Seelsorge im Strafvollzug: Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung 9783666621666, 3525621663, 9783525621660


120 74 14MB

German Pages [276] Year 1978

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Seelsorge im Strafvollzug: Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung
 9783666621666, 3525621663, 9783525621660

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Ellen Stubbe Seelsorge im Strafvollzug

Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick

B A N D 15

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N

Seelsorge im Strafvollzug Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung

Von ELLEN

VANDENHOECK IN

STUBBE

&

RUPRECHT

GÖTTINGEN

Denn er schaut von seiner heiligen Höhe, der Herr sieht vom Himmel auf die Erde, daß er das Seufzen der Gefangenen höre und losmache die Kinder des Todes. Psalm 102, 20f.

MEINEN ELTERN

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Stubbe, Ellen: Seelsorge im Strafvollzug : histor., psychoanalyt. u. theol. Ansätze zu e. Theoriebildung. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1978. (Arbeiten zur Pastoraltheologie ; Bd. 15) ISBN 3-525-62166-3

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1978 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Geleitwort Die Veröffentlichung der Arbeit: „Seelsorge im Strafvollzug. Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze zu einer Theoriebildung" von Ellen Stubbe will der theologischen Arbeit an den gestellten Problemen in Theorie und Praxis dienen, ihre vorläufigen Ergebnisse zur Diskussion stellen und damit auch der Reform von Justiz und Strafvollzug zuarbeiten. D. Fischer

D. Frick

5

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1976/77 unter dem Arbeitstitel „Identifikation — Projektion. Ansätze zu einer theologischen und humanwissenschaftlichen Theoriebildung der Seelsorge im Strafvollzug" von dem Theologischen Fachbereich der Christian-Albrechts-Universität Kiel als Dissertation angenommen. Von einigen Kürzungen und Veränderungen abgesehen, wurde die ursprüngliche Konzeption für die Drucklegung beibehalten. Das Vorhaben dieser Arbeit wäre der Verfasserin nicht so eindeutig sinnvoll erschienen ohne die zahlreichen Denkanstöße, die sich aus der praktischen Arbeit im Strafvollzug ergeben haben. Auch ohne eine Begegnung mit der psychoanalytisch orientierten Pastoralpsychologie wäre die Arbeit in dieser Form nicht denkbar gewesen. Zu besonderem Dank fühle ich mich in diesem Zusammenhang Herrn Prof. Dr. J . Scharfenberg verpflichtet, der den Werdegang der Arbeit mit zahlreichen Ratschlägen und Hinweisen begleitete und förderte. Ebenfalls danke ich Herrn Prof. Dr. H. Kraft für hilfreiche Gespräche über den historischen Teil und Herrn Prof. Dr. H.-J. Birkner für Ratschläge und Ermutigung während der gesamten Arbeitszeit. Zu danken ist auch den Herausgebern für die Aufnahme dieser Abhandlung in die „Arbeiten zur Pastoraltheologie" sowie der Nordelbischen Kirche und der Christian-Albrechts-Universitat Kiel für die Gewährung von Druckbeihilfen. Schließlich möchte ich den Freunden in St. Leon-Rot und in Kiel danken, die mir durch ihre Unterstützung, ihr Mitdenken und Hilfe bei den Schreibarbeiten den Abschluß der Arbeit erleichtert haben. Kiel, im Juli 1978

6

Ellen Stubbe

Inhalt Geleitwort von Martin Fischer und Robert Frick

5

Einführung

1.

Der Umbruch in der humanwissenschaftlichen durch die Psychoanalyse

H

Kriminologie 17

1.1. Der Straftäter und das Unbewußte 1.1.1. Kriminologische Ansätze im Werk S. Freuds 1.1.2. Die praktische Umsetzung psychoanalytischer Erkenntnisse durch A. Aichhorn 1.1.3. Das Delikt ab Symbol und das Problem der Ich-Beteiligung 1.1.4. Frühkindliche Sozialisation und Kriminalität 1.2. Die Psychologie der „strafenden Gesellschaft" 1.2.0. Vorbemerkung 1.2.1. Das Korrelationsverhältnis von Gesellschaft und Kriminellen 1.2.2. Die Affinität zwischen Verbrechern und Verfolgern 1.2.3. Das Abhängigkeitsgefüge zwischen Sozialen und Asozialen oder: die Rolle des Verbrechers in der Gesellschaft 1.2.4. Vom Sinn der Strafe 1.2.5. Die „strafende Gesellschaft" 1.2.6. Der Sündenbockprojektionsmechanismus 1.2.7. Projektion

48 49 54 57 62

2.

Ansätze zur Überwindung der Sündenbockprojektion

67

2.0. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.2.

Vorbemerkung Das Unbehagen am traditionellen Schuldverständnis Gefahren des traditionellen Schuldverständnisses Versuche sinnvollen Redens von Schuld Die „neue E t h i k " (E. Neumann) als Grundvoraussetzung einer Uberwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus Vorbemerkung Verdrängung und Unterdrückung durch die „alte E t h i k " Die Integration des „Schattens" in der „neuen E t h i k " Stellvertretendes Leiden und Identifikation in der „neuen E t h i k " . . . Die religiöse Dimension des Schuldproblems nach P. Ricoeur „Archäologie" und „Teleologie" — die zwei Hermeneutiken Die Dekonstruktion des Begriffs „Erbsünde" Die Entmythisierung der Anklage Die Integration des Strafmythos Der kerygmatische Kern der Ethik Die Überwindung des „Bösen" bei E. Neumann und P. Ricoeur: Modelle der Identifikation

67 68 68 74

2.2.0. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.4.

17 17 26 29 35 39 39 40 45

78 78 79 80 81 82 82 83 86 89 93 95

7

2.5. 2.6. 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.6.4. 2.6.5. 2.6.6. 2.6.7.

Die Identifikation 99 Die Praxis der Identifikation im Kerygma 103 Gefangenschaft im Neuen Testament 103 Nächstenliebe und Feindesliebe 105 Die „geringsten Brüder" Jesu 107 Vergebung und Vergebungsbedürftigkeit 108 Das Soma-Bild als Symbol für die Integration der Nicht-Integrierten. . 109 Drei neutestamentliche Resozialisierungsberichte 110 Identifikation und Projektion als Kriterien der Gefangenenseelsorge . . 114

3.

Entwicklungsstufen der Identifikation in den Anfängen der Gefangenenseelsorge in der Alten Kirche

3.0. 3.1.

Vorbemerkung Die institutionelle Verwirklichung von Projektion im antiken Strafrecht Das Ringen zwischen Identifikation und Projektion in der frühen Christenheit Die Erschließung des Identifikationsbereichs der Gefangenschaft in der Märtyrerseelsorge Die Christenverfolgungen als historischer Hintergrund und Anlaß . . . . Die Fürsorge für Glaubensgefangene Seelsorge und geistlicher Trost für Glaubensgefangene bei Tertullian. . Seelsorge und geistlicher Trost für Glaubensgefangene bei Cyprian . . . Die Erschließung des Identifikationsbereichs der Kriminalität bei Ambrosius Die Integration der beiden Identifikationsfronten der Kriminellen und der Gesellschaft im Dienst der Versöhnung und Heilung bei Augustin Absicherung, Gefährdung und innere Verfremdung der christlichen Identifikation mit Strafgefangenen durch ihre Institutionalisierung . . . Kirchliche und staatliche Bestimmungen zum Strafvollzug nach der konstantinischen Wende Das Asylprivileg der Kirche Die österliche Gnadenbezeigung (Indulgentia paschalis) Das bischöfliche Interzessionsrecht Zusammenfassung: Die Entwicklungsstufen der Gefangenenseelsorge in den ersten sechs Jahrhunderten: von der Unfreiheit zur Freiheit — von der Projektion zur Identifikation

3.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.4. 3.5.

3.6. 3.6.1. 3.6.2. 3.6.3. 3.6.4. 3.7.

4.

Identifikation und Projektion in Beispielen und Modellen zur Gefangenenseelsorge der Gegenwart

Zusammenfassung der Ergebnisse der ersten drei Kapitel: Grunderfordernisse der Gefangenenseelsorge aus theologischer und tiefenpsychologischer Sicht 4.2 Die „Gefangenendiakonie" Horst Fichtners als Beispiel für das Wirksamwerden von Projektion in der Gefangenenseelsorge der Gegenwart 4.2.0. Vorbemerkung

118 118 119 123 130 130 131 137 142 147

152 164 164 170 174 179

180

191

4.1.

8

191

192 192

4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.3.

4.3.0. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.4. 4.3.5. 4.3.6. 4.3.7. 4.4.

4.4.1. 4.4.2. 4.4.3. 4.4.4. 4.5. 4.5.1. 4.5.2. 4.5.3. 4.5.4. 4.5.5. 4.5.6. 4.5.7.

Das grundsätzliche Seelsorgeverständnis H. Fichtners Der theologische Hintergrund der „Gefangenendiakonie" Die Zielsetzung der „Gefangenendiakonie" Die Verhinderung von Identifikation in der „Gefangenendiakonie" H. Fichtners Die tiefenpsychologisch orientierten Entwürfe zur Gefangenenseelsorge von Martin Skambraks als Grundlage für die Verwirklichung von Identifikation Vorbemerkung Theologischer und tiefenpsychologischer Ausgangspunkt Kritik an Strafrecht und Strafvollzug Die Integration des eigenen „Schattens" in das Seelsorgekonzept und die Sichtweise der „zwei Patienten" Verständnis und Interpretation des Delikts als Symptom Die prospektive Sicht in der Gefangenenseelsorge bei M. Skambraks . . Aufgabe, Methodik und die besondere Situation der Gefängnisseelsorge Die Gewährleistung von Identifikation in dem Konzept der Gefangenenseelsorge von M. Skambraks Perspektiven für die Zukunft der Behandlung von Rechtsbrechern, die sich in zeichensetzender Weise in die Seelsorge integrieren lassen Zusammenfassung der Grundvoraussetzungen eines Wandels im Strafwesen Das Tsedeka-Modell — Vorschlag einer Alternative zum konventionellen Strafrecht Plädoyer für eine „Friedensordnung" Möglichkeiten einer zeichensetzenden Funktion der Gefangenenseelsorge Methodische Implikationen der Gefängnisseelsorge der Gegenwart . . . Die berufliche Identitätsfindung als wesentliche Voraussetzung der Identifikation mit dem Gefangenen Der „Schatten" der Berufsrolle des Gefängnisseelsorgers oder: der Kompromiß mit der Institution Die drei Identifikationsbereiche: Gefangenschaft, Kriminalität, Aussöhnung Typische Ubertragungsprobleme der Seelsorge im Strafvollzug Technische Überlegungen zum seelsorgerlichen Gespräch im Strafvollzug Das Problem der sprachlichen Kommunikation in der Unterschicht. . . Die Notwendigkeit von Spezialausbildungsmöglichkeiten für Gefängnisseelsorge

193 196 198 200

203 203 204 205 207 208 208 209 211

212 212 215 218 219 220 220 223 224 229 232 239 240

Literaturverzeichnis

242

Abkürzungsverzeichnis

250

Register

251

9

Einführung Was die Beurteilung von Kriminalität, den Umgang mit Rechtsbrechern und diesbezügliche Erwartungen an die Gesellschaft betrifft, so bahnt sich seit einigen Jahren ein mehr oder weniger deutlicher Umbruch an. Er erklärt sich wohl in erster Linie aus den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Kriminalitätsentstehung. Soziologische, empirischpsychologische und psychoanalytische Forschungen und Erkenntnisse führen zu einer neuen Sicht und Beurteilung der Kriminalität. Dieser Prozeß der Bewußtseinsänderung ist noch voll im Gang. Damit befindet sich auch die gegenwärtige Seelsorge im Strafvollzug in einer Umbruchsituation. Sie bedarf einer Neubesinnung auf ihre theoretischen Grundlagen wie ihre methodischen Voraussetzungen und Chancen. In der vorliegenden Abhandlung wird die Seelsorge im Strafvollzug als eine Modelleinrichtung der Kirche angesehen, an der exemplarisch das Verhältnis von Theorie und Praxis der Seelsorge entfaltet werden kann. Die Sondersituation dieses Spezialgebietes kann genutzt werden zum Zwecke der Ausbildung einer grundsätzlichen Theorie der Seelsorge. Die grundlegenden Veränderungen, die im Strafvollzug zu erwarten beziehungsweise zu erhoffen sind, gehen nicht von der Praxis des Strafvollzugs aus, sondern von besonderen theoretischen Konzeptionen, und zwar in Sonderheit durch die Einbeziehung unbewußter Mechanismen bei der Klärung der Einstellung zu Kriminellen. Deshalb wird die vorliegende Abhandlung, die sich um einen Beitrag zur theologischen und humanwissenschaftlichen Begründung der Praxis der Kirche im Strafvollzug bemüht, bei diesem Veränderungsprozeß einsetzen. Es wird der Versuch unternommen, zu formulieren, welches der spezifische Beitrag dieser theoretischen Diskussion zur Gestaltung der Praxis im Strafvollzug ist, und zu bestimmen, wo dieser Beitrag in die theologische Diskussion aufzunehmen ist. Wir gehen dabei in erster Linie von dem Beitrag der Psychoanalyse aus, der in gezielter und begründeter Weise auf die umfangreiche Wirkung unbewußter Mechanismen im Strafwesen hingewiesen hat. Mit einem solchen Dialog zwischen Seelsorge und Psychoanalyse betreten wir inzwischen kein ausgesprochenes Neuland mehr. In den letzten zwei Jahrzehnten haben Veränderungen im Verhältnis zwischen Seelsor-

11

ge und Psychotherapie stattgefunden, die sich mittlerweile in der allgemeinen Seelsorgeentwicklung niedergeschlagen haben. Die Neuorientierung von Theologie und Psychoanalyse in Richtung auf ein gegenseitiges Interesse aneinander ist zurückzuführen auf zunächst nur sehr vereinzelte Stimmen, vor allem die Paul Tillichs. „Über lange Jahrzehnte konnte ein echter Dialog zwischen Theologie und Psychoanalyse sich nicht entfalten, weil beide Seiten sich geradezu mit Ingrimm an verschiedene Gegenstandsbereiche gewiesen fühlten, und von daher sich auch völlig verschiedenen Wissenschaftsmethoden verpflichtet fühlten" 1 . Paul Tillich ist es gelungen, Theologie und Psychoanalyse aus dieser verhärteten Konfrontation in ein Ergänzungsverhältnis zueinander zu bringen. „Das religiöse Heilen darf . . . nicht durch das psychotherapeutische ersetzt werden. Vielmehr müssen beide sich zu ihrer Ergänzung vereinigen, die umso notwendiger ist, als die heutige Psychoanalyse weitgehend die Tatsache übersieht, daß auch die ,befreite' Persönlichkeit wie jede andere eines richtunggebenden und tragenden Lebenszentrums "bedarf" 2 . Paul Tillich erkennt bei Sigmund Freud grundlegende neutestamentliche Tendenzen wieder, die ihn zu einem intensiven Dialog der Theologie mit der Psychoanalyse veranlassen. „Trotz Freuds eigener antireligiöser Anschauung war seine Umgestaltung des intellektuellen Klimas der größte geistige Beitrag für die Wiederentdeckung des Zentrums der christlichen Botschaft, des Evangeliums von der Annahme des Sünders" 3 . Seelsorge und Psychotherapie treffen sich in ihrer Grundintention: Heilung. Nach Paul Tillich vollzieht sich „Heilung auf drei Ebenen, nämlich der medizinischen, der psychotherapeutischen und der religiösen" 4 . Zusammenarbeit der Disziplinen in Richtung auf das gemeinsame Ziel ist möglich, weil der Mensch als eine „vieldimensionale Einheit" verstanden werden kann. „Aus diesem Grunde gehören edle Heilfunktionen zusammen" 5 . Das Religiöse ist bei Paul Tillich „kein unverbundenes Sondergebiet im Ganzen des Heilungsvorganges". Nach einer Interpretation von Ilse Goeze-Wegner bietet sein Denken für die Zuordnung von Theologie und Psychotherapie im Prozeß der Heilung folgendes theologisches Kri1

J. Scharfenberg: Die Begegnung von Psychoanalyse und Theologie — eine Zwischenbilanz. In: H. Zahrnt: Jesus und Freud, München 1972, S. 9 3 - 1 0 7 ; S. 93. 2 A. Allwohn: Psychotherapie und Theologie bei Paul Tillich. In: WzM 24/1972, S. 1 2 6 - 1 3 2 ; S. 128. 3 P. Tillich: Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie, GW VIII, Stuttgart 1970, S. 3 2 5 - 3 3 5 ; S. 329. 4 Ders.: Seelsorge und Psychotherapie, GW VIII, S. 3 1 6 - 3 2 4 ; S. 322. 5 Ders.: Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie, S. 334.

12

terium: „die Psychotherapie ist die theologischste, die das Unbedingte am besten verwaltet, das Unbedingte als das, was den Menschen unbedingt angeht, was über Sein und Nichtsein e n t s c h e i d e t " 6 . Seit Paul Tillich hat sich die Diskussion über das Verhältnis von Theologie und Psychotherapie in fruchtbarer Weise ausgedehnt. Ein Beispiel dafür ist das Konzept zur Gefängnisseelsorge von Martin Skambraks, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit weiter unten dargestellt wird.— Aus der Sicht der Psychoanalyse kommt sowohl im Hinblick auf die individuelle Kriminogenese als auch im Hinblick auf den Strafvorgang als ganzen und die mit ihm verbundenen unbewußten Mechanismen im Verhältnis der Gesellschaft zum Kriminellen der Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung zu. Die vorliegende Arbeit bringt zunächst eine Darstellung der gegenwärtigen Interessenlage in dem Problemfeld Strafvollzug, und zwar insbesondere aus psychoanalytischer Sicht. Es wird aufgezeigt, wie aus der Sicht der Psychoanalyse die individuelle Kriminalitätsentstehung aussieht und welche Rolle der Gesellschaft in diesem Vorgang zukommt. Einmal aufmerksam geworden auf die vielfältigen unbewußten Verstrikkungen im Werdegang einer kriminellen Biographie erscheint die Unzulänglichkeit unseres Strafvollzugs, selbst noch in seinen sporadischen, für die Gegenwartssituation optimalen Ausprägungen dem psychoanalytisch geschulten Beobachter unserer Strafvollzugsszenerie als ein so eklatantes Dilemma, daß er sich der Problematik nicht leicht entziehen kann. Nach der umfassenden Einsicht in die vielfältigen Entstehungsmöglichkeiten kriminellen Verhaltens drängen sich drei Gedankenschritte unabdingbar auf: 1. Unser Strafvollzug (wie auch der der Geschichte in seinen verschiedensten sadistisch-brutalen Ausprägungen) stellt eine ihrem Gegenstand oder besser: ihren Objekten völlig inadäquate gesellschaftliche Reaktion und Handhabe dar. 2. Ist dies Faktum erst einmal offenkundig und durchsichtig geworden, so drängt sich unvermeidlich die Frage auf, wieso unter diesen Umständen eigentlich eine solche gesellschaftliche Institution wie der Strafvollzug sich gegen alle bessere Vernunft und Einsicht wie auch gegen alle negativen Erfahrungen mit seiner Erfolglosigkeit (was die Senkung der Kriminalität betrifft, also den rational angegebenen Zweck des Strafvoll-

I. Goeze-Wegner: Selbstannahme in der Rechtfertigung. In: WzM 24/1972, S. 143 — 145; S. 145.

6

13

zugs) halten konnte. Die Frage nach den irrationalen, unbewußten Hintergründen des Strafvollzugs kann hier nicht länger unterdrückt werden. 3. Schließlich müssen wir fragen, ob die psychoanalytischen Erkenntnisse über die Entstehung von Kriminalität wie auch die unbewußten Mechanismen und Funktionen des Strafvorgangs uns nicht zu neuen Modellen, wie das Problem der Kriminalität besser angegangen werden könnte, verhelfen. Zum Teil liegen solche Vorschläge, mehr oder weniger vage und vorsichtig formuliert, vor. Eine Gegenüberstellung dieser neuen, durch die Psychoanalyse wesentlich mitgeprägten Modelle oder Modellversuche mit christlichem Gedankengut, das sich mit solchen oder vergleichbaren Problemen befaßt, zeigt auffällige Parallelen. Es wird aus den genannten Gründen der Versuch einer Antwort auf die Frage nach der unbewußten gesellschaftlichen Funktion des Strafvollzugs unternommen. Unsere Erkenntnisse über unbewußte Bedürfnisse der Gesellschaft nach kriminellen Außenseitern („Sündenböcken") führen u.a. zu einer Neubesinnung über das Phänomen „Schuld", darüber hinaus zur Besinnung auf neue ethische Grundlagen (hier berufen wir uns vor allen Dingen auf E. Neumann und P. Ricoeur). Mit dem durch die Psychoanalyse vermittelten Instrumentarium soll versucht werden, den Zusammenhang zwischen theoretischen Vorstellungen von Kriminalität und der seelsorgerlichen Praxis zu bestimmen und das an einigen historischen Durchblicken aus den ersten sechs Jahrhunderten der Kirche, also den Anfängen der Gefangenenseelsorge, zu erläutern. Fragen nach einem sinnvollen und angemessenen Umgang mit Rechtsbrechern sind seit den Anfängen der Kirche in besonderer Weise von Seiten der mit dieser Aufgabe befaßten Seelsorger laut geworden — lange bevor sich irgendeine Instanz außerhalb der Kirche theoretisch und praktisch für diese Aufgabe für zuständig hielt. Als Glieder ihrer Gesellschaft partizipieren die Seelsorger immer an den psychischen Mechanismen, die zwischen der Gesellschaft und Kriminellen ablaufen. Anders als beim Durchschnittsbürger, dessen Einstellung zum Rechtsbrecher meistens nicht in besonders reflektierter Form in Erscheinung tritt, stoßen wir bei den Seelsorgern, die sich um Strafgefangene in besonderer Weise bemühen, in der Regel auf eine bewußtere, theologisch durchdachte und begründete Haltung. An diesen kirchlichen Repräsentanten der Gesellschaft im Strafvollzug zeichnen sich daher auch besonders deutlich neben den festgefahrenen Mechanismen 14

im Verhältnis Gesellschaft — Kriminelle die Möglichkeiten ihrer Durchbrechung ab (Identifikation contra Projektion). Es zeigt sich, daß es in der Einstellung zum Gefangenen in der Geschichte der Kirche verschiedene Epochen der Durchbrechung von Projektionsmechanismen und des Gelingens von Identifikation gibt, die wir mit Hilfe der psychoanalytischen Erkenntnisse besser verstehen können. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung kann eine diesbezügliche Untersuchung nur für den Zeitraum der ersten sechs Jahrhunderte der Kirche geleistet werden. Interessanterweise hat die Christenheit in diesem Zeitraum bereits alle denkbaren Einstellungsweisen zum Kriminellen im Ansatz durchgespielt, erlebt und reflektiert. Dieser Zeitraum legt sich daher für eine exemplarische Darstellung der Grundprobleme einer Seelsorge am straffälligen Menschen besonders nahe. Es läßt sich die Hypothese aufstellen, daß wir es bei den dargelegten psychoanalytischen Erkenntnissen zu Problemen des Umgangs mit Kriminalität mit Inhalten zu tun haben, die christlichen Symbolen vergleichbar sind. Christliche Verarbeitungsmuster des Umgangs mit dem „ B ö s e n " scheinen sich in säkularisierter Form unterschwellig aufbewahrt zu haben und gelangen zum Teil in den heutigen Forderungen der Humanwissenschaften neu ins Bewußtsein. Wir können auch umgekehrt sagen, daß unser psychoanalytisches Instrumentarium uns die Wirkkraft der Anfänge der Gefangenenseelsorge verständlicher macht. Es wird — um das Arbeitskonzept noch einmal knapp zusammenzufassen — in drei Schritten die theoretische und praktische Grundproblematik der Gefängnisseelsorge herausgearbeitet: 1. Der Umbruch der Humanwissenschaften, der zur Einsicht in die Wirkung unbewußter Mechanismen im Umgang mit Kriminellen führt; 2. die ethische Neubesinnung (E. Neumann, P. Ricoeur), die Modelle der Uberwindung dieser Mechanismen aufweist, welche auch neutestamentlicher Praxis vergleichbar zu sein scheinen; 3. der historische Überblick über die Anfänge der Gefangenenseelsorge als Indiz für Grundprobleme dieses Spezialgebietes der Seelsorge. In einem letzten (4.) Arbeitsgang wird versucht, darzustellen, wo sich Schwierigkeiten der gegenwärtigen Gefängnisseelsorge durch die Gefahr von Projektionsmechanismen auftun und wo umgekehrt Chancen der Identifikation liegen. Ansatzweise wird der Versuch unternommen, die besonderen Bedingungen für Identifikation in der gegenwärtigen Gefängnisseelsorge zusammenzufassen. 15

Wir haben uns in der vorliegenden Abhandlung gezielt einigen Einschränkungen unterworfen. Der humanwissenschaftliche Beitrag wurde begrenzt auf die Psychoanalyse, da diese als einzige den unbewußten Vorgängen ihr nötiges Gewicht verleiht. Das heißt nicht, daß von Seiten anderer Disziplinen, wie z.B. der Soziologie, nicht wesentliche Beiträge zu Fragen der Kriminalität vorlägen. — Dementsprechend wurde die Neuorientierung der ethischen Fragestellung behandelt an Hand von Beiträgen, die der Psychoanalyse das gleiche Gewicht verleihen. Das historische Material zur Gefangenenseelsorge wurde der Alten Kirche entnommen, (obwohl spätere Zeiten oftmals ausführlichere Erörterungen der Gefangenenseelsorge hervorgebracht haben,) da die ersten sechs Jahrhunderte gerade durch die Entstehungsbedingungen der Gefangenenseelsorge ihre spezielle Problematik besonders deutlich aufweisen (z.B. gilt das von der identifikationsfördernden Tatsache der Christenverfolgungen). — Im 4. Kapitel sind Fragen der Amtshandlungen im Strafvollzug, die neu aufgebrochene politische Problematik der Gefängnisseelsorge 7 , d.h. ihr Verhältnis zum Staat, sowie die Spezialprobleme besonderer Gruppen von Gefangenen (Lebenslängliche, Gefangene, die sich als politische Gefangene verstehen, u.a.) ausgeklammert. Da wir von einem Verständnis der Seelsorge ausgehen, das seinen eindeutigen Schwerpunkt beim seelsorgerlichen Einzelgespräch (oder aufarbeitender Gruppenseelsorge) sieht, wurde eine Beschränkung vorgenommen zugunsten der Probleme, die sich durch die interpersonelle Dynamik zwischen Seelsorger und Gefangenem ergeben. 7 Vgl. dazu: U. Kleinert: Seelsorger oder Bewacher? Pfarrer als Opfer der Gegenreform im Strafvollzug, Reinbek bei Hamburg 1 9 7 7 .

16

1. Der Umbruch in der humanwissenschaftlichen Kriminologie durch die Psychoanalyse 1.1 Der Straftäter und das Unbewußte 1.1.1

Kriminologische

Ansätze

im Werk S. Freuds

Im Gegensatz zur überlieferten Strafrechtsdogmatik, nach der nichtkonformcs Verhalten auf einem freien Willensakt beruht, versucht die Psychoanalyse, die seelischen, und zwar vor allem die unbewußten Bedingungen und Mechanismen aufzuzeigen, die kriminelles Verhalten hervorrufen. „Die Psychoanalyse gibt sich nicht zufrieden mit der Auskunft, ein Verhalten entspringe dem freien Willen, sie dringt in seelische Vorgänge ein und entdeckt andere Bestimmungskräfte als bewußte Entschlüsse und Entscheidungen. Der bewußte Wille als Resultat der Bestrebungen und Wünsche des Es und des Ich wird dabei nicht geleugnet und nicht für unwirksam, aber doch für eingezwängt in Persönlichkeitsund Umweltstrukturen b e f u n d e n " 1 . Ein Überblick über die psychoanalytischen Hinweise zur Kriminogenese lenkt den Blick zunächst nicht auf die Ursachen des Verbrechens, sondern auf die Ursachen der Sozialisierung. „Kriminalität widerfährt nicht einem schon sozialisierten Menschen durch besondere Umstände, sondern sie entsteht durch Störungen im Sozialisierungsprozeß. Ursachen der Kriminalität sind also fehlende oder fehlerhafte Sozialisierungsfaktoren; Kriminalität selbst ist nicht erreichte Sozialisierung" 2 . Eine entscheidende Blickrichtung der psychoanalytischen Kriminologie ist also die frühkindliche Sozialisierung mit ihren kriminalitätsfördernden oder -hemmenden Einflüssen. Der eben genannte Gedanke impliziert bereits eine wesentliche Erkenntnis. Nach der psychoanalytischen Lehre sind die psychischen Unterschiede zwischen Verbrechern und Nichtverbrechern nicht qualitativer Natur. „Das im Unbewußten gelagerte Triebpotential (Sexualität und Aggression) ist bei Verbrechern und Nichtverbrechern gleich. Beim NichtVerbrecher ist es allerdings der Erziehung gelungen, ein gut funktionierendes Über1 2

H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, München 1972, S. 78. A.a.O., S. 79.

2 Stubbe, Seelsorge

17

Ich (,Gewissen') auszuformen, während beim Verbrecher — generell gesehen — der Aufbau des Über-Ichs in irgendeiner Form als Fehlentwicklung stattgefunden h a t " 3 . Bei einer gesunden Sozialisation handelt es sich also um jene Entwicklungsschritte, die das Individuum kulturfähig machen. Schon sehr früh (1908) hat S. Freud die Behauptung aufgestellt: „Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden" 4 . Dies sind die Voraussetzungen konformen Lebens, denn wer „kraft seiner unbeugsamen Konstitution diese Triebunterdrückung nicht mitmachen kann, steht der Gesellschaft als Verbrecher' gegenüber, insofern nicht seine soziale Position und seine hervorragenden Fähigkeiten ihm gestatten, sich in ihr als großer Mann, als ,Held' durchzusetzen" 5 . Da das Es des Menschen weder Wertungen noch Moral kennt 6 , liegt in seiner „Bändigung" die wesentliche kulturelle Aufgabe des Sozialisationsprozesses. Die hierzu erforderliche Einschränkung der Aggression ist ein langer, vielleicht der schwerste Weg jedes Individuums. S. Freud spricht von dem ersten und schwersten Opfer, das die Gesellschaft vom Einzelnen fordern muß 7 . So kann er das Idealgebot der Nächstenliebe gerade darauf zurückführen, daß seine Durchführung der menschlichen Natur ursprünglich so sehr widerspricht 8 . Dieser Prozeß der Aggressionseinschränkung mißlingt und führt zur Kriminogenese in Fällen zu starker Unbeugsamkeit des Einzelnen oder ungünstiger individueller Ausgangslagen bzw. einer Überforderung des Individuums durch die kulturelle Triebunterdrückung 9 . 3

R. Herren: Freud und die Kriminologie, Stuttgart 1973, S. 173. S. Freud: Die „kulturelle" Sexualmoral, GW VII, S. 149. 5 A.a.O., S. 150. 6 S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XV, S. 81. 7 A.a.O., S. 118. 8 Ders.: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 4 7 1 . 9 H. Ch. Dechêne: Verwahrlosung und Delinquenz, München 1975, S. 122: „Was hier als entscheidendes Agens für die Kriminogenese gesehen wird, ist also die kulturelle Unterdrückung von Trieben, zum anderen Unbeugsamkeit des einzelnen sowie eine weder sozialprestige- noch begabungsmäßig kompensierbare ungünstige Ausgangslage".

4

18

Auf welchem Weg findet nun die „Umbildung der ,bösen' Triebe" statt? Zwei in gleicher Richtung arbeitende Faktoren sind hieran beteiligt, ein innerer und ein äußerer. „Der innere Faktor besteht in der Beeinflussung der bösen — sagen wir: eigensüchtigen — Triebe durch die Erotik, das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten Sinne genommen. Durch die Zumischung der erotischen Komponenten werden die eigensüchtigen Triebe in soziale umgewandelt. Man lernt das Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf andere Vorteile verzichten darf. Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung, welche die Ansprüche der kulturellen Umgebung vertritt und die dann durch die direkte Einwirkung des Kulturmilieus fortgesetzt wird. Kultur ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste. Während des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem Zwange in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, daß immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in altruistische, soziale verwandelt werden. Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang war" 1 0 . Äußerer Zwang wird also allmählich verinnerlicht, und zwar, „indem eine besondere seelische Instanz, das Uber-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt". So vollzieht sich die Entwicklung von „Kulturgegnern zu Kulturträgern" 1 1 . Die auf diesem Wege erlangte Kultureignung des Menschen ist ein recht labiles Gebilde, das zahlreichen Gefahren ausgesetzt ist. Für böses, also nicht normgemäßes Verhalten wird das Individuum am Anfang seiner Entwicklung mit Liebesverlust bedroht und meidet es daher zunächst ausschließlich aus Angst vor diesem Verlust 12 . Diese Stufe infantilen Gehorsams gegenüber äußerem Zwang wird nicht immer überwunden. Das Maß der Verinnerlichung kultureller Normen ist individuell und in Bezug auf die einzelnen Triebverbote sehr verschieden. So gelingt es vielen Menschen nur unter dem Druck äußeren Zwanges, Kulturverboten zu gehorchen 13 . Fällt dieser aus irgendwelchen Gründen weg, so ist die unzureichende Verinnerlichung kultureller Normen ein Ansatzpunkt der Gefährdung ihrer Einhaltung. 10

S. Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, GW X, S. 3 3 3 . 11 Ders.: Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, S. 3 3 2 . 12 Ders.: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 4 8 4 . 13 Ders.: Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, S. 3 3 2 .

19

Eine weitere Bedrohung der Kultureignung gründet im Wesen der Triebumbildung, die deren Grundlage bildet. Verschiedene Einwirkungen des Lebens können diese vorübergehend oder endgültig rückgängig machen 14 . Das hängt mit der Eigentümlichkeit seelischer Entwicklungen zusammen, die sich bei keinem anderen Entwicklungsvorgang findet. S. Freud hat die seelische Entwicklung verglichen mit der Umwandlung eines Dorfes in eine Stadt, eines Kindes in einen Mann. Dorf und Kind bleiben nur in der Erinnerung erhalten. Die alten Materialien und Formen sind beseitigt und ersetzt worden. Ganz anders liegen die Dinge bei der seelischen Entwicklung. J e d e frühere Entwicklungsstufe bleibt neben der späteren, die aus ihr geworden ist, erhalten; „die Sukzession bedingt eine Koexistenz mit, obwohl es doch dieselben Materialien sind, an denen die ganze Reihenfolge von Veränderungen abgelaufen ist. Der frühere seelische Zustand mag sich jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, daß er eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen annuliert, rückgängig gemacht worden wären" 1 5 . Immer wieder stoßen wir bei S. Freud auf Äußerungen, die die Annahme einer „urmenschlichen Erbschaft" eines großen Aggressionspotentials voraussetzen. In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff der „latenten Kriminalität" 1 6 eingebürgert! Welche Äußerungen S. Freuds rechtfertigen diesen Begriff? Schon in „Totem und T a b u " (1913) hat S. Freud erklärt, wieso in der Übertretung gewisser Tabuverbote eine soziale Gefahr liegt, die von der Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muß, wenn sie nicht alle Glieder schädigen soll. Diese Gefahr besteht in der Tat, wenn wir die bewußten Regungen für die unbewußten Wünsche einsetzen. Sie liegt in der Möglichkeit der Nachahmung, die die Gesellschaft bald zur Auflösung bringen würde. Wenn die anderen Glieder der Gesellschaft die Übertretung nicht ahnden würden, müßten sie den eigenen Wunsch zur Kenntnis nehmen, dasselbe zu tun wie die Gesetzesübertreter 17 . Das Verlangen, die verbotene Tat zu begehen, besteht also beim Übertreter wie beim NichtÜbertreter des Verbotes. Hier wird die große Gefährdung der Gesellschaft durch die Übertretung eines Einzelnen ebenso wie die Funktion der Bestrafung desselben angesiedelt. Denn „wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muß sich Ders.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, GW X , S. 338. is A.a.O., S. 337. « R. Herren, a.a.O., S. 168ff. 17 S. Freud: Totem und Tabu, GW IX, S. 44.

