Hachmöller Schopenhauer niemals aus dem Gefängnis des »Gehäusemodells« herausgekommen und – wie Schopenhauer selbst zugibt – nie richtig in Leibniz’ Gedankenwelt hineingekommen ist, zeigt sich die Nähe zu Leibniz spätestens dann, wenn er den Willen »im Gegensatz zu dem konstruierten Subjekt der Cogitationen! – von Natur aus und ab origine in einer notwendigen Relation zu den wechselnden Weltzuständen« 24 stehen sieht, deren unmittelbare Einwirkungen auf den Menschen Schopenhauer in seinem finsteren, abgrundtiefen Pessimismus so eindrucksvoll zu schildern versteht. Wer deshalb Genaueres zum Verhältnis von Perzeption und Apperzeption, von Sinnlichkeit und Denken erfahren will, sei auf Hachmöllers Leibnizbuch verwiesen und vor allem auf sein Gespräch mit Platon am wärmenden Herdfeuer Heraklits. 25 Was bleibt an dieser Stelle noch zu sagen? Dass Johannes Hachmöller in seinem Leibnizbuch den Sensualismus vom Kopf auf die Füße stellt? Dass hier der Weg aufgezeigt wird, der »zu einem adäquaten Begriff der Ersten Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen« führt? Dass in dem Buch dem Rationalismus in Gestalt Descartes’ und dem Transzendentalismus in Gestalt Kants und seiner Nachfolger der Todesstoß versetzt wird? Dass die Philosophiegeschichte längst hätte neu geschrieben werden müssen? Geschenkt. Was wirklich bleibt, ist das Glück, dass Hachmöllers Buch auf die Welt gekommen ist, um seinen Lesern zu vermitteln, wer wir in der Welt sind. Am Ende soll Leibniz’ Bild vom »lebendige[n] Spiegel des Universums« noch einmal aufgenommen werden und ihm ein Wort Herders an die Seite gestellt werden, das zwei bemerkenswerte Individuen, Herder und auch seinen Freund Goethe, nicht nur als große Leibnizianer identifiziert, sondern das auch handgreiflich aufzeigt,
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Zürich: Diogenes, S. 680 f. 24 Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 41 (wie in Anm. 2). 25 Vgl. Johannes Hachmöller (2015), Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. Würzburg: Ergon. 23
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wie eine große Emotion, und sei es ohnmächtiger Zorn, große Prosa hervorbringen kann: Hole der Henker den Gott [gemeint ist Freund Goethe: Anm. d. Verf.], um den alles rings umher eine Fratze sein soll, die er nach seinem Gefallen brauchet; oder gelinder zu sagen, ich drücke mich weg von dem großen Künstler, dem einzigen rückstrahlenden All im All der Natur, der auch seine Freunde und was ihm vorkommt, bloß als Papier ansieht, auf welches er schreibt, oder als Farbe des Paletts, mit dem er malet. […] Gott sei Lob und Dank, daß er mich nicht zu einem so hellstrahlenden Spiegel des Universums gemacht hat; ich mag gern eine dunkle Scherbe bleiben.
Abgesehen davon, dass der hier wild aufbrausende Herder mit Goethes vermeintlich größerem Talent, größeren Ruhm und größerem Selbstwertgefühl haderte, scheinen mir – im Vergleich zu Leibniz’ Vorstellung vom Menschen – Schopenhauers düsteres Menschenbild und Herders Metapher von der »dunkl[en] [Spiegel]Scherbe« schon deshalb bescheiden-angemessener, weil die Weltzustände und die damit unmittelbar verbundene Verfasstheit der Menschen das nahelegen und weil zur »dunkl[en] Scherbe« Mensch der Scherben-Haufen Menschheit so gut passt, aber auch deshalb, weil Jean Paul, Herders Freund und Meisterschüler, das Wort von der »Scherbe« aufnehmen wird, dieses Mal aber nicht, um in durchaus berechtigte wie verzweifelnde Melancholie zu verfallen, sondern um die überdauernde Kraft des Geistes in schlimmen Zeiten zu beschwören und zu feiern, auch den Trost, den ein großes Buch wie Hachmöllers »Weltgegenwart und Lebensunruhe« bescheren kann: Wahrlich nur die Bücherläden sind die Kasematten der Zeit. Ohne Bücher wäre die verdorbne Welt […] zugleich eine verlorne Welt; eine gerichtete ohne Auferstehung. […] zerstückt jedes Buch sogar mit dem, der es hinstellt, um darin die Geistersonne, die Freiheit im Aufgang zu zeigen: nun glänzt die Sonne nicht mehr aus einem Spiegel, sondern neu aus jeder Scherbe des Zertrümmerten.
In die Ferne Dank. Aus der Nähe. Von Herzen.
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»Das geblendete Kamera-Subjekt«
»Unsere Seele hat keine Fenster; das bedeutet In-der-Weltsein –« (Maurice Merleau-Ponty) 1 »Die Monaden sind als Ausblitzungen der Ur-Monade bleibend Strahlungszentren, in denen alle Weltlinien zusammenlaufen. Deshalb haben sie auch keine Fenster: sie sind solche.« (Wolfram Hogrebe) 2
I.
Das »Gehäusemodell«
Claude Shannon, der Vater der modernen Informationstheorie und der digitalen Codierung, liebte bizarre Maschinen, die nicht ohne diagnostische Klarsicht waren. Man erzählt sich von seiner »ultimativen Maschine«, die aus einem kofferähnlichen Kasten mit einem großen Schalter an der Vorderseite besteht. Dieser Schalter hat einen enormen Aufforderungscharakter für die, welche den Raum ihrer Residenz betreten. Sie betätigen diesen Schalter. Sodann öffnet sich der Deckel des Kastens. Eine mechanische Hand taucht auf, legt den Schalter wieder um und verschwindet. Der Kasten bietet sich dar wie zuvor. Die einzige Funktion dieser Maschine besteht darin, ihren Mechanismus abzustellen. Der Schalter macht die Menschen zu Komplizen einer Verweigerung, mehr und anderes als ein bloßer Mechanismus zu sein. Die Maschine ist nur eine Maschine, die angeschaltet wird und die sich ausschaltet. Ist sie vielleicht ein Musterfall einer selbstbestimmten 1 Maurice Merleau-Ponty (20043 [1964]), Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen v. Claude Lefort. Übersetzt v. Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München: Fink, S. 283. 2 Wolfram Hogrebe (2013), Der implizite Mensch. Berlin: Akademie, S. 10, Anm. 7.
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Maschine? Vor allem aber ist sie das Paradebeispiel für einen extrem verarmten oder abstrakten Weltkontakt. Ihre Funktion besteht einzig und allein darin, ihr Gehäuse geschlossen zu halten. Diese Weltblindheit ist heute unser Problem. Wir sind in eine elementare Unfruchtbarkeit verstrickt, weil wir die Anstöße unserer Welt nicht empfangen können oder wollen. Wir haben eine Vorliebe, unsere Wahrnehmungen als eine abstrakte, asketische, unbeteiligte Informationsverarbeitung von Nervenimpulsen durch unser Gehirn zu beschreiben. Unsere Seele hat im Unterschied zu den Monaden von Leibniz Fenster, die wir von innen schließen wie die »ultimative Maschine« von Claude Shannon. Dabei steht in ihrem Zentrum die Hand, wenn auch keine menschliche. Die menschliche Hand, die begreifen kann und deshalb ein Weltverhältnis besonderer Art symbolisiert, wird hier zum Komplizen einer Weltblindheit, durch welche der pathische Weltbezug in reiner, interesseloser Aktivität verschwindet. Shannons »ultimative Maschine« versinnbildlicht ein »Gehäusemodell« 3 des Weltentzugs, eine folgenreiche Apathie, welche dem Subjekt der Erkenntnis alle Stiftungsmacht auf Kosten seiner sensiblen Leiblichkeit garantiert. Nicht die Hand, sondern das Auge übernimmt das Regiment, wenngleich es zu Beginn noch auf das Tasten angewiesen bleibt. Ein Stadium in der Entwicklung des »geblendeten Kamerasubjekts« 4 ist nämlich der blinde Seher, dem René Descartes in seiner Abhandlung über den Menschen 5 und seiner »Dioptrique« 6 ein Denkmal setzt.
Johannes Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe. Leibnizianische Studien. Stuttgart: Neske, S. 124. In den vorliegenden Überlegungen geht es ausschließlich um Hachmöllers durch Leibniz inspirierte Kritik am »Gehäusemodell« der Weltbegegnung. Seine kritischen Analysen unterschiedlicher Positionen werden zwar beachtet, aber nicht diskutiert. 4 Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 124 (wie in Anm. 3). 5 René Descartes (2015[1677]), Die Welt. Abhandlung über das Licht. Der Mensch. Französisch – Deutsch. Übersetzt und kommentiert v. Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, S. 173–327. 6 René Descartes (2013[1637]), Die Dioptrik. In: Ders.: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. Übersetzt und hrsg. v. Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, S. 69–193. 3
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II.
Der blinde Seher
Descartes gebührt das Verdienst, in bester Philosophentradition, eine Frage aufgeworfen zu haben, die den meisten ihrer Antworten voraus ist und bis heute nicht aufgehört hat, für Unruhe zu sorgen. Denn es bleibt ja dabei: Das Gehirn ist zu allererst eine Apparatur zur Verdoppelung der äußeren Welt. Ob nun Camera obscura, Rechenzentrum oder Neuronengenerator – etwas geht darin um, das mehr ist als das bloße Zusammenspiel einzelner Areale. 7
Für dieses Mehr steht auch das Wort Geist. Was aber der Geist genau ist, wie ihm das »wunderbare Bewußthaben eines so und so gegebenen Bestimmten oder Bestimmbaren […], das dem Bewußtsein selbst ein Gegenüber, ein prinzipiell Anderes, Irreelles, Transzendentes ist,« 8 gelingt – das wissen wir heute so wenig wie Descartes zu seiner Zeit. Für Kant »bleibt es [daher] immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben) bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können.« 9 Heidegger setzt in Sein und Zeit dagegen, dass das Grundärgernis der Philosophie gerade darin bestehe, einen solchen Beweis einzufordern. Fraglich sei doch, »warum das Dasein als In-der-Welt-sein die Tendenz hat, die ›Außenwelt‹ zunächst ›erkenntnistheoretisch‹ in Nichtigkeit zu begraben, um sie dann erst durch Beweise auferstehen zu lassen.« 10 Nachdem die Dinge durch Entzauberung in die Tiefe des Schweigens versetzt worden sind, können sie sich als »Rätselgestalten« wieder ins Spiel bringen, und zwar angesichts der Erfahrung, dass ihr Widerstand durch begriffliche Register zwar für ein Denken in gnadenloser Klarheit gebrochen ist, dass ihre Widersetzlichkeit im konkreten Handeln in der Lebenswelt jedoch unausweichlich fungiert. Das KonDurs Grünbein (2008), Der cartesische Taucher. Drei Meditationen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 72. 8 Edmund Husserl (1950), Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana Bd. 3. Hrsg. v. Walter Biemel. Den Haag: Nijhoff, S. 204. 9 Immanuel Kant (1983[1781/1787]), Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 3. Darmstadt: WBG, B XXXIX (Anmerkung). 10 Martin Heidegger (1976), Sein und Zeit. In: Ders.: Gesamtausgabe 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970, Bd. 2. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M.: Klostermann, S. 273. 7
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zept eines »subjektiven Gehäuses« setzt die »Wirklichkeit zuerst in Subjekt und Objekt auseinander […], um sodann zu fragen, wie die gedachten Sphären im Empfinden und Denken wieder miteinander vermittelt werden können.« 11 Welt wird »erst unter Ausschluss derselben wahrhaft erkannt«. 12 Diese paradoxe Figur beherrscht Descartes’ Neubegründung des Erkennens, aber auch seine Theorie des Sehens. Erst wenn Wahrnehmen als Urteilen gestellt worden ist, büßen Täuschungen und Zweifel ihre beunruhigende Macht ein. Der Ausgangspunkt des Weges zu einem unerschütterlichen Fundament des Erkennens darf von keinem überlieferten Wissen beleuchtet und von keiner sinnlichen Irritation bestimmt sein. Am Anfang steht daher eine Resolution, ein Entschluss: Ich entschloß mich aber, wie ein Mensch, der sich allein und in der Dunkelheit bewegt, so langsam zu gehen und in allem so umsichtig zu sein, daß ich, sollte ich auch nicht weit kommen, mich doch wenigstens davor hütete, zu fallen. 13
In der Dunkelheit des Zuschauerraums ist er davor geschützt, zum Mitspieler des Spektakels zu werden. 14 Zweifelsfreie Erkenntnis verdankt sich nicht der sinnlichen Wahrnehmung, die täuschen kann, wie das Illusionstheater des Barock unermüdlich vor Augen führt. 15 In einem Augenblick, in dem Descartes beinahe meint, das Wachs, das vor seinen Augen schmilzt, doch gesehen zu haben, fällt sein Blick zufällig aus dem Fenster, und er sieht »Menschen auf der Straße vorübergehen, von denen ich [scil. Descartes] ebenfalls, genau wie vom Wachse, gewohnt bin zu sagen: ich sehe sie, und doch sehe ich nichts als die Hüte und Kleider, unter denen sich ja Automaten verbergen könnten! Ich urteile aber, daß es Menschen sind.« 16 Zu glauben, wahrnehmen zu können, ist eine Gewohnheit, aber keine Erkenntnis des Sehvermögens. Es überrascht dann nicht, dass sich Descartes zu dessen Erklärung wieder in die Dunkelheit begibt Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 324 (wie in Anm. 3). Jan Lazardzig (2007), Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin: Akademie, S. 147. 13 René Descartes (1969[1637]), Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Übersetzt und hrsg. v. Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner, S. 27. 14 Vgl. Descartes (1969[1637]), Discours de la Méthode, S. 47 (wie in Anm. 13). 15 Vgl. Lazardzig (2007), Theatermaschine, S. 190 ff. (wie in Anm. 12). 16 René Descartes (1977[1641]), Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgaben v. Artur Buchenau neu hrsg. v. Lüder Gäbe. Durchgesehen von Hans Günter Zekl. Hamburg: Meiner, S. 57. 11 12
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und für das Verständnis des Sehens nicht mit dem Sehen selbst, sondern mit dem Tasten beginnt. Dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass nicht der Körper, sondern die Seele empfindet. 17 Über die Vermittlung durch die Nerven geraten die Empfindungen ins Gehirn und damit zur Seele. Das Auge selbst ist ein Instrument und funktioniert wie eine camera obscura: »Die Bilder, die durch eine Glaslinse in einer dunklen Kammer erscheinen, formen sich dort genauso wie im Auge; […].« 18 Es entstehen Netzhautbilder. Diese sind vergleichbar mit den Bildern, die in einer Kammer erscheinen, die ganz geschlossen ist, ausgenommen ein einziges Loch, auf das man ein Glas mit der Form einer Linse gesetzt hat. Spannt man in einem gewissen Abstand dahinter ein weißes Laken auf, formt das von den Objekten von außerhalb kommende Licht auf dem Laken solche Bilder. Diese Kammer stellt […] das Auge dar, das Loch die Pupille, das Glas den kristallinen Saft, oder vielmehr all jene Bestandteile des Auges, die eine Brechung verursachen, […]. 19
Leicht ließe sich das Loch auch mit dem Auge eines Toten oder eines Ochsen ersetzen, um seine Funktionsweise zu studieren. 20 Dieses »amputierte […] Zyklopenauge« 21 steht für ein asketisches Sehen, das genau zu berechnen und durch optische Instrumente wie die Floh- oder Sonnenbrille und das Fernrohr zu optimieren ist. Sehen bedeutet nicht länger im Sinne eines Empfangsmodells die Übermittlung von Bildern an das Gehirn. Es entsteht durch die Bewegungen der optischen Nerven, die berührt werden. Das zeigt sich am Gebrauch der Stöcke durch den Blinden, der dem »Spuk des Sichtbaren« 22 nicht ausgesetzt ist. Die Kontakte mit Körpern und Dingen verändern die in der Hand eingebetteten Nerven. Diese Bewegung wird an das Gehirn weitergeleitet, von dem dann wiederum die Seele unterrichtet wird. Die Tasterfahrung des Blinden erklärt auch, warum wir keine Doppelbilder empfangen, obgleich wir zwei Augen haben;
Descartes (2013[1637]), Die Dioptrik, S. 94 (wie in Anm. 6). Descartes (2013[1637]), Die Dioptrik, S. 106 (wie in Anm. 6). 19 Descartes (2013[1637]), Die Dioptrik, S. 98 (wie in Anm. 6). 20 Vgl. Descartes(2013[1637]), Die Dioptrik, S. 99 (wie in Anm. 6). 21 Vgl. Jonathan Crary (1996), Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Übers. v. Anne Vonderstein. Dresden/Basel: Verlag der Kunst, S. 57. 22 Maurice Merleau-Ponty (1984[1960]), Das Auge und der Geist. In: Ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hrsg. und übersetzt v. Hans Werner Arndt. Hamburg: Meiner, S. 13–43, hier: S. 23. 17 18
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denn der Blinde fühlt einen Körper, den er betastet, nicht doppelt. 23 Auch vertauscht er die Seiten nicht, wenn sich seine Stöcke überkreuzen, was erklären soll, dass wir das verkehrte Netzhautbild aufrecht sehen. Letztlich ist diese Möglichkeit dem sensus communis zu verdanken, der seinen Sitz in der berühmten »glande« im Inneren des Gehirns hat und dafür sorgt, dass die Nervenreizungen koordiniert und die Lebensgeister für ihre unterschiedlichen Aufgaben instruiert werden. Descartes schildert das Auge als offenen Korpus mit einem ›Wandbehang‹ im Inneren, einem Wohn- oder theatralen Requisit, das zugleich als Projektionsfläche für die Bilder dient, die in nächster Instanz an die Zirbeldrüse als Koordinator weitergereicht werden. […] Auf das Projektionsbild im Rückraum des Auges schauend wird daraus ein Sehmodell: Hinter einem Auge wird nun der Betrachter postiert, der gleichsam durch einen vorgelagerten Raum blickt und sich damit zum maschinellen Augenfortsatz macht. 24
Die camera obscura bietet einen Blickwinkel, den jeder einnehmen kann. Die Bilder auf der Leinwand haben der konkreten Sinneswahrnehmung den Rang abgelaufen. Der Wirklichkeit wird buchstäblich der Rücken gekehrt. Descartes formte das Wahrnehmen in ein Denken um. Sehen, das sich als Denken imaginiert, dient nach ihm als Vorbild des Erkennens. Ihm verdankt die Lichtmetaphorik der Vernunft ihre Präzision und die Theorie ihr Ansehen. »Nicht nur hat der Gesichtssinn vorzugsweise die Analogien für den intellektuellen Überbau geliefert, er hat auch weithin als das Modell der Wahrnehmung überhaupt und damit als Maßstab für die anderen Sinne gedient.« 25
III. Kamerasubjekte Als Freud sich nach einem Modell für den psychischen Apparat umschaute, war es bereits selbstverständlich geworden, das Sehen im Sinne optischer Instrumente zu modellieren. Am 20. Oktober 1895 Descartes kannte allerdings auch die Tasttäuschung durch die überkreuzten Finger. Vgl. Descartes, Die Dioptrik, S. 119 (wie in Anm. 6). 24 Ralph Köhnen (2009), Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens. München: Fink, S. 194 f. 25 Hans Jonas (1973), Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne. In: Ders: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 198–225, hier: S. 198. 23
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schreibt er an Wilhelm Fließ, dass er trotz erheblicher Schmerzen einen Durchbruch geschafft habe, nämlich den Zusammenhang zwischen »Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins [durchschaut zu haben].« Enthusiastisch notiert er: »Es schien alles ineinanderzugreifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen.« 26 Aber es ist eben doch nur ein Eindruck. Freud beging nicht den Fehler, den von ihm gebrauchten Ausdruck »psychischer Apparat« wörtlich zu nehmen und ihn mit wirklichen Maschinen zu verwechseln. »Wir wollen«, so hebt er hervor, ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl. Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines solchen Apparates, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt. Beim Mikroskop und Fernrohr sind dies bekanntlich zum Teil ideelle Örtlichkeiten, Gegenden, in denen kein greifbarer Bestandteil des Apparats gelegen ist. 27
Freuds Suche nach Modellen des psychischen Apparats ist tief verwurzelt in einer Tradition, in welcher der »Adel des Sehens« 28 herrscht. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, für das Bewusstseinssystem nach anderen Vergleichen Ausschau zu halten. Erst das Es lässt sich nicht mit dem geordneten, kalkulierbaren Strahlengang des Lichts veranschaulichen. In ihm herrscht Chaos, Richtungs- und Zeitlosigkeit. »Wir nähern uns [daher] dem Es mit [anderen] Vergleichen«, so räumt Freud ein, »nennen es Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen.« 29 Die Dampfmaschinen seiner Zeit waren dieser Instanz ähnlicher als jedes Fernrohr oder jeder Fotoapparat. Grundsätzliche Auswirkungen auf den gesamten psychischen AppaSigmund Freud (1986), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hrsg. v. Jeffrey Moussaieff Masson. Bearbeitung der deutschen Fassung von Michael Schröter. Transkription v. Gerhard Fichtner. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 149. 27 Sigmund Freud (1961[1900]), Die Traumdeutung. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 437. 28 Vgl. Jonas (1973), Der Adel des Sehens (wie in Anm. 25). 29 Sigmund Freud (1978), Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 63. 26
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rat hatte diese Einsicht jedoch nicht. Das Auge bleibt ohne Konkurrenz. Die entscheidende Familienähnlichkeit zwischen dem Mikroskop und dem psychischen Apparat besteht darin, dass die psychische Lokalität der ideellen Örtlichkeit im System entspricht. Das virtuelle Bild in einem optischen System wird nur vom Auge gesehen, lässt sich aber nicht auf einem Schirm abbilden oder gar fotografieren. Es ist also merkwürdigerweise gegeben, ohne wirklich da zu sein. Freud erläutert: »Diese Gleichnisse sollen uns nur bei einem Versuch unterstützen, der es unternimmt, uns die Komplikation der psychischen Leistung verständlich zu machen, indem wir diese Leistung zerlegen und die Einzelleistung den einzelnen Bestandteilen des Apparats zuweisen.« 30 Unsere Psyche funktioniert wie ein optisches Instrument. Dabei handelt es sich nicht um eine harmlose Veranschaulichung. Die optischen Geräte fungieren vielmehr »als Schauplätze des Wissens und der Macht, die unmittelbar auf den Körper des Individuums einwirken.« 31 Die camera obscura ermöglicht andere Ordnungen des Sichtbaren als später der Fotoapparat, der Bilder dadurch produziert, dass chemische Stoffe auf lichtempfindliche Flächen treffen, die Realität buchstäblich Spuren hinterlässt. Im Vergleich zu überlieferten optischen Geräten wechselt der Betrachter hier seinen Standort. Er bewegt sich aus dem Inneren der Kammer an deren Außenseite. Er wird zur Applikation. Die Verfahren der Subjektivierung unterscheiden sich daher deutlich voneinander. Während die camera obscura die Subjektivität des Sehens und damit auch den Leib des Betrachters zugunsten einer wahren Wirklichkeit für einen rationalen Betrachter herunterspielt, gewinnt das Kamerasubjekt im Fotografieren an Bedeutung. Die camera obscura garantierte die sichtbare Wahrheit und situierte das Sehen in verlässlichen Bezügen, vor allem in der Differenz von Innen und Außen. Im 19. Jahrhundert schwindet das Vertrauen, »wahrheitsgetreu sehen zu können« 32 . Man schauderte sich vor artifiziellen Bildern im Bühnenzauber, davor etwa, dass man mit der laterna magica den »Teufel an die Wand malen« 33 konnte. Nichts verbürgt beim Stereoskop, das räumliches Sehen simuliert, oder beim
Freud (1961[1900]), Die Traumdeutung, S. 437 (wie in Anm. 27). Crary (1996), Techniken des Betrachters, S. 19 (wie in Anm. 21). 32 Crary (1996), Techniken des Betrachters, S. 43 (wie in Anm. 21). 33 Hans Belting (3 2009), Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: Beck, S. 142. 30 31
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Fotoapparat, der den Bildern Bestand verleiht, den Zugang zur Wirklichkeit. Diese wird nur durch die technische Vorrichtung hervorgebracht. Nachdem die camera obscura seit dem 17. Jahrhundert maßgebend für das Verstehen von Auge und Geist, also wichtigen Weisen der Weltzuwendung, war, kommt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer »Neubewertung der visuellen Erfahrung: Man spricht ihr eine beispiellose Mobilität und Austauschbarkeit zu und löst sie aus allen festen Bezugspunkten und Orten.« 34 Immer mehr rückt die Frage nach der Physiologie des binokularen Sehens in den Mittelpunkt. Sinneseindrücke und Stimuli beherrschen das Feld. Das menschliche Sehen wird messbar und deswegen auch austauschbar. Damit einher geht die Trennung von Tasten und Sehen, für welche das damals weit verbreitete Stereoskop symptomatisch ist. Es verursachte das Empfinden einer Raumtiefe nicht länger durch eine Erfahrung der Berührung, sondern durch die versetzte Anordnung von Bildern. »Das Stereoskop als Mittel der Repräsentation war inhärent obszön, und zwar im ursprünglichen Sinne des Wortes. Es zerstörte den szenischen Bezug zwischen Betrachter und Objekt, der für die grundlegend theatralische Anordnung der Camera obscura noch charakteristisch war.« 35
IV. Die Falten der Seele Für Leibniz war die camera obscura Anregung und Stein des Anstoßes. Der Verlust einer privilegierten Perspektive wird für ihn zum Problem. [Er] setzte sich zum Ziel, die Gültigkeit universeller Wahrheit mit der unausweichlichen Tatsache zu versöhnen, daß die Welt aus vielfältigen und verschiedenen Standpunkten besteht. Die Monade stand bei Leibniz für eine fragmentarisierte Welt, die nicht mehr Zentrum des Weltalls war, für das Fehlen eines allwissenden Standpunktes, für die Tatsache, daß jeder Standpunkt eine fundamentale Relativität miteinschloß, […]. 36
Leibniz schlägt sich weder nur auf die Seite der Mathematik, die er mit seinen genialen Entdeckungen bereicherte, noch lediglich auf die 34 35 36
Crary (1996), Techniken des Betrachters, S. 25 (wie in Anm. 21). Crary (1996), Techniken des Betrachters, S. 131 (wie in Anm. 21). Crary (1996), Techniken des Betrachters, S. 58 (wie in Anm. 21).
48 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
»Das geblendete Kamera-Subjekt«
Seite der Sinnlichkeit, deren Empfänglichkeit für die Welt für ihn unentbehrlich ist. Er bekämpft die Apathie des cartesischen Subjekts und ist feuriger Anwalt der »kleinen Perzeptionen«, der ungeordneten Affektionen, Eindrücke und Wahrnehmungen, deren man sich ja nur deshalb bewusst werden kann, weil sie vor dem Bewusstsein da waren. 37 Er scheut sich nicht, von den geschaffenen Monaden als »unkörperliche Automaten« 38 oder von einer »göttlichen Maschine« 39 zu sprechen. Gleichwohl weiß er um die Grenzen mechanischer Erklärung des Lebendigen. Die Perzeption ist nämlich nicht mechanisch zu erklären, wie er in seinem berühmten Mühlengleichnis demonstriert: Gesetzt, man könne in eine Maschine wie in eine Mühle eintreten, deren Konstruktion bewirke, dass wir denken, fühlen und wahrnehmen, so fände man zwar Teile, die einander stoßen, aber »niemals etwas, das eine Perzeption erklären möchte.« 40 Überdies sind die »natürlichen Automaten« im Unterschied zu den »künstlichen Automaten« »noch im kleinsten ihrer Teile bis ins Unendliche Maschinen. Das macht den Unterschied zwischen Natur und Kunst, das heißt zwischen der göttlichen Kunst und unserer aus.« 41 Auch, was die camera obscura im Sinne John Lockes anbelangt, kann Leibniz ihr Entscheidendes abgewinnen, sie aber nicht unverändert lassen. Er lässt Philalethes als Sprachrohr Lockes in einem Disput über komplexe Ideen Folgendes sagen: Der Verstand gleicht einigermaßen einem ganz dunklen Zimmer, das nur einige kleine Öffnungen hat, um von außen die Bilder der äußeren sichtbaren Dinge einzulassen. Könnten die Bilder, die sich in diesem dunklen Zimmer abbilden, dort bleiben und in Ordnung aufgestellt werden, so daß man sie gelegentlich wiederfinden könnte, so bestünde zwischen diesem Zimmer und dem menschlichen Verstande eine große Ähnlichkeit. 42
37 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (19862 [1714]), Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hrsg. und übersetzt v. Hans Heinz Holz. Bd. 1 Frankfurt a. M.: Insel, S. 439–483, hier. S. 449. 38 Leibniz (19862 [1714]), Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie, S. 447 (wie in Anm. 37). 39 Leibniz (19862 [1714]), Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie, S. 469 (wie in Anm. 37). 40 Leibniz (19862 [1714]), Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie, S. 447 (wie in Anm. 37). 41 Leibniz (19862 [1714]), Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie, S. 447 (wie in Anm. 37). 42 Gottfried Wilhelm Leibniz (1971[1765]), Neue Abhandlungen über den mensch-
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Käte Meyer-Drawe
Theophilus, hinter dem sich wohl Leibniz als Dialogpartner verbirgt, stimmt dem grundsätzlich zu, führt aber eine entscheidende Modifikation ein: Um die Ähnlichkeit noch zu vergrößern, müßte man annehmen, daß in dem dunklen Zimmer eine Leinwand ausgespannt wäre, um die Bilder aufzunehmen, daß diese Leinwand aber keine ganz ebene Fläche bildete, sondern durch Falten (die die eingeborenen Erkenntnisse darstellen würden) unterbrochen wäre: daß weiter diese Leinwand oder Membran, wenn man sie spannt, eine Art Elastizität oder Wirkungskraft besäße, ja daß sie eine Tätigkeit oder Reaktion auszuüben vermöchte, die sowohl den älteren Falten als den neueren, die aus dem Eindruck der Bilder von außen stammen, angepaßt wäre. 43
Nur so kann verständlich werden, dass wir nicht nur Bilder empfangen, sondern auch neue hervorbringen, also pathisch und agil zugleich sind. Die Vielfältigkeit verwirklicht sich in Resonanzen auf Empfangenes, die umgekehrt Wirkungen auf unsere Beziehungen zur Welt zur Folge haben. Im Bild der Falte werden überlieferte Dualismen unterlaufen, die im Gegenüber von Welt und Betrachter nisten, wie es die camera obscura malt. »Tuchfalten sind Stoff, der über sich selbst nachdenkt. Unter seinem eigenen Druck, durch Schub oder Zug wird Stoff zur Topografie. Stoff, der sich einwärts kehrt, blickt einem Teil seiner selbst entgegen und sieht Innen als Außen.« 44 Die Monade »besitzt das universale Wissen bereits in eingefalteter Form.« 45 Um dieses entfalten, das Implizite explizit machen zu können, bedarf es der sinnlichen Anstöße. Die Seele tritt in Erscheinung als »das Prinzip der Empfänglichkeit für die Macht der Weltzustände«. 46 Wie wichtig Leibniz diese Provokationen der Sinnlichkeit waren, wird insbesondere aus seinen Notizen ersichtlich, die er sich unter dem Titel »Drôle de pensée« während seines Pariser Auflichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, S. 126. 43 Leibniz (1971[1765]), Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 126 (wie in Anm. 42). 44 Teju Cole (2018), Blinder Fleck. Übersetzt v. Uda Strätling. Berlin: Carl Hanser, S. 24. Zur Rolle der Falte im Barock und insbesondere im Denken von Leibniz vgl. Gilles Deleuze (1995), Die Falte. Leibniz und der Barock. Übersetzt v. Ulrich Johannes Schneider. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 45 Horst Bredekamp (2003), Kunstkammer, Spielpalast, Schattentheater: Drei Denkorte von Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hrsg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig. Berlin/New York: de Gruyter, S. 265–281, hier: S. 279. 46 Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 66 (wie in Anm. 3).
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enthalts von 1672 bis 1676 macht. Bredekamp übersetzt den Titel mit »Gedankenscherz« 47 . Wir finden hier eine kaum überschaubare Menge an Geistesblitzen im Hinblick auf ein umfassendes »Theater der Natur und der Kunst«. Es wimmelt von Ausstellungsstücken, welche die Sinne anregen sollen. Dabei ist an alles gedacht: an die Geldgeber, die Organisatoren, die Experten, welche die Exponate wie die laterna magica, Feuerwerke und Wasserspiele, Schiffe, Pflanzen und Tiere, aber auch einen »königliche[n] Pferderenn-Automat [en]« 48 herstellen. Aus Holz gefertigte Festungen sollten ebenso präsentiert werden wie nachgestellte Kriege und Seeschlachten. Konzerte sind genauso berücksichtigt wie Komödien, Seiltänzer, die Jagd, Rechenmaschinen, physikalische Experimente und Schausteller mit ihren Zaubertricks. Die lebendige Verwicklung von Allwissenheit und Perspektivität ist in den natürlichen und künstlichen Gegebenheiten verkörpert. Das Subjekt wird nicht als omnipotenter Sinnstifter oder »Meister und Eigentümer der Natur« im Sinne Descartes’ konzipiert. 49 Es fungiert als Adressat. 50 Leibniz findet kein Ende bei seiner Ausstattung dieses umfassenden Weltenkabinetts und Sinnenspektakels. Schließlich entwirft er einen Spielpalast mitsamt fälschungssicherem Spielgeld. Sogar eine Abhöranlage ist vorgesehen, eine »Art politischer Beichtstuhl« 51 . Ohne Grenzen ist dieser Vergnügungspalast allerdings nicht gedacht. Fluchen und Gotteslästerung sind verpönt und haben ein Eintrittsverbot zur Folge. Auch die Konsequenzen der Falschspielerei werden problematisiert. Es ist ein Vergnügen, sich den Einfällen von Leibniz hinzugeben. Aber alle diese Anstöße vermögen der impliziten Allwissenheit 52 nicht zu ihrer vollständigen Entfaltung zu verhelfen. Die geschaffene Monade bleibt im Unterschied zur göttlichen limitiert. »Jedes explizite Erkennen bleibt für uns ein Erkennen unter dem unabsehbaren Risiko eines impliziten, das für uns ein epistemisches Hintergrundrauschen bleibt, Horst Bredekamp (2004), Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin: Akademie, S. 45 und S. 237. In diesem Buch finden wir auch auf S. 237–246 die deutsche Übersetzung des »Drôle de pensée« von Horst Bredekamp. 48 Bredekamp (2004), Die Fenster der Monade, S. 238 (wie in Anm. 47). 49 Descartes (1969[1637]), Discours de la Méthode, S. 101 (wie in Anm. 13). 50 Vgl. Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 122 (wie in Anm. 3). 51 Bredekamp (2004), Die Fenster der Monade, S. 244 (wie in Anm. 47). 52 Vgl. Hogrebe (2013), Der implizite Mensch, S. 9 (wie in Anm. 2). 47
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ja bleiben muss.« 53 Es gleicht darin dem Meeresrauschen, das zwar aus dem Klang einzelner Wellen besteht, die ich aber bei meinem Spaziergang am Strand nicht unterscheiden kann. 54 In seiner Hervorhebung der Bedeutsamkeit vorreflexiver, verworrener und unbestimmter Weisen der Weltgewahrung wird Leibniz zum »Urvater einer erklärenden Theorie des puren Bemerkens.« 55 Indem er die Sinne in ihrem Eigensinn als Zeugen eines unhintergehbaren Weltkontakts anerkennt, durchbricht Leibniz das Gehäuse rationaler Subjektivität, kämpft gegen ihre »Blenden« 56 , die Fremdregulierungen ihrer Belichtungen, sowie ihre Verblendungen und macht das semantisch Vage »salonfähig«, »d. h. das Mobiliar der semantischen Unterwelt […] [wäre] daraufhin zu prüfen, ob es einer eigenen Perfektibilität fähig ist, die von bloßer Konfusion ebenso weit entfernt ist, wie die Wahrheit klarer Sätze von ihrer Falschheit.« 57 Die Falten der Seele bekunden wie die Falten im Gesicht, dass man »das menschliche Wesen zuerst als eine – allerdings limitierte – Empfindlichkeit und Wirksamkeit betrachten [muss], die notwendig und vorgängig auf alles bezogen und durch alles bedingt ist – und eben gerade nicht als ein [bloßes] Bewußtsein oder Denksubjekt, das sich nur durch cogitative Akte aposteriori in ein Verhältnis zur Welt setzten kann.« 58 Also ein Sujet, das die differenzierte Empfindlichkeit und Agilität des lebendigen Wesens unmittelbar verkörpert und das mehr ist als ein blind im Leibgehäuse hockender Wille und das erst recht etwas ganz anderes ist als das apathische und von Natur aus untätige Subjekt der Anschauung und des objektiven Denkens und Weltbewußtseins, das ›eigentlich‹ nur die milchige Leinwand des Beduinenzeltes [aus dessen Inneren es die Welt betrachtet] vor sich haben will. 59
Hogrebe (2013), Der implizite Mensch, S. 9 (wie in Anm. 2). Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz (19862 [1714]), In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade. In: Ders.: Philosophische Schriften. Hrsg. und übersetzt v. Hans Heinz Holz. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Insel, S. 439–483, hier. S. 449. 55 Wolfram Hogrebe (2017), Metphysische Einflüsterungen. Frankfurt a. M.: Klostermann, S. 81. 56 Vgl. Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 124 (wie in Anm. 3). 57 Wolfram Hogrebe (20132 ), Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Système orphique de Iéna). Berlin: Akademie, S. 107. 58 Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 241 (wie in Anm. 3). 59 Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe, S. 337 (wie in Anm. 3). 53 54
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Wenn die Aufmerksamkeit spazieren geht – Ein kleiner wahrnehmungstheoretischer Lehrgang »Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum ersten Mal wirklich sieht.« (Christian Morgenstern) Die Philosophie der Wahrnehmung und der Erkenntnis hat viele Väter (interessanterweise kaum Mütter). Auch hat sich die Schullehre in ein traditionelles Raster pferchen lassen: Zumeist beginnend mit Descartes über Leibniz, Hume und Locke werden Rationalismus und Empirismus als die beiden maßgeblichen Schulen der Erkenntnistheorie genommen, die dann in Kants Kritizismus versöhnt werden, bevor Hegel den Geist mit ins Spiel bringt, der durch fortlaufende Selbstberichtigung erst wird, was er (nicht) ist. All das hat seine Berechtigung, wenn man sich einen Überblick über bisher Gedachtes verschaffen will. Aber man sollte auch wissen: Es ist ein recht ausgetretener Pfad in der Lehre, wie wir zu unserem Wissen ausgehend von der Wahrnehmung gelangen. Hier auf diesen Seiten soll ein »Trampelpfad« beschritten, ein kleiner Lehr(-spazier-)gang unternommen werden. Nicht alles ist in dieser Darstellung zu Ende gedacht. Die Verwandtschaftsverhältnisse im philosophischen Stammbaum sollen trotzdem kurz angezeigt werden: So wird man im Folgenden Versatzstücke finden, die auf den späten Platon, auf Aristoteles, Leibniz, Condillac, Husserl und Merleau-Ponty verweisen. 1 Aber fackeln wir nicht lang, sondern gehen einfach mal los …
I.
Limitationen im Wahrnehmungshorizont
Ein kleines Pantoffeltierchen kann man sich gut vorstellen: Eine Zelle, in der alles, was das Lebendige auszeichnet, präsent ist. Das kleine Wesen steht ununterbrochen im Austausch mit seiner Umgebung. Es 1
Und zu verdanken hat sich dieser Spaziergang Johannes Hachmöller.
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ernährt sich, bewegt sich mithilfe von kleinen Geißelfüßchen, pflanzt sich fort und kommuniziert – soweit wir das dem Pantoffeltierchen unterstellen dürfen, ohne dass wir gleich mit voraussetzen, es würde von all diesen Lebenstätigkeiten auch noch wissen, dass es sie vollzieht. Worauf es hier ankommt, ist eine Fähigkeit, die es uns erlaubt, zunächst das Einfachste im Wahrnehmen zu betrachten – uns sozusagen von der Komplexität unserer eigenen, menschlichen und je persönlich zugänglichen Weltwahrnehmung zu distanzieren, um auf die Prinzipien zu stoßen, die in den einzelnen Wahrnehmungshorizonten gegeben sind. So betrachten wir beim Pantoffeltierchen zunächst nur das Wahrnehmen von Temperatur: Das Pantoffeltierchen ist zu seinem Überleben darauf angewiesen, sich immer in einem günstigen Temperaturbereich aufzuhalten. Über- und unterhalb dieses Temperaturbereichs wird es sterben. Für das Prinzip der Wahrnehmung bedeutet das aber auch, dass z. B. eine Temperatur von 74 °C für das Pantoffeltierchen gar nicht existiert. Wir können diese Temperatur als Beobachter des Pantoffeltierchens zwar messen, wenn wir Lust dazu haben, doch das kleine Lebewesen selbst ist nicht dazu in der Lage, diese Temperaturabwandlung seiner Umgebung wahrzunehmen, weil es gleichbedeutend ist mit seinem Tod, der bei ca. 45–50 °C eintritt. Der Beobachter wird das Lebewesen nun nie mehr dazu animieren können, in seiner Nährlösung hin- oder herzuschwimmen. Gleiches gilt, wenn es zu kalt ist. Die Wahrnehmung der Temperatur ist für das Pantoffeltierchen ein steter Abwandlungsprozess, der gleichzeitig und begleitend zum Lebensprozess sich vollzieht und so lange vor sich geht, wie das kleine Wesen lebendig ist. Als Modell für Wahrnehmung dient hier nicht eine apparaturhafte Versinnbildlichung einer SinnesdatenAufnahme-Maschine, die die gewonnenen Informationen an eine intrazellulare Steuerzentrale weiterleitet. Es handelt sich bei der Temperaturwahrnehmung um eine spezifische, ursprüngliche und unübersteigbare Sphäre, die sich auch nicht mit anderen Wahrnehmungshorizonten vermischt, z. B. dem des Hörsinnes (auch wenn das Pantoffeltierchen, nach allem, was wir wissen, sowieso nicht hört). Die Sphäre der Temperaturwahrnehmung ist durch Limitationen des gerade noch erträglichen Temperaturfühlens begrenzt, dem Zukalt und dem Zu-heiß. Irgendwo dazwischen gibt es einen Bereich des erträglichen und gut erträglichen, in dem sich das Pantoffeltier-
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chen vermutlich auch am liebsten aufhalten wird, wenn der Beobachter es mit dem Mikroskop sucht. Von den »geistigen« Fähigkeiten des Pantoffeltierchens darf nun noch eine einzige kleine Sache ausgesagt werden, die aber nicht unerheblich ist, wenn es um die Wahrnehmungsfähigkeit eines lebendigen Wesens geht: Gemeinsam mit der Wahrnehmung der Temperatur ist dem Pantoffeltierchen die Empfindung von angenehm und unangenehm. Diese Empfindung ist für das Lebewesen, das im Kontinuum des Lebensprozesses steht, nicht etwas, was zur Temperaturwahrnehmung hinzukommt, sondern es tritt immer untrennbar mit der Temperaturwahrnehmung zusammen auf. Das Pantoffeltierchen empfindet immer in eins mit dem stetigen Changieren der Temperatur, ob das Gegebene der Weltbedingungen angenehm oder unangenehm ist.
II.
Aufmerksamkeit
Du sitzt vor diesem Buch – Ich darf doch »Du« sagen? – und hast dich darauf konzentriert, die Ausführung über das Pantoffeltierchen zu verstehen, die vielleicht ein bisschen komisch oder ungewöhnlich erscheint. Ich hoffe, ich habe dein Wohlwollen nicht zu sehr strapaziert. Während du gelesen hast, hast du vermutlich nicht auf deine eigene Wahrnehmung der Temperatur im Raum geachtet. Oder vielleicht doch? Ist es dir vielleicht ein bisschen zu warm? Und wenn ja, wo genau? An den Füßen, im Nacken oder etwas zu kalt am Rücken oder den Händen? Gibt es einen kühlen Lufthauch? Oder ist alles »genau richtig«? Kannst du die Empfindungen der Kälte und Wärme bestimmen, ohne dass du zugleich merkst, ob es dir angenehm oder unangenehm ist? Unsere Aufmerksamkeit ist eine eigene Fähigkeit und dafür verantwortlich, dass wir in den Horizonten der changierenden Wahrnehmungen – jetzt z. B. der Temperatur – Unterschiede nicht nur erfahren, sondern auch feststellen können. Genau wie beim Pantoffeltierchen ist unser Temperaturhorizont limitiert, bei etwa 30 °C Außentemperatur beginnen wir ganz schön zu schwitzen – wir halten zwar kurzzeitig auch etwas mehr aus, aber in Richtung von 100 °C oder mehr wird es sehr schwierig zu überleben. Bei extremen Temperaturen ist es dann auch nicht mehr möglich, seine Aufmerksamkeit auf das Lesen eines Buches zu lenken. Dann drängt sich die Ver55 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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änderung der körperlichen Zustände unter der Wahrnehmung der als unangenehm empfundenen Temperaturen in den Vordergrund. Aber die Aufmerksamkeit muss nicht notwendig darauf gerichtet sein, wenn alles »ganz ok« ist. Wie du es bei dir vielleicht erfahren hast, bevor ich dich auf dein eigenes Temperaturempfinden aufmerksam gemacht habe. Ein charakteristisches Merkmal der Wahrnehmung ist ihr zunächst passiver Charakter. Sowohl das Pantoffeltierchen als auch wir Menschen sind bewegbar, was das Erleiden der verschiedenen Wärme- und Kälte-Abwandlungen anbelangt. 2 Jenseits der für ein Lebewesen existierenden Limitationen kann es nichts erleiden. So können wir einen Temperaturmessfühler in einem sehr kalten Gefrierschrank -248 °C messen lassen – würden wir uns darin ungeschützt aufhalten, würde das den sicheren Tod bedeuten, d. h. wir erfahren diese Temperatur nicht, weil unsere Lebendigkeit nicht bis zu diesen Temperaturen »bewegbar« ist. Sie liegt damit auch jenseits dessen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten könnten. Das Lebewesen wird im Austausch mit den Weltbedingungen aber nicht nur passiv verharren, sondern auch eine je bestimmte Widerständigkeit aufbringen: Das Pantoffeltierchen wird vermutlich versuchen, sich mit seinen Geißelfüßchen aus einer Zone der unangenehmen Temperaturen fortzubewegen. Das heißt, trotz des passivischen Charakters der Wahrnehmung tritt eine aktive Komponente der Widerständigkeit hinzu, die das Belebte vom Unbelebten unterscheidet. Ein kleiner Vogel – wie im Märchen vom tapferen Schneiderlein – wird, wenn man ihn in die Luft wirft, sicher nicht wieder geradewegs herunterfallen in die Hand der Person, die ihn nach oben geschleudert hat. Einen Stein kann man dagegen unter Umständen wieder auffangen. Oder ein anderes Beispiel: Kleine Kinder können gut zwischen Katzen und Kuscheltieren unterscheiden, weil ihnen die charakteristisch widerständige Selbstbewegung verständlich ist. Oft können sie dies noch, bevor sie in der Lage sind, das Tier sprachlich zu benennen.
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Ein solcher Ansatz findet sich bereits bei Aristoteles in De Anima.
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III. Erinnerung Ich habe eine Katze, die gerne außer Haus unterwegs ist und reinkommt, wenn ich sie mit einem bestimmten Pfeifen daran erinnere, dass es Zeit ist, sich eine Ration Futter abzuholen. Meine Katze, genauer gesagt Kater, ist ein guter Kandidat, um unsere Überlegung zu Wahrnehmung fortzuführen: Was muss ein Kater können, um diese Leistung zu vollbringen – auf ein bestimmtes menschliches Pfeifen hin den richtigen Weg nach Hause (aus Katers Perspektive: zur Futterstelle) zu finden? Vielleicht denkst du, liebe LeserIn, jetzt direkt an »Klassische Konditionierung« – die auch gern Pawlowscher Reflex genannt wird. 3 Da ist etwas dran. Aber worum es geht, ist hier sozusagen noch genauer zu fragen, zu welchen Wahrnehmungsleistungen ein Lebewesen in der Lage sein muss, um auf Pawlows Glöckchen oder mein Pfeifen zu reagieren. Analog zur Temperaturwahrnehmung ist auch das Hören ein Horizont, der einem stetigen Changieren unterliegt. Wenn mein Kater draußen auf einem warmen Stein in der Sonne sitzt, dann sind die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und sein Gesichtsausdruck zeigt vermutlich vollständige Zufriedenheit über die Wärme der Sonnenstrahlen und die damit verbundene angenehme Temperaturwahrnehmung an. In dieser Situation ist er aber keineswegs abwesend. Wenn man ihn genau beobachtet, erkennt man, dass seine Ohren wie ein Radar mal hierhin, mal dorthin ausgerichtet sind. Seine Umgebung ist ihm über das Hören absolut präsent. Er ist in jedem Moment informiert darüber, was um ihn herum geschieht. Genau wie bei der Temperatur ist das Gehörte eine Gesamtheit, in welcher konstant Abwandlungen stattfinden, die wie das Temperaturempfinden passivischer Art sind. Mein Kater entscheidet sich nicht, dass die Vogelstimmen seine Ohren erreichen oder das Gebrabbel der Spaziergänger, das Rauschen des Baches oder das Rattern eines vorbeifahrenden Autos, das auf Kopfsteinpflaster rollt. Dieses Klanggemisch macht seinen Horizont des Hörens aus. In einer bestimmten Hinsicht könnte man so weit gehen zu sagen, der Kater, der mit zugekniffenen Augen auf seinem warmen Stein sitzt, ist ganz Gebrabbel-Rauschen-
Kleine Frage am Rande: Gibt es auch den Pawlowschen Reflex, dass man bei Glocke und Hund sofort »Pawlowscher Reflex« denkt?
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Zwitschern-Rattern-Geräusch. Der Horizont des Hörens ist dem Kater für diesen Moment alles, was sein Dasein ausmacht. 4 Jetzt habe ich in der Beschreibung der Situation ein bestimmtes Vermögen direkt unterschlagen. Ist es dir beim Lesen aufgefallen? Dem Kater ist die Welt in seiner Wahrnehmung über das Hören ebenso präsent wie dem Pantoffeltierchen die Temperatur (angenehm und unangenehm mit eingeschlossen, denn es gibt ja auch äußerst schmerzhafte Töne oder nervige Geräusche). Aber die Bestimmtheit dieser Geräusche ist auf seine Vertrautheit mit der Welt zurückzuführen, die ein weiteres Vermögen voraussetzt: die Erinnerung. Dieses Vermögen, griechisch μνήμη (Mneme), kann hier wie eine »Blende« als zweiter eingelegter Horizont gedacht werden. Es setzt nicht voraus, dass der Kater unbedingt weiß, dass es ein Fluss ist, der da rauscht, das nicht. Aber dass an diesem Ort, an dem er sich gerade aufhält, dieses Geräusch in schöner Regelmäßigkeit zu hören ist, und dass davon weder etwas Gutes noch eine Gefahr ausgeht, wenn er sich nicht gerade genötigt fühlt hineinzuspringen. Mittels der Erinnerung deutet der Kater in eins mit dem Wahrnehmen, was um ihn geschieht. Er hört nicht das Geräusch der Autoreifen auf dem Kopfsteinplaster und denkt dann zusätzlich »Aha, Autoreifen auf Kopfsteinpflaster«, nein, mit seinen geschlossenen Augen ist ihm diese Abwandlung seines Wahrnehmungshorizontes im Hören gleich präsent als das, was es ist. Dort, wo er sich befindet, geht keine Gefahr von einem Auto aus, also kann mein Katerchen entspannt sitzen bleiben und die Augenschlitze geschlossen halten. Nun verändert sich aber plötzlich etwas in dem Klangkonglomerat: Unser Nachbar führt seinen dicken Labrador spazieren und das Hecheln und Trapsen des Hundes dringt an die Ohren meines Katers. Diese kleine Veränderung veranlasst ihn, die Augen zu öffnen und die Lage genauer zu betrachten, sich etwas aufzuplustern und den Labrador grimmig anzusehen. Was ist passiert? – Wir müssen davon ausgehen, dass Katzen »wissen«, dass von diesen Vierbeinern Gefahr ausgehen kann. Die übrigen Geräusche, welche von dem KatzenohrRadar erfasst wurden, sind nicht plötzlich verschwunden. Die Vögel tönen immer noch und auch das Bachrauschen ist nicht verschwunDer französische Empirist Condillac entwickelt in seiner Traité des sensations das Gedankenexperiment von einer Statue, die Schritt für Schritt zum Leben erweckt wird. Die Statue erlangt zuerst den Geruchssinn, ohne irgendein weiteres Vermögen zu besitzen. Und wenn sie dann eine Rose riecht, so ist sie ganz Rose.