20

in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muß der eigentlich Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden, und die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen. Es ist dies ja eine der Grundlagen der menschlichen Strafordnung, und sie hat, wie gewiß richtig, die Gleichartigkeit der verbotenen Regungen beim Verbrecher wie bei der rächenden Gesellschaft zur Voraussetzung" 1 8 . Aber nicht erst die Funktion der Strafe, sondern schon die Funktion der Gebote oder Gesetze ist auf das allgemeinmenschliche Bedürfnis nach Befriedigung der als gefährlich betrachteten oder erfahrenen Triebe zurückzuführen 19. Es ist eine ausgesprochen pessimistische oder resignative Anthropologie, die S. Freud uns darlegt. „In Wirklichkeit gibt es keine ,Ausrottung' des Bösen. Die psychologische — im strengeren Sinn die psychoanalytische — Untersuchung zeigt vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht, die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese Triebregungen sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie und ihre Äußerungen in solcher Weise, je

•s A.a.O., S. 89. 19 Die Einstellung einer Gesellschaft zu ihren V e r b o t e n h a t S. Freud eindrücklich geschildert am Beispiel d e r T a b u v e r b o t e primitiver V ö l k e r : „Die ältesten u n d wichtigsten T a b u v e r b o t e sind die b e i d e n Grundgesetze des T o t e m i s m u s : Das T o t e m t i e r nicht zu t ö t e n u n d d e n sexuellen V e r k e h r mit d e n T o t e m g e n o s s e n des a n d e r e n Geschlechts zu v e r m e i d e n " . S. Freud folgert: „Das m u ß t e n also die ältesten u n d stärksten Gelüste der Menschen sein." Die primitiven V ö l k e r h a b e n zu ihren T a b u v e r b o ten eine ambivalente Einstellung: „sie m ö c h t e n im U n b e w u ß t e n nichts lieber als sie ü b e r t r e t e n , aber sie f ü r c h t e n sich auch davor; sie f ü r c h t e n sich gerade d a r u m , weil sie es m ö c h t e n , u n d die F u r c h t ist stärker als die Lust. Die Lust dazu ist aber bei jeder Einzelperson des Volkes u n b e w u ß t wie bei d e m N e u r o t i k e r " . S. F r e u d : T o t e m u n d T a b u , GW IX, S. 4 2 . Bestünde n i c h t diese ambivalente Einstellung, so wäre auch nicht die so strenge B e s t r a f u n g von Ü b e r t r e t u n g e n n o t w e n d i g . „Wir dürfen daher auch ruhig a n n e h m e n , daß V e r b r e c h e n , die d u r c h ein Gesetz v e r b o t e n werden, V e r b r e c h e n sind, die viele Menschen aus natürlichen Neigungen gern begehen würden. Wenn es keine solche Neigungen gäbe, k ä m e n keine solchen V e r b r e c h e n vor, u n d w e n n solche V e r b r e c h e n n i c h t begangen würden, w o z u b r a u c h t e m a n sie zu verbieten? A n s t a t t also aus d e m gesetzlichen V e r b o t des Inzests zu schließen, daß eine natürliche A b n e i g u n g gegen d e n Inzest b e s t e h t , sollten wir eher d e n S c h l u ß ziehen, d a ß ein natürlicher I n s t i n k t z u m Inzest treibt, u n d d a ß , w e n n das Gesetz diesen Trieb wie a n d e r e natürliche Triebe u n t e r d r ü c k t , dies seinen G r u n d in der Einsicht zivilisierter Menschen h a t , d a ß die Befriedigung dieser natürlichen T r i e b e der Gesellschaft S c h a d e n b r i n g t " . A.a.O., S. 150.

21

nach ihrer Beziehung zu den Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft" 2 0 . So läßt sich der Mensch nie im ganzen als „gut" oder „böse" kennzeichnen, sondern nur — entsprechend den äußeren Bedingungen — als „gut" in der einen Relation, „böse" in einer anderen. So werden auch sogenannte „gute" Taten von S. Freud mit einem Verweis auf ihre psychischen Ursprünge als nur in bestimmter Hinsicht „gute" eingeschränkt. Er beobachtete, daß die Präexistenz starker „böser" Neigungen in der Kindheit oft geradezu die Bedingung wurde für die spätere, eindeutige Hinwendung des Erwachsenen zum Guten. So können aus den stärksten kindlichen Egoisten die hilfreichsten und aufopferungsfähigsten Bürger werden. Dementsprechend behauptet S. Freud auch, die meisten Mitleidschwärmer und Menschenfreunde oder auch Tierschützer hätten sich aus kleinen Sadisten und Tierquälern entwickelt 2 1 . Die Psychoanalyse spricht bei derartigen Entwicklungsabläufen von Reaktionsbildungen. Gemeint sind damit ganz allgemein Verhaltensweisen, die eine einem verdrängten Wunsch entgegengesetzte Bedeutung tragen und als Reaktion auf diesen gebildet worden sind 2 2 . Es bedarf aber, wenn ein sogenanntes „gutes" oder friedliches Zusammenleben von Menschen gewährleistet sein soll, trotzdem bestimmter Möglichkeiten der Abfuhr von Aggression. Mit scharfer Ironie stellt S. Freud fest: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben" 2 3 . Diese Beobachtung S. Freuds findet eine eingehende Erläuterung in den Ausführungen über den Sündenbockprojektionsmechanismus. Vorläufig können wir hier festhalten, daß die vermeintliche kollektive Bekämpfung von Kriminalität in unserer Gesellschaft auf dem Wege einer projektiven Ausschaltung Straffälliger durch Inhaftierung einen wesentlichen Beitrag leistet zum friedlichen Zusammenleben der vermeintlich „Guten". Zu den Triebbegabungen des Menschen zählt ein „mächtiger Anteil von Aggressionsneigung" 24 , mit der es umzugehen gilt. Fallen die seelischen Gegenkräfte, die die Aggressionsneigung sonst hemmen, weg, so kann sie sich auch spontan äußern und den Menschen „als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist" 2 5 , entlarven. 20

Ders.: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, GW X, S. 3 3 1 . A.a.O., S. 3 3 2 f . 22 J. Laplanche u. J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, II. Bd., Frankfurt a. Main 1973, S. 4 2 2 f f . 23 S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, S. 4 7 3 . 24 25 A.a.O., S. 4 7 0 . A.a.O., S. 4 7 1 . 21

22

Kriminelle Triebwünsche Nichtkrimineller äußern sich unter anderem auch in mehr oder weniger verschlüsselter Form in Träumen. Schon in seiner „Traumdeutung" (1900) schildert S. Freud Mord- und Todeswünsche gegen nahe Verwandte. Er stellt an Hand zahlreicher Beispiele die ungläubig aufgenommene Behauptung auf, daß Träume vom schmerzhaft erlebten Tod einer geliebten verwandten Person den Wunsch darstellen, daß die betreffende Person sterben möge. Häufig handelt es sich um den Tod von Geschwistern, die als Rivalen im Verhältnis zu den Eltern erlebt werden. Die wesentliche Bedeutung des Gestorbenseins liegt in dem Fort-sein, die Überlebenden nicht mehr Stören-können. Dies gilt auch für die ödipalen Todeswünsche, die sich in Träumen vom Tod des gleichgeschlechtlichen Elternteils äußern. Solche Träume bedeuten allerdings nicht einen gegenwärtigen Todeswunsch gegen den betreffenden Angehörigen, sondern nur, daß es einen solchen Wunsch irgendwann im Verlaufe der Biographie einmal gegeben hat. Wer sich nicht gerade als Psychoneurotiker entwickelt hat, dem ist es als erwachsenen Menschen gelungen, seine sexuellen Regungen vom andersgeschlechtlichen Elternteil abzulösen und die Eifersucht gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil aufzugeben. Aus einer früheren Entwicklungsphase aber bringen alle Menschen eine potentielle, meist unbewußte Mordbereitschaft mit ins Erwachsenenleben 2 6 . Weniger allgemein gehalten ist nun die Darstellung eines speziellen Typs von Kriminalität. S. Freud spricht von dem „Verbrecher aus unbewußtem Schuldgefühl". Bei diesem Typus ist mit einer komplizierten Vorgeschichte des Delikts zu rechnen. Schon in seiner Abhandlung „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse" (1906) warnt S. Freud vor der irreführenden Reaktion des Neurotikers, „der so reagiert, als ob er schuldig wäre, obwohl er unschuldig ist, weil ein in ihm bereitliegendes und lauerndes Schuldbewußtsein sich der Beschuldigung des besonderen Falles bemächtigt" 2 7 . S. Freud weist auf die hieraus sich ergebenden Unsicherheitsfaktoren für tatbestandsdiagnostische Maßnahmen hin. Das hier wirksam werdende und irreleitende Schuldgefühl resultiert aus einem „verdrängten sexuellen Komplex" 2 8 . Einige Jahre später (1915) hat S. Freud diese Ansätze zu einer ausführlichen Darstellung des „Verbrechers aus Schuldgefühl" 2 9 erweitert. Sei26

Ders.: Die Traumdeutung, GW II/III, S. 2 5 4 - 2 6 7 . Ders.: Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse, GW VII, S. 13. 28 A.a.O., S. 12. 29 Ders.: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, GW X, S. 3 6 3 — 391. 27

23

ne analytische Arbeit brachte ihn zu dem Ergebnis, daß Diebstähle, Betrügereien und Brandstiftungen in erster Linie „darum vollzogen wurden, weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war. Er litt an einem drückenden Schuldbewußtsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, war der Druck gemildert". Das Schuldbewußtsein war bei dem Verbrechen „untergebracht" 3 0 . S. Freud machte die paradoxe Feststellung, „daß das Schuldbewußtsein früher da war als das Vergehen, daß es nicht aus diesem hervorging, sondern umgekehrt, das Vergehen aus dem Schuldbewußtsein" 3 1 . Die analytische Arbeit S. Freuds ergab überwiegend, daß das Schuldgefühl aus dem Ödipuskomplex stammte. Im Vergleich mit den beiden „verbrecherischen" Absichten aus der ödipalen Phase (Mutterinzest und Vatertötung) waren „die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen Erleichterungen für den Gequälten" 3 2 . Sozusagen in Erinnerung an das in „Totem und T a b u " Erarbeitete fährt S. Freud fort: „Mein muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden" 3 3 . Eine weitere Spezifizierung finden wir in „Das Ich und das Es" (1923): „Man kann weiter gehen und die Voraussetzung wagen, daß ein großes Stück des Schuldgefühls normalerweise unbewußt sein müsse, weil die Entstehung des Gewissens innig an den Ödipuskomplex geknüpft ist, welcher dem Unbewußten angehört. Würde jemand den paradoxen Satz vertreten wollen, daß der normale Mensch nicht nur viel unmoralischer ist als er glaubt sondern auch viel moralischer, als er weiß, so hätte die Psychoanalyse, auf deren Befunden die erste Hälfte der Behauptung ruht, auch gegen die zweite Hälfte nichts einzuwenden" 3 4 . Die Einsicht in die Wirksamkeit des unbewußten Schuldgefühls hat S. Freud später (1928) sogar veranlaßt, von einer „psychologischen Rechtfertigung der von der Gesellschaft verhängten Strafen" zu reden. „Es ist wahr, daß große Gruppen von Verbrechern nach der Strafe verlangen. Ihr Über-Ich fordert sie, erspart sich damit, sie selbst zu verhän-

» 31 32 33 34 35

24

A.a.O., S. 390. Ebd. Ebd. Ebd. Ders.: Das Ich und das Es, GW XIII, S. 281f. Ders.: Dostojewski und die Vatertötung, GW XIV, S. 410.

Zur Erläuterung des Gesagten soll gleich hinzugefügt werden, daß bis heute nie sorgfältig überprüft worden ist, ob das unbewußte Schuldgefühl als Verbrechensmotiv für einen hohen Prozentsatz krimineller Lebensläufe eine bedeutsame Rolle spielt 36 . Eine einzigartige literarische Darstellung des „Verbrechers aus Schuldgefühl" finden wir in F. Nietzsches „bleichem Verbrecher" 3 7 . Er bringt die für massive Schuldgefühle typische Selbstverachtung zum Ausdruck 3 8 und schildert, wie sich das Selbstbild auf die Schuldgefühle reduziert 3 9 . Der Zustand vor der Tat ist das, was sich am schwersten erfassen läßt: „Einen anderen Wahnsinn gibt es noch: und der ist vor der Tat. Ach, ihr krocht mir nicht tief genug in diese Seele!" 4 0 . F. Nietzsche deutet an, daß der Ursprung dieses Typs von Verbrechen in der Vergangenheit liegt und daß Motiv und Tat der Gegenwart nicht wirklich zueinander passen: „Wer jetzt krank wird, den überfällt das Böse: wehe will er tun mit dem, was ihm wehe tut. Aber es gab andre Zeiten und ein andres Böses und Gutes" 4 1 . Schuldgefühl und Strafbedürfnis werden in einen deutlichen Zusammenhang gestellt: „Daß er sich selber richtete, war sein höchster Augenblick: laßt den Erhabenen nicht wieder zurück in sein Niederes! Es gibt keine Erlösung für den, der so an sich selber leidet, es sei denn der schnelle T o d " 4 2 . Dieser Hintergrund verkehrt für ihn die Rache der Todesstrafe in Mitleid 43 . Es liegen keine ihrer Grundintention nach kriminologischen Arbeiten von S. Freud vor. Auch hat er offensichtlich kaum persönliche Erfahrungen mit Dissozialen oder Kriminellen im engeren Sinne gesammelt. Jedenfalls finden sich, wie aus dem Vorangegangenen hervorgeht, in seinem Werk nur sehr allgemein gehaltene Bemerkungen über diese 36

S. u. E. Glueck: Jugendliche Rechtsbrecher. Wege zur Vorbeugung. 2. Aufl., Stuttgart 1972, S. 9. 37 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Leipzig 1944, S. 3 2 f f . 38 ,,Mein Ich ist etwas, das überwunden werden soll: mein Ich ist mir die große Verachtung des Menschen". A.a.O., S. 32. 39 „Immer sah er sich nun als Einer Tat Täter. Wahnsinn heiße ich dies: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen". A.a.O., S. 33. 40 A.a.O., S. 33. 4 > A.a.O., S. 34. « A.a.O., S. 32. 43 „Euer Töten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und keine Rache". A.a.O., S. 32. — F. Nietzsche deutet übrigens auch das Phänomen der „latenten Kriminalität" an: „Und du, roter Richter, wenn du laut sagen wolltest, was du alles schon in Gedanken getan hast: so würde jedermann schreien: ,Weg mit diesem Unflat und Giftwurm!' Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes das Bild der Tat". A.a.O., S. 32.

25

Menschengruppe. Da er aber weite Teile seiner Theorie vor dem Hintergrund von Kultur und Gesellschaft entwickelt, kann diese auch für das Verständnis Krimineller angewandt werden 4 4 . Etwas vereinfacht gesprochen besteht die kriminologische Substanz von S. Freuds Werken in seinen Äußerungen über Triebe und damit über Aggression und Aggressionsverarbeitung. Auf diesem Hintergrund kann die Kriminalität dann als ein spezieller Fall von Aggressionsverarbeitung betrachtet werden. Der kriminologische Wert der psychoanalytischen Lehre in ihren Anfängen bei S. Freud besteht also darin, daß sie uns den „Boden" sichtet, auf dem es unter bestimmten Umständen (, deren Erforschung zum Teil von den psychoanalytischen Generationen nach S. Freud geleistet wurde, zum Teil auch noch aussteht) zum Umschlag der „latenten" in manifeste Kriminalität kommt. 1.1.2

Die praktische Umsetzung psychoanalytischer durch A. Aichhorn

Erkenntnisse

August Aichhorn fällt das Verdienst zu, einer der ersten gewesen zu sein, die die Bedeutung der Psychoanalyse für die Verwahrlostenforschung und -behandlung zu Rate zogen. Im Vorwort zu A. Aichorns Buch „Verwahrloste J u g e n d " 4 5 schreibt S. Freud über dessen Praxis: „Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen" 4 6 . A. Aichhorn bezeichnet das Verhältnis der Psychoanalyse zu seinem Arbeitsgebiet, der Fürsorgeerziehung, als eine Art Ergänzungsbeziehung: „Beide, Psychoanalyse und Fürsorgeerziehung, haben dieselbe Aufgabe: außerhalb der sozialen Gemeinschaft stehende Menschen in diese zu führen. Sie haben daher das gleiche Ziel, greifen aber nicht am gleichen Objekt an und verwenden nicht die gleiche Methode. Die eine hat das Zuviel an Erziehung abzutragen, die andere das Zuwenig an Erziehung nachzuholen. Daher ist die Psychoanalyse nicht durch die Fürsorgeerziehung und die Fürsorgeerziehung nicht durch die Psychoanalyse ersetzbar" 4 7 . 44

H. Ch. Dechêne, a.a.O., S. 122. A. A i c h h o m : Verwahrloste Jugend. 7. unveränderte Aufl., Bern 1971. « A.a.O., S. 7. 47 Ders.: Kategorien der Verwahrlosung. In: Erziehungsberatung und Erziehungshilfe. 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1972, S. 175. 45

26

Theoretischer Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Verwahrlosung ist die Tatsache, daß jedes Kind sein Leben als „asoziales Wesen" beginnt 48 . „Es ist die Aufgabe der Erziehung, das Kind aus dem Zustand der Asozialität in den der sozialen Anpassung hinüberzuführen". Voraussetzung hierfür ist eine normale Gefühlsentwicklung des Kindes. „Wo bestimmte . . . Störungen in der Libidoentwicklung vorfallen, bleibt das Kind asozial oder bringt bestenfalls eine nur scheinbare, rein äußerliche Anpassung an die Umwelt zustande, ohne die Umweltsforderungen in die Struktur seiner eigenen Persönlichkeit aufzunehmen. Die Triebwünsche solcher Kinder verschwinden zwar von der Oberfläche, werden aber nicht bewältigt oder verarbeitet, sondern bleiben im Hintergrund bestehen und warten auf einen günstigen Augenblick, um wieder zur Befriedigung durchzubrechen". A. Aichhorn nennt diesen Zustand „latente" Verwahrlosung 49 . (Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit dem der „latenten Kriminalität", denn im Gegensatz zu dieser setzt die latente Verwahrlosung bereits einen Prozeß der Fehlentwicklung voraus.) Will man die Ursache der Verwahrlosung aufsuchen, so gilt es daher nicht, herauszufinden, „was die latente Verwahrlosung zur manifesten macht, sondern" zu „ergründen, was die latente hervorruft" 5 0 . A. Aichhorn beschreibt Verwahrloste als Individuen, deren Ich auf Grund von Entwicklungsstörungen durch ein übermäßig vorherrschendes Lustprinzip dirigiert wird 51 . Für die Entstehung derartiger Entwicklungstörungen gibt es zwei Möglichkeiten: Auf dem Weg „von der primitiven Realitätsfähigkeit zur Kulturfähigkeit" bleibt das Individuum durch eine Entwicklungshemmung zurück, oder es wird auf dem Wege der Regression zurückgeworfen in die psychische Entwicklungsstufe vor der Kulturfähigkeit 5 2 . In Bezug auf die verschiedenen Wege der Entstehung von Verwahrlosung unterscheidet A. Aichhorn 3 Typen: 1. Verwahrloster aus zuviel „Liebe"; 2. Verwahrloster infolge zu großer Strenge; 3. Verwahrloster durch inkonsequente Anwendung beider extremer Erziehungsverfahren s 3 .

48 49 50 51 52 A.a.O., S. 413.

36

Vertrauen entgegenbringen und früher oder später das Risiko, sich überhaupt mit jemand einzulassen, ganz aufgeben. Statt dessen wird es zunehmend egozentrisch werden" 9 1 . Derartige Gefährdungen im Säuglingsalter haben gravierende Konsequenzen, die weit über das Individuum hinausreichen. Gestörte Objektbeziehungen im ersten Lebensjahr können das Fundament der Gesellschaft selbst gefährden. Ohne eine verinnerlichte „Schablone" oder „Prägef o r m " sind die Opfer so gestörter Objektbeziehungen später selbst nicht in der Lage, Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Erst recht fehlt ihnen die psychische Ausrüstung „für die fortgeschritteneren, komplizierteren Formen des persönlichen und gesellschaftlichen Austauschs". Sie haben nicht das notwendige Maß an Anpassungsfähigkeit mitbekommen und sind „emotionale Krüppel". „Solche Individuen sind unfähig, die verwickelten und vielfältig getönten Bande der Beziehungen, die sie nie gehabt haben, zu verstehen, geschweige denn zu entdecken und sich ihnen einzufügen . . . Da ihnen die affektive Nahrung vorenthalten wurde, auf die sie Anspruch hatten, ist ihr einziges Hilfsmittel die Gewalt. Der einzige Weg, der ihnen noch offensteht, ist die Zerstörung einer Gesellschaftsordnung, deren Opfer sie sind. Das Kind wurde um die Liebe betrogen, dem Erwachsenen bleibt nur Haß" 9 2 . Auch wenn es im Bereich der Verarbeitung von Trennungserlebnissen durch Kleinkinder noch wichtige Faktoren gibt, die bis heute ungelöst sind (z.B. die Frage, weshalb einige Kinder geschädigt werden und andere anscheinend nicht 9 3 ), so kann man auf Grund der bisherigen vielfältigen Untersuchungen heute immerhin mit Sicherheit sagen, daß eine längere Trennung des Kindes von der Mutter (oder dem Mutterersatz) während der ersten fünf Lebensjahre an der ersten Stelle der Ursachen krimineller Fehlentwicklungen steht 9 4 . Werden im ersten Lebensjahr auch die entscheidenden Grundlagen für eine stabile Beziehungsfähigkeit des Individuums gelegt, so ist damit doch der Sozialisationsprozeß noch lange nicht abgeschlossen. Der sozialen Anpassung muß der gefühlsmäßige und verstandesmäßige Sinn für Gebote und Verbote und die Identifizierung mit den sozialen Ansprüchen, die der Identifizierung mit den Eltern als ihren Vertretern folgt, vorangehen 9 5 (d.h. eine gesunde Über-Ich-Entwicklung). 91 92 93

95

A.a.O., S. 4 1 4 . R. Spitz: V o m Säugling zum Kleinkind, S. 3 1 0 f . J. Bowlby: Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit, S. 22. A.a.O., S. 50f. A. Freud: Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung, Stuttgart 1968, S. 153.

37

Unter einer idealen gesellschaftlichen Anpassung ist „das innere Gleichgewicht zwischen Ich, Es und Über-Ich" zu verstehen, „das es dem Individuum ermöglicht, seine eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu realisieren, ohne das gleiche bei anderen zu verhindern" 9 6 . Neurotische wie delinquente Kinder sind unfähig, ihre Triebe mit den Forderungen der Umwelt in Einklang zu bringen. Zwischen beiden Gruppen besteht ein wesentlicher Unterschied: „ . . . die Objektbindung des Delinquenten ist nicht stark genug, um eine Schranke gegen seine Triebbedürfnisse zu bilden, und daher kann sein Ich keine Anpassung an die Realität erreichen, während der Neurotiker von seinem Objekt zu sehr abhängt, um dem Es mehr als ein beschränktes Maß an Triebbefriedigung zu gestatten. . . . Der Asoziale, der sich von seiner Umgebung mehr oder weniger unabhängig gemacht hat, ist dann verhältnismäßig stärker von der Befriedigung seiner Triebbedürfnisse abhängig. Der Neurotiker, der sich bis zu einem gewissen Grade von den gebieterischen Anforderungen nach sofortiger Triebbefriedigung befreien kann, ist hingegen abhängiger von der Liebe seiner Umwelt. — Wir sehen, das Ich des Neurotikers ist da stark, wo das Ich des Delinquenten schwach ist, und umgekehrt" 9 7 . In der jüngsten Zeit gilt die Aufmerksamkeit der psychoanalytischen Kriminologie mehr und mehr dem ersten Lebensjahr des Individuums und den hier anzusiedelnden kriminogenen Sozialisationsfaktoren. Generell gilt der Satz von H. Ostermeyer: „Kriminalität widerfährt nicht einem schon sozialisierten Menschen durch besondere Umstände, sondern sie entsteht durch Störungen im Sozialisationsprozeß. Ursachen der Kriminalität sind also fehlende oder fehlerhafte Sozialisierungsfaktoren: Kriminalität selbst ist nicht erreichte Sozialisierung" 98 . Der Zusammenhang zwischen Kriminalität oder Verwahrlosung und einem auffälligen Mangel an Liebe und Geborgenheit ist inzwischen fast zu einem Allgemeinplatz geworden 9 9 . A. Mitscherlich hebt besonders 96

J. Lampl-de-Groot: Idealbildung bei Neurotikern und Delinquenten. In: Psyche X I X / 1 9 6 5 , S. 4 5 4 - 4 6 4 ; S. 4 5 7 . A.a.O., S. 4 5 6 . 98 H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, München 1972, S. 79. 99 Stellvertretend für viele Stimmen sei hier eine Definition von E. Künzel zitiert: „Verwahrloste sind Menschen, bei denen ( . . . ) in ihrer frühesten und späteren Kindheit das vitale Bedürfnis nach ,Verwahrtsein', d.h. nach Sicherung und Geborgenheit in einer schützenden, liebend zugewandten, zugleich aber auch die notwendigen Versagungen auferlegenden Umgebung nicht in einer der kindlichen Entwicklung angemessenen und notwendigen Weise befriedigt wurde. Aus diesem Grunde konnten sie selbst nicht zu angepaßten Gliedern der Gemeinschaft werden". E. Kün-

38

hervor, daß die mit der Verwahrlosung einhergehende Aggressivität als Reaktion zu verstehen ist: „Die allen Verwahrlosten gemeinsame Aggressivität, die schließlich zum offenen Konflikt mit der Gesellschaft führen kann, stellt kein primäres seelisches Verhalten dar. Sie ist — und dies haben vielfältige Beobachtungen in Krieg und Frieden immer wieder unter Beweis gestellt — jedesmal eine Antwort, und zwar auf eine fehlgeschlagene positive Bindung, eine Liebesbindung" 10°. Aus den aufgewiesenen Bedingungen der Entstehung kriminellen Fehlverhaltens können wir nun in positiver Hinsicht Rückschlüsse ziehen auf die wesentlichen Faktoren eines gesunden Erziehungsprogramms. Hier sind natürlich zunächst gleichmäßige Liebe und konstante Zuwendung zu nennen, die die Grundlage für eine intakte Beziehungsfähigkeit herstellen. Aber auch in späteren Entwicklungsphasen sind Zuwendung, Geborgenheit und Sicherheit die wesentlichen Bedingungen einer gesunden Überichbildung bzw. des Erwerbs von Anpassungsfähigkeit. Nicht zuletzt gilt es, im Erziehungsprozeß Verhaltensmuster anzubieten, die einer nichtdestruktiven Verarbeitung von Aggressivität, eventuell ihrer Umsetzung in fruchtbare Aktivität dienen 1 0 1 .

1.2 Die Psychologie der „strafenden Gesellschaft" 1.2.0

Vorbemerkung

Die psychoanalytische Kriminologie lehrt uns, daß wir dem Sachverhalt Kriminalität nicht gerecht werden bei einseitiger Blickrichtung auf das straffällige Individuum. Dies hängt zum einen zusammen mit dem Beitrag der Gesellschaft beziehungsweise der Gesellschaftsstruktur zur Entstehung von Kriminalität. Darüber hinaus dürfte aber auch der ganze

zel: Jugendkriminalität und Verwahrlosung. 3. Aufl., Göttingen 1971, S. 13; In eine ähnliche Richtung gehen auch die Ausführungen von A. Mitscherlich: „Immer findet man, verdeckt oder offen, mangelnde Liebeszuwendung oder Liebesentzug in frühkindlicher Zeit, wenn sich später eine oft unbewußt gesteuerte haßvolle Einstellung zur Gemeinschaft entwickelt. Wo man dem Kind Zärtlichkeit und Wunscherfüllung schuldig bleibt, lernt es aus der Zufügung von Schaden froh zu werden". A. Mitscherlich: Aktuelles zum Problem der Verwahrlosung. In: Psyche 1/1947, S. 106. 100 A. Mitscherlich, a.a.O., S. 105. 101 J. Lampl-de-Groot nennt als wesentliche Faktoren eines gesunden Erziehungsprogramms: „die ausgleichende Liebe, die konstruktive Idealisierung und geeignete Methoden zur Sublimierung der Aggression in fruchtbare Aktivität". A.a.O., S. 4 6 4 .

39

Bereich der Strafjustiz einen Sinn erfüllen, der den rational von ihr angegebenen weit übertrifft oder diesem sogar widerspricht. Nach H. Oster meyer hat es den „Anschein, als sei der kollektive Wille zum Leidenmachen primär und latent vorhanden und lasse sich am Kriminellen nur aus, weil dieser mit der Straftat einen Vorwand liefert" 1 0 2 . Schon P. Reiwald hat sehr deutlich auf die Notwendigkeit einer Psychologie der strafenden Gesellschaft hingewiesen: „Eine Psychologie des Verbrechers, die nicht die gegenseitige Abhängigkeit von Sozial und Asozial berücksichtigt, ist schon als solche eine Verfälschung" 1 0 3 . - Wichtig ist, daß die Fehler einer n u r das straffällige Individuum ins Auge fassenden Anschauung über Kriminalität und Strafrecht nicht auf höherer Ebene von einer Psychologie der strafenden Gesellschaft wiederholt werden. So weist H. Jäger mit Recht darauf hin, „wie schwer es offenbar ist, auf einem so emotionsbeladenen Gebiet jene Affektfreiheit, die dem einzelnen Rechtsbrecher gegenüber angestrebt wird, auch auf die Gesellschaftskritik zu übertragen und nicht in Umkehrung des Sündenbockmechanismus ,die Gesellschaft' zur Projektionswand moralisierender Affekte werden zu lassen, bei gleichbleibender Irrationalität also nur die Identifikationsfronten zu wechseln" 1 0 4 . Im folgenden soll nun dargestellt werden, welche Einsichten zu einer „Psychologie der strafenden Gesellschaft" uns die Psychoanalyse vermitteln kann. 1.2.1

Das Korrelationsverhältnis

von Gesellschaft

und

Kriminellen

Der Ausdruck „strafende Gesellschaft" wurde bereits 1931 geprägt. In der Arbeit „Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft" 1 0 5 geht E. Fromm der Frage nach, welche Faktoren im einzelnen die Eigenart des Verbrechers bestimmen und welches das — qualitative und quantitative — Verhältnis der individuellen zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren ist. E. Fromm betrachtet die Verbrecher in einer Ordnung, die man sich als Ergänzungsreihe vorzustellen hat, „an deren einem Ende die extremen Fälle des durch Not 102

H. Ostermeyer: Strafunrecht, München 1971, S. 18. P. Reiwald: Die Gesellschaft und ihre Verbrecher (1948), neu hrsg. mit Beiträgen von H. Jäger und T. Moser, Frankfurt a. Main 1973, S. 48. 104 H. Jäger: Psychologie des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft. In: P. Reiwald, a.a.O., S. 2 0 - 4 2 ; S. 38. 105 E. Fromm: Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft (1931). In: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie. 2. Aufl., Frankfurt a. Main 1971, S. 1 1 5 - 1 4 4 . 103

40

bedingten, von den Selbsterhaltungstrieben gespeisten ,Notverbrechens' stehen, an deren anderem Ende das reine ,Triebverbrechen', das, unabhängig von der realen und wirtschaftlichen Situation, lediglich aus den sexuellen Impulsen des Handelnden motiviert, zu finden ist" 1 0 6 . Schwer durchschaubar sind die Delikte, die irgendwo in der Mitte der Ergänzungsreihe unterzubringen sind. Es sind entweder „Eigentumsdelikte, die über die Befriedigung egoistisch-narzißtischer Bedürfnisse hinaus Ausdruck unbewußter sexueller Impulse sind" oder „solche Sexual- und Aggressionsdelikte, bei deren Entstehen gesellschaftlich-wirtschaftliche Faktoren eine, wenn auch mittelbare, Rolle spielen" 1 0 7 . Man kann nach E. Fromm weder „alle Delikte aus wirtschaftlichen Gründen erklären — das beweist sowohl die Kriminalstatistik wie die Tatsache, daß die große Mehrzahl der Besitzlosen nicht kriminell wird 1 0 8 —, noch lassen sie sich rein aus Triebgründen erklären, denn sonst würden sich nicht die, auch relativ, meisten Kriminellen aus der besitzlosen Masse rekrutieren" 1 0 9 . Damit setzt sich E. Fromm ab von der Einteilung in neurotische und normale Verbrecher durch F. Alexander und H. Staub. Irrationale Triebmotive vermischen sich miteinander. „Auch der scheinbar ganz rational, aus egoistischen Motiven handelnde Verbrecher wird gewöhnlich von ihm selbst unbewußten Triebregungen bestimmt, verbrecherisch zu handeln. Die Wünsche und Interessen des Ichs amalgamieren sich mit denen der primären Triebhaftigkeit (des Es) und beweisen so die Stärke der dem seelischen Apparat innewohnenden Tendenz, solche Amalgamierungen zu vollziehen und dem Ich auch seine irrational-triebhaft motivierten Handlungen verständlich erscheinen zu lassen". So können aus der Tatsache der weitgehenden Rationalisierung keinerlei Schlüsse gezogen werden auf die Stärke der am Delikt beteiligten unbewußten libidinösen Motive, noch auf den mehr oder weniger zwanghaften Charakter des kriminellen Agierens 110 . A.a.O., S. 119. 107 A.a.O., S. 121. l° 8 Man müßte eigentlich fragen: „Warum begehen die meisten Menschen in eben dieser ökonomischen Situation" (, die die legale Befriedigung an sich normaler Bedürfnisse nicht erlaubt,) „keine Delikte, um sich die Befriedigung solcher Bedürfnisse zu beschaffen, die einer Reihe von Mitgliedern der Gesellschaft auf legalem Wege möglich ist?" E. Fromm, a.a.O., S. 120. Vgl. R. Ahlheim u.a.: Gefesselte Jugend. 2. Aufl., Frankfurt a. Main 1 9 7 2 , Kap. II, Kriminalität in der Klassengesellschaft, S. 66—150; S. 9 6 , w o diese Frage mit dem politischen Hintergrund der Kriminalität in Verbindung gebracht werden soll: „Wenn wir davon ausgehen, daß die allgemeinen, kriminogenen Ursachen mit Gesetzmäßigkeit aus dem kapitalistischen System folgen, so müssen wir fragen: Warum begehen die meisten Menschen in proletarischer Lebenslage trotz dieser Bedingungen keine Delikte?" 109 E. Fromm, a.a.O., S. 121. u ° A.a.O., S. 122.

41

Die „durch die individuelle Entwicklung bedingte Trieblage" und die gesellschaftlich-wirtschaftliche Situation ergeben zusammen das Motiv des Verbrechens. Auf dem Hintergrund dieser Tatsache erhebt sich die Frage, „warum für bestimmte gesellschaftliche Schichten das Verbrechen eine so große Rolle als Befriedigung bestimmter libidinöser Triebregungen spielt" 1 1 1 . E. Fromm nennt einige wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingte Faktoren, die das Entstehen von Kriminalität in der Unterschicht begünstigen: 1. Die geringe Sublimierungsmöglichkeit; 2. die Verstärkung der individuell bedingten, aggressiven Impulse beim Angehörigen der unterdrückten Klasse durch den Haß gegen die herrschende Klasse und die von ihr gemachten Gesetze; 3. die Befriedigung narzißtischer Bedürfnisse durch Begleitereignisse des Verbrechens auf dem Hintergrund einer „narzißtischen Unterernährung" beim Proletarier; das „Verbrechen — das Genanntwerden in der Zeitung, das Erscheinen vor einem Richterkollegium und einem zuhörenden Publikum, die Inanspruchnahme so vieler Menschen, die sich sonst nie um ihn kümmern würden — bietet weitgehende narzißtische Befriedigungen, wenn auch nur bis zu dem Augenblick, wo sich die Tore des Gefängnisses hinter ihm schließen". 4. Für den Angehörigen der unterdrückten Klasse ist es besonders leicht, „seine gesellschaftsfeindliche Handlung vor sich selbst als eine erlaubte und nur das ihm zugefügte Unrecht adäquat vergeltende hinzustellen". 5. Wo die libidinösen Motive zu Vermögensdelikten allein nicht ausreichen, „um das Verbrechen psychisch zu ermöglichen, wird die Amalgamierung mit Ichmotiven zum zwingenden und unüberwindlichen Motor des kriminellen Handelns" 1 1 2 . Die Frage, ob das Verbrechen vorwiegend aus wirtschaftlichen oder aus triebhaften Motiven zu erklären ist, ist falsch gestellt. Viele Verbrechen lassen sich vielmehr „definieren als die Befriedigung bestimmter, ihrer Entstehung nach individuell bedingter libidinöser Impulse unter bestimmten, sozialökonomischen Verhältnissen" 1 1 3 . Die von E. Fromm mit dem Stichwort „narzißtische Unterernährung" angedeuteten Phänomene haben inzwischen ihre Präzision gefunden. Am Beispiel der Lage der Neger in den USA versucht L. Rosenkötter in seinen „Unfertigen Hypothesen zur sozialpsychologischen Bedeutung des "1 A.a.O., S. 126. 112 A.a.O., S. 128f. 113 A.a.O., S. 130.

42

Narzißmus" 1 1 4 der Frage nachzugehen, warum Menschen sich so offensichtlich destruktiv und irrational verhalten. Der Sozialisationsprozeß ist mit Triebverzicht und Triebumwandlung verbunden, und zwar sind sowohl libidinose als auch aggressive Triebe hiervon betroffen 1 1 5 . „Libidinose, an die Mutter oder die Eltern gerichtete Wünsche und aggressive Regungen gegen unerwünschte Rivalen . . . müssen aufgegeben werden, um die Übereinstimmung mit den Sicherheit gewährenden Elternfiguren zu erlangen und zu erhalten" 1 1 6 . Da die Symbiose mit der Mutter aber nicht wiedergewonnen werden kann, treten innere Strukturen an ihre Stelle, „welche einer Regulierung dieses Sicherheitsbedürfnisses dienen und welche in zunehmender Autonomie diese Aufgabe übernehmen" 1 1 7 . Die Funktion einer äußeren Beziehungsperson wird nun vom sogenannten Ich-Ideal, dem „Erben des ursprünglichen Narzißmus", übernommen. Der Prozeß der Verinnerlichung von idealisierten Elternfiguren bis zum Ich-Ideal und Überich wird nie ganz abgeschlossen. „Die Menschen brauchen auch als Erwachsene das Gefühl eines inneren Einsseins mit den Abkömmlingen der idealisierten Imagines. Dies können entweder reale Gestalten sein, die die Funktion von Führern oder Leitbildern haben, es können mythologische Figuren oder es können bestimmte Wertsysteme sein" 118 . Die sozialen Bindungen des Menschen beruhen zum großen Teil auf der Identifizierung von Menschengruppen untereinander und dem Verzicht auf antisoziale Regungen zugunsten der gemeinsamen Liebe symbolischer Figuren, die als Derivate der idealisierten Elternimagines verstanden werden müssen" 1 1 9 . So erklärt sich z.B. die große Bedeutung des Nationalismus. Es können besonders starke Aggressionen geweckt werden, wenn bestimmte Gruppen einer Gesellschaft „sich der gemeinsamen und gerechten Kindschaft in ihrer Nation nicht ganz sicher sein können". Dieser psychische Mechanismus erklärt den Zusammenhang zwischen Diskrimination und Gewalttätigkeit. Nicht allein die materielle Armut stellt den „psychologischen Zündstoff" dar, „sondern die grundlegende existentielle Diskriminierung in Form einer angeblichen und unausweichlichen Minderwertigkeit. Der Verzicht auf die Hoffnung, mit idealisierten Werten in Einklang zu kommen, muß in großem Ausmaß 114

L. Rosenkötter: Unfertige Hypothesen zur sozialpsychologischen Bedeutung des Narzißmus. In: Individuum und Gesellschaft, Stuttgart 1973, S. 170—180. 115 A.a.O., S. 173. 116 A.a.O., S. 173f. 117 A.a.O., S. 174. H» A.a.O., S. 174f. il 9 A.a.O., S. 175f.

43

Aggressionen entbinden, jene wilddestruktiven Aggressionen der frühen Kindheit, auf die verzichtet wurde zugunsten des Einsseins mit geliebten und schutzgebenden Figuren" 1 2 0 . Man kann ohne Schwierigkeiten in Randgruppen unserer Gesellschaft, aus denen sich ein großer Teil der Kriminellen rekrutiert, solche ,,der gemeinsamen und gerechten Kindschaft in ihrer Nation" beraubten Individuen wiedererkennen. Daß z.B. Obdachlose den „Verzicht auf die Hoffnung, mit idealisierten Werten in Einklang zu kommen", leisten müssen, deuten D. Schwarz u. A. Weidner an, wenn sie schreiben: „Typisch für Obdachlose sind Selbsthaß und Verachtung der eigenen Gruppe und das Fehlen jedes für die working-class sonst festgestellten Selbstbewußtseins, Einstellungen, die die oft offene Aggressivität der Obdachlosenfamilien untereinander erklären" 1 2 1 . Die hohe Delinquenzrate der Obdachlosen 1 2 2 wird ebenfalls von hier aus verständlich. S. Quensel versucht, in die Erklärung der Delinquenz die zeitliche Dimension mit einzubeziehen, d.h. die delinquente Entwicklung als Prozeß zu verstehen. Nach dem Vorbild kybernetischer Regelungsprozesse erklärt er die Entwicklung jugendlicher Krimineller als positiven Feedback-Prozeß. Danach läßt sich die Delinquenz „als Folge eines fehlgeschlagenen, sich wechselseitig hochschaukelnden Interaktionsprozesses zwischen dem Jugendlichen und seiner Umwelt — interpretieren" 1 2 3 . Die ursprüngliche „Basisbelastung" (frühkindliche familiäre Störungen, unzureichende Sozialisationstechniken, schichtspezifische Einstellungen und geringe ökonomische Ausgleichsmöglichkeiten) wirkt sich in jeder Phase des Prozesses erneut aus, „sie ist also keine konstante Größe, sondern wird im Fortschreiten des Prozesses progressiv verstärkt" 1 2 4 . Ich meine, daß die anfängliche „Basisbelastung" der von L. Rosenkötter genannten „Diskriminierung in Form einer unausweichlichen Minderwertigkeit" entspricht. Der von S. Quensel beschriebene Hochschaukelungsprozeß wäre dann zu verstehen als eine sich perpetuierende Beraubung idealisierter Werte und eine damit gekoppelte Steigerung destruktiver Aggressionen. Die Diskriminierung liegt in den Festlegungen von Seiten des Sanktionsapparates: Arrest, vorbestraft, rückfällig etc.

" 0 A.a.O., S. 176. 121

D. Schwarz u. A. Weidner: Die soziale Situation Obdachloser. In: KJ 3 / 1 9 7 0 , S. 4 0 6 - 4 1 4 ; S. 4 0 9 . 122 A.a.O., S. 4 0 8 . ι » S. Quensel: Wie wird man kriminell? In: KJ 3 / 1 9 7 0 , S. 3 7 5 - 3 8 2 ; S. 3 8 0 . 124 Ebd.

44

Das Individuum wird sich selbst immer mehr entidealisiert, steckt durch stigmatisierende Roilenzuschreibungen und Definitionen immer mehr narzißtische Kränkungen ein und verliert immer weitere Teile „gerechter Kindschaft" in der Gesellschaft. Diskriminierung aber, „d.h. in ein soziales System eingebaute narzißtische Kränkung" schließt Aggression mit ein, „die sich als Haß entbinden kann" 1 2 5 . Den sozialen Ort, an dem Menschen „andauernd die Befriedigung ihrer vitalen und insbesondere oralen Bedürfnisse entbehren müssen, ohne diese Entbehrung als eine absolut notwendige und allen Menschen gleichauferlegte zu erleben" 1 2 6 , bezeichnet bereits S. Bernfeld zutreffend als Tantalussituation. Beleidigte Götter haben einst dem Tantalus auferlegt, „mitten in der erregendsten Fülle machtlos entbehren zu müssen" 127 . Breite Schichten des Proletariats und Kleinbürgertums erleiden dieses Schicksal 128 . An dem sozialen Ort der Tantalussituation reicht ein Überich normaler Stärke, ohne Unterstützung der Realangsthemmungen, offenbar nicht aus, um das Verhalten des Individuums an die vom Gesetzgeber als sozial beurteilten Grenzen zu binden. Daher genügt es auch nicht, Verbrechen derjenigen Menschen, die am sozialen Ort der „Tantalussituation" aufgewachsen sind oder sich als Erwachsene dauernd in diesem Milieu befinden, auf konfliktreiche Kindheitserlebnisse zurückzuführen 1 2 9 . Hier gilt es eindeutig, die ökonomische und gesellschaftliche Bedingtheit der Verbrechen mit zu berücksichtigen. 1.2.2

Die Affinität

zwischen

Verbrechern und

Verfolgern

Daß der Friede innerhalb einer Gesellschaft — sofern ihre Mitglieder nicht kriminell werden — wenig stabil und leicht vergänglich ist, ergibt sich aus dem Faktum, daß er sich erst aus der Erziehung der Individuen konstituiert. Der auf dem Wege der individuellen Sozialisationsprozesse erlangte Friede beruht auf einer Art „Vertrag". Dieser ,,contrat social" funktioniert etwa folgendermaßen: Das Individuum nimmt Triebeinschränkungen auf sich, die die Gesellschaft von ihm verlangt. Es verzichtet also der Gemeinschaft zuliebe — für das Kind stehen noch die einzelnen realen Autoritätspersonen an Stelle der Gemeinschaft —, um von der Gemeinschaft und insbesondere ihren Autoritäten geliebt «25 L. Rosenkötter, a.a.O., S. 179. 126

S. Bernfeld: Die Tatalussituation. In: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse Bd. II. 4. Aufl., Frankfurt a. Main 1971, S. 6 4 8 - 6 6 3 ; S. 662. i " A.a.O., S. 658. 128 Ebd. i 2 » A.a.O., S. 6 6 I f f .

45

zu werden 1 3 0 , wie immer sich das im einzelnen äußern mag. Dieser „Vertrag" ist jederzeit sozusagen „kündbar". „Wenn einmal erworbene und bisher erlaubte Triebbefriedigung — juristisch ausgedrückt: Rechte — dem Menschen genommen werden, so kündigt dieser sofort den ihn verpflichtenden Teil des Vertrages, nämlich die Trieb verzichte. Die Folge des verletzten Gerechtigkeitsgefühls ist eine regressive Bewegung: der Triebdurchbruch" 1 3 1 . Die Friedlichkeit und Angepaßtheit des Einzelnen wird von keiner Instanz auf Dauer garantiert. Die große Verletzlichkeit des gesellschaftlichen Friedens entspricht der oben dargelegten latenten Gefährdung der individuellen Kulturfähigkeit. Aber auch ohne einen regressiven, kriminellen Triebdruchbruch kann der nach gesellschaftlichen Normen Nichtkriminelle durchaus an Gewalttätigkeit teilhaben, wodurch die Frage nach der Kriminalität sich weitgehend auf ein Definitionsproblem reduziert. Zieht man die Bilanz aller bisherigen Kriege, so kann man H. M. Enzensberger nur Recht geben, der schreibt: „Die einfachste Überlegung zeigt, daß der private Mord in geschichtlichen Zeiten nie mit dem öffentlichen sich hat messen können" 1 3 2 . Im Unterschied zum individuellen Verbrechen bringen kollektive Gewaltakte wie z.B. Kriege als Mittel der Aggressionsabfuhr dem Einzelnen den bedeutsamen Vorteil, daß er in der Gesellschaft geborgen bleibt 1 3 3 . Von psychoanalytisch orientierten Autoren wird immer wieder auf eine „Affinität zwischen der Verbrecherwelt und ihren amtlichen Verfolgern" 1 3 4 hingewiesen. Damit einher gehen die Feststellungen, daß im Grunde jeder Mensch ein „potentieller Verbrecher" sei bzw. durch unsere repressive Erziehung zwangsläufig dazu gemacht werde 1 3 s . Und 130 H. Staub: Psychoanalyse und Strafrecht. In: Imago XVII/1931, S. 1 9 4 - 2 1 6 ; S. 205. 131 F. Alexander: Psychische Hygiene und Kriminalität. In: Imago XVII/1931, S. 1 4 5 - 1 7 3 ; S. 153. 132 H. M. Enzensberger: Reflexionen vor einem Glaskasten. In: Deutschland Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik. 3. Aufl., Frankfurt a. Main 1967, S. 69— 98; S. 77. 133 A. Plack: Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral. 10., aktualisierte Aufl., München 1971, S. 298. 134 F. Alexander u. H. Staub: Einige Bemerkungen zur Psychologie der strafenden Gesellschaft. In: A. Mitscherlich (Hrsg.): Psychoanalyse und Justiz, S. 383—395; S. 388. 135 H. Ostermeyer: Strafunrecht, S. 18; ders.: Die Siindenbockprojektion in der Rechtssprechung. In: ZRP 3/1970, Heft 11, S. 241; E. Naegeli: Die Gesellschaft und die Kriminellen, Zürich 1972, S. 25; P. Reiwald: Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, S. 72.

46

auch wer Aggression im Strafrecht verteidigt, ist selbst von ihr besessen, ob ihm das bewußt ist oder nicht 1 3 6 . In den Taten der Verbrecher wie ihrer Verfolger entlädt sich ein oft lange aufgestauter Drang zur Aggression. Darin sind sich beide Gruppen gleich. W. Hochheimer bringt treffend zum Ausdruck, daß sowohl delinquentes als auch strafendes Handeln triebhaft ist. „In der Situation von Straffälligkeit treffen psychodynamische Prozesse der beteiligten Opponenten aufeinander. Angriff, Verletzung, Nötigung, Freiheitsbeschränkung, Raub treffen als straffällige Haltungen mit Reaktionen von Bestrafungen zusammen. Lustgewinn wie Unlust bewegen den Täter wie Rächer, gewollt wie ungewollt, bewußt treibend wie getrieben unbewußt. Verschiedenartige Erregungen stauen sich an und drängen zur Entladung" 1 3 7 . Und so verringert sich nach Kenntnisnahme der im Unbewußten gelagerten Gleichheit die anscheinend so große Kluft zwischen der strafenden und bestraften Seite der Gesellschaft immer mehr. Die strafende Gesellschaft hat gegenüber dem Delinquenten den Vorteil, eine Legitimation für ihre Aggression zu haben, nämlich die sogenannte „Schuld" des Täters. Sie ist „das gute Gewissen der Gesellschaft, ihn zu strafen. Dies gute Gewissen ist zur Beschwichtigung des eigenen Uber-Ichs nötig, das die Aggression gegen den Kriminellen nur duldet, wenn sie rationalisierend als moralisch ausgegeben wird" 1 3 8 . Bis heute hat das Strafverhalten der Gesellschaft sein Ziel in keiner Weise erreicht. Nicht von ungefähr erfolgte schon 1948 die harte Kritik von P. Reiwald: „Käme es dem Menschen wirklich allein auf Schutz und Abwehr an, er wäre längst mit dem Verbrechen fertig geworden" 1 3 9 . Man hat zu Recht aus dem Festhalten der Gesellschaft an Strafmaßnahmen, deren Wirkungslosigkeit gegenüber dem behaupteten Ziel klar erwiesen ist, auf eine „andere, gleichsam geheime Funktion" der Strafjustiz geschlossen, und darauf, „daß sie diese zufriedenstellend erfüllt und gerade wegen dieser Funktion nicht fallengelassen wird, obgleich sie sich für ihre offiziellen Zwecke offensichtlich als untauglich erweist" 1 4 0 . Als die geheime Funktion der Strafjustiz wird nun immer wieder die paradoxe Tatsache genannt, daß sie kriminalitätserhaltend oder -fördernd wirkt 1 4 1 , also gerade das Gegenteil des intendierten Zwecks. 136

W. Hochheimer: Zur Psychologie von strafender Gesellschaft. In: KJ 1 / 1 9 6 9 , S. 2 7 - 4 9 ; S. 45. 137 A.a.O., S. 31; Sperrdruck von Verf. vorgenommen. 138 H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, München 1972, S. 63. 1 39 P. Reiwald, a.a.O., S. 126. 140 E. Fromm: Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft, S. 137. ' « A m deutlichsten P. Reiwald, S. 72; S. 185; S. 187.

47

Angesichts der vorliegenden Bilanz über das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Verbrechern und über das allgemeinmenschliche Phänomen der „latenten Kriminalität" bleibt die Erkenntnis, „daß das Böse unausweichlich zur Welt und zum Menschen gehört"? 4 2 . Es gilt, Umgangsformen mit Rechtsbrechern zu finden, die diesem Faktum gerecht werden. Hierbei ist gerade die Verdrängung des Bösen der gefährlichste Weg. „Verbrechensverdrängung erweist sich als keine endgültige Lösung, sondern als schwerer latenter Gefahrenzustand" 1 4 3 . Es gilt vielmehr, zu einem bewußten Umgang mit aggressiven Tendenzen zu gelangen. 1.2.3

Das Abhängigkeitsgefiige zwischen Sozialen und Asozialen die Rolle des Verbrechers in der Gesellschaft

oder:

Was sich in dem Abhängigkeitsgefüge von Gesellschaft und Verbrechern abspielt, läßt sich unter drei Aspekten betrachten: Definitionen der Rolle des Verbrechers, Definitionen des Strafverhaltens der Gesellschaft und die Darstellung der Beziehung beider Seiten zueinander. Dabei sind die einzelnen Aspekte freilich nicht ganz voneinander zu trennen. Die beiden erstgenannten implizieren grundsätzlich Beziehungsaspekte; man kann aber doch diese Schwerpunkte setzen. An dieser Stelle soll insbesondere auf das ganze Register von „Rollen" des Verbrechers in der Gesellschaft eingegangen werden, die immer wieder genannt worden sind. Am plastischsten sind sie von H. M. Enzensberger beschrieben worden. Die wohl am häufigsten genannte Rolle ist die des Stellvertreters. Das Scheitern an der gesetzlichen Ordnung ist ein Schicksal, das jeden treffen könnte. „Als Stellvertreter aller empfängt der Verbrecher . . . nicht nur seine Strafe, er handelt schon vorher in ihrem Namen, wenn auch ohne ihren Auftrag. Denn er tut nur, wonach es jedermann verlangt; und zwar tut er es auf eigene Faust, also ohne staatliche Konzession. Die Wut darüber, daß er sich herausnimmt, was jedermann sich verbietet, solange es verboten und noch nicht befohlen ist — diese Wut kühlt sich, indem sie Gleiches mit Gleichem vergilt, die Tat des Stellvertreters an ihm wiederholt". „Mörder und Henker nehmen uns ab, was wir zu tun und zugleich zu unterlassen wünschen, und verschaffen uns so nicht nur ein moralisches Alibi, sondern auch das Gefühl moralischer Überlegenheit" 144 .

E. Naegeli: Das Böse und das Strafrecht, München o.J., S. 17. P. Reiwald, a.a.O. S. 195. 144 H. M. Enzensberger, a.a.O., S. 90; vgl. auch A. Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, München 1974, S. 173. 143

48

Mit dem Anspruch, alles zu dürfen, stellt sich der Verbrecher „neben, mithin gegen den Staat". Insofern ist er der Konkurrent des Staates. Er stellt das Monopol des Staates auf die Gewalt in Frage 145 . Trotz des von vornherein eindeutigen Machtverhältnisses sieht sich der Staat durch die Tat des Einzelnen bedroht. „Die Wut, mit der sein Delikt geahndet wird, zeigt die Unsicherheit unserer öffentlichen Ordnungen, die Kehrseite ihrer Übermacht" 1 4 6 . H. M. Enzensberger betont die Tatsache, daß rivalisierende Organisationen stets die Neigung haben, einander ähnlich zu werden 1 4 7 . So bilden sich Verbrechergruppen als Parodien der sozialen und politischen Verfassungen, der sie sich entgegenstellen und umgekehrt 1 4 8 . „Indessen hinken die Kriminellen meist hinter dem Entwicklungsstand des Ganzen her, was ihnen eine romantische Aura verleiht" 1 4 9 . Man hat den Verbrecher auch zum „mythologischen Grundbestand der Gegenwart" gezählt und ihm die „Züge einer Kunstfigur" zugedacht. H. M. Enzensberger schreibt dazu: „In unserer Phantasie behauptet er einen Platz, der mit seiner realen Bedeutung und mit der seiner Taten nicht mehr vereinbar und durchs Tatsächliche seines Daseins nicht mehr zu erklären ist. Wunderbar und rätselhaft bleibt, mit welcher Leidenschaft wir uns um ihn kümmern und welchen enormen Apparat zu seiner Bekämpfung wir aufbieten. Er genießt eine irrationale Publizität. An den Schlagzeilen unserer Zeitungen ist abzulesen, daß ein simpler Mordfall unsere Gemüter mehr beschäftigt und erregt als ein Krieg, der in genügender Entfernung sich abspielt — und wieviel mehr erst als ein Krieg, der noch nicht ausgebrochen ist, sondern nur vorbereitet wird" 1 5 0 .

I.2.4

Vom Sinn der Strafe

Wenn im Folgenden nach dem „Sinn" der Strafe gefragt wird, so geht es hier in erster Linie um ihren unbewußten Sinn. Man kann wohl generell von einer Diskrepanz zwischen bewußten und unbewußten Strafzwecken ausgehen. „Die Theorien der Juristen geben Auskunft darüber, was die Strafe ihrem bewußten Zweck nach erreichen soll, die der Anthropologen . . . über ihre soziale Funktion. Insofern sind sie auch

145

147 148 149

H. M. Enzensberger, a.a.O., S. 91. Ebd. A.a.O., S. 9 2 ; s. dort die Beispiele Ebd. A.a.O., S. 9 2 f . A.a.O., S. 88.

4 Stubbe, Seelsorge

49

durchaus legitim. Was sie aber nicht geben, ist Aufschluß über die psychischen Kräfte, die die Strafe geschaffen und geformt haben (vielleicht keineswegs im Einklang mit den Zwecken und Funktionen, denen sie dienstbar gemacht wurde)" 1 5 3 . Es sind gewisse Auffälligkeiten im Wesen der Strafe bzw. ihrer Vollstreckung, die zur Hinterfragung der rationalen Strafzwecke geführt haben. Die Reaktionen der Gesellschaft auf eingebildete oder wirkliche Verbrechen dienen am allerwenigsten einer Sicherung gegen das Verbrechen und haben auch nur wenig zu tun mit dem, was man in den verschiedenen Zeiten unter Sühne oder Vergeltung verstand 1 5 4 . Die Wirkungslosigkeit der Strafe wird als das entscheidende Argument gegen sie herausgestellt 155 . Das Straf υ erlangen der Gesellschaft ist so mächtig, daß es in keinem Verhältnis zu den konkreten Verbrechen steht, auf die es sich beruft 1 5 6 . Auffällig ist darüber hinaus die selten einmütige Übereinstimmung der Gemeinschaft mit der Staatsgewalt, sobald es ans Strafen geht. Schon H. Staub hat darauf hingewiesen, daß das überwache Interesse der Menschen am Strafverfahren ein wichtiges Forschungsgebiet der Psychoanalyse darstellt 1 5 7 . Der Wille der Gesellschaft zum Strafen ist älter als das Strafgesetz. Deshalb ist das Strafverhalten der Gesellschaft nicht mit juristischen Mitteln zu ergründen 1 5 8 . Es liegt eine Vielzahl von Definitionen der Strafe aus psychoanalytischer Sicht vor. Nur über die wichtigsten sei hier ein Überblick gegeben. Nach P. Reiwald hat sich das Strafrecht als juristisch verankerte Form des Strafens „entwickelt als berechtigte, formgebundene, zum Teil sublimierte Aggression gegen die unberechtigte, formlose, primitive des Asozialen". „Die Bindung der Gegenaggression an bestimmte Formen, Bedingungen und Garantien, das ist das moderne Strafverfahren" 1 5 9 . Bei A. Plack wird die gesellschaftlich bedingte, repressive Funktion der Strafe stärker hervorgehoben. Er betont, daß Strafe nichts Naturgegebenes ist 1 6 0 . Als eindeutige Triebunterdrückung ist sie eine typische Form gesellschaftlicher Unterdrückung überhaupt. Eine Veranlassung zum Verzicht auf Triebbefriedigung kann nur gelingen durch die An153

P. Reiwald, a.a.O., S. 200f. 154 A.a.O., S. 58. 155 A. Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 178. 156 H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, S. 28. 157 H. Staub: Psychoanalyse und Strafrecht, S. 202. 158 H. Ostermeyer: Die Sündenbockprojektion in der Rechtssprechung, S. 241. 159 P. Reiwald, a.a.O., S. 249f. 160 A. Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 198.

50

drohung noch schlimmerer Verzichte für den Fall des Ungehorsams. Als äußerste Drohung aber kann dann die Drohung absoluter Vereinsamung ergehen. Dies ist, nach A. Plack, „triebpsychologisch der Ursinn der Strafe (sofern sie nicht schon das Leben bedroht): Entzug einer Befriedigung als ,Konsequenz' einer anderen, die nicht sein sollte. Dabei ist die erzieherische Wirkung' umso größer, je enger das Entzogene in das vitale Selbstgefühl eingeflochten war" 1 6 1 . Der „immanente Zweck jeder Kriminalstrafe" ist: „sozial Minderprivilegierte zu schaffen" 1 6 2 . Strafe ist Aggression, die dem Angegriffenen keine Chance der Gegenwehr gibt 1 6 3 . H. Ostermeyer macht die Legalisierung der Gegenaggression durch das Strafrecht deutlich: „Strafe ist durch rechtsstaatliche Garantien dosierte Gegenaggression der Gesellschaft gegen das Verbrechen, sie ist vom Verbrechen im Wesen nicht verschieden164, sondern setzt Gewalt gegen Gewalt . . . für das psychisch Unbewußte — und darauf kommt es an — sind sie ein und dasselbe, zwei gleichartige Posten auf zwei Seiten derselben Rechnung" 16s . Strafe dient dazu, den Gegensatz zum Asozialen, der zunächst nur in der Einbildung besteht, konkret zu machen 1 6 6 . Nach W. Hochheimer ist Strafe „ein Mittel zur Durchsetzung bestimmter Ansprüche und Ordnungen" 1 6 7 , also wie bei A. Plack ein eindeutiger Machtfaktor. Das Strafwesen ist eine Form von Triebbefriedigung („strafen befriedigt" 1 6 8 ) und dient der Absicherung der Anthropologie einer Gesellschaftsordnung mit Hilfe von Rechtsordnungen 1 6 9 . Die bisherigen Ausführungen haben bereits anklingen lassen, daß es sich beim Strafverhalten in der Regel um unbewußt triebhaftes Verhalten handelt. Das gilt trotz aller bewußt und rational angebbarer Strafzwecke. Schon H. Staub stellt die These auf: „Es wird dunkel gefühlt, daß die Strafe zunächst affektive, sadistische Tendenzen befriedigt, und wie aus gemeinschaftlichem Schuldgefühl bestreben sich die Reformatoren, den Strafvollzug immer humaner zu gestalten, gleichsam um die Folgen des eigenen Sadismus am eingesperrten Individuum wieder gut zu machen" 1 7 0 . 161 162

i«3 1(A 165

i« »« i« 169



Ders.: Die Gesellschaft und das Böse, S. 110. Ders.: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 132. A.a.O., S. 137. Hervorhebung von Verf. vorgenommen. H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, S. 30. A.a.O., S. 32. W. Hochheimer, a.a.O., S. 28. A.a.O., S. 39. A.a.O., S. 28. H. Staub: Psychoanalyse und Strafrecht, S. 212.

51

Wie dem auch sei, zunächst wird, wie H. Staub es nennt, „mit einer geradezu monomanischen Beharrlichkeit" „an der Verknüpfung von Verbrechen und Strafe festgehalten" 1 7 1 . Die Geschichte des Strafrechts bis zum heutigen Tag bleibt ohne die Voraussetzung unbewußter Triebe und ihres bestimmenden Einflusses unverständlich 1 7 2 . Und es ergibt sich die Notwendigkeit, „im Strafrecht die Symptome der affektiven Einstellung des Menschen zum Verbrecher zu erkennen" 1 7 3 . Im Gegensatz zur individuellen Triebbefriedigung durch Gegenaggression (z.B. in der Blutrache) wird der Einzelne erfolgreich zu einer kollektiven Triebbefriedigung gezwungen. P. Reiwald sieht hierin die Möglichkeit einer sozialen Ordnung gegeben: „Nichts bindet die Menschen stärker zusammen, als gemeinsame wirkliche oder symbolische Triebbefriedigung, die anstelle der unmittelbaren sofortigen Einzelbefriedigung tritt". Er definiert den Unterschied zwischen der Gegenaggression des Einzelnen und der Strafe der Gemeinschaft in der Weise, „daß in letzterer ein Verzicht auf unmittelbare Triebbefriedigung stattfindet und statt ihrer eine feste Form der kollektiven Abfuhr des Verlangens erzwungen wird" 1 7 4 . Strafe — im Sinne individueller wie kollektiver Triebbefriedigung — ist zu verstehen als ein Repressions- oder Machtmittel. Das Bedürfnis, über andere Macht auszuüben, wird in der Regel schon früh angelegt. „Daß andere zunächst Macht über uns haben, kann dazu führen, daß wir, im Wiederholungszwang festgefahren, alles daran setzen, unsererseits Macht über andere zu gewinnen" 175 . Bereits die „an Macht überlegenen Ersterzieher stoßen als Prototypen von Herrschaft mit den Eigenregungen im unmündigen Kleinkind zusammen" 1 7 6 . Zumal in autoritär bestimmten Gesellschaften, deren hervorstechendstes Merkmal gerade die Triebunterdrückung ist, wird jede passende Gelegenheit genutzt, Aggressionen abzureagieren. Als Aggressionsobjekte eignen sich immer am besten schwächere, rechtlose Personen (so z.B. Kinder, Gefangene) — nach dem Prinzip des geringsten Widerstandes 177 . Darüber hinaus „wird Autorität durch Vorrechte und Statussymbole erhöht. Hierzu gehört das

»i 172 i» i«

A.a.O., S. 201. p. Reiwald: a.a.O., S. 61f. A.a.O., S. 61. A.a.O., S. 242. W. Hochheimer, a.a.O., S. 29. »» A.a.O., S. 32. »77 A.a.O., S. 47.

52

Straf- und Züchtigungsrecht innerhalb von Familien wie von Staatsmacht" 178 . Die ganze Problematik des Strafens konzentriert sich in dem Problem der Todesstrafe, das hier nur kurz gestreift werden kann. Die Todesstrafe ist als der „geheime Archetypus jeder Strafe" 1 7 9 bezeichnet worden. Mit ihr „steht die Strafe schlechthin zur Diskussion; deshalb scheiden an ihr sich Geister und Verfassungen" 1 8 0 . Der triebhafte Ursprung des Strafens überhaupt wird an der Todesstrafe besonders deutlich, an der Leidenschaft, mit der um sie gestritten wird. „Gleichgültig, was die Rufer nach der Todesstrafe vorwenden, ein hysterischer Unterton verrät ihr Verlangen nach einer übermächtigen Autorität, mit der sie sich identifizieren können. Was dem Einzelnen verboten ist, andere .unschädlich zu machen', also zu töten, erlaubt ihm, als Angehörigem des Kollektivs, die Hinrichtung . . . Der Henker ist nur unser Stellvertreter" 1 8 1 . Das Bedürfnis nach Rache, auf das wir weiter unten noch zu sprechen kommen werden, wird hier am allerdeutlichsten. Die aus Triebunterdrückung resultierende Aggressionsneigung bei den einzelnen Gliedern der Gesellschaft weckt Schuldgefühl, da die Aggression gleichzeitig von der Erziehung verboten wird. „Diese in sich selbst gefühlte Schuld projiziert der potentielle Verbrecher auf den wirklichen, die Gesellschaft insgesamt auf die Kriminellen. Der Kriminelle bietet sich dazu an, denn einmal hat er es gewagt, verbotene Aggressionen zu vollziehen, zum anderen ist er wehrlos. . . . seine Bestrafung ist verschleierte Selbstbestrafung" 1 8 2 . Dieser im Unbewußten ablaufende Mechanismus bringt dem „Sozialen" einen doppelten Vorteil: die Entlastung von eigenem Schulddruck und trotzdem die Vermeidung von Selbstaggression 183 . Das Moment der — unbewußten — Selbstbestrafung in der Strafrechtspflege muß sich strafschärfend auswirken. Die Strafe, die dem „Maß der Schuld" entsprechen soll, wird höher ausfallen, wenn sie außer der Schuld des Täters auch die der Gesellschaft abgilt 184 . So kann man auch davon ausgehen, daß die Strafen umso höher ausfallen werden, je größere Anstrengungen die Gesellschaft im inneren Kampfe mit der eigenen latenten Kriminalität aufbringen muß 1 8 5 . Die FordeA.a.O., S. 48. ™ Α. Plack: Plädoyer fur die Abschaffung des Strafrechts, S. 121. 180 Η. M. Enzensberger, a.a.O., S. 75. Ebd. 182 H. Ostermeyer: Die Sündenbockprojektion in der Rechtssprechung, S. 241. 183 H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, S. 33. 184 Ders.: Die Sündenbockprojektion in der Rechtssprechung, S. 241. 185 Ders.: Strafrecht und Psychoanalyse, S. 65.