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den. Wäre es dabei geblieben, hätte sich an den schmalen Schlitzen wohl auch nichts geändert. Das Hundsgehechel hat sich aber »eingemischt« und vom Rest gewissermaßen abgehoben, sodass sich der Kater veranlasst sah, in Hab-Acht-Stellung zu gehen. Wir müssen annehmen, dass er – ob erlernt oder instinktiv – mit seiner Aufmerksamkeit ein Vermögen zur Unterscheidung dieser spezifischen Geräuschabwandlung besitzt, da er ja sonst nicht darauf reagiert hätte. Hört er das Pfeifen als Futter-Signal, reagiert er ebenfalls, er setzt sich in Bewegung und kommt heimgetrabt. Dies ist mit Sicherheit erlernt, denn wir haben ein paar Wochen Training gebraucht, bis es gut klappte. Dann reagiert der Kater sofort, springt auf und tritt den Heimweg an. Erlernen heißt hier nichts anderes als regelmäßig in Erinnerung bringen, was eine mögliche Abwandlung der Wahrnehmung sein kann und womit sie unter Umständen in Verbindung steht. Das Hecheln des Hundes wie mein Pfeifen für das Futter sind jeweils Geräusche, die durch die Aufmerksamkeit des Katers bestimmt werden als das, was sie sind. Die Reaktion ist jeweils spezifisch. Das Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit, etwas Bestimmtes aus dem Gesamt des changierenden Hörens herauszuhören (zu »isolieren«), muss vorausgesetzt werden, damit wir erklären können, weshalb mein Kater bei dem einen Geräusch den Heimweg antritt und bei dem anderen in Verteidigungsposition rückt. Jetzt kann man einwenden: Aber er hat ja den Hund bzw. mich an der Tür stehend gesehen und deswegen so reagiert. Dieser Einwand hängt mit der Komplexität unserer Wahrnehmungsfähigkeiten zusammen. Ich behaupte aber, dass auch ein blinder Kater auf mein Pfeifen heimgekommen und beim Getrapse des Labradors vorsichtig gewesen wäre. Doch auch wenn er mich bzw. den Hund hauptsächlich gesehen haben sollte, so ändert dies nichts an den Prinzipien der Wahrnehmungshorizonte.
IV. Der Horizont des Sehens Das Sehen ist quasi der Lieblingssinn der ganzen traditionellen Erkenntnistheorie und seine ungeheure Macht macht es nicht so leicht, ihn fachgerecht zu »sezieren«. Doch gehen wir davon aus, dass der Horizont des Sehens die Kennzeichen von Wahrnehmung überhaupt trägt: stete Abwandlung eines Wahrnehmungshorizontes begleitet von der Empfindung für angenehm und unangenehm (z. B. unange59 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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nehme Helligkeit), der Passivität dieses Geschehens (wir können uns nicht gegen das Sehen wehren, wenn wir nur das Augenlicht besitzen) und der Möglichkeit, aus der Erinnerung heraus im Sehen bestimmte Dinge auszumachen (z. B. dass eine Katze auf einem Stein sitzt). Unternehmen wir ein kleines Gedankenexperiment: Stell dir vor, du wärst blind zur Welt gekommen und heute Morgen hättest du dich einer Operation unterzogen, die dir das Augenlicht zurückgeben soll. Schließe also für einen Moment die Augen und versetze dich in die Lage, dass du sie gleich zum ersten Mal öffnen und dabei »sehen« wirst – was auch immer das ist, denn bisher ist dir dieser Wahrnehmungshorizont ja verwehrt geblieben. Augen schließen bitte. Ja, wirklich! Nur für einige Sekunden wenigstens. Mal abgesehen davon, dass dir vermutlich jetzt nach der OP die Augen schmerzen und du sie gleich wieder schließen wirst, weil alles furchtbar hell ist – abgesehen davon: Was siehst du? Deinen Schreibtisch, das aufgeschlagene Buch … Die Wand deines Arbeits- oder Wohnzimmers, wo auch immer du bist? Dann halte einen Moment inne! Siehst du diese Dinge wirklich, wenn du zum ersten Mal die Augen öffnest, um zu sehen? Du kanntest ja bisher die Welt nur als ertastete. Es hat dir keine Schwierigkeiten bereitet, dich in ihr fühlend und tastend zurecht zu finden. Kannst du, bevor du deinen Schreibtisch, das Buch, das Wasserglas berührt hast, sagen, was was ist? Genügt das Zum-ersten-Mal-Betrachten, um zu dieser Bestimmungsleistung fähig zu sein? 5 Es gibt bei dieser Frage zwei intuitive Antworten. Die erste Antwort geht in etwa so: Ja, ich bin in der Lage, diese Dinge zu sehen und zu erkennen, welche Dinge ich vor mir habe. Der Grund dafür ist, dass mein Gehirn automatisch die Tasteindrücke mit den neuen SehEindrücken abgleicht. Eine Quaderform wie bei einem Buch erkenne ich an den geraden Linien der Buchkanten, wenn ich sie sehe; und einen Zylinder wie beim Wasserglas an der kreisrunden Öffnung und dem Boden. Das Denken könne diese Dinge kombinieren, ohne dass eine Berührung notwendig wäre. Die zweite Antwort auf die Frage, ob man mit neu erworbenem Augenlicht direkt sehen kann, was man bisher nur tastend wahrSo in etwa wird auch das Molyneux-Problem beschrieben, an das sich dieses Gedankenexperiment anlehnt.
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nahm, behauptet das Gegenteil: Nein, ohne Berührung kann ich nicht sagen, was was ist. Denn meine Kenntnis von der Welt rührt vom Tastsinn her. Dementsprechend sind auch die in der Erinnerung vorhandenen Schemata der Dinge, die die Bestimmung erlauben, nur über das Tasten erfahren worden. In dem Moment, in dem ich aber das Glas berühre und zugleich sehe, erkenne ich, was was ist und lerne neu hinzu, welche Form und Farbe ein Glas hat, das sich mir im Sehen präsent macht. Denn die Form eines Glases, das ich über den Tastsinn erfahre, kenne ich ja bereits. Diese beiden Antworten spiegeln in etwa die rationalistische und die empiristische Erkenntnistheorie in ihren Grundannahmen wider. Ich verfolge hier eher den empiristischen Pfad und manches weist darauf hin, dass dieser auch den Tatsachen entspricht, 6 aber das können wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Der Horizont des Sehens ist genauso eine Vollständigkeit wie der Temperatur- oder der Hörsinn. Nur muss auch hier wieder die Vorstellung von einem Sinnesdatenapparat abgelegt werden, der das Auge wie eine camera obscura vorstellt, die Bilder von der Welt in den Kopf transportiert. Sicherlich ist die Physiognomie des Auges einer Kamera nicht unähnlich, jedoch vom Wahrnehmen her gedacht führt diese Vorstellung wieder auf ein Sinnesdatenmodell, bei dem der Erkenntnisprozess zu einem Rechenvorgang in der black box des Gehirns fehlgedeutet wird. Wenn wir genau darauf achten, was wir sehen, so ist diese Sinnessphäre ein Changieren von Farb-, Hell- und Dunkel-Abwandlungen. Keine Form wäre ohne den Übergang einer Farb- bzw. Helligkeitsabstufung erkennbar. Farb-Hell-Dunkel sehen wir immer. 7 Auch wenn ich meine Brille abnehme und alles verschwimmt, sehe ich ja noch etwas mit meinen kurzsichtigen Augen, halt nur nicht mit den entsprechenden Konturen. In dem konstanten Wandel der Farb- und Helligkeitsabstufungen des Sichtfeldes können wir die Aufmerksamkeit wandern lassen und auf das ein oder andere Besondere richten: Ich sehe dabei nicht ein Bild, in dem sich die einzelnen Dinge addieren, also etwa: meinen Kater + die Mauer + das Efeu auf der Mauer + die Bordsteinkante + die Pfütze am Straßenrand. Vielmehr sehe ich in
Empirische Forschungen haben ebenfalls ergeben, dass es zunächst die Zuhilfenahme des Tastsinnes braucht, sich dann aber schnell »Überlappungen« zwischen Seh- und Tastsinn entwickeln. Richard Held, Yuri Ostrovsky et al. (2011), »The newly sighted fail to match seen with felt«. Nature Neuroscience 14, S. 551–553. 7 Farbenblindheit lässt natürlich nur das Hell-Dunkel übrig. 6
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Anne Gnielka
einer Gesamtsichtbarkeit Farbformflecken, und kann mich auf einzelne von ihnen konzentrieren oder das Ganze in den Blick nehmen. Schaue ich aber meinen Kater an, so verschwindet die Mauer nicht, vor der er sitzt, ebenso wenig die Pfütze auf der Straße. Sie bleibt in der Sichtbarkeit präsent. Die Aufmerksamkeit kann aber von der Pfütze weg nach oben oder unten, links oder rechts spazieren und dabei Feststellungen treffen, ohne dass die Pfütze, die Mauer, der Kater aus dem Sichtfeld verschwinden. So ist mir eben etwas Neues aufgefallen: Der Efeu, der ganz majestätisch in dicken wolkigen Büscheln von der Mauer wogt, ist bei genauerer Betrachtung ganz interessant. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Blätter und stelle fest: Die unteren Blätter sind charakteristisch fünfeckig. Andere Blätter, die darüber liegen, aber sehen ganz anders aus: herzförmig, manche auch wie ein abgerundetes Trapez. Ich habe diesen Unterschied entdeckt und mir eingeprägt, also aus der Sichtbarkeit herausgelesen und als ein Schema in den Schatz meiner Erinnerung sozusagen »aufgenommen«. Jetzt möchte ich wissen, ob die Efeupflanze auf der Mauer vor unserem Haus normal ist, also ob diese Absonderlichkeit, die mir aufgefallen ist, auch bei anderen Efeus oder bei allen Efeus überhaupt vorkommt oder ob der Efeu vielleicht krank ist oder was auch immer dazu führt, dass er unterschiedliche Blätter besitzt. Dazu greife ich zum Telefonhörer und rufe meinen Vater an …
V.
Aufrufbarkeit von Schemata über Sprache
Mein Vater kennt sich gut mit Pflanzen aus. Ich beschreibe ihm das Phänomen, auf das ich gestoßen bin. Und er bestätigt mir, dass meine Beobachtung tatsächlich eine Eigenart von Efeupflanzen ist und man bei einigen Pflanzen Blatt-Dimorphismus kennt, die Zweigestaltigkeit von Blättern, je nach Alter und Funktion der Blätter. Nun aber Halt: Diese auf den ersten Blick banale Alltagssituation der Unterhaltung am Telefon ist wahrnehmungstheoretisch hochkomplex. Jetzt kommen wir nämlich auf die Verschränkung der verschiedenen Horizonte zu sprechen. Die Plauderei am Telefon stellt eine Abwandlung von meines Vaters’ Wahrnehmungshorizont im Hören dar. Die Efeublätter, die ich ja direkt sehe, wenn ich aus dem Fenster blicke, tauchen aber durch unsere Unterhaltung nicht plötzlich in seinem Wohnzimmer auf. Wenn mein Vater durch meine Worte aufgerufen 62 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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an Efeu denkt, ruft das bestimmte Schemata in seiner Erinnerung auf und »spiegelt sie ein« in seine Wahrnehmung. In der Vergangenheit hat er sich schon mal mit Efeu beschäftigt und dabei entsprechende Schemata aus seiner Sichtwahrnehmung von dieser Pflanze in der direkten Wahrnehmung gewonnen. Mittels seiner Worte, die wiederum meine Aufmerksamkeit im Wahrnehmungshorizont des Sehens noch mal auf die Efeublätter springen lassen, kann ich nunmehr eine genauere Betrachtung vornehmen und mir einprägen, dass die unteren Blätter, also die jüngeren tatsächlich eher fünfeckig geformt sind, während die älteren oben die herzigere Form besitzen. Ich präge mir diesen Unterschied genau ein, d. h. ich nehme eine Art Erinnerungsbild oder Schema in mein Gedächtnis auf, was mein Vater zu einem früheren Zeitpunkt schon mal getan hatte. Aber noch mehr lässt sich sagen. Zuvor haben wir über meinen Kater gesprochen. Weißt du noch, welche Farbe sein Fell hat? Nein. Kein Wunder – ich habe auch gar nichts darüber gesagt. Aber vermutlich hast du dir eine Katze mit einer bestimmten Gestalt und damit auch mit einer bestimmten Fellfarbe vorgestellt, nicht? (Mein Kater ist übrigens schneeweiß und hat goldfarbene Augen.) Worauf ich hinweisen möchte, ist, dass wir uns, wenn wir uns ein Tier oder eine Pflanze oder sonst eine Sache vorstellen, dies immer in bestimmter Weise tun – Efeu normalerweise mit fünfeckigen dunkelgrünen Blättern, Katzen mit zwei spitzen Ohren und, tja, welche Farbe die allgemeine »Vorstellungskatze« hat, kann ich gar nicht so genau sagen. Man kann sich aber kein Zebra vorstellen und dabei nur an die Form denken oder nur an das gestreifte Zebra-Fell. Tut man das, stellt man sich nur einen Aspekt der Sache vor, man abstrahiert. Das kann man aber nur, wenn man das Ganze als Phänomen ebenso vor Augen hat. Und das Erstaunliche ist nun, dass einerseits die einzelnen Wahrnehmungshorizonte zumeist gleichzeitig präsent sind und wir uns anstrengen müssen, wenn wir nur einer Sphäre unsere Aufmerksamkeit schenken. Weiterhin kann die Aufmerksamkeit auch Vorstellungsbilder aufrufen, um sich sogleich und zugleich dann wieder in die Wahrnehmungssphäre zu begeben, z. B. wenn man überlegt, wo man seine Brille zuletzt liegen gelassen hat, versetzt man sich in der Erinnerung an die Stellen zurück, an denen man gewesen ist und sucht dann in der Wahrnehmungssphäre die einzelnen Orte ab. Die Aufmerksamkeit spaziert sowohl in der je präsenten Wahrnehmungssphäre der Sichtbarkeit herum wie auch in der Erinnerung. Wenn dann jemand zu mir sagt, »Du hast sie im Seminarraum lie63 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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gengelassen«, springt einem das Bild des Seminarraumes zwar nicht direkt vors Auge – das wäre schlimm, z. B. wenn man gerade Auto fährt, aber doch in bestimmter Art und Weise wird es dem visuellen Sehsinn, d. h. mit den vom Seminarraum eingeprägten Schemata präsent, »eingespiegelt«, wie wir vorher sagten. Die Sprache ist also mit im Spiel und kann die Aufmerksamkeit hierhin und dahin dirigieren.
VI. Zum Schluss: Lernen, Lesen und Lesen lernen Unsere Aufmerksamkeit kann im Panorama des im Sehen Gegenwärtigen »spazieren« gehen und sie bekommt dabei alle Hilfe von den anderen Vermögen – anderer Wahrnehmungshorizonte (Hören, Tasten, Riechen) bzw. anderer geistiger Vermögen (Schemata der Erinnerung und Sprache). Um sich aber Klarheit darüber zu verschaffen, wie das Einprägen von Unterschieden in der Sichtbarkeit funktioniert, muss man die einzelnen Horizonte und Vermögen möglichst kleinschrittig einkreisen. Die philosophische Tradition behandelt den Menschen vorrangig als »Augentier«. Das ist aber eine Verkürzung. Die anderen Sinne, insbesondere der Tastsinn, sind mindestens genauso wichtig, um ein Verständnis von Räumlichkeit und Körperlichkeit zu entwickeln. Diese Verkürzung auszugleichen, dazu war die Abfolge von Beispielen vom Pantoffeltierchen bis zum Efeu gedacht, und ich hoffe, dass trotz der scheinbaren Willkürlichkeit bei der Auswahl der Beispiele die innere Logik dieser Wahrnehmungstheorie deutlich geworden ist. Dabei entstehen performative Paradoxien, wie im Gelesenen, also in der Sichtbarkeit auf ein Geräusch hinzuweisen. Ist dir das als LeserIn vielleicht noch nicht mal aufgefallen? Wenn nicht, zeigt das meiner Meinung nach, wie behände die Aufmerksamkeit von einem zum anderen Horizont springen kann; und aus der Erinnerung Schemata von Gesehenem, Gehörtem, Getastetem, Gerochenem einspiegelt, ohne dass wir auf unserem Spaziergang der Aufmerksamkeit in diesem Text stolpern würden. Die hier skizzierte Wahrnehmungstheorie führt geradewegs auf eine Theorie des Lernens. Gerade als Lehrende, die ja viele von uns sind, vergessen wir viel zu oft, wie es war, etwas nicht zu können und etwas nicht zu wissen. Was für ein kleinschrittiger Prozess war es, so eine Sache wie das Lesen zu beherrschen? Jeder Buchstabe musste genau beobachtet, gesprochen, gehört, gezeichnet, in Schreib- und Druckschrift geschrieben, in verschiedenen Worten gefunden, bei 64 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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Fehlerhaftigkeit der Form verbessert werden. Knan mna scih jztet ncoh dgaenegn wheren, Wtore zu leesn udn zu vresethen, slesbt wnen die Bcuhstbaen vlöilg druhcienadner gweüfrelt snid? Wie war es noch, nicht lesen zu können? Beim Blättern in Büchern nur seitenweise unverständliche schwarz-weiße Zeichen-Balken zu sehen? (Befrage bei Gelegenheit mal ein Vorschulkind.) Weitergedacht sollte diese Wahrnehmungstheorie natürlich auch die Gefühle mit einbeziehen: Der Prozess des Lernens fühlt sich auch angenehm und unangenehm und immer je spezifisch an. Kinder erleben sich im Vergleich mit anderen. Sie durchleben im Changieren von Stolz auf die eigene Leistung und Scham über das Versagen mitunter eine Achterbahn der Gefühlszustände. Doch Unterschiede im Wahrnehmen entdecken beim Spaziergang der Aufmerksamkeit durch die verschiedenen Wahrnehmungshorizonte – das kann buchstäblich jedes Kind und das sollte Lehrenden auch Mut machen, immer wieder dort zu beginnen. Und das könnte man mithilfe einer Lerntheorie, die diese kleine Wahrnehmungstheorie zum Ausgangspunkt nimmt, sensibel ausbuchstabieren.
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… zu didaktischen Prinzipien …
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Daniel Löffelmann
Man kam, sah und lernte? – »Wahrnehmung« als didaktisches Prinzip
I.
Einleitung
Zu Beginn gleich die enttäuschende Wahrheit: Ganz so einfach, wie der Titel dieses Textes den Anschein erweckt, ist es mit dem Lernen dann leider doch nicht. Vielmehr wirft die absichtlich provokant gestellte Frage eine weitere auf: Wie oder auf welchem Wege erwerben wir überhaupt (Er-)Kenntnisse und geben sie erfolgreich an Dritte weiter, mit anderen Worten: Wie gehen Lernen und Lehren vonstatten? 1 Um diesen theoretischen Angelpunkt wird sich im Folgenden alles drehen. Und zwar deshalb, weil ich davon ausgehe, dass man diese Elementarfrage immer schon auf die eine oder andere Weise für sich beantwortet hat und dass diese Antwort das eigene Handeln prägt und präfiguriert. Wer lehrt, hat immer schon gelernt – Erfahrungen gemacht, auf deren Grundlage ganz bewusste oder auch weniger reflektierte Ansichten darüber entstanden sind, worauf es ankommt, um jemanden etwas ›beizubringen‹. Das jeweilige Lernverständnis beeinflusst dann natürlich das Tun und Handeln in der Schule oder anderen Settings. Jegliche Didaktik, jedes systematische Unterrichten, Erklären, Vermitteln beruht (explizit oder implizit) auf einer bestimmten Vorstellung vom Lernen, die maßgeblich über Form und Stil des jeweiligen Unterrichts entscheidet. Analog zur Disziplin der Erkenntnistheorie in der Philosophie lassen sich dabei (idealtypisch und im übertragenen Sinn) zwei einander entgegengesetzte Positionen unterscheiden: Der Empirismus auf der einen und der Rationalismus auf der anderen Seite. Kurz gesagt:
1 Bei den Antworten handelt es sich zwangsläufig um Vorstellungen, um Fantasien mit Klärungsanspruch – schließlich hat noch niemand Lernen für sich genommen beobachten können, ganz gleich, wie viele ›Neuropädagogen‹ dies mit Rekurs auf bildgebende Verfahren auch behaupten mögen – die Aussage »Wir können Lernen sichtbar machen« bleibt zwangsläufig metaphorisch.
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Ist man der Meinung, dass Lernen vor allem etwas mit Wahrnehmen, Beobachten und Erfahrungen zu tun hat – oder dass sich Lernen vielmehr doch erst im Nachdenken, Überlegen und Reflektieren ereignet? Was ist am Ende ausschlaggebend, die Sinne des Menschen oder sein Verstand? Mittels einer solchen Grundunterscheidung erhält man eine Matrix, mit der man sich im Dickicht didaktischer Theorien Orientierung verschaffen kann, durch das man sich etwa in der Lehramtsausbildung einen Weg bahnen muss – und das auf wundersame Weise ganz ohne die Anleitung Hilbert Meyers, mit der man es gerade im Lehramtsstudium ja sonst ständig zu tun bekommt. Zusätzlich darf man mit vorsichtigem Optimismus erwarten, dass die eigene Standortbestimmung bei diesem Thema tendenziell zu einer reflektierteren Praxis führt. Es sei aber noch mal betont, dass die Gegenüberstellung von didaktischem Empirismus und didaktischem Rationalismus einen rein heuristischen Zweck erfüllt (nämlich den, das didaktische Feld zu ordnen). Trotzdem kann und muss sie natürlich hinterfragt werden. So wird man in der Realität der Theorie- und Praxislandschaft wohl niemals, wie hier eventuell der Eindruck entstehen könnte, ein strenges, ausschließendes Entweder-Oder antreffen; tatsächlich läuft es meist eher auf verschiedene Akzentsetzungen oder das Einräumen des Vorrangs hinaus. Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage: Auf welchem Wege gelangen wir in den Besitz von (Er-)Kenntnissen und wie kann es gelingen, sie anderen zu vermitteln? Und welchen Anteil daran darf die Sinneswahrnehmung und welchen der menschliche Verstand für sich verbuchen? Offenkundig macht sich in diesen Gretchenfragen (die man vermutlich jeder Didaktik stellen sollte, bevor man sich auf sie einlässt) primär das Menschenbild geltend, das dem jeweiligen Lern-Verständnis wiederum zugrunde liegt. Will man sich bei den ›Klassikern‹ der Pädagogik in dieser Sache kundig machen, dann ist vor allem Herbart eine vielversprechende Adresse. Natürlich mag man sofort gleichfalls an Comenius, Rousseau und ganz besonders an Pestalozzi denken 2 – ich wage dennoch Geistesgeschichtlich ist es vor allem die Epoche der Aufklärung, welche die sinnliche Erfahrung epistemisch aufwertet. Beeindruckt vom Aufstieg der Naturwissenschaften erblickt man in ihr, wie einst in der Antike bei Platon und Aristoteles, die Quelle der Erkenntnis, den neuen objektiven Prüfstein der Wahrheit. So löst der moderne Empirismus nach und nach die weltanschauliche Autorität der schriftlichen
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zu behaupten, dass man bei Herbart insofern am ehesten auf seine Kosten kommt, als er mehr tut, als nur der Wahrnehmung mit Blick auf Unterricht den absoluten Vorrang einzuräumen. Diese Forderung vermag er zudem auf sichere Füße zu stellen, weil er eine ausgearbeitete Lern- und Wahrnehmungstheorie anzubieten hat. Herbart zieht nur deren Konsequenzen, wenn er die Empirie als Fundament der Didaktik entwirft. Denn er begreift Lernen als einen Vorgang, der wesentlich davon abhängt, dass sich den Schülerinnen und Schülern etwas in ihren verschiedenen Sinneshorizonten zeigt bzw. für sie von der Lehrerin allererst darstellend zur Anschauung gebracht wird. 3 Als Erstes werde ich deshalb versuchen, ebendiese empiristische Lerntheorie textnah herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt soll das spezifische Menschenbild umrissen werden, das eine auf Sinneserfahrung setzende Didaktik untermauert; dafür wende ich mich vor allem Johannes Hachmöllers Buch über Leibniz zu, in dem der Begriff der Lebendigkeit eine besondere Bedeutung besitzt. Der dritte Teil schlägt dann die Brücke zur Lehrstückdidaktik, die sich u. a. auf Martin Wagenschein berufen kann; sie soll als ein Beispiel dafür dienen, wie ein auf Wahrnehmung fundierter Unterricht in der Praxis aussehen kann. 4 Abschließend werden dann drei Thesen zum gegenwärtigen Potenzial eines solchen Unterrichts zur Diskussion gestellt.
II.
Herbarts didaktischer Empirismus
Um ermessen zu können, wie wichtig die Wahrnehmung in Herbarts pädagogischem System 5 ist, muss man sich den Grundriss seiner ErÜberlieferung (v. a. Bibel und griechisch-römische Antike) genauso ab, wie er auch den philosophischen Rationalismus (Descartes, Leibniz, Wolff etc.) zurückdrängt. 3 Bemerkenswert ist Herbarts didaktischer Empirismus nicht zuletzt angesichts des erbitterten Widerstands, mit dem konkrete Anschauungsgegenstände (sog. »Realien«) als Unterrichtsmaterialien im 18. und 19. Jahrhunderts zu kämpfen hatten. Systematisch steht Herbart mit seiner Didaktik somit in Opposition zu Ansätzen, die in Sachen Lehren und Lernen ganz auf den Logos setzen, sprich auf Sprache und analytischen Verstand. Diese Ansätze reichen vom klassisch humanistischen »Buchunterricht« bis hin zur Argumentations- und Diskursdidaktik in der Fachdidaktik der Philosophie. 4 Als Anschauungsbeispiele vgl. auch die Beiträge von Anna Pickhan, Stella Wieg und Peter Starke in diesem Band. 5 Die Primärtextbasis meiner Überlegungen umfasst neben der selbstverständlichen Allgemeinen Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet von 1806 (= AP)
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ziehungskonzeption vergegenwärtigen. Herbart will nicht weniger als zur »Moralität« erziehen – in der berühmten Formulierung aus der Ästhetischen Darstellung der Welt heißt es: »Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: dies, oder Nichts, ist Characterbildung!« (ÄD, I 261 6 ) Zu bewerkstelligen gedenkt er dies im Wesentlichen durch zwei Mittel: »Unterricht« und »Zucht«. Durch Zucht soll auf lange Sicht diejenige Willenskraft und Entschlossenheit erreicht werden, die Herbart »Charakterstärke der Sittlichkeit« nennt; sie wird benötigt, um die Begierden und Neigungen im Zaum zu halten. Demgegenüber zielt der Unterricht auf einen umfassend gebildeten, neugierig-weltoffenen Geist ab, die berühmte »Vielseitigkeit des Interesses«. In der Kombination sollen die beiden Komponenten die besten Chancen bieten, die »Erhebung zur selbstbewussten Persönlichkeit« (ebd.) zu meistern. Hier soll die Rolle der Wahrnehmung im und für den Unterricht herausgearbeitet werden. Grundlage von Herbarts Unterrichtsdenken ist ein bestimmtes Bild vom jungen Menschen, welches das Kind mit seinem noch bildsamen, formbaren Gemüt ins Zentrum stellt. Qua seiner Sinnesausstattung offen für die (Um-)Welt, ist es seiner Umgebung gewissermaßen schutzlos ausgeliefert – eine prinzipiell gefährliche Situation, da so unsicher bleibt, welche Erfahrungen gemacht werden, was für Eindrücke sich festsetzen, wie er oder sie geprägt wird. Denn diese seine Welt wird der junge Mensch mustern in allen ihren Theilen. Was er erreichen kann, wird er rühren und rücken, um dessen ganze Beweglichkeit zu erforschen. Das andre wird er betrachten, und sich im Geiste dahin versetzen. Die Menschen und ihr Betragen […], die Lebensarten und Stände nach Glanz und Vortheil und Ungebundenheit vergleichen. Er wird – wenigstens in Gedanken – nachahmen, kosten, wählen. (ÄD, I 267)
Das Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung versetzt also laut Herbart das Kind in den Stand, sein Umfeld, an dem es natürlicherweise und des Textes Über die ästhetische Darstellung der Welt, als Hauptgeschäft der Erziehung von 1804 (= ÄD) auch die etwas frühere Schrift Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung von 1802 (= ABC). 6 Zitiert wird nach der Werkausgabe von Karl Kehrbach, Johann Friedrich Herbart (1887–1912), Sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge. Hrsg. v. Karl Kehrbach und Otto Flügel. Langensalza: Beyer. die römische Ziffer gibt den jeweiligen Band an, die arabische die Seitenzahl. Es werden die Siglen aus der vorhergehenden Anmerkung verwendet.
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interessiert sei 7 , in den Blick zu nehmen, Beobachtungen anzustellen und sich so nach und nach ein Urteil zu bilden über das, was es sieht, hört, schmeckt, riecht und fühlt. Die Gefahr lauert nach Herbart nun darin, dass das Kind möglicherweise die ›falschen‹, d. h. nicht sittlichen, Maßstäbe zur Beurteilung vermittelt bekommt. In der Folge würde es selbst dergestalt urteilen und sich daran gewöhnen, die Dinge und Menschen auf diese Art zu bewerten. Konkret befürchtet Herbart das Entstehen einer egoistischen Sichtweise (Was hilft mir? Was fühlt sich gut an für mich? Wodurch komme ich weiter?) – also die Blindheit für die Bedürfnisse und Gefühle anderer Wesen. Dem entgegen hält Herbart die ›richtige‹ Betrachtungsart, die das Maß der Moralität und Ästhetik anlegt. Das würde bedeuten, dasjenige, was in den Blick gerät, ausschließlich nach seinem Grad an innerer und äußerer »Vollkommenheit« zu bemessen (vgl. ÄD, I 264 f.) 8 . Dass dies geschieht, habe der Pädagoge sicherzustellen, indem er dafür sorgt, dass die Welt für den Heranwachsenden demgemäß dargestellt – man möchte sagen: inszeniert – werde. Hierin erkennt Herbart bekanntermaßen die Hauptaufgabe erzieherischer Tätigkeit überhaupt, wie das folgende, etwas längere Zitat belegt: Der Erzieher soll den Muth haben, vorauszusetzen: er könne, wenn er es recht anfange, jene Auffassung [des Kindes; D. L.] durch ästhetische Darstellung der Welt früh und stark genug determinieren, damit die freye Haltung des Gemüths nicht von der Weltklugheit [= rationaler Egoismus; D. L.], sondern von der reinen practischen [= moralischen; D. L.] Ueberlegung das Gesetz empfange. Eine solche Darstellung der Welt – der ganzen bekannten Welt, und aller bekannten Zeiten, um nöthigenfalls die üblen Eindrücke einer ungünstigen Umgebung auszulöschen – diese möchte wol [sic!] mit Recht das Hauptgeschäft der Erziehung heissen, wofür jene Zucht, die das Verlangen weckt und bändigt, nichts als nothwendige Vorbereitung wäre. (ÄD, I 268; Hervorhebungen im Original)
Dieses in epistemischer Hinsicht optimistische Menschenbild lässt sich bis an den Anfang der aristotelischen Metaphysik zurückverfolgen, wo es heißt: »Alle Menschen streben von Natur aus danach zu sehen und zu erkennen. Dies beweist die Wertschätzung der Wahrnehmungen. Denn auch ohne, dass sie etwas nützen, schätzt man sie um ihrer selbst willen, am allermeisten das Sehen« (Übersetzung vom Autor). Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει. σημεῖον δ’ ἡ τῶν αἰσθήσεων ἀγάπησις· καὶ γὰρ χωρὶς τῆς χρείας ἀγαπῶνται δι’ αὑτάς, καὶ μάλιστα τῶν ἄλλων ἡ διὰ τῶν ὀμμάτων. (Aristoteles, Metaphysik, 980a21). 8 vgl. auch Winfried Böhm (2013), Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. München: Beck, S. 83. 7
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Die vorherrschende Art pädagogischen Handelns ist hier in der Hauptsache eine indirekte Einwirkung – ein Arrangieren und Gestalten der kindlichen Umwelt und ihrer Elemente. Direkt agieren Erzieherin bzw. Lehrerin aber selbstverständlich auch, nämlich dann, wenn sie den Erfahrungshorizont ihrer Schülerinnen nicht nur hinter den Kulissen wohlwollend manipulieren, sondern gemeinsam mit ihnen mit allen Sinnen erforschen, ausleuchten und eben behutsam erweitertern. Herbarts anvisiertes Ideal eines erzieherisch wirksamen Settings formuliert er dabei ganz deutlich und in einem vitalistischen Vokabular: »Diese [kindliche; D. L.] Welt sey ein reicher, offener Kreis voll mannigfaltigen Lebens!« (ÄD, I 267). Treten wir einen Schritt zurück und schauen noch einmal auf die philosophischen und pädagogischen Prämissen dieses Ansatzes. Herbart selbst hat sie in den einleitenden Passagen seines ABC der Anschauung offengelegt. Was versteht Herbart eigentlich genau unter »Wahrnehmung« bzw. »Anschauung«? 9 Gucken wir es uns an: Die rohe Anschauung ist dasjenige, was sich unwillkürlich ereignet, indem der Gegenstand vor das offene Auge hintritt. Der Geist kann alsdann nicht umhin, zu sehen; er ist darin der Natur unterwürfig. Auch ist diese Anschauung gleich anfangs vollkommen; insofern nämlich, dass, bei vorausgesetzter Gesundheit des Auges, der Gegenstand sich im ersten Augenblick schon so zeigt, wie er, in seiner gegenwärtigen Beleuchtung, und in seiner gegenwärtigen Lage gegen das Auge, sich überall nur zeigen kann. (ABC, I 160; Hervorhebung im Original)
Wahrzunehmen oder Anschauungen zu haben, können wir uns nicht aussuchen, es ereignet sich vielmehr – und zwar ständig, ob man will oder nicht; man ist ihnen sozusagen existentiell ausgeliefert. Ein weiterer wichtiger Punkt: Es gibt keine falschen Wahrnehmungen! Das Wort »Sinnestäuschung« legt insofern ein Missverständnis nahe. »Wahr« oder »falsch« sind nämlich Attribute, die sich nur auf Urteile oder Aussagen sinnvoll anwenden lassen, nicht aber auf das, was jemand wahrnimmt. Der Satz »Das siehst Du falsch!« ergibt nur übertragen einen guten Sinn, nicht wörtlich. Mit diesem Statement hebt sich Herbart wohltuend vom konstruktivistischen Zeitgeist ab. Entscheidend ist, dass Herbart tatsächlich davon ausgehen muss, dass es da ›etwas‹ unabhängig von uns ›gibt‹ – etwas, das sich von mehreren Personen zeitgleich in Augenschein nehmen lässt. EigentHerbart ist wie Aristoteles und fast die gesamte abendländische Tradition der Meinung, dass dem Sehsinn eine besondere Stellung zukommt.
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lich müsste sogar jede Lehrerin diese Annahme tätigen, die einen Unterricht praktizieren will, in dem alle Schülerinnen ein- und denselben Gegenstand gleichzeitig beäugen und sich darüber verständigen sollen, was ihnen jeweils auffällt. Ein solcher Austausch, den man im Unterschied zum Dialog mit einem Kunstwort von Johannes Hachmöller als »Perilog« 10 (von altgr. περί = in Betreff, über, um eine Sache kreisend) bezeichnen könnte, wäre ohne diese Prämisse unmöglich. Trotz dieses erkenntnistheoretischen Universalismus lässt Herbart auch Raum für Differenz und Diskrepanz. Diese hat man sich in dieser Denkweise so vorzustellen, dass unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Aspekte achtgeben, ihre Aufmerksamkeit auf jeweils andere Gesichtspunkte richten können: Nicht Alle sehen Alles gleich. Der nämliche Horizont hat diesem Auge viel, und jenem wenig anzubieten. Er zeigt einem das Schöne, einem andern das Nützliche, einem dritten ist er eine auswendig gelernte Landkarte. […] Zum Theil erklärt man sich vielleicht diese Verschiedenheit aus besondern, zufälligen Interessen, oder Eigenheiten des Temperaments u. d. gl., welche die Aufmerksamkeit so oder anders gewöhnen. Aber […] die nächste Ursache liegt ohne Zweifel in Verschiedenheiten des Anschauens selbst.« (ABC, I 155; Hervorhebungen im Original)
So wird auch Herbarts zweite Prämisse verständlich, nämlich dass die Anschauung »der Bildung fähig« (ebd.) sei; das Sehen sei »eine Kunst«, in der man »wie in jeder andern Kunst, eine gewisse Reihe von Uebungen zu durchlaufen hat« (ebd.). Auch in Bezug auf seine pädagogische Wertschätzung einer solchermaßen »gebildeten Anschauung« (ABC, I 158) lässt er keine Zweifel aufkommen: »Das Anschauen ist die Wichtigste [sic!] unter den bildenden Beschäftigungen des Kindes und des Knaben. Je ruhiger, verweilender […] das Kind die Dinge betrachtet: desto solidere Fundamente legt es seinem ganzen künftigen Wissen und Urtheilen.« (ABC, I 158) Und das Beste: Ein solcher Unterricht, der ein »geschärftes Aufmerken«, ein »unzerstreutes, scharf fassendes Schauen« »auf die Dinge wie sie gesehen werden« (ABC, I 158 f.) beabsichtigt, werde von den Kindern keinesfalls als eine lästige Angelegenheit empfunden, denn es sei »dem Knaben kein Unterricht angemessener […] als der anschauliche« (ABC, I 159). In seinem ABC der Anschauung entJohannes Hachmöller (2015), Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. Würzburg: Ergon, S. 39.
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wirft Herbart einen kindgerechten Lehrgang zur propädeutischen Unterweisung junger Eleven in der Kunst der Anschauung. Wie genau muss man sich jetzt aber nun den ›normalen‹ Schulunterricht vorstellen? Und welche Rolle spielen Wahrnehmung und Anschaulichkeit hier? Wir erinnern uns: Ziel des Unterrichts ist die vielbeschworene Vielseitigkeit des Interesses, also ein aufgeschlossen-neugieriges Sich-Auskennen und Bescheid-Wissen auf so manchem Gebiet. Nach Herbart müsse die Vielseitigkeit des Interesses näherhin auf zwei Feldern kultiviert werden, sodass »der Unterricht zwei getrennte aber stets gleichzeitig fortlaufende Reihen von unten auf jenem höchsten Punkte entgegen zu führen habe, um endlich beide in ihm zu verknüpfen; – man kann diese Reihen durch die Namen: Erkenntnis und Theilnahme unterscheiden.« (ÄD, I 270; Hervorhebungen im Original) 11 Während mit Erkenntnis all das gemeint ist, was in der Vorstellung die realen Dinge und Verhältnisse abbildet, zwecke die Teilnahme darauf ab, sich in die Empfindungen anderer zu versetzen. Die Rolle der Wahrnehmung bzw. Anschauung fällt sodann auch für Erkenntnis und Teilnahme unterschiedlich aus. Was die Erkenntnis angeht, so fängt diese »natürlich an bei den Uebungen zur Schärfung und ersten Verarbeitung der Anschauungen und der nächsten Erfahrungen: kurz, beym ABC der Sinne.« (ebd.) Man sieht, Wahrnehmungen sind hier nicht nur das Mittel, das Medium des Unterrichts, sondern sozusagen selbst sein Gegenstand, ihre Schulung sein Ziel. Der Aspekt der Teilnahme hingegen stellt den Lehrer diesbezüglich vor ein besonderes Problem, das sich als eine grundsätzliche Darstellungsaufgabe entpuppt, die in der Natur der Sache begründet liegt. Dieser, auf die Teilnahme gerichtete Teil des Unterrichts hat es ja grundsätzlich darauf abgesehen, das Vermögen zu entwickeln, sich in eine andere Person hineinzuversetzen; dafür aber müssen Personen bzw. ihre Empfindungen, Handlungen, Gefühle und Gedanken, die nachvollzogen werden sollen (vgl. AP, II 71 f.), überhaupt erst einmal irgendwie sicht- und greifbarbar gemacht werden, kurz: sie müssen zur Darstellung kommen. Besonders knifflig scheint es, wenn die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge behandelt werden sollen (vgl. AP, II 89): »Um hier »Aber die Welt, wie er [der Schüler; D. L.] sie betrachtet in den Stunden des Ernstes, dehne sich weiter und weiter; zwar immer gelegen zwischen den gleichen Extremen, dränge sie gleichsam dieselben in weitre Fernen hinaus […].« (ÄD, I 271).
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Man kam, sah und lernte?
anschaulich zu seyn, ergreife er [der Lehrer; D. L.] vor allem das nächste Beyspiel, den Zögling selbst […]« (AP, II 69 & 71; Hervorhebung im Original). 12 Eine andere Facette dessen, was man als Schülerorientierung avant la lettre 13 bezeichnen kann, hebt Georg Weiss in seiner Charakteristik des herbartschen Ansatzes hervor: Den Ausgangspunkt für den Gang des Unterrichtes bildet stets der bestimmte Erfahrungs- und Umgangskreis, in dem der Jugendliche steht. Zunächst hat man darauf zu sehen, daß dieser Kreis nach der »Idee gleichschwebender Vielseitigkeit«, d. h. nach der Seite der Erkenntnis und der Teilnahme erweitert und durchleuchtet wird. 14
Schauen, wo die Schülerinnen stehen, ihre Erfahrungswelt erkunden und ihre Grenzen durch geleitete Entdeckungen Stück für Stück verschieben. Wie geht man dabei vor? Man folgt dem didaktischen Gebot der Ähnlichkeit, man knüpft an Bekanntem an: Man kann aus dem Horizont, in welchem das Auge eingeschlossen ist, die Maasse nehmen, um ihn durch Beschreibung der nächstliegenden Gegend zu erweitern. Man kann das Kind in die Zeit vor seiner Geburt am Lebensfaden der ältern umgebenden Personen hinausführen; – man kann überhaupt alles dasjenige BLOS DARSTELLEND versinnlichen, was hinreichend ähnlich und verbunden ist mit dem, worauf der Knabe bisher gemerkt hat. (AP, II 59; Hervorhebungen im Original)
Unabhängig davon, welche Reihe man verfolgt, Erkenntnis oder Teilnahme, Herbart klassifiziert grundsätzlich drei verschiedene Unterrichtstypen, man könnte auch von Unterrichtsmethoden im weiten Sinne sprechen – es geht jedenfalls um grundverschiedene Arten, auf die man Unterricht betreiben kann. Seine Einteilung orientiert sich daran, welches Verhältnis jeweils zu den durch die sinnliche Wahrnehmung gewonnenen Schülervorstellungen besteht. Ein weiterer aufschlussreicher Fall ist die »Religion«, welche qua ihres »Naturprincip[s]« die »Sympathie mit der allgemeinen Abhängigkeit der Menschen« im Sinn habe. Um dieses zu sähen und zu pflegen lasse [man; D. L.] hinschauen, wo Menschen das Gefühl ihrer Grenzen äussern […].« (AP, II 69). 13 »So oft es sich zuträgt, dass für irgend ein Individuum ein Unterrichtsplan angelegt werden soll, wird sich immer ein Erfahrungs- und Umgangskreis vorfinden, in welchem das Individuum steht. Vielleicht wird dieser Kreis sich nach der Idee gleichschwebender Vielseitigkeit zweckmässig erweitern, oder innerlich besser durchsuchen lassen; und die ist das Erste, worauf man zu sehen hat.« (AP, II 58; Hervorhebungen im Original). 14 Georg Weiss (1928), Herbart und seine Schule. München: Reinhard, S. 206; Hervorhebung D. L. 12
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Der analytische Unterricht etwa zeichnet sich dadurch aus, dass die schon vorhandenen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler genommen und aufs Podest gehoben, dort betrachtet, zergliedert und reflektiert werden. Im Gegenzug ist es die Absicht des bloß darstellenden Unterrichts, der Sammlung ganz neue Vorstellungen hinzuzufügen, den »Gesichtskreis«, den die gegebene »Erfahrung«, der gegebene »Umgang« abstecken, durch »Gemälde«, »Abbildungen«, literarische »Schilderungen« (AP, II 59) zu erweitern: »[I]hrer Natur nach hat diese Lehrart nur ein Gesetz: so zu beschreiben, dass der Zögling zu sehen glaube.« (ebd.; Hervorhebung im Original) Der synthetische Unterricht schließlich verfährt konstruktiv, auch er bedient sich aus dem Fundus des Bekannten, aber fügt das Vorhandene durch geschickte Kombination zu neuen Wissensformationen. Auf diese, die dritte Form setzt Herbart den entscheidenden Akzent, wie das folgende Zitat belegt, in dem der Begriff das erste Mal fällt: »Der synthetische Unterricht, welcher aus eigenen Steinen baut, dieser ist es allein, der es übernehmen kann, das ganze Gedankengebäude, welches die Erziehung verlangt, aufzuführen. Freylich, reicher kann er nicht seyn, als unsre Wissenschaften […]; aber eben dadurch doch unvergleichbar reicher, als die individuelle Umgebung eines Kindes.« (AP, II 61; Hervorhebung D. L.) Herbarts empiristische Didaktik (inklusive der berühmten Folge: Klarheit, Assoziation, System, Methode) hat erheblichen Einfluss auf die sich in seiner Nachfolge formierende deutsche Schulpädagogik gehabt, nicht allein übrigens auf den sogenannten Herbartianismus. Für alle, die ihren Unterricht von der Wahrnehmung her denken und entsprechend anlegen wollen, steht Herbart auch heute als ein treuer Verbündeter bereit. Der nächste Abschnitt dient dazu, das dazugehörige Menschenbild herauszuarbeiten; damit erhält die ursprünglich rein didaktische, dann erkenntnistheoretische Frage, nun eine noch größere Tragweite: In den Blick kommen die ontologischen und anthropologischen Voraussetzungen, die eine Didaktik erfüllen muss, wenn sie sich glaubwürdig als »empiristisch« apostrophieren will. Ganz besonders wichtig ist dabei das Prinzip der Lebendigkeit.
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III. Hachmöllers lebendiges Individuum Als Lehrer, insbesondere als Fachleiter, befindet man sich in der komfortablen Position, Unterricht zur Genüge beobachten zu können; man sieht Schulstunden scheitern und man sieht sie gelingen. Anzuleiten sind Lehramtskandidaten mit unterschiedlichen Hintergründe und akademischen Sozialisierungen; da entwickelt man rasch eine Sensibilität dafür, wie stark die sogenannte ›Theorie‹, die jeder Schützling mitbringt, deren ›Praxis‹ in der Realität beeinflusst 15 – vor allem dann, wenn die angehenden Lehrer das Fach Philosophie studiert und dabei ganz bestimmte und zumeist feste Überzeugungen gewonnen haben. Durch das Studienseminar wird man zudem unweigerlich mit dem ebenfalls vermeintlich unumstößlichen ›state of the art‹ in Sachen Lerntheorie und pädagogischer Psychologie konfrontiert. Diese Situation muss man sich vergegenwärtigen, um nachvollziehen zu können, warum Johannes Hachmöller sich in immer neuen Anläufen auf den beschwerlichen Weg gemacht hat, einen adäquaten Begriff des Erkenntnisvorgangs zu entwickeln. Immer seine Schüler und auszubildenden Lehrer vor Augen, ist er zu diesem Zweck tief in die Geschichte der Philosophie eingedrungen. Ohne Scheu, vorhandene Übersetzungen zu prüfen und ggf. selbst Hand anzulegen, hat er sich über Nietzsche, Locke, Condillac, Hume, Ockham und Leibniz schließlich bis zu Platon und Sokrates vorgearbeitet. In mehreren Schriften ist er so auf seine ganz eigene Art dem Lernen auf der Spur. Gerade in seinem jüngsten Buch wird dabei sehr deutlich, wie diese errungenen Einsichten über die Zeit eine ganz eigene, selbst didaktische (Text-)Form hervorbringen – weniger eine paragraphentreue Abhandlung hat man da vor sich als viel eher ein kunstvoll komponiertes, spielerisches Lehrstück, das auf raffinierte Weise den Leser in vielen wendungsreichen Kapiteln buchstäblich mitnimmt auf Athens quirlige Markplätze und zu den glimmenden Holzscheiten an Heraklits Herdfeuer. Wer sich von seinem bissig-bösen Sokrates entführen lässt, den belohnt Hachmöller durch die Klarheit, dass unsere praxisrelevante Vorstellung vom Prozess des Erkennens auf keiVgl. den Abschnitt »Vorbemerkungen zur Dialektik von Theorie und Praxis« in: Daniel Löffelmann (2017), »Die grundlegende Bedeutung des Literaturbegriffs. Plädoyer für eine literaturtheoretische Fundierung des Literaturunterrichts.« In: Bedürfnisse und Ansprüche im Dialog. Perspektiven in der Deutschlehrerausbildung. Hrsg. v. Maria Geipel und Jennifer Koch. Weinheim: Beltz Juventa, S. 59–72, hier S. 59–62.