53

rung, daß die Strafe der Schuld des Täters angemessen sein soll, wird durch den unbewußten Vorgang der projizierenden Selbstbestrafung in eklatanter Weise verletzt 1 8 6 . 1.2.5

Die „strafende

Gesellschaft"

Betrachten wir nun die strafende Gesellschaft, so erweist sich als eines ihrer Strafmotive die Angst. Sie läßt viele Menschen der Illusion verfallen, durch möglichst strenge Bestrafung lasse sich das Verbrechen bannen 1 8 7 . Deutlicher als die Angst vor dem Täter beziehungsweise seinem Delikt kennzeichnet sie allerdings ein ausgeprägter Sühnedrang. Aufgrund der gleichartigen Triebhaftigkeit im Täter wie im „Sozialen" ist der Sühnedrang gleichsam eine innere Notwendigkeit im Sinne einer „Schutzreaktion des Ichs gegen die eigenen Triebe im Dienste ihrer Verdrängung, um das seelische Gleichgewicht zwischen verdrängenden und verdrängten Kräften aufrechtzuerhalten" 1 8 8 . Es stellt also eine Bedrohung der eigenen Verdrängungen dar, wenn der Rechtsbrecher straflos bleibt 1 8 9 . Hierauf gibt es von der Triebdynamik her zwei Möglichkeiten: „entweder die eigenen Hemmungen aufzugeben und den asozialen Tendenzen nachzugeben oder die Strafe für den Täter zu verlangen. ,Was ich nicht darf, darf er auch nicht, wenn er straflos bleibt, will ich auch nicht mehr verzichten'" 1 9 0 . Mit dem Druck der verdrängten Tendenzen wächst die Notwendigkeit der Sühne „als abschreckendes Beispiel gegenüber der Urwelt der eigenen verdrängten Triebe". J e nachdrücklicher also der Mensch die Bestrafung des Rechtsbrechers fordert, umso weniger m u ß er die eigenen verdrängten asozialen Triebe b e k ä m p f e n 1 9 1 . Wie laut aber der Schrei nach Sühne sein mag, so besteht doch immer auch eine unbewußte Sympathie mit dem Täter. Sie „wird durch die Verdrängungsinstanz am Bewußtwerden verhindert und in der Verfolgung des Täters überkompensiert . . ., so darf dem bestraften Täter gegenüber eine besondere Milde, o f t geradezu Sympathie und Freundschaft entgegengebracht w e r d e n " 1 9 2 . 186

Ders.: Die Sündenbockprojektion in der Rechtssprechung, S. 242. 187 E. Naegeli: Die Gesellschaft und die Kriminellen, S. 63. 188 H. Staub: Psychoanalyse und Strafrecht, S. 204; ebenso: F. Alexander u. H. Staub: Einige Bemerkungen der Psychologie der strafenden Gesellschaft, S. 388. 189 F. Alexander u. H. Staub, a.a.O., S. 387. »*> Ebd. wi A.a.O., S. 388. 192 A.a.O., S. 389.

54

Während der sogenannte reuige Sünder eine psychologische Unterstützung im Kampf gegen die eigenen Triebe darstellt, gefährdet der „trotzige Täter", selbst im Falle seiner Verurteilung, die eigenen Verdrängungen. Denn die Triebe jedes Menschen neigen zur Auflehnung gegen das eigene Über-Ich wie gegen die Gesellschaft, um Befriedigung zu erlangen 193 . So wird die ausgleichende Rolle des Gerechtigkeitsgefühls in einem doppelten Sinn tätig. Bei übermäßig harten Urteilen, also zu harten Angriffen auf die Triebansprüche, tritt es an die Seite des Täters als des Repräsentanten des Trieblebens. Drohen dagegen die eigenen Triebe durch die Straflosigkeit des Täters durchzubrechen, so tritt das Gerechtigkeitsgefühl die Verfolgung des Täters an 1 9 4 . Wird mit dem Begriff des Sühnedrangs auch schon ein wesentlicher Teil der unbewußten Dynamik des Strafvorgangs erfaßt, so hat dieser doch auch noch eine tiefer liegende Wurzel: die Rache, man kann auch sagen, den Drang nach Vergeltung. „Wie die Triebe in der Realität auf Widerstände treffen und dadurch ein Spannungs- oder Leidenszustand entsteht, so reagiert der Mensch auf jede von außen kommende unlustvolle Beeinträchtigung in Umkehrung dieser Situation, indem er die Rolle der die Unlust zufügenden Realität gegenüber dem Angriff des anderen übernimmt. Dieser Rollentausch bildet die Grundlage der Rache" 1 9 5 . Das bedeutet knapp gesagt: „Die Rache dient der Abfuhr einer Unlustspannung mittels Projektion, das heißt, die Unlust wird dadurch aufgehoben, daß man das, was man passiv erduldet hat, aktiv auslebt" 1 9 6 . Die Rache ist älter als das Sühneverlangen und in jedem Lebewesen vorhanden und wirksam 1 9 7 . Der Unterschied zwischen Sühne und Rache liegt in der Art ihres Objekts. „Während der Sühnedrang dem Schutze vor der Identifizierung mit dem Missetäter dient, steht die Rache im Dienste des Selbstschutzes vor dem äußeren Feind. Das Sühneverlangen ist eine Reaktion auf das Drängen der eigenen Triebe, die Rache auf Angriffe von außen" 1 9 8 . ,,Es handelt sich also bei Sühne und Vergeltung um den gleichen seelischen Vorgang mit einer Akzentverschiebung, an ein verschiedenes Publikum gerichtet199. Der Sühnedrang spricht mehr zu den eigenen Trieben, die Vergeltung ist ein Racheakt gegenüber dem Täter" 2 0 0 . 193

A.a.O., S. 3 8 9 . A.a.O., S. 3 9 1 . 195 Ebd. 196 H. Staub: Psychoanalyse und Strafrccht, S. 2 0 4 . w F. Alexander u. H. Staub, a.a.O., S. 391. 198 A.a.O., S. 392. 199 Sperrdruck von Verf. vorgenommen. 200 Ebd.

55

Wenn es bei P. Reiwald heißt: „Erlaubte, ja gebotene Aggression und darum Aggression als Feierlichkeit, als Fest bilden immer noch einen der tiefsten Züge des Strafrechts" 2 0 1 , so wird uns die Feierlichkeit des Strafrechts zum Hinweis auf das, was sie mühsam, aber mißlungen zu kaschieren versucht: den eindeutig aggressiven Charakter dieses Vorgangs. „Die ganze Geschichte der Menschheit läßt sich unter dem Gesichtspunkt betrachten, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen es ihr gelungen ist, die Herrschaft des Es, des Trieb-Ich zurückzudrängen, das heißt, in welchen Formen sie sich Entsagung, z.B. Entsagung der Aggression auferlegt und annehmbar gemacht h a t " 2 0 2 . Das Strafrecht ist das deutlichste Beispiel für dieses Ringen mit der Aggression. „Aggression, und zwar asoziale Aggression, beherrscht das Strafrecht . . . Sie beherrscht seinen Geist" 2 0 3 . Neben dem Sühne- und Vergeltungsdrang dient das Bedürfnis der Massen nach Strafe der Ableitung von Aggressionen als „récompense für Verzicht auf Sadismus". Soweit sich die Menge mit der strafenden Gesellschaft identifiziert, ermöglicht ihr dieser Vorgang ein Ausleben eigener Aggressionen in sozial erlaubter Form 2 0 4 . Die Machtträger innerhalb einer Gesellschaft benötigen den Verbrecher, „um die Strafe . . . überhaupt ins Spiel bringen zu können. J e repressiver eine Gesellschaftsordnung ist, um so mehr bedarf sie wirksamer Mittel, um jene Atmosphäre der Angst zu erzeugen, ohne welche Macht sich nicht voll entfalten kann" 2 0 5 . E. Fromm meint nun ferner, daß das Strafrecht auch sozusagen als Katalysator für Aggressionen in umgekehrter Richtung fungiert: „Die Bestrafung des Verbrechers stellt eine Befriedigung der aggressiven und sadistischen Triebe der Masse dar, die sie für die vielen ihr aufgezwungenen Versagungen entschädigt und die es speziell ermöglicht, die Aggression, die sich natürlicherweise gegen die herrschende und bedrückende Schicht richtet, auf den Verbrecher zu übertragen und ihr so eine Abfuhr zu schaffen" 2 0 6 . Wenn im Sinne I. Kants die Hinrichtung des letzten Mörders bedeutete: „der Gerechtigkeit ist volle Genüge geschehen", so heißt eben dies im mi P. Reiwald, a.a.O., S. 224. 202 A.a.O., S. 228. 203 A.a.O., S. 233. 2 0 4 H. Staub: Psychoanalyse und Strafrecht, S. 204; F. Alexander und H. Staub, a.a.O., S. 392f. 205 E. Naegeli: Die Gesellschaft und die Kriminellen, S. 13. 206 E. Fromm, a a.O., S. 140.

56

psychoanalytischen Sinn: „die Gegenaggression hat ihre Befriedigung gefunden" 2 0 7 . Diese Gegenaggression hat in sich eine Tendenz zur Steigerung und Übersteigerung 208 . Hiervon legt die Geschichte des Strafvollzuges mit den unzähligen unangemessen hohen Strafen hinreichend Zeugnis ab. Die Gegenaggression „wird stets bis zur letzten Steigerung das Gebiet besetzen, von dem sie nicht durch anderweitige Hindernisse ferngehalten wird" 2 0 9 . Denn Strafe ist ein Triebdurchbruch mit der Legitimation: „Was sich der Angreifer erlaubt, ist mir auch erlaubt" 2 1 0 . Angst, Sühne- und Vergeltungsdrang und die Befriedigung der Gegenaggression sind als bewußte oder unbewußte Strafzwecke bereits erläutert worden. Ein weiterer Strafzweck gehört in diese Reihe: Die Verdeutlichung des eigenen moralischen Ideals. Damit dieser Kontrast möglichst deutlich werde, kann die Scheidewand zwischen der Welt der Sozialen und der Welt der Asozialen nicht hoch und nicht stark genug sein 211 . Bereits die Bauweise der Vollzugsanstalten entlarvt, welcher Geist sich hinter dem Strafwesen verbirgt. Zwar dienen die hohen Gefängnismauern, die jeden Einblick von außen versperren, dem Abschluß aus praktisch-technischen Gründen und der Sicherheit, aber es handelt sich zugleich auch um eine „symbolische Abschirmung", die „den Anstaltsbereich als eine Art Domäne des Unzugänglichen, Dunklen, Schmutzigen und Bösen" kennzeichnet 212 . Der Vorgang der Leugnung der „Schattenseite" der Seele im Einzelnen spiegelt sich in den Gefängnisbauten für die ganze Gesellschaft wider. 1.2.6

Der

Sündenbockprojektionsmechanismus

Was sich in dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Verbrecher abspielt, ist in dem Begriff „Sündenbockprojektionsmechanismus" am konzentriertesten zusammengefaßt. Die Suche nach Sündenböcken ist immer gekennzeichnet durch das Element der Übertreibung oder eine unsinnige Beschuldigung 213 . G. Allport definiert die Suche nach Sündenböcken als eine „Erscheinung, bei der einige der angriffslustigen Energien einer Person oder einer Grup207 P. Reiwald, a.a.O., S. 2 3 2 . 2 0 8 A.a.O., S. 2 3 4 . A.a.O., S. 2 3 5 . 210 A.a.O., S. 2 4 1 . 2 1 1 A.a.O., S. 101; vgl. auch A. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. 41.—52. Tausend, München 1968, S. 151. 2 , 2 Chr. Klinghorn: Unerwünschte Gespräche, Göttingen 1968, S. 145. 2 1 3 G. W. Allport: Treibjagd auf Sündenböcke, Bad Nauheim 1951, S. 9.

57

pe sich auf ein anderes Einzelwesen, eine andere Gruppe oder ein anderes Objekt konzentrieren, wobei die Stärke des Angriffs und des Vorwurfs entweder teilweise oder gänzlich ungerechtfertigt ist" 2 1 4 . Das hervorstechendste Ergebnis dieses Mechanismus ist das Anderssein. Es dient im Grunde genommen der Selbstidealisierung. Da der Kriminelle z.B. als der schlechthin andere Mensch betrachtet wird, muß, wenn er bestraft wird, derjenige, der nicht bestraft wird, unschuldig sein 215 . A. Mitscherlich hat die Frage aufgeworfen, ob eine Sozialisierungsform, die sich auf Gehorsam, untilgbare Sündenschuld und Angst vor der Ächtung gründet, nicht aus innerer Notwendigkeit heraus des Sündenbocks bedarf, da in einem unerfüllbaren Ausmaß Triebverleugnung gefordert oder erzwungen wird und die Triebhaftigkeit überhaupt zu einer „wesensmäßig schmutzigen, bösen Seite des menschlichen Daseins" erniedrigt wird 2 1 6 . A. u. M. Mitscherlich weisen darauf hin, daß eine Gesellschaft einen um so größeren Triebüberschuß aufweisen muß, je repressiver und triebunterdrückender, je stärker ritualisierend und je kastenhafter sie organisiert ist. Kollektiv gültige Verhaltensnormen zwingen das Individuum, Abwehrmechanismen gegen die Triebhaftigkeit zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein „hoher Binnendruck", unter dem zu leben die gesellschaftlichen Normen den Einzelnen zwingen. Jetzt wird eine Manipulation notwendig, mit deren Hilfe es gelingt, den Binnendruck nach außen abzulenken. Deshalb schafft oder erfindet sich die Gesellschaft Haßobjekte, die außerhalb oder am Rande der Gemeinschaft existieren. Ihnen gegenüber können Asoziale bzw. präsoziale Triebverhaltensformen, also sehr egoistische Verhaltensweisen ausgelebt werden, ohne mit den Gewissensinstanzen in Konflikt zu geraten 2 1 7 . Dies ist der Sündenbockprojektionsmechanismus. Dieser Vorgang selber läßt sich im einzelnen psychologisch nachvollziehen. Die Psychologie allein erklärt allerdings nicht, warum bestimmte Minoritätengruppen als Sündenböcke herhalten müssen und andere nicht. An diesem Punkt steckt die Vorurteilsforschung noch in ihren Anfängen 2 1 8 . Da wir es im gegebenen Zusammenhang aber nur mit einer ganz bestimmten Gruppe von Opfern dieses Mechanismus, nämlich Kriminellen, zu tun haben,

A.a.O., S. 13. 215 H. M. Enzensberger, a.a.O., S. 89. 216 A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. 10. Aufl., München 1973, S. 102. 217 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 149f. 218 G. W. Allport: Die Natur des Vorurteils, hrsg. u. kommentiert von Carl Friedrich Graumann, Köln 1971, S. 251.

58

werden wir uns hier auf die beteiligten psychischen Mechanismen beschränken. Der Mechanismus der Sündenbockausstoßung spielt sich im innerfamiliären Bereich ebenso ab wie im großen Bereich der ganzen Gesellschaft. Für den Bereich der Familie hat H. E. Richter das, was sich dabei abspielt, ausführlich analysiert. Der „Sündenbock" hat eine ganz bestimmte Funktion. Oft kann ein psychisch gestörtes Individuum nicht gesund werden, solange in dem Familienleben eine tiefe Unordnung herrscht. Manche Familien brauchen ein laufend scheiterndes Familienglied entweder als Sündenbock oder als ohnmächtiges Sorgenkind, da sie nur so eine sonst unerträgliche innerfamiliäre Spannung kanalisieren können. Die psychische Störung ist dann ein wesentlicher Bestandteil der Rolle, deren Verwirklichung die Familie von dem einen Glied unbewußt fordert und provoziert. Gelingt es nicht, daß die Familie ihr Opfer aus dieser Rolle entläßt, so kann auch eine therapeutische Behandlung an diesem Widerstand scheitern 219 . Solche Familienkonstellationen entstehen dadurch, daß Eltern das Kind „rein als Fortsetzung des eigenen Selbst erleben. Sie suchen im Kind — mit Hilfe der sogenannten narzißtischen Projektion — eine Manifestation von Aspekten des eigenen Selbst". In einigen Fällen bedeutet das, daß das Kind „ein getreues Abbild ihrer selbst" sein soll. Oder sie übertragen „den idealen Aspekt des eigenen Selbst" auf das Kind. Umgekehrt gibt es aber auch den Fall, daß die Eltern gerade den negativen Aspekt des eigenen Selbst, die eigene „negative Identität" auf ein Kind projizieren. Dieser Mechanismus verhilft ihnen zu einer Ersatzbefriedigung eigener, abgewehrter Impulse. Gleichzeitig können sie sich durch Strafhandlungen von peinlichen Schuldgefühlen entlasten 2 2 0 . H. E. Richter faßt als Ergebnis zusammen: „Eltern können im Kind das suchen, was sie selber sein möchten. Sie können in ihm aber auch gerade das suchen, was sie um keinen Preis sein möchten. Gegenstand der Projektion ist dann nicht ihr ideales Selbst, sondern dessen Gegenteil, nämlich die unbewußte .negative Identität'" 2 2 1 . E. Erikson definiert die „negative" oder „unbewußte schlechte Identität" als „die Kombination aller Dinge, welche negative Identifizierung, d.h. den Wunsch hervorrufen, ihnen nicht zu gleichen" 2 2 2 . Die Projektion der negativen Identität auf das Kind stellt einen Versuch der Auflösung eigener Schuldgefühle durch Abwälzung auf das Kind als „Sündenbock" 2 2 3 219

H. E. Richter: Patient Familie, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 9. Ders.: Eltern, Kind und Neurose. 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1972, S. 155. 22 1 A.a.O., S. 197. 222 Ε. H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, 4. Aufl., Stuttgart 1971, S. 2 3 7 . 2 » H. E. Richter: Eltern, Kind und Neurose, S. 198. 220

59

dar. Der „Sündenbock" als „Adressat einer narzißtischen Projektion" entlastet das Individuum von Selbstvorwürfen. Für die projizierenden Eltern ergibt sich hieraus eine doppelte psychische Entlastung: 1. Bei teilweiser Identifizierung mit dem Kind bietet die Projektion eigener verdrängter Impulse auf dasselbe eine relativ schuldfreie Ersatzbefriedigung. 2. Die durch die Sündenbockprojektion legitimierten affektiven Vorwürfe oder Strafhandlungen an dem Kind dienen gleichzeitig der Abfuhr unbewußter elterlicher Selbstbestrafungstendenzen. Strafhandlungen am Kind sind „externalisierte Selbstbestrafungen" 2 2 4 . Diese Konfliktmuster besitzen auch im gesellschaftlichen Maßstab Gültigkeit 2 2 5 . Es gibt sehr irrationale, aber eindeutige Interessen der Gesellschaft, eine Randschichtenpopulation zu erhalten, deren Glieder ihre jeweiligen Rollen als Asoziale verschiedenster Art übernehmen 2 2 6 . Diese symbolisieren „den negativen entwerteten Aspekt, den die Gesellschaft bei sich nicht sehen will". Sie repräsentieren „unsere eigene Insuffizienz, unsere eigene, latente Soziopathie und Verwahrlosung, die wir aus unserem Bewußtsein verdrängt haben" 2 2 7 . Zusammengefaßt bedeutet die Übertragung des Sündenbockmechanismus von der Familie auf die Gesellschaft, daß soziale Minoritäten, im gegebenen Zusammenhang Straffällige, zum „Symbolträger für alles Böse" werden, das die ganze Gesellschaft bedroht. Aggressionen, die auf andere Weise nicht bewältigt werden können, werden an sie weitergegeben 228 . G. W. Allport hat sechs verschiedene Ursachen für Sündenbockpraktiken zusammengestellt: I. Hindernisse und Entbehrungen (Hier ist die „Angriffshaltung nicht gegen die Ursache des Hindernisses oder der Entbehrung gerichtet, sondern gegen jedes Objekt, das zufällig dafür geeignet erscheint"); II. Ausflucht vor Schuld (diese Übertragung von Schuld auf andere ist die klassische Sündenbockpraktik); III. Furcht und Beklemmung (hier handelt es sich um einen vorsorglichen Angriff — meist auf eine Pseudobedrohung); IV. fehlendes Selbstbewußtsein („Minderwertigkeitskomplexe können zum Suchen nach Sündenböcken führen, damit die betreffende Person sich selbst von ihrem großen Eigenwert und ihrer Stärke überzeugen kann"); V. Herdentrieb (das Einzelwesen schließt sich gewohnheitsmäßig den vorherrschenden Volksgebräuchen, somit auch den Sündenbockpraktiken, an); VI. Denken in Verallgemeinerungen 224 A.a.O., S. 199. 225 Ders.: Die Gruppe, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 14. 22« A.a.O., S. 202. 227 A.a.O., S. 203. 228 γ . Spiegel: Jesus und die Minoritäten. In: O. Seeber u. Y. Spiegel: Behindert — süchtig - obdachlos, München 1973, S. 1 3 - 3 1 ; S. 23.

60

(„Um soziales Chaos überhaupt einigermaßen zu verstehen, muß der Einzelne versuchen, sich die Probleme vereinfacht darzustellen") 2 2 9 . Eine wesentliche Erweiterung erfahren unsere Kenntnisse über die Sündenbockmechanismen durch E. Fromms Studien über die masochistische autoritäre Persönlichkeit. Die widerstreitenden Tendenzen zwischen Unterwürfigkeit gegenüber dem Stärkeren und Aggressivität gegenüber dem Schwächeren führen in der Folge von Frustration und nachfolgender Aggression zum Sündenbockmechanismus. „Wenn mangelnde Fähigkeit zum selbständigen Handeln die Einstellung des autoritären Charakters zum Stärkeren kennzeichnet, so bietet seine Einstellung zum Schwächeren und Hilflosen eine Kompensation. Ebenso automatisch, wie Macht in ihm Furcht und, wenn auch ambivalente, Liebe erweckt, erweckt Hilflosigkeit in ihm Verachtung und Haß. Dieser Haß unterscheidet sich aber von dem, den der nicht autoritäre Charakter gegen den Starken hat, nicht nur durch das Objekt, sondern auch durch die Qualität. Während jener Haß den Stärkeren beseitigen oder vernichten will, will dieser den Schwächeren quälen und leiden lassen. Alles, was an Feindseligkeit und Aggression vorhanden ist und was dem Stärkeren gegenüber nicht zum Ausdruck kommt, findet sein Objekt im Schwächeren. Muß man den Haß gegen den Stärkeren verdrängen, so kann man doch die Grausamkeit gegen den Schwächeren genießen. Muß man darauf verzichten, den eigenen Willen gegen den des Stärkeren durchzusetzen, so bleibt doch der Genuß, das Gefühl der Macht durch die schrankenlose Herrschaft über den Schwächeren; und was bedeutet mehr Herrschaft, als ihn zum Leiden zu zwingen!" 2 3 0 . Alle von G. W. Allport genannten Ursachen (s.o.) wie auch die These von der Folge Frustration — Aggression (E. Fromm) scheinen in einem gewissen Umfang Gültigkeit zu besitzen. Sie werden an Bedeutung allerdings wohl übertroffen von der Funktion des Sündenbocks als Projektionsschirm für eigene, nicht integrierte asoziale Impulse und Affekte. Das Verständnis eben dieses Projektionsvorgangs „bildet den Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens des Menschen gegenüber dem Verbrecher, ja, der Strafjustiz überhaupt". Dieses Verhalten entsteht durch eine „Spaltung des Ich im Wege der Projektion". „Der Mensch kann offenbar nicht auskommen ohne mächtige Projektionsgebilde, die dem triebbeherrschenden Teil seines Ich den Angriff auf den triebgebun-

229

G. W. Allport: Treibjagd auf Sündenböcke, S. 17ff. E. Fromm: Sozialpsychologischer Teil. In: M. Horkheimer (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S. 7 7 - 1 3 5 ; S. 116f.

230

61

denen erst ermöglichen" 2 3 1 . P. Reiwald hat, was die Notwendigkeit dieses Vorgangs b e t r i f f t , von einer „neurotischen Fixierung an Verbrecher und Verbrechen" gesprochen. „Die paranoischen Mechanismen, die in der Projektion wirken, verfälschen die innere wie die äußere Wirklichkeit. Die innere wird verfälscht, denn dank ihr halten sich die Menschen gegenüber den Asozialen für aggressionsfrei, für gut und gerecht. Die äußere, weil sie sich gegen einen gesteigerten Verbrecher wenden, der erst mit Hilfe ihrer eigenen Aggressionen, die sie ihm zuschieben, existiert. Schon damit wird die rationale Behandlung eines sozialen Übels wie der Kriminalität unmöglich" 2 3 2 . Das Maß der öffentlichen Affektbeteiligung am Verbrechen wirkt sich aus auf das Verbrechen selbst. Vermeintliche Verbrechensbekämpfung kann verbrechenerhaltend wirken. Manchmal k o m m t es aber auch zur völligen Vernachlässigung, z.B. beim „white collar crime". Im ersten Fall, beim normalen Verbrechen, r u f t die Projektion der eigenen aggressiven Regungen eine Steigerung des Verbrechens hervor, im anderen Fall erfolgt mangels affektiven Interesses nur Nichtbeachtung 2 3 3 . Die kollektiven Sündenbockprojektionen sind eindeutig gefährlicher als die individuellen, da sie stets unter dem Schutz der Legitimität erfolgen und daher auch nicht von Gewissenskonflikten begleitet sind — in der Regel jedenfalls nicht 2 3 4 .

1.2.7

Projektion

Mit welchen psychischen Mechanismen haben wir es nun bei der Projektion zu tun? Es kann eine eigene objektive Schuld 2 3 s sein, es können auch schlechtverdrängte Erinnerungen an eigenes rechtswidriges Verhalten oder einfach geheime Neigungen dazu sein, die diese Art „infantiler Unlustabwehr" 2 3 6 notwendig machen. Was mit der Projektion erreicht wird, ist eine Veränderung der Wahrnehmung: Eigenes Vergehen verschwindet quasi hinter der Beschäftigung mit den Untugenden oder Vergehen anderer 2 3 7 . A. u. M. Mitscherlich führen den Mechanismus der

231

P. Reiwald, a.a.O., S. 124. A.a.O., S. 125. 233 A.a.O., S. 188. 234 E. Naegeli: Die Gesellschaft und die Kriminellen, S. 14. 235 W. Hochheimer: Zur Psychologie von strafender Gesellschaft, S. 42. 236 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 288. 237 A.a.O., S. 126: „Mit normfeindlichen oder idealwidrigen Regungen in sich selbst fertig zu werden ist jedenfalls mühsam; man bedient sich anstrengungsloser eines verbreiteten Mechanismus der Entlastung, indem man diese nicht eingestandenen 232

62

P r o j e k t i o n auf e i n d r e i f a c h e s i n n e r p s y c h i s c h e s V e r s a g e n z u r ü c k : 1. unzureichende Realitätskontrolle238, 2. unzureichende Triebkontrolle239, 3. u n z u r e i c h e n d e I c h - I n t e g r a t i o n 2 4 0 . D i e W i r k w e i s e d e s P r o j e k t i o n s m e c h a n i s m u s m a c h t die N o t w e n d i g k e i t n e u e r Kriterien für die B e s t i m m u n g moralischen Verhaltens deutlich241. P r o j e k t i o n e n s c h a f f e n das, w a s wir ü b l i c h e r w e i s e als V o r u r t e i l e b e z e i c h n e n . V o r u r t e i l e , d e r e n M a c h t , w i e A . M i t s c h e r l i c h es b e s c h r e i b t , s o g r o ß ist, „ d a ß j e d e r V e r s u c h , sich ihren E i n f l u ß z u v e r g e g e n w ä r t i g e n , h i n t e r der Wirklichkeit z u r ü c k b l e i b t . J e d e p s y c h o l o g i s c h e T h e o r i e des Vorurteils ist i m m e r n o c h V e r h a r m l o s u n g ; es ist viel s c h l i m m e r " 2 4 2 . W e n n m a n sich das g e g e n w ä r t i g e , v o r u r t e i l s b e f r a c h t e t e V e r h ä l t n i s der G e s e l l s c h a f t zu K r i m i n e l l e n v o r A u g e n h ä l t , s o k a n n m a n d i e s e r M e i n u n g nur z u s t i m m e n 2 4 3 . V o r u r t e i l e sind U r t e i l s g e w o h n h e i t e n o h n e z u r e i c h e n d e Begründ u n g 2 4 4 , d . h . o h n e rationale B e g r ü n d u n g . N a c h P. Brückner ist ein Vorurteil o d e r i h m t ä u s c h e n d ä h n l i c h u n d v o n g l e i c h e n F o l g e n „jeder S a t z

und vor sich selbst abgeleugneten Regungen, etwa Triebe, Bedürfnisse, Phantasien, anderen Menschen zuschreibt". P. Brückner: Analyse des Vorurteils: Begriff, Genese, soziale und politische Bedeutung. In: Tribüne 5/1966, Heft 20, S. 2 0 9 1 - 2 1 1 1 . 238 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 2 8 8 : „man kann sie harmlos Leichtgläubigkeit oder, zutreffender, unkorrigierbare Vorurteilsbefangenheit nennen". 239 „Sie zeigt sich an aggressiver Entäußerung im dissozialen Sinn — man läßt seine aggressive und libidinose Spannung an Opfern aus, die in diese Rolle durch ihre Schwäche geraten, etwa dadurch daß sie eine Minorität repräsentieren". Ebd. 240 „. . . die deutlich wird an der Übernahme eines urteilenden Fremd-lchs, dem wir die Zugänge zur Lenkung unseres Verhaltens offenhalten". Ebd. Mi A.a.O., S. 187. 242 A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 288. 243 Hier muß man allerdings wohl die Einschränkung machen, daß eine bestimmte, negative Ausprägung von Vorurteilen gemeint ist, mit der wir es ja im gegebenen Zusammenhang auch zu tun haben. Grundsätzlich ist das Wesen des Vorurteils wertfreier zu betrachten. „Daß der Ursprung von Vorurteilen als Einstellung beschrieben werden muß, zeigt an, daß alles Wahrnehmen und Denken des Menschen, und damit um der Ganzheit des Menschen willen auch alles Verhalten und Handeln, notwendig in Vorurteilen gründet. Vorurteile sind die Ermöglichungsbedingungen des Verstehens und Handelns schlechthin. Sie stellen somit ein Element menschlicher Geschichtlichkeit dar, ja, sie sind, wie H.-J. Gadamer sagt, im eminenten Sinne Manifestationen der geschichtlichen Wirklichkeit des Seins". G. Hummel: Das Vorurteil als Problem theologischer Ethik. In: ZEE 15/1971, S. 2 2 6 - 2 3 8 ; S. 229. G. Hummel kritisiert daher auch „den eindimensionalen therapeutischen Aktionsdrang" der empirischen Sozialwissenschaften. „Die Erhellung des Vorurteils als Ermöglichungsbedingung und Entwicklungsgestalt menschlichen Verstehens und Verhaltens zeigt, daß es konkretes Dasein ohne die Wirkung von Vorurteilen nicht gibt". A.a.O., S. 230. 244 A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 294. 63

oder jedes Urteilsgebilde, das so formuliert worden ist, daß zwar ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, aber eine empirische Bewahrheitung oder Widerlegung nicht stattfinden kann" 2 4 5 . Der Sinn von Vorurteilen ist, wie bereits ausgeführt, ein unbewußter. Eben dieser unbewußte Sinn erklärt auch ihre Beharrlichkeit. „Die Anstrengung, abzuwehren, was hinter Vorurteilen verborgen bleiben soll, die Vermeidung angstbereitender Einsicht in Wirklichkeit, die in der ersten Begegnung immer fremd erscheinen wird, schwächt die Kräfte des Ichs und macht es doppelt unwillig, das Verborgene ans Licht zu bringen — ein Teufelskreis" 2 4 6 . Darüber hinaus ermöglichen Vorurteile dem Menschen eine zwar stark vereinfachende, aber praktisch zureichende Weltgewißheit und Bewältigung" 2 4 7 . Betrachtet man die Rolle des Verbrechers auf diesem Hintergrund, nämlich daß er sozusagen als „Ventil für repressiven Überdruck", als „Objekt kollektiv aufgestauter Aggression" herhalten muß, so kann man keineswegs mehr sagen, daß er einfach nur eine sozial schädliche Funktion ausübt 2 4 8 . Vielmehr hat er daneben eine sehr deutliche sozial integrierende Funktion: „er sorgt für größeren Zusammenhalt unter den Selbstgerechten" 2 4 9 . Kollektive Vorurteile erzeugen einen hohen Grad von Gruppenkonformität. „Das zweite Politikum solcher Vorurteile besteht darin, daß mit den Wölfen zu heulen Sicherheit in der eigenen Gesellschaft gewährt. Teilen wir den Wahn der anderen nicht, dann werden wir selbst zu Fremden, und es besteht die Gefahr, zu Haßobjekten zu werden. Die Projektionen der anderen können auch uns verfremden. Die Witterung dieser Gefahr trägt dann wieder zur gruppeninternen Versteifung der Vorurteilshaltung bei" 2 5 0 . Die Opfer der Sündenbockpraktiken haben gewöhnlich besondere Merkmale. Einmal handelt es sich generell um hervorstechende Merkmale, zum andern sind die Opfer in der Regel machtlos und können nicht

MS p. Brückner, a.a.O., S. 2094. 246 A. Mitscherlich, a.a.O., S. 295. M "> P. Brückner, a.a.O., S. 2092. 248 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 145. M9 A. Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, S. 170. 250 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 151; vgl. auch P. Brückner, a.a.O. S. 2097: „Sowohl nationale Stereotype als auch Vorurteilssysteme, die sich gegen Minderheiten innerhalb der eigenen Nation richten, verleihen der eigenen Gruppe hohe Stabilität. Meine Gruppe gewinnt in dem Maße an innerem Zusammenhalt, als wir gemeinsam die Angehörigen anderer Gruppen unter dem Aspekt bestimmter Vorurteile übereinstimmend erleben können".

64

zurückschlagen, darüber hinaus sind sie leicht greifbar. All dies dürfte für Strafgefangene z u t r e f f e n . In vielen Fällen k ö n n e n die Opfer von Sündenbockpraktiken die Idee personifizieren, die abgelehnt wird 2 5 1 . Z u m Teil in Bezug auf Eigentumsdelikte u n d — begrenzt — auf politische S t r a f t a t e n dürfte dies z u t r e f f e n . Bei den mittels S ü n d e n b o c k p r a k t i k e n unterdrückten Minoritäten bleibt auf die Dauer eine Anpassung an die Phantasien des Angreifers nicht aus. Unter gesellschaftlich-ökonomischem Aspekt ist dieser Angleichungsvorgang folgendermaßen beschrieben w o r d e n : „Die objektiven Bedingungen, welche die herrschende Klasse dem Unterdrückten vorschreibt, zwingen ihm die Verwahrlosung auf, für die er d a n n angeklagt wird. Die solcherart Deklassierten entgehen aber auch nicht der Sehnsucht nach Befreiung: eine täuschende Illusion, der sie dabei verfallen, besteht darin, daß auch sie das Ideal des Unterdrückers für sich selbst anerkennen. Das zwingt sie dazu, sich in Selbstkritik genauso zu verurteilen, wie es ihre Beherrscher t u n " 2 5 2 . Vorurteile k ö n n e n ,,self-fulfilling prophecies" sein. Sie enthalten Vorhersagen über das Verhalten b e s t i m m t e r stereotyp beurteilter Menschengruppen u n d deren einzelner Glieder, die sich zum Teil nur deshalb bestätigen k ö n n e n , weil der Beurteilte sich u n t e r d e m Druck sozialer Vorurteile ihnen angleichen kann. „Die Meinung, die wir über Mitglieder einer ganz b e s t i m m t e n G r u p p e haben, enthält Erwartungen über deren Verhalten; diese E r w a r t u n g e n ' fließen auf eine solche Weise in das gemeinsame soziale Leben mit ein, daß der Beurteilte beginnt, sich nach unseren Erwartungen e i n z u r i c h t e n " 2 5 3 . Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß der Kriminelle im gesellschaftlichen G e s a m t k o n t e x t des Umgangs mit d e m „ B ö s e n " eine spezielle Rolle einnimmt. Im gegenwärtigen Zustand kann die Gesellschaft mit den ihr zur Verfügung stehenden Verhaltensmustern offensichtlich nicht auf den Strafgefangenen Kriminellen verzichten. Aber seitdem wir — in erster Linie mit Hilfe der Psychoanalyse — besser durchschauen und verstehen, wie vielfältig die Beanspruchung des Kriminellen durch die Gesellschaft mittels b e s t i m m t e r u n b e w u ß t e r Rollenzuschreibungen ist, werden immer m e h r S t i m m e n laut, aus denen ein deutliches Bemühen hervorgeht um eine Verarbeitung des „ B ö s e n " der Gesellschaft, ihres „ S c h a t t e n s " oder auch der „latenten Kriminalität", die nicht zu

251 252 253

G. W. Allport: Treibjagd auf Sündenböcke, S. 58f. A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 151. Ρ Brückner, a.a.O., S. 2103.

5 Stubbe, Seelsorge

65

Lasten einzelner Individuen geht. Ganz gleich aus welcher Perspektive man den Sündenbockprojektionsmechanismus betrachtet, ob man die aus Frustration resultierende Aggression, die nur am Schwächeren abreagiert werden kann, betont, oder das Bedürfnis nach Selbstidealisierung, es geht in jedem Fall um eine Strukturierung der Gesellschaft zu Lasten Einzelner.

66

2. Ansätze zur Überwindung der Sündenbockprojektion

2.0

Vorbemerkung

Wir haben im Vorangegangenen den speziellen Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis der Kriminalität an sich wie auch des Verhältnisses der Gesellschaft zu ihren Kriminellen kennengelernt. Als Grundverhaltensmuster im Umgang mit Kriminellen hat sich der psychische Mechanismus der Projektion herauskristallisiert. Dieser Beitrag der Psychoanalyse hat wesentliche Konsequenzen für die theologische Diskussion der Praxis der Kirche im Strafvollzug. Es zeigt sich, daß der erste und wohl wesentliche Schritt zu einer sinnvollen Umgangsweise mit Straffälligen im gesellschaftlichen Bereich im allgemeinen, wie in der Seelsorge an Strafgefangenen im besonderen — sozusagen in zeichensetzender Weise — eine Bemühung zur Überwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus darstellen müßte. Dies setzt ein neues Verständnis von Schuld voraus, das die Projektion von Schuld auf kriminelle Außenseiter nicht mehr zuläßt; ferner Möglichkeiten eines adäquaten Umgangs mit dem „Bösen", der nicht zu Lasten Einzelner gehen müßte. Im Zentrum der theologischen Bemühungen um das Problemfeld der Kriminalität im allgemeinen wie die Praxis der Gefangenenseelsorge steht nun in der Tat die Reflexion über das Phänomen „Schuld", die sich ausweitet zu der grundsätzlichen Frage nach dem Umgang mit dem „Bösen" auf dem Hintergrund der christlichen Lehre. Ausgehend vom traditionellen Schuldverständnis und dessen Gefahren sollen daher exemplarische Neuansätze in der Schulddiskussion dargestellt werden, in denen wir eine Berücksichtigung des psychoanalytischen Beitrags wiederfinden. Erich Neumann als Psychoanalytiker und Paul Ricoeur als Religionsphilosoph haben, jeweils aus der Sicht ihrer Disziplin, den Versuch unternommen, zu einer umfassenden Sichtweise und Interpretation des „Bösen" zu gelangen. E. Neumann wurde gewählt, weil er in einer von der Theologie bisher noch nicht aufgenommenen Weise das ethische Problem einen Schritt weitergeführt hat, und zwar auf der Basis psychoanalytischer Er67

kenntnisse über Phänomene des „Bösen" im individuellen wie kollektiven Bereich. Der Beitrag von P. Ricoeur ist für unseren Zusammenhang sehr wertvoll, weil er in seinem Werk „Die Interpretation" 0 die philosophische und religionswissenschaftliche Aufarbeitung der Psychoanalyse geleistet hat. Damit hat er eine Grundlage geschaffen, auf der theologische Argumentation unter Hinzuziehung psychoanalytischer Erkenntnisse möglich ist. P. Ricoeur hat die Psychoanalyse unter hermeneutischem Gesichtspunkt untersucht und damit ihren Anschluß an die hermeneutische Diskussion in der Philosophie und der Theologie hergestellt. Nicht zuletzt hat er die Begrenztheit psychoanalytischer Erkenntnisse dargestellt. Die Psychoanalyse ist eine „Archäologie", die nach den Ursprüngen im Unbewußten fragt. Ihr stellt er eine „Teleologie" in einem beide (Archäologie und Teleologie) miteinander verschränkenden Verhältnis gegenüber, die die eigentliche theologische Aufgabe ist. Beide Beiträge sollen auf ihre theologische Relevanz zum Thema hin befragt werden. Beide eröffnen neue Perspektiven für theologische Stellungnahmen zu Fragen der Schuldproblematik. Nach dieser Neuorientierung in der Schulddiskussion wird es uns möglich, dem Grundverhaltensmuster der Projektion etwas anderes entgegenzustellen und es theologisch einzuordnen. Es handelt sich um den Vorgang, den die Psychoanalyse als Identifikation bezeichnet. Das psychoanalytische Instrumentarium ermöglicht es uns, Zusammenhänge, die das Neue Testament darstellt, in einer neuen Begrifflichkeit zu interpretieren und zu verstehen. Dies veranlaßt uns, von einer „Praxis der Identifikation" im Neuen Testament zu sprechen, wo mit menschlichen Vergehen in einer Art und Weise umgegangen wird, die die Sündenbockprojektionsmechanismen überwindet.

2.1 Das Unbehagen am traditionellen Schuldverständnis 2.1.1

Gefahren des traditionellen

Schuldverständnisses

Einige Grundgedanken der vorangegangenen Ausführungen veranlassen uns — wie angedeutet — zu einer Neubesinnung über das, was wir im Zusammenhang mit Kriminalität unter „Schuld" verstehen beziehungsweise was uns legitimiert, von „Schuld" zu reden: 0

P. Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. Main 1969.

68

1. Kriminalität hat ihre wesentlichen prägenden Ursachen innerfamiliärer und ökonomischer Art bereits im frühkindlichen Sozialisationsprozeß, also in einem Abschnitt der individuellen Biographie, auf den das betroffene Individuum noch gar nicht selber bewußt und erfolgreich Einfluß nehmen kann. 2. Es gibt offensichtlich unbewußte Bedürfnisse der Gesellschaft nach Kriminellen zum Zwecke a) ihrer Bestrafung, also der Aggressionsabfuhr, wie b) der Selbstidealisierung. 3. Die Gesellschaft produziert selber Situationen (z.B. die ,,Tantalussituation"), die eben diese benötigten Sündenböcke schaffen. Wir müssen also davon ausgehen, daß nie nur das einzelne Individuum ein Delikt begeht, sondern immer auch andere dazu beigetragen haben. Hier läßt sich entweder gar nicht mehr sinnvoll von „Schuld" reden oder aber nur noch im Sinne einer Mitschuld oder auch Kollektivschuld, in jedem Falle unter Einbeziehung des überindividuellen Aspekts. An der Vorstellung einer vom Individuum abzugeltenden Individualschuld unreflektiert festzuhalten, läuft allen heutigen humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über Kriminalität zuwider. Warum sollen wir also noch von Schuld reden? Oder besser: In welchem Kontext ist der Schuldbegriff heute noch sinnvoll und auch hilfreich? Nach unserem geltenden Strafrecht macht sich ein Täter nur dann strafbar, wenn er seine mit Strafe bedrohte Handlung „schuldhaft" begeht 1 . „Schuld" meint „die innere Beziehung des Täters zu seiner Tat, die in der Vorwerfbarkeit liegt" 2 . Vorwerfbarkeit setzt das Bewußtsein des Täters, Unrecht zu tun, sowie seine Schuld- oder Zurechnungsfähigkeit voraus. Hier wird aber ohne psychologische Genauigkeit geurteilt 3 . „Dem Strafrecht ist es, obwohl es alle gleich behandeln soll, gleichgültig, wie ungleich die Chancen, schuldig zu werden, verteilt sind. Es ist ihm auch gleichgültig, inwieweit ein Schuldiggesprochener subjektiv mit dieser Schuld umgehen kann" 4 . Die strafrechtliche Schuldfähigkeit ist in den meisten Fällen eine psychologische Fiktion, das hat insbesondere die psychoanalytische Kriminologie gezeigt. Um die heutige, sehr konfuse Diskussion über Schuld zu verstehen, sind einige Bemerkungen über das Verständnis von Schuld in der Vergangen1

StGB § 13,1: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe". O. Model u. C. Creifelds: Staatsbiirger-Taschcnbuch, 11. Aufl., München 1972, S. 485. 3 H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, München 1972, S. 26. 4 T. Moser: Gibt es wirklich Schuld? In: Radius 1972, S. 8 - 1 0 und S. 1 3 - 1 5 ; S . 8 . 2

69

heit notwendig. Nur ein grober Überblick über die Geschichte zeigt bereits, wie sehr der Begriff „Schuld" dem historischen Wandel unterworfen ist. So kann D. Solle in ihrer Bemühung um ein neues Schuldverständnis die Feststellung bringen: „es gab Zeiten, da hielt man Krankheit für eine Schuld, an der sich die Strafe Gottes zeigte, in anderen Zeiten wurde der sexuelle Trieb als böse, niedrig oder teuflisch eingestuft, in den calvinistischen Ländern galt Armut nicht nur als Schande, sondern auch als Schuld" s . Nicht nur die unter dem Oberbegriff „Schuld" zusammengefaßten Inhalte sind einem ständigen Wandel unterworfen, sondern auch die formalen Anwendungsbereiche des Begriffs „Schuld" müssen sehr genau differenziert werden. Schuld hat eine strafrechtliche wie auch eine seelsorgerliche oder geistliche Dimension. Soweit es allerdings in der Geschichte der Kirche um Seelsorge an Sira/gefangenen ging, verwischten sich beide Dimensionen. Die Seelsorge an Strafgefangenen übernahm in der Regel den strafrechtlichen Schuldbegriff als den ihrigen oder ließ diesen zumindest nicht fallen neben einem mehr geistlichen Verständnis von Schuld als Schuld „vor Gott". Im gegebenen Zusammenhang, wo uns ein kurzer Überblick über die Tradition des Schuldverständnisses lediglich dazu dienen soll, die gegenwärtige Schulddiskussion und ihre Problematik zu verdeutlichen, verzichten wir daher auf eine strenge Unterscheidung der strafrechtlichen und der seelsorgerlichen Schulddefinition, da zumindest in die Praxis der Gefängnisseelsorge beide Dimensionen des Schuldverständnisses Eingang gefunden haben. Ebenfalls verzichten wir an dieser Stelle auf eine besondere Berücksichtigung der dogmatischen Unterscheidung von Sünde und Schuld. In den Zeiten des alten, vorrationalen und magischen Strafrechts gab es keinen entwickelten Schuldbegriff. Die „Abtrennung des subjektiven Tatbestandes und die Differenzierung der Schuldformen" werden als ein Fortschritt in der Geschichte des Strafrechts betrachtet. Es ist aber nicht zu übersehen, daß gerade hierin eine Radikalisierung des Strafrechts liegt. „Der Täter des alten Strafrechts steht im Gefüge einer ganzen Welt. Der Täter des Schuldstrafrechts ist mit seiner Schuld tödlich allein" 6 . D. Solle: Das Recht ein anderer zu werden, Neuwied und Berlin 1971, S. 2 3 ; über denselben Sachverhalt H. Dembowski in: G. Altner u. E. Anders: Die Sünde — das Böse — die Schuld aus theologischer, ärztlicher und soziologischer Sicht, Radius Projekte 4 6 , Stuttgart 1971, S. lOff. 6 H. Dombois: Mensch und Strafe, Witten 1 9 5 7 , S. 89. 5

70

Das Mittelalter nahm eine Aufteilung von habitualer und aktualer Schuld vor 7 . Diese Aufteilung wurde Anlaß eines Neuansatzes bei den Reformatoren. CA II „postuliert die Einheit von Grundbefindlichkeit des Menschen in der Schuld und seiner aktualen Verschuldung, die nur durcheinander auszusagen sind". Außerdem wird die „Schuld nun nicht mehr existential ausgesagt, sondern in die Relation zu Gott gebracht" 8 . Das Individuum und seine Schuld sind in verschiedener Weise besonders vom Existentialismus diskutiert worden, wobei der Begriff „Schuld" eine nochmalige Radikalisierung erfuhr. Bei S. Kierkegaard wird Schuld als „der konkreteste Ausdruck der Existenz" bezeichnet 9 . „Die Totalität der Schuld entsteht dadurch für das Individuum, daß es seine Schuld, und wäre es auch nur eine einzige, und wäre es auch die allerunbedeutendste, mit dem Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit zusammensetzt" 1 0 . In diesem Sinne gehört der Begriff der Schuld als Totalitätsbestimmung der „religiösen Sphäre" an 1 1 . Diese Totalität der Schuld macht es nach S. Kierkegaard überhaupt erst möglich, im Einzelnen schuldig zu werden 1 2 . M. Heidegger kennzeichnet Schuld als ein Existential. Schuldigsein in der Bedeutung eines Ungenügens „gegenüber einer Forderung, die an das existierende Mitsein mit anderen ergeht", ist eine „Seinsart des Daseins" 1 3 . „Die Idee der Schuld muß . . . abgelöst werden von dem Bezug auf ein Sollen und Gesetz, wogegen sich verfehlend jemand Schuld auf sich lädt" 1 4 . So heißt es bei M. Heidegger — in Analogie zu S. Kierkegaard, nur ohne den religiösen Bezug —: „Das Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich ,auf Grund' eines ursprünglichen Schuldigseins" 15 .

7

C. H. Ratschow: Vom Sinn der Strafe. In: H. Dombois: Die weltliche Strafe in der evangelischen Theologie, Witten/Ruhr 1959, S. 102. 8 C. H. Ratschow, ebd. CA II: „Item docent, quod post lapsum Adae omnes homines, secundum naturam propagati, nascantur cum peccato, hoc est, sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et cum concupiscentia, quodque hic morbus seu vitium originis vere sit peccatum, damnans et afferens nunc quodque aeternam mortem his, qui non renascantur per baptismum et spiritum sanctum". 9 S. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, 2. Teü, GW, 16. Abt., Düsseldorf-Köln 1958, S. 238. 10 A.a.O., S. 239. h A.a.O., S. 247. 12 A.a.O., S. 239. 13 M. Heidegger: Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen 1967, S. 282. m A.a.O., S. 283. is A.a.O., S. 284.

71

Unvermeidlich ist „Schuld als subjektives Erlebnis" auch bei K. Jaspers 16 . „Es ist der eigentliche Sinn der Verantwortung beim Handeln, daß der Mensch die Schuld auf sich zu nehmen gewillt ist . . . So zwischen Handeln und Nichthandeln, und beim Handeln zwischen Gewolltem und unvermeidlich in Kauf zu Nehmendem hin und her geworfen, vermag der Mensch der Schuld in irgendeinem Sinne nicht zu entgehen" 1 7 . Bei allen drei Denkern, S. Kierkegaard, M. Heidegger und K. Jaspers, ist ein gemeinsamer Zug durch jeweilige Nuancen hindurch unverkennbar: Es gibt zwei Dimensionen der Schuld, einmal die unumgängliche Schuld, die zum Menschsein dazugehört, daneben die konkrete (beispielsweise strafrechtliche) Schuld, die erst auf dem Hintergrund der erstgenannten Schuld als Schuld zu bezeichnen ist. Man kann dann auch umgekehrt sagen: Schuld entlarvt Schuld, und Schuld bedingt Schuld. C. H. Ratschow definiert das Ergebnis der existentialen Analyse als „Rückfall in die scholastische Scheidung von habitualer und aktualer Schuld" 1 8 . Bei philosophischen Überlegungen wie denen des Existentialismus sind wir zwar weit'entfernt vom strafrechtlichen Schuldbegriff; sie scheinen aber eine wichtige Hintergrundsfunktion einzunehmen als Legitimation und Fundierung jeglichen Redens von Schuld. Um denselben Grundgedanken handelt es sich übrigens, wenn die christliche Tradition von „peccatum essentiale" 1 9 redet. Sie sieht die Würde des Menschen in seiner Schuldfähigkeit. „Weil er schuldig werden kann, ist er im vollen Sinne des Wortes ein erwachsener Mensch" 2 0 . Nun hat das einseitig auf Schuldfähigkeit aufbauende anthropologische Ideal die kirchliche Praxis nicht selten erst zu krampfhafter Züchtung von Schuldgefühlen veranlaßt 2 1 . So entstand zu Recht der Eindruck, christliche Theologie und kirchliche Praxis müßten Probleme, deren Lösung sie als ihre Aufgabe und Chance ansahen, erst selber schaffen. Solche Praxis „pervertiert zum reinen Selbstzweck einer lebensfeindlichen Ideologie" 2 2 . Sie findet dennoch nach wie vor ihre Vertreter 2 3 . J . 1 6 K. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. 6. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1971, S. 55. » A.a.O., S. 2 7 4 . i» C. H. Ratschow, a.a.O., S. 103. » G. Mensching: Artikel „Sünde und Schuld". In: RGG 3 VI, Sp. 4 7 6 - 4 7 8 ; Sp. 477. 2 0 D. Solle: Das Recht ein anderer zu werden, S. 26. 2 1 J . Scharfenberg: Jenseits des Schuldprinzips? In: Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, Hamburg 1 9 7 2 , S. 1 8 9 - 2 0 8 ; S. 196ff. 2 2 A.a.O., S. 199. Eine solche Tendenz müssen wir auch bei J . Beckmann feststellen, wenn er schreibt: „Gottes Handeln gegenüber dem Menschen ist als seine Gerechtigkeit

72

Scharfenberg trägt auf Grund derartiger Beobachtungen an die Theologie die Forderung heran, sich auf einen Dialog mit der gegenwärtigen Kritik des christlichen Schuldverständnisses von Seiten der Humanwissenschaften einzulassen und Grundmodelle theologischen Schuldverständnisses einer kritischen Prüfung zu unterziehen 2 4 . Für den Bereich der Gefängnisseelsorge bedarf es einer solchen Reflexion umso mehr, als sie in einem Milieu arbeitet, in dem die Festlegung von „Schuld" nach sehr willkürlichen Maßstäben Menschenschicksale in einer Intensität und Extensität prägt, die von christlicher Seite aus kaum zu bejahen ist. Es geht also, wenn wir im Zusammenhang einer Erörterung über theologische und humanwissenschaftliche Theoriebildung der Gefängnisseelsorge dem Phänomen „Schuld" größere Aufmerksamkeit schenken, genaugenommen um ein zweifaches Anliegen: 1. Die Seelsorge hat sich und ihren Klienten im Strafvollzug gegenüber Rechenschaft darüber abzulegen, wann, warum und mit welcher Zielsetzung sie mit dem Begriff „Schuld" hantiert, anders: was sie aus christlicher Sicht zum Problem des Umgangs mit Schuld an hilfreichen Beiträgen leisten kann. 2. Da sie in einem Gebiet arbeitet, in dem gleichzeitig andere Berufsgruppen den Umgang mit Schuld, speziell strafrechtlicher Schuld, sozusagen zum Proprium ihrer Tätigkeit erhoben haben, wird sie umso deutlicher sagen müssen, wo der spezielle christliche Beitrag zum strafrechtlichen wie generellen Problem der Schuld liegt. Auf diesem Hintergrund ist christliche Gefangenenseelsorge ein Stück zeichensetzende Strafvollzugspraxis. Die Seelsorge ist der Ort im Strafvollzug, an dem zuerst und am effektivsten utopische Modelle des Umgangs mit Kriminellen, die sich auf dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes wie einer christlichen Versöhnungslehre nahelegen, praktiziert werden können. Hierin können wir den Auftrag wie auch die Freiheit und heilige Liebe und darum gegenüber dem Sünder, dem Rechtsbrecher an Gott und dem Mitmenschen, Zorn, Gericht, Strafe" (S. 257). Das „darum", die kausale Verknüpfung, ist unlogisch, bezeichnenderweise auch nicht näher begründet. Stattdessen versucht J. Beckmann nun folgerichtig eine christologische Verarbeitung des Strafens: „In der Gewißheit, daß die Strafe auf Christus liegt, unter dem Vorzeichen der Vergebung aller unserer Sünden, und im Blick auf das Weltgericht Christi am Jüngsten Tage sind wir dazu befreit, wahrhaft .menschlich' zu strafen und nicht unmenschlich" (S. 258). Solche Aussagen wecken zumindest den Verdacht, es ginge hier eben doch nur um Vergeltung statt Versöhnung. J. Beckmann: Fünfzehn Thesen zur theologischen Besinnung über die Strafe. In: ZEE 5/1961, S. 2 5 7 - 2 5 9 . 24 J. Scharfenberg, a.a.O., S. 190. 73

die Chance der Gefängnisseelsorge sehen. Und gerade zum Zwecke dieses beispielhaften Umgangs mit menschlicher Schuld in einem um eben dieser willen existierenden Milieu bedarf es der Aufmerksamkeit der Gefängnisseelsorge für die neueren diesbezüglichen theologischen Beiträge. 2.1.2

Versuche sinnvollen Redens von

Schuld

Neuerdings werden von theologischer wie nichttheologischer Seite Stimmen laut, die sich sowohl mit dem heutigen juristischen Schulddogma als auch mit der theologisch-philosophischen Schuldtradition kritisch auseinandersetzen. Heute wissen wir, daß es weder möglich ist, einseitig von einer Freiheit des Willens zu reden, noch, unter Berufung auf verschiedene humanwissenschaftliche Erkenntnisse zur Kriminogenese, den Menschen so etwas wie Schuldfähigkeit abzusprechen 2 5 . Die These vom freien Willen stellt eine ebenso große Verkürzung des Sachverhalts dar wie Versuche, jedes Delikt in einen entlastenden Rahmen von Schicksalhaftigkeit einzuordnen. Nur unter drei Bedingungen voll zu sein. Diese wären:

scheint ein Reden von Schuld heute sinn-

1. die Beschränkung des Redens von Schuld auf Zusammenhänge, die auch eine schuldlösende Instanz aufweisen; 2. die Entprivatisierung der Schuld; 3. die Integration der Kategorie des Unbewußten in unser Schuldverständnis. a) H. Dombois stellt fest: „Die Einführung und Durchbildung des Schuldbegriffs beruht auf einer bisher in der Strafrechtstheorie nicht bedachten Voraussetzung: der Überzeugung nämlich, daß der Mensch von seiner Schuld auch befreit werden könne . . . Wenn dem Menschen die Schuld nicht durch einen konkreten, real-wirksamen Akt abgenommen werden kann, würde sie ewig auf ihm bleiben und ihn damit unerträglich belasten". Er sieht die mit der Schuld auftretende Problematik, daß der Schuldbegriff nur durchgehalten werden kann, „wenn die Strafe wirksam imstande ist, von der Schuld zu befreien" 2 6 . Wir wissen heute um die vielfältigen bewußten und unbewußten Verwicklungen menschlichen Erlebens, die zu „schuldhaftem" Handeln führen. Oft wird Straftätern ihre Tat erst als „schuldhaft" bewußt, wenn ihnen auch einsichtig geworden ist, welches ihre tieferen, unbe25

Dies ist der Weg P. Ricoeurs, einen Weg zwischen Allegorese und Gnosis zu finden. S.u. 26 H. Dombois: Mensch und Strafe, S. 90.

74

wußten Beweggründe dazu waren. So wird heute zu Recht auch immer wieder betont, daß die Erfahrung von Vergebung — und nichts anderes ist ja die Erlösung von Schuld — erst dann möglich ist, wenn Schuld aufgearbeitet wird 2 7 . Während es in der christlichen Tradition in erster Linie Gott überlassen wurde, dem Individuum Sünden zu vergeben, will D. Solle Vergebung aus ihrer privatistischen Verengung herauslösen 28 . Dementsprechend stellt sie fest: „Um Vergebung der Sünde zu erfahren, brauchen wir eine Gruppe von Menschen, die uns den Wiederanfang ermöglichen" 29 . — Der Gedanke der Verarbeitung von Schuld mit Hilfe anderer Menschen findet sich bei P. Tillich in ähnlicher Weise: „Der Mut zum Sein ist der Mut, die Vergebung der Sünden anzunehmen, nicht als eine abstrakte Idee, sondern als die fundamentale Erfahrung in der Begegnung mit Gott. Selbstbejahung trotz der Angst der Schuld und der Verdammung setzt die Partizipation an etwas voraus, was das Selbst transzendiert. In der Kommunikation des Heilens, zum Beispiel in der psychoanalytischen Situation, partizipiert der Patient am Helfer, von dem er angenommen wird, obgleich er sich als unannehmbar empfindet. Der Heilende steht in diesem Verhältnis nicht als ein Individuum, sondern als Repräsentant einer objektiven Macht, die annimmt und bejaht" 3 0 . Während also bei H. Dombois zunächst nur die Unzulänglichkeit eines den Menschen mit Schuld behaftenden Strafrechts konstatiert wird, woraus sich die Forderung einer schuldlösenden Instanz bereits ergibt, bringt D. Solle den Vorschlag einer — im Gegensatz zur christlichen Tradition — immanenten Bearbeitung von Schuld in Gruppen. Bei P. Tillich ist der Begriff der Verarbeitung weitergeführt zur Partizipation an einer heilenden Transzendenz, vermittelt in der Immanenz, beispielsweise in der therapeutischen Beziehung. b) Ist Schuld an sich schon ein umstrittener Begriff beziehungsweise schwer faßbar, so noch in Sonderheit, wo sie auf die Individualität eingegrenzt wird. Im Strafvorgang findet unter anderem auch eine Bearbeitung von Schuld statt, die nicht die des bestraften Täters ist, sondern sich nur an dieser festmacht. Dieser Vorgang ist oben ausführlich dargestellt worden. „Das soziale Kollektiv-Ich projiziert seine eigene unbewußte Schuld auf den Asozialen, auf den Kriminellen. Nun kann es diesen als Stellvertreter seiner selbst bestrafen, ohne sich dabei 27

D. Solle: Politische Theologie, Stuttgart 1971, S. 125. 8 A.a.O., S. 123. 29 A.a.O., S. 131. 30 P. Tillich: Der Mut zum Sein, Hamburg 1965, S. 164f. 2

75

der Selbstaggression auszusetzen. Die Gesellschaft straft also nicht nur die Schuld des Kriminellen, sondern ihre eigene. Seine Bestrafung ist verschleierte Selbstbestrafung, ist Entlastung von eigenem Schulddruck" 3 1 . So ist die Schuld des Täters das gute Gewissen der Gesellschaft bei der Bestrafung 3 2 . Wir können also etwas überspitzt sagen, daß die Gesellschaft die „Schuld" des kriminellen Außenseiters zur Ausübung ganz bestimmter Funktionen geradezu braucht. Jüngste theologische Bemühungen um ein neues Verständnis der Schuld berücksichtigen diese kollektive Verwicklung alles schuldhaften Geschehens. So entsteht die Forderung nach einer Theologie, ,,die eine Lehre von der Sozialgestalt von Sünde, Bösem und Schuld" entwickelt 33 . In einer solchen Theologie wäre auch eine Uberwindung der Sündenbockprojektion erforderlich. Ansatzweise sind in Richtung auf eine solche Neuformulierung des Schuldverständnisses schon Versuche unternommen worden. D. Solle versteht Schuld sehr einfach und undogmatisch: „Es gibt einen Maßstab für Schuld, . . . nämlich die Liebe" 3 4 . „Schuld ist dann jedes vermeidbare Leiden — und zwar Schuld aller. Schuld hört auf, etwas Privates zu sein, das ein Mensch im wesentlichen allein und für sich begehen k a n n " 3 s . Dieser Maßstab für Schuld ist „unbedingt und unendlich", ist „die allergrößte Übertreibung", „die sich das Christentum erlaubt hat"; „wer immer sich auf ihn einläßt, der findet sich als Schuldigen vor. Wir haben nie genug geliebt. Nur wer weiß oder ahnt, was Liebe ist, sein könnte und wie eine Welt aussähe, in der Liebe sichtbar wäre, der kann verstehen, was Schuld ist und warum wir nicht aufhören können, den Mangel an Liebe als die einzige aber zugleich allgemeine Schuld anzusehen" 3 6 . D. Solle radikalisiert den Schuldbegriff damit und holt ihn heraus aus der Verflochtenheit in bestimmte kodifizierbare Handlungen und Delikte. Gerade da, wo normalerweise strafrechtliche Schuld nicht mehr zu verankern ist, fängt D. Solle an, von Schuld zu reden. Im Hinblick auf die Situation in unserem Strafvollzug ist dann keineswegs mehr eindeutig „Schuld" auf Seiten des Gefangenen festzumachen, sondern da, wo vermeidbares Leiden produziert wird, und das findet nicht selten auf der anderen Seite statt. In diesem Zusammenhang können wir auch H. Ostermeyer: Strafrecht und Psychoanalyse, S. 33. 32 A.a.O., S. 63. 3 3 Chr. Gremmels: Die Sünde — das Böse — die Schuld. Soziologische Aspekte. In: G. Altner u. E. Anders, S. 3 3 - 4 7 ; S. 42. 3 4 D. Solle: Das Recht ein anderer zu werden, S. 27. 35 Ebd. » Ebd.

31

76

eine Definition von P. Schoonenberg verstehen, der Sünde definiert als „Weigerung, sich in einer Geschichte des Heils zu engagieren" 3 7 . c) Die Psychoanalyse hat uns auch die Notwendigkeit einer Integration der Kategorie des Unbewußten in unser Schuldverständnis deutlich gemacht, d.h. es gilt, davon auszugehen, daß die Gemeinsamkeit zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen auf Grund der alle verbindenden „latenten Kriminalität" allzumal größer ist als das sie trennende Delikt. Man könnte die „latente Kriminalität" als Neuformulierung des „peccatum essentiale" verstehen, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied zur Tradition. Die These von der „latenten Kriminalität" hat eher schuldmindernde oder schulderklärende als -begründende Qualität. Der Gedanke, daß die „Schuld" (das Delikt) des anderen auch meine sein könnte, es im Bereich des Unbewußten zumindest ist, provoziert gerade angesichts des Delikts eher ein verstehendes Zusammenrücken von Kriminellen und Nichtkriminellen ids trennende Gefängnismauern. Auf diesem Hintergrund verstandene Schuld wird Menschen eher miteinander verbinden und zusammenführen als sie in unversöhnlicher Weise zu trennen, wie es leicht bei einem Schuldverständnis geschieht, das von einer absolut freien Willensentscheidung zur Tat ausgeht. Schuld hat etwas zu tun mit den destruktiven Tendenzen und Wünschen in unserem Unbewußten wie in unserem Bewußtsein. Im Sinne von Verantwortlichkeit entspricht sie den ich-gerechten, bewußten destruktiven Akten gegen den Mitmenschen. Will man eine Eliminierung des Verantwortungsbegriffs ebenso vermeiden wie eine Reduktion schuldhaften Handelns auf einen Entschluß des freien Willens, so liegt es vielleicht nahe, Schuld als das irrationale Zusammenspiel bewußter und unbewußter Kräfte (Ich- und Eskräfte), veranlaßt durch unglückliche biographische und gesellschaftliche Konstellationen zu definieren. Damit wird Schuld weder reduziert auf schicksalhafte Mächte noch wird übersehen, daß der „Beteiligungsgrad des Ich" am Delikt sehr unterschiedlich und nicht meßbar ist. Es spricht vielleicht einiges dafür, zu einem doppelschichtigen beziehungsweise mehrdimensionalen Schuldverständnis zurückzukehren, das in Analogie zur Unterscheidung von Aktualschuld und Habitualschuld differenziert zwischen unbewußten, latenten und bewußten (ich-gerechten) Anteilen der Schuld. Dieser Ansatz würde aber einmal mehr deutlich machen, daß ein strafrechtlich handhabbares Maß für Schuld Utopie bleiben wird. Umso mehr 37

P. Schoonenberg, in: Herders Theologisches Taschenlexikon Bd. VII, hrsg. v. K. Rahner, Freiburg i.Br. 1973, S. 176.

77

ergibt sich daraus die Forderung, Wege zu einem strafrechlichen beziehungsweise kriminalrechtlichen Vorgehen zu finden, das auf ein Schuldma/? verzichten kann. Allein die Lösung von Schuld legt sich als Sinn für ein Reden von Schuld nahe, alles andere bleibt Fiktion und ist darüber hinaus nicht hilfreich. Dies immer wieder zu betonen und zu demonstrieren scheint eine der Hauptaufgaben der Gefängnisseelsorge zu sein. Wir können folgende Gesichtspunkte über die gegenwärtige Diskussion zum Thema Schuld zusammenfassen: 1. Der Begriff Schuld ist dem historischen Wandel stark unterworfen. 2. Ursprünglich gab es keinen entwickelten Schuldbegriff (Schuld wurde z.B. als Tat-Ergehenszusammenhang verstanden)* so daß die Beachtung des subjektiven Tatbestandes als ein strafrechtlicher Fortschritt galt. 3. Die theologische Tradition und der Existentialismus haben die schicksalhafte Schuldverfallenheit des Menschen zum Dogma erhoben. 4. Unser Schuldstrafrecht differenziert nicht genügend zwischen verschiedenen Graden der Schuldfähigkeit (Graden der Ich-Beteiligung am Delikt). 5. Schuld und Schuldvergebung müssen entprivatisiert werden. 6. Ein neues Verständnis von Schuld bedarf einer Integration der Kategorie des Unbewußten. 7. Das Reden von Schuld ist nur sinnvoll, wo es auch eine schuldlösende Instanz gibt. 8. Eine Radikalisierung des Schuldbegriffs in Richtung auf unterlassene Leidvermeidung oder fehlendes Engagement in einer Geschichte des Heils könnte einen kodifizierbaren Schuldbegriff transzendieren, ohne eine Verantwortlichkeit für Schuld zu eliminieren.