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nen Fall getrennt werden kann von der Weise, wie wir uns das ›Subjekt‹ dieses Vorgangs ausmalen, also das erkennende Wesen. Immer wieder geht es bei Hachmöller mithin um philosophische Anthropologie. 16 In seinem Leibniz-Buch lässt sich die Frucht dieser epistemischen Anstrengungen am komfortabelsten pflücken: Ausgehend von dessen Monadenlehre wird dort der Begriff des lebendigen Individuums explizit entfaltet. 17 Kontrastiv macht Hachmöller dabei deutlich, daß gerade die zeitgenössischen Wissenschaften, die sich die Erforschung der seelischen Prozesse, der Wahrnehmungsformen oder der Erkenntnisfunktionen lebendiger Wesen zum Ziel setzen, in der Regel leider mit Methoden arbeiten und von Prämissen ausgehen, die verraten, daß sie von der Natur der Wirklichkeit, die sie erforschen – also vom Wesen des Lebendigen – einen höchst unvollkommenen oder gar einen ganz falschen – Begriff haben. (348; Hervorhebungen im Original) 18
Dann wird ausführlich vorgeführt, wie man dadurch zwangsläufig in Aporien und Widersprüche gerät, die nur zu umschiffen sind, wenn man ein für alle Mal das skeletthafte Menschenbild der ›modernen‹ empirischen Wissenschaften (allen voran die Verhaltenswissenschaften) über Bord wirft; denn dies mag vielleicht Maschinen und Automaten korrekt beschreiben, nicht aber taugt es zur Erfassung des Menschen als leibhaftiger Erscheinung. Nach und nach deckt Hachmöller demnach auf, »in welche Sackgassen die Theorie der Erkenntnisfunktionen gerät, wenn sie im Nachdenken über die Natur […] des reizbaren Wesens in irgendeiner Richtung nicht so weit kommt wie Leibniz.« (Leibniz 348; Hervorhebungen im Original) Solche Sackgassen erkennt man leicht an einer typischen Ausschilderung: Sicher kann man sich dann sein, wenn das Einzelwesen von einer Theorie oder Philosophie konzipiert wird als ein »von der Eindruckswirklichkeit abgeschnittenes System« (23); diesem von Hachmöller so genannten »Gehäusemodell« (347) zufolge stehen sich das erkennende Wesen und sein Gegenstand gegenüber wie Subjekt Genau genommen müsste man in einer ungebräuchlichen Wendung von philosophischer Biologie sprechen, da Hachmöllers Überlegungen sich ausdrücklich nicht auf den Menschen beschränken, ja ihn gerade als ein lebendiges Wesen naturalisieren. 17 Vgl. auch die Beiträge von Heinrich Schwier und Käthe Meyer-Drawe in diesem Band. 18 Die eingeklammerten Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf Johannes Hachmöller (1996), Weltgegenwart und Lebensunruhe. Leibnizianische Studien. Stuttgart: Neske. 16
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und Objekt – also als zwei prinzipiell voneinander getrennte Entitäten, zwischen denen ein metaphorischer Burggraben verläuft, der von Krokodilen bevölkert wird, viele Meter breit und generell kaum zu überwinden ist. Der Riss, den diese sinnbildliche Separierung von Mensch und Welt bedeutet, wird zu allem Überfluss in der Regel noch durch eine weitere imaginative Ruptur verschärft; insofern nämlich, als dass das in dieser Sichtweise befangene Denken, von der »Bildlogik verführt« (15), oft zusätzlich dazu neigt, »das erkennende Wesen aufzuspalten: in ein leiblich verfaßtes Sensorium, das die äußeren Eindrücke passiv aufnimmt, und in einen Geist, der in der Höhle lebt und der – von Haus aus aktiv – damit beschäftigt ist, die eingegebenen Werte und Bilder zu verknüpfen und in Begriffe zu fassen.« (15, Hervorhebungen im Original und vom Autor) Damit ist der altbekannte LeibSeele-Dualismus mitsamt seinen Folgen angesprochen, dessen wohl berühmteste und einflussreichste Form die Erkenntnisphilosophie Kants bildet. Aber wie lässt sich anders denken? Der Kardinalfehler scheint jedenfalls darin zu liegen, einen folgenreichen Dualismus bereits in den Grundriss des erkennenden Wesens einzuschreiben. Ergo spart man sich die Anstrengung, die beiden Teile später aufwendig wieder zusammenzukonstruieren, wenn man von Anfang an einen holistischen Ansatz wählt; das heißt dann, Mensch und Welt gar nicht erst in Subjekt und Objekt auseinanderzudividieren, sondern von Anfang an davon auszugehen, dass jede Lebensform als leiblich-situiertes Weltwesen »vorgängig, unmittelbar und unaufhörlich mit allem ›en rapport‹ ist.« (342; Hervorhebungen im Original) Dieses »RapportAxiom« (23) hebt auf den für Lebendiges kennzeichnenden »Weltbezug der sinnlichen Empfänglichkeit« (ebd.) ab, der »per constitutionem« (ebd.) bestehe. Nicht Trennung als vielmehr ursprüngliche Einheit lautet die Zauberformel dieses Begriffskalküls, demzufolge sich »das individuelle Wesen ab origine als eine substanzielle Form des sinnlichen rapport-Seins konstituiert« (22). So gesehen, ergäbe jetzt auch endlich Leibniz’ viel zitierte und ebenso häufig missverstandene Formulierung von der »Fensterlosigkeit« der Monaden ihren guten Sinn: Denn es sei ja dann klar, dass die monadischen Individuen vor allem deshalb keine »Fenster« besitzen, durch die das »Licht« der sogenannten »Außenwelt« in das auf Abstand zu ihr gestellte Lebewesen dringe, weil es überhaupt gar keine Gründe gibt, anzunehmen, dass eine solche »Grenze« existiere; wenn 81 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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also sozusagen keine »Wand« zwischen »Innen« und »Außen« vorhanden ist, können in sie auch keine Fenster eingelassen sein (vgl. 248). Für die Fenster-Theorie der Monade sei erstens eine Welt denknotwendig, die dem Subjekt »gegenüber steht« (268) und zweitens »eine Instanz, die die Wirklichkeit als Objekt vor sich hat« (ebd.). – Beide seien aber »schon deshalb nicht vorstellbar, weil weder zur äußeren noch zur inneren Seite ein Standpunkt denkbar ist, der jenseits der ersten Phänomene liegt.« (268) Wer dies beherzigt und stattdessen vom Rapport-Axiom ausgeht, ist jedoch leider nicht von Haus aus dagegen gefeit, die in diesem Punkt überwundene Spaltung sozusagen ›im‹ lebendigen und erkennenden Individuum selbst doch noch zu reproduzieren, indem man den Menschen in einen rein passiv-sensorischen (Körper) und einen aktiv-begrifflichen Anteil (Seele/Geist/Verstand) auseinanderlegt, die vermeintlich zusammenwirken müssen, um unsere Wahrnehmungswelt überhaupt erst zu erzeugen. In der Absicht, diesen Bruch – Folgeerscheinung des oben beschriebenen Kardinalfehlers – zu kurieren, will Hachmöller zunächst mit Leibniz demonstrieren, »daß Leibliches und Seelisches in der Empfindlichkeit [immer schon; D. L.] eine vorgängige Einheit bilden.« (344) Bei der reinen, völlig neutralen und in diesem Sinne ›objektiven‹ Wahrnehmung handele es sich um ein fatales Trugbild. 19 Sie lasse sich nicht auf das unbeteiligte Empfangen steriler Sinnesdaten reduzieren; stattdessen habe man Wahrnehmung im vollumfänglichen Sinne als Empfindung zu begreifen. Und daher bedeuteten »Changements« (268) in den Sinnesqualitäten stets auch spezifische »Willensregungen« (ebd.), die dem vitalen Bedürfnis einer »Veränderung zum ›Besseren‹ hin« (263) entspringen: [D]as perzeptionale [wahrnehmende; D. L.] System [sei; D. L.] von einer unaufhebbaren Lebens-Unruhe erfüllt […], welche ihren Grund in der Tatsache hat, daß jedes Lebewesen der Kausalität der herrschenden Weltbedingungen nicht nur unterworfen ist wie ein toter Gegenstand, sondern daß jedes lebendige Individuum von Natur aus danach streben muß, möglichst zuträgliche
Hier kann die Argumentation im Übrigen auf gesicherte theoriegeschichtliche Erkenntnisse Ernst Cassirers zurückgreifen, der in seiner Schrift Zur Logik der Kulturwissenschaften wunderbar anschaulich zeigt, dass die auch den empirischen Wissenschaften zugrundeliegende Art der abgeklärten Anschauung (Cassirer spricht von »Objektwahrnehmung«) eine erste, recht spät entstandene Ansicht bzw. Imagination des Wahrnehmungsvorgangs darstellt.
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Werte anzustreben und von den weniger zuträglichen wegzukommen. (317; Hervorhebung im Original)
Damit hängt ein anderes, neues Verständnis von Passivität und Aktivität zusammen; demzufolge ist ein leibhaftiges Wesen sowohl passiv (empfindlich, reizbar) als auch aktiv (unruhig, strebsam) – aber eben als Ganzes, in toto und durchaus nicht so, wie herkömmlicherweise angenommen wird, dass Aktivität und Passivität nur jeweils bestimmten Komponenten zukommt: passiver, Eindrücke empfangender Körper hier – aktiver, konstruierender Geist dort. Insofern sie »selbst der Grund von Wirkungen sein können« (180) und nicht nur dem Kausalgeschehen ausgeliefert sind, sondern eine eigene »Spann-Kraft« (263) besitzen, stellen Individualitäten mithin »Selbstmächtigkeiten« (ebd.) dar. Lebendige Wesen müssen folglich »zugleich als […] Empfänglichkeit und Regsamkeit gedacht werden« (323; Hervorhebungen im Original). 20 Eine weitere Strategie, dem Erkenntnisdualismus (passives Eindruckssensorium, aktiver Verstandesapparat) das Wasser abzugraben, besteht darin, einen der Kernbegriffe dieses Theorems als unbegründetes Phantasma zu entlarven. Infrage gestellt werden soll der Gedanke der »Einzeleindrücke«, womit zumeist singuläre Sinnesqualitäten 21 bezeichnet werden – also z. B. das Rot der Blüte oder die Kälte des gefrorenen Bodens. Diese Vorstellung, dass es so etwas wie Perzeptions-Atome geben müsse, aus denen unsere Wahrnehmungswelt sich aufbaut, provoziert nämlich den schwerwiegenden Folgefehler, ein Gehäusemodell des Geistes zu imaginieren: Die Idee der »gesondert erscheinende[n] Einfachheiten« 22 , wonach die Wahrnehmungs20 Es sei am Rande darauf hingewiesen, dass die Seele in diesem Szenario »nur der InBegriff der Lebendigkeit des Leibes sein kann – und nicht ein Wesen, das vom Leib abgehoben ist und ein leibunabhängiges Sein hat.« (219); Leibniz operiert also mit dem Konzept einer »sterbliche[n] Seele […], die nicht das Subjekt des Denkens, sondern das Prinzip der Empfindlichkeit und Agilität des Lebens ist und damit auch dem Gesetz von Geburt und Tod unterworfen sein muß.« (ebd.). 21 In der analytischen Theorie des Geistes spricht man auch von »Qualia«. 22 Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 361 f. (wie in Anm. 10): »Das ist ein überzeugendes Schlussplädoyer zur Beendigung der Debatte über die Frage nach der Eigenart der vollständigen Sichtbarkeit. Danach ist es gewiss keine Unzahl von gesondert erscheinenden Einfachheiten, auf die niemand sein Augenmerk richten könnte. Genauso gewiss nicht ein Ganzes, in dem die iterierende intentio niemals irgendwelche Eigentümlichkeiten erfassen und auffallende Gleichartigkeiten bemerken könnte. Vielmehr ist es stets ein unbegrenzter Horizont, der sich mit der jeweils hervortretenden Farbigkeit und Abstufung der Helligkeit konstituiert: als eine grandiose
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kanäle einen Wust ungeordneter Einzelinformationen über die Welt ›da draußen‹ befördern, impliziert die Vorstellung, dass dieses Baumaterial zunächst in einer Logistikzentrale sortiert werden muss, damit es dann nach einem geheimen Plan zu einem phänomenalen Ganzen endmontiert werden kann. Dieser Einbildung »cogitativer Pseudo-Kraft-Akte« (329) halte Leibniz entgegen, daß dem Anschauungsvermögen niemals einzelne und absolut für sich gegebene sinnliche Qualitäten vorgestellt werden können – und daß der Verstand, der sich auf dieses Vermögen gründet, die Vorstellbarkeit solcher Qualitäten auch nicht denken kann. Und zwar deshalb nicht, weil sich mit der Durchdringung der Formen des Raumes und der Zeit ein anfangs- und endloser Horizont virtueller Vorstellbarkeit konstituiert, der den Gedanken an einen Hiatus zwischen besonderen Erscheinungen als Denkunmöglichkeit ausschließt. In diesem Gesamthorizont der möglichen Vorstellungen kann es daher aus formalen Gründen singuläre oder absolute Erscheinungen gar nicht geben, weil jede einzelne Erscheinung nur als Teil des raumzeitlichen Gesamtkomplexes tatsächlicher und möglicher Erscheinungen vorstellbar ist, in den alles eingeordnet und in dem alles aufeinander bezogen erscheint. (84; Hervorhebungen im Original)
Anders formuliert: singuläre Sinnesqualitäten (das Goldgelb, die Weichheit, der süße Duft) können wir weder als solche wahrnehmen noch sind sie wirklich für sich genommen vorstellbar. Um aufzutreten, brauchen sie eine Bühne; um im Vordergrund zu stehen, einen Hintergrund. Damit etwas überhaupt – ob in der Realität oder in der Vorstellung spielt dabei im Grunde keine Rolle – hervortreten und als etwas erkannt werden kann, benötigt es zwingend etwas anderes, von dem es sich abheben oder an dem es ersichtlich werden kann. Farben sind nicht an sich vorstell- oder beobachtbar, immer ist es etwas, das farbig ist; auch Töne und Gerüche müssen, damit sie diskret in Erscheinung treten können, sich von ihrem jeweiligen perzeptionellen Umfeld kontrastiv unterscheiden. Seine Strategie, dem Dualismus des Erkennens die Prämissen streitig zu machen, findet in Hachmöllers Leibniz-Buch schließlich dadurch ins Ziel, dass er am Beispiel der Gestaltpsychologie detailliert darlegt, wie »die hochdifferenzierten Verstandesoperationen, die der objektive Beobachter unterstellt [die angeblichen Konstruktionsleistungen des Geistes im Gehäuse; D. L.], in Wahrheit als ein Ergebnis Vielfalt, in der jede sich abzeichnende Figuration einen Platz hat, einen Platz schafft und mit Teilen erscheint, deren Teile sich selbstverständlich ebenfalls abzeichnen.« (Hervorhebungen im Original).
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vergleichsweise primitiver Wahrnehmungsstrukturen erklärt werden können.« (333; Hervorhebung im Original) Leibniz Monadologie biete nämlich »durchaus die exklusive Möglichkeit […], die Gestaltwahrnehmung als eine Profilperzeption und damit als einen Reizvorgang zu bestimmen […].« (329; Hervorhebung im Original) Fassen wir zusammen: Während Herbarts Schriften eine ergiebige Fundgrube zum Zusammenhang von Wahrnehmung und Lernen (in einem engeren, explizit didaktischen Sinn) darstellen, liefert Hachmöller nun mit Leibniz sozusagen die tragfähige philosophische Grundlage für die Herbartsche Theorie. Das mag provokant bis paradox klingen, denn der herkömmlichen Meinung zufolge ist es ja gerade Herbarts Verdienst, selbst einen solchen sicheren Boden bereitet zu haben. Und in der Tat hebt sich seine eigene Position in vielem explizit von dem damals in philosophischen Dingen maßgeblichen Kant ab, bleibt meines Erachtens jedoch schlussendlich in wesentlichen Punkten einem nicht unproblematischen Bild vom Wahrnehmungsvorgang und dessen Subjekt verhaftet. Die »Theorie der ersten Erkenntnisfunktionen« (330), die Hachmöller bei und mit Leibniz freilegt, ist im Unterschied dazu gekoppelt an einen bestimmten Begriff des erkennenden Wesens, der das »Prinzip der Lebendigkeit« (183) in sein Recht setzt: »[D]as substantielle Wesen der Lebendigkeit [bleibt; D. L.] das eigentliche und einzige Seinsfundament aller Wahrnehmungsfunktionen«. (346) Nur auf diesem Wege könne es gelingen, »das Dilemma zu beheben, in dem das Denken ist« (347), wenn es einen Sachverhalt mit für diesen Zweck unbrauchbaren begrifflichen Mitteln aufzuklären versucht. In praktischer Hinsicht wird damit der Didaktik ein Instrumentarium bereitgestellt, eine wohlbegründete Gedanken- und Bilderwelt, mit der das Phänomen Lernen nicht nur besser erklärbar wird, sondern das auch weitreichende Implikationen für die Gestaltung des Unterrichts mit sich bringt, die im nächsten Abschnitt zum Thema werden. Auf die zum Teil abstrusen Folgen, die aus einer falschen Lerntheorie resultieren, wies Hachmöller schon in den 1970ern hin, u. a. in einer Studie über die eigentümliche Karriere, welche der Behaviorismus in der pädagogischen Psychologie und didaktischen Wissenschaft erfahren hat. 23 Gleiches gilt für seine ›Rezension‹ eines Einführungsbandes in erziehungswissenschaftliche ForschungsJohannes Hachmöller (1977), Pawlows mißverstandener Hund. Ein Beitrag zur Lern- und Curriculumstheorie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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methoden; beide Male geht es ihm darum, gegen eine »finstere Vision« anzuschreiben, der zufolge die Pädagogik in Theorie und Praxis verkommt zu einem »willenlosen Handlager« und »jämmerliche[n] Reflex des Spiels der Mächte und Herrschaften« 24 .
IV. Wagenscheins Lehrstückunterricht Nachdem nun das Fundament bereitet ist, soll jetzt geschaut werden, wie ein auf Wahrnehmung gestützter Unterricht konkret aussehen kann. Dazu wenden wir den Blick in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der im Anschluss an den Pädagogen und Didaktiker Martin Wagenschein eine fachübergreifende ›Bewegung‹ in der Didaktik entsteht. 25 Dieser didaktischen Gruppe hat es vor allem die Entwicklung und Durchführung von Lehrstücken 26 angetan. Dass nun gerade die Lehrkunstdidaktik bzw. ihr prominentester Kopf hier als Praxisvertreter eines didaktischen Empirismus ausgewählt wurde, mag vielleicht überraschen. Ganz anders als Herbart (und auch Hachmöller) wird Wagenschein nämlich dem reformpädagogischen Spektrum zugeordnet – schon deshalb, weil er lange Jahre an der »Odenwaldschule«, der »Freien Schulgemeinde« Paul Geheebs, tätig war. Bei aller Unterschiedlichkeit, die darüber hinaus allein schon in der zeitlichen Distanz begründet liegt, bilden die drei Pädagogen dennoch – so meine These – einen kohärenten Strang in der Didaktik; dafür gibt es in meinen Augen mindestens zwei gute Argumente. So stehen Herbart, Wagenschein und Hachmöller erstens Seite an Seite vereint im Kampf gegen das auf Kosten echten Verstehens gehende Vollstopfen des Unterrichts mit ›Stoff‹ in Namen einer ohnehin illusorischen curricularen Vollständigkeit. Wagenschein setzt dem sein Konzept des Exemplarischen 27 mit seiner »Beschränkung Johannes Hachmöller (1978), »Bemerkungen zu Nicklis/Wehrmeyer: Erziehungswissenschaftliche Forschungsmethoden«. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 54 (1), S. 119–143. 25 Hans Christoph Berg und Theodor Schulze (1995), Lehrkunst: Lehrbuch der Didaktik. Neuwied: Luchterhand. 26 Hans Christoph Berg, Hans Brüngger und Susanne Wildhirt (1999), Lehrstückunterricht: Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch. In: Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Hrsg. v. Jürgen Wiechmann. Weinheim: Beltz, S. 99–113. 27 »Ein gewisser Stoff, oder wesentlich richtiger: ein gewisses Problem […] kann exemplarisch werden für eine fundamentale Erfahrung […]. Fundamental sind solche Erfahrungen, welche die gemeinsame Basis des Menschen und der Sache (mit der er 24
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auf das ›Wesentliche‹« (VL, 30 28 ) entgegen: »Anstelle also des gleichmäßig oberflächlichen Durchlaufens des Kenntniskatalogs« (ebd.) habe der Lehrer mit seinen Schülern »die Erlaubnis, ja die Pflicht, sich hier und dort festzusetzen, einzugraben, Wurzeln zu schlagen, einzunisten.« (ebd.) Walter Köhnlein fasst es so zusammen: Wagenschein fordere den »Vorrang des Verstehens vor aller Wissensanhäufung sowie die Konzentration des Unterrichts auf das an Beispielen grundlegend erfahrbare Wesentliche […], also auf die entscheidenden Gesichtspunkte, Strukturen, Kategorien und Methoden.« 29 Man darf sich erinnern, dass gerade die hier angesprochene Konzentrationsidee im Herbartianismus (insbesondere bei Ziller und Dörpfeld) Konjunktur hatte. Die zweite, für das Thema dieses Beitrags relevantere Gemeinsamkeit ist die große Bedeutung, welche alle drei Didaktiker der Wahrnehmung mit Blick auf den Lernprozess zuerkennen. Sie soll noch kurz am Primärtext und mithilfe einiger Stimmen aus der Sekundärliteratur belegt werden. Gehen wir dazu von der vernichtenden Diagnose aus, die Wagenschein beispielhaft am (nahezu) allabendlichen Phänomen der Mondsichel entfaltet: Der moderne Mensch hat […] also gerade das verlernt, was die Naturwissenschaft ihn hätte lehren können, einer Sache gewahr werden, beobachten. Bedenklicher noch: Statt zu wissen, was er sehen könnte, wenn er gelernt hätte hinzusehen, hat er leere Sätze bereit […]. (S. 62 f.) [E]in oder zwei beharrliche Blicke [würden; D. L.] genügen, richtete man sie nur auf die erstaunliche Wirklichkeit des Himmels selbst […]. (VL, 63)
In der Moderne habe man das echte Sehen aus den Augen verloren; an die Stelle des unbefangenen Schauens sei ein »verdunkelndes Wissen« (VL, 61) getreten, ein Wissen, das der Bildung eher »im Wege steht« (ebd.). Wagenschein stellt dies in einen Zusammenhang mit sich auseinandersetzt) erzittern lassen. Nur dann können wir von einer bildenden Erfahrung sprechen. – »Elementare« Einsichten liefert sie notwendig und unvermeidlich nebenbei.« (Martin Wagenschein, Verstehen Lehren, S. 42; Hervorhebungen im Original, vgl. Anm. 28). 28 Ab hier beziehen sich die eingeklammerten Seitenangaben im Text auf: Martin Wagenschein (19919 [1968]), Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Mit einer Einführung von Hartmut von Hentig und einer Studienhilfe von Christoph Berg. Weinheim: Beltz (= VL). 29 Walter Köhnlein (1998), »Einführende Bemerkungen zum Leben und Werk Martin Wagenscheins sowie zu den Beiträgen.« In: Der Vorrang des Verstehens. Beiträge zur Pädagogik Martin Wagenscheins. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 9–20, hier S. 12.
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der Methode des durchschnittlichen Schulunterrichts: »Die meisten Erwachsenen sehen […] heute nicht […], da die Schulen […] meist nur auf dem Papier ›erklären‹.« (VL, 92) Dieses Defizit besitze deshalb ein so großes Gewicht, weil Wagenschein der interessierten Wahrnehmung, dem neugierigen Sehen, unheimlich viel zutraut, ja es eben für das sine qua non einer wirklich wissenschaftlichen Welterfassung hält. Passenderweise spricht Wagenschein denn auch generell weniger von Erkenntnissen als vielmehr von »Einsichten« (VL, passim); zudem zieht er das »Durchschauen« eines Zusammenhangs dem »Bewältigen« von Stoff terminologisch entschieden vor (vgl. VL, 131–133). Und so charakterisiert auch die Forschung treffend, dass Unterricht nach Wagenschein von der Wahrnehmung ausgehen müsse; am besten so, dass er ohne Bruch vom Sehen zum Verstehen, vom Nachdenken über auffällige Phänomene in die wissenschaftliche Erforschung von Sachverhalten [gelangt; D. L.] […]. Zugleich hält es den Rückweg zu der Fülle der konkreten Erscheinungen offen und stärkt die Verwurzelung des Fühlens und Denkens in den lebensweltlichen Erfahrungen der Kinder. Genetischer Unterricht beginnt in der Regel mit der Wahrnehmung von Phänomenen, die sich ›sinnenhaft zeigen‹. 30
Auch sein Mitstreiter in der Lehrkunstdidaktik Hans Christoph Berg konstatiert einstimmend: »[D]ie ursprünglichen Phänomene müssen unversehrt gegenwärtig gemacht und gegenwärtig gehalten werden.« (VL, 165) Hier kommt übrigens sofort wieder die Kunst der Darstellung ins Spiel. Denn damit sich, vermittelt über die Wahrnehmung, ein »aktives Berührtwerden« 31 durch die Sache bei den Schülern einstellen kann, müsse die Lehrperson dafür Sorge tragen, dass in jeder Schulstunde die »für Lernende zum Thema werdende Wirklichkeit als ein möglichst unbeschränktes sinnliches Gegenüber anwesend« 32 sei. Diese »Anwesenheit der Wirklichkeit« (VL, 85) sei von allergrößter Bedeutung, da sonst im Unterricht die oben kurz angerissenen, Köhnlein (1998), Bemerkungen, S. 14 f. Hervorhebungen im Original (wie in Anm. 29). 31 Rudolf Messner (2012), »Phänomene als Initiation. Über die Besonderheit des »Einstiegs« in der Wagenscheinschen Lehrweise.« In: Martin Wagenschein – Faszination und Aktualität des Genetischen. Hrsg. v. Norbert Kruse, Rudolf Messner und Bern Wollring. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren, S. 49–67, hier S. 49. Vgl. auch Wagenscheins Kennzeichnung des exemplarischen Lernens als ein »Widerfahren« (VL, 35). 32 Messner, Phänomene als Irritation, S. 57 (wie in Anm. 31). 30
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folgenreichen »Wirklichkeitsverluste« (ebd.) drohen. Für die Unterrichtsplanung und die Konzeption von Lehrstücken gilt nach Wagenschein also grundsätzlich die Reihenfolge: »Erst das Phänomen, dann die Theorie und die Modellvorstellung.« (VL, 121) Dramaturgisch – und Lehrstücke sind dramaturgisch durchgestaltete Unterrichtseinheiten – fällt der erste ›Auftritt‹ des Phänomens, der selbiges mit dem ›Publikum‹ bekanntmacht, genau in jene Phase des Unterrichtstheaterstücks, die man in der Literaturwissenschaft Exposition nennt. Bei diesem wichtigen Schritt sei die Herausforderung, »das vom Lehrer zuvor gewählte, aber nicht ausgesprochene Thema zünden zu lassen […]. Der Hebammenkunst muß die Sorge um die Empfängnis vorausgehen.« (VL, 81; Hervorhebung im Original) An einen geeigneten Schauspielkandidaten für eine solche Inszenierung stellt Wagenschein dabei hohe Erwartungen: Statt »des Idols der breiten und statischen Vollständigkeit, die uns ängstlich Vorratskammern füllen läßt, suchen wir offenbar etwas Neues, einen entschlossenen Durchbruch zu den Quellen. Nicht Vollständigkeit der letzten Ergebnisse, sondern die Unerschöpflichkeit des Ursprünglichen.« (VL, 53) Hinter dieser womöglich zuerst orphisch anmutenden Unerschöpflichkeit, die Wagenschein im Unterricht von seinen ›Darstellern‹ erwartet, steckt eine ganz sinnfällige Forderung, nämlich, dass das »Einzelne, in das man sich […] [im Lehrstück; D. L.] versenkt«, »nicht Stufe«, sondern einen »Spiegel des Ganzen« (VL, 32) darstelle. In einer Situation, einer Szene, einer Situationsbeschreibung usw. müsse also immer schon alles angelegt und keimhaft enthalten sein, was dann im Laufe des Unterrichtsgangs zur Entfaltung gelangen wird. Zu allem Überfluss solle dieser Anspruch auch noch möglichst anhand »alltägliche[r] Erscheinungen« eingelöst werden (VL, 81), die den Schülerinnen und Schülern bereits grundsätzlich bekannt und damit für sie erlebbar 33 sind. Wir erkennen hier also – das wäre ein drittes Argument – ebenfalls die strengen Maßstäbe
»Da aber Wahrnehmen und Denken beim […] Verstehen zusammenspielen, kommt es sowohl auf die Sinneserfahrung der Dinge, als auf die Sinneserfahrung als Erlebnis an.« Peter Buck (2012), »Verstehen kann jeder nur für sich selbst (Wagenschein). Wie wird aus einem Phänomen vor mir ein wissenschaftlicher Begriff in mir?« In: Martin Wagenschein – Faszination und Aktualität des Genetischen. Hrsg. v. Norbert Kruse, Rudolf Messner und Bern Wollring. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren, S. 83–99, hier S. 85.
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Daniel Löffelmann
wieder, die an die Lehrerin gestellt werden und die uns schon bei Herbart begegnet waren. Einen noch besseren, anschaulicheren Eindruck davon, wie Lehrstückunterricht als eine Erscheinungsform eines didaktischen Empirismus in der Praxis Gestalt annimmt, vermitteln unter anderem die Beiträge von Stella Wieg und Anna Pickhan in diesem Band; einige weitere Beispiele (auch zum selbst ausprobieren) finden sich auf dem Blog der Jenaer Schule. 34
V.
Drei Thesen
Seit den 2000er Jahren existiert in Jena eine Gruppe von Studierenden, Lehrern und Dozentinnen, die an die von mir umrissene Tradition auf heterogene Weise anknüpft und sie weiterführt – wenn auch mit anderer Akzentsetzung sowie unter Berufung auf zum Teil andere Bezugsautoren. Aus dieser kollektiven Arbeit heraus (dem gemeinsamen Nachdenken und Ausprobieren, das der vorliegende Band insgesamt widerspiegelt) sollen abschließend drei pragmatische, auf die Re-Etablierung eines didaktischen Empirismus zielende Thesen zur Diskussion gestellt werden: 1. Würde man mit einem auf Wahrnehmung (gr. aisthesis) fundierten Unterricht didaktisch ernst machen, käme das einer Revolution der gegenwärtigen Unterrichtspraxis gleich. 2. In der unterrichtlichen Umsetzung dieser Revolution würde man an der Darstellung (gr. mimesis), als dem didaktischen Gegenpol der Wahrnehmung, nicht vorbeikommen: Das Prinzip der Wahrnehmung und das Prinzip der Darstellung verweisen wechselseitig aufeinander; ohne ihr orchestriertes Zusammenspiel wie in der Lehrstückdidaktik sind sie so gut wie wertlos. 3. Mit ihrem ästhetisch-mimetischen Unterrichtskonzept erweist sich die Lehrstückdidaktik als rhetorisch anschlussfähig. Denn im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen hat sie konkret etwas Substanzielles in Sachen Inklusion anzubieten. Im Unterricht die Sache als Phänomen in Form exemplarischer Darstellungen auf der ›Bühne‹ auftreten und das Klassenpublikum darüber ins Gespräch zu bringen, sorgt dafür, dass alle auf ihre Weise sinnstiftend an einem gemeinsamen Geschehen teilnehmen und sich nach ihrer Möglich34
www.jenaerschule.de (Stand 28. 08. 2019).
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keit einbringen können. 35 Zusätzlich zu diesem egalitären Zug verbürgt die Anthropologie mit ihrer Grundfigur des lebendigen Individuums gleichzeitig Liberalität, insofern sie mit der Unterschiedlichkeit und Einzigartigkeit von Bedürfnissen, Regungen und Bestrebungen rechnet und diese unterrichtspraktisch anerkennt.
Um sich angesichts der bildungspolitischen Großwetterlage überhaupt erst einmal Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, müsste man allerdings vorher vermutlich ein zeitweiliges Zweckbündnis mit der Kompetenzdidaktik eingehen (auch wenn hier gravierende Differenzen bestehen). Was eine derart vermarktete »empiristische Wende« in der Didaktik den Verantwortlichen an herausspringenden »Kompetenzen« begründet versprechen könnte, dürfte gut zum ökonomischen Zeitgeist passen, der ja zumindest dem Worte nach Individualität, Kreativität und gedankliche Flexibilität hochhält.
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Mario Ziegler
Die Kunst der Darstellung. Mimetische Lehrstückdidaktik nach Aristoteles
I.
Einleitung
Sokrates träumt aus der Sicht von Johannes Hachmöller von einer »philosophischen Revolution«. 1 Diese Revolution beginnt damit, dass jeder Mensch es wagt, »das Tun und Reden der in seinen Wahrnehmungshorizonten erscheinenden menschlichen Gestalten als ein Teil des großen Naturschauspiels anzusehen.« 2 Wer sich traut, das zu sich zu sagen, ist bereits auf dem besten Weg, ein souveränes Urteilsvermögen zu entwickeln. Denn er geht dann ganz unbefangen davon aus, »er habe bei der interessierten Beobachtung dieses Theaters offenbar selbst all das zur Kenntnis genommen, was ihn instand setze zu beurteilen, was gerecht sei und was seine Hochachtung finde.« 3 Sich auf seine eigenen Augen und Ohren zu verlassen, galt schon zu Zeiten des Sokrates als eine große Naivität – besonders bei den Philosophen, die ihre satzförmigen Aussagen ganz genau analysieren und die sich deshalb nicht auf ihre Sinne verlassen, wenn sie das Schauspiel menschlichen Handelns bewerten und beurteilen. Der beobachtende Philosoph ist deshalb für diese Philosophen wie die meisten Menschen ein Naivling, der einfach nicht begriffen hat, dass das Gerechte und das Ungerechte nicht als solches in der Welt anzutreffen sind, sondern durch uns – in Form von bestechend formulierten Sätzen und Thesen sowie durch überzeugende Argumente – sozusagen in die Welt gesetzt werden. Aristoteles ist auch so ein beobachtender Philosoph, der wie der in die Jahre gekommene Sokrates in Platons Theaitetos sehr genau das Naturschauspiel und auch das Schauspiel menschlichen Handelns Johannes Hachmöller (2015), Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. Würzburg: Ergon, § 168, S. 319 ff. 2 Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 319 (wie in Anm. 1). 3 Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 319 f. (wie in Anm. 1). 1
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Die Kunst der Darstellung
betrachtet und seine wichtigsten Entdeckungen und Einsichten in seinen Schriften festgehalten hat. Dabei strebt er als Philosoph genau nach der Form von Souveränität, die Platon seinem Lehrer Sokrates in den Mund legt und die nach Ansicht von Hachmöller vor allem darin besteht, »dass er [der Philosoph; M. Z.] im Rückgriff auf den Schatz seiner eigenen Erfahrungen souverän urteilt und mit seinen eigenen Worten mitzuteilen versucht, was er findet. Alles daransetzend, sich für denjenigen verständlich auszudrücken, der sich ebenfalls auf seine eigenen Einsichten verlässt und nicht daran denkt, sich nach den von anderen vorgegeben Maßstäben zu richten.« 4 Ein Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, eine Schneise zu schlagen vom späten Platon zu Aristoteles, die freilegt, dass die von Platon entwickelte Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie auch eine Lerntheorie darstellt, die nicht nur zur Einführung in die Arithmetik 5 , sondern auch als Einführung in die Ethik geeignet ist. Die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen Hachmöllers Platon-Interpretation und meiner eigenen Deutung der aristotelischen Mimesis als nachahmender Darstellungskunst liegt vor allem in dem ursprünglichen Verständnis des Wortes »Typos« (τύπος) verborgen. Der Typos steht bei beiden Denkern für die umrisshaften Abziehbilder, die jeder Mensch als Wissensfundus besitzt und die unseren Blick auf die Erscheinungen in der Welt maßgeblich prägen, ohne dass wir ihr tatkräftiges Eingreifen bei unseren Erkundungen bemerken: Sie sind deshalb »durchaus einem Spuk vergleichbar, der bekanntlich überall erscheinen kann und doch ein Gespenst bleibt, weil er sich niemals und nirgendwo unverkleidet sehen lässt.« 6 Diese rein imaginativen Spuk- und Abziehbilder, die niemals selbst vor unseren Augen erscheinen können, obwohl wir sie den Erscheinungen abgeschaut haben, sind doch ein »Konstituens des Erscheinenden.« 7 Wer sie z. B. im Unterricht aufstöbern und somit überhaupt von ihnen Notiz nehmen möchte, ist gezwungen, auf Darstellungen zurückzugreifen, weil nur so die Kenntnisse, Vorstellungen und Überzeugungen, die jeder Schüler bereits besitzt, hervorgeholt werden
Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 321 (wie in Anm. 1). Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, § 42–§ 54, S. 78 ff. (wie in Anm. 1). 6 Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 169 (wie in Anm. 1). Vgl. auch Otfried Höffe (1996), Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles. Berlin: Akademie, S. 111 f. 7 Hachmöller, Platons Theaitetos, S. 169 (wie in Anm. 1). 4 5
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Mario Ziegler
können. Daher ist die Kunst des Unterrichtens in der Lehrstückdidaktik der Jenaer Schule vor allem eine Kunst der Darstellung. Und zwar in zwei Hinsichten: zum einen mit Blick auf jene Darstellungen, die der Lehrer verwendet, um den Schülern den Weg zu neuen Einsichten zu ebnen, zum anderen mit Blick auf diejenigen Darstellungsleistungen, die die Schüler im Unterricht selbst erbringen und die ihnen dazu verhelfen, ein Phänomen oder eine Sache besser zu verstehen. Das heißt: Aus dem gemeinsamen Verständnis der Typos-Lehre erwächst also auch ein bestimmtes Verständnis des Lernens, das schon deshalb »unzeitgemäß« ist, weil das Lernen hier hauptsächlich als eine Imaginations- und Darstellungsleistung verstanden wird. In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf die Rolle und Funktion der ästhetischen Darstellung für das ethische Lernen. 8 Es wird also nicht zu einer direkten Auseinandersetzung mit der hachmöllerschen Platon-Interpretation kommen. Mein Text ist vielmehr als eine Weiterführung seiner philosophischen Didaktik unter einer dezidiert ethikdidaktischen Perspektive zu verstehen. Dabei spiele ich an vielen Stellen mit einigen seiner Gedankenfiguren und zeige auf, dass auch Aristoteles mit seiner mimetischen Darstellungskunst auf dasselbe Prinzip des Erkennens und Lernens zurückgreift. Mit dem Verweis auf Herbart will ich indessen zeigen, dass die Schneise, die hier geschlagen wird, gar nicht so schmal ist, wie man vielleicht glauben mag, sondern dass es eine große Tradition in der Philosophie und Pädagogik gibt, die die zentrale Rolle der Darstellung für das Lernen erkannt hat.
8 Johannes Hachmöller setzt in seinem Buch zu Platons Theaitetos viel grundsätzlicher an, als ich das in einem Aufsatz tun kann. Hachmöller interessieren vor allem die erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen dieser Art des Wissenserwerbs sowie die Rolle der unterschiedlichen Darstellungsformen beim Hervorholen der Kenntnisse, die jeder Mensch bereits besitzt. Ein besonderes Augenmerk legt er dabei auf die sprachliche Darstellungsform. Vgl. Hachmöller, Platons Theaitetos, § 121, S. 222 ff. (wie in Anm. 1).
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Die Kunst der Darstellung
II.
Mimesis als nachahmende Darstellung: Darstellung von typisch menschlichen Handlungen, Situationen und Lebensweisen
Nach Aristoteles gehört es wesentlich zu »unserer Natur, ›eine Fähigkeit zum‹ Nachahmen […] zu haben.« 9 Jeder Mensch hat Freude an Nachbildungen und beim Nachbilden und Darstellen – das ist bereits bei den Kindern gut zu beobachten, denn sie erwerben ihre ersten Kenntnisse durch Nachahmen. 10 Diese Freude an Darstellungen ist also eine typisch menschliche Freude – und zwar vor allem deshalb, weil sie mit der Erkenntnisfreude eng verbunden ist: Sie [die Menschen; M. Z.] empfinden nämlich Freude beim Anschauen von Bildern, weil sie beim Betrachten zugleich erkennen und erschließen, was das jeweils Dargestellte ist, etwa dass es sich bei dem Dargestellten um diesen und jenen handelt. 11
Lernen anhand von Darstellungen ist eine Tätigkeit, die uns Vergnügen bereitet. Wenn sich uns ein Bild oder eine Szene im Theater erschließt, empfinden wir dabei Freude. Sichtbar wird dieses vergnügliche Erkenntnisinteresse etwa bei Kindern, die die Welt außerhalb ihres direkten Wahrnehmungshorizonts zunächst vor allem durch Darstellungen – z. B. in Büchern – kennenlernen. Doch nicht nur das Betrachten von Darstellungen bereitet den Menschen Freude, sondern auch die möglichst kunstvoll ausgeübte Tätigkeit des Darstellens selbst. Dieses zweite Vergnügen, das wir beim eigenen Nachbilden und Darstellen selbst empfinden, ist ebenfalls mit einem Erkenntnisinteresse verknüpft. Allerdings geht es hier vor allem um die Art und Weise der Darstellung, sprich um die Frage, wie etwas – z. B. eine bestimmte menschliche Handlungsweise – zur Darstellung gebracht worden ist. Diese Darstellung können wir dann als gelungen oder auch als nicht gelungen wahrnehmen. Worauf es ankommt, ist, dass auch die damit verbundene ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude ist. Beide Arten der Erkenntnisfreude spielen im Rahmen der Lehrstückdidaktik eine zentrale Rolle. Wolfgang Welsch charakterisiert sie im Sinne des Aristoteles so: Aristoteles (2008), Poetik, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin: de Gruyter, 1448 b 20. Im Folgenden greife ich auf diese Übersetzung zurück. 10 Vgl. Aristoteles (2008), Poetik, 1448 b 6 ff. (wie in Anm. 9). 11 Aristoteles (2008), Poetik, 1448 b 15–17 (wie in Anm. 9). 9
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Mario Ziegler
Die erste bezieht sich […] auf die Erkenntnis des Dargestellten – auf das Herausfinden des dargestellten Gegenstands. Die zweite Art hingegen bezieht sich nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Weise der Darstellung […]. Diese darstellungsbezogene ist die genuin ästhetische Freude, und sie ist immer mit im Spiel. Wir können uns an der ästhetischen Gelungenheit der Darstellung erfreuen – was immer der Gegenstand sein mag. 12
Auch die ästhetische Freude, die die Schüler beim Darstellen und Nachbilden – beispielsweise bei einer theatralen Darstellung – empfinden können, ist somit ein wesentlicher Teil des Lernens; vor allem deshalb, weil die Schüler beim (künstlerischen) Darstellen etwas Bestimmtes – im Ethikunterricht: zumeist eine menschliche Handlung – interpretieren, und dabei zuallererst das, was für sie selbst zu erkennen ist, auch selbst darstellen und somit sich und anderen verständlich machen. Wenn der Unterricht wie in der Lehrstückdidaktik selbst als ein Drama gestaltet wird, ist dieses produktive Moment – der konkrete Vollzug – beim Nachbilden und Darstellen von ganz entscheidender Bedeutung. Ein Teil des inhaltlichen Lernens besteht in diesem Mitvollzug der Handlung. Die Verwendung des Wortes »Handlung« ist in diesem Fall doppeldeutig: Einmal meint es den Nachvollzug einer menschlichen Handlung, ohne die eine Interpretation nicht möglich wäre. Zum anderen ist es aber auch die Handlung selbst, die die Schüler im Unterricht vollziehen. Auf diesen zweiten Aspekt hebt Schulze ab, wenn er den Lehrstückunterricht mit dem Drama vergleicht und dabei betont, dass hier Inhaltserschließung und Handlung eng verknüpft sind: Der Inhalt wird im Mitvollzug der Handlung erfahren, und nur was man im Mitvollzug der Handlung erfährt, ist der Inhalt […]. Die Handlungen im Unterricht, wie sie die Lehrkunst intendiert, sind in erster Linie Erkenntnis- oder Produktionshandlungen. 13
Auch in diesem Zusammenhang kann man sich auf Aristoteles und seine mimetische Erkenntnislehre und Didaktik berufen. Denn indem Wolfgang Welsch (2012), Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles. München: Fink, S. 363. Welsch stellt völlig zu Recht fest, dass für Aristoteles die genuin ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude darstellt: »Für Aristoteles ist auch die Freude an ästhetischer Gelungenheit, obwohl sie keine Freude des Wiedererkennens ist, eine Erkenntnisfreude. Denn auch das ästhetische Gelungensein will ja erst einmal erforscht und erfasst, will erkannt sein.« (S. 364). 13 Theodor Schulze (1995), »Lehrstück-Dramaturgie«. In: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Hrsg. v. Hans Christoph Berg und Theodor Schulze. Neuwied: Luchterhand, S. 361–420, hier S. 375 und 376 f. 12
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Die Kunst der Darstellung
die Schüler im Lehrstückunterricht dazu ermuntert werden, eine bestimmte Handlung zur Darstellung zu bringen, werden sie nicht nur dazu angespornt, diese bloß nachahmend wiederzugeben, sondern sie bringen mit der gewählten Darstellungsweise auch das für sie Typische der Handlung zum Vorschein. Dabei machen sie sich erst richtig bewusst, was sie darüber bisher noch recht ungenau wissen und greifen zugleich auf ihr primäres Wissen zurück. 14 Entscheidend ist mithin, dass die damit verbundene Darstellungsleistung der Schüler genau genommen bereits eine Erkenntnisleistung darstellt. Denn die Darstellung der Situation oder der Handlung übersteigt ihre bloße Wiedergabe, weil damit das Wesentliche als »Typos« (τύπος) erfasst und fassbar gemacht wird. 15 In einer aristotelisch geschulten – sprich: mimetischen – Didaktik steht diese Darstellungsarbeit im Mittelpunkt. Und auch die gemeinsame Beurteilung der von den Lehrstückteilnehmern hervorgebrachten Darstellungen erfolgt im Unterricht auf eine zweifache Weise; zum einen wird die Darstellung selbst beurteilt, ob sie das Typische der Situation trifft, bzw. der Sache nach angemessen ist. Zum anderen kann die Darstellung auch unter einem ästhetischen Gesichtspunkt in den Blick genommen werden; z. B. dann, wenn die Schüler zu beurteilen haben, ob ihre eigenen Darstellungen – etwa Standbilder – für sich genommen gelungen oder misslungen sind. Beide Perspektiven können mit Blick auf die Beurteilung der Darstellungen von den Schülern eingenommen werden und beide Perspektiven sind mit einem Erkenntnisanspruch verbunden: Mímēsis ist mehr als bloße Wiedergabe, sie ist Darstellung. Ihr Entscheidendes ist nicht der Gegenstand, sondern die Darstellungsweise. Und wir beurVgl. Mario Ziegler (2014), Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg: Ergon, S. 56 ff. Hier gehe ich genauer auf den Unterschied zwischen einer epistemisch primären und sekundären Wissensform ein. 15 Vgl. Höffe (1996), Das Modell des Aristoteles, S. 112 (wie in Anm. 6). Der »Typos« steht bei Aristoteles für die vielen umrisshaften und skizzenhaften Abziehbilder, die das Wesentliche eines Vorbildes wiedergeben und die jeder Mensch als einen Wissensfundus in seiner Seele besitzt. Dieses unbefangene Verständnis des Wortes »Typos« ist für Aristoteles maßgebend, wie Höffe sehr klar herausstellt: »Ursprünglich bezeichnet ›Typos‹ eine plastisch geformte sinnliche Gestalt: die Form als Instrument oder Produkt eines Prägens. Später entwickelt sich neben der konkreten eine fortlaufend abstraktere Bedeutung, bis das Wort jenen Umriss bezeichnet, der nur das Wesentliche seines Vorbildes wiedergibt: die Skizze […]. Bei Aristoteles geht die konkrete Bedeutung des Typos als einer plastischen Form nicht verloren.« (ebd., S. 112). 14
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teilen sie in beiden Aspekten – sowohl hinsichtlich der Darstellungsweise wie des Dargestellten – erkennend. 16
Bei der Inszenierung eines Lehrstücks greift der Lehrer auf die mimetische Darstellungskunst zurück. Er wendet also die Mimesis als nachahmende Darstellungskunst unter didaktischen Gesichtspunkten an. Dabei ist seine Aufgabe als Lehrstückentwickler in vielerlei Hinsicht analog zu der des Dichters. Für Aristoteles bildet die Dichtung eine mimetische Kunstform, bei der es vornehmlich darum geht, »handelnde Menschen« 17 darzustellen; allerdings nicht so, wie sich ihr Handeln in der alltäglichen Wahrnehmung abspielt. Der Dichter soll das Geschehen vielmehr so darstellen, dass ersichtlich wird, wie die Dinge so geworden sind oder wie es zu einer bestimmten Handlung, Situation oder Lebensweise gekommen ist. Sein Fokus bei der Betrachtung und Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns liegt also auf den Entstehungsbedingungen und auf den typischen Merkmalen der Handlungen. Es geht ihm also nicht darum, jedes historische oder tatsächlich aufgetretene Detail einer Handlung festzuhalten und zu thematisieren, sondern vielmehr darum, die Handlungen in ihrer »typisierten Form« vor Augen zu führen. 18 Die Dichtung als mimetische Darstellungskunst stellt demzufolge »exemplarische Möglichkeiten« 19 menschlichen Handelns dar; und zwar entweder gute oder schlechte menschliche Lebensweisen. 20
Welsch (2012), Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 364 (wie in Anm. 12). 17 Aristoteles (2008), Poetik, 1448 a 1 (wie in Anm. 9). 18 Vgl. Welsch (2012), Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 365 (wie in Anm. 12). 19 Welsch (2012), Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 365 (wie in Anm. 12). 20 Vgl. Aristoteles (2008): Poetik, 1148 a 16–18 (wie in Anm. 9). »Genau hier liegt der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie: Die eine nämlich will Charaktere nachahmen, die dem heutigen Durchschnitt unterlegen, die andere aber solche, die ihm überlegen sind.« Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Komödie keinen bösen oder grundsätzlich schlechten Menschen darstellt, sondern nur lächerliche Charaktere, die auf eine bestimmte Weise ihr angestrebtes Handlungsziel verfehlen: »Die Komödie aber ist […] Nachahmung von zwar schlechteren Menschen – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern ›nur‹ zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung des ›Handlungszieles‹ und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist.« (1449 a 32–36). 16
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Denn sie zeigt die typische – sprich: die allgemeine – Form eines bestimmten Handlungsverlaufs: Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit ›einfach‹ wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so ›darzustellen‹, wie es gemäß ›innerer‹ Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h., was ›als eine Handlung eines bestimmten Charakters‹ möglich ist. 21
Auch im Lehrstückunterricht geht es nicht um die möglichst realitätsgetreue Darstellung von Individuen oder einzelnen Handlungen, sondern vielmehr um die Darstellung von typischen menschlichen Handlungen und Lebensweisen, sprich um exemplarische Situationen menschlichen Handelns, an denen sich etwas ethisch Relevantes zeigen lässt. Dabei greifen die Lehrstückentwickler gern auf literarische oder filmische Darstellungsformen zurück. Denn die kunstvoll dargestellten Figuren in Literatur und Film erscheinen schon in einer »typisierten Form«, sodass sich daran das allgemein Menschliche besser zeigen lässt. Den Schülern werden die charakteristischen Handlungsweisen dieser Figuren dann so vor Augen geführt, dass sie die Möglichkeit haben, das Typische dieser menschlichen Lebensweise selbst zu erkennen. Die Darstellung im Lehrstückunterricht zielt also wie die Dichtkunst auf das Exemplarische eines bestimmten und somit im Unterricht bestimmbaren Lebenstypus. Deshalb muss die beispielhafte Darstellung auch ›besser‹ sein als die Wirklichkeit; sie muss das faktische Handeln von Menschen stets in irgendeiner Hinsicht übertreffen. 22 Denn erst dann kann das Besondere dieses Typs von Menschen zur Erscheinung kommen. Shakespeare hat z. B. Falstaff zu einem Helden der Komödie gemacht. 23 Das Charakteristische an dieser Figur hat er mit literarischen Mitteln so dargestellt, dass die Besonderheit seines schwachen Charakters für die Zuschauer im Theater sinnfällig und verständlich wird. Dabei hat er sich immer wieder des Stilmittels der Aristoteles (2008): Poetik, 1451 a 36–b 1 (wie in Anm. 9). Vgl. Aristoteles (2008), Poetik, 1461 b 11–13 (wie in Anm. 9). »Im Blick auf das, was für die Dichtung wesentlich ist, ist nämlich etwas Unmögliches, das überzeugt, dem Möglichen, das keinen Glauben findet, vorzuziehen. Denn es ist vielleicht unmöglich, dass es so schöne Menschen gibt, wie Zeuxis sie zu malen pflegte – aber es ist das bessere Verfahren: denn das Beispielhafte muss besser sein.« 23 Vgl. William Shakespeare (1989), »Die lustigen Weiber von Windsor«. In: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. v. Anselm Schlösser. Bd. 1. Berlin: Aufbau, S. 463– 552. 21 22
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Übertreibung bedient, um die falsstaffsche Art zu leben – sprich: das skizzenhafte Bild dieses Lebenstypus – dem Zuschauer deutlich vor Augen zu führen. 24 Die Lehrstückdidaktik ist somit vor allem deshalb eine mimetische Didaktik, weil sie die Darstellungskunst zum grundlegenden Prinzip im Ethikunterricht erklärt. Lernen bedeutet hier, etwas zur Darstellung bringen: Entweder geschieht dies durch den Lehrer, der den Schülern eine typische menschliche Handlungs- oder Lebensweise szenenhaft vor Augen führt, oder die Schüler sind selbst aufgefordert, das, was sie in einer Szene menschlichen Handelns erkennen, auch selbst darzustellen und verständlich zu machen. Und weil der Lehrstückunterricht wie die Dichtung darauf abzielt, einen bestimmten Lebenstypus exemplarisch darzustellen, verfolgt er auch ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Daher ist der Lehrstückunterricht auch ein philosophischer Unterricht; denn in der Philosophie geht es wie in der Dichtkunst darum, den allgemeinen Typus einer Situation oder einer Handlungs- und Lebensweise zur Darstellung zu bringen. Das ist auch der Grund dafür, dass die Dichtung nach Aristoteles mehr der Philosophie gleicht als die Geschichtsschreibung. 25 Doch ein wesentlicher Unterschied zur Dichtung – genauer gesagt: zur Tragödie – muss noch festgehalten werden. Die griechische Tragödie will nicht didaktisch sein. 26 Demgegenüber werden die verDas Stilmittel der Übertreibung ist für Aristoteles schon deshalb erwünscht, weil uns das Staunen offensichtlich Vergnügen bereitet. Beobachten kann man das schon beim alltäglichen Geschichtenerzählen: »Das aber, was Staunen erregt, ist angenehm. Das kann man daran sehen, dass alle beim Geschichtenerzählen übertreiben, weil sie Gefallen finden wollen.« (Aristoteles (2008), Poetik, 1460 a 18 (wie in Anm. 9)). 25 Vgl. Aristoteles (2008), Poetik, 1451 b 5–12 (wie in Anm. 9). 26 Schadewaldt stellt deutlich heraus, dass für Aristoteles die griechische Tragödie und auch die anderen Kunstformen keine didaktische oder pädagogische Funktion hatten: »Wenn sich Aristoteles also nicht, obwohl es damals nahelag, auf eine Erörterung über das Erzieherische der Kunst einlässt, so muß er seine Gründe dafür gehabt haben. Ich glaube, dass der Grund sehr einfach ist, und er ist auch der Wissenschaft bekannt; sie muß sich nur dazu entschließen, ernst zu machen mit dem, was sie weiß. Wir wissen, dass die Tragödie ein Kultspiel war, von ihrer Entstehung her und noch später […]. Wenn man diese Erkenntnis auf die Tragödie anwendet, selbst auf die heutige Tragödie, wenn es nicht bloße Theaterstücke sind, so kann man sagen: ihr ergon, ihre Leistung ist, daß etwas geschieht, was einmal war, daß Großes geschieht und sich ereignet, unbekümmert darum, ob ein Herr Müller gebessert nach Hause geht oder nicht.« Das schließt aber für Schadewaldt nicht aus, dass die Kunst eine moralische Kraft besitzen kann; nur ist es eben nicht ihr eigentliches Ziel, die Menschen moralisch zu bessern: »Man könnte fragen, ob ich soweit gehe, eine moralische Wirkung der Kunst aus24
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Die Kunst der Darstellung
schiedenen Darstellungsformen im Lehrstückunterricht ausdrücklich zu diesem Zweck eingesetzt.