2.2 Die „neue Ethik" (E. Neumann) als Grundvoraussetzung einer Überwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus 2.2.0

Vorbemerkung

Eine bewußte Berücksichtigung unserer Kenntnisse über die unbewußten Mechanismen im Verhältnis der Gesellschaft zu den Kriminellen beziehungsweise über die Wirkungsweise der allen Menschen eigenen „latenten Kriminalität" erfordert ein enormes Umdenken. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man hier mit Formulierungen von E. Neumann von einem Übergang von der sogenannten „alten Ethik" zur „neuen 78

E t h i k " spricht. Eine „neue E t h i k " wäre die Grundvoraussetzung für einen sinnvollen Umgang mit Rechtsbrechern, für eine Durchbrechung oder Überwindung des Sündenbockprojektionsmechanismus wie die Entwicklung einer „Friedensordnung" anstelle eines unmenschlichen, haß- und aggressionssteigernden Strafvollzuges. „Alte E t h i k " und „neue E t h i k " sind — wie schon erwähnt — Formulierungen, die E. Neumann geprägt hat. Es handelt sich hierbei um zwei grundverschiedene Wertsysteme oder ethische Einstellungen, deren Hauptunterschied in der Verarbeitung des „Bösen" liegt, die E. Neumann als „eines der zentralsten Probleme des modernen Menschen" 3 8 bezeichnet. Die Theorie der „Schattenproblematik" in diesem Kontext hat E. Neumann von dem Psychoanalytiker C. G. J u n g übernommen. 2.2.1

Verdrängung und Unterdrückung

durch die „alte

Ethik"

E. Neumann zieht ein gewisses Resümee über die „alte E t h i k " des jüdisch-christlichen Zeitalters. Sie „hat sich als unfähig erwiesen, die zerstörerischen Kräfte im Menschen zu bändigen" 3 9 . Die „alte E t h i k " ist gekennzeichnet durch die „Verabsolutierung von W e r t e n " 4 0 und die „Verneinung des Negativen" 4 1 . Zwei „Grundprinzipien" oder „ G r u n d m e t h o d e n " haben die Durchführung beziehungsweise Aufrechterhaltung der „alten E t h i k " möglich gemacht: die Unterdrückung und die Verdrängung 4 2 . Bei der Unterdrückung wird ein Opfer geleistet, das zum Leiden führt. „Dieses Leiden wird bejaht, dadurch behalten . . . die ausgeschalteten Inhalte und Persönlichkeitsteile dauernd eine Verbindung zum Ich". „Bei der Verdrängung haben die ausgeschlossenen Inhalte die Beziehung zum Bewußtseinssystem verloren" 4 3 . Beide, die Unterdrückung und noch viel mehr die Verdrängung, führen „zu einer Stauung der unterdrückten und verdrängten Inhalte im Unbewußtsein" 4 4 . In der Folge manifestiert sich die Stärke des Gewissens „bei der Unterdrückung in einem bewußten, bei der Verdrängung in einem unbewußten Schuldgefühl" 4 5 . Die Bewältigung beziehungsweise A b f u h r dieses 38

E. Neumann: Tiefenpsychologie und neue Ethik, München 1964, S. 7. A.a.O., S. 8. 40 A.a.O., S. 17 41 A.a.O., S. 18. « Ebd. 43 A.a.O., S. 19. 44 A.a.O., S. 35. 45 A.a.O., S. 37. 39

79

auf dem Vorhandensein des „Schattens" beruhenden Schuldgefühls „erfolgt individuell und kollektiv in gleicher Weise, nämlich in dem Phänomen der Schattenprojektion. Der Schatten . . . wird projiziert, das heißt nach außen verlegt und als ein Außen erfahren. Er wird b e k ä m p f t , bestraft und ausgerottet, als .Fremdes draußen', statt als .eigenes d r i n n e n ' " 4 6 . Eben dies war der oben geschilderte Sündenbockprojektionsmechanismus. Die beiden Hauptvorgänge der „alten E t h i k " , die Verdrängung des „Schattens" und die Identifikation mit den positiven Werten sind „zwei Seiten ein und desselben Vorganges" 4 7 . Die „alte E t h i k " hat eine dualistische Grundkonzeption. „Sie anerkennt eine gegensätzliche Licht-Dunkel-Welt, teilt das Dasein in zwei Hemisphären von rein und unrein, gut und böse, G o t t und Teufel und ordnet dem Menschen seine Aufgabe in dieser dualistis-ch gespaltenen Welt zu" 4 8 . Eine solche Ethik ist eine „Elite-Ethik", eine „Lösung starker N a t u r e n " 4 9 . Die „alte E t h i k " ist, psychologisch gesprochen, eine ,Teilethik'. Sie ist eine Ethik der Bewußtseinshaltung und läßt die Tendenzen und Wirkungen im Unbewußten unberücksichtigt und unbewertet". Sie „fordert Unterdrückung und Opfer und erlaubt prinzipiell auch die Verdrängung, d.h., sie sieht nicht auf den Status der Psyche, sondern begnügt sich mit der ethischen Haltung des Bewußtseins als eines Teilsystems der Persönlichkeit" 5 0 . 2.2.2 Die Integration

des ,,Schattens"

in der „neuen

Ethik"

Die „neue E t h i k " beschreitet einen anderen Weg des Umgangs mit dem „Bösen". Sie macht ernst mit der Notwendigkeit, daß das Individuum lernt, „sein Böses , a n z u n e h m e n ' " und sein individuelles Böses vom allgemeinen Bösen zu unterscheiden 5 1 . Das „Mitlebenlassen des Schattens" ist „nur auf einer moralisch ,tieferen' Lebensebene möglich. Das Ich muß von seinem Thron herabsteigen und seine individuelle, konstitutionelle, schicksalsmäßige und historische Unvollkommenheit realisieren" 5 2 . „Ethisch einwandfrei" ist für eine solche Ethik „nur der Mensch, der

46

A.a.O., ? A.a.O., 48 A.a.O., 49 A.a.O., so A.a.O., si A.a.O., 52 A.a.O., 4

80

S. S. S. S. S. S. S.

38. 27. 31. 30. 67. 74. 75.

sein Schattenproblem angenommen, d.h. seine eigene negative Seite bewußt gemacht h a t " s 3 . Die ganze Persönlichkeit wird als Basis des ethischen Verhaltens gefordert 5 4 . Für die „neue Ethik" „konstelliert sich das moralische Problem des Individuums erst aus dem Zusammen von Ich und Schatten, und sie erweitert die Verantwortung der Persönlichkeit auf das Unbewußte, wenigstens auf den persönlichen Anteil des Unbewußten, welchen die Schattenfigur beinhaltet" 5 5 .

2.2.3

Stellvertretendes „neuen Ethik"

Leiden und Identifikation

in der

In zwei Richtungen ist die „neue Ethik" „total": 1. weil sie die Aus-, wirkung der individuellen Haltung auf das Kollektiv mit einbezieht, 2. weil sie „die Totalität der Persönlichkeit als Verantwortlichkeitsträger einsetzt, nicht nur das Ich als Zentrum des Bewußtseins" 5 6 . „Das Hauptaugenmerk legt die neue Ethik nicht darauf, daß das Individuum ,gut' sei, sondern daß es seelisch autonom, das heißt gesund und produktiv, aber auch seelisch nicht infektiös sei. Die Autonomie der ethischen Persönlichkeit besteht darin, daß die Verarbeitung und Verwendung der in jeder Struktur vorhandenen negativen Kräfte bewußt innerhalb der Persönlichkeitsverwirklichung erfolgt" 5 7 . Eine solche Autonomie macht die Projektion des eigenen „Schattens" auf Sündenböcke überflüssig. „Im Gegensatz zur Sündenbockpsychologie, in welcher der Einzelne sein Böses an die Schwachen abschiebt, kommt es hier eher zu dem umgekehrten Phänomen, nämlich dem des (Stellvertretenden Leidens'. Der Einzelne nimmt einen Teil der Last des Kollektivs in die eigene Verantwortung mit hinein und entgiftet und integriert in seiner inneren Verwandlungsarbeit dies Böse. Wenn es gelingt, führt dies zu einer inneren Befreiung des Kollektivs, das wenigstens teilweise von diesem Bösen erlöst wird" 5 8 . Die psychischen Mechanismen, die bei diesem Vorgang des „stellvertretenden Leidens" ablaufen, sind eben die, die später unter dem Begriff „Identifikation" zusammengefaßt werden sollen.

S3 5" ss s« 57 58

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S. S.

88. 89. 90. 89. lOOf. 132.

6 Stubbe, Seelsorge

81

2.3 Die religiöse Dimension des Schuldproblems nach Paul Ricoeur 2.3.1

,,Archäologie"

und ,, Teleologie"

— die zwei

Hermeneutiken

Die Frage nach einem den tiefenpsychologischen Erkenntnissen angemessenen Umgang mit dem „Bösen", die bei E. Neumann zum „Entwurf" der „neuen Ethik" führt, wird von P. Ricoeur angegangen als hermeneutisches Problem der Interpretation der Symbole des Bösen. Eine wesentliche Rolle spielt bei ihm in diesem Zusammenhang eine Bedeutungsstudie über die „Erbsünde", ferner Interpretationen der Symbole der Anklage, des Strafmythos und der Schuld. P. Ricoeur geht aus von einer „Dualität der Symbole" 5 9 , sie haben eine „progressive" und eine „regressive Geschichte" 6 0 . Somit besteht für ihn die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik in der Verarbeitung dieser „Dialektik von Archäologie und Teleologie" 6 1 . P. Ricoeur stellte zunächst der Psychoanalyse als einer „Archäologie" des Unbewußten die Hegel'sche „Phänomenologie des Geistes" als eine „Teleologie" der Bewußtwerdung gegenüber, deren beider Verschränkung er aufzuzeigen versuchte: „Freud, so möchte ich sagen, verbindet eine thematisierte Archäologie des Unbewußten mit einer nicht thematisierten Teleologie des ,Bewußtwerdens', so wie Hegel die explizite Teleologie des Geistes mit einer impliziten Archäologie des Lebens und des Wunsches verbindet" 6 2 . Die Funktion der „Teleologie", die in der „Interpretation" noch ausschließlich der „Phänomenologie des Geistes" zukommt, schreibt P. Ricoeur später vor allen Dingen einer „Theologie der Hoffnung" zu 6 3 . So spricht er in der Folge auch davon, daß er sich I. Kant, und zwar dem I. Kant der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" näher fühlt als Hegel und deshalb Religion durch die Frage definiert: „Was darf ich h o f f e n ? " 6 4 P. Ricoeur unternimmt eine Interpretation der Symbole des Bösen in eben diesem Spannungsfeld der beiden Hermeneutiken der „Archäolo59

P. Ricoeur: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, München 1974, S. 31. A.a.O., S. 67. 61 A.a.O., S. 83. 62 P. Ricoeur: Die Interpretation, S. 472. Er beruft sich insbesondere auf G. W. F. Hegels Ausführungen über Herrschaft und Knechtschaft im IV. Kapitel der „Phänomenologie des Geistes". Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michel. 2. Aufl., Frankfurt a. Main 1975, S. 145ff. 63 P. Ricoeur: Hermeneutik und Psychoanalyse, S. 351. 64 A.a.O., S. 331.

82

gie" und der „Teleologie". Im Rahmen seiner Symbolinterpretationen nehmen dabei die Symbole des Bösen eine besondere Stellung ein, da sie zu einer spezifischen Erkenntnis verhelfen: „Alle Symbole geben zu denken, doch die Symbole des Bösen machen auf exemplarische Weise deutlich, daß es in den Mythen und Symbolen immer mehr gibt als in unserer ganzen Philosophie und daß eine philosophische Interpretation der Symbole nie zur absoluten Erkenntnis vordringen kann. Die Symbole des Bösen, an denen wir das Scheitern unserer Existenz ablesen, proklamieren zugleich das Scheitern aller Denksysteme, die die Symbole in einem absoluten Wissen einschließen möchten" 6 5 . 2.3.2

Die Dekonstruktion

des Begriffs

„Erbsünde"

In seiner Bedeutungsstudie über die Erbsünde geht es P. Ricoeur nicht um einen weiteren dogmatischen Beitrag auf jener Abstraktionsebene, wo die Grenze zur Spekulation überschritten ist 6 6 . Er möchte „die Bedeutung der theologischen Arbeit untersuchen, die sich in dem Begriff der Ursünde kristallisiert hat". Das heißt für ihn, den Begriff zu destruieren, also seine Motivationen zu zergliedern und die Sinnrichtungen des Begriffs mittels einer Art intentionaler Analyse wieder freilegen, die auf das Kerygma selbst hindeuten. Die Zielsetzung, den Begriff der Erbsünde zu destruieren, wendet sich sowohl gegen das juristische Mißverständnis von der Schuld der Neugeborenen als auch gegen das biologistische Mißverständnis von der Übertragung einer erblichen Last. Hier bildet das Scheitern des Wissens die Kehrseite der Wiedereroberung des Symbolismus 67 . Es geht P. Ricoeur also um eine „Interpretation, die auf der Ebene des Wissens reduktiv, auf der Ebene des Symbols wiederherstellend vorgeht" 6 8 . Fürs erste besagt der Begriff der Ursünde, daß das Böse kein Seiendes ist, daß es kein Natur-Böses oder substanzhaftes Böses gibt, weil das Böse ein Werk der Freiheit ist 6 9 . Gleichzeitig bildet das Schema der Vererbung den Gegenpol zur individuellen Geneigtheit zum Bösen 70 . Die beiden Fronten, gegen die P. Ricoeur sich absetzt, sind die Gnosis und die Allegorese 71 . « « 67 « 6 «

A.a.O., S. 215. A.a.O. S. 140f. A.a.O., S. 141. A.a.O., S. 143. Ebd. » A.a.O., S. 149. 71 Die Gnosis des Bösen sieht in dem Bildhaften etwas Reales. Sie verdinglicht das Symbol. Die Kirchenväter haben gegen die Gnosis immer wieder betont, das Böse sei kein Sein, sondern ein Tun. P. Ricoeur, a.a.O., S. 145.

83

Das „rationale Symbol" (= „Symbol für das Denken") der Erbsünde oder Ursünde weist einen Bedeutungsüberschuß auf, einen dunklen Reichtum analoger Bedeutungen. Daher ist es nicht sinnvoll, die Spekulation weiter voranzutreiben, sondern zu den menschlichen Erfahrungen des Bösen zurückzukehren, die von den biblischen Schriftstellern mit ihren mehr beschreibenden als erklärenden Symbolen gemeint waren. P. Ricoeur nennt drei „Bußerfahrungen", die jeder Interpretation durch ein bewußtes Abgleiten des individuellen Willens widerstehen: 1. Der Realismus der Sünde (das „vor G o t t " und nicht mein Bewußtsein gibt das Maß der Sünde), ein Seinsmodus, dessen Wurzeln tiefer reichen als jeder einzelne Akt. Der „Realismus der Sünde" bei P. Ricoeur dürfte dem „Schatten" (in Jung'scher Terminologie) bei E. Neumann und der „latenten Kriminalität" in der Freudschule entsprechen. Beide sind mehr als die einzelnen Delikte, bilden sozusagen den Boden, auf dem diese gedeihen können; 2. die kommunitäre Dimension der Sünde (die trans-biologische und trans-historische Zusammengehörigkeit der Sünde konstituiert die metaphysische Einheit der Menschengattung, die nicht in eine Vielzahl von Neigungen zum Bösen einzelner menschlicher Willensträger aufgelöst werden kann); hier ist offenbar der von anderen so bezeichnete Gesichtspunkt der Kollektivschuld angesprochen; 3. die grundlegende Ohnmacht (Sünde als „Elend"; Distanz von dem „ich will" zum „ich kann") 7 2 . In dieselbe Richtung geht wohl der Gedanke bei E. Neumann, daß Unterdrückung und Verdrängung den Schatten — und sei es unter noch so starkem psychischem Energieaufwand — nicht beseitigen können, im Gegenteil oft zur Verschärfung seiner Auswirkungen beitragen. Die symbolische Funktion ten herauskristallisiert:

der Ursünde wird unter zwei Gesichtspunk-

1. Der Adamsmythos weitet die tragische Erfahrung des Exils auf die menschliche Gattung im allgemeinen aus 7 3 . Der Allegorismus geht von der Auffassung aus, „daß der wahre, der philosophische Sinn schon vor der Fabel vorhanden war, während diese nichts als eine sekundäre Verkleidung darstellt, einen Schleier, den man absichtlich über die Wahrheit geworfen hat, um die Ungebildeten irrezuleiten. Meine Uberzeugung ist es aber, daß man keinesfalls von einer Rückseite der Symbole aus denken darf, sondern nur auf ihrem Boden selbst, unter ihrer Führung; ihre Substanz ist unauflöslich, sie bilden den offenbarenden Grundschatz des Wortes, das unter den Menschen wohnt; kurzum, das Symbol gibt zu denken". P. Ricoeur, a.a.O., S. 176. A.a.O., S. 156f. 73 A.a.O., S. 158.

84

2. Gleichzeitig enthüllt der Adamsmythos den „geheimsnis vollen Aspekt des Bösen", daß jeder Mensch das Böse wohl beginnt oder in die Welt setzt, daß es aber auch jeder ,,vorfindet als etwas, das schon da ist, in ihm, außer ihm, vor ihm. Für jedes Bewußtsein, das zur Verantwortlichkeit erwacht, ist das Böse schon vorhanden" 7 4 . Dem vorgefundenen Bösen in, außer und vor uns dürfte das entsprechen, was wir oben als „latente Kriminalität" (in uns), gesellschaftliche Bedingtheit des Bösen oder der Kriminalität (außer uns) und Bedingtheit des Bösen durch die familiäre Sozialisation, also auch die vorherige Generation (vor uns) herauskristallisiert haben. Der Mythos überträgt den Ursprung des Bösen auf einen fernen Ahnen. Und damit wird die Situation eines jeden Menschen enthüllt. Was der Mythos erzählt, „hat bereits stattgefunden; ich beginne das Böse nicht; ich setze es nur fort; ich bin in das Böse hineinverwickelt; das Böse hat eine Vergangenheit; es ist seine eigene Tradition. Somit verknüpft der Mythos in der Gestalt des Ahnen der Menschengattung alle diese Aspekte, die wir eben aufgezählt haben: die Realität der Sünde, die jeder Bewußtwerdung vorgängig ist; die kommunitäre Dimension der Sünde, die nicht auf die individuelle Verantwortlichkeit reduziert werden kann; die Ohnmacht des Wollens, von der jede aktuelle Fehltat umhüllt wird. Diese dreifache Beschreibung, die der moderne Mensch artikulieren kann, kristallisiert sich in dem Symbol des ,vorher', das der Mythos des ersten Menschen zur Darstellung bringt" 7 5 . So liegt nach P. Ricoeur die essentielle Funktion des Begriffs der Erbsünde/Ursünde in einem zweifachen Bemühen: das Erworbene der ersten Begriffsfassung soll bewahrt werden, nämlich daß die Sünde nicht Natur ist, sondern Wille; und zugleich soll diesem Willen eine Quasi-Natur des Bösen eingegliedert werden 7 6 . Indem P. Ricoeur auf diesem Wege annäherungsweise zu einer Definition des Bösen gelangt, kann er nun auch den Mischcharakter des Begriffs Erbsünde besser verdeutlichen: „Vom Standpunkt der begrifflichen Vorstellung aus haben wir hier mit einem hoffnungslosen Unterfangen zu tun, metaphysisch gesehen aber mit einer tiefen Einsicht: Der Wille selbst umfaßt eine Quasi-Natur; das Böse bildet eine Art Unwillentliches im Kern des Willentlichen selbst, nicht mehr diesem gegenüber, sondern unmittelbar in ihm, und gerade hierin erkennen wir den unfreien Willen. Dies ist auch der Grund, warum man das monströse Mischgebilde konstruiert hat, das einen juridischen Begriff der Zurechnung, der das * A.a.O., S. 158f. « A.a.O., S. 159. 76 A.a.O., S. 160.

85

Willentliche wahren soll, mit einem biologischen Vererbungsbegriff vereint, der dem Unwillentlichen, Erworbenen, Übernommenen Rechnung trägt" 7 7 . Die Interpretation des Erbsündenbegriffs im Spannungsfeld von „Archäologie" und „Teleologie" gipfelt bei P. Ricoeur in der Feststellung: „Wir haben kein Recht, weder über das Böse, das wir beginnen, noch über das Böse, das wir vorfinden, außerhalb jeder Beziehung zur Heilsgeschichte zu spekulieren. Die Ursünde ist bloß ein Anti-Typus. Typus und AntiTypus stehen nicht nur gleichsinnig zueinander (,wie . . . , so . . . ' ) , sondern es vollzieht sich auch eine Bewegung vom einen zum andern, die sich in dem ,um wieviel mehr', ,um so mehr' ausdrückt: ,Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade viel mächtiger geword e n ' " 7 8 . Durch die Verknüpfung von „Archäologie" und „Teleologie" der Symbole des Bösen findet hier ein Stück Integration des Bösen in die Heilsgeschichte statt. Bei E. Neumann finden wir diesen Vorgang in dem Gedanken zusammengefaßt, daß eine Integration des Schattens in die individuelle und kollektive Selbstverwirklichung auch eine Entschärfung seiner „bösen" Auswirkungen zur Folge hat. Dem entspricht offenbar das „um wieviel mehr" bei P. Ricoeur.

2.3.3

Die Entmythisierung

der

Anklage

Das Problem des Bösen wird ferner von P. Ricoeur behandelt unter dem Gesichtspunkt der Anklage, d.h. des urteilenden Bewußtseins. Die Hypothese der doppelten Entmythisierung soll auf die Instanz der Anklage angewandt werden, d.h. ein Verzicht auf den Mythos und die Wiedereroberung des Symbolgehalts der Anklage sollen miteinander verschränkt werden 7 9 . Das Ziel dieser hermeneutischen Arbeit sieht P. Ricoeur in der Herauskristallisierung der originären Frage der Ethik. Hierbei geht er in drei Schritten vor: 1. Im ersten Schritt versucht er nachzuweisen, „daß das, was entmystifiziert werden kann und muß, die falsche Transzendenz des Imperativs ist". Freigelegt werden soll dadurch „die Essenz der Ethik in unserem Wunsch zu sein, in unserem Streben nach Existenz". 2. Die Ethik des Wunsches soll als philosophische Grundlage des zweifachen Entmythisierungsprozesses dargestellt werden.

"" A.a.O., S. 161. 78 A.a.O., S. 161; vgl. Rom 5,20. w A.a.O., S. 217.

86

3. Im dritten Schritt wird gefragt, was aus dem Geständnis des Bösen im Licht eines Kerygmas wird, das nicht verurteilt, sondern vielmehr zum Leben a u f r u f t 8 0 . Im ersten Schritt geht es P. Ricoeur um die „Rückwirkung der Psychoanalyse des Überichs auf die Kritik der Pflicht". Ausgehend von der methodologischen Differenz zwischen S. Freud und I. Kant stellt er fest: „Die grundlegende Leistung der Psychoanalyse liegt meines Erachtens darin, daß sie etwas geschaffen hat, was man für unmöglich halten könnte, nämlich eine Genealogie des angeblichen Prinzips der Sittlichkeit. Wo die kantische Methode eine ursprüngliche, irreduzible Struktur erkennt, deckt eine andere Methode eine abgeleitete, erworbene Struktur a u f " 8 1 . Die Psychoanalyse führt ein verschleierndes Moment in den Bereich des guten Gewissens ein und bewirkt damit eine entscheidende Umkehrung der Problematik. „Das urteilende Bewußtsein wird zum beurteilten; der Gerichtshof sieht sich einer Kritik zweiten Grades unterstellt, die das urteilende Bewußtsein in das Feld des Wunsches zurückbringt, woraus es die formale Analyse Kants gerade zu entfernen versuchte. Die als Anklage interpretierte Pflicht wird eine Funktion des Wunsches und der Furcht"82. P. Ricoeur stellt vier Aspekte heraus, die sich aus dem Methodengegensatz (Kant — Freud) im Hinblick auf die Interpretation der Anklage ergeben. a) Ein Netz von klinischen Analogien, die P. Ricoeur aufzählt, „umreißt die Konturen dessen, was man eine Pathologie der Pflicht nennen könnte, gerade dort, wo Kant lediglich von einer Pathologie der Begierde sprach". b) Wo Kant vom „ G e s e t z " spricht, verweist Freud auf das symbolische System, in dessen Mitte die beherrschende Vatergestalt des Ödipuskomplexes steht. „Die Hermeneutik der Anklage betrachtet das formale Gesetz als eine zweite Rationalisierung, schließlich als ein abstraktes Ersatzgebilde, in dem sich das konkrete Drama verbirgt . . . " . c) Die Anklageinstanz, das Überich, muß ökonomisch abgeleitet werden. „Unsere Verzichte bilden sich aus dem S t o f f unserer Wünsche; in dieser Hinsicht ist die Analogie zwischen dem moralischen Bewußtsein und der Trauerarbeit sehr aufschlußreich: Sie erlaubt es, daß man, unter dem ökonomischen Gesichtspunkt, die moralische Instanz mit dem verlorenen so A.a.O., S. 218. 81 A.a.O., S. 219. 82 A.a.O., S. 220.

87

archaischen Objekt, das in die Innerlichkeit des Ichs integriert wurde, in Beziehung setzt" 8 3 . d) In der Vatergestalt verknüpfen sich Furcht vor der Strafe und der Wunsch nach Tröstung. Da beide Funktionen zusammenhängen, hat ,,die Entmystifizierung der Anklage vieles mit einer Trauerarbeit gemeinsam" 8 4 . Die philosophische Bedeutung der Freudschen Kritik der Anklage faßt P. Ricoeur in der Formel zusammen: „Wir müssen von der bloßen Pflichtmoral zu einer Ethik des Wunsches zu sein oder des Strebens nach Existenz zurückkommen" 8 5 . Das „Streben in seiner ursprünglichsten Struktur" ist nach P. Ricoeur die Bejahung des Seins im Mangel an Sein". Diese originäre Bejahung begründet darin eine Ethik, „daß das ,Ich bin' sich selbst sein eigener Anspruch ist: Es hat zu sein, was es originär schon ist. Die Pflicht bildet nur eine Peripetie des Anspruchs und des Strebens" 8 6 . Sobald das ethische Problem nicht mehr aus der Perspektive der reinen Pflicht verstanden wird, sondern vom Wunsch zu sein her, ermöglicht dies eine neue Sichtweise der religiösen Dimension der Ethik 8 7 . „Die Auffassung, die den religiösen Kern der Ethik in den Gesetzen sieht, die sich auf ein göttliches Ereignis stützen, das ist vielleicht der Mythos der Moralreligion, der entmystifiziert wird, den man entmystifizieren muß; und wahrscheinlich kann nach dieser Entmystifizierung das Ereignis erst wiederentdeckt werden, das reine Ereignis des Kerygmas und seine Beziehung zum Ursprung unseres Wunsches zu sein" 8 8 . Die Aufgabe der Moraltheologie sieht P. Ricoeur darin, gerade nicht die Beziehung des Kerygmas zur Pflicht, sondern zum Wunsch zu denken, demgegenüber die Pflicht nur eine sekundäre Funktion erfüllt 8 9 . Das Kerygma ist nicht an die Universalität des Gesetzes geknüpft, sondern es stellt die singuläre Beziehung eines singulären Ereignisses zur Geschichtlichkeit des Wunsches dar und ist darum auch nur dem Zeugnis zugänglich 90 . Christus ist nicht das Vorbild der Pflichterfüllung. Für den Philosophen bildet er das „Schema der Hoffnung". P. Ricoeur definiert es folgen-

M 84 «s 8« 87 88 89 «o

88

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., Ebd. A.a.O., A.a.O., Ebd.

S. S. S. S.

221. 22 If. 222. 224.

S. 225. S. 226.

dermaßen: Christus „hat teil an einer mythisch-poetischen Imagination, der es um die Erfüllung des Wunsches zu sein geht" 9 1 . Die Entmystifizierung der Anklage kann als vollendet betrachtet werden, sobald ihr Gegenstand, die Schuld, wieder in das Feld des Kerygmas hineingestellt worden ist. „Die Entmystifizierung der Anklage muß auch die Entmystifizierung der Übertretung einschließen . . . Nicht die Übertretung ist die Sünde, sondern das Paar von Gesetz und Begierde, kraft dessen es Übertretungen gibt; die Sünde besteht darin, daß man in der überwundenen Ökonomie des Gesetzes stehenbleibt, wo das Gesetz die Begierde weckt. Das Gegenteil der Sünde ist nicht die Sittlichkeit, sondern der Glaube" 9 2 . Von hier aus findet eine Umkehr der Problematik statt: „Das Böse ist nicht das Erste, das wir verstehen, sondern das Letzte". Eine Reflexion über den Ursprung des Bösen wird zur religiösen durch „eine grundlegende Neuinterpretation unserer Begriffe des Bösen und der Schuld aus der Sicht des Kerygmas" 9 3 . Eine Neuinterpretation des Bösen vom evangelischen Kerygma her muß nach P. Ricoeur drei Bedingungen Genüge leisten: 1. Der Druck der Entmystifizierung der Anklage muß unausgesetzt aufrechterhalten werden. 2. Die Entmystifizierung der Anklage muß mit derjenigen der Tröstung gekoppelt bleiben. 3. Die Neuinterpretation muß vom kerygmatischen Brennpunkt des Glaubens ausgehen, d.h. von der frohen Botschaft, daß Gott die Liebe ist. Es ist die Aufgabe der geistigen Liebe, zu verstehen, wie die Verwandlung der Anklage und der Tröstung letztlich zusammenfallen. P. Ricoeurs These geht dahin, „daß dieses Verstehen ein rationales Verständnis des Glaubens in der unausgesetzten Kritik seiner Symbole bleibt. Rationales Verständnis: denn unablässig muß es mit der Antinomie kämpfen; Glaube — und mehr noch Liebe — : denn das, was dieses Verstehen in Bewegung hält, ist die stete Arbeit der Läuterung des Wunsches und der Furcht. Allein im Licht der rationalen Liebe Gottes kann der Mensch auf die rechte Weise angeklagt und in Wahrheit getröstet werden" 9 4 . 2.3.4

Die Interpretation

des

Strafmythos

Mit dem Strafmythos verbinden sich einige Schwierigkeiten und Paradoxe. P. Ricoeur führt diese in Form von vier Aponen aus. 9 > A.a.O., S. 230. « A.a.O., S. 231. 93 Ebd. 94 A.a.O., S. 237f.

89

Die erste Aporie ist die Aporie der Rationalität der Strafe. Die Logik der Strafe, die angeblich ihre Rationalität ausmacht, ist unauffindbar. „Die Bestrafung gilt als Preis des Vergehens". Dieser Preis oder Wert — P. Ricoeur spricht vom rationale der Strafe — bildet das Problem. Vergehen und Strafe gehören zwei verschiedenen Kategorien an, der Kategorie des Erleidens und der des Handelns. Man müßte sie aber „im selben Wollen, dem des Schuldigen, vereint denken". Ferner beziehen sich das Verbüßen und das Verbüßenlassen der Strafe „auf zwei verschiedene Willen, auf den des Beschuldigten und den des Richters; vorausgesetzt, daß der Akt der Verfehlung und das Verbüßen dasselbe Subjekt betreffen . . . , teilen sich das Verbüßenlassen und das Verbüßen in zwei verschiedene Subjekte: das beurteilende und das beurteilte Bewußtsein. Man müßte den Richter und den Schuldigen als ein einziges Wollen denken" 9 5 . Demnach zerfällt das rationale der Strafe „in ein Handeln und Erleiden im selben Willen, in ein Verbüßen und Verbüßenlassen in zwei verschiedenen Willen, es überwindet diese doppelte Spaltung mittels des Gedankens der Äquivalenz: der Äquivalenz des Vergehens und der Bestrafung. Man geht davon aus, daß diese Äquivalenz im Schuldigen selbst liegt, denn nur so kann das, was durch das Verbrechen begangen worden ist, durch die Bestrafung wieder aufgehoben werden" 9 6 . In der zweiten Aporie geht es um die Funktion des Mythos: „Was der Verstand trennt, das denkt der Mythos als eine Einheit im Heiligen"91. Mythos und Vernunft treten gemeinsam auf im Begriff der Sühne. Die Sühne nimmt „im Universum des Heiligen die Stellung des rationale ein, das eine erste Analyse auf der Ebene des Verstandes vergeblich gesucht hat" 9 8 . Die dritte Aporie gründet in der Verwandtschaft des Sakralen und des Juridischen. Hier findet „die Identität von Mythos und Vernunft in der Logik der Strafe . . . ihren augenfälligsten kulturellen Ausdruck". Das Sakrale sakralisiert unausgesetzt das Juridische. J e weiter sich die Rationalität des Verstandes, der die Bestrafung nach der Fehltat bemißt, fortentwickelt, desto mehr kommt auch die mythische Rationalität zum Vorschein, die das ganze Gebäude trägt 9 9 . So formuliert P. Ricoeur ,,die Aporie des Strafrechts" folgendermaßen: „Rationalisiert man die Strafe 95

A.a.O., « A.a.O., 97 A.a.O., 9 » A.a.O., 99 A.a.O., 9

90

S. S. S. S. S.

240f. 241. 241; Sperrdruck von Verf. vorgenommen. 241f. 243.

gemäß den Ansprüchen des Verstandes, indem man den Mythos der Sühne eliminiert, so nimmt man ihr gleichzeitig ihr Prinzip. Oder, um diese Aporie in den Termini eines Paradoxes auszudrücken: Was in der Strafe das Rationalste ausmacht — daß sie ein Vergehen aufwiegt —, ist zugleich das Irrationalste, nämlich die Vorstellung, daß sie es auslöscht" 1 0 0 . Diese vierte Aporie liegt in der religiösen Sphäre, in der Juridisierung des Heiligen. Auf den ersten Blick hin scheint das Moment der unverdienten Gnade die Straflogik am eindeutigsten zu durchbrechen, bei näherem Hinsehen erweist es sich als ihre radikalste Bestätigung 101 . Es ist, als wollten die Texte, die von der Rechtfertigung des Menschen aus Gnade reden, „uns zu verstehen geben, man könne die Gnade, die Vergebung und das Erbarmen nur in einer Beziehung zum Strafgesetz denken, das sich dabei ebensowohl anerkannt wie aufgehoben findet: Verweist ein Freispruch nicht immer noch auf die Strafgerechtigkeit? Bleibt hier nicht die Gnade selbst die Sache eines Gerichts, das sie eben unter Mißachtung des Vergeltungsgesetzes erteilt? Und behält das Überraschende dieses Geschehens nicht seinen ganzen rechtlichen Charakter, insofern es einem Urteilsspruch entspringt, und sei dies ein Urteil der Nichtanrechnung des Vergehens? sei es ein Freispruch?" 1 0 2 Die Aufgabe einer Dekonstruktion des Strafmythos bedeutet nach P. Ricoeur im wesentlichen, die Logik der Strafe zu ihrem Gültigkeitsbereich zurückzubringen und ihr dadurch die onto-theologische Bedeutung abzusprechen. Unter Berufung auf Hegel betont er, daß das Strafgesetz seine Gültigkeit nur in dem ganz begrenzten Bereich des abstrakten Rechts besitzt 1 0 3 . Hegel hat die Strafe gedacht104. Von ihm übernimmt P. Ricoeur den Begriff der Strafe. Er, der Strafbegriff, ist „jener Zusammenhang der Notwendigkeit, daß das Verbrechen, als der an sich nichtige Wille, somit seine Vernichtung — die als Strafe erscheint — in sich selbst enthält. Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert" 1 0 5 . Innerhalb der Grenzen der Rechtsphilosophie ist damit der Strafbegriff geklärt. Man darf die Strafe weder moralisieren noch divinisieren106. 100 ιοί 102 "β 104

A.a.O., S. 244. A.a.O., S. 246. A.a.O., S. 245f. A.a.O., S. 246. Ebd. 105 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hrsg. von E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. Main 1976, § 101, S. 193; P. Ricoeur, a.a.O., S. 248; die Strafe ist nach G. W. F. Hegel sogar ein Recht des Verbrechers, a.a.O., § 100, S. 190f. 106 P. Ricoeur, a.a.O., S. 249. 91

Wenn nun aber „die entmythisierte Straflosigkeit zum abstrakten Recht zurückkehrt, wird dadurch gleichzeitig das weite Feld des Sühne-Mythos erschlossen" 1 0 7 . Es taucht die Frage auf, ob es sich hier um einen Mythos ohne Vernunft handelt, reziprok zu einer Vernunft ohne Mythos, beziehungsweise ob sich die Entmythologisierung der Strafe in der Dekonstruktion des Mythos erschöpft. P. Ricoeur stellt dieser Frage die Behauptung gegenüber, die Idee einer nichtjuridischen Strafe entziehe sich nicht völlig der Reflexion. Hier stellt sich die Aufgabe, der Entmythologisierung einen neuen Sinn zu geben, der Dekonstruktion eine Neuinterpretation anzugliedern 108 . P. Ricoeur will die Strafe neu interpretieren, indem er von einer „anderen Logik", die er aus der paulinischen Rechtfertigungslehre ableitet, ausgeht. „Die neue oder ,absurde' Logik, um mit Kierkegaard zu sprechen, konzentriert sich im Gesetz der Überfülle, das allein die Ökonomie der Strafe und die Logik der Äquivalenz hinfällig macht. Erst aus ihrer Sicht kann man eine angemessene Anwendung des Strafmythos vorschlagen; der einzig denkbare Status des Strafmythos ist . . . der eines zertrümmerten, ruinierten Mythos, von dem sich unsere Erinnerung aber doch nicht trennen kann. So werden sich alle unsere Überlegungen von jetzt an auf diesen Gedanken eines Memoriale der Strafe hin orientieren" 1 0 9 . Es gilt, die Strafe ebenso zu dejuridieren, wie man das Juridische entsakralisieren muß. „Wir müssen diese radikale Dimension wiederfinden, wo Sünde und Strafe als Verletzung einer schöpferischen Gemeinschaft ursprünglich miteinander verbunden sind" 1 1 0 . Die Strafe muß zur Sphäre des abstrakten Rechts zurückgebracht werden, und zugleich muß ihr nicht-juridischer Sinn bis zu dem Punkt vertieft werden, wo sie sich mit dem fundamentalen Übel der Trennung identifiziert" 1 1 1 . Die Straflogik darf man nicht als eine autonome Logik behandeln. Sie dient „als Kontrast, als Gegenstück, als Kontrapunkt für die Botschaft und die Verkündigung, die das Evangelium selbst darstellt". Die Straflogik erschöpft sich in dieser absurden Demonstration ihres Gegenteils. Nach Paulus' Auffassung heißt das, daß man zuerst bis zum Äußersten der Verurteilung vordringen muß, um danach zum äußersten Punkt des Erbarmens zu gelangen (Rom. 6,23). Die Straflogik „verfügt nicht über 107 "M ι» »o m

92

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S.