III. Ästhetische Darstellung unter einer ethikdidaktischen Perspektive: Die wesentliche Rolle der Imagination und Einbildungskraft für die ethische Blickschulung Wer klug ist, beschäftigt sich nach der Ansicht des Aristoteles mit guten, werthaften und schönen Dingen. 27 Er strebt darüber hinaus auch danach, schöne und gute Handlungen auszuführen, weil sie ihm Freude bereiten. 28 Demnach hat für Aristoteles das schöne Handeln einen »sittlichen Sinn« 29 . Im Theater ist das auch daran zu beobachten, dass die Zuschauer sich an schönen und guten Handlungen erfreuen und diese auch so beurteilen. Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns besitzt also die Kraft, unseren ethischen Blick zu schulen. Diese Möglichkeit nutzt der Lehrstückunterricht, denn die Schüler sind hier aufgefordert, sich klarzumachen, warum sie diese oder jene Handlung und Lebensweise als schön, gut oder wertvoll beurteilen. Nach den Gründen ihrer ethischen Urteile können sie aber nur deshalb suchen, weil sie das Schauspiel menschlichen Handelns zuvor bei vielen Gelegenheiten beobachtet und dabei auffällige Regelmäßigkeiten bemerkt haben. Das heißt: Die Schüler besitzen zu diesem Zeitpunkt bereits ein ethisches Urteilsvermögen, auf das sie zurückgreifen können, wenn der Lehrer ihnen exemplarische Situationen menschlichen Handelns vor Augen führt, die sie bewerten sollen. 30 zuschließen: Natürlich nicht. Ich will doch hoffen, dass Kunstereignisse Wirkungen haben. Aber solche Wirkungen sind nicht das ergon der Kunst, gehören nicht zu ihrem Wesen. Im Gegenteil: ich glaube, daß nur dann echte Wirkungen aufkommen können, wenn sich die Tragödie darum nicht kümmert, nicht erziehen will. Nur dann kann sie wirken aus ihrer vollen Substanzkraft heraus, die sich jeder Absicht verschließen würde.« (Wolfgang Schadewaldt (1991), »Die griechische Tragödie«. In: Tübinger Vorlesungen. Hrsg. v. Ingeborg Schudoma. Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 33 f.). 27 Vgl. Aristoteles (2006), Nikomachische Ethik. Hrsg. und übersetzt v. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg: Meiner, VI, 13, 1143 b 21–23. 28 Vgl. Aristoteles (2006), Nikomachische Ethik, IV, 2, 1120 a 30 f. (wie in Anm. 27). 29 Höffe (1996), Das Modell des Aristoteles, S. 106 (wie in Anm. 15). 30 Hachmöller macht am Beispiel des Theaitetos deutlich, wie dieser zu seinen arithmetischen und geometrischen Kenntnissen gelangt ist und welche Wahrnehmungs-
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Mario Ziegler
Die ästhetischen Darstellungen im Lehrstückunterricht haben demnach zunächst die Funktion, dass die Schüler ihr Wissen, das sie hinsichtlich dieser exemplarischen Situation besitzen, auch äußern. Damit können sie – indirekt – auf die Muster und Gestalten aufmerksam werden, die ihnen dabei auf der gläsernen Bühne ihrer Imagination und Einbildungskraft erscheinen. Hier wird ihr ethischer Blick gebildet – und zwar schon dadurch, dass sie auf diese Weise zuallererst die Gebilde und Gestalten, die ihnen bei der Betrachtung der dargestellten Situation in den Sinn kommen, bemerken und von ihnen Notiz nehmen. Die ethische Blickschulung beginnt demzufolge mit einer Aufmerksamkeitsverlagerung auf die eigenen Gebilde und Imaginationen, die ihnen beim Blick auf die Figuren und Konstellationen der exemplarischen Situation vorschweben. Diese imaginären Gebilde und Gestalten lassen sich von den Schülern in der Imagination noch deutlicher bestimmen. 31 Zudem lassen sich diese ›Einbildungen‹ verleistungen er dabei erbracht haben muss, um auf einer Schautafel ein kleines Quadrat wahrzunehmen und zu erkennen: »Nachdem er [Theaitetos; M. Z.] bedacht hat, dass er in seinen ersten Lebensjahren ein Analphabet gewesen ist, muss er bei der Betrachtung des Schaubildes zu dem Schluss kommen, dass in seiner Kindheit ebenfalls ein figuraler Alphabetisierungsprozess stattgefunden haben muss. Ein Lernprozess eben, in dem er die Fähigkeit erworben hat, sofort sehen zu können, dass er geometrische Idealitäten vor sich hat, wenn in seinem Gesichtsfeld bemerkenswert gleichmäßige Gestalten erscheinen.« (Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 166 (wie in Anm. 1). Die Schüler, die in den Ethikunterricht kommen, haben ebenfalls einen Alphabetisierungsprozess im Hinblick auf das Schauspiel menschlichen Handelns durchlaufen. Denn sie haben als Wahrnehmende bei vielen Gelegenheiten die Menschen in ethischen Handlungssituationen und Konstellationen beobachtet und dabei ein Wissen erworben, auf das sie im Unterricht zurückgreifen können, wenn ihnen eine typische Szene menschlichen Handelns präsentiert wird. 31 Genau darauf macht uns auch Goethe aufmerksam, wenn er in »Shakespeare und kein Ende« dessen Dichtkunst näher zu bestimmen versucht: »Shakespeare nun spricht durchaus an unsern innern Sinn; durch diesen belebt sich zugleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakespeareschen Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche Tat als geistiges Wort. Er läßt geschehen, was sich leicht imaginieren läßt, ja was besser imaginiert als gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen, manche Grausamkeiten erhalten ihren Wert erst durch die Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen Zwischenszenen sind bloß auf sie berechnet.« (Johann Wolfgang von Goethe (1967): Schriften zur Literatur: Shakespeare und kein Ende. In: Goethes Werke. Bd. 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hamburg: Wegner, S. 288).
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Die Kunst der Darstellung
ändern, bearbeiten und neu figurieren. Der Lehrer kann allerdings durch die Abwandlungen der dargestellten Situation und dadurch, dass er von den Schülern eigene Darstellungsleistungen abverlangt, ihren Blick immer wieder auf neue Aspekte lenken – solange, bis das Gebilde ihnen so deutlich und klar vor Augen steht, dass sie es auch sprachlich angemessen zur Darstellung bringen können. In der Imagination wird somit ihr ethischer Blick gebildet. Darauf verweist Herbart in seinem Aufsatz zum »ABC der Anschauung« mit der folgenden Pointe: »Es ist Aufmerksamkeit auf die Gestalt, wozu vorzugsweise das Sehen gebildet werden muß.« 32 Die imaginationsgeleitete Darstellungsarbeit, die den Schülern abverlangt wird, hat demnach die Funktion, den ethischen Blick zu schulen. Dabei sind sie nicht allein. Machen sie sich nämlich gegenseitig auf das aufmerksam, was ihnen jeweils auffällt, kommt es zu einem Dialog, in dem sich die Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten zeigt und in dem sie ihre Differenzen wiederum mit ihren Mitteln darstellen können. So wird für sie greifbar, was sie hinsichtlich dieser dargestellten Handlung, Lebensweise und Situation wirklich denken. 33 Anders gesagt: Sie versichern sich imaginativ der Gestalt, die ihren Blick auf die Situation maßgeblich prägt. Diese Blickschulung kann solange dauern, bis alle Beteiligten gemeinsam das Grundmuster der Situation so klar vor Augen haben und durchschauen, warum sie selbst jeweils so und nicht anders darüber denken. Entscheidend ist dabei, dass die Verständniserweiterung nur vor dem Hintergrund der gemeinsamen Betrachtung der dargestellten Situation im Unterricht gelingen kann. Sie ist die Bühne, auf der die Schüler solange mit ihrem Blick aufmerksam herumwandern können, bis sie in der gemeinsamen Imagination den Typos der Situation – sprich: die maßgebende Form oder den Grundriss der Handlungssituation – erkannt und bestimmt haben. Erst dann besitzen die Schüler nach Herbart eine reife Anschauung der Dinge: Auch läßt wirklich der aufmerksame Blick nicht eher ab, als bis er sich der Imagination versichert hat. – Man sehe ein Tier, einen Menschen, – oder noch Johann Friedrich Herbart (1877[1802]), Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung. In: Johann Friedrich Herbart’s Pädagogische Schriften. Hrsg. v. Friedrich Bartholomäi. Bd. 1. Langensalza: Beyer, S. 83. 33 Nach Sokrates kommt es in einem solchen Dialog »also nicht darauf an, dass das Wort gesagt und behauptet wird. Verlangt ist vielmehr die aufmerksame Besichtigung und Beobachtung des [mit dem Wort] benannten Ereignisses.« (Hachmöller (2015), Platons Theaitetos, S. 329 [177e] (wie in Anm. 1)). 32
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Mario Ziegler
besser, eine Landkarte an, (bei welcher die Schwierigkeiten, wegen der unregelmäßigen Formen, fühlbarer werden.) Man wende den Blick wieder ab, und versuche sich das Gesehene vorzustellen. Man schaue wieder hin: und man wird empfinden, wie das schon vorgezogene Bild der Imagination von der erneuten Anschauung corrigiert wird. Wiederholt man dies einigemal, so hört endlich die Anschauung auf, das Bild zu berichtigen; nun ist sie reif. 34
Herbart teilt mit Aristoteles die Auffassung, dass das (ethische) Lernen hauptsächlich in der Imagination stattfindet. Bei allen epistemologischen Differenzen, die zwischen ihnen bestehen 35 , sind beide Verfechter einer Schulung der Phantasie oder Einbildungskraft. Und beide haben auch die große Bedeutung der ästhetischen Darstellungsformen für das imaginative Lernen erkannt. Denn sie sind sich darin einig, dass man den Schülern etwas vor Augen führen muss, wenn man sie dazu bringen will, die Gestalten und Muster der typischen Situationen menschlichen Handelns zu studieren und ihr Verständnis schrittweise in der reflexiven Auseinandersetzung mit den dargestellten Situationen zu präzisieren. Gelingt die gezielte Ausforschung ihrer Imaginationen, entdecken sie dabei – im besten Fall – die typischen Grundrisse und Grundmuster ethischen Handelns. Dann ist es nachher für die Schüler auch leicht, die üblichen Konstellationen und Figurationen menschlichen Handelns in der aktuellen Wahrnehmung wiederzuerkennen, weil sie beim Aufstöbern und Untersuchen ihrer Phantasiegebilde gelernt haben, worauf sie achten müssen: Der Sinn findet leicht, wenn der Geist zu suchen versteht; – man faßt Unterschiede scharf und von selbst, wo man zuvor wußte, was zu unterscheiden sei. 36
Herbart (1877[1802]), Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung, S. 87 (wie in Anm. 32). 35 Der größte Unterschied besteht sicherlich darin, dass für Herbart die Begriffe eine andere Bedeutung haben. Für ihn als Kantianer ist die Rolle der Begriffe beim Lehren klar bestimmt. Das zeigt sich z. B. an dieser Stelle: »Denn was mit Plan, das geschieht nach Begriffen; und Begriffe sind es auch allein, die mit Sicherheit in Worte gefaßt, zu bestimmten Vorschriften ausgeprägt, und als solche vom Lehrer an den Schüler überliefert werden können.« (Herbart (1877[1802]), Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung, S. 88 (wie in Anm. 32)). Vgl. auch Günther Buck (1989), Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Darmstadt: WBG, S. 12 ff. 36 Herbart (1802[1877]), Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung, S. 88 (wie in Anm. 32). 34
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Die Kunst der Darstellung
Auch wenn Aristoteles mit der moraldidaktischen Absicht der ästhetischen Darstellung menschlichen Handelns sicher ein Problem gehabt hätte, ist das darin verborgene Potential von einigen Nachfolgern seiner Tragödientheorie deutlich gesehen und zu diesem Zweck auch in Anspruch genommen worden. 37 Bei Herbart wird die ästhetische Darstellung in moralischer Hinsicht vollends didaktisiert; sie ist das eigentliche Instrument der Gewissensbildung. Deshalb sieht er es sogar als eine Pflicht des Erziehers an, dass er dem Kind die Welt und das menschliche Handeln mit ästhetischen Mitteln zur Darstellung bringe – durchaus mit all ihren Eigenheiten, also auch die menschlichen Schwächen und Schlechtigkeiten: Aber das Gemälde, was er [der Erzieher, hinzugefügt M. Z.] aufstellen soll, hat keinen Rahmen; es ist offen und weit, wie die Welt. Daher fallen hier alle Eigenheiten, wodurch sich die Gattungen der Poesie unterscheiden; und nackt und bloß steht jedes Schwache und jedes Schlechte, was sich sonst mit der Absicht des Kunstwerks entschuldigt. Das Gewissen geht mit in die Oper! wie sehr immer der Dichter protestiere. Ihn bannt der Erzieher aus seiner Sphäre, gestützt auf Plato’s Ansehen, – wo nicht die Wahrheit, die Deutlichkeit des Schlechten zur Läuterung des Besseren, zur Erhöhung des Guten dienen kann und dienen will. 38
Herbart vertraut noch ganz auf die Wahrheit, die sich in den ästhetischen Darstellungsformen und in der Kunst zeigt und die uns zu besseren Menschen machen soll. Vielleicht ist dieser moraldidaktische Anspruch an die Kunst überzogen und nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht liegt das Potential einer ästhetischen Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns heute gerade darin, dass die Schüler die Ambivalenz des menschlichen Lebens und der menschlichen Entscheidungen auszuhalten lernen. Dann wäre bereits das AushaltenKönnen von Differenz ein Zeichen für moralische Reife. Verkörpert in einer Persönlichkeit, die aus Erfahrung weiß, dass es viele berechIm Achtundsiebzigsten Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie stellt Lessing Folgendes fest: »So muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen.« (Gotthold Ephraim Lessing (1999), Hamburgische Dramaturgie. Hrsg. und kommentiert v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart: Reclam, S. 401.) Der moralische Zweck der Tragödie besteht für ihn also darin, ›unsere‹ Affekte so zu regulieren, dass wir weder zu viel noch zu wenig Mitleid oder Furcht empfinden. 38 Johann Friedrich Herbart (18772 [1804]), »Ueber die ästhetische Darstellung der Welt, als das Hauptgeschäft der Erziehung«. In: Pädagogische Schriften. Hrsg. v. Friedrich Bartholomäi. Bd. 1. Langensalza: Beyer, S. 203. 37
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Mario Ziegler
tigte Standpunkte gibt, und die gelernt hat, die moralische Qualität dieser Standpunkte anzuerkennen. Eine solche persönlichkeitsbildende Lernerfahrung ist möglich, wenn der Schüler die eigene Souveränität in moralischen Fragen nicht einsam, sondern in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit exemplarischen Situationen menschlichen Handelns entwickelt hat. Weil die Lehrstückdidaktik voraussetzt, dass das ethische Lernen nichts anderes sein kann als eine gemeinsame Schulung der Phantasie und Einbildungskraft, darf sie damit rechnen, dass die Konfrontation mit der Darstellung dieser Handlungen in einer ästhetischen Form die Entwicklung zur moralischen Reife nicht unerheblich fördern kann.
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Ralf Koerrenz
Didaktik des Erinnerns
I.
Lernen als Fundament von Kultur
Menschen lernen. Menschen sind geradezu dadurch ausgezeichnet, dass sie in einem umfassenden Sinne lernen können. Menschen lernen, indem sie in der Lage sind, Informationen von außen aufzunehmen, sie in ihr Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire zu integrieren und sich so in aller Kontinuität permanent zu verändern. Menschen lernen, indem sie sich mit solch äußeren Informationen von außen auseinandersetzen oder sich quasi innerlich in einer Art Selbstgespräch mit sich selbst über sich selbst in ihrem Denken und Handeln verständigen. Menschen lernen. Die Ausstattung mit Instinkten reicht nicht aus – in keinem kulturellen Kontext, wie »primitiv« oder »hochzivilisiert« er sich geben mag. Der Mensch ist gleichermaßen zum Lernen verurteilt und darf auf das Lernen hoffen. Der Mensch ist gleichermaßen auf das Lernen angewiesen und dazu befähigt. Gibt es den Menschen? Ja, natürlich, nein, natürlich nicht. Beides ist richtig, soll hier aber undiskutiert bleiben. 1 Lernen ist die Basis allen Mensch-Seins. Mensch-Sein aber ist bestimmt durch Kultur, durch Teilhabe an Kultur (im Gegensatz zu Natur – so problematisch auch diese Gegenüberstellung wieder sein mag). Der Mensch ist ein Kulturwesen. Die Teilhabe an Kultur gehört gleichermaßen zu den Voraussetzungen und zu den Zielen allen Lernens. Alles Lernen Die Paradoxie dieser Aussage kann illustriert werden an der gleichzeitigen Gültigkeit und Unverzichtbarkeit von global-universalem und postkolonial-partikularem Denken. Auf der einen Seite steht somit der Verweis auf die Proklamation und Verteidigung universaler Menschenrechte. Vgl. hierzu K. Peter Fritzsche (20092 ), Menschenrechte. Paderborn: Schöningh. Auf der anderen Seite steht jedoch immer der postmoderne und postkoloniale Einspruch gegen jegliche Universalien aufgrund des Verdachts, diese würden zur Ummantelung realer Macht- und Unterdrückungsverhältnisse genutzt. Vgl. hierzu Maria do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan (2015), Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript. 1
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Ralf Koerrenz
ist kulturell gegründet, umfasst, eingebettet. Wie immer die Kultur aussehen mag, sie ist erst durch Lernen vermittelt und doch gleichzeitig immer auch das Fundament, von dem aus Lernen erst ermöglicht wird. Für das Individuum bedeutet dies: Im Lebenslauf scheint der Schimmer der individuellen Freiheit auf über Lernen als Beherrschung von Natur, zugleich liefert man sich aus an die Deutungsmuster der Kultur. 2 Kultur, Teilhabe an Kultur ist so zugleich Befreiung und Gefangennahme des Menschen, Freiheit und Gefängnis im gleichen Atemzug. Pädagogik als das Nachdenken über Lernen zwischen Lebenslauf und Kultur hat diese Zweischneidigkeit, diese Ambivalenz in ihrem Denken immer mit sich zu führen. In einer Zeit der Überbetonung von Unterschieden noch einmal anders, unzeitgemäß auf den Punkt gebracht: Die Befähigung zum Lernen und die Angewiesenheit auf Lernen gehören zu den anthropologischen Universalien. Bei aller Skepsis gegenüber dem Universalen – diese Aussage muss möglich bleiben, weil sie formal und gewissermaßen banal zugleich ist. Lernen als anthropologische Universalie ist bei allem auf eine untrennbare und zugleich dramatische Weise in den Gedanken der Kultur verflochten. Denn Lernen war und ist zu allen Zeiten und an allen Orten Steuerungsprozessen ausgesetzt. Die beiden Seiten der Kultur als Ermöglichung der Befreiung aus dem Zustand des Animalischen und zugleich als Gefangennahme in die immer nur entfremdet denkbaren Bedingungen des alltäglichen Lebens treffen sich in diesem Gedanken der Steuerung. Freiheit und Gefangenschaft sind gleichzeitig zu denken in der Teilhabe an und dem Teilen von Kultur. Was für Kultur im allgemeinsten Sinne gilt, soll auch für den Umgang mit Erinnern gelten. Kulturelle Erinnerung und darin produziertes kulturelles »Erbe« (cultural heritage) ist nichts anderes als eine Dimension, als eine tragende Schicht der Kultur allgemein. Lernen wird gesteuert – in einem bestimmten kulturellen Kontext, von einem bestimmten kulturellen Kontext, auf einen bestimmten kulturellen Kontext hin. Nur so kann Kultur sich über die Zeit retten, sprich reproduzieren – ob zum Guten oder Schlechten sei dahinDie methodische Zugriffsweise und die hermeneutische Funktion von »cultural patterns« habe ich zu skizzieren versucht in dem Beitrag: Ralf Koerrenz (2013) Kulturmuster als fragmentarische Kontinuitäten. Theorie (der Erziehung) zwischen Unschärfe und Fixierung. In: Kritik der Erziehung. Der Sinn der Pädagogik. Hrsg. v. Jens Brachmann, Rotraud Coriand und Ralf Koerrenz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 67–84.
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Didaktik des Erinnerns
gestellt. Zugespitzt formuliert: Jegliches kulturelle Erbe hat im Lernen sein anthropologisches Fundament. Das bleibt banal formal. Wenden wir den Gedanken, die Ambivalenz von Freiheit und Gefangenschaft in und durch Kultur, einmal inhaltlich: Die erinnernde Erzählung an die Art und Weise solch absichtsvoller Steuerungen, solcher Erziehung, und auch des (scheinbar) Unbeabsichtigten gehört zur Vielfalt des kulturellen Erbes. Der Umgang mit dieser Dimension des kulturellen Erbes wird in der Regel mit dem Label »Geschichte der Pädagogik« versehen. Geschichte der Pädagogik ist so ein sehr spezieller und zugleich sehr grundlegender Zugang zu den Aspekten, wie, wodurch und wozu wir kulturelles Erbe teilen. Es ist deswegen ein spezieller Zugang, weil in der Pädagogik selbst der Gedanke von Kultur tragend ist. Geschichte der Pädagogik ist somit nicht nur Gegenstand eines Nachdenkens über die Teilhabe an kultureller Erinnerung, sondern schließt zugleich das Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten eines solchen Teilens und Teilhabens in sich: über das Motiv des menschlichen Lernens und den damit verbundenen doppelten Kulturbezug als Freiheit und Gefangenschaft. Die nähere Bestimmung der Bedingungen und Möglichkeiten einer Geschichte der Pädagogik ist heute in einer neuen Qualität zum Problem geworden. Im Hintergrund dieser Aussage steht der Gedanke, dass es Geschichte an sich nicht gibt und nicht geben kann. Geschichte wird immer erzählt, konstruiert, entworfen von einem bestimmten Standpunkt aus, von einer speziellen Perspektive aus, in die zwangsläufig Wertsetzungen, Weltdeutungen und Lebensanschauungen einfließen. Noch einmal so zugespitzt formuliert: Geschichte an sich gibt es nicht. Geschichte basiert immer auf systematischen Erwägungen, auf mehr oder minder bewussten systematischen Entscheidungen über die Bedingungen des Erzählens, Konstruierens, Entwerfens. Genau dieser Aspekt der perspektivischen Gebundenheit allen historischen Erzählens gewinnt angesichts der postkolonialen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Diese Qualität hat zumindest zwei Seiten.
II.
Das Feststellbare und die schweigende Verdrängung
Auf der einen Seite müssen wir uns vor Augen führen, dass solche Erzählungen von einer Geschichte der Pädagogik in der Regel Herrschaftserzählungen sind und das sogar in einem doppelten Sinne. Es 109 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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ist offensichtlich, dass bisherige Darstellungen bewusst oder unbewusst aus bestimmten Positionen dessen geschrieben wurden, was als »normal« betrachtet wurde. In diese Vorstellungen von Normalität, von einer Ordnung der Mitwelt und der Umwelt, sind zwangsläufig Festschreibungen von Machtkonstellationen eingeflossen – zwischen den Geschlechtern, zwischen den ›Zivilisierten‹ und den ›Barbaren‹, zwischen Oben und Unten. Diese Festschreibungen stehen seit längerem zur Diskussion. 3 Neben der inhaltlichen Seite der Festschreibung ist es jedoch auch die Form, die heute zu denken gibt. So kommt die Machtdimension einer Erzählung vor allem auch in einer vermeintlichen Eindeutigkeit und Klarheit zum Ausdruck. Mit Blick auf die Teilhabe am kulturellen Erbe ist dies scheinbar unausweichlich, sinnstiftend und verhängnisvoll gleichzeitig. Geschichte produziert – indem sie in Sprache gegossen wird – einen vermeintlich klaren Blick. Geschichte beschreibt vermeintlich eindeutige Pfade des Denkens und Deutens. 4 Es ist das Identifizierende, das Feststellende auf einen Punkt, auf eine Linie oder auf ein Setting von zugeschriebenen Eigenschaften hin. Der Raum zum Atmen möglicher Alternativen wird mindestens knappgehalten, wenn nicht gar der Kehlkopf der Erinnerung gänzlich zugeschnürt wird. Das Festgestellte verbirgt den faktischen Widerstreit 5 – überschreibt, überspielt, überformt die Spannungen, Gegensätze, die Unversöhnbarkeit des menschlichen Lebens. Es bleibt kein Raum für Alternativen, für Kontroversen, wie sie beispielsweise im Talmud in der Spannung zwischen Mischna und Gemara 6 durchgespielt werden. Der Talmud inszeniert den WiderVgl. Michel Foucault (1977[1970]), Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember. Frankfurt a. M.: Ullstein. 4 Vgl. hierzu Thomas Bauer (2018), Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam. 5 Vgl. die von Jean-Francois Lyotard im Anschluss an Wittgenstein herausgearbeiteten Diskursebenen im öffentlichen Raum, die unterschiedlichen Logiken folgen und so letztlich nicht verknüpfbar sind. Jean-Francois Lyotard (19892 ), Der Widerstreit. München: Fink. Die Anerkennung genau dieses unaufhebbaren Widerstreits – und nicht ein über kommunikatives Handeln zu erzielender Konsens – scheint mir eine sinnvolle »empirische« Grundannahme für eine Didaktik des Erinnerns zu sein. 6 Mischna und Gemara bilden die beiden Grundschichten des Talmuds, der neben der hebräischen Bibel (dem von Christen sogenannten »Alten« Testament) zweiten Sammlung von Texten, die für das Judentum grundlegend und wegweisend sind. Den Talmud gibt es in zwei Varianten: dem sogenannten Babylonischen Talmud und dem Jerusalemer Talmud. Die wesentliche Bedeutung dieser Schriften besteht darin, das (kontroverse) Gespräch über die von Gott den Menschen durch Mose offenbarte Weisung (Thora) zu dokumentieren und zugleich für die jeweilige Gegenwart zu ini3
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streit im Ringen um Wirklichkeit. Dies geschieht im Bewusstsein der absoluten Differenz vom Menschen auf der einen und dem, für das Menschen das Symbol »Gott« eingesetzt haben (dessen Namen selbst doch unergreifbar und unbeschreibbar bleibt) auf der anderen Seite. Der Mainstream kann mit einer solchen auf Widerstreit und letztlich Unabschließbarkeit zielenden Dialektik nichts anfangen. Wir müssten uns ja womöglich selbst relativieren. Denn der Mainstream tickt anders: Die Erzählung der Geschichte zielt in der Regel stattdessen auf Eindeutigkeit, auf das, was vermeintlich festzustellen ist. Auch wenn es eine vielleicht grobe Verkürzung ist: Die Ideologie des Eindeutigen, des Feststellbaren hat einen Ursprung mit vielen Gesichtern. Es sind die Masken einer Philosophie, die die Differenz von Sagbarem und Nicht-Sagbarem aushebt zugunsten einer Rede dessen, was vermeintlich feststellbar ist. Klischeehaft zugespitzt: die große platonisch-aristotelische Gaukelei des Feststellbaren, des narrativ Ontologischen. Das Feststellbare mag dabei auf unterschiedlichen Wegen gewonnen werden. Auch Stoa und Epikurismus können neben Platon und Aristoteles problemlos auf diesem Spielfeld agieren. Am Ende bleibt die Sicherheit, etwas zu wissen, über sich, die Mitwelt und die Umwelt. Die Vereindeutigung der Welt, der menschlichen Existenz, der Kultur führt zur Illusion einer aufhebbaren Entfremdung, einer Illusion, die das Individuum zu einer brechreizumantelten Ausblendung der unaufhebbaren Spannungen, Widersprüche, Widerstreitigkeiten im eigenen Leben, in der menschlichen Kultur, in der Existenz führt. Das aber ist unwirklich, Ausdruck der denkenden Verfallenheit an das Man, an das Uneigentliche. Zugleich aber ist genau dies unverzichtbar entlastend, weil wir nicht gelernt haben, den Widerstreit auszuhalten. Insofern sind die altgriechischen Denkwege in aller vermeintlichen Unterschiedlichkeit der Feststellung von Sein ein wohltuender Balsam auf die Wunde unserer Unfähigkeit, die Existenz mit ihrer inneren Widersprüchlichkeit überhaupt nur zu denken, geschweige denn zu tiieren. Während die Mischna den Kerntext des Talmuds mit den Grundmustern einer Auseinandersetzung mit der Tora darstellt, dokumentiert darüber hinaus vor allem die Gemara den unaufhebbaren Streit, die Kontroverse, die Vielfalt der Sichtweisen, mit denen Menschen im Alltag als Realität konfrontiert sind. Den Menschen möglich ist immer nur eine (sozial sich widerstreitende) Annäherung an die Wahrheit, nicht aber deren abschließender Besitz. Das schließt nicht aus, dass negativ eindeutig Grenzen beschritten werden können, bei deren Überschreitung Menschen ihre Menschlichkeit negieren.
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leben. 7 Existenz tut weh, schmerzt, neigt dem Absurden als Geschwister des Atmens zu. Und dennoch fordert die neue, die postkoloniale, postmoderne Situation uns heraus in unserer Existenz – noch einmal neu und anders, als es der bisherige Existentialismus vielleicht gemacht hat. Will man den Gedanken dieses Zwischenschritts zusammenfassen, so könnte gesagt werden: Die schmerzhafte Einsicht in die Unaufhebbarkeit von Widerspruch und Widerstreit begründet eine eigene Form der Postmoderne, des Postkolonialismus, die nicht nur den Inhalt von Abhängigkeiten, Machtverhältnissen, Hierarchien thematisiert, sondern auch die Form des Feststellbaren selbst hinterfragt, letztlich auflöst. Der postkoloniale, postmoderne Blick lebt von der schwer zu denken Paradoxie: Macht und Abhängigkeiten festzustellen und gleichzeitig das Feststellen selbst als Grundübel der Macht und Abhängigkeit zu identifizieren. In diesem doppelten Sinne des gleichzeitigen Feststellens und Nicht-Feststellens lehrt der Blick auf Geschichte (auch der Pädagogik) vor allem eines: Die perspektivische Gebundenheit jeder Erzählung, die mit Verdrängungen und Ausblendungen einhergeht, hinterlässt Spuren. Das ist jedoch nur die eine Seite.
III. Sprechen als Wagnis Auf der anderen Seite zeigt sich in postkolonialer Perspektive die Notwendigkeit, in interkulturell-vergleichender Weise die Geschichte der Pädagogik als eine gemeinsam zu formulierende und zu verantwortende Dimension des kulturellen Erbes zu behaupten. Wie sonst ließe sich so etwas wie ein Recht des Menschen, eine Würde des Menschen jenseits von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft auch nur denken, auch nur begründen? Es ist die Paradoxie der Rede im Schweigen und des Schweigens im Reden. Wenn wir reden, schweigen wir über das, was wir nicht sagen. Wenn wir schweigen, tönen wir laut das Ungesagte in die Welt. Im Angesicht des Nicht-RedenKönnens ist das Doch-Reden-Müssen die Rahmenbedingung eines Versuchs, Geschichte als Teilen von kulturellem Erbe zu erzählen. Die Geschichte der Teilhabe an Kultur, an Pädagogik als Transformationsriemen der Kultur ist in diesem Sinne neu zu justieren. Lernen Vgl. hierzu kulturtheoretisch Francois Jullien (2017), Es gibt keine kulturelle Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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als anthropologische Universalie gilt es zu verteidigen, ebenso wie Lernen als Basis für die Bestimmung der Würde des Menschen als Würde zur Teilhabe an Kultur. 8 Denn: Wie sollen wir uns sonst begegnen, sonst einander mit vorsichtigem Hören annähern, sonst verständigen? Erzählen muss gewagt werden im Bewusstsein seiner Unmöglichkeit, seiner unverzeihlichen und doch zu verantwortenden Machtmechanismen. Von daher bietet es sich an, die Geschichte der Pädagogik (auch als Baustein für eine zeitgemäße LehrerInnenbildung) als eine multiperspektivische Irritation zu denken – als Beispiel für ein anderes Teilen der Geschichte insgesamt. Diese Multiperspektivität drückt sich im ersten Schritt zunächst dadurch aus, dass man die eigene perspektivische Gebundenheit eingesteht. Diese Gebundenheit ist unhintergehbar, fast nur in ihrem »dass« reflexiv einzuholen. Darüber hinaus wird die grundsätzliche Funktion einer Beschäftigung mit der Geschichte der Pädagogik neu zu formulieren sein. Es kann nicht mehr darum gehen, sich über Geschichte der eigenen (früher zumeist auch national gedachten) Identität zu vergewissern. Ganz im Gegenteil besteht die Funktion gerade darin, das vermeintlich Identitätsbildende als das Fremde, das Andere, das Verwirrende wahrzunehmen. Es geht um eine In-Frage-Stellung des Gegebenen mit Hilfe von Instrumenten, welche die vermeintliche Normalität des Vorfindlichen als zugleich geworden, irritierend und zufällig erscheinen lassen. Das leitende Bild dieser Perspektive ist zunächst das des fremden, des verfremdenden Spiegels. Darüber hinaus eröffnet sich durch einen solchen Umgang mit Geschichte auch ein »Fenster« (in eine mögliche andere Welt). Das Geschichtliche wird in dieser Lesart vor allem wirkmächtig als ein Fundus systematischer Konstellationen. Die Ödnis des vermeintlich Empirischen, konstituiert durch »Soziale Geschichte« und »harte« Fakten, enttarnt sich als Grundlage für ein letztlich doch immer individuell zu verantwortendes Erzählen. Zur Verantwortung für das eigene Erzählen, Konstruieren, Entwerfen gibt es keine Alternative. Das ist feststellbar. Und es eröffnet Denk- und Darstellungsräume. Nicht zuletzt ist all dies ein nützliches Heilmittel gegen das, was der Historischen Pädagogik anhaftet wie staubüberzogener Mehltau. Der Spiegel ist schlicht nicht langweilig, verändert er doch Eine kritisch-universalistische Perspektive entwickelt so Kwame Anthony Appiah (2007), Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München: Beck.
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je nach Lichteinfall das zwischen Glas und Folie Aufscheinende. Das Historische selbst ist es, das in unsere Wahrnehmung einfällt als eine Spiegelung, in der wir unsere eigene Existenz, unsere eigene Tätigkeit als Forschende und Lehrende in einem anderen, in einem verfremdeten Licht sehen. Die Begleitmusik des Spiegelscheins tönt deutlich: Das kulturelle Erbe ist dann, wenn wir es teilen wollen, in seiner Verfügbarkeit unverfügbar. Für uns und zwischen uns. Und dennoch muss die Verfügung gewagt werden – Grundlegend nicht nur in nächster Nähe des Seminarraums, sondern vor allem auch in interkulturellen Begegnungen. Vor Augen steht dabei: Die Fremdheit öffnet erst die Augen für das Eigene. Durch die Spiegelung entsteht die Möglichkeit, das vermeintlich Selbstverständliche im Eigenen als das Nicht-Selbstverständliche zu durchschauen.
IV. Geschichte der Pädagogik als Verfremdung Das Spannende an einer Beschäftigung mit der Geschichte der Pädagogik 9 ist dann, dass wir in dieser immer – bewusst oder unbewusst – Vertrautheit und Fremdheit, hier auch verstanden als Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, gleichzeitig denken müssen, um überhaupt denken zu können. Die Auseinandersetzung mit Geschichte, die Art und Weise des Sehens, wird dann zu einem systematischen Fundament zur Bestimmung des Allgemeinen der Pädagogik. Eine mögliche, bereits beim ersten Nach-Denken daraus resultierende Frage lautet mit Blick auf das kulturelle Erbe: War Erziehung im alten Babylon, im frühen Ägypten, im antiken Griechenland usw. überhaupt etwas wirklich Anderes als Erziehung im Europa des 21. Jahrhunderts? Ja, nein, doch, vielleicht, irgendwie, niemals. Natürlich sind wir heute von der ökonomischen und technischen Entwicklung her auf einem anderen Stand als im Zeitalters des Perikles oder Cicero. Und dennoch: Die Frage stellt sich, ob es nicht so etwas wie Grundmuster der Erziehung gibt, die die Zeiten überdauern – Grundmuster, wie Erziehung als Steuerung von Lernprozessen legitimiert wird, Grundmuster, wie Erziehung als Steuerung von Lernprozessen gestaltet wird, Grundmuster, was mit Erziehung an Hoffnungen und Ein Versuch, eine Geschichte des pädagogischen Erinnerns zumindest ansatzweise so zu schreiben, findet sich in dem Lehrbuch von Ralf Koerrenz et. al. (2017), Geschichte der Pädagogik. UTB-Basics. Paderborn: Schöningh.
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Didaktik des Erinnerns
Zukunftserwartungen verbunden wird. Vertrautheit und Fremdheit, Nähe und Distanz erscheinen nicht nur als Geschwister, sondern geradezu als »siamesische Zwillinge«. Gerade damit, mit einer solchen Spannung des inneren und kommunikativen Widerstreits, zeigt sich aber das Potential einer Beschäftigung mit der Geschichte der Pädagogik: Das Eigene, das Vorfindliche vermag im Spiegel der Geschichte in einer doppelten Weise fremd zu werden. Auf eine Weise ist es irritierend fremd, sich Parallelen zu verdeutlichen, dass beispielsweise »schulisches« Lehren und Lernen in der Antike vielleicht ganz ähnlich war wie heute. Fremd ist dann die Irritation des Nicht-Fremden, des Ähnlichen, des Vergleichbaren. Gleichzeitig aber wird – bei Betonung der Differenzkriterien, beispielsweise der gesellschaftlichen Verhältnisse oder der rechtlichen Rahmenbedingungen – an der Geschichte auch klar, was heute alles anders ist und warum das zeitlich (oder räumlich) Fremde nicht nur fremd ist, sondern auch fremd bleiben muss. Die existentielle Dimension des Erzählens von Geschichte(n) scheint notwendig auf. Denn mit beiden Varianten, also der Erfahrung des Fremden und der des Nicht-Fremden, ist verbunden, dass das Eigene, das Vorfindliche, nur als ein Gewordenes zu einem bestimmten Zeitpunkt des Hier und Jetzt verstanden werden kann. Perspektivität ist in dieser mehrfachen Hinsicht nicht nur unhintergehbar, sondern wird auch einsichtig: nicht zuletzt (in Transferprozessen) für den eigenen Alltag, die pädagogische Praxis. Denn wenn das Eigene, das Vorfindliche – in geschichtlicher Perspektive – als ein Gewordenes offenbar ist, verliert es seinen Absolutheitsanspruch auf Normalität und Selbstverständlichkeit. Es könnte auch anders sein, ganz anders. Das tut gut in einem schulischen Alltag, dessen machtdurchsetzte Normalität sich zumindest gelegentlich unhinterfragbar gibt. Es könnte auch anders sein – anders werden, ganz anders. Das setzt Aufmerksamkeit frei für die Betrachtung des Alltags. Dies setzt Aufmerksamkeit frei auch für die Notwendigkeit, die im Alltag vorhandenen normativen Hintergründe pädagogischen Handelns zu rekonstruieren und zu diskutieren. Gespiegelt: Dann hat Geschichte, die Beschäftigung mit dem gleichzeitig ewig Gleichen und ewig Fremden, die Funktion, die Bedingtheit (und Beschränktheit) der jeweils eigenen Perspektivität aufzuzeigen und kritisch zu hinterfragen. Darauf kann Rede, auch geschichtliche Erzählung, aufbauen – alles Andere wäre unwiderstreitiger Trug. Denn der Durchgang durch Gleichheit und Fremdheit findet im Kopf statt (inspiriert natürlich durch die Kommunikation 115 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Ralf Koerrenz
mit einem Buch, in einem Seminar oder in einer Vorlesung). So ermöglicht doch der Spiegel des Anderen die Einsicht: Der eigene Standpunkt und die eigene Geschichte sind nur eine mögliche Position im globalen Horizont, eine mögliche Position neben anderen. Und: Im Spiegel des Anderen erscheint das Eigene selbst als das Fremde, das Nicht-Selbstverständliche, verdrängte Erinnerungsspuren scheinen zumindest ansatzweise auf. Hinter den verdrängten Erinnerungsspuren steht letztlich immer die Auseinandersetzung mit dem, was wir als normal empfinden und als normal bezeichnen. Damit verbunden ist für die angehenden Lehrerinnen und Lehrer mit Blick auf eine selbstverständlich erscheinende Institution und Gesellschaft das Problem: Wie normal ist unsere Vorstellung von Normalität? Kinder und Jugendliche sind immer: konkret. Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse im System Schule sind immer: konkret. Der Blick in den Spiegel ist immer: konkret. Die Frage jedoch bleibt bei alledem, wie »normal« das Konkrete ist oder wie bunt, vielfältig, kritisierbar, unkontrollierbar und im Durchgang durch die Einsicht in die Buntheit, Vielfalt, Kritik und Unkontrollierbarkeit dann auch wiederum entspannend.
V.
Didaktik des Erinnerns – methodische Phantasien
Ans Ende der global-postkolonialen Annäherungen an Mensch-Sein, Lernen und Pädagogik soll eine methodische Frage gerückt werden. Wie wollen wir eigentlich die Didaktik des Erinnerns und darin auch das Teilen von kulturellem Erbe thematisieren, darstellen, in Szene setzen? Wir haben uns im Sinne der auf Feststellung ausgerichteten Denktraditionen an ein bestimmtes Verständnis von Wissenschaft gewöhnt. Wir streiten lediglich darum, welche der Methoden die bessere, die wirklichkeitsgemäßere Feststellung ermöglicht. Selten nur thematisieren wir dabei noch Wissenschaft als letztlich unscharfen Möglichkeitsraum von Deutungen und Widersprüchen. Dies gilt ironischerweise zum Teil gerade für diejenigen Traditionen, die die dialektischen Widersprüche zum Kern ihrer Geschichtsschreibung machen, da sie am Ende das Ziel aller Geschichte unstreitig festzulegen vermögen. Das jetzt abschließend anklingende Motiv fragt danach, ob nicht auch (zumindest gelegentlich) Poesie als eine andere, vielleicht gar bessere Sprache der Wissenschaft gelten kann. Wir haben uns an die Pfade der philosophischen Logik und Argumentation gewöhnt. 116 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Didaktik des Erinnerns
Was aber, wenn wir in einer erweiterten Hermeneutik die Widersprüchlichkeit des Seins sprachlich zu umfassen suchen? Befragen wir einen, der das Bild von der »metaphorischen Wahrheit« in philosophischen Zusammenhängen entwickelt hat. Folgen wir den Gedanken Paul Ricoeurs in seinen Studien über »Die lebendige Metapher« 10 . Ohne seinen großen Gedankengang von der Antike bis in die Gegenwart hier abschreiten zu können, sind es doch einige Motive, die mit Blick auf eine Didaktik des Erinnerns der Aufmerksamkeit lohnen. Wir alle sprechen (auf unterschiedlichste Weise, mit Lauten und Gesten, in verschiedenen Sprachkonstruktionen und Satzmelodien). Wir alle sprechen und produzieren auf dieser Ebene der gesprochenen Sätze einen Sinn. Literatur, Poesie ist eine besondere Form des zumeist verschriftlichten Sprechens. Literatur will in irgendeiner Form (bei aller Irritation, auf die sie zielen mag) doch verstanden werden – selbst als Provokation. Denn als Provokation kann sie nur identifiziert werden, wenn sie als Provokation, d. h. als gezielte Abweichung, überhaupt erkennbar bleibt. Der erste Schritt des Sprechens und Schreibens also: Wir produzieren sinnhaltige Sprache, die von anderen Menschen in ihre Wahrnehmungshorizonte übersetzt werden kann. Zunächst nehmen wir nur eines von den Anderen wahr: ihre Sprache, ihren produzierten Sprechsinn – Aussagen eben, die uns mehr oder weniger verständlich sind. Darüber hinaus aber berührt das Gesprochene noch eine andere Ebene unserer Wahrnehmung. Wir nehmen nicht nur den Sprechsinn wahr, sondern beziehen diesen (oftmals im gleichen Atemzug) auf die Wirklichkeit. Wir übertragen das Gesprochene auf Deutungen oder mögliche Handlungen in der Wirklichkeit. Das gilt gerade auch für Literatur, wenn wir lesen und Bilder in unserem Kopf lebendig werden lassen. Der Metapher, dem metaphorischen Erzählen beispielsweise in einer Parabel 11 kommt dabei eine eigene Rolle zu. Sie will anstoßen, Gedanken zur Deutung, zum Verändern von Wirklichkeit anstoßen, aber indirekt, vermittelt über Bilder und Übersetzungen, die erst im Kopf der Hörenden und Lesenden entstehen sollen. Die Parabel will als metaphorische Erzählung anstoßen durch Sprechsinn – und zielt doch in ihrer letztlich lehrhaften Absicht auf einen SachPaul Ricoeur (1986), Die lebendige Metapher. München: Fink. Vgl. hierzu als einen zeitgenössischen Versuch metaphorisch-»wissenschaftlichen« Schreibens Ralf Koerrenz (2018), Die Knöpfe. Reise zum Mittelpunkt des Selbst. Paderborn: Schöningh.
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Ralf Koerrenz
sinn oder Referenzsinn. Paul Ricoeur spricht deswegen mit Blick auf den Wirklichkeitsbezug von Literatur von der »Hauptunterscheidung zwischen der semantischen Innovation auf der Ebene des Sinnes und der heuristischen Funktion auf der Ebene der Referenz« 12 . Und seine damit verbundene Frage lautet, ob nicht die metaphorische Rede ganz andere Dimensionen freilegt, Wirklichkeit zu erkennen und zu deuten. Die Frage besteht in letzter Provokation darin, ob nicht die metaphorische Rede einen viel besseren, weil der Freiheit der Hörenden und Lesenden Rechnung tragenden Zugang zur Wirklichkeit eröffnet als alle anderen Sprachformen (z. B. der »Wissenschaft«). In dem Zwischen der Nicht-Sprache, der Sprachverstummung, der SprachUnfähigkeit entsteht durch Literatur eine neue Möglichkeit des Sprechens, im Bewusstsein, dass das Sprechen gerade nicht möglich ist. Wenn wir Erinnerung und kulturelles Erbe thematisieren – sind Ricoeurs Motive von Poesie als Sprache der Darstellung von Wirklichkeit nicht bedenkenswert? Wird Gegenwart durch Geschichte, d. h. in deren Spiegel bzw. durch deren Fenster, dann nicht anders, besser lesbar? Ricoeur schreibt der metaphorischen Erzählung jedenfalls die »Funktion der Neubeschreibung der Wirklichkeit« 13 zu. Ausführlich thematisiert er diesen Gedanken im fünften Kapitel über »Metapher und Referenz«. Die Pointe von Ricoeur besteht darin, dass er jenes Streben nach Wahrheit, nach der »angemessenen«, der »richtigen« Beschreibung von »Wirklichkeit« nicht nur der Wissenschaft im engeren Sinne, sondern auch und vor allem der Poesie, der metaphorischen Ausdrucksweise zuschreibt 14 . Zugespitzt: Poesie ist die bessere, vielleicht sogar die beste Form einer empirischen Denk- und Ausdrucksweise. Poesie ist deswegen auch die bessere Wissenschaft, wenn es darum geht, Wirklichkeit zu erfassen. »Denn wissen wir, was das heißt: Realität, Welt, Wahrheit?« 15 Die Leistung der Poesie besteht darin, die Augen (und Herzen) zu öffnen für eine umfassendere Wahrnehmung dessen, was ist. »Es ist, was es ist« 16 erschließt sich erst im poetischen Raum, wenn »auf den Trümmern des wörtlichen Sinns« 17 eine neue »Logik der Entdeckung« 18 erscheint, die in ihrer 12 13 14 15 16 17 18
Ricoeur (1986), Metapher, S. III (wie in Anm. 10). Ricoeur (1986), Metapher, S. III (wie in Anm. 10). Vgl. Ricoeur (1986), Metapher, S. 215 (wie in Anm. 10). Ricoeur (1986), Metapher, S. 216 (wie in Anm. 10). Koerrenz (2018), Knöpfe, S. 7 (wie in Anm. 10). Ricoeur (1986), Metapher, S. 226 (wie in Anm. 10). Ricoeur (1986), Metapher, S. 228 (wie in Anm. 10).
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Didaktik des Erinnerns
metaphorischen Kraft und Eleganz einen eigenen »kognitiven Prozeß, eine rationale Methode, die ihre eigenen Normen und Prinzipien hat« 19 mit sich führt. Die Schlussfolgerung lautet schlicht: »Man darf von einer metaphorischen Wahrheit sprechen, um die ›realistische‹ Intention zu bezeichnen, die mit dem Neubeschreibungsvermögen der dichterischen Sprache verbunden ist.« 20 Die Frage lautet mit Blick auf einen »wissenschaftlichen« Umgang mit dem kulturellen Erbe: Ist metaphorische Wahrheit auch eine Wahrheit? Ist etwa Poesie sogar hierbei die bessere Form der Wissenschaft, wenn es darum geht, empirisch zu denken und zu arbeiten. Lohnt der Gedanke? Ja. Dröseln wir ihn auf. Empirische Denk- und Deutungswege versuchen, Wirklichkeit zu erfassen. Was aber ist »empirisch«? Vor allem aber: Was ist »Wirklichkeit« wirklich? Das sind die Fragen, um die sich alles dreht, wenn wir das Wort »Wissenschaft« aussprechen. Bringen wir ein Drittes ins Gedankenspiel. »Wirklichkeit« und »Wissenschaft« treffen im Verständnis von »Wahrheit« aufeinander. Schon Pilatus hat seine liebe Not mit diesem dritten W. In der deutschen Sprache scheinen diese drei Ws untrennbar ineinander verflochten und sich wechselseitig selbst erklärend. »Wissenschaft« definiert sich scheinbar eindeutig über Methoden und Techniken, über die »Wirklichkeit« erfasst und so »Wahrheit« formuliert werden soll. Der Zauberstab hierfür trägt die Gravur »empirisch«. Im empirischen Gestus unterscheiden sich die philosophischen und naturwissenschaftlichen Techniken der Wahrheitsfindung letztlich nicht. Die allermeisten Techniken zielen auf Eindeutigkeit, Feststellung und Ausschließung des Anderen, Fremden, Unverfügbaren. Der empirische Gestus der so festgestellten, festgenagelten, festmontierten Wahrheit ermöglicht sichere Kommunikation und scheinbar schmerzfreie Verständigung. Denn das Ausgeschlossene, Unterdrückte, Andersganze der Existenz wird damit zum Verstummen gebracht. Gerade an den Orten der scheinbaren Freiheit, den Universitäten, ist der Geist des empirischen Gestus oftmals zum Henker des Abweichenden geworden. Selbst wenn Gruppen sich aufmachen, den empirischen Gestus neu zu erfinden oder zumindest neu einzukleiden, verfallen sie nach kurzer Zeit dem Schicksal, selbst zum Ausschlussmechanismus des nicht als empirisch Geduldeten zu verfallen. Faktisch geht es immer um Macht, um Deu19 20
Ricoeur (1986), Metapher, S. 228 (wie in Anm. 10). Ricoeur (1986), Metapher, S. 239 (wie in Anm. 10).