254. 254f. 255. 258. 259.

die geringste eigene Konsistenz, und vom Zorn, von der Verurteilung und vom Tod wissen wir nur eines, nämlich daß wir in Jesus Christus davon erlöst sind" 1 1 2 . Für alle genannten Aponen des Strafmythos nennt P. Ricoeur eine Lösung, die auch die „absurde Logik des Paulus" umfaßt: „Die Logik der Strafe scheint mir nach Art eines gebrochenen Mythos fortzubestehen, etwa wie ein zerstörtes Bauwerk im Fundament dieser neuen Logik, die zugleich eine Torheit ist, die Torheit des Kreuzes. So verbliebe dem Mythos der Status einer Ökonomie, die man nur noch im Sinne einer überlieferten Epoche vertreten könnte" 1 1 3 . Das Memoriale der Strafe bedeutet eine letzte Aporie: „Sie betrifft den epochalen Charakter einer zerstörten Ökonomie, die etwas mehr bedeutet als eine menschliche Vorstellung oder eine Illusion, welche man bloß auflösen müßte, und etwas weniger als ein ewiges Gesetz" 1 1 4 . 2.3.5

Der kerygmatische

Kern der Ethik

In einer gesonderten Untersuchung unternimmt P. Ricoeur den Versuch, „die Momente herauszuarbeiten, die in der Frage der Schuld den ethischen Diskurs vom religiösen unterscheiden" 1 1 5 . Er beginnt mit einer semantischen Analyse der Schuld. In der Bekenntnissprache, die die Ausdrucksweise des Bösen ist und stets symbolischen Charakter hat, bildet die Vorstellung der Schuld die Endgestalt der Verinnerlichung, die von der Befleckung über die Sünde zur Schuld läuft. Die Befleckung ist eine Ansteckung von außen, die Sünde bedeutet bereits den Bruch einer Beziehung. Die Schuld dagegen trägt einen entschieden subjektiven Akzent; ihre Symbolik ist weit innerlicher" 1 1 6 . J e mehr die Schuld sich individualisiert, desto mehr Abstufungen erhält sie. Dem egalitären Aspekt der Sündenerfahrungen steht der graduelle der Schulderfahrung gegenüber. „Der Mensch ist vollständig und von Grund auf ein Sünder, aber nur mehr oder weniger schuldig" 1 1 7 . Während die Individualisierung und Abstufung der Schuld einen Fortschritt bedeutet im Vergleich zum kollektiven und undifferenzierten Charakter der Sünde, gilt dies keineswegs für eine andere Entwicklungs112 i" im »s »« 117

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. S. S. S. S. S.

261f. 264. 265. 266. 266ff. 271.

93

richtung: Mit der Schuld entsteht in der Gestalt des Skrupels eine neue Art Forderung·, hier tritt das Gewissen in seine eigene Pathologie ein 118 . „So enthüllt die Schuld den Fluch eines Lebens unter dem Gesetz. An ihrer äußersten Grenze . . . kündet die Schuld eine Anklage ohne Ankläger an, ein Gericht ohne Richter, einen Urteilsspruch ohne Rechtsprecher. . . . Die Verurteilung geht über in Verdammnis". Die Schuld ist ein besonderes Moment der menschlichen Erfahrung des Bösen, und zwar ihr zweideutigstes. „Einerseits lassen diese Ausdrucksformen eine Verinnerlichung der Erfahrung des Bösen erkennen und folglich die Heraufkunft eines moralbewußten, verantwortlichen Subjekts, und anderseits bezeichnen sie die Anfänge einer spezifischen Pathologie, in der der Skrupel einen Punkt der Inversion darstellt" 1 1 9 . In diesen Bereich einer spezifischen Pathologie der Schuld müßten wir wohl auch den oben dargestellten Typus des „Verbrechers aus Schuldgefühl" einordnen. Die Ethik bezeichnet das Böse als ein „Werk der Freiheit", zweitens „als eine Umkehrung der Beziehung der Maxime zum Gesetz 1 2 0 , drittens als eine unergründliche Disposition der Freiheit, wodurch diese sich ihr selbst unverfügbar macht" 1 2 1 . Diese dritte genannte Einsicht führt zu der Stelle zurück, „wo die Freiheit sich als zu befreiende entdeckt. kurz, dorthin, wo sie hoffen kann, befreit zu werden" 1 2 2 . Damit sind wir bei der religiösen Dimension. Der eigentlich religiöse Diskurs über das Böse besteht im Diskurs der Hoffnung. Die Religion unterscheidet sich von der Moral darin, daß sie verlangt, „die Freiheit selbst im Zeichen der Hoffnung zu denken" 1 2 3 . Die Religion bringt eine neue Kategorie ins Spiel. P. Ricoeur spricht von einer „Logik der Überfülle, die eine Logik der Hoffnung ist" 1 2 4 . Die Religion stellt das Böse vor Gott und bringt es damit in die „Bewegung der Verheißung" zurück 125 . In der Anrufung Gottes liegt bereits der Anfang einer Wiederherstellung der verletzten Beziehung 126 . n e Ebd. H» A.a.O., S. 2 7 2 . 1 20 „Nicht nur zeigt sich, daß das Böse allein durch den Akt existiert, der es auf sich lädt, der es akzeptiert, der es in seine Verantwortung übernimmt. Was es darüber hinaus v o m sittlichen Standpunkt aus charakterisiert, ist die Ordnung, der gemäß ein Handelnder seine Maximen disponiert; es ist eine Wahlentscheidung, die nicht sein sollte. Wir nennen es die Verkehrung einer Beziehung". P. Ricoeur, a.a.O., S. 2 7 6 . 121 Zusammenfassung a.a.O., S. 2 8 0 . 122 A.a.O., S. 279. ι » Ebd. i 2 4 A.a.O., S. 2 8 0 . i « A.a.O., S. 2 8 0 f . i 2 « A.a.O., S. 2 8 1 .

94

P. Ricoeur erläutert dies unter Berufung auf Paulus: „In Abwandlung der Worte des Paulus wage ich zu erklären: Wo das Böse ,mächtig' geworden ist, zeigt sich die Hoffnung im ,Übermaß'. Man muß also den Mut haben, das Böse in das Epos der Hoffnung einzugliedern; das Böse selbst kooperiert auf eine Weise, die uns unbekannt ist, mit der Ankunft des Gottesreiches. Darin besteht die Sicht des Glaubens über das Böse. Das ist jedoch nicht die Sicht des Moralisten. Der Moralist stellt das Prädikat ,bös' dem Prädikat ,gut' gegenüber; er verurteilt das Böse; er rechnet es der Freiheit an; und schließlich bleibt er an der Grenze des Unerforschlichen stehen. Denn wir wissen nicht, wie es kommen konnte, daß sich die Freiheit in Unfreiheit begeben hat" 1 2 7 . Der Glaube aber blickt gerade in die andere Richtung. Nicht der Anfang des Bösen ist sein Problem, sondern das Ende; „und dieses Ende integriert er mit den Propheten in die Ökonomie der Verheißung, mit Jesus in die Verkündigung des kommenden Gottes, mit Paulus in die Perspektive des Gesetzes der Uberfülle". So betrachtet der Glaube „die Ereignisse und die Menschen von Grund auf mit einem wohlwollenden Blick" 1 2 8 .

2.4 Die Überwindung des „Bösen" bei E. Neumann und P. Ricoeur: Modelle der Identifikation Wo E. Neumann der „alten Ethik", die er als eine Ethik nach dem Gegensatzprinzip kennzeichnet, die „neue Ethik" als eine „Synthese der Gegensätze" 1 2 9 gegenüberstellt, da versucht P. Ricoeur, die Dualität der Symbole des „Bösen" herauszustellen, ihre progressive und ihre regressive Geschichte zusammenzubringen, die „Dialektik von Archäologie und Teleologie" in den Symbolen des „Bösen" zu berücksichtigen. Das „Böse" wird im Lichte des Kerygmas interpretiert, die Anklage, die auf einer bloßen Pflichtmoral beruht, wird im Rahmen einer Ethik des Wunsches zu sein oder des Strebens nach Existenz aufgelöst. Die Entmystifizierung der Anklage führt zur Entmystifizierung der Schuld. Nicht vom Anfang, sondern vom Ende her wird das „Böse" interpretiert und „aufgehoben" A.a.O., S. 282. A.a.O., S. 282f. 129 „Das Nebeneinander der Gegensätze, welches das Ganze der erfahrbaxen Welt erfüllt, ist nicht mehr durch den Sieg der einen und die Verdrängung der anderen Seite zu lösen, sondern nur durch eine Synthese der Gegensätze". E. Neumann: Tiefenpsychologie und neue Ethik, S. 99. 128

95

im Kerygma, so wie bei E. Neumann eine Integration des „Schattens" in den Lebensentwurf zur Entschärfung des „Bösen" führt. E. Neumann hat in seiner Gegenüberstellung von „alter Ethik" und „neuer Ethik" das Strafbedürfnis im Zusammenhang mit der Sündenbockpsychologie als einen Versuch durchsichtig gemacht, auf dem Weg der Projektion den eigenen Schatten unterzubringen in einem Weltbild, das eine strikte Trennung von gut und böse notwendig macht. Dem entspricht die Interpretation des Strafmythos bei P. Ricoeur, der in diesem die vier genannten Aporien aufweist. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Aporie des Strafrechts überhaupt, nämlich daß das, was das Rationalste an ihm ausmacht, gleichzeitig das Irrationalste ist. An diesem Punkt haben wir eine sehr deutliche Überschneidung von E. Neumann und P. Ricoeur. Wo E. Neumann die „Verneinung des Negativen" in der „alten Ethik" ablehnt, spricht P. Ricoeur von einer Kooperation des „Bösen" in der Heilsgeschichte 130 . Wo E. Neumann die Strafe überhaupt ablehnt (,Jede Justiz, die auf Strafe aufgebaut ist, . . . ist nur eine getarnte Form der Lynchjustiz" 1 3 1 ), stellt P. Ricoeur die Strafe, oder besser: den Strafmythos, in einen neuen Interpretationsrahmen oder eine „andere Logik" hinein. Er schlägt die oben dargelegte Orientierung an dem Gedanken eines Memoriale der Strafe vor. Eine Gegenüberstellung der beiden Bearbeitungsversuche des Phänomens des „Bösen" durch E. Neumann und P. Ricoeur läßt einige interessante Beobachtungen für unsere Fragestellung zu. Wir finden zunächst bei beiden Verfassern eine sehr deutliche und auffällige Ausweitung des Rahmens vor, in den das „Böse" hineingestellt wird und aus dem heraus es interpretiert wird. Bei beiden Verfassern finden wir sowohl den Aspekt einer psychologischen Ausdehnung der Bearbeitung des „Bösen" in alle psychischen Schichten, als auch den Aspekt einer zeitlichen Ausdehnung der Sicht des „Bösen" („Archäologie" und „Teleologie" der Symbole des Bösen; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des „Schattens" in der persönlichen Individuation). Beide Aspekte sind bei E. Neumann wie bei P. Ricoeur vorhanden, allerdings mit unterschiedlichen Akzensetzungen; bei P. Ricoeur steht die zeitliche Ausdehnung im Vordergrund, bei E. Neumann die der psychischen Schichten. Beide Verfasser weiten das Bearbeitungsfeld des „Bösen" auch aus vom Individuum zum Kollektiv, von einem Sieg 130 „Das Böse selbst kooperiert auf eine Weise, die uns unbekannt ist, mit der Ankunft des Gottesreiches. Darin besteht die Sicht des Glaubens über das Böse". P. Ricoeur, a.a.O., S. 282. 131 E. Neumann, a.a.O., S. 46.

96

der einen oder anderen Seite der ethischen Dualität von „ G u t " und „Böse" zur Synthese der Gegensätze. Wir können aus der Zusammenschau der beiden Entwürfe des Umgangs mit dem „Bösen" von E. Neumann und P. Ricoeur folglich den Schluß fassen: — J e mehr historische Perspektive die Interpretation des „Bösen" bekommt; — je tiefer die Sicht des „Bösen" ins Unbewußte des Individuums und ins kollektive Unbewußte geht; — je umfassender überhaupt der Rahmen gesehen wird, in dem eine Verarbeitung des Problems des „Bösen" erforderlich ist, — desto mehr scheint Identifikation mit den als „böse" abgestempelten Sündenböcken der Gesellschaft möglich zu sein. Beide Bearbeitungsversuche des „Bösen" beinhalten eine stark prospektive Sicht. Beide bringen in die Interpretation des „Bösen" mit dem Zukunftsaspekt den der Veränderungsmöglichkeit und die Ablehnung von Festlegungen (die einen wesentlichen Bestandteil der Sündenbockmechanismen ausmachen,) hinein. Eine Reduktion des bewußten und unbewußten Strafbedürfnisses auf ein ,Memoriale der Strafe" im Kontext christlicher Vergebung und Vergebungsbereitschaft ist ebenso prospektiv wie eine kollektive Integration des „Schattens", die Projektionsträger des „Bösen" überflüssig machen würde. Aber beide geben die einzig denkbare Richtung an, in der eine schrittweise Bearbeitung des Problems des „Bösen" möglich ist und auf die hin alle Modelle gesellschaftlichen und kirchlichen Umgangs mit Straffälligkeit hinauslaufen können. Nach den dargelegten Beobachtungen können wir vielleicht einige generelle Schlußfolgerungen über die Problematik des „Bösen" festhalten. Der Vorgang der Ausdehnung des Bearbeitungsfeldes des „Bösen" in den verschiedensten Dimensionen dürfte symptomatisch sein für das Problem des „Bösen" überhaupt. Eine endgültige Erklärung und Bearbeitung des Phänomens ist nicht in Sicht, es scheint uns in letzter Konsequenz unzugänglich zu sein. So wie wir das „Böse" gleichzeitig vorfinden und setzen (vgl. besonders die Bedeutungsstudie über die Erbsünde von P. Ricoeur; s.o.), so ist es auch einerseits in bestimmten Grenzen von den Humanwissenschaften her erklärbar, andererseits immer etwas, das sich unseren Verstehensversuchen entzieht. Es scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, daß hier der Schlüssel zu unserer Grundambivalenz dem Phänomen des „Bösen" gegenüber überhaupt liegt. Es sieht ja so aus, als würden wir nirgends im Bereich des Umgangs mit dem „Bösen" uneingeschränkte Identifikation oder unein7 Stubbe, Seelsorge

97

geschränkte Projektion vorfinden, sondern immer nur ein mehr oder weniger auffälliges Überwiegen des einen Verhaltensmusters gegenüber dem anderen. Möglicherweise löst das stets vorgefundene „Böse" immer wieder die Notwendigkeit von Projektionen in uns aus, während das von uns gesetzte „Böse" uns nie ganz unzugänglich wird, daher den Weg zur Identifikation auch nie endgültig blockieren kann. Die Spannung zwischen dem vom Einzelnen vorgefundenen und dem gesetzten „Bösen" findet ihr Gegenstück in dieser Spannung zwischen der Bearbeitungsmöglichkeit des „Bösen" (mit dem Ziel der Identifikation) und dem bleibenden Rätsel des „Bösen", das immer wieder den Zorn der Projektion neben aller Identifikation und Identifikationsbereitschaft hervorruft. Hier müssen wir auch die Frage aufwerfen, ob sich in der Denkbewegung über das „Böse" nicht der psychologische Konflikt der Ambivalenz gegenüber dem „Bösen" widerspiegelt. Offenbar wird Identifikation mit dem „Bösen" (Kriminellen etc.), wie schon erwähnt, desto eher denk- und lebbar, je mehr der Horizont, in dem wir das „Böse" denken, erweitert wird a) vom Individuum zum Kollektiv, b) vom Tataugenblick zur Umklammerung von „Archäologie" und „Teleologie", c) vom psychischen Bereich des Bewußten über das individuelle Unbewußte zum kollektiven Unbewußten, d) von einem Sieg der einen oder anderen Seite des Gegensatzpaares „Gut/Böse" zur Synthese der Gegensätze. Das heißt nun aber auch, je ferner uns das „Böse" rückt, je mehr Distanz wir gewinnen, desto lebbarer wird Identifikation. Wir können im gegebenen Zusammenhang nicht die Frage ausdiskutieren, ob hier möglicherweise ein Prozeß der Einstellung zum „Bösen" abläuft, der seinen einen Pol hat bei dem unmittelbar vom „Bösen" betroffenen Opfer, dem im ersten Augenblick nur Impulse der Rache kommen können; seinen anderen Pol bei dem Denker, der — in hinreichender Distanz — das „Böse" denken kann und weit genug entfernt ist, um auf Projektionen verzichten zu können. Auf diese Frage stoßen wir, wenn wir ein Fazit ziehen aus dem Überblick über die Entwürfe von E. Neumann und P. Ricoeur und diese mit der Schwerfälligkeit der gesellschaftlichen Wandlungen im Umgang mit dem „Bösen" konfrontieren. Dies bringt uns auf den Gedanken, daß Seelsorge mit dem Ziel der Identifikation u.a. wirksam sein kann, indem sie ein Stück Distanz in die Betroffenheit durch die Macht des „Bösen" hineinbringt. 98

2.5 Die Identifikation Es ist schon mehrfach angeklungen, daß die Alternative zur Sündenbockprojektion im Umgang mit Straftätern in der Identifikation liegt. Dieser psychische Verstehensvorgang bedarf an dieser Stelle einer näheren Erklärung. Der Umgang mit Kriminellen konfrontiert uns — bewußt oder unbewußt — mit der eigenen „latenten Kriminalität". Arbeit mit Kriminellen — sei sie nun seelsorgerlicher, therapeutischer oder sonstiger Art — erfordert also, daß wir bewußt einen Weg finden, mit dem eigenen „Schatten" umzugehen. Die Bewältigung dieser innerpsychischen Realität stellt in jedem Falle eine schwierige Aufgabe der Persönlichkeitsbildung dar, zumal in einer Gesellschaft, die mit ihrer Ethik eine radikale Unterdrückung oder Verdrängung aggressiv-destruktiver Tendenzen provoziert und fordert. Wir haben als die wohl am häufigsten vorkommenden Bewältigungsweisen „latenter Kriminalität" die vielfältigen Spielarten der Projektion kennengelernt. Die Projektion verlagert Tendenzen, die im eigenen Innern nicht wahrgenommen werden dürfen und können, nach außen — mit allen fatalen Konsequenzen für das Zusammenleben in der menschlichen Gemeinschaft (, die wir kennengelernt haben). Nun finden wir neben diesen Möglichkeiten aber auch andere Einstellungsweisen gegenüber Kriminellen, die sich äußern in Bemühungen um eine Humanisierung des Strafvollzugs, in therapeutischem oder seelsorgerlichem Engagement in der Arbeit mit Straffälligen, Resozialisierungsbemühungen verschiedenster Art — um nur einige Möglichkeiten anzudeuten. Um es kurz zu sagen, wir finden auch Umgangsweisen mit Kriminellen, deren Grundtendenzen mit dem Stichwort Identifikation am besten zu erfassen sind. Es bedarf an dieser Stelle zunächst einer generellen Erläuterung des Begriffs Identifikation oder Identifizierung, bevor wir auf deren spezielle Funktion im Umgang mit Problemen der Straffälligkeit eingehen. Im Werk S. Freuds hat die Identifizierung zunehmend die Bedeutung desjenigen psychischen Vorgangs angenommen, durch den sich das menschliche Subjekt konstituiert 1 3 2 . S. Freud hat die Identifizierung als die wichtigste und wohl ursprünglichste Äußerung einer gefühlsmäßigen Bindung an eine andere Person 1 3 3 herausgestellt. Durch Identi132

J. Laplanche u. J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse I, S. 220. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, VII. Kapitel. Die Identifizierung, GW XIII, S. 115; Ders.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfuhrung in die Psychoanalyse, GW XV, S. 69. 133

99

fizierung mit den Vorbildfiguren der Kindheit „stabilisiert sich die Art und Weise, mit der ein Triebbedürfnis sein unmittelbares oder ein vorläufiges Ziel erreicht" 1 3 1 . Sie stellt in einem weiteren Entwicklungsgang die Grundlage der Über-Ich-Bildung dar 1 3 5 . Eine frühere und primitive Vorstufe der Identifikation ist die Introjektion. E.Jacobson nennt Introjektion und Projektion „psychische Prozesse, deren Ergebnis es ist, daß Selbstimagines Züge von Objektimagines annehmen und vice versa. Die Mechanismen der Introjektion und Projektion haben ihren Ursprung in frühinfantilen Inkorporations- und Ausstoßungsphantasien und müssen von diesen unterschieden werden" 1 3 6 . Im fjräödipal-narzißtischen Stadium sind diese Mechanismen an der Bildung der Objektbeziehungen beteiligt. „Die begrenzte Fähigkeit des kleinen Kindes, zwischen der äußeren und der inneren Welt zu unterscheiden . . . , begünstigt das durchgängige Wirken introjektiver und projektiver Vorgänge" 1 3 7 . In dem reiferen, auf Mechanismen der Introjektion aufbauenden Vorgang der Identifizierung liegt mehr beabsichtigte Imitation vor, obgleich auch die Identifizierung weit über die bewußte Absicht hinausreicht 138 . Für unseren Zusammenhang ist nun wesentlich, daß die Möglichkeit der Identifizierung, also der vorübergehenden Aufhebung von Ich-Grenzen zum Zweck des Sich-Hineinversetzens in den anderen Menschen, eine grundlegende Bereicherung menschlicher Kommunikationsmöglichkeiten darstellt. Schon S. Freud hat auf den Zusammenhang zwischen Identifizierung und Einfühlung hingewiesen: „Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, das heißt zum Verständnis des Mechanismus, durch den uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben möglich wird" 1 3 9 . Im Grunde bilden — psychogenetisch — die Bedürfnisse des Säuglings nach Nahrung, nach libidinöser Befriedigung und körperlicher VerA. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 129. „ . . . daß die Einsetzung des Uber-Ichs als ein gelungener Fall von Identifizierung mit der Elteminstanz beschrieben werden kann". S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XV, S. 70. 1 3 6 E. Jacobson: Das Selbst und die Welt der Objekte, Frankfurt a. Main 1973, S. 57. 137 Ebd. 1 38 A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 138. 1 39 S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, VII. Kapitel. Die Identifizierung, S. 121, Anm. 2. Vgl. auch a.a.O., S. 118f.: „Eine andere Ahnung kann uns sagen, daß wir weit davon entfernt sind, das Problem der Identifizierung erschöpft zu haben, daß wir vor dem Vorgang stehen, den die Psychologie .Einfühlung' heißt, und der den größten Anteil an unserem Verständnis für das Ichfremde anderer Personen hat". 134 135

100

Schmelzung mit der Mutter nicht nur die Vorläufer künftiger Objektbeziehungen, sondern auch den „Ursprung des ersten, primitiven Typs von Identifizierung, einer Identifizierung, die durch Verschmelzung von Selbst- und Objektimagines zustande k o m m t " 1 4 0 . Das reife Individuum greift in seinen Bemühungen um „Einfühlung" auf dem Wege der vorübergehenden Aufhebung von Ich-Grenzen zurück auf diese frühen Mechanismen der Kommunikation. „Auf solchen — kurzlebigen oder dauerhafteren — Identifizierungen beruht unser feines, empathisches Verstehen anderer, besonders derer, die wir lieben. Allerdings schwächen solche vorübergehenden, im Dienst des Ichs herbeigeführten Verschmelzungen normalerweise keineswegs die Grenzen zwischen den Imagines von Selbst und Objekt, während im frühinfantilen Stadium solche feste Grenzen noch gar nicht errichtet sind" 1 4 1 . So stellt es auch ein Zeichen psychischer Reife dar, wenn in Situationen, die durch einen „affektiven Appell" (und das könnte z.B. die Konfrontation mit Kriminalität sein) gekennzeichnet sind, das Individuum die gleichzeitige Fähigkeit zur Einfühlung und zu reflexiver Distanz besitzt 1 4 2 . Wir können nun davon ausgehen, daß die im Unbewußten anzusiedelnde Gleichheit von Kriminellen und Nichtkriminellen durchaus ihre positiven Seiten für den Umgang mit straffälligen Menschen birgt. Nur über die eigenen, latenten kriminellen Tendenzen und Wünsche ist uns die Möglichkeit der Einfühlung in kriminelles Verhalten gegeben. Wir wissen heute, daß sich im therapeutischen Umgang mit Kriminellen vorhandene „Barrieren der Identifikation mit dem Delinquenten" sehr hinderlich auswirken. Umgekehrt ist eine „hohe Identifikationsmöglichkeit mit kriminellem Handeln" geradezu eine der wesentlichen Voraussetzungen für therapeutische Fähigkeiten im Umgang mit dem Delinquenten 1 4 3 . Und für den Seelsorger scheint das nicht weniger zu gelten. Identifikation mit straffälligen Individuen wird ermöglicht auf der Grundlage einer realistischen, angstfreien Selbsteinschätzung, die Sündenbockprojektionen überflüssig macht. Allerdings fußt nicht jede Art von Identifikation mit Straftätern auch automatisch auf einer realistischen Selbsteinschätzung. Zu Recht ist auf die Gefahr eines bloßen Wechsels der Projektionsträger hingewiesen worden. Wenn „die Gesellschaft" zum Gegenstand moralisierender Affekte wird, so hat das nichts zu tun mit einer sachgemäßen Integration des eigenen „Bösen", nur weil dies nicht 140

E. Jacobson, a.a.O., S. 50. > A.a.O., S. 51. 142 A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, S. 244. 143 T. Moser: Sozialtherapie in soziologischer Sicht. In: Psyche 27/1973, S. 178. 14

101

mehr — wie normalerweise üblich — auf den Straftäter projiziert wird, sondern auf die Gesellschaft 144 . Bei dem Mechanismus der Projektion hatte sich gezeigt, daß aggressive und destruktive Erlebnis- und Verhaltensweisen weder in der eigenen Person noch im Gegenüber akzeptiert werden können. Der eigene „Schatten" wird deshalb unterdrückt oder verdrängt, der des Gegenübers dagegen bekommt ein unrealistisches Gewicht, da zusätzlich zu dessen „Schatten" auch der eigene auf den anderen projiziert wird. So wie das eigene „Böse" nicht gesehen wird, tritt nun umgekehrt das „Gute" im anderen völlig in den Hintergrund. Wo dagegen eine angstfreie Sicht des eigenen „Schattens" möglich ist, wo dieser angenommen und in die Persönlichkeit integriert ist, da muß auch das „Böse" im Gegenüber nicht der Unterbringung von Projektionen dienen. Vielmehr ist da eine Einfühlung in Erlebnis- und Reaktionsweisen des Gegenübers möglich, die Herstellung einer Beziehung zwischen eigenen Erlebnisformen und denen des anderen. Wenn der andere nicht als Projektionsträger benötigt wird, dann kann ihm auch eine Veränderungsmöglichkeit zugedacht werden, dann kann der Umgang mit dem Straftäter eine Zukunftsvision der Versöhnung mit sich und der Umwelt beinhalten. Identifikation geschieht also auf der Basis a) einer zureichenden Realitätskontrolle (und zwar der inneren Realität der eigenen Person wie des Gegenübers); b) einer zureichenden Triebkontrolle (die die Abfuhr aggressiver und libidinöser Spannung an Schwächeren überflüssig macht); c) einer zureichenden Ich-Integration (die nicht der Projektion des eigenen „Bösen" auf andere bedarf.) Identifikation mit Straftätern bedeutet demnach, auf der Grundlage einer kritisch-bewußten Erkenntnis der eigenen, bejahten wie nichtbejahten Persönlichkeitsanteile in ihrem unumgänglichen Miteinandersein sowie auf der Basis ihrer Akzeptierung diese beiden Pole des „Guten" wie des „Bösen" auch im anderen wahrzunehmen und akzeptieren zu können und — in dem Bewußtsein, daß die latente Ähnlichkeit mit dem Gegenüber allzumal schwerwiegender ist als seine Fremdheit — einen Weg phantasievoller, kreativer Umsetzung der latenten Ähnlichkeit in Einfühlung, gerechte Verteilung der kollektiven Bela144

Zur Verschiebung der Projektionsfront: H. Jäger: Psychologie des Strafrechts und der strafenden Gesellschaft. In: P. Reiwald: Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, S. 2 0 - 4 2 ; S. 38.

102

stung durch das „Böse" des einen wie des anderen und damit auch Vergebungsbereitschaft und Versöhnung zu finden. Eine solche Grundhaltung sieht D. Solle offenbar als die Lebenseinstellung Jesu an, wenn sie schreibt: Jesu „Art zu leben setzt ein Ich voraus, das nicht mehr in den Spannungen zwischen Über-Ich und Es kleingedrückt wird, sondern das diese Spannungen als die eigenen begreift, annimmt und integriert". . . . „Nur das Ich, das den Dialog mit sich selbst ohne Verdrängung führt, kann zu solcher Furchtlosigkeit kommen. So spricht der Mensch, der aus dem Reichtum des Selbst lebt, der mit sich selbst im Einklang ist in dem Sinne, daß sich seine Kräfte nicht im fruchtlosen Kampf verzehren, sondern frei verfügbar werden für den anderen Entwurf der Welt, den Jesus das Reich Gottes nannte" 1 4 5 . Bei der aus der Identifikation mit Diskriminierten, wie z.B. Kriminellen resultierenden Hilfe hat man zwei Motivationskomplexe unterschieden. Der erste ist der solidarische; hier handelt es sich — theologisch gesprochen — um die „Identifizierung mit einem Christus, der sich herabläßt, mit Zöllnern und Sündern Tischgemeinschaft einzugehen". Der zweite Motivationskomplex ist der therapeutische, der über den solidarischen noch hinausführt. Hier muß gelernt werden, sich und die eigene Situation in den Ausgeschlossenen wiederzuerkennen 1 4 6 .

2.6 Die Praxis der Identifikation im Kerygma 2.6.1

Gefangenschaft

im Neuen

Testament

Das Neue Testament bietet zwei Ansatzpunkte für das, was wir als Identifikation mit den straffälligen Gefangenen bezeichnet haben: die Gefangenschaft christlicher Brüder aus Glaubensgründen und die Lehre von der Annahme des Sünders durch Gott. Das Neue Testament legt Zeugnis davon ab, daß Gefangenschaft bereits für die ersten Christen ein immer wieder auftretendes Problem war, das es zu bewältigen galt. Zunächst handelte es sich dabei um „Gefangenschaft um Christi willen" — also aus Glaubensgründen. Paulus bezeichnet sich selbst immer wieder in Briefen, die er aus der Haft schreibt, als ein „Ge145

D. Solle: Umgang mit sich selbst. In: Das Recht ein anderer zu werden, Neuwied/Berlin 1971, S. 39. 146 Y. Spiegel: Jesus und die Minoritäten, S. 28.

103

fangener um Christi willen" oder ähnlich (Phlm. 1,9; 2.Kor. 11,23; in der nachpaulinischen Tradition Eph. 3,1; 4,1; 2.Tim. 1,8). Im Philipperbrief nennt er seine Gefangenschaft eine Lage „zur Förderung des Evangeliums", „so daß meine Fesseln (als) in Christus (begründete) offenbar geworden sind im ganzen Prätorium und bei den übrigen allen . . . " (Phil. l,12f.). Im 2.Kor. bezeichnet er die Gefangenschaft als einen ausdrücklichen Erweis der Verkündigung des Evangeliums durch ihn als Diener Gottes (2.Kor 6,4ff.). Die Apostelgeschichte berichtet von mehreren Fällen von Gefangenschaft um Christi willen: Petrus und Johannes im Gefängnis (Apg. 4 u. 5), Petrus im Gefängnis (Apg. 12), Paulus und Silas im Gefängnis (Apg. 16), Paulus als Gefangener (Apg. 22—28). Zum Teil sind diese Berichte legendarisch ausgeschmückt. So berichtet Apg. 5 von der wunderbaren Befreiung des Petrus und des Johannes aus dem Gefängnis durch einen Engel, Apg. 16 von der Bekehrung des Kerkermeisters durch die wunderbaren Vorgänge während der Haft des Paulus und des Silas (wunderbare Lösung der Fesseln und Öffnung der Türen). Apg. 22—28 berichtet von den weiteren Stationen des Paulus in seinem Dasein als Gefangener bis hin nach Rom (Apg. 28,16ff.). Schon damals begannen offenbar die seelsorgerlichen und fürsorgerischen Bemühungen der Gemeinden um ihre Gefangenen. Sie bestanden in unablässigem Gebet für diese (Apg. 12,5), also einer intensiven Form innerer Verbundenheit miteinander, und in „Liebesdiensten" (Apg. 24,23). Auch andere neutestamentliche Texte bezeugen bereits die Gefangenschaft gläubiger Christen (Luk. 21,12; Hebr. 10,34; Hebr. 11,36). Der Hebräerbrief bringt eine ausdrückliche Ermahnung, der Gefeingenen zu gedenken: „Gedenket der Gefangenen als Mitgefangene, derer, die Ungemach leiden, als solche, die auch selbst im Leibe sind" (Hebr. 13,3). Die gesellschaftliche Situation der ersten Christen als Außenseiter und zeitweise Verfolgte war wie sonst nichts dazu angetan, Identifikation auch mit den kriminellen Außenseitern zu provozieren. Weiter unten wird an Hand der Kirchengeschichte gezeigt werden, wie die wesentlichen Anfänge der Gefangenenseelsorge in der Sorge um die gefangenen Glaubensbrüder liegen. Die intensive Auseinandersetzung mit der Möglichkeit eigener Gefangenschaft und der Gefangenschaft der Brüder führte dazu, daß die ersten Christen sehr schnell einen aufmerksamen Blick bekamen für das Leid straffälliger Zeitgenossen, und daß ihnen Einfühlung in deren Situation von daher besonders gut möglich war.