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tungsmacht der Wahrheit – identifiziert, festgestellt und formuliert über eine vermeintlich alternativlose Methodik. Am Ende steht das Zählbare einer rational nachvollziehbaren Methodik. Das ist das Grundübel der Zeit – die Herrschaft der Zahl, die Herrschaft des Messbaren, die Herrschaft des Festgestellten. Das ist das Grundübel der Zeit – die Unterdrückung der Relativität unseres Wahrnehmens, die Unterdrückung der Relativität unseres Ordnens, die Unterdrückung der Relativität unseres Sprechens. Als könnten wir uns verstehen jenseits einer notwendigen offenen und unabschließbaren Verständigung. Kein Weg führt daran vorbei, uns in unserem Sprachvermögen kritisch zu hinterfragen. Wir streben – sinnvoller Weise – nach Bilingualität, Multilingualität sowohl theoretisch wie praktisch. Dabei stimmen beide Sätze, die Jacques Derrida in seinen Überlegungen über »Die Einsprachigkeit des Anderen« formuliert hat. »Man spricht immer nur eine Sprache« und »Man spricht niemals nur eine Sprache« 21 – es ist gerade der offene Raum zwischen den beiden Sätzen, inmitten des offensichtlichen Widerspruchs, der ein realistisches, ein »empirisches« Licht auf unser Sprachvermögen zu lenken vermag. Im Bewusstsein der Bedeutung von Mehrsprachigkeit, von Vielsprachigkeit ist es die Einsicht in die machtdurchsetzte Prägekraft der öffentlichen Sprache, des auch vor allem über schulischen Unterricht definierten sprachlichen Standards, die zu der Auffassung leitet, dass wir zuerst und vor allem in unserem Menschsein durch unsere sprachliche Begrenztheit bestimmt sind. Als Schluss: Der Grundgedanke einer Didaktik des Erinnerns lautet: an dem Fremden, an dem, was mit der heutigen Wirklichkeit weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick vollständig identifiziert werden kann, einen anderen Blick auf das Eigene zu entwickeln. Es geht um das Aufflackern eines Widerstreits in sich und mit sich – und von dort aus mit Anderen. In sich und mit sich: Das Fremde, das Verfremdete, das Distanzierende hat seinen eigenen, hat seinen besonderen Wert in einem Berufsfeld, das durch die permanente Verwobenheit in Nähe geprägt ist. Zur Schule gehen – Tag für Tag. Das Alltagsgeschäft der Nähe zu Kindern und Jugendlichen, zum Kollegium, zu den Fachinhalten, zur Dynamik öffentlicher Bildungsdebatten – dies alles schreit geradezu nach Strategien des AbstandnehJacques Derrida (2003). Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. München: Fink.
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Didaktik des Erinnerns
mens, um sich selbst und den restaurativen Tendenzen des Systems nicht gedankenlos zu verfallen. Aufgabe einer Geschichte der Pädagogik ist es, mit verschiedenen Bildern die Notwendigkeit eines solchen Abstandnehmens plausibel zu machen. Poesie, metaphorische Rede allzumal, gehen offen mit dieser Einsicht um, weil sie keinen direkten Anspruch auf eine Definition der Wirklichkeit legen. Gerade eine Parabel beispielsweise nötigt zu einer bestimmten Auseinandersetzung mit sich selbst, da sie die Übersetzung des Sprechsinns in einen möglichen Sachsinn den Hörenden oder Lesenden überträgt. Metaphorisches Denken eröffnet die Möglichkeit, sich selbst als Übersetzer eines Unwirklichen in eine Wirklichkeit zu erleben. Die Richtung einer Übersetzung mag vorgegeben sein, »die« richtige Übersetzung jedoch kann und wird es nie geben, weil es sich beim Übersetzen immer um einen existentiellen Akt handelt, der anderen Menschen nur mehr oder weniger verständlich gemacht werden kann.
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… und über hervorgehobene Medien der Didaktik …
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Jens Bonnemann
Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild. Zum Bildungspotenzial des Films
Seit ungefähr zwanzig Jahren ist das Bild und das Bildliche mehr und mehr zu einem Gegenstand intensiver und umfangreicher Forschungen in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen geworden, und im Zuge dessen hat sich etwa auch die Bildtheorie innerhalb der Philosophie etabliert. Angesichts dieser Konjunktur der Bildforschung hat man wohl zu Recht von einem iconic turn (Gottfried Boehm) oder einem pictorial turn (W. J. T. Mitchell) gesprochen. Diese Entwicklung innerhalb der wissenschaftlichen Forschung hängt natürlich damit zusammen, dass sich auch in der Lebenswelt Bilder immer mehr verbreiten. Ganz dramatisch wird gerne von einer Bilderflut oder einer Bilderrevolution gesprochen, wobei diese Diagnose allerdings alles andere als neu ist, wenn man sich vor Augen hält, dass bei Rudolf Arnheim bereits 1932 das Wort »Bildepidemie« 1 fällt. So handelt es sich zwar um eine Entwicklung, die schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beginnt, aber die stetige Verbreitung und Zunahme von Bildern hat seitdem kein Ende genommen: Man sagt niemandem mehr etwas Neues, wenn man darauf hinweist, dass die Städte heutzutage geprägt sind von einer großformativen Bildwerbung, wobei bildgebende Verfahren besonders in der Medizin und der Biologie immer mehr um sich greifen und neue Forschungsperspektiven erschließen. Für die Generation, die gegenwärtig studiert, ist es zudem längst nicht mehr selbstverständlich, Filme auf der Kinoleinwand oder auf dem Fernsehbildschirm zu sehen. Das Internet spielt eine immer größere Rolle für die Filmrezeption, und bildliche Darstellungen – Fotos, Selfies usw. – sind ein wesentlicher Bestandteil der digitalen Kommunikation auf den Smartphones. Doch trotz aller Bilderflut und Digitalisierung weist ein Erziehungswissenschaftler wie z. B. der Medienpädagoge Walter Müller wohl zu Recht darauf hin, dass angesichts dieser Ausbreitung von 1
Rudolf Arnheim, Film als Kunst (2002[1932]), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 20.
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Jens Bonnemann
Bildern die Schule nach wie vor ein Bollwerk des Wortes bleibt: So sind Schulbücher insgesamt zwar farbiger und bildreicher geworden und technische Bildmedien haben Einzug ins Klassenzimmer gefunden. Da die Bilder jedoch zumeist allenfalls eine illustrierende Funktion übernehmen, bleibt die traditionelle Vorherrschaft des Wortes ungebrochen. 2 In der Schule lernen die Schüler gesprochene und geschriebene Worte zu verstehen, aber angesichts der zunehmenden Verbreitung von Bildern in der Lebenswelt, liegt die Frage auf der Hand, ob die Schule nicht ebenso das Lesen- und Verstehen-Lernen von Bildern fördern sollte. Besteht nicht eine bedenkliche Kluft einerseits zwischen dem zunehmenden Einfluss von Bildern auf beinahe alle Lebensbereiche und andererseits der Fähigkeit, sich mit diesem Einfluss auseinandersetzen zu können, um ihm nicht einfach nur hilflos ausgeliefert zu sein? Es wäre also ein wünschenswertes Lernziel, dass Schüler verstehen, was Bilder sind, in welchem Verhältnis sie zur außerbildlichen Realität stehen und welche Wirkung sie auf den Betrachter ausüben. In dem vorliegenden Aufsatz soll es in diesem Sinne um eine positive Wirkung der Bilder gehen, nämlich um die Frage, was Bilder – und vor allem die bewegten Bilder des Films – für die Bildung leisten können. Die Frage lautet also schlichtweg: Können Filme uns bilden? Zweifellos kommen Filme bereits seit längerer Zeit im Schulunterricht zum Einsatz – und zunächst einmal scheint die Handlung oder die Narration auch dieselbe zu bleiben, ob ich nun Jurek Beckers Roman Jakob, der Lügner lese oder die Verfilmung von Frank Beyer oder Peter Kassovitz sehe. Sicher ist es aufschlussreich, an welchen Stellen die Verfilmung von der literarischen Vorlage abweicht und inwiefern damit ein anderer Blickwinkel auf das Thema verbunden ist: Z. B. sind die Nazis bei Kassovitz von Natur aus böse, was sie bei Becker nicht sind. Im Folgenden steht jedoch die ganz andere Frage im Mittelpunkt, ob die Bilder eines Films eine Erfahrung ermöglichen, die sich mit Sachtexten oder Romanen gerade nicht machen lässt. Und wenn es eine solche Erfahrung tatsächlich gibt, inwiefern lässt sie sich – und zwar in einem nicht-trivialen Sinne – als ein Beitrag zur Bildung verstehen? Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, Walter Müller (2009), »Vom Lernen des ›sehenden Sehens‹ in Zeiten zunehmender Bildergefräßigkeit«. In: Umlernen. Festschrift für Käte Meyer-Drawe. Hrsg. v. Norbert Ricken et. al. München: Fink, S. 167–181.
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Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild
dass man von Büchern mehr als von Filmen lernen kann. Jedoch geht es um den Nachweis, dass von Filmen ein wertvoller Beitrag für die Bildung und Persönlichkeitsentwicklung erwartet werden kann, der aus medienspezifischen Gründen eben nicht von der Literatur geleistet werden kann. In Anlehnung an Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch und Lothar Wigger soll Bildung hier in Abgrenzung zu Ausbildung, Kompetenzerwerb und Selbstoptimierung verstanden werden. Während es bei einer Ausbildung primär um den Erwerb von gewinnbringenden und nützlichen Fähigkeiten und Kompetenzen für Berufsperspektiven und Karrierechancen geht, bemisst sich die Bildung gerade nicht an diesem Kriterium der Effizienz und Zweckrationalität. Das lässt sich an dem folgenden Beispiel veranschaulichen: Für welches Studium man sich entscheidet – ob nun Pädagogik oder Philosophie, Theologie, Jura oder Betriebswirtschaftslehre –, hängt nicht zuletzt davon ab, von welchem man sich die beste Karriere erhofft. Wenn ich Journalist werden will, ist es möglicherweise auch nützlicher oder zielführender, überhaupt kein Studium zu absolvieren, sondern stattdessen ein Praktikum. Abgesehen von solchen zweckrationalen Erwägungen kann ich mir jedoch auch die Frage vorlegen, ob ich denn wirklich ein Philosoph, ein Jurist oder ein Ökonom sein möchte. In diesem Fall geht es dann nicht mehr um die Frage der Effizienz, sondern darum, was für mich ein gutes und gelungenes Leben ist. Von jetzt an frage ich nicht mehr nach dem besten Mittel für einen Zweck, denn der Zweck ist gar nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt. Vielmehr wird er für mich zu einem strittigen Thema, indem ich frage, wer ich sein und wie ich leben will. Dass ich über mein Verhältnis zu mir selbst und zu anderen nachdenke, unterscheidet aber nun solche Fragen der Bildung von denen der Ausbildung. Aus diesem Grund bedeutet Bildung auch keineswegs die Maximierung des Humankapitals. Weder geht es hierbei um direkte Anweisungen wie in der Erziehung, noch um den Erwerb von Kompetenzen wie Kommunikationsbereitschaft, Innovationsfreude oder digitale Fitness – also um Qualifikationen, die in Unternehmen, Evaluationsagenturen und Bürokratien gefragt sind. Wenn von Bildung in dieser Hinsicht die Rede ist, dann rückt vielmehr eine Ethik der Lebensführung an die Stelle einer Technologie der Selbstoptimierung. Wegweisend für eine solche Sichtweise ist zweifellos Wilhelm von Humboldt, für den Bildungsprozesse in Erfahrungen verwurzelt sind, die unsere Weltsicht und Lebensge127 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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staltung formen und damit eben das Verhältnis zu uns selbst, zu anderen und zur Welt prägen. 3 Bildung ist, wie Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch und Lothar Wigger schreiben, »ein Nachdenken, Durchdenken und Weiterdenken darüber, dass und wie Menschen sich mit sich, mit anderen und mit der Welt sprachlich-gedanklich vermittelt, auseinandergesetzt haben, gegenwärtig auseinandersetzen und zukünftig vielleicht auseinandersetzen können« 4 . Liest man diese Bestimmung des Bildungsbegriffs vor dem Hintergrund der Ausgangsfrage des vorliegenden Aufsatzes, dann fällt auf, dass für Dörpinghaus, Poenitsch und Wigger jenes Nachdenken, Durchdenken und Weiterdenken, in dem sich Bildung vollziehen soll, eben nur, wie es heißt, »sprachlich-gedanklich« und keineswegs etwa bildlich-gedanklich stattfindet. Ganz genauso steht auch für Peter Bieri das Wort im Mittelpunkt des Bildungsprozesses: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern […]. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire größer geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden. 5
So fördern nach Bieri die Erweiterung und Verfeinerung des sprachlichen Ausdrucks das Empfindungsvermögen ebenso wie die Einsicht in seelische Zusammenhänge. Aber die Frage, ob nicht nur die Sprache, sondern auch Bilder – und speziell bewegte Bilder – hierzu in der Lage sind, stellt sich für Bieri ebenso wenig wie für Dörpinghaus, Poenitsch und Wigger. Dass das Bildliche zweitrangig gegenüber dem Sprachlichen bleibt, hängt wohl insgesamt mit einer Geringschätzung von Wahrnehmung und Sinnlichkeit zusammen, die eine lange Tradition in der Geschichte der Pädagogik und erst recht der Philosophie hat. Eine solche grundlegende Privilegierung des Geistigen gegenüber dem Sinnlichen lässt sich einerseits bis zu Platons VerVgl. z. B. Wilhelm von Humboldt (1980), »Theorie der Bildung des Menschen« und »Plan einer vergleichenden Anthropologie«. In: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Berlin: Verlag der Wissenschaften, S. 234–240, S. 337–375. 4 Andreas Dörpinghaus, Andreas Poenitsch und Lothar Wigger (2006), Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt: WBG, S. 10. 5 Peter Bieri (2012), »Wie wäre es, gebildet zu sein?« In: Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Hrsg. v. Heiner Hastedt. Stuttgart: Reclam, S. 234 f. 3
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Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild
dikt, dass Bilder nichts weiter als Abbilder von Abbildern seien, andererseits bis zum alttestamentarischen Bilderverbot zurückverfolgen. Für den Bildungsgedanken macht Käte Meyer-Drawe zu Recht auf die Paradoxie aufmerksam, die hierin liegt: ›Bildung‹ verweist auf Bild und damit zurück auf die bis in unser Jahrhundert aufgegriffene […] Genesispassage (1. Buch Mose 1, 26 f.), nach der Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. Gleichzeitig ist es diesem Geschöpf verboten, sich ein Bild Gottes zu machen. 6
Nicht von ungefähr wird die Relevanz der sinnlichen Wahrnehmung in den Wissenschaften wie auch der Philosophie zumeist nur hinsichtlich der Frage diskutiert, inwiefern sie imstande ist, zuverlässige Erkenntnisse über die Welt zu vermitteln. Was demzufolge also hauptsächlich erforscht wird, ist die Begriffsabhängigkeit der Wahrnehmung, ihre Beziehung zur Wirklichkeit oder ihr Wahrheitsgehalt, dank dem sie zur Quelle der Rechtfertigung von Überzeugungen werden kann. In Abgrenzung von einer solchen Engführung lässt sich auf dem Weg einer Phänomenologie der Wahrnehmung jedoch der Nachweis erbringen, dass das Wahrgenommene nicht nur ein Objekt ist, an dem ich in einer distanzierten Haltung bestimmte Eigenschaften wie ›rot‹ oder ›grün‹, ›rund‹ oder ›länglich‹ erkenne. Vielmehr wirkt das Wahrgenommene zudem auch leiblich auf mich auf eine Weise ein, die ich als angenehm oder unangenehm erlebe: Es sticht, brennt, drückt oder es ist lecker, behaglich, angenehm kühl oder warm oder zu kalt oder zu heiß usw. Diese Qualitäten der Wahrnehmung, die sich durch einen pathischen Charakter auszeichnen, führen zu einer leiblichen Selbsterfahrung, in der ich mir meiner selbst auf fundamentale Weise bewusst werde. Aus dieser Perspektive erfahre ich mich nicht in der Introspektion, sondern von Anfang an in der Auseinandersetzung mit einer teils freundlichen und teils feindlichen Welt. Kurz, ich erfahre mich als genießendes oder leidendes Selbst, d. h als ein leibliches Selbst, das sich vor der Welt in Acht nehmen muss, weil es von ihr attackiert wird, oder sie ganz im Gegenteil voll Freude erlebt und gar nicht genug bekommen kann. Insofern ich der Welt nicht nur in einer distanzierten Erkenntnishaltung gegenüberstehe, sondern mich fortwährend in der Auseinandersetzung mit ihr erlebe, ist meine leibliche Käte Meyer-Drawe (1999), »Zum metaphorischen Gehalt von Bildung und Erziehung«. Zeitschrift für Pädagogik 45, S. 161–175, hier S. 162.
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Selbsterfahrung darum von Anfang an mit den Farben der pathischen Wahrnehmung gemalt. 7 Bezeichnet man jene pathische Dimension als einen Sinn der Wahrnehmung, dann wäre es jedoch ein Missverständnis, wenn man nun hierunter eine Repräsentations- oder Zeichenfunktion des Wahrgenommenen verstehen würde. Dass dieser Sinn vielmehr in der Präsenz und keineswegs in der Repräsentation liegt, lässt sich an dem folgenden Beispiel darlegen. Wenn ich die Stimme eines anderen Menschen höre, dann weist diese Stimme möglicherweise einen angenehmen oder einen unangenehmen Klang auf, aber darüber hinaus kann mir dieselbe Stimme auch eine sprachliche Mitteilung machen, die als solche angenehm oder unangenehm ist. Das bedeutet, es ist möglich, dass mir ein Mensch etwas Angenehmes mit einer sehr unangenehm klingenden Stimme sagt. In diesem Fall besitzt seine Stimme einen Ausdruck, der im Gegensatz zur Bedeutung der von ihr gesprochenen Worte steht. Hieraus lässt sich schließen, dass der Ausdruck der sinnlichen Präsenz, die Stimme, der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung eines Menschen, sich von der Zeichenfunktion seiner Stimme unterscheiden lässt. Wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, liegt bei diesem Ausdruck keinerlei Trennung zwischen dem phänomenal Gegebenen – also dem Gesehenen und Gehörten – und dem Gemeinten vor. Insofern ist der Begriff ›Ausdruck‹ eigentlich irreführend, denn man kann hier sinnvollerweise kein Inneres unterscheiden, das sich in einem Äußeren ausdrückt. Gemeint ist damit: Der affektive Sinn findet sich eben nicht hinter dem Phänomen, sondern im Phänomen selbst. Die Freundlichkeit ist dementsprechend nicht hinter dem Gesicht, sondern im Gesicht. Im Unterschied hierzu ist wiederum bei den sprachlichen Zeichen, also den gesprochenen und geschriebenen Worten, die Trennung zwischen dem phänomenal Gegebenen und dem Gemeinten nicht zu übersehen. Das bedeutet, das Wort ›Rot‹ ist nicht rot, sondern es verweist auf die Farbe Rot, während ein Lächeln hingegen nicht Freundlichkeit bedeutet, sondern freundlich ist. Kurz, im leiblichen Ausdruck ist die Freundlichkeit selbst präsent, im sprachlichen Ausdruck ist sie wiederum zeichenvermittelt repräsentiert. Die Taubstummen-
Siehe hierzu ausführlich: Jens Bonnemann (2016), Das leibliche Widerfahrnis der Wahrnehmung. Eine Phänomenologie des Leib-Welt-Verhältnisses. Münster: Mentis.
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sprache wäre also eher auf der Seite des sprachlichen Ausdrucks, d. h. der Zeichensprache, anzusiedeln. Von hier aus leuchtet ein, warum uns nicht nur der Geschmack des Vanilleeises oder der angenehme Sommerwind widerfährt, sondern ebenso auch der affektive Ausdruck eines anderen Menschen. In diesem Sinne erwähnt der Phänomenologe Max Scheler als Beispiele für die Ausdruckswahrnehmung die lustige Stimmung eines Festes oder die traurige Stimmung einer Beerdigung, welche selbst auf die Befindlichkeit eines Außenstehenden einen Einfluss nehmen können. So kann uns die Heiterkeit einer Frühlingslandschaft, die Melancholie eines Herbstabends wie auch die traurige Düsterkeit einer engen Wohnung buchstäblich mitreißen und unsere Affektivität in Mitleidenschaft ziehen. Dies nennt Scheler Gefühlsansteckung, während Gernot Böhme denselben Sachverhalt als ein affektives Betroffensein innerhalb der Atmosphäre einer Situation bezeichnet: Sich leiblich spüren, schreibt Böhme, heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist. Wie Böhme hinzufügt, gibt es ganze Berufszweige, deren Haupttätigkeit darin besteht, Atmosphären zu konstituieren – dazu gehören nicht nur Künstler, sondern auch Innenarchitekten, Designer, Kosmetiker, Bühnenbildner usw. 8 In dem vorliegenden Aufsatz soll nun für die These argumentiert werden, dass auch der Film ein einzigartiges Bildungspotenzial bereitstellt, weil der Film wie kein anderes Medium eine Sensibilisierung für den leiblichen Ausdruck fördert. Der Gedanke, dass der leibliche Ausdruck, so wie er im Film zur Erscheinung kommt, einen Bildungsprozess in die Wege leitet, findet sich bereits implizit bei Béla Balázs, einem Filmtheoretiker der ersten Stunde, und zwar in seinem Buch mit dem Titel Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. In diesem Sinne wäre Balázs es wert, als Bildungstheoretiker wiederentdeckt bzw. überhaupt erst einmal entdeckt zu werden. Seine kulturkritische Hauptthese aus dem genannten Buch lautet, dass die menschliche Seele heutzutage – der Text stammt aus dem Jahr 1924 – fast nur noch sprachlich und kaum noch leiblich artikuliert wird. Im
Vgl. Max Scheler (1985), Wesen und Formen der Sympathie. Bonn: Bouvier, S. 25 f.; Gernot Böhme (1995), »Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik«. In: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt a. M., S. 21–48; ders. (2001), Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink.
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Zuge dessen verliert, wie es weiter heißt, der menschliche Körper mehr und mehr das Vermögen, überhaupt noch irgendetwas zum Ausdruck zu bringen. Aber es bleibt nicht bei einer solchen Verkümmerung des leiblichen Vermögens der Expressivität, denn nach Balázs verkümmert auch dasjenige, das nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden kann – nämlich genau jene Gedanken und Gefühle, die sich nicht sprachlich, sondern nur leiblich artikulieren lassen. Kurz, die Hegemonie der begrifflichen Sprache führt sowohl zu einer leiblichen wie auch zu einer seelischen Verkümmerung. 9 Was hätte Balázs wohl zu der folgenden Situation gesagt, die sich heutzutage in der Öffentlichkeit nicht selten beobachten lässt: Mehrere Menschen sitzen zusammen an einem Tisch, aber sie reden nicht miteinander, sondern blicken jeweils in ihr Smartphone, wobei sie auf dem Display herumdrücken oder -wischen. In dieser Szene haben – zumindest temporär – die leibhaftig anwesenden und wahrnehmbaren Gesprächspartner augenscheinlich weniger Gewicht als jene abwesenden Adressaten, mit denen über WhatsApp, Email, SMS in sozialen Netzwerken und über digitale Bilder kommuniziert wird. Einem Beobachter kann sich hier leicht die Frage stellen: Was hat in diesem Moment Vorrang, und wer verstößt in einer solchen Situation eigentlich gegen eine Konvention? Derjenige, der reale Anwesende unbeachtet lässt, weil er mit seinem Handy beschäftigt ist, oder vielleicht bereits derjenige, der sein Gegenüber anspricht und damit eine mögliche digitale Kommunikation schon im Voraus verhindert? Jedenfalls scheint eine bisherige Gepflogenheit doch ins Wanken zu kommen: Die Kommunikation mit dem körperlich anwesenden Gegenüber, die sich in der mündlichen Sprache, aber auch in einem Mienen- und Gebärdenspiel verwirklicht, besitzt keine selbstverständliche Priorität mehr. Wenn es sich so verhält, dann ist der folgende Schluss alles andere als abwegig: Selbst wenn die Relevanz von Bildern und bildförmiger Kommunikation gestiegen sein mag, ist damit nicht unbedingt auch ein Gewinn an leiblicher Anschaulichkeit und Sichtbarkeit verbunden. Das Mienen- und Gebärdenspiel wird nicht allein – einmal vorausgesetzt, dass Balázs Recht hat – durch die begriffliche Sprache an den Rand gedrängt, sondern das kann genauso gut auch durch die unterschiedlichen Formen der digitalen Kommunikation Vgl. Béla Balázs (2001), Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M., S. 16–23.
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Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild
geschehen. Es kommt somit immer weniger auf das leibliche Vermögen an, sich durch ein nuanciertes Mienenspiel zu artikulieren. Im Gegenzug würde folgerichtig auch das entsprechende Vermögen mehr und mehr an Gewicht verlieren, einen solchen mimischen Ausdruck in seinen Nuancen überhaupt deuten zu können. Jene digitalen Bilder, z. B. die so beliebten Selfies, widersprechen dieser Einschätzung keineswegs. Denn dabei handelt es sich doch zumeist um eher grobe, stereotype Grimassen, die deutlich und unmissverständlich zeigen sollen, wie glücklich oder auch traurig man gerade ist. Solche Bilder stellen darum wohl eher keine Herausforderung an das leibliche Empathievermögen des Kommunikationspartners dar. Balázs begrüßt 1924 nun die Erfindung und Verbreitung des Films als Wiederentdeckung der leiblichen Sichtbarkeit des Menschen und traut ihm damit sogar eine kulturtherapeutische Missionsarbeit zu: Der Film soll es jedenfalls ermöglichen, »der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben«. 10 Entscheidend ist hierfür der Unterschied zwischen dem Theater- und dem Filmschauspiel: Wie es heißt, können wir auf der Theaterbühne ebenso wenig wie im alltäglichen Leben einen menschlichen Ausdruck so gründlich studieren, wie es im Film ein Gesicht in der Großaufnahme möglich macht, das monströs den ganzen Raum der Kinoleinwand ausfüllt. Jedes flüchtige Zucken des Mundes bekommt auf diese Weise eine ungeheure Wirkung, wohingegen der Gesichtsausdruck auf der Theaterbühne im Allgemeinen nur für die ersten Reihen im Zuschauerraum erkennbar ist. Hinzu kommt: Um überhaupt noch für entfernt sitzende Zuschauer einen identifizierbaren Ausdruck zu haben, muss der Theaterschauspieler seine Mimik notgedrungen vergröbern und übertreiben. Was den leiblichen Ausdruck betrifft, gibt es darum im Theater nur wenig Raum für leisere Töne und Ambivalenzen. Im Unterschied zur Malerei präsentiert der Film darüber hinaus nicht nur eine statische Miene, sondern tatsächlich die Dynamik eines sich verändernden Mienenspiels. Während der Film also nicht nur Ausdruck, sondern auch Ausdrucksveränderung präsentieren kann, liegt eine solche emotionale Entwicklung mit ihrem ganzen Facettenreichtum jenseits der Darstellungsmöglichkeiten von Malerei oder Plastik. Balázs zufolge lässt uns der Film deshalb wiederentdecken, was durch 10
Balázs (2001), Der sichtbare Mensch, S. 16 (wie in Anm. 9).
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die Vorherrschaft der sprachlichen Kommunikation marginalisiert worden ist – nämlich den leiblichen Ausdruck, das Mienen- und Gebärdenspiel. Aus diesem Grund verhilft der Film, wie es weiter heißt, der leiblichen Erscheinungsweise des Menschen wieder zu seiner vollen Sichtbarkeit. 11 Aber dabei allein soll es nicht bleiben: Insofern der Filmschauspieler den Reichtum des leiblichen Ausdrucksvermögens sogar vervielfältigt, konfrontiert er den Zuschauer mit bisher ungekannten Ausdrucksnuancen und infolgedessen auch mit bisher unbekannten seelischen Nuancen. Und so wie nach Bieri die Vervielfältigung des sprachlichen Ausdrucks in der Literatur neue Kontinente der Seele erschließt, so gilt für Balázs dasselbe auch für den leiblichen Ausdruck. Wir denken und fühlen nicht nur differenzierter und nuancierter, wenn wir über mehr sprachlichen Ausdruck verfügen, sondern auch dann, wenn wir unsere leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten erweitert haben. 12 Damit wird deutlich, wozu der Film im Unterschied zur Literatur in der Lage sein soll: Während die Literatur das Verstehen des sprachlichen Ausdrucks vertieft, ist der Film dazu imstande, den Zuschauer für den leiblichen Ausdruck zu sensibilisieren. Sicher sind Balázs’ Ambitionen überspannt und können aus heutiger Sicht kaum noch überzeugen. Zumindest als Denkanstoß bleibt jedoch die Idee bedenkenswert, dass die Filmrezeption für den leiblichen Ausdruck sensibilisiert, so wie nach Bieri die Literaturrezeption dasselbe für den sprachlichen Ausdruck leistet. Ein Filmbeispiel dürfte an dieser Stelle hilfreich sein, um genauer herauszustellen, worin die Einzigartigkeit des leiblichen Ausdrucks im Film gegenüber jedem anderen Medium besteht: In Tom Fords Film A Single Man (USA, 2009) wird dem Zuschauer ein Mann gezeigt, dem in einem Telefonanruf mitgeteilt wird, dass sein Lebenspartner bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Die Kamera nähert sich hierbei langsam seinem anfangs sehr ruhig und gelassen wirkenden Gesicht – ein Gesicht, das gewohnt zu sein scheint, Gefühle und Geheimnisse für sich zu behalten. Während der Mann ruhig und höflich sachliche und umsichtige Nachfragen stellt, erfasst er mehr und mehr das ganze Ausmaß der Katastrophe. In dieser traurigen Filmszene nehmen wir die Ausdrucksbewegung eines Gesichts Siehe hierzu Balázs (2001), Der sichtbare Mensch, S. 33–36, S. 43–50 (wie in Anm. 9). 12 Balázs (2001), Der sichtbare Mensch, S. 20 (wie in Anm. 9). 11
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Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild
als einen voranschreitenden Prozess wahr, in dem sich der Schmerz immer tiefer in das anfangs so gleichmütige Gesicht des Mannes hineingräbt. Zumindest in der ersten Hälfte dieser Szene wird unentwegt gesprochen, aber es sind keineswegs die Worte, die uns Auskunft über den Schmerz geben. Würden wir allein auf sie achten, dann könnten wir sogar glauben, dass diese Nachricht den Mann nicht allzu sehr aus der Bahn wirft. Im Unterschied zu einem Roman sind es keine Worte, die uns über seine Gefühle unterrichten, aber jene Ausdrucksbewegung könnte uns auf vergleichbare Weise auch weder ein Gemälde noch ein Foto zur Darstellung bringen. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Schauspielkunst vor allem dann ein beachtliches Niveau erreicht, wenn Traurigkeit nicht einfach nur gespielt wird, sondern vielmehr eine Traurigkeit erfahrbar wird, die eigentlich verborgen bleiben soll, aber hier und da eben doch ungewollt zum Vorschein kommt. Indem das Spiel des Filmschauspielers den Blick des Zuschauers für das schärft, was Worte nicht sagen, sondern ganz im Gegenteil vielleicht sogar verbergen wollen, lässt sich sagen, dass die Filmrezeption die Entwicklung einer Sensibilität fördert, die genauer als Taktgefühl zu begreifen wäre. Takt soll unter diesem Gesichtspunkt also als ein Vermögen der Wahrnehmung von Ausdrucksnuancen verstanden werden, in denen deutlich wird, wie meinem Gegenüber zumute ist, auch ohne dass er über seine Befindlichkeit offen spricht. Worauf sich diese Einschätzung bezieht, ist hierbei der unwillkürliche leibliche Ausdruck, d. h. der Gesichtsausdruck, die Gestik und Körperhaltung eines anderen Menschen. Ich verhalte mich dementsprechend taktvoll, wenn ich meinem Gespür dafür folge, ob der andere auf seine Stimmung angesprochen werden will oder fürchtet, hierdurch sein Gesicht zu verlieren. Gegebenenfalls nehme ich seine Traurigkeit zwar zur Kenntnis, aber ich lasse es ihn nicht merken. Wie Anton Hügli im Blick auf die pädagogische Situation bemerkt, besteht das Ziel des Takts darin, »dem anderen keinen Anlass zu geben, sich missachtet zu fühlen oder fühlen zu müssen«. 13 Im Unterschied zu einem diplomatischen Takt, der das
Anton Hügli (2016), »Urteilskraft, Pädagogik und Herbarts pädagogischer Takt«. In: ders., Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein. Basel: Schwabe, S. 159–174, hier S. 168.
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Wohlwollen des anderen zu gewinnen versucht, um die eigenen Interessen besser durchsetzen zu können, will der moralische Takt dem Gegenüber Demütigung und Beschämung ersparen und stellt darum auch dessen eigene Sichtweise in Rechnung. 14 Helmuth Plessner beschreibt Takt im weiteren Sinn als das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten […], die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens. 15
Der Taktvolle will dem anderen nicht zu nahetreten, d. h. es geht ihm anders als in Verhältnissen der Liebe und Freundschaft gerade nicht um Nähe, sondern vielmehr um die Wahrung von Distanz. Es leuchtet ein, dass auch der Lehrende, also der pädagogische Praktiker selbst, eine Person ist, von der in hohem Maße ein solches Taktgefühl zu erwarten wäre. Ähnliche Überlegungen finden sich bereits bei einem Klassiker aus der Theoriegeschichte der Pädagogik: Für Johann Friedrich Herbart liegt die Aufgabe des Praktikers der Pädagogik darin, die allgemeinen Regeln, die der Theoretiker der Pädagogik entwickelt, richtig anzuwenden. Um beides miteinander zu vermitteln, wählt Herbart den Begriff des Takts, womit ein Urteil gemeint ist, das intuitiv zustande kommt, sich aber durch den Hinweis auf die passende Regel im Nachhinein theoretisch begründen lässt. Insofern hierbei vorausgesetzt wird, dass es auch »für jede Situation ein theoretisch begründbares richtiges Urteil geben müsse« 16 , wird der Takt folglich »durch allgemeine Regeln getragen«. 17 Wie Herbart zusammenfasst, erweist sich der pädagogische Takt als »ein wahrhaft gehorsamer Diener der Theorie« 18 . Vgl. Hügli (2016), »Herbarts pädagogischer Takt«, S. 169 (wie in Anm. 13). Helmuth Plessner (1981), Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. In: ders., Gesammelte Schriften V. Macht und menschliche Natur, Frankfurt a. M., S. 7–133, hier S. 107. 16 Hügli (2016), »Herbarts pädagogischer Takt«, S. 160 (wie in Anm. 13). 17 Hügli (2016), »Herbarts pädagogischer Takt«, S. 161 (wie in Anm. 13). 18 Johann Friedrich Herbart (1919), »Die ersten Vorlesungen und die Diktate zur Pädagogik«. In: Johann Friedrich Herbarts Pädagogische Schriften. Hrsg. v. Otto Willmann und Theodor Fritzsch. Bd. 1. Osterwiek/Leipzig: Zickfeldt, S. 113–175, hier S. 123. Vgl. zum pädagogischen Takt auch Daniel Burghardt, Dominik Krinninger und Sabine Seichter [Hrsg.] (2015), Pädagogischer Takt. Theorie – Empirie – Kultur. Paderborn: Schöningh. 14 15
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Wenn man jedoch die pädagogische Situation wie jede andere konkrete Situation als »eine so nie wiederkommende, unvertretbare und unreduzierbare Lage« 19 versteht, dann sind erhebliche Zweifel angebracht, ob man hier – intuitiv oder diskursiv – mit Regeltreue alleine weiterkommt. Bei Plessner kommt daher dem Takt ein noch viel größerer Stellenwert als bei Herbart zu, denn er sucht nicht intuitiv nach der passenden Regel für die jeweilige Situation, sondern vielmehr nach einer Balance, die notgedrungen labil bleibt, »weil es an Normen für die Verankerung der individuell verteilten Gewichte fehlt« 20 . Regeltreue scheint Plessner sogar auszuschließen, denn für ihn wäre taktlos, »wer seine Macht, seine Überlegenheit fühlen läßt, wer nach vorgefaßten Meinungen, irgendwie zurecht gemachten Bildern andere Menschen behandelt und beurteilt«. 21 Infolgedessen kann sich der Taktvolle nur sehr begrenzt auf vorgefasste Meinungen und Regeln verlassen, denn er versucht vielmehr, »jeden Menschen auf individuelle Weise zu nehmen und gewissermaßen im Dunkeln seinen Weg zu finden« 22 . Wenn es sich also so verhält, dass der Takt gerade dort ansetzt, wo das regelgeleitete Verstehen einer Situation an seine Grenzen stößt, dann ist der Takt – anders als Herbart meint – nicht das Mittelglied zwischen Theorie und Praxis, sondern vielmehr zwischen Bildung und Praxis. Diese Art der Bildung lässt sich genauer als »Sensitivität und Unterscheidungsvermögen für die unterschiedlichen Gefühls- und Stimmungslagen anderer Personen« 23 verstehen. Um überhaupt taktvoll agieren zu können, ist allerdings zunächst ein Verstehen des leiblichen Ausdrucks von Personen und der Atmosphäre von Situationen erforderlich – und es spricht einiges dafür, dass Filme einen alles andere als unerheblichen Beitrag hierfür leisten können: Die Filmrezeption führt zu einer Weiterbildung des Verständnisses für den nicht-sprachlichen Ausdruck von Menschen und Situationen, das mit Fug und Recht als eine wesentliche Bedingung für ein taktvolles soziales Miteinander in Betracht gezogen werden sollte. Keineswegs gilt dies natürlich für alle Filme und keineswegs nur für
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Plessner (1981), Grenzen der Gemeinschaft, S. 110 (wie in Anm. 15). Plessner (1981), Grenzen der Gemeinschaft, S. 109 (wie in Anm. 15). Plessner (1981), Grenzen der Gemeinschaft, S. 109 (wie in Anm. 15). Plessner (1981), Grenzen der Gemeinschaft, S. 107 (wie in Anm. 15). Hügli (2016), »Herbarts pädagogischer Takt«, S. 172 (wie in Anm. 13).
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Spielfilme, sondern gerade auch für Dokumentarfilme wie etwa Claude Lanzmanns Shoa. Dabei stellen nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern insbesondere auch Menschen aus einer anderen Gesellschaftsschicht oder einer anderen Kultur eine hohe Herausforderung für den Takt dar, der in dem Maße für eine multikulturelle Gesellschaft unentbehrlich ist, als sie sich nicht mehr vorab auf einen einheitlichen Verhaltensstil verlassen kann. Genauso wenig wie Sinn für Humor wird ein solches Taktgefühl jedoch durch moralphilosophische Diskussionen oder das Erlernen sozialer Konventionen entwickelt. Für den sprachlichen Ausdruck ist hierfür mehr von der Literatur und für den leiblichen Ausdruck mehr vom Film zu erwarten.
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Von Mitspielern und Zuschauern: Literarisches Verstehen und moralisches Urteilen im Wechselspiel I.
Einleitung
Eine Handvoll literarischer Gestalten hat mein Leben nachhaltiger geprägt als manches Wesen aus Fleisch und Blut, das ich gekannt habe […]. Aber es hat keine Gestalt gegeben, mit der ich ein dauerhafteres und eindeutig leidenschaftlicheres Verhältnis gehabt hätte als mit Emma Bovary. 1
Die scheinbar ungenierte Auskunft über eine erotische Liason, die der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa hier gibt, hat keine reale Person im Blick: Sein Bekenntnis gilt vielmehr der Hauptfigur aus Gustave Flauberts Roman Madame Bovary. Wenn wir einen literarischen Text lesen, entwickelt dieser nicht selten die Kraft, eine für uns zweite, aber auf ihre eigene Weise ebenso reale Wirklichkeit zu erschaffen, in der wir uns verlieren können und deren Lebendigkeit uns immer wieder dazu einlädt, die Welt eines anderen Bewusstseins zu betreten, um dort Erfahrungen zu machen, die wir häufig auch für unser eigenes Leben als bedeutsam empfinden. Dabei haben wir als Leser jedoch das große Glück (oder im Fall von Llosas leidenschaftlicher Sehnsucht nach Emma Bovary vielleicht eher das große Unglück), dass wir das rege Treiben innerhalb der literarischen Welt aus der Distanz des Zuschauers heraus beobachten müssen, denn was wir betrachten, widerfährt uns nicht selbst. Literatur erlaubt uns so, menschliche Handlungsweisen in den Blick zu nehmen, ohne selbst einem Handlungsdruck ausgeliefert zu sein. Dabei sind wir jedoch zugleich sowohl Mitspieler als auch Beobachter: Aus der Innenperspektive des Mitspielers heraus versetzen wir uns in andere Figuren hinein und stellen uns vor, welche Ziele sie verfolgen, wie sie sich selbst sehen und wie sie Andere beurteilen; kurz, wir sind empathisch. In unserer Rolle als Mitspieler geht es Mario Vargas Llosa (1996), Flaubert und »Madame Bovary«. Die ewige Orgie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 13.
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insofern nicht darum, was wir beispielsweise als gerecht oder ungerecht ansehen, sondern was die Anderen als gerecht und ungerecht erfahren. Die Aufgabe, die uns damit zugetragen wird, ist die, den Anderen zu verstehen. Gleichzeitig beurteilen wir jedoch aus der Außenperspektive des Beobachters das Geschehen vor dem Hintergrund unserer eigenen Bedürfnisse, Interessen und Wertmaßstäbe. Der Blick, den wir auf das Dargestellte werfen, ist somit stets auch ein moralisch wertender Blick. 2 Beobachten wir zum Beispiel in den Dramen Friedrich Schillers, wie Karl Moor zum Räuber wird, wie Maria Stuart erhaben ihre Hinrichtung akzeptiert oder wie es Wilhelm Tell schwerfällt, den Tyrannenmord zu begehen, so sind wir mit moralischen Fragen konfrontiert, die uns zu einem Urteil herausfordern. Die ästhetischen Erfahrungen, die wir an Literatur machen, bringen uns so in eine ambivalente Haltung, denn wir sind bei der Lektüre sowohl involviert, wenn wir verstehen, als auch gleichzeitig distanziert, wenn wir urteilen. Mithilfe dieser kurzen Skizze ist damit die zentrale Verschränkung angedeutet, um die es mir im Folgenden gehen wird, und zwar das Ineinandergreifen von Verstehen und Urteilen im Moment der literarischen Erfahrung. Möchte man diese Verschränkung didaktisch fassen und den Schülern, sei es im Literatur- oder Philosophieunterricht, ethische Einsichten mittels ästhetischer Erfahrungen ermöglichen, so ist es sinnvoll, eine Didaktik zu wählen, die sich selbst als ästhetisch bzw. dramaturgisch begreift und sich an einen zentralen Ort anlehnt, an dem ästhetische Erfahrungen gemacht werden, nämlich das Theater. 3 Eine solche Art von Didaktik ist die Lehrkunstdidaktik 4 . Die Lehrkunstdidaktik versteht dabei Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts 5 : Der Unterricht erzeugt Vgl. Mario Ziegler (2014), Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg: Ergon, S. 60. 3 Bei der Anwendung einer Theatermetaphorik auf den Unterricht sind natürlich Modifikationen erforderlich. Zu den Unterschieden, aber auch Gemeinsamkeiten von Theater und Unterricht vgl. Gottfried Hausmann (1959), Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg: Quelle und Mayer, Kapitel V. Die Analyse des Dramas und ihre Bedeutung für die Didaktik, S. 100–147. 4 Die Lehrkunstdidaktik ist eine didaktische Makromethode, die ausgehend von Martin Wagenscheins Diktum vom ›Verstehen lehren‹ von den Pädagogen Hans Christoph Berg und Theodor Schulze entwickelt worden ist. Vgl. Hans Christoph Berg, Theodor Schulze (1995), Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Berlin: Luchterhand. Die Lehrstückdidaktik knüpft ausdrücklich an diese Tradition an (vgl. auch die Einleitung des Bandes). 5 Es sei an dieser Stelle bereits bemerkt, dass das ›Dramaturgische‹ nur ein Element 2
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ebenso wie das Theater eine künstliche, eine imaginäre Wirklichkeit, indem er Komponenten und Aspekte aus der Wirklichkeit auswählt und so zusammenfügt, dass man ihre Wirkungsweise untersuchen und erproben kann. Unterricht nach dem Modell des Theaters aufzubauen, verlangt dabei die Darstellung von handelnden Menschen. Dies kann Literatur leisten, und wenn Schüler literarische Texte lesen oder Theateraufführungen besuchen, so erfahren sie diese Repräsentation rezeptiv. Jedoch kann diese Darstellung von den Schülern auch selbst geleistet und im Anschluss daran reflexiv erschlossen werden, indem sie selbst eine Rolle innerhalb des Lehrstücks übernehmen und ihr eigenes Verständnis zum Ausdruck bringen. Denn die Schüler spielen niemals nur die literarische Rolle, sondern immer auch sich selbst. Jedoch können sie, wenn der Unterricht ihnen das Setting und die Handlung eines literarischen Stücks als Umrisszeichnung zur Verfügung stellt und ihnen Rollen und Situationen als Schablonen anbietet, hinter der schützenden Maske einer literarischen Rolle selbst entscheiden, wie viel sie von ihrem persönlichen Erfahrungshorizont preisgeben möchten. Der Unterricht ist dann als ein Mitspielstück zu verstehen, in dem sich Involviertheit und Distanz, Innen- und Außenperspektive und damit auch Verstehen und Urteilen miteinander abwechseln.
II.
Sich über Sinn und Unsinn menschlicher Handlungen verständigen: Der Dialog über das literarische Erlebnis als Praxis sozialer Interaktion
Zu einem Erlebnis wird eine Weltbegegnung dann, wenn das Subjekt etwas Bedeutsames an sich selbst oder der Wirklichkeit erfährt. Es ist insofern eine intensivere Form der Weltbegegnung, indem es ein qualitativ erhöhtes Begegnen umfasst. Der Begriff des Erlebnisses geht im deutschsprachigen Raum vor allem auf Wilhelm Dilthey zurück. In Das Erlebnis und die Dichtung 6 betont Dilthey, dass das Erleben sowohl eine zentrale werkästhetische (im Begriff des »Erschlieder Methodentrias ›Exemplarisch‹ – ›Genetisch‹ – ›Dramaturgisch‹ ist, die für die Lehrstückdidaktik konstitutiv ist. Ich beschränke mich hier auf das Dramaturgische, weil es das zentrale Konzept für die Kopplung der Lehrstückdidaktik an ästhetische Erfahrungen ist. 6 Wilhelm Dilthey (1985[1907]), Das Erlebnis und die Dichtung. Göttingen: Vandenhoeck und Rupprecht.
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ßens«) als auch rezeptionsästhetische Dimension (im Begriff des »Nacherlebens«) hat: Denn jedes echte poetische Werk hebt an dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den es darstellt, eine Eigenschaft des Lebens heraus, die so vorher nicht gesehen worden ist. Indem es eine ursächliche Verkettung von Vorgängen oder Handlungen sichtbar macht, läßt es zugleich die Werte nacherleben, die im Zusammenhang des Lebens einem Geschehnis und dessen einzelnen Teilen zukommen. Das Geschehnis wird so zu einer Bedeutsamkeit erhoben. […] So erschließt uns die Poesie das Verständnis des Lebens. Mit den Augen des […] Dichters gewahren wir Wert und Zusammenhang der menschlichen Dinge. 7
Das Verstehen beruht bei Dilthey im Nacherleben eines fremden Daseins, dass uns durch Literatur gegeben ist und sich in Schrift, Sprache, Gesten, Mimik etc. ausdrückt. Es ist an dieser Stelle gleich, ob man die Erlebnisperspektive auf das Werk eher als Nacherleben von Autorenerlebnissen oder als Selbsterleben des Rezipienten von dargestellten Wirklichkeiten fasst, denn das Einlassen auf die Mimesis des Werkes, das Annehmen der Illusionsvollzüge und das Eintreten in die dargestellte Wirklichkeit sind unerlässliche Handlungen des Individuums, um Literatur verstehen zu können. In der Einleitung habe ich dies als Innenperspektive des Mitspielers bezeichnet. Mittels des rezipierenden Eintretens in die dargestellte Wirklichkeit werden jedoch zwei weitere Dimensionen ermöglicht: Erstens das Auffüllen von Leerstellen sowie zweitens das Eintreten in ein Wertungsgeschehen. (1) Das Auffüllen von Leerstellen: Mit Wolfgang Iser gesprochen, erwacht ein literarischer Text erst durch die Aktualisierung im Lesevorgang zum Leben, weil Sinnkonstitution und Bedeutungsbildung maßgeblich durch den Leser geschehen, indem dieser nicht ausformulierte (d. h. unbestimmte) Beziehungen im Text subjektiv herstellt: Die Bedingungen […] liegen sicherlich im Text, doch am Zustandekommen […] sind wir als Leser nicht unbeteiligt. Wir aktualisieren den Text durch die Lektüre. Offensichtlich aber muß der Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig anders verstanden worden. 8 Wilhelm Dilthey (1985), Das Erlebnis und die Dichtung, S. 139. Wolfgang Iser (1974), Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitäts-Verlag, S. 8.
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Mit dem Auffüllen von Leerstellen ist dabei gemeint, dass ein literarischer Text stets bestimmte Momente unbestimmt lassen muss, weil er als Text stets endlich, die Dinge aber, die hätten beschrieben werden können, nahezu unendlich sind. Es ist folglich an uns, im Vollzug der Lektüre die Bilder in unserer Vorstellung und unserem Verstehen zu ergänzen. Somit sind wir auch bei der Rezeption direkt involviert, weil wir die literarische Welt dank unseres Imaginationsvermögens selbst mit hervorbringen. Dadurch wird auch deutlich, warum ein und derselbe Text sehr viele unterschiedliche Verständnisse und Vorstellungen hervorrufen kann. (2) Die Offenlegung der Werte und Einstellungen des Werkes und des Lesers: Die Einstellungen, Werte und Haltungen, die der Text vertritt, werden erst dann vollkommen sichtbar, wenn die Darstellung der Ereignisse und Gegenstände, in die er formensprachlich eingebettet ist, in der Imagination des Lesers zur Entfaltung kommen. Umgekehrt kann der Leser seine eigenen Einstellungen und Werte erst dann aktivieren, wenn ihm etwas gegeben ist, zu dem er sich wertend verhalten kann und über das er sich mit Anderen austauschen kann. Das heißt, dass literarisches Erleben ein Wertungsgeschehen eröffnet, das Gottfried Willems als »wertende Verständigung über Werte« 9 bezeichnet. Willems betont als wesentliches Merkmal der literarischen Kommunikation den Dialog über die »Darstellung von Erleben.« 10 Unter einem Wert versteht Willems dabei all jenes, wofür Menschen handelnd einstehen: Wert soll hier – in der Tradition der Wertphilosophie seit Lotze, Dilthey, Rickert und Husserl […] – all das heißen, für dessen Seinsollen Menschen handelnd einstehen, also alles, wozu sie sich bewusst oder unbewusst in der Praxis bestimmen oder bestimmen wollen, wie sie das in den Formen des Glaubens, der Verehrung, der Ergriffenheit, des Enthusiasmus, der Liebe, des ›interesselosen Wohlgefallens‹ (Immanuel Kant), des ›Geschehenlassens‹ von ›Offenheit des Seins‹ (Martin Heidegger) oder Offenheit gegenüber dem ›Anderen‹, der ›Faszination‹ (Benn), der Kritik, des Engagements oder des Amüsements bezeugen. 11
Worauf Willems hinweisen will, ist, dass die Gegenstände und Sachverhalte, die ein literarischer Text präsentiert, immer schon durch ein Gottfried Willems (1996), Art. »Literatur«. In: Literatur. Hrsg. v. Ulfert Ricklefs. Bd. 2 Frankfurt a. M., S. 1006–1029, hier S. 1012. 10 Willems (1996), »Literatur«, S. 1016 (wie in Anm. 9). 11 Willems (1996), »Literatur«, S. 1012 (wie in Anm. 9). 9
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(literarisches) Subjekt bewertete Gegenstände sind, die den Rezipienten jedoch dazu auffordern, sich zu den präsentierten Werten und Wertmaßstaben erneut wertend zu verhalten. Dies habe ich in der Einleitung als Außenperspektive des Beobachters bezeichnet. Literatur bringt solche Werte dabei erstens in Distanz zur Praxis hervor, was bedeutet, dass nur über das ästhetische Medium im Allgemeinen und die Literatur im Speziellen ein Austausch über Werte möglich ist, ohne einem Handlungsdruck zu unterliegen und vom »Zwang des Handelnmüssens« 12 unmittelbar bedrängt zu sein. Zweitens stellt Willems heraus, dass Literatur im Gegensatz zur Philosophie, Theologie oder Wissenschaft generell überhaupt erst in der Lage ist, Werte zur Sprache zu bringen, denn Werte sind »vortheoretischer Natur« 13 , d. h. man kann sich »Werte […] nicht ausdenken.« 14 Wissenschaften können Werte stattdessen stets nur als erlebte vorfinden, um sie einer nachträglichen Reflexion zu unterziehen, Begriffe zu finden, auf ihre Prinzipien zu prüfen und einem Werturteil zu unterziehen: Der Theorie ist demgemäß nur eine urteilende, keine wertende Verständigung über Werte möglich, und das heißt: keine Kommunikation des die Praxis begründenden ›Wertnehmens‹ selbst, des Erlebens, in dem Werte gesetzt werden. Anders die Literatur, wie sie Werte nicht nur in der Allgemeinheit des Begriffs benennt, sondern zugleich auch das vortheoretische Erleben, dem sie sich verdanken, der Kommunikation zugänglich macht. 15
Damit ist ein starkes Argument gefunden, im Literatur- und Ethikunterricht moralische Urteilsbildung ausgehend von der literarischen Darstellung und mit der ästhetischen Erfahrung, die man an dem dargestellten Erleben macht, anzuregen, weil es erst so möglich wird, mittels des Urteils überhaupt etwas reflektieren zu können. Der Unterricht, der dies anstrebt, begreift sich dann als »Praxis sozialer Interaktion« 16 , das heißt als ein Sich-Verständigen über Wert und Unwert und Sinn und Unsinn all der Handlungen von Menschen, die durch die Literatur zur Anschauung kommen. Mir ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass ein solcher Unterricht in erster Linie nicht diskursiv angelegt ist, das heißt, dass er nicht den Austausch von Argumenten anstrebt mit dem Ziel, den Anderen von den eige12 13 14 15 16
Willems (1996), »Literatur«, S. 1015 (wie in Anm. 9). Willems (1996), »Literatur«, S. 1016 (wie in Anm. 9). Willems (1996), »Literatur«, S. 1016 (wie in Anm. 9). Willems (1996), »Literatur«, S. 1016 (wie in Anm. 9). Willems (1996), »Literatur«, S. 1014 (wie in Anm. 9).
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nen Werten zu überzeugen, sondern dialogisch. »Dialogisch« meint, dass anstatt einer diskursiven Konsensbildung viel mehr von Interesse ist, die unterschiedlichen Werte und Wertmaßstäbe der Schüler zur Sprache zu bringen und in einen gegenseitigen Verstehensprozess zu überführen.
III. Von der Bereitschaft, sich irritieren zu lassen: Literarische Erfahrungen und was sie bewirken können Unter einer Erfahrung verstehe ich zum einen jenes, was sich durch die Weltbegegnung im Individuum festsetzt oder verändert, zum anderen aber das Ereignis, dass zu dieser Veränderung geführt hat. Versprachlicht man eine Erfahrung, zum Beispiel »Meine Erfahrung ist, dass Dankbarkeit von anderen Menschen erwartet wird.«, so rekurriert man auf eine Überzeugung, die man aufgrund einer Reihe von einzelnen Erlebnissen gewonnen hat. Erfahrung umfasst also das Ereignis, das zur Bildung einer Einstellung geführt hat, als auch die Einstellung selbst. 17 Damit ist der enge Zusammenhang von wiederholter Weltbegegnung und daraus resultierender Einstellung angedeutet. In diesem Sinne hat schon Aristoteles den Begriff der Erfahrung verwendet: »Viele Erinnerungen an einen und denselben Sachverhalt machen die Kraft einer Erfahrung aus.« 18 Erfahrung erscheint hier als ein Geübt-sein in etwas oder Vertraut-sein mit etwas und bezieht sich damit auf den Kenntnisschatz, den man durch Wiederholung und Regelhaftigkeit aufbauen kann. Erfahrungen sind insofern kein abstraktes allgemeines Wissen, auch wenn sie eine Tendenz zur Allgemeinheit haben, indem sie durch die wiederholte Betrachtung des Besonderen ein Allgemeines ausbilden. Ihre Allgemeinheit ist aber eine stets begrenzte und vorläufige, weil die Erfahrung an die konkreten Weltbegegnungen gebunden bleibt, aus denen sie sich ergeben hat. Folglich sind Erfahrungen durch neue Weltbegegnungen grundsätzlich transformierbar oder sogar revidierbar, wohingegen sich Wissen nur sehr viel schwerer (oder gar nicht, wie zum Beispiel logisches Wissen) verändern lässt.
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Vgl. Jan Urbich (2011), Literarische Ästhetik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, S. 176. Aristoteles, Metaphysik. 980b.
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Peter Starke
Als paradigmatisch für die Erfahrungskonzeptionen, die die Ästhetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmen, kann Gadamers Konzeption der Erfahrung in Wahrheit und Methode gelten. Gadamer formuliert im Gegensatz zu Aristoteles einen negativen Erfahrungsbegriff, nämlich dass Erfahrungen vor allem die Enttäuschung von Erwartungen sind, weil wir durch die Weltbegegnung feststellen, dass unsere bisherigen Einstellungen und Haltungen nicht mehr passend sind und deswegen einer Veränderung bedürfen: Dieser Prozess [der Erfahrung] nämlich ist ein wesentlich negativer. Er ist nicht einfach als die bruchlose Herausbildung typischer Allgemeinheiten zu beschreiben. Diese Herausbildung geschieht vielmehr dadurch, daß ständige falsche Verallgemeinerungen durch die Erfahrung widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttypisiert wird. […] Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. 19
Man könnte Gadamers Erfahrungsbegriff auch als einen Begriff von Irritationserfahrung bezeichnen, weil Einstellungen hier prinzipiell offen und auf ihre Korrektur hin angelegt sind, die genau dann notwendig wird, wenn wir davon irritiert werden, dass unsere bisherigen Erfahrungsschätze nicht mehr passend zur Welt sind. Dies erfordert jedoch eine Irritationsbereitschaft, denn um sich irritieren lassen zu können, muss man a) die Welt (möglichst genau) wahrnehmen und b) offen für alle Ereignisse und Gegenstände sein, mit denen man noch nicht seit jeher vertraut ist, über die man noch nicht Bescheid weiß und in die man noch nicht eingeübt ist. Auf der anderen Seite verstärkt Gadamers Erfahrungsbegriff die Widerfahrniskomponente, d. h., dass Erfahrungen nicht im strengen Sinne aktiv und bewusst gemacht werden, sondern mir als etwas widerfahren, auf das man nicht vorbereitet ist und das sich nicht erzwingen lässt. Daraus ergibt sich ein ambivalentes Verhältnis: Auf der einen Seite muss die Bereitschaft bestehen, sich irritieren zu lassen, um überhaupt Erfahrungen machen zu können. Auf der anderen Seite kann man sich aber nicht auf die Irritation und das, was sie an einem verändern wird, vorbereiten. Hans-Georg Gadamer (2010[1960]), Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 359.
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Von Mitspielern und Zuschauern
An dieser Stelle möchte ich ein kurzes Zwischenfazit aus den bisherigen literaturtheoretischen Überlegungen ziehen, bevor ich mich im Folgenden den daraus resultierenden didaktischen Konsequenzen am Beispiel eines Lehrstücks zu Sophokles’ Antigone zuwende: Das ästhetische Erlebnis ermöglicht es uns, die Innenperspektive des Mitspielers einzunehmen und die Werte anderer, uns fremder Figuren zu verstehen. Dadurch eröffnet uns Literatur gleichzeitig den Eintritt in ein Wertungsgeschehen, denn wir können uns zu den erlebten Werten erneut wertend verhalten. Dies ist unsere Außenperspektive als Beobachter, denn wir sind so dazu aufgefordert, unsere eigenen Wertmaßstäbe urteilend auf das Erlebte zu beziehen. Erst durch das Erleben des vortheoretischen Wertes wird dieser durch die Theorie reflektierbar. Zur Erfahrung wird die Begegnung mit Literatur dann, wenn sie ein Nachträgliches (sei es eine Haltung, Einstellung oder eben ein Wert) in uns hinterlässt. Damit das ästhetische Erlebnis auch zur Erfahrung werden kann, d. h. etwas Bleibendes in uns verändern kann, muss der Wahrnehmende prinzipiell bereit sein, sich durch das Wahrgenommene irritieren zu lassen.
IV. Strafe muss sein? Ein Lehrstück zu Sophokles’ Antigone Ich möchte das Ineinandergreifen der bisherigen Überlegungen abschließend an einem Unterrichtsbeispiel zu Sophokles’ Antigone aufzeigen. Mein Ziel ist es, deutlich zu machen, wie Verstehens- und Urteilsprozesse ausgehend von der literarischen Darstellung im Unterricht einander wechselseitig bedingen und welcher Methodiken sich der Unterricht dabei bedienen kann, um ein moralisches Problem produktiv in Szene zu setzen. Das Unterrichtsbeispiel, auf dass ich mich dabei beziehe, ist von Christoph Kehl entwickelt worden und kann auf der Homepage der Jenaer Schule der Didaktik 20 abgerufen werden. Der philosophische Hintergrund der Stunde besteht darin, nach der Funktionalität von Strafe zu fragen und die unterschiedlichen Zwecke herauszuarbeiten, die zur Begründung von Strafe (Strafandrohung und Strafvollzug) angeführt werden können. Hierfür wird die Entscheidung des thebanischen Herrschers Kreons als Christoph Kehl: »Strafe muss sein!« – Vom Sinn und Zweck des Strafens. http:// jenaerschule.de/wp-content/uploads/2018/05/Unterrichtsentwurf_Kehl.pdf. (zuletzt abgerufen am 12. 08. 2019).
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Peter Starke
exemplarisches Beispiel genutzt. Er hat verfügt, dass der Bruder der Antigone (Polyneikes), der sich gegen die Stadt gestellt hat und im Zweikampf gefallen ist, entgegen der göttlichen Gesetze nicht begraben werden dürfe. Kreon droht an, jeden mit dem Tode zu bestrafen, der Polyneikes trotzdem beerdigen sollte. – An dieser Stelle setzt das Lehrstück ein. Erste Szene: Eine umstrittene Entscheidung Szenische Vergegenwärtigung: Beginn der Tragödie Antigone. Aufgabenstellung: Bereiten Sie in Einzelarbeit eine kurze Rede vor, in der Sie als Kreon zu den Bürgern Thebens sprechen und mit eigenen Worten Ihre beiden Entscheidungen begründen, a) Polyneikes nicht zu begraben und b) den Verstoß gegen dieses Gebot mit dem Tode zu bestrafen. Szene/Aufgabenstellung 1: Kreon spricht zu den Bürgern Die erste Aufgabe der Schüler besteht darin, die Innenperspektive Kreons einzunehmen und aus seiner Sicht heraus zu begründen, wie er zu seiner Entscheidung gelangt ist. Dadurch wird das moralische Problem der Strafe verfremdet, indem es in einen Kontext gesetzt wird, der durch das fiktive Setting in Bezug auf die Lebenswelt der Schüler durch Alterität gekennzeichnet ist. Gleichwohl haben die Schüler im Laufe ihres Lebens in sehr vielen Weltbegegnungen Erfahrungen mit dem Sinn und Zweck von Strafe – sei es im Elternhaus oder durch die Berichterstattung von Gerichtsprozessen – machen können. Das Setting und die Handlung der Tragödie können ihnen somit als Umrisszeichnung dienen, in der sie unter der schützenden Maske Kreons ihren eigenen Erfahrungshorizont zum Ausdruck bringen können. Denn die Art und Weise, wie sie Kreon in der Rede darstellen, offenbart, ob Kreons Entscheidung für sie moralisch verständlich oder unverständlich ist. So können sie Kreon entweder als vernünftigen Staatsmann darstellen, der von seinem legitimen Recht der Gesetzgebung Gebrauch macht, oder aber als Tyrannen, der einer Schwester verwehrt, ihren eigenen Bruder zu beerdigen. Die Innenperspektive des Mittelspielers wird hier also automatisch mit der Außenperspektive des Beobachters verknüpft, indem die Schüler sich durch das Fremdverstehen in die Rolle Kreons hineinversetzen, gleichzeitig aber diese Rolle weiterimaginieren und dabei ihre vorhandenen Vorstellungen von Strafzwecken explizieren. Dies können 148 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Von Mitspielern und Zuschauern
sie, weil die Tragödie Leerstellen lässt, die von den Schülern ausgestaltet und durch eigene Vor-Urteile besetzt werden können. Dadurch werden die moralischen Intuitionen der Schüler indirekt durch die Darstellung zur Anschauung gebracht. Dies wird besonders dann deutlich, wenn man diesen Unterrichtsgang mit einer ›traditionellen‹ Explikation der Vor-Urteile der Schüler vergleicht. In der Regel wird bei diesem Verfahren das Vorwissen der Schüler nämlich von der Lehrkraft dadurch herausgefordert, dass die Schüler direkt gefragt werden, ob sie in ihrem Leben bereits Erfahrungen mit einem moralischen Problem gemacht haben. In Bezug auf unser Beispiel würde die Lehrkraft also in der Einstiegsphase der Stunde fragen, was die Schüler unter dem Sinn und Zweck von Strafe verstehen und wo sie in ihrem Leben bereits damit in Berührung gekommen sind. Dies kann unter Umständen jedoch einem intimen Eingriff in die Privatsphäre des Schülers gleichkommen, sodass dieser sich entweder aus dem Unterrichtsgeschehen zurückzieht, um seinen Erfahrungsschatz nicht teilen zu müssen, oder aber er sich notgedrungen öffnet, um den Anforderungen des Lehrers gerecht zu werden. Die Doppelperspektive des Lehrstücks bietet dem Schüler stattdessen eine Rolle an, die es ihm ermöglicht, seinen eigenen Erfahrungsschatz zu äußern, ohne dass dieser unmittelbar auf ihn zurückfällt. Die szenische Vergegenwärtigung hat gegenüber dieser Methode außerdem noch einen weiteren Vorteil: Der Unterricht dreht sich von vornherein um ein anschaulich-komplexes Beispiel, in dem die moralische Frage virulent wird und an dem exemplarisch alle zentralen Aspekte des philosophischen Problems erschlossen werden können. Der Vorteil besteht nun darin, dass dadurch alle Schüler das Gleiche vor Augen haben, sodass ihnen, wenn sie zu unterschiedlichen Darstellungen Kreons gelangen, klar wird, dass nicht alle Mitschüler bei der Betrachtung desselben moralischen Phänomens auch dieselben Urteile haben. Sie können sich dann gegenseitig befragen, warum sie Kreon auf diese oder jene Weise dargestellt haben, d. h. sie versuchen zu verstehen, auf welchen Annahmen, Hypothesen, Meinungen, Beobachtungen etc. die Darstellung der jeweils anderen beruht. Der Verstehensprozess bezieht sich insofern nicht nur auf das Verstehen der literarischen Figur, sondern auch auf das Verstehen der anderen Mitschüler.
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Peter Starke
Zweite Szene: Die Reaktion der Bürger Szenische Vergegenwärtigung: Kreons Beschluss wird in Theben ganz unterschiedlich aufgenommen. Aufgabenstellung: Notieren Sie unter dem jeweiligen Charakter in Stichpunkten, wie er auf Kreons Rede reagieren könnte! Welche Gedanken könnten ihm durch den Kopf gehen? Welche Gefühle könnte er in dieser Situation empfinden? Rollen: A) Haimon, der Sohn des Kreon und der Eurydike, ist Antigones Verlobter. Er schätzt und achtet seinen Vater, hofft aber auf dessen Einsicht. B) Antigone ist die gläubige und sehr gottesfürchtige Tochter des Ödipus, Nichte des Kreon und Verlobte des Haimon. Sie setzt das göttliche Recht höher als das menschliche. C) Ismene ist die Schwester der Antigone. Sie fürchtet die Macht ihres Onkels Kreon, dem Herrscher Thebens. D) Der Wächter wurde von Kreon beauftragt, die Einhaltung des Gebotes zu überwachen. E) Teiresias ist ein weiser, gottesfürchtiger alter Mann, den Kreon als Berater schätzt. Szene/Aufgabenstellung 2: Reaktion der Bürger Im zweiten Unterrichtsschritt wird innerhalb des dramaturgischen Settings ein Perspektivwechsel vollzogen. Bezugspunkt ist nun nicht mehr die Legitimität der Strafandrohung Kreons, sondern die Wirkung, die diese Strafandrohung bei seinen Mitmenschen entfaltet. Es geht hier also darum, mögliche Folgen der Strafandrohung zu beurteilen und Unterschiede zwischen beabsichtigten und tatsächlichen Effekten von Strafe herauszuarbeiten. Spätestens an dieser Stelle wird auch das moralische Problem deutlich, dass Kreon mit seiner Entscheidung heraufbeschworen hat, nämlich die Spannungen und Grenzen der Zweckhaftigkeit von Strafe. Die Schüler schlüpfen nun nämlich in die Rolle all derjenigen, die von der Entscheidung Kreons betroffen sind. Auf der einen Seite wird so das literarische Fremdverstehen erweitert, auf der anderen Seite erkennen die Schüler, dass die moralischen Reaktionen auf die Rede Kreons situations- und standortgebunden sind. Je nachdem, welchen (Erfahrungs-)Hintergrund die jeweilige Figur hat und durch welche Haltungen und Einstellungen sie sich auszeichnet, wird sie anders auf die Rede Kreons reagieren. Das literarische Erleben eröffnet so Einblicke in den Wertekosmos der einzelnen Figuren und macht sie für eine anschließende Reflexion, also für einen Austausch über Sinn und Unsinn der ver150 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Von Mitspielern und Zuschauern
tretenen Werte, zugänglich. Hierfür müssen die Schüler jedoch ihre jeweiligen Figuren interpretieren und überlegen, nach welchen Maximen diese handeln könnten. Dabei sind sie aufgefordert, sowohl kognitive als auch emotionale Aspekte zu berücksichtigen. Der Unterrichtsschritt ist dabei als Vorarbeit für die nächste Szene zu verstehen, in der die Figuren des Lehrstücks aufeinandertreffen, weil Antigone Kreons Verbot missachtet und ihren Bruder heimlich bestattet hat. Die Figuren sind nun dazu angehalten, Kreon zu beraten, ob und wie er Antigone hierfür bestrafen soll. Dritte Szene: Kreons Rat Szenische Vergegenwärtigung: Antigone wird beim Versuch, Polyneikes zu beerdigen, vom Wächter auf frischer Tat ertappt. Sie leugnet ihre Schuld nicht und gesteht auch, von dem Verbot gewusst zu haben. Kreon ist wutentbrannt. Einige Bürger Thebens und Bewohner des Königspalastes eilen herbei, um Kreon in seiner Entscheidung zu beeinflussen. Aufgabenstellung: 1. Versetzen Sie sich mithilfe der Stichpunkte in eine Rolle Ihrer Wahl. Welche Position könnte dieser Charakter Ihrer Meinung nach wohl gegenüber Kreon vertreten? 2. Bringen Sie eigene Gedanken mit ein und versuchen Sie in einem kurzen, weitgehend improvisierten Dialog, Kreon von Ihrer Position zu überzeugen. 3. Rufen Sie »Cut«, um Ihre Version der jeweiligen Rolle vorzuführen. Szene/Aufgabenstellung 3: Urteilsfindung Kreons Dieser dramaturgische Höhepunkt des Lehrstücks wird von einer außerordentlichen Lebendigkeit geprägt sein, denn die unterschiedlichen Wertvorstellungen und moralischen Prinzipien treffen hier direkt aufeinander. Während im ersten Unterrichtsschritt die Begründung für die Maxime Kreons und im zweiten deren Wirkung thematisiert worden ist, so fällen die Schüler nun mittels des Streitgesprächs ein Urteil darüber, ob die Maxime Kreons aufrechterhalten werden kann oder ob sie revidiert werden muss. Die Schüler fragen also danach, ob das allgemeine Prinzip Kreons in Anbetracht der besonderen Situation moralisch gut ist, oder ob nicht ein anderer Weg im Umgang mit Antigone zu bevorzugen ist. Falls letzteres der Fall ist, so steht automatisch die Frage nach einem anderen allgemeinen Prinzip im Raum, welches Kreon seinen Handlungen zugrunde legen 151 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Peter Starke
sollte. Die Schüler gebrauchen also ihre Urteilskraft reflektierend 21 , indem sie ausgehend von der besonderen Situation nach allgemeinen Prinzipien fragen, die für diese Situation als moralisch gut erscheinen. Sie entwerfen damit auch Handlungsoptionen für Kreon, die sich nicht auf einen simplen Dualismus wie in Dilemma-Problemen (bspw. dem Trolley-Problem) beschränken werden, weil die Figur Kreons in einen reichhaltigen Kontext eingebettet ist. Vierte Szene: Strafe muss sein? Eine abschließende Reflexion Szenische Vergegenwärtigung: Kreon ist sich sicher: »Strafe muss sein!« Und doch geben ihm die vorgebrachten Argumente zu denken. Aufgabenstellung: Verfassen Sie unter dem Titel »Strafe muss sein?« einen inneren Monolog, in dem Kreon die unterschiedlichen Positionen, Zwecke und Begründungen der Strafe und deren Vollzugs gegeneinander abwägt. Szene/Aufgabenstellung 4: Kreon überdenkt seine Position In der letzten Szene sind die Schüler dazu aufgefordert, ihren eigenen Standort gegenüber den wahrgenommenen Positionen zu bestimmen. Hierfür müssen sie die gemachten Erfahrungen rekapitulieren und analysieren, mit welchen Begriffen sie das Wahrgenommene kategorisieren und verschriftlichen können. Das Schreiben des inneren Monologs dient also einer Abstraktion des Entdeckten. Wenn die Schüler dabei feststellen, dass ihre bisherigen Begriffe nicht mehr hinreichend sind, um das Wahrgenommene adäquat beschreiben zu können, so sind sie gezwungen, diese zu aktualisieren. Die Schüler haben dann im Zuge des moralischen Urteilsbildungsprozesses eine ästhetische Erfahrung gemacht, wenn die Klarheiten, die sie aus der Stunde mit nach Hause nehmen, einen Niederschlag in ihren Haltungen, Überzeugungen oder moralischen Den Begriff der reflektierenden Urteilskraft verwende ich im kantischen Sinne: »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, […] bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.« Immanuel Kant (1913[1790]), Kritik der Urteilskraft. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preussischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5. Berlin: Reimer, S. 179.
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Von Mitspielern und Zuschauern
Prinzipien finden. Die gemeinsame Betrachtung einer literarischen Darstellung hat den Schülern dann sowohl einen neuen Verständnishorizont eröffnet als auch ihre moralische Urteilskraft geschult.
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… zurück in die Schule und Universität
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Stella Wieg
Achilles und die Schildkröte. Eine didaktische Fabel zur Exemplifikation des Exemplarischen in der Lehrstückdidaktik »Ich bin naiver Realist – und wer Lehrstücke mitmacht, muss das sein. Das ist meine Schwachstelle.« 1 Mit diesem Bekenntnis eröffnete Johannes Hachmöller einen Vortrag mit dem Titel »Unterrichtstheater« vor Studenten, Wissenschaftlern, Lehrern und anderen Interessierten 2 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Hier soll nun keine erkenntnistheoretische Abhandlung folgen. Vielmehr gilt es, die didaktische Stärke der Lehrstückdidaktik aufzuzeigen, die gerade darin liegt, dass etwas zur Darstellung gebracht wird, was dadurch allen Teilnehmern gemeinsam vor Augen steht und durch die sanfte Lenkung des Blicks aus vielfältiger Perspektive erhellt werden kann. Im Zentrum eines Lehrstücks steht die »didaktische Fabel« 3 , der »Held« des Stücks 4 – im philosophischen Kontext beispielsweise eine Geschichte, ein Problem, ein Bild, eine Szene oder ein Gedankenexperiment. Dieses Beispiel soll exemplarischen Charakter im Sinne Wagenscheins haben: »[D]as Einzelne, in das man sich hier versenkt, […] ist Spiegel des Ganzen«. 5 D. h. es darf sich dabei nicht nur um ein beliebiges Beispiel handeln, sondern an ihm müssen einerseits elementare fachliche Einsichten (Klarheiten) gewonnen und fundamentale Erfahrungen des Weltzugangs gemacht werden können. 6
Johannes Hachmöller (28. 05. 2015): Sehr lebendige Individuen als höchst lebhafte Hauptdarsteller im Unterrichtstheater, Vortragsreihe: BeziehungsWeisen. Lernen als Dialog, Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2 Im Folgenden wird der einfachen Lesbarkeit wegen stellenweise das generische Maskulin für Personenbezeichnungen genutzt. Es sind im Allgemeinen jedoch alle Geschlechter gemeint. 3 Theodor Schulze (1995), »Lehrstück-Dramaturgie«. In: Lehrkunst: Lehrbuch der Didaktik. Hrsg. v. Hans-Christoph Berg, ders. Neuwied: Luchterhand, S. 361–420, hier: S. 368 oder 384 f. 4 Theodor Schulze (1995), »Lehrstück-Dramaturgie«, S. 379 (wie in Anm. 3). 5 Martin Wagenschein (20105 ), Verstehen Lehren. Weinheim: Beltz, S. 32. 6 Vgl. Wagenschein (20105 ), Verstehen Lehren, S. 42 (wie in Anm. 5). 1
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Stella Wieg
Im Ethik- und Philosophieunterricht wird über Dinge gesprochen, die man nicht sehen oder befühlen kann, wie Werte und Normen, moralische Handlungsmotive, das Wesen des Menschen, Erkenntnis usw. Dabei besteht die Gefahr, in hochtrabendes Reden mit abstrakten, philosophisch aufgeladenen Begriffen zu geraten, ohne dass noch jemand wirklich genau weiß, was eigentlich gemeint ist. Ein wesentliches Ziel des Ethik- und Philosophieunterrichts besteht nun aber darin, die Reflexionsfähigkeit und das (moralische) Urteilsvermögen zu stärken. 7 Das kann aber nur gelingen, wenn die Schülerinnen und Schüler sich selbst auf eine Denkreise begeben, ihre eigenen ›Vor-Urteile‹ hinterfragen und miteinander ins Gespräch über die Sache kommen. In diesem Sinne ist diese Art von Unterricht sokratisch, weil die Teilnehmer als selbstdenkende, autonome Subjekte verstanden werden, die gemeinsam versuchen ein Problem zu erschließen, und genetisch, weil die Fragen und Gedankengänge logisch aus den eigenen Erfahrungen und der Sache heraus entwickelt werden. Welche Möglichkeiten bietet nun die Lehrstückdidaktik, diese Ziele zu verwirklichen, welche Rolle spielt das Exemplarische dabei und weshalb ist ein Moment der Verunsicherung für den Lernprozess so wichtig? Dies soll im Folgenden an einem buchstäblich bewegten Beispiel verdeutlicht werden.
I.
Ein altbekanntes Paradoxon
Es ist eine simple, nahezu alltägliche Situation, die uns von den Alten 8 geschildert wird: ein Wettrennen. Zugegeben, die Kontrahenten sind eher ungewöhnlich: Achilles, der antike Held und schnellste Läufer Griechenlands, tritt gegen eine lahme Schildkröte an. Nicht gerade ein Wettkampf, der es in die 20-Uhr-Ausstrahlung geschafft hätte. Doch Achilles ist kein unfairer Spieler und gibt der Schildkröte einen gewissen Vorsprung. Trotzdem zeigen die Quoten der WettVgl. bspw. Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Ethik (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 01. 12. 1989 i. d. F. vom 16. 11. 2006), S. 5, in: www.kmk.org, (zuletzt abgerufen am 09. 04. 2019). 8 Überliefert wurden die Paradoxien der Bewegung in erster Linie von Aristoteles, der sich im VI. Buch der Physik im 9. Kapitel (v. a. 239b 5 – 240a 18) mit ihnen systematisch auseinandersetzt. Bei Aristoteles taucht die in der Rezeptionsgeschichte übliche Identifikation von Achilles’ Kontrahenten mit der Schildkröte zwar noch nicht auf, innerhalb des Lehrstücks ist sie aber sehr anschaulich. 7
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Achilles und die Schildkröte
büros eindeutig, dass der trojanische Held der klare Favorit ist. Nicht lange und er wird die Schildkröte einholen und alsbald weit hinter sich zurücklassen. Das ist ganz klar. Doch es gibt einen, der dagegen wettet: Zenon von Elea, ein Schüler des großen Parmenides. Er behauptet steif und fest, dass Achilles die Schildkröte niemals einholen könne – ganz gleich, was Intuition und Erfahrung uns lehren. Man möchte abwinken und ihn für einen Scharlatan erklären. Doch Zenon hat gute Argumente: Achilles müsse ja schließlich zunächst einmal erst bis dorthin gelangen, von wo aus die Schildkröte bereits losgelaufen ist; in dieser Zeit aber habe die Schildkröte bereits wieder eine gewisse Strecke zurückgelegt. Und das immer wieder, sodass die Schildkröte jedes Mal einen Vorsprung hat. Also könne Achilles die Schildkröte niemals einholen. Wie jetzt? Aber wir haben doch schon so oft gesehen, dass der Schnellere den Langsameren einholt. (Außer vielleicht bei Hase und Igel. Aber der Igel ist ja auch listig.) Und wir sehen es doch auch jetzt bei diesem Wettlauf! Nur der Verstand scheint etwas anderes zu behaupten. Zenons Argumente wirken überzeugend und führen uns zu einem Schluss, der genau das Gegenteil von dem behauptet, was uns unsere Erfahrung und unsere Wahrnehmung lehren. Das Denken gerät in Widerspruch zur Erfahrung; wir stehen vor einem handfesten Paradoxon. Für gewöhnlich nehmen die Interpretatoren an, dass Zenon uns dieses Gedankenexperiment vorlegt, um alle Bewegung und Veränderung als Schein zu entlarven und damit die parmenideische Lehre vom einen, ewigen, unveränderlichen Sein, das man nur durch reines, vernünftiges Denken erkennen kann, zu bestätigen. 9 Ein naiver Mensch jedoch vertraut normalerweise seiner eigenen Wahrnehmung und Erfahrung und ist erst dann bereit, sie infrage zu stellen, wenn ihre Fehlerhaftigkeit unumstößlich erwiesen ist. Und so beginnt er, ungeachtet Zenons Intention, ganz von selbst zu fragen, ob da nicht irgendwo ein Denkfehler in dieser Argumentation steckt. Der Widerspruch fordert uns heraus, sodass wir ins Überlegen kommen, um die Einheit von Erfahrung und Denken wieder herzustellen. Doch nicht nur uns hier und heute beschäftigt dieses Problem, sondern auch viele große Philosophen und Wissenschaftler der letzVgl. Maria Laura Gamelli Marciano [Hrsg.] (2009), Die Vorsokratiker, Bd. II. Düsseldorf: Patmos, S. 124 f.
9
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Stella Wieg
ten 2500 Jahre, angefangen bei Aristoteles, über Hobbes und Bayle, bis hin zu modernen Mathematikern wie Cantor und Cajori, und darüber hinaus Bergson und vielen weiteren. Sie alle decken bei ihren Versuchen, das Paradoxon aufzulösen, immer weitere Probleme auf, die sich auf den ersten Blick gar nicht zeigen. Sie berühren Fragen nach der Konstitution von Raum und Zeit, nach der Möglichkeit Unendlichkeit zu erfassen, nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem, nach dem Wesen der Bewegung und vielem mehr. Das Lehrstück von Achilles und der Schildkröte unternimmt den Versuch, ausgehend von Zenons Gedankenexperiment mit Schülerinnen und Schülern einige dieser Fragestellungen und Lösungsansätze zu erschließen und zu diskutieren.
II.
Die Exposition
Am Beginn jeder philosophischen Auseinandersetzung steht unsere eigene Welterfahrung. Denn als naiver und philosophisch ungebildeter Mensch kann man zunächst nichts anderes tun, als mit der Welt so umzugehen, wie sie einem begegnet. In diesem Sinne steht auch am Anfang dieses Lehrstücks die alltägliche Erfahrung. Es findet – von Schülern durchgeführt und damit für alle real erfahrbar – der Wettlauf statt, der die Ausgangssituation für alles Folgende bildet. Die schnellsten Läufer der Gruppe (A und S) werden gemeinsam ausgewählt, um gegeneinander anzutreten. Allerdings muss der eine sich im Krebsgang fortbewegen, wodurch er die Bewegung der Schildkröte simuliert (ohne dies zu wissen). Dafür erhält er den gebührenden Vorsprung. Das Klassenzimmer wird nun zum Wettbüro: Die anderen Teilnehmer werden dazu aufgefordert, auf einen der beiden Kontrahenten zu setzen. (Fast) Alle werden auf den Läufer wetten. Denn das ist es, was wir erwarten: Der Schnellere wird den Langsameren einholen, wenn die Strecke nur lang genug ist. Dieses Urteil lässt sich zum einen über die Erfahrung begründen: Wir haben es schon unzählige Male beobachtet und können somit induktiv schließen, dass es sich so verhalten wird. Zum anderen ist es auch aus bekannten Gesetzen nachvollziehbar: A läuft schneller als S, d. h. A legt eine bestimmte Strecke in einer kürzeren Zeit zurück als S. Daraus folgt, dass S in der Zeit, die A für die Strecke braucht, noch nicht so weit gekommen ist wie A. Wenn die Strecke lang genug ist, sodass S nicht aufgrund des Vorsprungs vor A ins Ziel läuft, dann wird A S 160 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Achilles und die Schildkröte
überholen. Und tatsächlich trägt A in dem Spiel den Sieg davon, auch wenn der sportliche Ehrgeiz gerne geweckt werden darf. Um die Inszenierung abzurunden, kann ein Wettgewinn in Form von Schokotalern o. ä. ausgezahlt werden. Um den Vorgang des Wettlaufs noch genauer zu beschreiben, erhalten die Lehrstückteilnehmer den Auftrag, ihn in einem Modell graphisch zu veranschaulichen. Je nach mathematisch-physikalischer Vorbildung der Schülerinnen und Schüler ist die Darstellung in einem Weg-Zeit-Diagramm naheliegend:
Modell 1: In einem Weg-Zeit-Diagramm kann man die zurückgelegten Strecken der Läufer in Abhängigkeit von der Zeit als Geraden darstellen. Bildquelle: Eigene Darstellung
Der Einfachheit halber können beide Bewegungen als gleichförmig angenommen werden. Die Läufer starten gleichzeitig, aber an verschiedenen Punkten einer Strecke. Zunächst befindet sich A hinter S. Doch da er in weniger Zeit mehr Weg zurücklegt, schließt er bald auf, sodass er sich nach kurzer Zeit (hier etwas mehr als eine Sekunde) auf gleicher Höhe mit S befindet und an ihm vorbeiläuft. S kommt erst viel später im Ziel an. Die Graphik zeigt auch einen eindeutigen Schnittpunkt der beiden Geraden. D. h. es gibt eine eindeutige raumzeitliche Stelle, an der sich A und S im Wettlauf treffen. An dieser Stelle und in diesem Augenblick, so sagen wir, holt A S ein. Der Treffpunkt der beiden Kontrahenten könnte auch durch eine Berechnung des Schnittpunkts der beiden Geraden im Diagramm durch Gleichsetzen der Funktionsterme bestimmt werden, was für Schülerinnen und Schüler ab der siebten Klasse kein Problem darstellt (aber immer wieder eine gute Übung ist). Nimmt man z. B. an, dass Achilles bei diesem nicht sehr herausfordernden Lauf mit einer 161 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Stella Wieg
Geschwindigkeit von etwa 18 km/h, d. h. 5 m/s, gelaufen ist und damit zehnmal so schnell wie die Schildkröte läuft, 10 und diese 100 m Vorsprung hatte (bei lediglich 5 m hätte die Schildkröte überhaupt keine Chance), überholt er sie ausgehend von diesem Modell nach 22 29 s, nachdem er 111 19 m und sie entsprechend gerade mal 11; � 1m zurückgelegt hat. 11 Länger braucht er dafür anscheinend nicht. Bis hier hin ist alles völlig klar. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich evtl. sogar unterfordert. Doch in dieser Stimmung der Gewissheit erhalten die Lehrstückteilnehmer einen Beschwerdebrief von Zenon an das Wettbüro, den die Lehrperson langsam und der Inszenierung entsprechend vorträgt:
Sehr geehrte Damen und Herren des Wettbüros, ich möchte hiermit höchst erzürnt Widerrede erheben gegen ihre Entscheidung bezüglich des Wettkampfs zwischen A und S. Im Gegensatz zu allen anderen verblendeten Leuten habe ich aus vernünftigen Gründen auf S gesetzt und sehe mich nun um meinen Gewinn betrogen. Denn ich habe schon vor 2500 Jahren bewiesen, dass A S gar nicht einholen kann. A war damals der griechische Held Achilles und S eine lahme Schildkröte. Nun aufgepasst! Achilles muss ja erst bis zu dem Ort gelangen, von dem aus die Schildkröte bereits losgelaufen ist. Und das immer wieder, sodass die Schildkröte jedes Mal einen gewissen Vorsprung hat. Also kann Achilles die Schildkröte niemals einholen. Es ist also ganz klar, dass Achilles nicht der Sieger sein kann. Somit stünde eigentlich mir allein der gesamte Gewinn zu. Aber da ihr armen Unwissenden, die ihr von der Illusion verblendet seid, wahrscheinlich eh schon alles verprasst habt, begnüge ich mich mit der Zuversicht auf dem Weg der Wahrheit voranzuschreiten. Hochachtungsvoll Ihr Zenon von Elea Material A: Zenons Beschwerdebrief Das entspricht zwar nicht ganz der Realität, ist aber für unsere Zwecke vollkommen ausreichend. Gewöhnliche Landschildkröten bewegen sich in der Tat nicht so flink. Allerdings können einige Arten auch ziemlich schnell werden, sodass sie mit einem Spitzensportler durchaus mithalten könnten. 11 Selbstverständlich handelt es sich hierbei um Beispielwerte. Im Sinne der Differenzierung kann hier auch mit allgemeinen Gleichungen gerechnet werden: sA ðtÞ ¼ vA � t und sS ðtÞ ¼ 101 vA � t þ d, wobei d der Vorsprung der Schildkröte und vA Achilles’ Geschwindigkeit ist. 10
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Achilles und die Schildkröte
Dieser Brief wird lautes Unverständnis auslösen. Und das ist auch völlig selbstverständlich. Denn immerhin wurde gerade ausführlich diskutiert und begründet, warum Achilles den Sieg davontragen muss. Dagegen wirkt dieser Brief wie Gedankenspinnerei und aufgesetztes Geschwätz. Doch zugleich bringt er auch eine Verunsicherung in das Geschehen: Was meint dieser Zenon überhaupt? Wie kommt er darauf? Oder die Teilnehmer reagieren mit schlichter, aber vehementer Ablehnung: Nein, das stimmt nicht; da muss ein Fehler sein. Das Paradoxe an der Situation wird sofort empfunden. In jedem Fall braucht es als nächstes eine dezidierte Auseinandersetzung mit Zenons Argument. Es ist nun die Aufgabe der Lehrkraft subtil für ein vertieftes Textverständnis zu werben. Denn wenn die Teilnehmer Zenons Einwand als nicht ernst zu nehmende Spinnerei abtun und meinen, sowieso zu wissen, wie es sich verhält, dann nähme das Lehrstück an dieser Stelle ein frühes Ende und das Gedankenexperiment bliebe unfruchtbar. Es käme dann nicht zu einer »produktiven Verwirrung« 12 , sondern lediglich zu einer kurzen Irritation. Lernen heißt aber, dass man sich mit dem neuen Unbekannten auseinandersetzt. Solange man in den Gefilden des Bekannten bleibt, wird eine solche Dynamik nicht einsetzen. »Das […] Verstörende bringt den Lernenden als solchen allererst hervor«. 13 Damit es zur »Zündung« kommen kann, wie Wagenschein sich ausdrückt, 14 also damit ein Lernprozess in Gang gesetzt wird, muss der Blick auf die Sache selbst gelenkt werden. Deshalb werden die Teilnehmer dazu ermutigt, den Einwand Zenons, der nun in Textform allen vor Augen stehen sollte, in ihren eigenen Worten wiederzugeben und anschließend seine Darstellung des Geschehens graphisch zu veranschaulichen. Nachdem die Lehrstückteilnehmer ihre Modelle vorgestellt haben, kann darüber diskutiert werden, wie prägnant sie die Argumentation darstellen. In diesem Gespräch werden sich einige Punkte klar herausstellen: Zu bestimmten Zeitpunkten befindet sich Achilles an ganz bestimmten Stellen, nämlich an genau den Orten, an denen die Schildkröte zum jeweils vorher betrachteten Zeitpunkt war. In dem Vorgang, den Zenon schildert, ist Achilles’ Lauf immer abhängig von der Position der Schildkröte; die beiden Kontrahenten steuern nicht Wagenschein (2010), Verstehen lehren, S. 94 ff. (wie in Anm. 5); Hervorhebung S. W. 13 Käte Meyer-Drawe (2008), Diskurse des Lernens. München: Fink, S. 15. 14 Vgl. Wagenschein (2010), Verstehen lehren, S. 81 f. (wie in Anm. 5). 12
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Stella Wieg
Modell 2: Zenons Argument kann z. B. durch eine Abfolge von Positionen dargestellt werden. Wichtig ist dabei, dass A von dem Ort aus startet, an dem sich S am vorher betrachteten Zeitpunkt befindet. Bildquelle: Eigene Darstellung
mehr – wie im ersten Fall – unabhängig voneinander in ihrer jeweiligen Geschwindigkeit auf das Ziel zu, sondern sie sind jetzt schrittweise aufeinander bezogen. Dabei wird deutlich, dass der Abstand zwischen den beiden bei jedem Schritt kleiner wird. Die Genauigkeit der Bleistiftspitze bringt den Zeichenprozess relativ schnell zum Erliegen. Aber ist die Sache damit schon erledigt? In keiner Weise! Denn auch wenn der Stift versagt, so lässt sich die Reihe doch in Gedanken fortsetzen. Das Modell zeigt gewissermaßen ›Spuren‹, welche die Läufer auf der Wegstrecke zurücklassen. Die Linie wird in immer kleiner werdende Teile geteilt. Aber so oft ich auch eine Linie teile, ich erhalte immer nur wieder zwei Linien. Und diese kann ich wieder teilen usw.: Zwischen Achilles und der Schildkröte befindet sich folglich zu jedem Beobachtungszeitpunkt ein kleines Stück Strecke und der Prozess kann ins Unendliche fortgesetzt werden – ein infiniter Regress. Es stellen sich hier schon verschiedene Fragen, die allein durch das Gedankenexperiment hervorgerufen wurden: Wird der Abstand zwischen Achilles und der Schildkröte nicht doch irgendwann Null? Denn wenn die Teilung zu Ende gebracht wäre, müsste man dann nicht bei unteilbaren Teilen angekommen sein? Aber kann eine unendliche Folge eigentlich beendet werden; kann Achilles den Weg bis zur Schildkröte zu Ende laufen? Die Zündung ist erfolgt. Woher nun kommt diese Verwirrung und warum ist sie so fruchtbar? Weil die Konklusion des Arguments, mit dem die Lehrstückteilnehmer so unvermittelt konfrontiert werden, der eigenen Erfahrung und nicht zuletzt dem, was sie gerade 164 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Achilles und die Schildkröte
eben erlebt haben, so diametral widerspricht, muss sie geradezu entstehen: Das Staunen widerfährt ihnen; es kommt zu einem »ergriffenen Ergreifen«. 15 Psychologisch ausgedrückt entsteht eine kognitive Dissonanz. 16 Also: Wenn Zenon Recht hat, dann holt Achilles die Schildkröte nicht ein, was aber im Widerspruch zu der erfahrungsgesättigten Überzeugung steht, dass der Schnellere den Langsameren einholt. Damit ergibt sich ein Zustand des Ungleichgewichts oder der Instabilität des eigenen Überzeugungssystems, was eine Verunsicherung darstellt. Um die ersehnte Stabilität wieder herzustellen, bleibt nur die Auflösung des Paradoxons, zumindest wenn Zenons Argument vorher als hinreichend schlüssig anerkannt wurde. In diesem Sinne bezeichnet u. a. Ernst Mach Paradoxien als die »stärkste treibende Kraft, welche zur Anpassung der Gedanken aneinander und hiermit zu neuen Aufklärungen und Entdeckungen drängt.« 17 Mit den aufkommenden Fragen eröffnet sich ein weites Problemfeld, das es zu erforschen gilt. Insbesondere durch die modellhafte Visualisierung der Vorgänge gewinnen die Teilnehmer ein klareres Verständnis von Zenons Argument und decken dabei überhaupt erst dessen problematische Prämissen auf. Entscheidend dabei ist, dass nicht die Lehrkraft die resultierenden Fragen gestellt hat (sie war nur die ›Hebamme‹), sondern sie sich sozusagen ›von selbst‹, also aus der Sache heraus, d. h. genetisch ergeben haben. 18 Ausgehend von diesem scheinbar simplen Szenario können nun nach und nach verschiedene Stränge verfolgt und aufgedröselt werden. Die Lehrkraft ist dabei gewissermaßen der Regisseur, der den Handlungsrahmen vorgibt und damit die Aufmerksamkeit der Teilnehmer sachte lenkt, aber keine Lösungen präsentiert, sondern vielmehr die Sprache hervorlockt. 19 Darin zeigt sich das sokratische Verfahren der Lehrstückdidaktik. Alle Teilnehmer begeben sich gemeinsam auf eine gedankliche Reise, bei der es verschiedene Klarheiten zu gewinnen gibt und weitere Fragen aufgeworfen werden. Das Gedankenexperiment von Achilles und der Schildkröte ist dabei in seiner variationsreichen Aus-
Vgl. Wagenschein (2010), Verstehen lehren, S. 35 (wie in Anm. 5). Leon Festinger (1978), Theorie der kognitiven Dissonanz. Hrsg. v. Martin Irle, Volker Möntmann. Bern: Huber, S. 26. 17 Ernst Mach (1991), Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 176. 18 Vgl. Wagenschein (2010), Verstehen lehren, S. 81 (wie in Anm. 5). 19 Vgl. Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 380 f. (wie in Anm. 3). 15 16
165 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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gestaltung das Zentrum einer »thematischen Landkarten« 20 , die »didaktische Fabel« 21 des Lehrstücks, die – ihrer inneren Entwicklungslogik folgend 22 – den roten Faden bildet. Denn das Szenario des Wettlaufs zieht sich durch das gesamte Lehrstück, wird zum Prüfstein, setzt immer wieder einen neuen Gedankengang in Bewegung und bildet so einen »imaginativen Reflexionsraum« 23 . Es handelt sich dabei, wie Schulze formuliert, »um ein durch Neugier und Geschichte ausgezeichnetes Beispiel, das einen Zugang eröffnet« – das Exemplarische. 24 Ziel ist schlussendlich das Aufdecken neuer Sichtweisen und »die Klärung der Gedanken durch Nachvollzug und Neugier« 25 .
III. Der erste Lösungsversuch Nachdem das grundlegende Problem nun offengelegt und veranschaulicht wurde, stellen die beiden veröffentlichten Modelle für alle sichtbar die gegensätzlichen Betrachtungsweisen des naiven Beobachters und des sophistischen Denkers dar. Da dieses Spannungsverhältnis überwunden werden soll, ist der Versuch sinnvoll, sie in einem Modell durch Vergleichen und Übertragen in Einklang zu bringen. Das erfolgt im dritten Schritt, in dem die Teilnehmer auf diese Weise auch ohne textliche Grundlage – sozusagen textersetzend – Aristoteles’ ersten Lösungsansatz für das Problem der unendlichen Anzahl von Schritten entwickeln. Überträgt man nämlich das Teilungsmuster aus Zenons Argumentation in das erste Modell, so wird der Zusammenhang von zurückgelegtem Wegabschnitt und Zeit in der Bewegung deutlich. 26 Anhand dieses dritten Modells können die Schülerinnen und Schüler dann den Vorgang noch genauer beschreiVgl. Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 388 (wie in Anm. 3). Vgl. Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 368 oder 384 f. (wie in Anm. 3). 22 Vgl. Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 362 (wie in Anm. 3). 23 Mario Ziegler (2014), Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg: Ergon, S. 155. 24 Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 387 (wie in Anm. 3). 25 Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 382 (wie in Anm. 3). 26 Bemerkung zu den Modellen: Selbstverständlich ist es möglich, dass die Schülerinnen und Schüler andere, mehr oder weniger ähnliche intelligente Darstellungen der beschriebenen Prozesse finden. Es ist dann die Aufgabe der Lehrkraft das Unterrichtsgespräch entsprechend so zu lenken, dass die Stärken der verschiedenen Modelle herausgearbeitet werden und durch kritischen Abgleich mit der Textgrundlage die Kernaspekte des Problems im Gespräch erhellt werden. 20 21
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Achilles und die Schildkröte
ben: Zunächst läuft Achilles bis zum Startpunkt der Schildkröte. Um diese Strecke zurückzulegen, benötigt er eine gewisse Zeit. In dieser legt die Schildkröte ein Stück Weg zurück und gibt damit den Ort vor, den Achilles als nächstes erreichen muss. Auch für diese Strecke braucht er eine gewisse Zeit, in der die Schildkröte wiederum vorrückt und den nächsten Ort festlegt. In diesem Sinne wird »[d]as Schnellere […] die Zeit teilen, [und] das Langsamere die Streckenlänge«, wie Aristoteles bemerkt, 27 was die Schülerinnen und Schüler nun problemlos erläutern können.
Weg s
Zeit t
Modell 3: Überträgt man die von Zenon beschriebene Streckenteilung in das Weg-Zeit-Diagramm (Modell 1), wird deutlich, dass dabei auch die Zeit in unendlich viele, immer kleiner werdende Abschnitte geteilt wird. Bildquelle: Eigene Darstellung
Die Zeit ist selbst also in unendlich viele, immer kleiner werdende Abschnitte teilbar, denen jeweils ein zurückgelegter Streckenabschnitt entspricht. So zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass Aristoteles (1995), Phys. VI 2, 233a. In: Aristoteles: Philosophische Schriften. Übers. v. Hans G. Zekl. Bd. 6. Hamburg: Meiner.
27
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Stella Wieg
Achilles und die Schildkröte sich sowohl der Strecke als auch der Zeit nach anscheinend dem Punkt annähern, in dem sie sich der ersten Einschätzung nach begegnen sollten. Hier nun ergibt sich eine erste Klarheit: Der Vorgang, den Zenon beschreibt, findet nicht in einer unendlichen Zeit statt; es dauert nicht unendlich lange, sondern nach einem bestimmten Zeitpunkt hat Achilles die Schildkröte eingeholt. 28 Es zeigt sich, dass es nicht wahr ist, dass Achilles die Schildkröte in einem temporalen Sinn niemals einholt. Schließlich ergeben die unendlich vielen, winzig kleinen Zeitintervalle offensichtlich eine endliche und keine unendlich lange Zeit. Diese Überlegungen wurden im 19. Jahrhundert von der Mathematik mithilfe des Grenzwertbegriffs präzisiert. Im Rahmen eines fächerübergreifenden Unterrichts bietet es sich also an, hier (oder etwas später) Überlegungen zum mathematischen Grenzwertbegriff anzuschließen, der je nach fachlichem Anspruch unterschiedlich streng gefasst werden kann. Damit ließe sich die Konvergenz, d. h. die Abgeschlossenheit dieses Vorgangs beweisen. Gleichzeitig können durch eine Rückbesinnung auf das Gedankenexperiment von Achilles und der Schildkröte aber auch die Grenzen mathematischer Modellierungen aufgezeigt werden, weil spätestens dann deutlich wird, dass schon lange nicht mehr von zwei Geschöpfen, sondern von idealisierten mathematischen Objekten wie Punkten und Linien die Rede ist.
IV. Der zweite Lösungsversuch Ist Zenons Argument nun mit diesen Überlegungen widerlegt? Man könnte meinen ja – zumindest sofern dieser behauptete, dass es unmöglich sei, in endlicher Zeit eine unendliche Folge bis zum Ende durchzuzählen. Bei den Lehrstückteilnehmern ist wieder eine gewisse begriffliche Ruhe eingekehrt. Doch diese Unterscheidung löst das Problem nur oberflächlich. Um die Aufmerksamkeit der Lehrstückteilnehmer auf noch tieferliegende Fragestellungen zu lenken, muss wiederum eine gewisse Verunsicherung entstehen. Dazu wird ihnen
»Die Folge also ist, dass man in unendlicher, nicht in endlicher [Zeit] das Unendliche bis zum Ziel zurücklegt und dass man das Unendliche nicht mittels des Endlichen, sondern mittels des Unendlichen berührt«, hält Aristoteles fest. Aristoteles (2011), Phys. VI 2, 233a. In: Die Vorsokratiker. Hrsg. u. übers. v. Jaap Mansfeld, Oliver Primavesi. Stuttgart: Reclam.
28
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Achilles und die Schildkröte
ein weiteres Gedankenexperiment präsentiert, das nach seinem Erfinder Thomsons Lampe genannt wird: 29 Man stelle sich eine Lampe mit einem Kippschalter vor. Betätigt man diesen einmal, wird sie eingeschaltet; betätigt man ihn ein zweites Mal, verlischt sie wieder. Ein mächtiges Wesen – der Präzisionsteufel – schaltet nun die Lampe nach einem bestimmten Muster an und aus: Erst lässt er die Lampe eine Minute lang brennen. Dann schaltet er sie für ½ Minute aus, dann wieder für ¼ Minute an und für wiederum die Hälfte der Zeit aus usw. Da die Zeitintervalle immer kleiner werden, dauert dieses Spiel insgesamt zwei Minuten. In dieser Zeit wurde die Lampe jedoch unendlich oft anund ausgeknipst. Material B: Thomsons Lampe Dass der Vorgang wirklich nur zwei Minuten dauert, ist aus ähnlichen Überlegungen wie den gerade eben angestellten prinzipiell ersichtlich. Auch an dieser Stelle können mathematische Grenzwertbetrachtungen die Begründung stützen und deren Berechnung ggf. trainiert werden. Es stellt sich allerdings die schlichte Frage: Ist die Lampe nach zwei Minuten an oder aus? Da die Lampe nur diese zwei Zustände kennt und diese sich gegenseitig ausschließen, muss sie einen von beiden annehmen: Sie muss entweder an oder aus sein. Sie kann nicht beides zugleich sein und sie kann nicht keinen der beiden Zustände annehmen. Soweit so gut. Doch die Aufforderung, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden, wird die Schülerinnen und Schüler in einige Erklärungsnot bringen. Denn der Präzisionsteufel betätigt den Schalter ja unendlich oft in immer kleiner werdenden Zeitabständen. 30 Dass die Lampe unendlich oft an- und ausgeknipst wird, heißt jedoch nichts anderes, als dass, egal zu welchem Zeitpunkt vor dem Ablauf der zwei Minuten man hinschaut, der PräzisionsteuVgl. James F. Thomson (1954), »Tasks and Super-Tasks«. Analysis 15 (1), S. 5. Es sei davon abgesehen, dass es eine solche Lampe in der Realität nicht geben könnte, weil sie nach kurzer Zeit durchbrennen würde o. ä. (vgl. William Poundstone (19952 ), Im Labyrinth des Denkens. Wenn Logik nicht weiterkommt: Paradoxien, Zwickmühlen und die Hinfälligkeit unseres Denkens. Übers. v. Peter Weber-Schäfer, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt, S. 225 f.). Deshalb handelt es sich eben um ein Gedankenexperiment.
29 30
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fel immer noch einmal auf den Schalter drücken und den Zustand der Lampe ändern wird: Wenn sie an war, schaltet er sie aus, und wenn sie aus war, schaltet er sie an. Deshalb lässt sich nicht entscheiden, in welchem Zustand sie sich am Ende der zwei Minuten befindet. Denn die unendliche Folge kann nicht wirklich vollendet werden. Es gibt keinen letzten Zustand der Lampe. Und dennoch ist der Vorgang nach zwei Minuten abgeschlossen. Darin liegt das Paradoxe, das die Schülerinnen und Schüler zwar beschreiben können, das an dieser Stelle aber bestehen bleibt. Aufmerksame Teilnehmer werden sogleich bemerken (sonst hilft die Lehrkraft mit der Aufforderung zum Vergleich der beiden Gedankenexperimente nach), dass man diesen Versuch mit Thomsons Lampe ganz leicht auf den Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte übertragen kann, indem man sich vorstellt, dass der Präzisionsteufel den Schalter der Lampe immer genau dann betätigt, wenn Achilles an dem vorhergehenden Startpunkt der Schildkröte angelangt ist. Auch hier dauert der Vorgang insgesamt nur eine endliche Zeit. Doch genauso wenig, wie entschieden werden kann, ob die Lampe am Ende an oder aus ist, kann Achilles an das Ende dieser unendlich langen Folge kommen, wenn er jedes Mal dann einen Schritt machen müsste, wenn das Licht aufblitzt oder erlischt – das Problem bleibt! Unter Umständen könnte sich eine gewisse Frustration ausbreiten, weil man des Problems nicht Herr zu werden scheint. Da lohnt es sich, wenn möglich mit Hilfe einer Videoaufzeichnung, noch einmal den Blick zurück auf den beobachteten Vorgang im Klassenzimmer zu richten. Was genau passiert da? Wie bewegt sich Achilles denn, wenn er gegen die Schildkröte läuft? Muss er wirklich unendlich viele Schritte machen, wenn er sie einzuholen versucht? An dieser Stelle lassen sich verschiedene Bausteine des Mitspieltheaters anschließen, die auch nacheinander inszeniert werden können. Ich werde hier den aristotelischen Lösungsansatz vorstellen. Aber auch Bergsons Kritik der »kinematographischen Methode« 31 , die mithilfe von Daumenkinos erschlossen werden kann, eröffnet interessante Perspektiven. Sie lenkt den Blick wieder direkt auf das Phänomen der Bewegung in einer neuen »Denk- und Sehweise«, 32 indem Henri Bergson (2013), Schöpferische Evolution. Übers. v. Margarethe Drewsen. Hamburg: Meiner, S. 347. 32 Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 385 (wie in Anm. 3). 31
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Achilles und die Schildkröte
es das psychische Erleben in den Fokus rückt. Daran kann die fundamentale Erfahrung gemacht werden, dass die Welt letztendlich nicht vollständig mathematisierbar und objektivierbar ist, sondern das subjektive und psychische Erleben eine wichtige Rolle für unser Verhältnis zur Welt spielt. Aristoteles’ Lösungsansatz, der auf einer bedeutenden begrifflichen Unterscheidung beruht, wird dann mit Hilfe eines Textes erarbeitet. Weil die Schülerinnen und Schüler in den vorhergehenden Schritten einerseits in die Problematik der unendlichen Teilbarkeit eingestiegen sind und andererseits den realen Vorgang sehr genau beschrieben haben, gehen sie mit einem explizierten Vorverständnis an den Text heran, sodass dieser leicht hermeneutisch erschlossen werden kann. 33 Wenn man nämlich die kontinuierliche [Zeit- bzw. Bewegungs-] Strecke in zwei Hälften teilt, so operiert man mit dem einen [Einschnitts-]Punkt, als ob er [nicht eins, sondern] zwei wäre, da man ihn sowohl zum Anfang [der zweiten Hälfte] als zum Ende [der ersten Hälfte] macht. In dieser Weise verfährt sowohl der, welcher zählt, als auch der, welcher Halbierungen vornimmt. Nun ist aber, wenn man in dieser Weise teilt, weder die Linie noch die Bewegung kontinuierlich, da die kontinuierliche Bewegung in einem kontinuierlichen [Medium] fortschreitet und in einem kontinuierlichen [Medium] zwar unendlich [viele] Hälften enthalten sind, jedoch nicht in Wirklichkeit, sondern bloß der Möglichkeit nach. Wenn man diese [unendlich vielen Hälften] als faktisch vorhanden ansetzt, macht man [die Bewegung] nicht zu einer kontinuierlichen, sondern wird sie, im Gegenteil, zum Stehen bringen. Deshalb ist demjenigen, der fragt, ob es möglich sei, eine unendliche Mannigfaltigkeit, sei es der Ausdehnung, sei es der Zeit, bis zum Ende zu durchlaufen, zu sagen, dass dies im einen Sinne nicht möglich ist, wohl aber in einem anderen. Was das faktisch Vorhandene anlangt, nicht, wohl aber, was das Potentielle anlangt. Denn einer, der sich kontinuierlich bewegt, hat eine nur im attribuierbaren Sinne unendliche Mannigfaltigkeit durchlaufen, keineswegs
»Alle Auslegung, der es um Verständnis geht, muss – was zunächst reichlich paradox klingt – das Auszulegende schon verstanden haben.« (Volker Pfeifer (20092 ), Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung. Stuttgart: Kohlhammer, S. 142).
33
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eine unbedingt vorhandene. Es stimmt zwar in einem attributiven Sinne, dass die Linie unendlich viele [Hälften] hat; aber mit ihrer tatsächlichen Substanz sowie mit ihrem Gegebensein verhält es sich anders. 34 Aufgaben: a) Erklären Sie am Beispiel von Achilles und der Schildkröte, was Aristoteles unter einem »kontinuierlichen Medium«, einer unendlichen Teilung »der Wirklichkeit nach« und »der Möglichkeit nach« versteht. b) Stellen Sie Aristoteles’ Erwiderung auf Zenon in einem Argumentationsschema dar. Material C: Aristoteles: Teilung der Wirklichkeit und der Möglichkeit nach Mithilfe der Aufgabenstellung erarbeiten die Schülerinnen und Schüler die begriffliche Unterscheidung einer Teilung der Wirklichkeit (kat’ energeian) und der Möglichkeit (dynamei) nach. 35 Die Strecke, welche die Läufer zurücklegen, ist potenziell unendlich oft teilbar, aber sie wird in der Bewegung eben nicht tatsächlich unendlich oft geteilt. Das heißt, A muss gar nicht unendlich viele Schritte machen, weil seine Bewegung gar nicht wirklich aus unendlich vielen Teilen besteht, sondern nur unendlich oft geteilt werden kann. So verstanden, handelt es sich bei dem Paradoxon um einen Beweis der Art reductio ad absurdum gegen die Vorstellung eines diskontinuierlichen Raumes, auch wenn Zenon selbst dies gar nicht intendiert. Zenons Fehler sieht Aristoteles also in der Behauptung, Achilles würde die Strecke in seinem Lauf in unendlich viele Abschnitte teilen. Aristoteles stimmt Zenon insofern zu, dass eine unendliche Folge nicht vollendet werden kann, sofern es sich um eine ›aktuale‹, also eine in Wirklichkeit vorhandene Unendlichkeit handelt. Dementsprechend muss auch er das Problem der thomsonschen Lampe für unentscheidbar halten. Denn hierbei wird gerade nach der tatsächlichen Vollendung einer unendlichen Folge gefragt. Bestünden also die Bewegung und damit die Strecke und die Zeit tatsächlich aus unendlich vielen Teilen, in der Weise, in der Zenon sie in seinem Gedankenexperiment beschreibt, dann würde Achilles in der Tat den Weg bis 34 35
Aristoteles (2011), Phys. VIII 8, 263a (wie in Anm. 28). Vgl. Otfried Höffe (1996), Aristoteles. München: Beck, S. 122.
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Achilles und die Schildkröte
zur Schildkröte nicht vollenden können. Da wir Bewegung jedoch wahrnehmen können, ist es viel plausibler anzunehmen, dass die Strecke nicht aus aktual unendlich vielen ›echten‹ Teilen besteht, sondern nur potenziell teilbar ist. Die Linie existiert vor den Teilen, die auf ihr unterschieden werden können. Dann wäre die Einteilung aber frei wählbar und Achilles könnte mit seiner üblichen Schrittlänge die gesamte Strecke problemlos durchmessen. Sein Lauf ist dann eben doch nicht mehr auf die Schildkröte bezogen. Um das Verstandene prägnant auf den Punkt zu bringen und zu sichern, halten die Schülerinnen und Schüler ihre Erkenntnisse aus der Textarbeit in einem Ergebnissatz fest.
V.
Der Schlussakt
Zum Abschluss des Lehrstücks wird das Motiv des Klassenzimmers als Wettbüro vom Anfang wieder aufgegriffen und so der dramaturgische und erzählerische Kreis des Lehrstücks geschlossen. Indem die Teilnehmer einen Antwortbrief an Zenon schreiben, haben sie die Gelegenheit den gesamten gedanklichen Verlauf zu rekapitulieren und zu reflektieren. Zugleich werden sie dazu herausgefordert, ihre wesentlichen Einsichten noch einmal prägnant zusammenzufassen und in einen argumentativen Zusammenhang zu bringen. So wird nicht nur eine Ergebnissicherung gewährleistet, sondern die Schülerinnen und Schüler üben sich auch in schriftlicher Form in einem der wichtigsten Ziele des Philosophieunterrichts: der Fähigkeit zum begründeten, kritischen Urteilen. Im Vergleich zum Anfang der Unterrichtseinheit ist dieses Urteil jedoch nicht mehr naiv und spontan, sondern durchdacht und begründet. Auch wenn Zenons Schlussfolgerung nach wie vor abgelehnt wird, so geschieht dies nun aus guten Gründen, die jetzt auch begrifflich differenziert dargelegt werden können und nicht auf einer bloßen »Meinung« beruhen. Zwar gibt es nicht unbedingt eine einheitliche Lösung für das Problem (je nachdem, wie viele verschiedene Perspektiven man während der Einheit ins Spiel bringt), aber es hat offensichtlich dennoch ein Lernprozess mit einem Zuwachs an Klarheiten und Einsichten sowie einer Dynamik des Nachvollziehens, Hinterfragens und Überdenkens stattgefunden. Das Lehrstück zeichnet die lange Geschichte des Gedankenexperiments von Achilles und der Schildkröte zumindest ausschnittsweise 173 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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nach. Dabei geht es jedoch nicht um eine historische Rekonstruktion der einzelnen Positionen, sondern um ein Wiedererleben, erneutes Nachvollziehen und Aktualisieren 36 – und das auch nicht, insofern die Ansätze historisch relevant sind, sondern weil sie Aufschlussreiches für den Interessierten im Allgemeinen bereithalten. Aristoteles’ begriffliche Differenzierung des aktual und des potenziell Unendlichen beispielsweise wird in der Wissenschaft heute noch selbstverständlich verwendet, auch wenn seine Ablehnung des aktual Unendlichen von der Mathematik des 19. Jahrhunderts zurückgewiesen wurde. Deren präzise Definition des Grenzwertes öffnete die Türen zur modernen Mathematik und beeinflusst so (auch ohne, dass wir es merken) unser Denken. Diese Entdeckungen wurden zwar nur zum Teil an Zenons Paradoxon der Bewegung gemacht, können aber daran nachvollzogen werden, weil sie als Herangehensweisen darin selbst enthalten sind, also »Spiegel des Ganzen« sind. Der Zugang ist so gut wie voraussetzungslos, aber durch die Inszenierung des Gedankenexperiments mit Hilfe einer Folge von Aufgabenstellungen, welche die Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte lenken, müssen die Lehrstückteilnehmer immer wieder um eine prägnante Sprache ringen und begründet argumentieren; sie leisten also ›Arbeit am Logos‹ 37 . Außerdem machen sie die fundamentale Erfahrung, dass einerseits selbst die eigene Wahrnehmung würdig ist hinterfragt zu werden und andererseits auch ein scheinbar schlüssiges Argument einer kritischen Prüfung bedarf. All das konnte hier mit Hilfe eines simplen Szenarios, »das [aber] die Menschen anhaltend und immer wieder neu beschäftigt hat als ein Gegenstand der Neugier, des Empfindens und des Nachdenkens […]« 38 und gerade auch dem naiven Betrachter zu denken gibt, ermöglicht werden. Allein durch die gemeinsame Betrachtung eines konkreten Gegenstands kommen die Lehrstückteilnehmer darüber ins Gespräch und decken ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen Schritt für Schritt neue und vertiefende Aspekte auf. Darin liegt der genetisch-sokratisch-exemplarische Ansatz einer Lehrstückdidaktik, die Philosophie ›in Szene‹ setzt.
Vgl. Schulze (1995), Lehrstück-Dramaturgie, S. 390 (wie in Anm. 3). Vgl. Volker Steenblock (20126 ), Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik. Berlin: LIT, S. 26. 38 Steenblock (20126 ), Philosophische Bildung, S. 386 (wie in Anm. 37). 36 37
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Anna Pickhan
Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach – Reflexionen über Johannes Hachmöllers Lehrstück zur Geschichtsphilosophie Kant, Fichte und Hegel – diese Philosophen gemeinsam unter ein Dach zu bringen scheint ein couragierter Versuch. Johannes Hachmöller hat diesen Versuch in seinem Lehrstück zur Geschichtsphilosophie unternommen und, wie ich meine, auf erfolgreiche Weise umgesetzt. Ziel der vorliegenden Reflexionen ist, zu zeigen, welches Potenzial das Lehrstück in philosophischer und didaktischer Hinsicht vorweisen kann. Dazu wird auf die Funktionsweise des Zusammenspiels von Gedankenexperiment und Textarbeit hingewiesen.
I.
Einleitende Vorbemerkungen
Die Geschichtsphilosophie fristet in der akademischen Welt unglücklicherweise, trotz Bemühungen einiger namhafter Philosophen 1 2 in den letzten Jahrzehnten, immer noch ein Schattendasein. Im Unterrichtsfach Ethik hingegen ist sie ein populärer Gegenstand. 3 Warum auch die Fachwissenschaft selbst sich zu ihr hinwenden sollte, kann
Anm.: In diesem Artikel verwende ich aus Gründen der Übersicht und Einfachheit die männliche Form. Es sind jedoch immer alle Geschlechter gemeint. 2 Beispielsweise Johannes Rohbeck (2004), Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius; Otfried Höffe (2011), Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin: de Gruyter; Pauline Kleingeld (1995), Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants. Würzburg: Königshausen und Neumann. 3 Vgl. z. B. Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. 2012. (S. 19 (für Klassenstufe 8) oder S. 20 (für Klassenstufe 9/10)). https://www.schulportal-thueringen.de/lehrplaene (zuletzt abgerufen am 13. 03. 2019) oder auch: Bildungsplan Baden-Württemberg für Gymnasien 2016 (dort z. B. zum Thema »Mensch und Umwelt« der Klassenstufen 7– 10 sowie zum Thema »Grundlagen des Zusammenlebens« der Klassenstufen 11–12) http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/LS/BP2016BW/ALLG/GYM/ETH (zuletzt abgerufen am 13. 03. 2019). 1
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Anna Pickhan
man leicht erahnen, hatte man schon einmal die Gelegenheit durch ein Lehrstück darüber ins Denken zu kommen. In diesem Artikel möchte ich Johannes Hachmöllers Lehrstück zur Geschichtsphilosophie zum Thema machen. Dazu möchte ich es zuerst einmal darstellen, benennen was ein Lehrstück ausmacht und zeigen, was insbesondere dieses zur Geschichtsphilosophie leisten kann. Das Ziel ist es, mit sowohl einer philosophischen als auch einer didaktischen Reflexion darüber, das Potenzial des Lehrstücks darzustellen und damit Lehrer, Fachwissenschaftler, Fachdidaktiker und alle anderen interessierten Leser zum Nach- und Weiterdenken über die Geschichtsphilosophien von Kant, Fichte und Hegel zu ermutigen.
II.
Das Hachmöller’sche Lehrstück zur Geschichtsphilosophie von Kant, Fichte und Hegel
a)
Was ist ein Lehrstück?
Zunächst einmal muss eingangs kurz die Frage beantwortet werden, über was man spricht, wenn man über ein »Lehrstück« spricht. Wie Hachmöller in vielen Diskussionen deutlich gemacht hat, ist es eines der Dinge, die man erfahren muss, um darüber reden zu können. Zum Zwecke dieses Artikels muss ich die Reihenfolge umkehren, mich erst an einer Definition versuchen, bevor ich mit den daran anschließenden Betrachtungen Ihnen als Lesern auch Anschauungsmaterial zu einer »Quasi-Erfahrung« (beim Lesen) anbieten kann. Ein Lehrstück ist, aus der einfachen pragmatischen Perspektive, ein Unterrichtsentwurf zu einem bestimmten Thema, der über viele Wochen reicht. Als Unterrichtsentwurf ist es zunächst die verschriftlichte Denkleistung des Lehrers, der den Schülern ein Thema in kleinschrittiger Weise näher bringen möchte. Das eigentlich Entscheidende ist jedoch die praktische Umsetzung. Deshalb ist ein Lehrstück ebenfalls das, was über Wochen hinweg im Klassenraum stattfindet. Zentral dafür ist das klar abgegrenzte Thema und eine lange andauernde Beschäftigung damit. Aus der Definition von Berg et al. möchte ich einmal die Aspekte herausgreifen, die auch auf die Lehrstücke von Hachmöller zutreffen. Denn es geht bei Lehrstücken nicht um die Vermittlung von Stoff. Das Sammeln von verschiedenen Kenntnissen ist eher ein Nebenprodukt der Tätigkeit des Schülers. 176 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
Lehrstückunterricht als unterrichtspraktisch konkretisiertes Integral von Bildungsdidaktik (nach Klafki) und Lehrkunstmethode (nach Wagenschein) […] taugt […] zum sachlich tiefgründigen und nachhaltigen Erschließen, Verstehen und Aneignen zentraler kultureller Errungenschaften der Menschheit im aktiven Nach- und Mitvollzug der ursprünglichen Durchbrüche. 4
Die Theorie hinter Hachmöllers Lehrstücken lässt sich ebenfalls mit den Bildungsdidaktikern Klafki und Wagenschein methodisch begründen. Zentral ist, wie angedeutet, die Tätigkeit des Schülers selbst. Sein »Erschließen, Verstehen und Aneignen« 5 ist (um groß zu sprechen) ausschlaggebend für seine Bildung und (um bescheidener zu sprechen) auch schlicht für das Fortkommen im Lehrstück notwendig. Inhaltlich geht es ebenso ums große Ganze: Menschheitsthemen 6 sollen erschlossen werden. Mit anderen Worten ist es Ziel, die Schüler durch einen Mitvollzug der einzelnen Gedanken(schritte) wissenschaftliche Theorien oder Errungenschaften nachvollziehen und in ihrer Komplexität begreifen zu lassen. Voraussetzung dafür ist eine sehr akribische Vorarbeit des Lehrenden, der thematisch so bewandert sein muss, dass er den Inhalt auf fachwissenschaftlicher Ebene selbst (möglichst vollständig) durchdrungen hat. Weiterhin muss er dieses Wissen dann wieder in einzelne Gedankenschritte, in kleine Einsichten, zerlegen, um den Gedankenprozess des Schülers im Lehrstück vorzubereiten. Bei der Durchführung des Lehrstücks steht jedoch der Schüler, allen voran aber die Sache, immer im Vordergrund. Der Lehrer ist hingegen nur Begleiter des Lernprozesses. 7 Sowohl zur Genese als auch zur bildungsdidaktischen Bedeutung gäbe es noch viel zu sagen. Hier war es lediglich mein Ziel, Sie als Leser knapp auf das Kommende vorzubereiten.
Hans Christoph Berg, Hans Brüngger, Susanne Wildhirt (1999), Lehrstückunterricht: »Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch«. In: Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Hrsg. v. Jürgen Wiechmann. Weinheim und Basel: Beltz, S. 127. 5 Berg, Brüngger, Wildhirt (1999), Lehrstückunterricht, S. 127 (wie in Anm. 4). 6 Vgl. Berg, Brüngger, Wildhirt (1999), Lehrstückunterricht, S. 127 (wie in Anm. 4). 7 Die genannten Elemente sind solche einer genetischen Methode. Vgl. u. a. Wagenschein (1973), Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Weinheim, Basel: Beltz, S. 55; Berg, Brüngger, Wildhirt (1999), Lehrstückunterricht, S. 115 (wie in Anm. 4). 4
177 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Anna Pickhan
b)
Beschreibung des Lehrstücks zur Geschichtsphilosophie
Das Lehrstück zur Geschichtsphilosophie von Johannes Hachmöller umfasst in der Konzept-Fassung 20 Seiten, es ist auf ca. zehn Unterrichtsstunden angelegt und befasst sich mit den grundlegenden Konzeptionen und Unterschieden der Geschichtsphilosophien von Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Diese Philosophen unter ein Dach zu bringen und sie innerhalb eines Lehrstücks adäquat zu Wort kommen zu lassen, ist wahrlich nicht leicht. In diesem Artikel möchte ich dafür argumentieren, dass diese Unternehmung geglückt ist, und zwar deshalb, weil die Form des Lehrstücks für solch eine Behandlung geeignet zu sein scheint. Das Lehrstück ist auf eine Verwendung im Schulunterricht oder in der Philosophischen Didaktik des Universitätsunterrichts angelegt, kann aber auch jedem anderen Publikum zugänglich gemacht werden. So ist dieser Artikel nicht nur für Lehrer, Hochschullehrer, Referendare und Studierende von Interesse, sondern auch für all diejenigen, die gerne nach- und weiterdenken und dabei neue (manchmal auch holprige) Wege beschreiten. Um den Inhalt des Lehrstücks auf übersichtliche Weise beschreiben zu können, habe ich die folgende stichpunktartige Aufbereitung erstellt, die ich sodann im Detail beschreiben möchte, damit man als Leser der Analyse eine möglichst gute Grundlage für die Auseinandersetzung bereitgestellt bekommt. 8 Methodisch kennzeichnet das Hachmöller’sche Lehrstück zur Geschichtsphilosophie vor allem die Verwendung von Gedankenexperimenten und Textarbeiten. Wie in der untenstehenden Übersicht zu sehen, findet ein beständiger Wechsel dieser beiden Methoden statt. In den Textarbeiten werden die drei Philosophen in Auszügen im Original gelesen. Die Gedankenexperimente wurden von Johannes Hachmöller zum Zweck des Lehrstücks eigens erdacht. 9 Diese Herangehensweise bietet sich auch an, weil nicht erwartet werden kann, dass sich der Leser in der Fülle an Material zurechtfindet. Jedoch muss trotz dieser Aufbereitung angemerkt werden, dass es sich um eine starke Verkürzung handelt. Sowohl die stichpunktartige Zusammenfassung als auch die anschließende Diskussion dienen dem Überblick und nicht der akribischen Auseinandersetzung. 9 Deshalb lassen sie sich auch nicht in die Tradition der klassischen philosophischen Gedankenexperimente einordnen. Sie sind auf das Lehrstück zugeschnitten, teilen aber mit anderen Gedankenexperimenten ihre Funktionen in didaktischer Absicht: 8
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Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
c)
Die Struktur des Lehrstücks
Allgemeiner Einstieg und Zugriff auf Fichtes Geschichtsphilosophie 10 • GE Bienenstaat: Funktionen (Zwecke) der einzelnen Bienen im Gefüge Staat • TA Kants Naturlehre: »Zweckmäßigkeit«: Zweck wird in Naturgedanken eingebunden • GE Bienenstaat erweitert um Wissen des Zwecks: Wissen führt zu Bewusstsein → Zweck nicht mehr als Ziel, sondern individualisiertes Genussstreben → Schrittfolge der Bewusstseinsprozesse der Biene → Übertragung auf mögliche Form des Staates (Liberalistischer Staat) • TA Fichtes Epochen des Erdenlebens: (= eigens erarbeitete Bewusstseinsprozesse sind Epochen der Menschheit), 3. Epoche »Vernunftloser Individualismus« (= eigens erarbeitetes individuelles Genussstreben) → Endzweck: Kann mit Aufgehen in der Gattung und dem Allgemeinen überwunden werden → Staatsbild: nur Gattung zählt, Aufopferung des Individuellen → Ergebnisse aus GE und TA Fichte sind verschieden → darüber hinaus: hingeleitet zu Gesellschaftsformen (explizit) und Geschichtsprozessen (implizit) Zugriff auf Hegels Geschichtsphilosophie • GE Bienenstaat mit Leidenschaften und Macht: eigener Entwurf zu möglichen Geschichtsprozessen; Geschichte als Schlachtbank (explizit) • TA Hegel a) Geschichtsprozess: Geschichte wird gelenkt durch Bedürfnisse und Leidenschaften, diese bringen Freiheit hervor, Endzweck der Welt ist Verwirklichung der Freiheit, mittels nämlich das selbstständige Denken und Tätigwerden der Schüler. Helmut Engels trifft in seiner Klassifikation von Gedankenexperimenten die Unterscheidung von eben diesen zu Realexperimenten und weiterhin die der Gedankenexperimente mit realitätsbezogenen Prämissen. In diese Gruppe lassen sich die Hachmöller’schen am ehesten einordnen. Vgl. dazu Helmut Engels (2004), »»Nehmen wir an …« Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht«. Reihe: Philosophie und Ethik unterrichten. Hrsg. v. Barbara Brüning und Franz-Josef Wetz. Bd. 2. Weinheim und Basel: Beltz, S. 40 ff. 10 Zu Zwecken der Übersichtlichkeit habe ich folgende Abkürzungen verwendet: GE = Gedankenexperiment; TA = Textarbeit.
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Anna Pickhan
b)
Leidenschaft (damit ohne Wissen!) von Möglichkeit zur Wirklichkeit!, Begriff der Entwicklung (Ansichsein (Möglichkeit) und Fürsichsein (Wirklichkeit)) & Begriff der Bildung, Gesellschaftsmodell: Heroen vermitteln Idee der Freiheit → Ergebnisse aus GE und TA sind verschieden → Fichtes Endzweck und Hegels Vernunftstaat sind nicht sinnvoll anzustreben
Zugriff auf Kants Geschichtsphilosophie • sich aufdrängende Frage: Gibt es neben den Modellen von Fichte und Hegel ein drittes Modell, das besser zu den eigenen Ausarbeitungen passt? • GE Dorf in der Steppe: Rad kann dann neu erfunden werden, wenn Funktion hinterfragt wird; mögliche Geschichtsprozesse: Fortschritt & Erweiterung des Wissens (Notwendigkeit dieser Prozesse) • TA Kant: Ziel des Geschichtsprozesses ist Hervorbringung und Erhaltung von Wissen; Gesellschaftsform ist aufgrund menschlicher Natur (ungesellige Geselligkeit) eine bürgerliche Gesellschaft mit Verfassung, Natur als regulative Idee → Selbstverantwortung des Menschen für sich und seine Geschichte
III. Die Leistung des Lehrstücks zur Geschichtsphilosophie In diesem Kapitel möchte ich in zwei Schritten die Leistung des Lehrstücks herausarbeiten. Zuerst wird dazu die Leistung in philosophischer Hinsicht beschrieben. Das gibt den inhaltlichen Rahmen für die dann im zweiten Abschnitt folgende Reflexion über die didaktischen Leistungen des Lehrstücks vor.
a)
Die Leistung in philosophischer Hinsicht
Was genau wird im Durchgang durch das Lehrstück philosophisch gelernt? Welche Elemente der Geschichtsphilosophien der drei großen deutschen Idealisten können aufgezeigt werden? Auf diese
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Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
Fragen möchte ich im Folgenden eine Antwort geben, indem ich die o. g. Struktur des Lehrstücks als roten Faden nehme. Fichte: Im ersten thematischen Komplex werden Elemente aus der Kantischen wie auch aus der Ficht’schen Geschichtsphilosophie verhandelt. Mit dem ersten Gedankenexperiment über einen Bienenstaat wird das Thema der Zwecke der einzelnen Biene eröffnet. Die Teilnehmer werden gebeten sich folgende Situation vorzustellen: Stellen Sie sich einen Bienenkorb vor, in dem jede einzelne Biene tätig ist. Die Arbeitsbienen holen den Honig und füttern die Königin. Die männlichen Drohnen begatten die Königin. Die Königin legt Eier etc. Es gibt also in dem Bienenstaat eine ganze Reihe von Tätigkeiten. 11
Damit kann ein Textausschnitt aus Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vorbereitet werden, nämlich der Erste Satz: Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Allen Thieren bestätigt dieses die äußere sowohl, als innere oder zergliedernde Beobachtung. Ein Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen Naturlehre. 12
Hier wird deutlich, dass die Zweckmäßigkeit bei Kant zur Beschaffenheit des Menschen gehört. Sodann wird das Gedankenexperiment noch einmal modifiziert, und zwar in der Hinsicht, dass die Bienen im Bienenstaat nun um ihre einzelnen Zwecke wissen. Damit soll deutlich werden, dass die Biene mit dem Wissen um ihren eigenen Zweck ein Bewusstsein von sich selbst hat. In einer weiteren Aufgabe macht sich jeder Teilnehmer eine Vorstellung davon wie die Biene ihr Bewusstsein entfaltet: Einzelne Stationen der Bewusstseinsprozesse der Biene werden herausgearbeitet. Aus dieser Ausformulierung erkennt man, dass der ehemalige Zweck der einzelnen Biene (die Zweckerfüllung für den Bienenstaat) ihr nicht mehr als wünschenswert erscheint, sondern Johannes Hachmöller (o. J.), Lehrstück Geschichtsphilosophie, S. 1. Immanuel Kant (1923[1784]), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Preussischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 8. Berlin: Reimer, S. 18.
11 12
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sich dadurch ihr persönliches Ziel geändert hat; höchstwahrscheinlich ändert es sich in ein individualisiertes Genussstreben der einzelnen Biene. Daraus folgt weiter: Bienen, die ihren eigenen Genuss als höchstes Gut haben, können nicht mehr in einem »normalen« Bienenstaat leben. Mit den veränderten Zielen und Eigenschaften der Individuen ändert sich dementsprechend auch das Staatsbild. In diesem Falle ist ein liberalistischer Staat die Staatsform, der solche Individuen am besten beherbergen kann. Was hier in philosophischer Hinsicht exemplarisch geleistet wurde, ist das Aufzeigen der Verbindung von individuellen Eigenschaften und Zielen der Bürger zum möglichen Staatsgefüge für eben diese. In der sich daran anschließenden Textarbeit zu Fichtes Epochen des Erdenlebens (Auszüge aus Fichtes Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters; 1.–3. Vorlesung 13 ) wird dem Lernenden beim Lesen des Textes sofort eines deutlich: Die selbst erarbeiteten Bewusstseinsprozesse der Biene sind den Ficht’schen Epochen sehr ähnlich, wobei die dritte Epoche dem selbst erarbeiteten, individuellen Genussstreben entspricht. Darüber hinaus bringt der Textauszug eine neue Pointe mit sich: Laut Fichte kann der Endzweck mit dem Aufgehen in der Gattung und dem Allgemeinen überwunden werden. Das hat jedoch einen Staat zur Folge, in dem nur die Gattung, nicht aber das Individuum, zählt. Hier fällt auf, dass, hinsichtlich der Staatsform, das zweite Gedankenexperiment zu einem anderen Ergebnis geführt hat als die Textarbeit zu Fichte. Während die Teilnehmer aufgrund der Vgl. u. a. folgende Textstelle aus der ersten Vorlesung, in der die fünf Epochen mit ihren Eigenschaften beschrieben werden: »1) Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinct: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechts. 2) Die Epoche, da der Vernunftinstinct in eine äusserlich zwingende Autorität verwandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde. 3) Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmässigkeit des Vernunftinstincts und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4) Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die Wahrheit als das Höchste anerkannt, und am höchsten geliebt wird: der Stand der anhebenden Rechtfertigung. 5) Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet: der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heilung.« Johann Gottlieb Fichte (1956), Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Hamburg: Meiner, S. 14 f.
13
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Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
einzelnen Bewusstseinsprozesse der egoistischen Biene auf einen Liberalistischen Staat geschlossen haben, wird das individuelle Genussstreben nach Fichte durch den Endzweck, dem Aufgehen in der Gattung und dem Allgemeinen, überwunden. Das Ficht’sche Staatsbild, in dem nur die Gattung zählt, steht somit dem im Gedankenexperiment erarbeiteten Staatsbild des liberalistischen Staates entgegen. Hegel: Dann beginnt der zweite Themenkomplex des Lehrstücks, der Zugriff auf Hegels Geschichtsphilosophie. Dazu wird das Gedankenexperiment des Bienenstaates ein drittes Mal erweitert. Nun sind die einzelnen Bienen mit Leidenschaften und Macht ausgestattet. Stellt man sich unter diesen Bedingungen einen möglichen Geschichtsprozess des Bienenstaates vor, so ist dies ein von Krieg und Elend geprägter Weg: Die Geschichte als Schlachtbank (nach Hegel) ist vorbereitet. Die darauffolgenden Textauszüge zu Hegels Geschichtsphilosophie haben die Vorstellungen des Philosophen zum Geschichtsprozess sowie zum dazugehörigen Gesellschaftsmodell zum Inhalt (schrittweise werden Auszüge aus Hegels Vorlesung über die Philosophie der Geschichte 14 gelesen): Es wird deutlich, dass die Geschichte Hegel zufolge durch Bedürfnisse und Leidenschaften gelenkt wird. Das bringt Freiheit hervor. Der Endzweck der Welt ist die Verwirklichung eben dieser Freiheit, indem mittels Leidenschaft von Möglichkeit zu Wirklichkeit übergeleitet werden kann. Damit wird auch der Begriff der Entwicklung (mit Ansichsein und Fürsichsein) sowie der Begriff der Bildung in der Geschichte erläutert. Für eine Gesellschaft sieht Hegel die Notwendigkeit von Heroen, die die Idee der Freiheit vermitteln und so die Gesellschaft implizit formen. Kontrastiert man die Ergebnisse von Gedankenexperiment und Textarbeit so sticht ins Auge, dass sie sich auch hier entgegenstehen. Nach dem bisherigen Durchgang durch das Lehrstück muss der Teilnehmer außerdem die Schlussfolgerung ziehen, dass weder Fichtes Endzweck noch Hegels Vernunftstaat sinnvoll anzustreben sind.
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1969), Vorlesung über die Philosophie der Geschichte. In: Werke in 20 Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 12. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
14
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Kant: Es drängt sich also die Frage auf, ob es neben den Modellen zur Geschichtsphilosophie von Fichte und Hegel ein drittes gibt, das besser zu den eigenen, erarbeiteten Ansichten passt. In diesem letzten Abschnitt des Lehrstücks wird noch einmal ein ganz neues Gedankenexperiment durchgeführt, es lautet wie folgt: Stellen Sie sich ein Dorf in der Steppe vor, das einsam gelegen ist. a) Entwicklungsstand: Die Dorfbewohner können ihre Felder bereits mit einem Ochsen pflügen. Zum Transport von Gegenständen verwenden sie runde Bohlen und Holzstämme. Dies ist besonders mühsam, wenn Sie zum Beispiel Säcke mit Getreide transportieren wollen. b) Plötzlich: Es fährt ein Wagen mit Rädern und drei Säcken Getreide vorbei. Die Dorfbewohner staunen. Der Wagen fährt wieder und ward nimmer wieder gesehen. 1. Frage: Können die Dorfbewohner das Rad bauen? 15
Ziel ist es zu zeigen, dass es möglich ist, das Rad neu zu erfinden, sobald die Steppenbewohner die Funktion des ihnen bis dahin unbekannten Gegenstandes ergründen möchten. Überträgt man diese Erkenntnis nun auf für diese Gesellschaft mögliche Geschichtsprozesse, so folgt, dass die Gruppe nach einer ständigen Wissenserweiterung strebt. Damit wird auch der Fortschrittsgedanke in der Geschichte offenbar und man bemerkt für diese Versuchsanordnung die Notwendigkeit desselben sowie den daraus folgenden Geschichtsprozess. In der anschließenden Textarbeit zu Kant (schrittweise die Sätze 1–6 aus der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht 16 ) finden sich die Teilnehmer des Lehrstücks in ihrer bisherigen eigenen Auffassung bestätigt. Denn Ziel des Geschichtsprozesses bei Immanuel Kant ist die Hervorbringung und Erhaltung von Wissen. Die dazugehörige Gesellschaftsform ist aufgrund der menschlichen Natur (der »ungeselligen Geselligkeit«) eine bürgerliche Gesellschaft mit Verfassung. Die Natur fungiert lediglich als regulative Idee, was den einzelnen Menschen in die Pflicht nimmt. Denn er muss für sich und seine Geschichte selbst Verantwortung übernehmen.
Johannes Hachmöller (o. J.): Lehrstück Geschichtsphilosophie, S. 13 (wie in Anm. 11). 16 Immanuel Kant (1923[1784]), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 18–23 (wie in Anm. 12); für einen Kommentar zu den einzelnen Sätzen siehe z. B. Otfried Höffe (2011)[Hrsg.], Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie. Berlin: Akademie, S. 29–79. 15
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Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
Insgesamt sticht jedem Leser hier etwas ins Auge und nicht Wenigen wird es ein gewisses Unwohlsein bereiten, d. i. dass die Geschichtsphilosophien von Fichte, Kant und Hegel hier im Lehrstück teilweise drastisch gekürzt werden. Das ist natürlich einerseits dem Zweck geschuldet, nämlich der Verwendung in der Schule mitsamt den damit einhergehenden Rahmenbedingungen. Andererseits, und das muss man sich an dieser Stelle eingestehen, ist jede Thematisierung philosophischer Texte und Inhalte immer eine Abkürzung. So schlage ich eine positive Auslegung dieser Abkürzung vor. Denn ihr Potenzial ist das Greifbar-Machen von Inhalten und darüber hinaus ein Vergleich der Kernthesen dieser Geschichtsphilosophien in relativ kurzer Zeit. So konnten hier ganz grundlegend am Beispiel sowohl verschiedene Geschichtsprozesse und verschiedene Gesellschaftsmodelle als auch deren mögliche Zusammenhänge gezeigt werden. Didaktisch gesehen ist das überaus wertvoll, was ich im folgenden Kapitel zeigen möchte.
b)
Die Leistung in didaktischer Hinsicht: Die Kraft des dialektischen Unterrichtsgangs
Um die Leistungen des Lehrstücks in didaktischer Hinsicht darzustellen, möchte ich in diesem Kapitel einschlägige Gegenargumente entkräften. Es drängen sich vor allem zwei Hauptkritikpunkte an dem Vorgehen auf, die Geschichtsphilosophien von Kant, Fichte und Hegel mit Hilfe dieses Lehrstücks zu behandeln. Der eine Kritikpunkt ist philosophischer Natur, der andere didaktischer. Beide möchte ich in einem zweiten Schritt aus didaktischer Perspektive entkräften. a) Philosophische Kritik: »Die einzelnen Geschichtsphilosophien von Kant, Fichte und Hegel werden jeweils zu stark verkürzt.« b) Didaktische Kritik: »Die Inhalte des Lehrstücks sind trotz dessen zu viele und zu komplex.« Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Formulierungen der Thesen sich ähneln. Doch es sind inhaltlich gänzlich verschiedene Kritikpunkte. Das erste Gegenargument spricht sich gegen eine inhaltliche Reduktion der Ansätze der drei Philosophen aus. Diese ist beispielsweise aus dem Grund problematisch, dass mit einer Verkürzung immer auch eine Verfälschung des Inhalts einhergeht. Doch betrachten wir einmal genau, wie das Lehrstück aufgebaut ist. Was 185 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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hier stattfindet ist eine ständige Verflechtung der Methoden Gedankenexperiment und Textarbeit. D. h. die Ergebnisse der Gedankenexperimente können ganz oder teilweise im Text des jeweiligen Philosophen wiedergefunden werden. Gedankenexperimente werden hier hauptsächlich als grundlegende Vorbereitung eingesetzt. Die philosophischen Texte haben hingegen gleich zwei Funktionen: Zum einen sind sie nachbereitend: Aus den Gedankenexperimenten Bekanntes lässt sich sodann in ihnen wiederentdecken; zum anderen haben die Texte auch eine vorbereitende Funktion für den weiteren Lehrgang. Denn durch den Text kommen neue inhaltliche Aspekte hinzu. Diese Verbindung von Gedankenexperiment und Textarbeit im Lehrstück möchte ich als »dialektischen Gang« beschreiben, da sie sich immerzu abwechseln und ständig aufeinander aufbauen. Mal werden durch die Texte bekannte Aspekte aufgegriffen, dann wieder neue vorbereitet, die erst durch ein Gedankenexperiment wieder eingeholt werden. Stück für Stück führt dieses Vorgehen zu einer Ausschreitung des Themas. Der dialektische Fortgang wird zusätzlich dadurch vorangetrieben, dass die Ergebnisse aus den Abschnitten I und II (zur Geschichtsphilosophie Fichtes und Hegels) von Textarbeit und Gedankenexperiment jeweils verschieden sind. Das eigene Ergebnis aus dem Gedankenexperiment stimmt nicht mit dem gelesenen Inhalt des philosophischen Texts überein. Dies erzeugt eine innere Spannung, die den Einzelnen dazu anhält, weiter nach einem passenden Modell zu suchen. Dieses wird, der inhaltlichen Dramaturgie des Lehrstücks folgend, hier durch die Kantische Geschichtsphilosophie angeboten. Sie passt am besten zu den eigenen Vorstellungen aus den Gedankenexperimenten. Auch wenn dieser Durchgang ein konstruierter ist und womöglich nicht für jeden Teilnehmer des Lehrstücks inhaltlich wahr wird, so ist damit doch eines besonders deutlich: Alles ist mit allem verbunden. Und noch mehr wird offenbar: Die Art der Verbindung sowie die Voraussetzungen, die die einzelnen philosophischen Gedanken benötigen, werden selbstständig herausgearbeitet und sind den Teilnehmern gegenwärtig. Die Textarbeit basiert immer auf einem eigenen »Vor-Urteil«, das mit Hilfe des Gedankenexperiments entstand. Erst damit ist ein vertieftes Verständnis möglich. Denn durch die persönliche Erfahrung des Durchgangs durch das Stück kommt es zu einer individuellen Auseinandersetzung mit den Inhalten und zur Bildung eines eigenen Urteils 17 17
Ein ganz ähnliches Verständnis vom eigenen Urteilen vertritt auch Thein. Vgl.
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darüber. So können Zusammenhänge erfahren werden; oder besser: sie werden zuerst erfahren, um dann erkannt zu werden. Als didaktisches Ziel des Lehrstücks lässt sich ausmachen, dass sowohl die genannten Zusammenhänge als auch die Komplexität der Philosophien erkannt wird. Letzteres resultiert ebenso aus dem individuellen, selbstständigen Durchgang durch die einzelnen Gedankenschritte. Insofern genießt eben dieses Ziel, nämlich die Komplexität selbst zu erkennen, in didaktischer Hinsicht Priorität vor dem Ziel, eine möglichst große Fülle an Inhalten der Philosophen kennen zu lernen. Dies ist im Nachgang des Lehrstücks für die Teilnehmer immer noch, wenn nicht viel besser, möglich, da sie dann bereits über zwei hilfreiche Aspekte zur Erschließung einer Philosophie verfügen. Zum einen ist das ein inhaltliches, argumentatives Konstrukt oder Skelett aller drei Geschichtsphilosophien; zum anderen die intrinsische Motivation den ein oder anderen Teil genauer erforschen zu wollen. Kommen wir auf das zweite Gegenargument zu sprechen, das nun aus didaktischer Perspektive Kritik am Lehrstück übt: »Die Inhalte des Lehrstücks sind dennoch zu viele und zu komplex.« Selbst wenn man nun also die bittere Pille der philosophischen Reduktion der einzelnen Ansätze von Kant, Fichte und Hegel geschluckt hat, so bleibt trotzdem noch der didaktische Zweifel über die Sinnhaftigkeit, drei Philosophen inhaltlich komprimiert in so kurzer Zeit zu Wort kommen zu lassen. Diesen Zweifel möchte ich auf einfache Art und Weise ausräumen. Gibt es denn dieses Argument nicht ständig und immer? Ist jeder Inhalt nicht auf den zweiten Blick mit (zu) vielen anderen verknüpft und kann als zu komplex gelten? Diese Nachfragen sollten nicht zu einem Argument führen, das sie bejaht. Im Gegenteil: Man muss schließlich an irgendeinem Punkt einmal anfangen. Für dieses Lehrstück bleibt festzuhalten, dass es um ein erstes Kennenlernen der verschiedenen Philosophien geht. Ein großer Vorteil dabei ist, dass sie durch den dialektischen Gang bereits vernetzt Christian Thein (2017), Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich, S. 49–75. Thein macht deutlich, dass eine erfahrungsbezogene Vor-Urteils-Phase im Unterricht nötig ist, um zur Bildung von fundierten Urteilen zu gelangen. Im Lehrstück ist der Erfahrungsbezug durch die Gedankenexperimente gegeben; die eigenen Vor-Urteile werden mit den Textarbeiten zu den Primärtexten wieder und wieder auf die Probe gestellt, sodass am Ende ein möglichst fundiertes Urteil des Schülers steht.
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sind und in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Eben dies geschieht auf eine bestimmte Weise: Der Schüler/ Teilnehmer muss selbst tätig werden. Er muss selbst denken und Verknüpfungen erstellen. 18 Inhalte müssen immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt werden. Und diese Tätigkeit ist alles andere als einfach. Sie setzt ein wirkliches Verstehen der philosophischen Inhalte voraus. 19 Und eben dieses wirkliche Verstehen ist doch wahrlich das höchste Ziel im Philosophieunterricht! Die Teilnehmer haben einen eigenen Zugang, können auf eigene Ergebnisse zurückgreifen, die sie aus eigenem Denken hervorgebracht haben. All dies lässt das zweite Gegenargument, wenn nicht verschwinden, dann doch weniger gewichtig aussehen.
IV. Fazit Abschließend möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen, was das Potenzial des Hachmöller’schen Lehrstücks zur Geschichtsphilosophie ist und warum der Versuch geglückt ist, Kant, Fichte und Hegel unter einem Dach aufeinander treffen zu lassen. Drei voneinander sehr verschiedene Ansätze zur Geschichtsphilosophie wurden im Lehrstück mit den einschlägigen Vertretern zum Thema verhandelt. Eigens entwickelte Gedankenexperimente wechseln sich in einem dialektischen Gang mit den Textarbeiten an Primärtexten ab. Das hat vor allem zwei Vorteile: Zum einen, nämlich der größte Vorteil der Gedankenexperimente, dass das philosophische Problem jederzeit anschaulich ist und bleibt. Zum anderen, der größte Vorteil der Textarbeiten mit den Primärtexten, dass man drei unterschiedliche Geschichtsphilosophien kennengelernt hat. Dies konnte Vgl. auch Mario Ziegler (2014), Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg: Ergon, S. 278. Dort macht Ziegler noch einmal auf die für den Schüler nötige Freiheit aufmerksam, die erst im eigenständigen Denken entfaltet werden kann und die für grundlegende Einsichten nötig ist. Wie bereits angesprochen steht der Lehrer mäeutisch zur Seite. 19 Thein hat ein ähnliches Bild von der Relevanz der eigenen Tätigkeit der Schüler für ihre Verstehensprozesse im Philosophieunterricht. Vgl. dazu z. B. Thein (2017), Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, S. 16, 18 (wie in Anm. 17), wo er das Verstehen in den Kontext der Bildung der einzelnen Schüler setzt: »Die produktivkreative Seite des Verstehens, der im philosophierenden Unterricht große Aufmerksamkeit zukommt, führt darüber hinaus zu einem kritisch-urteilenden Selbstverständnis der philosophierenden Subjekte«. 18
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Kant, Fichte & Hegel unter einem Dach
nur funktionieren, weil es auf Seiten der Teilnehmer auf Basis der vorhergehenden Gedankenexperimente immer bereits »Vor-Urteile« gab. Diese konnten zu den Inhalten der Texte in Beziehung gesetzt werden und ein wirkliches Verständnis erst möglich machen. Durch das Lehrstück hat man als Teilnehmer also die Möglichkeit, über die Gedankenexperimente zum eigenen Denken und Urteilen über die Geschichtsphilosophien von Kant, Fichte und Hegel zu kommen.
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Mirka Dickel
Transformative Lehrerbildung. »Hören können heißt, verstehen können.«
In der Geographiedidaktik werden die Praxiserfahrungen der Studierenden im Praxissemester durch Gespräche flankiert, zu denen ich persönlich einlade. Gespräche über Unterricht sind in der Lehrerbildung traditioneller Bestandteil der Ausbildung. Berühmtberüchtigt sind die Beratungsgespräche nach Hospitationen in der zweiten Phase der Lehrerausbildung. Im Zuge der Kompetenzreform, die seit der Jahrtausendwende die Lehrerbildung mit dem Ziel einer umfassenden Vermessung der Bildung umstrukturiert, wurden auch die bis dato zumeist spontan geführten Reflexionsgespräche ›methodisiert‹. Vor jedem Gespräch werden seitdem pädagogische und didaktische Schwerpunkte festgelegt, die das Gespräch strukturieren. So soll ein willkürliches Mäandrieren des Gesprächs entlang subjektiver Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsregime verhindert werden. Ohne Zweifel wird auf diese Weise einer spontanen subjektiven Beliebigkeit Einhalt geboten. Zugleich handelt man sich aber alle Nachteile ein, die mit einer solch rigiden Festlegung unweigerlich verbunden sind. Das Kategorienraster schnürt das Gespräch von Beginn an in ein Korsett. Im Folgenden halte ich an der großen Bedeutung des Gespräches für die Lehrerbildung fest. Zugleich setze ich einen neuen Anfangspunkt, indem ich reflektiere, was ein Gespräch im eigentlichen Sinne überhaupt ist. Denn im Unterschied zu einem bloß subjektiven Meinen oder einem bloß kategorialen Zugreifen, liegt die Führung des »eigentlichen Gespräches« nicht in dem Willen des einen oder des anderen Partners. So ist das eigentliche Gespräch niemals das, was wir führen wollten. Vielmehr ist es im Allgemeinen richtiger zu sagen, dass wir in ein Gespräch geraten, wenn nicht gar, dass wir uns in ein Gespräch verwickeln. […] All das bekundet, dass das Gespräch, seinen eigenen Geist hat, und dass die Sprache, die in ihm geführt wird, ihre eigene Wahrheit in sich trägt, d. h., etwas ›entbirgt‹, was fortan ist. 1 1
Hans-Georg Gadamer (1999[1960]), Wahrheit und Methode. Grundzüge einer phi-
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Transformative Lehrerbildung
Wenn ich also in meinem Beitrag die Bedeutung des eigentlichen Gespräches für eine transformative Lehrerbildung starkmache, geht es mir gerade nicht darum, ein neues Konzept darüber zu entwerfen, wie wir miteinander sprechen sollten. Vielmehr möchte ich in Erinnerung rufen, dass uns allen Gespräche im eigentlichen Sinne nicht fremd sind. So können wir uns sicher alle an wegweisende und verändernde Gespräche erinnern. Uns fallen spontan Menschen ein, denen es gelingt, uns derart ins Gespräch zu verwickeln, dass wir so in ein Denken hineingeraten, dass wir eine Sache in einem neuen Lichte sehen lernen. Bei einem solch lebendigen Gespräch handelt es sich also nicht um etwas, das unserer Erfahrung vorgeordnet ist. Vielmehr haben wir alle Erfahrung mit lebendigen Gesprächen. Aber zugleich, und das ist das Erstaunliche, ist es uns zumeist überhaupt nicht bewusst, was es eigentlich heißt, so ein lebendiges Gespräch zu führen. Für Gadamer ist das Sprechen »die am tiefsten selbstvergessene Handlung« 2 . Jedermann kennt die Erfahrung, wie man beim eigenen Sprechen stockt und einem die Worte in dem Augenblick ausgehen, in dem man auf sie bewusst achtet. (…) So Drinsein im Worte, dass man ihm nicht als Gegenstand zugewendet ist, ist offenbar der Grundmodus allen sprachlichen Verhaltens. Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so dass das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewussten verborgen bleibt. 3
Uns fehlt häufig jegliches Bewusstsein dafür, was wir eigentlich tun, wenn wir ein lebendiges Gespräch führen. Hierin liegt ein blinder Fleck der aktuellen Lehrerbildung. Meine These ist, dass durch ein Gewahrwerden und Reflektieren der verdeckten Strukturelemente des lebendigen Gesprächs Lehrerbildung auf gute Weise verändert werden kann. Denn im Bewusstwerden darauf, was lebendige Gespräche sind, kann Lehrerbildung überhaupt erst zu sich selbst kommen. Sie kann gleichsam überhaupt erst erkennen, was sie von sich aus ist, statt in Anpassung an einen wie auch immer gearteten theoretischen Überbau von Lehrplänen, Curricula, Handlungsfeldern oder Kompetenzrastern fremdbestimmt zu sein. Ist Lehrerbildung sich ihrer losophischen Hermeneutik. In: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 361. 2 Hans-Georg Gadamer (1999[1970]), Sprache und Verstehen. In: Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 198. 3 Gadamer (1999[1960]), Wahrheit und Methode, S. 198 (wie in Anm. 1).
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Mirka Dickel
selbst bewusst, kann es ihr gelingen, ihre Identität zu profilieren und als Profession in ihrer Spezifik sichtbar zu werden. Die Tatsache, dass sich die Lehrerbildung der Bedeutung der lebendigen Gesprächserfahrung nicht bewusst ist, liegt vor allem daran, dass das, was im Gespräch produktiv ist, nicht messbar ist. Für das lebendige Gespräch lässt sich kein äußeres Regelsystem festgelegen. Von außen lässt sich also nicht beobachten, was das lebendige Gespräch ausmacht. Die Gesprächspartner sind auf ihre eigene Erfahrung verwiesen, um seine Wirksamkeit zu ermessen. Von einer Gesprächserfahrung ist dann zu sprechen, wenn die verstehende Auseinandersetzung selbst die Quelle der rechten Einsicht und des guten Handelns ist und dieses Handeln nicht von etwas Drittem abgeleitet wird. Im lebendigen Gespräch geht es also um etwas, das die Gesprächspartner intuitiv leitet. Allerdings ist es so grundlegend, dass es nicht sichtbar ist. Um diesem Eigensinn des Gesprächsgeschehens auf den Grund zu gehen, müssen wir uns auf das Gespräch selbst einlassen, statt es wie einen Gegenstand von außen zu betrachten. Ich möchte also dem auf die Spur kommen, was das lebendige Gespräch unausgesprochen leitet. Es ist eine Verständigkeit, die sich im lebendigen Austausch selbst zeigt. Die wissenschaftlichen Bezugstheorien, in denen dieses Vorhaben zur Sprache kommt, sind die phänomenologische Hermeneutik in der Manier Heideggers, Gadamers, Levinas’ und Waldenfels’.
I.
Gespräche als transformatives Prozessgeschehen – Beispiele
Laura, eine Lehramtsstudentin, sitzt in der Geographiestunde schon seit einiger Zeit hinter Monika, einem lernschwachen Mädchen. Vor Monika sitzt ein Mädchen, das aufgrund seiner Schwächen im psycho-sozialen Bereich durch eine Sozialarbeiterin begleitet wird. Als die Lehrerin eine Aufgabe stellt, versteht Monika nicht, was sie tun soll. Monika steht auf, äußert lautstark und unwirsch, dass sie die Aufgabe nicht versteht und dass sie auch gar keine Lust auf diese Arbeit habe. Die Sozialarbeiterin steht ebenfalls umgehend auf und herrscht Monika grob an: »Du bist so dumm, und dummdreist bist du obendrein. Halt einfach deinen Mund.« Die Lehrerin geht über diesen Vorfall hinweg. Laura ist in unserem Gespräch nach wie vor sichtlich bewegt. Sie fragt sich, ob es richtig war, dass sie in dieser Situation 192 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Transformative Lehrerbildung
geschwiegen hat, anstatt deutlich zu machen, dass sie das Verhalten der Sozialarbeiterin nicht billigt. Der weitere Verlauf unseres Gespräches dreht sich um die Frage, wie es zu verstehen ist, dass wir Lösungen häufig im Sinne von »entweder–oder« suchen: entweder schweigen oder laut werden. Wir fragen, inwiefern diese dualistische Logik unsere Möglichkeiten eingeschränkt. So geraten andere Logiken in den Blick: »sowohl als auch« oder »keines von beiden«. Laura macht ein Gedankenexperiment. Was würde ein Wechsel der Logik für ihre konkrete Situation bedeuten? Für Laura öffnet sich der Sinn für Neues. Kann es gelingen, stillschweigend zu sprechen oder beredt zu schweigen? Gibt es einen Weg jenseits von Schweigen oder Sprechen? Sebastian unterrichtet seit drei Wochen in der achten Klasse von Frau Muder, bei der er folgenden Unterrichtsablauf beobachtet hat: Sie nennt das Thema der Stunde, fragt, was die SchülerInnen über das Thema wissen, gemeinsam wird Absatz für Absatz im Schulbuch gelesen. Die SchülerInnen nennen die wichtigsten Informationen aus dem Text, diese werden an der Tafel gesammelt und abgeschrieben, manchmal setzt Frau Muder Zusammenfassungen auf vorbereiteten Overhead-Folien ein. Sebastian lächelt beim Erzählen schüchtern. Er sagt, dass er dieses Muster in seinem Unterricht übernommen habe und eigentlich laufe sein Unterricht gut. Dann schweigt er und schaut ernst. Er ergänzt, dass er lieber moderne Methoden im Unterricht einsetzen wolle. Die Lehrerin lasse ihm freie Hand, allerdings fehle ihm der Mut. Im Folgenden dreht sich unser Gespräch darum, was der Begriff »moderne Methode« eigentlich meint und woher die Idee kommt, dass moderne Methoden immer auch gute Methoden sind. Wir sprechen über Prinzipien der konstruktivistischen Pädagogik, ihre Methodenzentrierung und den didaktischen Imperativ der Beraterrolle für die Lehrperson. Wir kommen auf die begegnungsorientierte Pädagogik zu sprechen, die in der Beziehung zwischen Lehrer, SchülerInnen und Sache das tragende Moment für den Unterricht sieht. Wir sprechen über Unterricht als Beziehungsgeschehen und darüber, wie es Sebastian gelingt, Beziehung zu gestalten. Dabei wird deutlich, dass er die gute Beziehung zu den SchülerInnen u. a. dadurch sicherstellt, dass er sich an die bewährten Routinen der Lehrerin hält. Die Frage nach der »guten« Methode stellt sich im Lichte dieses weiteren Horizontes neu. Auch die Sicht Sebastians auf sich selbst hat sich verändert. Seine Entscheidung für eine Unterrichtsmethodik ist nicht länger dem (fehlenden) Mut geschuldet, sondern 193 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
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seinem Gespür für die gute Beziehungsgestaltung. Damit steht ihm nichts mehr im Weg, Beziehungen nun auch über andere Methoden zu realisieren. Obwohl Claudia von ihrer Ausbildungslehrerin für ihren Unterricht gelobt wird, hat sie Zweifel, ob sie nach dem Studium den Beruf als Lehrerin ergreifen soll. Sie sagt, dass sie es liebe, sich tiefgründig mit einer Sache auseinanderzusetzen, diese aufgearbeitet und gut durchdacht als reifes Ergebnis vorzustellen. Ihren Geographieunterricht bereitet sie immer sehr gut vor. In der Durchführung und im Ergebnis muss sie oft große Abstriche machen. Sie kann die Themen nur halb darstellen, zuweilen nur ankratzen. Sie weiß nicht, ob sie in die Schule passt. Dann schweigt sie. Ich frage sie, ob es sich womöglich umgekehrt verhält, dass sie nicht weiß, ob Schule zu ihr passt. Sie ist sichtlich verwirrt und schaut mich dann interessiert an. Im Folgenden dreht sich unser Gespräch darum, was es heißt, eine Sache zu vermitteln. Heißt Vermittlung, die Themen möglichst komplex und gut aufbereitet zu präsentieren? Oder heißt Vermittlung, die Themen möglichst mundgerecht anzubieten? Im ersten Fall wird Vermittlung von der Sache her gedacht, im zweiten Fall wird Vermittlung von den SchülerInnen her gedacht. Beide Verständnisse von Vermittlung sind verkürzt, das Verhältnis zwischen SchülerInnen und Sache wird je einseitig aufgelöst. Wir kommen auf einen dritten Weg zu sprechen. Vermittlung gelingt dann, wenn SchülerInnen und Sache zusammenkommen; gemeint ist, dass SchülerInnen Fragen an die Sache stellen und eigenständig Antworten finden. Damit die Lehrperson das Gespräch zwischen SchülerInnen und Sache initiieren und am Laufen halten kann, muss sie sich auf ihr Fach verstehen. Diese Überlegungen ermöglichen es Claudia, neu auf ihre Situation zu schauen. Ihre fachliche Differenziertheit erscheint nun im Lichte der Reflexion dessen, was Vermittlung eigentlich ist. Die Frage, ob sie in die Schule passt oder Schule zu ihr, stellt sich vor diesem Hintergrund neu. Die Gespräche mit Laura, Sebastian und Claudia geben erste Hinweise auf drei Strukturmomente des Gesprächs, die sich im Folgenden als Fragen greifen lassen: a) Wie geraten wir in ein lebendiges Gespräch hinein? b) Wie sind wir im Gespräch anwesend? c) Wie wird eine Transformation gewohnter Sichtweisen möglich?
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II.
Strukturelemente des lebendigen Gesprächs
a)
Wie geraten wir in ein lebendiges Gespräch hinein?
Hermeneutische Bemühungen gehen von dem aus, was unser Verstehen ins Stocken geraten lässt, von einem ›atopon‹, das Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer Verstehenserwartung und das uns deswegen stutzen lässt. (…) All dies Stutzen und Staunen und im Verstehen nicht Weiterkommen ist offenkundig immer auf Weiterkommen, auf eindringlichere Erkenntnis angelegt! 4
Das, was uns im Gespräch auffällig wird, woraufhin wir aufmerken, lässt sich im Sinne des Spurenparadigmas 5 als etwas verstehen, dem wir nachgehen können. Die Spur führt ein »epistemologisches Doppelleben« 6 . Zum einen wird die Spur als etwas verstanden, das uns hilft, Unbekanntes oder Unsichtbares zu begreifen, etwas zu erkennen, das sich dem Spurenleser auf Anhieb entzieht. Im Zuge der Ermittlung werden Spuren konventionell gelesen und gedeutet. Über diese Be-Deutung wird die Spur im Nachhinein zu einem Zeichen gemacht. Diese Art des Spurenlesens ist dem Indizienparadigma verpflichtet. Hier handelt es sich um ein Spurendenken, das im Zusammenhang der Ermittlung dann im Sinne einer »positiven Wissenskunst« 7 Wissen als Identifikations- und Orientierungsleistung rekonstruiert. Diese Spuren führen zur Immanenz hin. Levinas radikalisiert das Verständnis der Spur. Er versteht die Spur nicht als etwas, das uns letztlich zu etwas Identifizierbarem oder Erkennbarem hinführt. Er betont den transzendentalen Charakter der Spur. Die authentische Spur ist Anhaltspunkt irreversibler Unzugänglichkeit, die Erfahrung eines radikal Äußeren, einer Exteriorität, Jenseitigkeit, die anders ist als alles Vertraute. In diesem sogenannten ›Entzugsparadigma‹ ist und bleibt die Andersartigkeit des Gadamer (1999[1970]), Sprache und Verstehen, S. 185 (wie in Anm. 2). Vgl. Sybille Krämer (2007), »Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme.« In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hrsg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 11–38. 6 Sybille Krämer (2007), »Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur.« In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hrsg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 155–181, hier S. 155 ff. 7 Krämer (2007), Immanenz und Transzendenz der Spur, S. 156 (wie in Anm. 6). 4 5
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Anderen, worauf die Spur verweist, unzugänglich. In seinem ersten Hauptwerk »Totalität und Unendlichkeit. Versuche über Exteriorität« begründet Levinas die Radikalität seines Spurdenkens gegen die abendländische Philosophie mit ihrem Streben nach Autonomie (Selbstgesetzgebung) im Denken. Gegen das Autonomie-Prinzip, das impliziert, dass das Ungleiche gleich gemacht wird, mit der Folge der Etablierung einer Totalität, die durch Vereinnahmung des Anderen der Andersartigkeit des Anderen nicht gerecht wird, setzt Levinas die Heteronomie, die Gesetzgebung vom Anderen her. Damit vertritt er einen radikalen Humanismus, der von der Trennung des Selben und des Anderen ausgeht. Er versteht den Anderen als nicht-assimilierbar, irreduzibel, unkategorisierbar, einzig und unverfügbar. Der Andere bleibt Rätsel und fremd. Während Totalität das Subjekt-sein zerstört, ereignet sich Unendlichkeit in dem nicht machbaren Beziehungsraum von Angesicht zu Angesicht 8 . In dieser Philosophie der Transzendenz verändert sich auch der Begriff des Denkens: Das Denken denkt ›mehr als es denkt‹, sofern es in der Idee des Unendlichen etwas denkt, das es noch nicht von sich aus zu denken vermag. Es ›entfremdet‹ sich darin ›sich selbst‹. Es wird vom Gedanken eines Anderen, der seiner Autonomie weder entspringt, noch in sie einfügt, über sich hinausgeführt, ohne dass es das wollte, und wird so von sich selbst überrascht. 9
Was heißt es für die Lehrerbildung, die Gespräche von einem radikalen Spurenparadigma aus zu verstehen? Lehrerbildung richtet sich zumeist an totalitären Strukturen aus, erzwingt die Anpassung an die jeweils aktuelle (Schul-)Programmatik. Lehrerbildung bewegt sich im Fahrwasser dogmatischer Ideologie. Der radikale Humanismus zeigt, dass Transformation aber von einem Ort aus in Gang gesetzt wird, der nicht unmittelbar zugänglich ist. Erkennen, das sich im Horizont vorgegebener Möglichkeiten hält, im Sinne eines Immerschon bzw. eines Immer-weiter, wird durch eine unsere Erinnerungen unterlaufende radikale Fremderfahrung aufgebrochen. Widerfahrnisse und mithin, alles, was uns auffällt und anspricht, können als Ereignisse nicht erinnert werden. Erinnert wird die Art und Weise, wie solche Ereignisse sich zu artikulierten und wiederholbaren Antworten auskristalli-
Susanna Matt-Windel (2017), »Nähe – eine radikal-humanistische Perspektive auf Kontakt – eine Kernkompetenz der Gestalttherapie?« Gestalttherapie 31 (2), S. 40–54. 9 Werner Stegmaier (2009), Levinas zur Einführung. Hamburg: Junius. 8
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sieren. (…) Wir erinnern uns an das, was wir geantwortet haben; an das, wovon wir getroffen wurden und worauf wir geantwortet haben, erinnern wir uns nur indirekt, sofern es nämlich im Gesagten und Getanen seine Spuren hinterlassen hat. 10
Da wir Lernanfänge nicht setzen können, sondern wir der Unverfügbarkeit des Widerfahrnisses ausgesetzt sind, wird Neues nur als Antwort auf ein Widerfahrnis möglich. Damit gewinnt das radikale Nicht-Wissen und Nicht-Können grundlegende Bedeutung. Es ist der einzig mögliche Ausgangspunkt für Veränderung, Verwandlung, Bildung.
b)
Wie sind wir im Gespräch anwesend?
Voraussetzung für ein lebendiges Gespräch ist, dass jeder den anderen ernst nimmt, sich hörend, hin-hörend, statt sagend und konstatierend ins Gespräch einbringt. Es soll nicht nur der gemeinte Sinn, sondern auch ein verborgender Sinn verstanden werden, also das, was zunächst noch unverständlich ist. Doch wie sind wir in einem Gespräch anwesend, wenn wir auf einen verborgenen Sinn hören. Das ›Wie‹ unserer Anwesenheit ist nicht einfach zu beschreiben. Und diese Schwierigkeit liegt schon in der Natur der Sache. Die Art und Weise, wie ich da bin, ist auf ästhetisches Empfinden verwiesen. Eine ästhetische Erfahrung ist aber flüchtig, wenn wir sie in Worte fassen, ist sie schon vergangen. Daher entzieht sich die ästhetische Erfahrung jeder einfachen sprachlichen Darstellung. Gadamer fasst das, was es braucht, um auf einen verborgenen Sinn aufmerksam zu werden, metaphorisch als ein »Hören mit dem inneren Ohr« 11 , mit dem wir auf das Wesentliche hören: Ein Hören mit dem inneren Ohr kommt dem Verstehen gleich: »Hören können heißt, verstehen können.« 12 Die Besonderheit des Hörsinns liegt darin, dass er auf die Sprache hört. Damit ist ein Zusammenhang zwischen der Universalität des Hörens und der Universalität der Sprachlichkeit, der Grundidee
Bernhard Waldenfels (2004), Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 93. 11 Hans-Georg Gadamer, (1999[1981]), Stimme und Sprache. In: Gesammelte Werke. Bd. 8. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 258–270, hier S. 267. 12 Hans-Georg Gadamer (1999[1984]), Hören – Sehen – Lesen. In: Gesammelte Werke. Bd. 8. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 271–278, hier S. 272. 10
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der Hermeneutik Gadamers angezeigt. 13 Die Universalität der Sprachlichkeit meint, dass alles, was ist, sprachlich geprägt und verfasst ist. Daher ist auch unser Verstehen nichts, was wir nur zeitweilig tun, sondern es ist die Grundverfasstheit unseres menschlichen Lebens. Verstehen ist unsere Daseinsform. Das bedeutet, dass wirkliches Sprechen grundsätzlich unabschließbar ist. Denn im Sprechen sind wir immer schon situiert und positioniert. Situiert sind wir in dem Sinne, dass unser Sprechen situativ bezogen ist, wir können gar nicht anders, als im Sprechen unsere lebensweltliche Situation zur Darstellung zu bringen. Positioniert sind wir in dem Sinne, dass wir immer schon aufgrund eines historischen Bezugspunktes sprechen. Unser Sprechen aktualisiert sich in einem geschichtlichen Kontext. Mit Gadamers Worten: »Was ich damit sagen will, ist zunächst, dass wir uns nicht aus dem Geschehen herausnehmen und ihm gegenüber treten können (…). Wir sind immer schon mitten in der Geschichte darin.« 14 Aufgrund unserer Situiertheit und Positionalität ist das, was wir aussagen, niemals alles. Zugleich aber eröffnet diese Begrenztheit der Sprache auch den Zugang zum Unausgesprochenen. Denn durch die Universalität der Sprachlichkeit sind tieferliegende und unausgesprochene Sinnschichten des Lebens erreichbar. Diese Zugänglichkeit ist nicht beliebig und unbegrenzt, sondern sie hat ihre eigene hermeneutische Situation. Gemeint ist, dass sich das Verstehen nur in den bereits eröffneten Möglichkeiten halten kann. Hören mit dem inneren Ohr heißt also nach Sinnschichten zu lauschen, die im Sprechen unausdrücklich mitschwingen, ohne, dass diese dem Sprecher bewusst sind. Nun ist das Hinhören aber dadurch erschwert, dass auch das Verstehen desjenigen, der mit seinem inneren Ohr bei der Sache ist, notwendigerweise situiert ist. Das Hinhören wird durch die dem Menschen eigene Fähigkeit der Abstandnahme vom Gegenwärtigen möglich. Nach Gadamer ist es die Grundaufgabe des Menschen, die Fähigkeit der Abstandnahme zu entwickeln und Hörender zu werden, »wir müssen lernen zu hören, auf dem einen oder anderen Wege, und stets gegen die Ichbefangenheit anzugehen, in die Eigenwille und Geltungsdrang jeglichen geistigen Antrieb einzufangen streben.« 15
Hans-Georg Gadamer (1999[1985]), Grenzen der Sprache. In: Gesammelte Werke. Bd. 8. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 350–361, hier S. 351. 14 Gadamer (1999[1970]), Sprache und Verstehen, S. 142 (wie in Anm. 2). 15 Hans-Georg Gadamer (1999[1986]), Von Lehrenden und Lernenden. In: Gesammelte Werke. Bd. 10. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 331–335, hier S. 331. 13
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Was heißt es für die Lehrerbildung, das Hören in seiner ästhetischen Qualität zu begreifen? Die ästhetische Qualität des Hörens ist die Voraussetzung für eine Lehrerbildung, die den Anspruch hat, kritisch zu sein. Ein kritischer Standpunkt existiert nicht an sich und ohne weiteres. Erst die ästhetische Vernunft verschiebt unseren Blickpunkt, von dem aus wir sehen können, so dass wir von einem neuen Standort anders sehen, und damit auch sehen können, wie wir zuvor gesehen haben und was für uns unsichtbar war. Auf diese Weise führt die ästhetische Vernunft zur kritischen Haltung. Es eröffnen sich Möglichkeiten, die Welt und sich selbst immer besser zu verstehen, letztlich Unterricht und Schule zu verwandeln und zu verändern.
c)
Wie wird eine Transformation gewohnter Sichtweisen möglich?
Unsere Situiertheit ist Produkt einer Überlieferung, die unsere Vormeinungen, Kategorien und Unterscheidungen figuriert, die unseren klaren Blick auf die Sache verstellt. Gadamer geht es zentral um das Anerkennen der »wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« 16 . In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selbst verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des Einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins. 17
Doch die tradierten Meinungen sind nicht nur hinderlich. Sie sind unverzichtbar, damit der Verstehensvorgang überhaupt in Gang kommen kann. Um Klarheit gewinnen zu können, müssen wir zum einen das Eingebettetsein des Menschen in die Tradition anerkennen, zum anderen »muss das Selbstverständliche der Tradition gebrochen werden.« 18 Der Weg zur eigenen Klärung führt über die Verfremdung des Tradierten. Das Tradierte wird in hermeneutischer Manier als etwas Geschichtliches verstanden. Das Tradierte lässt sich ver16 17 18
Gadamer (1999[1960]), Wahrheit und Methode, S. 274 (wie in Anm. 1). Gadamer (1999[1960]), Wahrheit und Methode, S. 281 (wie in Anm. 1). Günter Figal (1996), Der Sinn des Verstehens. Stuttgart: Reclam, S. 23.
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fremden, wenn es nicht als ungebundene Selbstverständlichkeit erscheint, sondern als Produkt einer früheren Zeit. Die Historisierung, die Anerkennung der Geschichtlichkeit dessen, was uns selbstverständlich ist, ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir Distanz zum Selbstverständlichen gewinnen. Durch diese Distanzierung kann ein Gespräch mit der Situation in Gang kommen. Das zuvor im Selbstverständlichen Aufgegangene und nicht als geworden Konturierte der Situation lässt sich neu entdecken. Besser gesagt, die Situation stellt sich neu dar. Dieses Geschehen bezeichnet Gadamer als Wirkungsgeschichte der Situation. Welche Bedeutung hat die Verfremdung des Tradierten für die Lehrerbildung? In dem Hinterfragen der Wirkungsgeschichte kommt es zu einem Aussetzen von Musterapplikationen, zu einem Aushalten der Schwebe und zu einem Transformieren vertrauter Schemata 19 . Und im Zuge dieses Erfahrungsprozesses findet Bildung statt. Waldenfels beschreibt die Bildung ermöglichende Erfahrung als Doppelereignis aus Pathos und Response. In der Umwandlung dessen, wovon ich getroffen bin, in das, worauf ich antworte, entsteht ein Zwischenbereich. In diesem Zwischenbereich vollzieht sich Bildung im Sinne einer ästhetischen Selbstbildung 20 . Waldenfels’ Theorie der Fremderfahrung und des Fremdanspruchs ist die Grundlage für Kokemohrs »Auffassung von Bildung als Transformationsprozess, in dem das Welt- und Selbstverhältnis eines Menschen mit neuartigen Problemlagen eine weitreichende Veränderung erfährt« 21 . Insofern begreift Kokemohr Bildung als einen »Prozess, der durch einen fremden Anspruch herausgefordert wird« 22 . In diesem Prozess wird die lebensgeschichtlich aufgebaute Ordnung fraglich und es besteht die Möglichkeit des Entwurfs neuer Ordnungsfiguren 23 . Werner Kogge (2009), »Gibt es Techniken des Verstehens?« In: Verstehen. Hrsg. v. Boike Rehbein und Gernot Saalmann. Konstanz: UVK, S. 117–132, hier S. 129. 20 Andrea Sabisch (2009), Aufzeichnung und Ästhetische Erfahrung. Hamburg: Hamburg University Press, S. 71. 21 Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki und Olaf Sanders [Hrsg.] (2007), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript, S. 7. 22 Rainer Kokemohr (2007), »Bildung als Selbst- und Weltentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie«. In: Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Hrsg. v. Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki und Olaf Sanders. Bielefeld: transcript, S. 13–68, hier S. 14 23 Kokemohr (2007), »Bildung als Selbst- und Weltentwurf«, S. 16 (wie in Anm. 22). 19
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III. Pädagogische, ethische, politische Implikationen transformativer Lehrerbildung Über eine Lehrerbildung, die das Gespräch im eigentlichen Sinne kultiviert, kann der »brachliegende Kern« der Lehrerbildung, der bislang vorwiegend im Impliziten liegt und kaum explizit gemacht wird, aufgehen. Durch die Freilegung des brachliegenden Kerns gelangt das ureigene der Lehrerbildung zu Bewusstsein, so dass sich ihr Selbstverständnis wandelt und die besondere Eigenart der Profession zum Ausdruck kommen kann. Indem Lehrerbildung ihren eigenen Wert durch ihr eigensinniges Können zur Darstellung bringt, kann sie sich als eigenständige Disziplin ausbilden. Die eigensinnige Fähigkeit im Sinne einer Könnerschaft 24 ist ein Können im Sinne eines Vermögens, im Unterschied zu einem Können als eines Ergreifens bloßer Möglichkeiten. Das Wissen, um das es im lebendigen Gespräch geht, ist ein Erfahrungswissen. Erfahrungsgesättigt ist derjenige, der sich mit einer Sache auskennt, der geschickt in etwas ist, der sich auf diese Sache versteht. Sich auf lebendige Gesprächserfahrungen zu verstehen, heißt, ein Händchen dafür zu haben, im lebendigen Gespräch in ein bewegendes Denken zu geraten. Wie lässt sich das bewegende Denken im bildsam wirkenden Gespräch nun einüben? Da das Gespräch die Struktur der Erfahrung aufweist, ist es ratsam, ein Einüben des Gesprächs als Erfahrungsschulung zu begreifen. Kogge 25 geht davon aus, dass das Verstehen in gleicher Weise erlernt werden kann wie die Menschenkenntnis, ein analoger Fall, über den Wittgenstein nachgedacht hat: Kann man Menschenkenntnis lernen? Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ›Erfahrung‹. – Kann ein anderer dabei sein Lehrer sein? Gewiss. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. – So schaut hier das ›Lernen‹ und das ›Lehren‹ aus. – Was man erlernt, ist keine Technik; man lernt richtige Urteile. Es gibt auch Regeln, aber sie bilden kein System, und nur der Erfahrene kann sie richtig anwenden. Unähnlich den Rechenregeln. 26
Gerd B. Achenbach (2010[2005]), »Gesprächskönnerschaft«. In: Zur Einführung der Philosophischen Praxis. Vorträge, Aufsätze, Gespräche und Essay mit denen sich die Philosophische Praxis in den Jahren 1981–2009 vorstellte. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Gerd B. Achenbach. Köln: Dinter, S. 115–128. 25 Kogge (2009), »Techniken des Verstehens« (wie in Anm. 19). 26 Ludwig Wittgenstein (1993[1953]), Philosophische Untersuchungen. In: Werkaus24
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Die Einübung des Gesprächs muss ganz praktisch geschehen. Dazu ist es wesentlich, dass Situationen gestaltet oder ergriffen werden, in denen die Gesprächspartner mit ihrer ganzen Person involviert sind. Denn Verstehen meint nicht eine kognitive Weise von Erkenntnis, sondern die Seinsweise, die den gesamten Vollzugssinn menschlichen Seins bezeichnet 27 . In dieser Übung wird dann erfahrbar, dass im Zuge eines echten Gespräches, des ständigen Hineinfragens in neue Horizonte, die Horizonte beider Gesprächspartner mitwandern 28 , so dass beide Gesprächspartner verändert aus dem Gespräch hervorgehen. Lehrerbildung als lebendiges Gespräch hat pädagogische, ethische und sogar politische Implikationen. Pädagogische Implikationen: Die Lehrtätigkeit konfrontiert uns auch noch nach langen Berufsjahren mit Unsicherheiten oder Irritationen. Doch allein die Dauer unserer Tätigkeit führt nicht automatisch dazu, dass wir uns reflektiert mit der Situation auseinandersetzen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass wir Situationen, in denen sich Unwohlsein einstellt, entweder meiden oder dass wir sie uns dadurch aneignen, dass wir sie unter eine erkannte Ordnung subsummieren. In pädagogischer Hinsicht ist die Orientierung des Lehrerhandelns an der Hermeneutik der Garant dafür, dass das Handeln der Lehrperson situativ angemessen ist und von ihr immer wieder neu verantwortet wird. Statt aus Routine zu handeln, übt sich die Lehrperson darin, in einer Situation präsent zu sein, einer Situation aus ihrem Gewahrsein heraus zu begegnen. Das Geschehen wird situativ und persönlich beantwortet, statt automatisch abgehandelt. Eine in dieser Weise mündige, emanzipierte, kritische und integre Lehrerpersönlichkeit ist Vorbild ihrer SchülerInnen. Eine Lehrperson, die ihre eigene Situation hermeneutisch befragt, nimmt sich gerade nicht aus der Situation heraus, sondern bleibt nahbar. Kogge weist auf die Vertiefung und Verstärkung der Involviertheit der Lehrperson hin, die spurenlesend tätig ist: Das forschende, spurenlesende Subjekt schält sich mit wachsender Könnerschaft und wachsender Beherrschung seiner Materie nicht etwa aus ihr hegabe. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 575; zitiert nach Kogge (2009), »Techniken des Verstehens«, S. 129 (wie in Anm. 19). 27 Hans-Helmuth Gander (2002), »Die Wahrheit des Verstehens«. In: Interpretationen der Wahrheit. Hrsg. v. Günther Figal. Tübingen: Attempto, S. 63. 28 Hans-Georg Gadamer (2000), »Geleitwort von Hans-Georg Gadamer«. In: Strukturale Psychoanalyse. Hrsg. v. Hermann Lang. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 7 f., hier S. 8.
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raus, bringt sich nicht in eine Position des Gegenübers, des äußeren Beobachters, vielmehr verwebt er seine Virtuosität immer fester und immer effektiver mit ihr. Anders gesagt: Die Wissensgenerierung im Forschen entsteht nicht in einer Verringerung oder Überwindung von Involviertheit, sondern in deren Vertiefung und Verstärkung. 29
Indem die Lehrperson andere im Denken schult, versteht der Schüler nicht nur etwas über die Sache. Er nimmt auch Einblick in die Menschlichkeit unserer Existenz und versteht, was andere ihm – und er anderen – im Werden bedeuten können. Da man von denen lernt, die von einem lernen 30 , ist das Üben der freien Urteilskraft und das Wecken dieser in anderen ein zutiefst politisches Tun. Denn »meine eigene Urteilsfähigkeit (findet) immer an dem Urteil des Anderen und seiner Urteilsfähigkeit ihre Grenze (…) und (wird) von ihm bereichert. Das ist die Seele der Hermeneutik.« 31 Ethische Implikationen: Das wahre und das richtige Handeln kann in hermeneutischer Manier nicht ein für alle Mal gefunden und festgeschrieben werden, sondern muss in der Anstrengung der lebendigen Denk- und Sprachbewegungen allererst und immer wieder neu gefunden werden. Die Bereitschaft zu haben, diese permanenten Bemühungen stets von neuem auf sich zu nehmen, wird dann wahrscheinlich, wenn LehrerInnen schon in der Ausbildung hermeneutische Grunderfahrungen machen können. Damit meine ich, die Erfahrung zu machen, dass es sich lohnt, die lebendige Denkbewegung immer wieder anzustreben. Indem die LehrerInnen in der Ausbildung möglichst früh in lebendige Gespräche verwickelt werden, können sie die Erfahrung machen, dass dem Gespräch selbst ein Wahrheitsmoment zukommt, der lebensorientierend und sinnstiftend ist. Sie erleben die hermeneutische Kraft, die dem Gespräch selbst innewohnt 32 . Und sie erleben, dass sie über die lebendige Denkbewegung jemandem oder etwas gerecht werden und ihr Tun somit verantworten können. Werner Kogge (2007), »Spurenlesen als epistemologischer Grundbegriff: Das Beispiel der Molekularbiologie«. In: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Hrsg. v. Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grub. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 182–221, hier S. 193. 30 Gadamer (1999[1986]), Von Lehrenden und Lernenden, S. 331 (wie in Anm. 15). 31 Gadamer (1999[1986]), Von Lehrenden und Lernenden, S. 331 (wie in Anm. 15). 32 Hans-Martin Schönherr-Mann (2004), »Hermeneutik als Antwort auf die Krise der Ethik«. In: Hermeneutik als Ethik. Hrsg. v. Hans-Martin Schönherr-Mann. München: Fink, S. 19. 29
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Jemandem gerecht zu werden, meint, dass wir in richtiger oder rechter, gerechter Weise auf etwas antworten, Antwort geben. Und noch kleiner steckt in Antwort das Ant-Wort, das Gegenwort. Wir entgegnen etwas im Gespräch. Worauf ist das, was wir antworten, gerichtet? Es ist auf den Umgang und die Unvorhersehbarkeit dessen gerichtet, was sich im Gespräch ereignet, sowie auf die Singularität und Unverfügbarkeit der Sache und des anderen Menschen. Im Gespräch zu handeln heißt, in einer Situation handeln zu müssen, in der es keine Programme für das Handeln gibt, so dass man auf seinen Takt verwiesen ist, dem daher das Merkmal der Aporie zukommt. Takt ist nicht intentional verfügbar, lässt sich nicht planen, sondern bedarf einer unvorhersehbaren Situation, an der er sich zeigen kann. Takt bezeichnet einen adäquaten, d. h. rechten bzw. gerechten Umgang mit demjenigen, mit dem ich im Gespräch bin, ohne dass diese Adäquatheit fixiert werden könnte 33 . Es ist die Gesprächssituation selbst, die den Beteiligten diese ethische Verantwortung abverlangt. Gadamer 34 spricht davon, dass sich im verständigen Gespräch die ethische Dimension figuriert. Sittliches Wissen ist kein Wissen, das man hat und bloß anwendet. Das sittliche Wissen ist von eigener Art. Es hilft uns, eine Situation als Situation des Handelns sehen zu lernen – im Lichte dessen, was Recht ist. Diese sittliche Vernünftigkeit und Besonnenheit, die es uns möglich macht, unser Leben zu führen, wird in der Aristotelischen Ethik als Phronesis bezeichnet. 35 Politische Implikationen: In politischer Hinsicht ist die hermeneutische Lehrerbildung relevant, da der Anspruch des Fremden als Herausforderung angenommen wird, statt ihn zu ignorieren oder kurzerhand in die eigene Weltordnung einzupassen. Das Fremde ist für das Selbst- und Weltverständnis des einzelnen Menschen wesentlich: Es öffnet sich uns die Möglichkeit, über unsere Konventionen hinauszugelangen, indem wir uns im Gespräch mit anderen, Andersdenkenden neuer Jörg Zirfas (2012), »Pädagogischer Takt. Zehn Thesen«. In: Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie. Hrsg. v. Günter Gödde und Jörg Zirfas. Bielefeld: transcript, S. 165–188, hier S. 180 f. Der Begriff »Pädagogischer Takt« geht auf Friedrich Herbart zurück: Johann Friedrich Herbart (19822 [1802]), Die ersten Vorlesungen über Pädagogik. In: Kleinere pädagogische Schriften. Hrsg. v. Walter Asmus. Stuttgart: Klett Cotta, S. 121–131. 34 Gadamer (1999[1960]), Wahrheit und Methode, S. 327 (wie in Anm. 1). 35 Hans-Georg Gadamer (1999[1990]), Heidegger und die Sprache. In: Gesammelte Werke. Bd. 10. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 14–30, hier S. 18. 33
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Transformative Lehrerbildung
kritischer Bewährung und neuen Erfahrungen stellen. Im Grunde geht es in unserer Welt noch immer um das gleiche, um das es von Anbeginn an gegangen ist: die sprachliche Einformung in Konventionen, in gesellschaftliche Normen, hinter denen stets auch wirtschaftliche und Herrschaftsinteressen stehen. Aber eben das ist unsere Erfahrungswelt, in der wir auf unsere Urteilskraft angewiesen sind, das heißt aber, auf unsere Möglichkeit uns jeder Konvention gegenüber kritisch zu verhalten. 36
Was es konkret heißt, dem Anspruch des Fremden gerecht zu werden, lässt sich nicht pauschal sagen, vielmehr ist das von Situation zu Situation unterschiedlich, in der der Anspruch des Fremden sich zeigt. Diese Auseinandersetzung mit Fremden kann nicht verordnet werden; aber es können Möglichkeitsräume für den kreativen Dialog geschaffen werden, um die Auseinandersetzung mit Fremdem möglichst wahrscheinlich zu machen. Damit könnte das lebendige Gespräch gegen den gesellschaftlich-politischen Mangel an Gesprächsbereitschaft, die zunehmende Monologisierung, Selbstentfremdung und Vereinsamung positioniert werden – und das in einer zentralen Institution unserer Gesellschaft: der Schule. So könnte das lebendige Gespräch zwischen LehrerInnen und SchülerInnen wieder zu einem Urbild der Gesprächserfahrung werden, wie sie auch gesamtgesellschaftlich wünschenswert wäre. Der Lehrerbildung käme auf diese Weise eine Vorreiter- und Vorbildfunktion für die notwendige Revitalisierung des Gesprächslebens in der weiteren sozialen Praxis zu. Das Verständnis von Lehrerbildung als hermeneutischer Praxis ist auch deswegen politisch relevant, da ihr zufolge Unsicherheit und Scheitern wieder gespürt und artikuliert werden dürfen. In einer zweckrational optimierten Welt, in der alles ganz sicher und perfekt ist, wird der Mensch auf ein automatisches Funktionieren reduziert und dadurch unfrei. Durch die große Bedeutung, die der Unterbrechung und Störung in einem lebendigen Gespräch zukommt, bricht eine hermeneutische Lehrerbildung mit dem Leitbild des vermeintlich souveränen, selbstbestimmten und sich seiner selbst gewissen Subjekts der Moderne und mit dem Bildungsbegriff der Aufklärung, dem Verständnis eines auf Autonomie und Selbstreferenz hin angelegten Subjekts. Das Autonomie-Ideal und die damit verbundene subjektzentrierte Vernunft ist durch die Philosophie seit Beginn des 20. Jahrhunderts problematisiert worden. Dies führt u. a. dazu, dass Hans-Georg Gadamer (1999[1970]), Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?. In: Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübingen: Mohr Siebeck S. 199–206, hier S. 204.
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Mirka Dickel
die Menschen ihre eigene Geschichtlichkeit, ihr Eingebundensein in die Tradition vergessen, Heidegger spricht hier von »Seinsvergessenheit«, Gadamer von »Sprachvergessenheit«. In der Moderne führen die praktizierten »Selbsttechnologien« zur Verdinglichung und Selbstrepression. Der Andere wird als ein zu beeinflussendes Objekt gesehen. In modernen pädagogischen Kontexten werden im Wesentlichen die Machttechnologien und Disziplinierungsstrategien ausgebildet, die für diese Subjektformierung notwendig sind. 37 Lehrerbildung hermeneutisch zu perspektivieren, ermöglicht eine Veränderung dieser formierenden Kräfte der Subjektivierung. An die Stelle des Ich-Ideals der Moderne, dem selbstständigen, dynamischen und kompetenten Subjekt tritt der berührbare, achtsame und verletzliche Mensch, ein Mensch, der sich darüber bewusst ist, dass er sich als soziales Wesen immer nur in Beziehung mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen entwickelt und seine Humanität und Persönlichkeit entfaltet. Damit geht auch die Haltung einer Bescheidenheit einher. Denn er ist sich bewusst, dass Vorurteil und Tradition immer schon sein Urteil und seine Neuerungsversuche figurieren.
Susanne Weber und Susanne Maurer (2006), »Die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden. Gouvernementalität als Perspektive für die Erziehungswissenschaft«. In: Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen – Macht – Transformation. Hrsg. v. Susanne Weber und Susanne Maurer. Wiesbaden: VS, S. 9–36.
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Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
Danksagung
Dieser Band wäre nicht entstanden, hätte nicht Johannes Hachmöller, bis dahin Lehrer und Fachleiter für Philosophie, im Jahr 2000 (also mit 59 Jahren!) an der Universität in Jena sein erstes Seminar gehalten. Durch diese Veranstaltung mit dem Titel: »Einführung in die Philosophie der Vorsokratiker« hat er seine Studenten neugierig auf eine Sache gemacht, die vorher alles andere als spannend zu sein schien. Er hat in ihnen den philosophischen ›Jagdtrieb‹ geweckt. Mehr noch: Er hat ihnen das Gefühl gegeben, selbst Philosophen zu sein; die Seminarteilnehmer, zu denen auch Mario Ziegler gehörte, fühlten sich (das muss man heute rückblickend mit einem Schmunzeln so sagen) wie die allerersten Philosophen auf dem Planeten Erde – und so diskutierten sie auch miteinander. Man war innerlich in Bewegung gekommen. Das, was aus diesem ersten Fachdidaktik-Seminar geblieben ist, war vor allem die Begeisterung, die dann entsteht, wenn man selbst eine Entdeckung macht – in diesem Fall mit Blick auf die Naturphilosophie der Vorsokratiker. Wie außergewöhnlich eine solche Lernerfahrung im heutigen Hochschulbetrieb ist, können vielleicht nur diejenigen richtig einschätzen, die diesen Lehr-Betrieb kennen. Für die anderen sei gesagt: Es macht einen großen Unterschied in der Philosophie und auch überall sonst, wo es etwas zu verstehen gibt, ob man selbst beim Streifzug durchs Unterholz ins Suchen kommt, oder ob einem die bereits weiterverarbeitete Beute anderer ›Jäger‹ vorgesetzt wird – womöglich von Leuten, bei denen der Erkenntnistrieb schon eingeschlafen ist. Wenn Letzteres der Fall ist, besteht die Gefahr, dass man nicht versteht, was die Menschen damals wirklich bewegt hat, sich überhaupt auf den beschwerlichen Weg zu machen. Dann steht zu befürchten, dass sich für die Teilnehmer am Ende die Sinnhaftigkeit der ganzen Veranstaltung nicht erschließt, ja vielleicht sogar bloß gesehen wird als gediegener Zeitvertreib blasser Adelsgesellschaften – ein kulturhistorisches Relikt vergangener Tage. 207 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
Johannes Hachmöller ist sich stets sehr bewusst gewesen, dass es sich nicht lohnt, jemanden zum Jagen zu tragen – zumindest dann nicht, wenn er oder sie selbst keine Ambitionen hat und die Leidenschaft fehlt, die sich erst entwickeln kann, wenn man wenigstens einmal das eigentümliche Vergnügen empfunden hat, auf die philosophische Pirsch zu gehen, kurz: Man muss erfahren haben, wie viel Freude es machen kann, sich selbst – oder noch besser gemeinsam als Gruppe – gedanklich ins Zeug zu legen. Wenn der daraus resultierende Antrieb zu einer inhaltlichen Vertiefung ausbleibt, dann hat auch die Entwicklung und Ausbildung der entsprechenden (philosophischen) Fähigkeiten keinen Zweck. Fichte hat sich einmal über seine akademischen Lehrer folgendermaßen beschwert: Die Lehrer »haben mir geantwortet«, so Fichte, noch »bevor ich überhaupt die Fragen aufgeworfen habe. Und ich hörte zu, weil ich es nicht vermeiden konnte.« – So etwas gab es bei Johannes Hachmöller wirklich niemals. Eine kleine Anekdote kann vielleicht ansatzweise verdeutlichen, mit was für einem Menschen wir es hier zu tun haben. Auf dem Rückweg von einer Blockveranstaltung stand Johannes (wir dürfen ihn hier »duzen«) mit seinem vergleichsweisen ausladenden Auto vor der Aufgabe (in dem er einige Studenten mitnahm), im platzarmen Jena eine Parkmöglichkeit zu finden. Wir hatten alle Straßenecken schon drei Mal abgefahren, als endlich eine Lücke auftauchte, die den Straßenkreuzer beherbergen konnte. Dummerweise handelte es sich dabei um den Eingang zum Kinderspielplatz, wo ein abgesenkter Bordstein jungen Eltern mit Kinderwagen das Leben leichter macht. Aufgrund der späten Stunde und der damit verbundenen Dunkelheit registrierte Johannes dies nicht; er war bloß froh, das Auto untergebracht zu haben. – Am nächsten Morgen war man schon früh vertieft in Gespräche, in denen das Wochenende nachhallte. Vor allem wurde die Unterscheidung von Innen- und Außenwelt traktiert, die laut Johannes zu entsetzlich vielen Scheinproblemen in der Philosophie geführt habe. Man befand sich also auf dem Weg von der Unterkunft in die Stadt und kam dabei wieder an der Stelle vorbei, an der wir am Abend zuvor das Auto abgestellt hatten. Inzwischen wurde munter darüber diskutiert, ob und wie wir uns denn überhaupt sicher sein können, dass wir alle wirklich dasselbe wahrnehmen. Johannes fiel in seinem Sichtfeld gar nicht auf, dass dort, wo gestern noch der silbergraue Wagen gestanden hatte, heute nur blanker Asphalt zu sehen war. Wir Studenten bemerkten dies 208 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Danksagung
jedoch schnell und machten Johannes auf die fehlende Formation in unserer Wahrnehmung aufmerksam. Diesen allerdings schien das aber immer noch nicht sonderlich zu irritieren; er erzählte einfach weiter. Erkenntnistheorie schien in dem Moment wichtiger zu sein als die Tatsache, dass sein Auto nicht mehr ›wahrzunehmen‹ bzw. praktisch nicht mehr ›da‹ war. Doch dann zog etwas anderes spontan unsere Aufmerksamkeit auf sich: Just dort, wo vorher das Auto geparkt hatte, lag nun eine einzelne blaue Socke. Johannes stellte lakonisch fest, dass dieses vereinsamte Kleidungsstück zu seiner Garderobe gehörte. Wir hoben die Komik der Situation hervor: »Dein Straßenkreuzer ist weg, aber immerhin die Socke ist noch da.« Er sagte dann (überzeugend): »Seht ihr, wir können übereinstimmend etwas in Augenschein nehmen und sind auch in der Lage, uns mit Worten darüber auszutauschen, was genau uns jeweils auffällt. Die blaue Socke ist für uns da, weil wir sie sehen können!« – »Soll das heißen, dein Mercedes ist jetzt nicht mehr da, weil wir ihn gegenwärtig nicht mehr sehen können?!« Darauf Johannes ganz lakonisch: »Das ist eine Frage, die dazu geführt hat, dass Philosophen über Jahrhunderte hinweg über nichts anderes als die Bedeutung des metaphysischen Begriffs der Substanz diskutierten. Und diese Diskussion hat offenkundig zu Nichts geführt.« – »Johannes, Du bist ja ein naiver Realist! Sollte man als Philosoph denn nicht schlauer sein als der Durchschnittsmensch mit seinem gesunden Menschenverstand? Der darf ruhig unbekümmert auf die Richtigkeit seiner Wahrnehmung vertrauen; aber ein Philosoph muss die Dinge doch hinterfragen und hinter ihre Fassade schauen!« Währenddessen bewegte sich die Gruppe weiter in Richtung Innenstadt, Johannes schüttelte nur noch den Kopf und murmelte leise vor sich hin. Man ließ es sich nicht nehmen, ihn noch ein bisschen weiter zu provozieren und so die nächste Runde im erkenntnistheoretischen Boxkampf einzuläuten. Während wir uns noch darüber stritten, ob Johannes ein naiver Realist sei (was er felsenfest behauptete) und ob das heutzutage überhaupt noch eine philosophisch vertretbare Position sei, waren wir bereits irgendwann doch am Jenaer Institut für Philosophie angekommen. Johannes’ Ärger über unsere Quacksalberei war nun kurz vorm Überkochen. Kurzzeitig beschäftigte uns noch die Frage, wo wir eigentlich hatten hingehen wollen. Uns schien es nämlich so, als ob wir ursprünglich ein anderes Ziel gehabt hätten. Und was war eigentlich mit dem gestohlenen oder abgeschleppten Wagen? Johannes er209 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Daniel Löffelmann und Mario Ziegler
klärte entschlossen, das sei jetzt völlig egal, denn wir müssten jetzt nochmal neu beginnen und den Gedanken ganz von vorne entwickeln. Johannes ist uns stets ein guter Freund und der beste Lehrer, den man sich vorstellen kann. Dass Gedanken unsterblich seien, dass Wahrheit ewig währt, ist leider nicht wahr. Gedanken sind vielmehr die fragilsten Gebilde, die man sich vorstellen kann. Wenn sie von der einen an die andere Generation weitergegeben werden, dann in der Hoffnung, dass sie bewahrt und weiterentwickelt werden. So bildete sich eine kleine Gruppe, die sich im besten Sinne an dir, Johannes, ein Vorbild nimmt. Diese Hoffnungsgemeinschaft ist unterdessen stetig gewachsen und hat sich sogar augenzwinkernd angemaßt, sich als Jenaer Schule der Didaktik einen Namen zu geben.
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Bibliographie der Schriften von Johannes Hachmöller
1971 Ekstatisches Dasein und Tao-Sprung. Alfred Döblins Romane »Die drei Sprünge des Wang-lun« und »Berlin Alexanderplatz« vor dem Hintergrund seiner Naturphilosophie. Diss. Würzburg. 1975 »Lebenstüchtigkeit mit dem Nürnberger Trichter. Über die Rationalität der didaktischen Universalformel S. B. Robinsohns.« Recht der Jugend und des Bildungswesens 23 (11), S. 333–340. 1977 Pawlows mißverstandener Hund. Ein Beitrag zur Lern- und Curriculumtheorie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. »Der verstörte Klavierschüler. Eine Aufforderung, in der »Sache mit den Lernzielen« auf W. S. Nicklis zu hören.« Vierteljahrsschrift f. wiss. Pädagogik 53 (2), S. 253–267. 1978 »Bemerkungen zu Nicklis/Wehrmeyer: Erziehungswissenschaftliche Forschungsmethoden (Teil 2)«. Vierteljahrsschrift f. wiss. Pädagogik 54 (1), S. 119–143. 1981 »Inwieweit sind die modernen Curriuculumtheorien auf den behavioristischen Lernbegriff begründet«. In: Lernzielpädagogik – Fortschritt oder Sackgasse? Gegen das Monopol eines Didaktikkonzepts. Hrsg. v. Baldur Kozdon. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 23–32. 1996 »Archaische Totalität, Aufklärung und moderner Fundamentalismus«. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 18 (1), S. 51–60. Weltgegenwart und Lebensunruhe. Leibnizianische Studien. Stuttgart: Neske. 2006 »Das Pygmalion-Experiment Condillacs: ein Exempel für die neuere Didaktik«. In: Einheit in der Vielheit. Vorträge des VIII. internationalen Leibniz Kongresses. 1. Teil. Hrsg v. Herbert 211 https://doi.org/10.5771/9783495824153 .
Bibliographie der Schriften von Johannes Hachmöller
Breger, Jürgen Herbst und Sven Erdner, Hannover: GottfriedWilhelm-Leibniz Gesellschaft, S. 280–287. 2015 Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. Würzburg: Ergon 2016 »Das Pygmalion-Experiment Condillacs: ein Exempel für die neuere Didaktik«. Vierteljahrsschrift f. wiss. Pädagogik 92 (4), S. 600–615 [Überarbeitete Fassung].
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