104

2.6.2

Nächstenliebe

und

Feindesliebe

Eine besondere Rolle beim Erwerb eines speziellen Umgangsstils mit Gefangenen spielte von Anfang an der hohe Stellenwert von Nächstenliebe und Feindesliebe im Neuen Testament. Das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe „Du sollst dich nicht rächen, auch nicht deinen Volksgenossen etwas nachtragen, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Lev. 19,18),

ist vom Neuen Testament übernommen und radikalisiert worden. Paulus nennt die Nächstenliebe die „Erfüllung des Gesetzes": „Seid niemandem etwas schuldig, außer daß ihr einander liebet; denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn das Gebot: ,Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren', und wenn es irgendein andres Gebot gibt, ist in diesem Wort zusammengefaßt, in dem: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!' Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu; so ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung" (Rom. 13,8—10).

Die Behauptung der Tiefenpsychologie, die Annahme des eigenen „Schattens" sei die wesentliche Voraussetzung für die Annahme des Sünders, kriminellen Außenseiters oder des „Bösen" der Gesellschaft, finden wir vorgebildet in der Verbindung von Nächstenliebe und Selbstliebe — schon im alttestamentlichen Gebot. Wir sind uns darüber im klaren, daß eine so tiefgehende Interpretation über die bewußte Intention des ursprünglichen Textes hinausgeht. Aber wir finden hier doch einen sehr wichtigen Zusammenhang wieder, der uns überhaupt erst durch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie deutlich werden konnte: Nicht die Unterdrückung des eigenen „Schattens" zum Zwecke einer pharisäischen Gebotserfüllung, sondern seine Annahme ermöglicht die Erfüllung des Gesetzes in Form der Nächstenliebe. So wie in der heutigen psychoanalytischen Sicht das Bewußtsein von der eigenen „latenten Kriminalität" oder dem eigenen „Schatten" Identifikation gleichzeitig fordert und ermöglicht, so wird im Neuen Testament die Ermöglichung und die Forderung der Nächstenliebe (,die bis zur Forderung der Feindesliebe zugespitzt wird; Matth. 5,44.48) und der Vergebung in Zusammenhang gebracht mit der Notwendigkeit der Selbstannahme wie auch mit der eigenen Vergebungsbedürftigkeit. — Auf diesem Hintergrund kann dann bei Matthäus eine Integration der „Bösen" sogar explizit gefordert werden im Zusammenhang mit dem Gebot der Feindesliebe: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Nächsten lieben' und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vates in den Himmeln seid! Denn er läßt seine Sonne

105

aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr (nur) die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Ihr nun sollt vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Matth. 5,43—48).

Die Aussagen, in denen es um „Feindesliebe" geht (Matth. 5,44b.45 bzw. Luk. 6,27f.35) zählen wir zu den wesentlichen neutestamentlichen Orientierungshilfen und Grundlagen des Umgangs mit Straftätern. Matthäus stellt dem Gebot der Feindesliebe (Matth. 5,44f.) eine Deutung des Gebots der Nächstenliebe, die den Feind ausschließt 1 4 7 3 , gegenüber. Das Wort Jesu setzt in der Sache das schon alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe Lev. 19,18 voraus, das Matthäus im Rahmen zitiert. .Jesus ersetzt den Begriff des Nächsten durch den des Feindes und versteht darunter . . . nicht nur den persönlichen Gegner, sondern generell auch den nationalen und religiösen Feind . . . Dadurch wird der Begriff des Nächsten . . . ins ,Unendliche' ausgeweitet" 1 4 7 b . Die Forderung einer „neuen" Liebe wird begründet mit dem Hinweis auf das Verhalten Gottes (Matth. 5,45b). Die weisheitlicher Tradition entstammende Feststellung, daß Gottes Regen und Gottes Sonne dem Guten wie dem Bösen dienen, wird zum „Gegenmodell" menschlichen Verhaltens. „Der Rekurs auf die Schöpfungsordnung durchstößt die vom Menschen errichtete Welt der Unterschiede, Ungleichheiten und Gegensätze und zeigt jenen Bereich auf, wo sich alle in gleicher Weise als an Gott ausgeliefert und auf seine Fürsorge angewiesen erfahren. Solche Gleichheit stellt die vom Menschen errichteten und aufrechterhaltenen Positionen in Frage" 1 4 8 . „Der Vergleich mit Gott dient dazu, dem Anspruch einer ständigen Transzendierung des menschlichen Verhaltens Nachdruck zu geben" 1 4 8 ". Wenn die Vollkommenheit des himmlischen Vaters, über Gute und Böse die Sonne scheinen zu lassen, als Vorbild dienen soll, so ist damit konkret eine Integration der „Bösen" in die Gemeinschaft intendiert 1 4 9 . 147a p. Hoffmann und V. Eid: Jesus von Nazareth und eine christliche Moral, Freiburg im Breisgau 1975, S. 1 5 l f . M7b A.a.O., S. 153. ι « A.a.O., S. 154f. 1483 A.a.O., S. 155. 149 K. Niederwimmer hat die neutestamentliche Radikalisierung des Liebesgebotes sehr deutlich herausgestellt: „Was Jesus von der jüdischen Tradition unterscheidet, ist nicht die Proklamation des Liebesgebotes, sondern die eschatologische Dringlichkeit, das Bestehen auf der unbedingten und schrankenlosen Liebe. Nicht das Doppelgebot der Liebe ist für Jesus spezifisch, sondern das Gebot der Feindesliebe (Matth. 5,43—47 par.) wie für ihn analog auch nicht das Gebot der Versöhnungsbe-

106

Wir k ö n n e n es a u c h anders f o r m u l i e r e n : D i e F e i n d e s l i e b e wird m o t i viert m i t e i n e m H i n w e i s a u f d i e S c h ö p f u n g s o r d n u n g G o t t e s . In dieser sind alle U n t e r s c h i e d e relativiert, d i e e i n e A u s s t o ß u n g s o g e n a n n t e r „ B ö ser" l e g i t i m i e r e n k ö n n t e n .

2.6.3

Die ,,geringsten

Brüder"

Jesu

Der s o z u s a g e n „ k l a s s i s c h e " T e x t der G e f a n g e n e n s e e l s o r g e , der als d e r e n B e g r ü n d u n g — a u c h w e n n es u m S t r a f g e f a n g e n e aus a n d e r e n als Glaub e n s g r ü n d e n ging — i m m e r w i e d e r g e d i e n t hat u n d h e u t e n o c h d i e n t , ist M a t t h . 2 5 , w o es in d e n R e d e n über d i e E n d z e i t u m d i e S c h e i d u n g der G u t e n u n d B ö s e n i m E n d g e r i c h t g e h t . D e r M e n s c h e n s o h n w i r d b e i seiner W i e d e r k u n f t z u d e n e n z u seiner R e c h t e n sagen: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch von Grundlegung der Welt an bereitet ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mich getränkt; ich war fremd und ihr habt mich beherbergt; (ich war) nackt, und ihr habt mich bekleidet; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen" (Matth. 25,34—36). W e n n die G e r e c h t e n d a n n a n t w o r t e n w e r d e n : „Herr, wann sahen wir dich hungrig und haben dich gespeist? oder durstig und haben dich getränkt? Wann sahen wir dich als Fremden und haben dich beherbergt? oder nackt oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen?" (Matth. 25,37—39), d a n n w e r d e n sie die A n t w o r t e r h a l t e n : „Wiefern ihr es einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr es mir getan" (Matth. 25,40). Zu d e n U n g e r e c h t e n w i r d der R i c h t e r s a g e n : „Gehet hinweg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das mein Vater dem Teufel und seinen Engeln bereitet hat! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mich nicht getränkt; ich war fremd, und ihr habt mich nicht beherbergt; (ich war) nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; (ich war) krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht" (Matth. 25,41-43)1«".

reitschaft charakteristisch ist, sondern der Aufruf zur schrankenlosen und unbegrenzten Versöhnung (Matth. 18,21 par.)". Κ. Niederwimmer: Jesus, Göttingen 1968, S. 57. lso Vgl. z u diesem Text E. Schweizer: Das Evangelium nach Matthäus, Das Neue Testament Deutsch Bd. II, Göttingen 1973, S. 310ff.; H. L. Strack u. P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, IV. Bd. Exkurse zu einzelnen Stellen des Neuen Testaments in zwei Teilen, I. Teil, München 1928, S. 559ff.; über die Auslösung von Gefangenen in der jüdischen Tradition: H. L. Strack u. P. Billerbeck: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Aufl., München 1956, S. 903f. 107

Der Besuch der Gefangenen wird also von Matthäus zu einem der wesent liehen Kriterien für die Scheidung der „Gerechten" und der „Ungerecht e n " ernannt. Mit U. Luz und U. Wilckens gehen wir davon aus, daß es sich bei der überlieferungsgeschichtlich ursprünglichen Gestalt dieser Perikope um echtes Jesusgut handelt 1 5 1 . Jesus überbietet die jüdischen Parallelen dadurch, „daß er Gott mit dem geringsten Bruder direkt identisch sein l ä ß t " l s 2 . 2.6.4

Vergebung und

Vergebungsbedürftigkeit

Jesu Einstellung zum Umgang mit Schuld und Vergebung wird in dem Gleichnis vom Schalksknecht (Matth. 18,21 par.) besonders deutlich 1 5 3 . In diesem Gleichnis wird die Forderung nach unbegrenzter Versöhnungsoder Vergebungsbereitschaft mit der eigenen Vergebungsbedürftigkeit verknüpft. Das Gleichnis kennzeichnet die Kraft zur Vergebung als das Geheimnis der Liebe, die gelebte Jüngerschaft ausmacht. Sie gibt die erfahrene Vergebung Gottes weiter. Der Anbruch der Gottesherrschaft wird mit der Abrechnung verglichen. Hinter dem König in dem Gleichnis wird Gott, hinter dem Schuldner der Mensch, der die Botschaft der Vergebung gehört hat, sichtbar. In dem Gleichnis stellt sich der Schalksknecht auf den Rechtsstandpunkt und verhilft sich nach damals geltenden Gesetzen zu seinem Eigentum. Der Grund dafür, daß das als so verwerflich gilt, liegt in dem Nacheinander von empfangener Barmherzigkeit und geübter Unbarmherzigkeit. Das Verhalten des Schalksknechts, abgesehen von der vorausgegangenen Güte des Herrn, würde kaum Protest hervorrufen. Das Gleichnis geht davon aus, daß die Erfahrung von Vergebung eine qualitative Veränderung in unsere Beziehung zur Schuld des anderen Menschen bringt. Vergebungsbedürftigkeit und Vergebungsbereitschaft stehen in einem engen Zusammenhang. Die eigene Erfahrung von Vergebung ermöglicht überhaupt erst ein gleiches Verhalten gegenüber dem Nächsten, umgekehrt verpflichtet sie nun auch eindeutig dazu. Wer selber in der eige151 U. Luz: Einige Erwägungen zur Auslegung Gottes in der ethischen Verkündigung Jesu. In: Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Vorarbeiten Heft 2, Neukirchen 1970, S. 119ff.; U. Wückens: Gottes geringste Brüder — zu Mt 25,31—46. In: Jesus und Paulus, Festschrift für Werner Georg Kümmel zum 70. Geburtstag, herausgegeben von E. Earle Ellis und Erich Gräßer, Göttingen 1975, S. 363ff. 152 u . Luz, a.a.O., S. 127. 153 Vgl. dazu: J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu. 9. Aufl., Göttingen 1977, S. 207ff.; E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. 6. Aufl., Göttingen 1975, S. 11 Iff.

108

nen Angewiesenheit auf Vergebung diese erfahren hat, dem ist damit gleichzeitig die Legitimation zur Schuldbehaftung des anderen genommen. 2.6.5

Das Soma-Bild, als Symbol für die Integration Nichtintegrierten

der

Integration spielt eine zentrale Rolle in dem Vergleich der Gemeinde mit einem Leib bei Paulus (l.Kor. 1 2 , 1 2 - 2 7 ) l s 4 . Paulus benutzt das Bild vom Leib für die Gemeinde ursprünglich, um sich gegen die Distanzierung Einzelner vom „Leibe" zu wenden, also gegen enthusiastischen Individualismus. Wir sind uns der Tatsache der historischen Distanz zu diesem Text und seinem Hintergrund bewußt. Trotzdem ist es aufschlußreich, das Bild vom Leib auf die ganze Gesellschaft zu beziehen (was Paulus natürlich noch nicht getan hat). Dann werden aus diesem Text für unseren Zusammenhang folgende Gesichtspunkte wichtig: — Was alle Glieder zu einem Leib vereinigt, ist der Geist, auf den sie alle in der Taufe getauft worden sind (l.Kor. 12,13). Die Verbundenheit liegt nicht in irgendwelchen hervorgehobenen Gemeinsamkeiten, sondern ist eine von Gott gegebene, transzendente. — Keiner kann sich von dem „Leib" lösen, auch wenn er behauptet, nicht dazu zu gehören (V. 15ff.). Ebenso kann kein Glied zum anderen sagen: ich brauche dich nicht. D.h. Absonderung und Ausstoßung sind beides keine dem Wesen des Ganzen angemessenen Möglichkeiten. — Die schwächeren Glieder sind notwendig, die Minderwertigen und Unanständigen erfordern eine besondere Behandlung. D.h. die Verschiedenheit der Glieder zieht nach sich, daß sie unterschiedlicher Behandlung bedürfen, manche offenbar besonderer Pflege (V. 22f.). — Im Leiden wie in der Freude sind alle Glieder miteinander verbunden (V. 26). In dem so dargestellten Soma-Bild bei Paulus finden wir Zusammenhänge wieder, die wir oben über das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren (kriminellen) Außenseitern aus psychoanalytischer Sicht dargelegt haben. Wir haben gesehen, daß die Sozialen der Asozialen bedürfen und umgekehrt. Die Gemeinschaft „funktioniert" gerade auf der Grundlage der Verschiedenartigkeit der Glieder, auch wenn die „Übereinkunft" zwi154 Vgl. H. Conzelmann: Der erste Brief an die Korinther. Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, begründet von H. A. W. Meyer, 5. Abt. 11. Aufl. (1. Aufl. dieser Neuauslegung), Göttingen 1969, S. 247ff. 109

sehen Sozialen und Asozialen auf einer sehr tiefen, unbewußten Ebene liegt (Projektionsbedürfnis, Selbstidealisierung, Trennung von Gut und Böse). Weder die Absonderung noch die Ausstoßung Einzelner aus der Gemeinschaft ist eine in letzter Konsequenz realistische Möglichkeit. Wir haben vielmehr gesehen, daß die Gemeinschaft o f t gerade der ausgestoßenen Außenseiter bedarf; als Projektionsträger des „Bösen" übernehmen sie gerade eine eminent wichtige psychische Funktion. In vollkommener Entsprechung hierzu b e t o n t Paulus die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung der „minderwertigen und unanständigen Glieder". Der Aspekt der Verschiedenheit der einzelnen Glieder zieht den der individuellen Behandlung automatisch nach sich. Komprimierter läßt sich die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Berücksichtigung der unterschiedlichen Konstitution und Bedürfnisse der Individuen angesichts der Problematik von Straffälligkeit und Außenseitertum überhaupt nicht in einem Bild zusammenfassen. Das gilt auch für den folgenden Gedanken der Verbundenheit aller Glieder in Freude und in Leiden. Im Hinblick auf die hier anstehenden Probleme der Kriminalität können wir in der Tat sagen: der Einzelne bringt in seinem Leiden („Bösen", dem S y m p t o m der Kriminalität) das Leiden („Böse") der Gesellschaft zum Ausdruck und umgekehrt. Es gilt aber auch der umgekehrte Aspekt: eine Therapie des Einzelnen würde einen Beitrag auch zur Heilung der Gesellschaft als ganzer darstellen und umgekehrt würde eine „Therapie" der Gesellschaft eine Therapie des Einzelnen beinhalten. Dies könnte im paulinischen Bild der Gesichtspunkt der Verbundenheit in der Freude darstellen.

2.6.6

Drei neutestamentliche

Resozialisierungsberichte

Es sollen n u n drei neutestamentliche Berichte herausgegriffen werden, die das darstellen, was wir heute als „Resozialisierung" oder „Resozialisierungshilfe" bezeichnen würden. a) Zunächst ist in diesem Zusammenhang der Philemonbrief zu nennen 1 5 5 . Er ist der einzige Privatbrief von Paulus, den wir besitzen 1 5 6 , 155

Zum Philemonbrief vgl. vor allem: P. Stuhlmacher: Der Brief an Philemon. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament (EKK), Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn 1975; G. Friedrich: Der Brief an Philemon, in: Das Neue Testament Deutsch (NTD) Bd. 8, Göttingen 1976, S. 277ff.; P. Vielhauer: Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, S. 170ff. is« P. Vielhauer, a.a.O., S. 171.

110

ein Brief, der vermittelt zwischen dem geschädigten Philemon und dem Gefangenen und Sklaven Onesimus. Paulus schreibt diesen Brief selbst als Gefangener 1 5 7 , also in einer Situation, die auch in besonderer Weise dazu angetan war, ihn zur Identifikation mit dem Gefangenen Onesimus zu veranlassen. Hier haben wir offenbar auch den ältesten überlieferten Fall christlicher Fürsprache vorliegen, wie sie später in der bischöflichen Intervention für Gefangene üblich wurde. Die Situation war folgende: Dem Philemon, einem offenbar wohlhabenden Christen, war sein Sklave Onesimus entlaufen (V. 15) — und zwar vermutlich nach einem Diebstahl, wie sich aus V. 18 schließen läßt. Der flüchtende Onesimus ist aus unbekannten Gründen dem gefangenen Paulus begegnet, möglicherweise, weil er in dasselbe Gefängnis gebracht worden war. Paulus hat ihn jedenfalls bekehrt (V. 10), und es ist eine enge persönliche Beziehung zwischen beiden entstanden (V. 12f.; V. 16f.). Auf diesem persönlichen Hintergrund bittet Paulus für den sonst schwerer Bestrafung entgegensehenden Flüchtling 158 . Folgende Schritte in seiner Vorgehensweise sind dabei für unseren Zusammenhang der Gefangenenseelsorge interessant: 1. Paulus akzeptiert zunächst einmal die juristische Situation, achtet also den Rechtsanspruch, den Philemon auf den Sklaven hat, und schickt diesen zu seinem Herrn zurück. Paulus hat keine revolutionäre Lösung für die sozialen Unterschiede und die Sklavenfrage parat, aber er verweist beide — Philemon und Onesimus — an eine Möglichkeit, wo diese nicht mehr von Bedeutung sein sollen: den christlichen Glauben, der sie als „Brüder" (nicht Herr und Sklave) miteinander verbindet 1 5 9 . 2. Im weiteren Verlauf gibt Paulus dem Delikt, und damit der Störung zwischen Philemon und Onesimus einen Sinn: „Denn vielleicht ist er deshalb auf eine Stunde von dir getrennt gewesen, damit du ihn ewig wiederhättest, nicht mehr als einen Sklaven, sondern als einen, der mehr ist als ein Sklave: ein geliebter Bruder" (V. 15f.).

Hier könnte man auch von einer Integration des „Bösen" in die Heilsgeschichte reden.

157 Möglicherweise aus Rom, Cäsarea oder Ephesus. Vgl. G. Friedrich, S. 278, P. Stuhlmacher S. 21; P. Vielhauer, S. 173. 158 p. Vielhauer, S. 172. 159 Ebd.: „Das kann bei aller rücksichtsvollen Beschreibung nichts anderes heißen, als daß Philemon dem Onesimus die Freiheit schenken soll".

111

3. Darüber hinaus übernimmt Paulus den Schaden auf seine Rechnung: „Wenn er dir aber einen Schaden zugefügt hat oder etwas schuldig ist, das setze mir auf die Rechnung!" (V. 18).

Paulus vergibt sozusagen stellvertretend für den Geschädigten, trägt an dessen Stelle die Folgen des Vergehens und regt damit zur Nachahmung an. 4. Paulus kommt Philemon entgegen, indem er ihm das Vertrauen schenkt, daß er Onesimus als „Bruder" aufnehmen und ihm verzeihen werde: „Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir, weil ich weiß, daß du sogar noch mehr tun wirst, als ich sage" (V. 21).

Indem Paulus im Falle des entflohenen Sklaven die Rechtslage zwar nicht für gut heißt, aber für sich einen Weg ihrer Bewältigung findet, indem er stellvertretend für den Geschädigten Vergebung schenkt und die Folgen des Delikts trägt, das Vergehen in einen Sinnzusammenhang stellt und durch Vertrauen dem Geschädigten die bestmögliche psychologische Grundlage für eine Nachahmung seines Verhaltens bereitet, verwirklicht er beispielhaft das, was wir heute unter einer seelsorgerlich orientierten Resozialisierungshilfe verstehen könnten. Die vier Schritte, die wir an seinem Vorgehen herausgestrichen haben, sind auch heute Kriterien effektiver Seelsorge an Straffälligen. Jeder Schritt orientiert sich an dem Ziel der Versöhnung zwischen dem Täter und dem Geschädigten. Dies geschieht, indem beiden Vertrauen ermöglicht wird bzw. indem Paulus sich mit beiden Seiten identifiziert und darin beiden als Vorbild für ihr Verhalten dem andern gegenüber dient. b) Ein Beispiel für Jesu Umgang mit dem gesellschaftlichen Strafverlangen im Falle erwiesener, strafrechtlicher Schuld liegt uns vor in dem Text über Jesus und die Ehebrecherin (Joh. 8 , 1 — I I ) 1 6 0 . Auf Ehebruch stand damals — seit der Gesetzesüberlieferung durch Mose — die Todesstrafe durch Steinigung. Es handelte sich also bei Ehebruch um einen schweren Straftatbestand der damaligen Gesellschaftsordnung. Jesus reagiert in diesem Text auf das Strafverlangen der Herumstehenden so, als interessiere es ihn gar nicht. Er malt im Sand herum. Erst als er beharrlich weitergefragt wird, was zu tun sei, steht er auf und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf 1 6 0 Diese Perikope gehört nicht zum ursprünglichen Bestand des Joh.ev., gilt aber als authentische Jesus-Überlieferung, die auf judenchristliche Gemeinden zurückgeht. Zum Text: R. Schnackenburg: Das Johannesevangelium II. Teil, Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. IV, Freiburg, Basel, Wien 1 9 7 1 , S. 224ff.

112

sie". Daraufhin zieht sich einer nach dem anderen zurück, bis Jesus mit der Frau allein ist und sie mit den Worten entläßt: „Auch ich verurteile dich nicht, geh, sündige von jetzt an nicht mehr". Jesus leugnet nicht das Vergehen, das die Herumstehenden so strafwütig macht, aber er stellt es in die richtigen Relationen, indem er die anderen auf ihre eigenen Sünden verweist. Er macht sie aufmerksam auf den Tatbestand, der Identifikation veranlaßt, aber Projektion eigener Schuld auf die Frau nicht zuläßt. Durch diesen Hinweis bewirkt Jesus einen indirekten Freispruch. Nun erst wendet er sich direkt der Frau zu. Er verknüpft den Appell, in Zukunft anders zu leben, mit einem Freispruch, nicht mit einer Schuldbehaftung. In diesen beiden Vorgängen (Zerstreuung der Herumstehenden mit ihrer Strafwut und Freispruch) hat er der Frau einen äußeren wie inneren Freiraum geschaffen. c) Ein anderes Beispiel für „Resozialisierung" im Neuen Testament ist Zachäus (Luk. 19,1 —10) 161 . Als Oberzöllner gehörte Zachäus einer Berufsgruppe an, die für Betrug und Unterschlagungen bekannt war und deshalb als sündig und korrupt galt. Außerdem war Zachäus klein von Gestalt, so daß er in der Volksmenge keine Möglichkeit hatte, über die Köpfe hinweg zu sehen. Um seine Neugierde beim Durchzug durch Jericho zu befriedigen, muß er auf einen Baum klettern. Er ist also innerlich und äußerlich ein Außenseiter, d.h. er paßt nicht in die Gesellschaft, so daß er diese meiden muß und diese ihn meidet: der übliche Teufelskreis Asozialer bis heute. — Jesu Reaktion fällt nun aus dem üblichen Verhalten der Menge heraus. Er hat einen Blick für den, der abseits auf dem Baum sitzt, spricht Zachäus an und lädt sich bei ihm ein. Das heißt unter anderem ja auch, daß er Zachäus zutraut, einmal der Gebende sein zu können. Er sprengt damit die übliche Erwartungshaltung, mit der Leute wie Zachäus sonst nur konfrontiert werden. Genau genommen heißt das, er tut den ersten Schritt auf den zu, der außerhalb der Gesellschaft steht, und damit schafft er den Freiraum, der Resozialisierung, also eine Rückkehr in die Gemeinschaft, ermöglicht. Außenseiter wie Zachäus, Asoziale, Kriminelle sind oft innerlich so blokkiert, daß ihnen der erste Schritt nicht mehr möglich ist. Aber nun, nachdem Jesus ihn angesprochen hat und ihm zugetraut hat, der Gastgeberrolle gcrecht werden zu können, reagiert Zachäus spontan mit 161 Vgl. dazu: E. Klostermann: Das Lukasevangelium, Handbuch zum Neuen Testament 5. 3. Aufl., Tübingen 1975. 8

Stubbe, Seelsorge

113

einem Vorschlag der Wiedergutmachung und einem symbolischen Opfer: „Siehe, Herr, die Hälfte meines Besitzes gebe ich nunmehr den Armen, und wenn ich von jemandem etwas erpreßt habe, gebe ich es vierfach zurück".

Jesus nimmt nicht die Haltung ein, erst Bedingungen und Forderungen zu stellen, bis Zachäus akzeptiert werden kann, sondern der Weg geht umgekehrt. Nachdem Jesus ihn akzeptiert hat, kann Zachäus selber dem nachkommen, was er seinen Mitmenschen schuldig ist. Das Neue Testament stellt Vergebung immer wieder als eine bedingungslose Annahme, ein uneingeschränktes Angebot der Versöhnung dar. Diese Art der Identifikation mit dem Außenseiter ermöglicht diesem seinerseits ein Stück Identifikation, die sich in der Sozialisierung oder Resozialisierung äußert. Das Neue Testament bietet uns also Beispiele für verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung von Identifikation mit Straffälligen in konkrete Hilfe, die uns von den psychoanalytischen Erkenntnissen über den Umgang mit dem „Bösen" her in ihrer Wirkweise verständlicher werden. Dies gilt für den Philemonbrief, in dessen Vordergrund der Vorgang der Vermittlung und Fürsprache steht. I n j o h . 8,1—11 bildet der seelsorgerliche Umgang mit dem gesellschaftlichen Strafverlangen den Schwerpunkt. Indem dessen uns von der Psychoanalyse her bekannte Ursache im eigenen Vergehen bzw. der eigenen latenten Neigung oder Bereitschaft dazu angesprochen wird, kann das Strafverlangen aufgelöst bzw. unwirksam gemacht werden. Luk. 19,1—10 schließlich bietet uns ein Beispiel für die Wirkweise der direkten Ansprache des Asozialen. Hier wird deutlich, wie Zutrauen bereits Sozialisierung oder Resozialisierung sein kann.

2.6.7 Identifikation und Projektion Gefangenenseelsorge

als Kriterien

der

Das Neue Testament verkündigt die Vergebung der Sünden durch Gott und stellt Vergebung und Versöhnung als wesentliche Anliegen christlichen Zusammenlebens in der Gemeinschaft heraus. Der Aufruf zur Vergebung gegenüber dem Nächsten wird begründet mit der Vergebung der eigenen Sünde durch Gott. Die Psychoanalyse ermöglicht es uns heute, detaillierter zu beschreiben, welche psychischen Mechanismen im zwischenmenschlichen Vorgang der Vergebung eine Rolle spielen bzw. umgekehrt auch zu verstehen, welche Mechanismen sie verhindern. Streiflichterartig konnten wir an-

114

deuten, wie sich neutestamentliche Texte, in deren Zentrum der Umgang mit menschlichem Vergehen steht, von der Psychoanalyse her besser verstehen lassen. — Dies gilt nun auch für die altkirchlichen Texte der ersten sechs Jahrhunderte, die sich mit Fragen der Gefangenenseelsorge befassen. Wir gehen an dieses historische Material mit einer bestimmten Erwartungshaltung heran, und zwar mit der Vermutung, daß eine bestimmte Grundeinstellung zur Straffälligkeit auch eine bestimmte Art von Gefangenenseelsorge provoziert hat, anders: j e größer die Möglichkeit der Identifikation mit Gefangenen, desto hilfreicher die Seelsorge. Ausschlaggebend für die Entwicklung der Gefangenenseelsorge in den ersten Jahrhunderten waren die innere wie die äußere Situation der ersten Christen. Was die innere Situation betrifft, so stellte der Glaube der Christen von neutestamentlichen Zeiten an einen Aufruf zur Vergebung und Versöhnung dar, der auch gegenüber Strafgefangenen seine Gültigkeit haben mußte, wenn er nicht inkonsequent sein sollte. Die äußere Situation brachte darüber hinaus viele Christen in dieselbe Situation, in der sich Kriminelle in der Folge ihres Verbrechens befanden, da auch Christen zeitweise von der heidnischen Obrigkeit kriminalisiert wurden. So zeigt sich auch in den Märtyrertexten am deutlichsten, wie sich erste Gedanken zur Gefangenenseelsorge auszuprägen begannen. In der Folgezeit gingen diese Erfahrungen zum Teil wieder unter, aber ein Rest Identifikation mit dem kriminellen Außenseiter hat sich in der Kirchengeschichte durchgehalten, und in verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte sind die ersten Erfahrungen der Christen mit der Gefangenschaft eigener Brüder mit unterschiedlicher Intensität wieder zum Vorschein gekommen und wirksam geworden. — J e s u s hat sich in seinem Verhalten über das Gesetz hinweggesetzt, das eine vermeintlich klare Trennung von gut und böse gewährleistete. Damit war er — wie A. Holl es zugespitzt gesagt hat „(nach Normen seiner Gesellschaft) kriminell" 1 6 2 . Ethische und soziale Beurteilungsmaßstäbe wurden von J e s u s unberücksichtigt gelassen oder sogar umgekehrt. „Es wird hiermit ein absonderliches Soziogramm entworfen. Den jeweils Angesprochenen wird nahegelegt, ausgerechnet jene Menschen zu bevorzugen, an die sie am wenigsten gedacht hätten, und wenn, dann mit Feindseligkeit. Die Vergessenen und die Gegner rücken in normgebende Positionen, von ihnen her und zu ihnen hin soll gedacht werden. Nicht Eliten, nicht Mehrheiten bestimmen gesellschaftliches Benehmen, 162

A. Holl: Jesus in schlechter Gesellschaft, Stuttgart 1971, S. 30.

115

vielmehr die Armen, Weinenden, Hungrigen. Auf sie kommt es an in der Optik Jesu, und deshalb wendet er sich ihnen zu. Dieses Denken von der anderen Seite der Gesellschaft her widerspricht dem gesamten Fundus der menschlichen Sozialgeschichte; es steht konträr zur gesamten gesellschaftlichen Erfahrung aller Kulturen und Zeiten" 1 6 3 . Jesus hat sich mit dem damaligen Rechtssystem kritisch auseinandergesetzt. Er hat es abgelehnt, weil es auf dem Grundsatz der Vergeltung basierte. Dieser Kritik lag ein anderes Verständnis von Recht zugrunde. , Jesus ging es um Versöhnung, um die Wiederherstellung des gestörten Friedens, um Erhaltung von Bruderschaft, um das ,Recht des Nächsten'" 1 6 4 . Die ersten Christen standen damit schon von der Grundlage ihres Glaubens her auf der Seite der am Gesetz und am Recht Gescheiterten, auf der Seite der Schuldigen und Straffälligen. Freilich bedeutete dies noch nicht automatisch die Sorge um gefangene Straffällige. Um sich diesen gezielt zuzuwenden, bedurfte es offenbar des äußeren Anstoßes, der die Gemeinden überhaupt auf diese Randgruppe aufmerksam machte. Dieser Anstoß war überreichlich gegeben. Man kann den Punkt , der die ersten Christen zur Identifikation mit Straffälligen anreizte, wahrscheinlich am ehesten mit dem Begriff Dissozialität erfassen. Definiert man Dissozialität als ein Aus-der-GesellschaftHerausgefallensein oder Außerhalb-der-Gesellschaft-stehen oder auch einfach als Außenseitertum, so liegt in diesem Begriff der Schnittpunkt der Eigenschaften von verfolgten Christen oder Märtyrern und Strafgefangenen. Dissozialität ist der Wesenszug, der — bei allen sonstigen Unterschieden — beide Gruppen miteinander verbindet. Da das Christentum in gewissen Grenzen eine Außenseiterexistenz provozierte wenn nicht forderte, konnte es auf der anderen Seite auch in besonderer Weise zur Hilfe für Randgruppen animieren. Wir können also festhalten, daß den ersten Christen einerseits durch ihren Glauben, andererseits durch ihre eigene gesellschaftliche Stellung besonders viele Züge eigen waren, die wir als Grundvoraussetzung für Identifikation mit Strafgefangenen kennengelernt haben.

i « A.a.O., S. 116f. 164 S. Meurer: Das Recht im Dienste der Versöhnung und des Friedens. Studie zur Frage des Rechts nach dem Neuen Testament (Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments 63), Zürich 1972, S. 174; auch darüber hinaus bringt S. Meurer wesentliche Gesichtspunkte zur Stellung des Neuen Testaments zum Recht einschließlich Strafrecht.

116

Der Überblick über Umgangsweisen mit dem Begriff Schuld, die Gedanken von E. Neumann und P. Ricoeur sowie die Praxis der Identifikation im Neuen Testament haben unseren Blick geschärft für die Richtung, in die hin wir das historische Material zu befragen haben, wenn es uns darum geht, festzustellen, wo kirchlicherseits die Identifikation mit den Strafgefangenen in besonderer Weise vertreten und praktiziert worden ist. Wir können daher — ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen — mit folgenden Fragen am sinnvollsten an das Material der Alten Kirche zur Gefangenenseelsorge herangehen: 1. Wird das eigene „ B ö s e " beziehungsweise der eigene „ S c h a t t e n " unterdrückt oder verdrängt, oder findet eine Annahme oder Integration des eigenen „ B ö s e n " statt? 2. Wird von Schuld im Zusammenhang mit einer schuldlösenden Instanz geredet? Wird Schuld in das Feld des Kerygmas hineingestellt? 3. Wird das „ B ö s e " in die Heilsgeschichte integriert? 4. Wie umfassend ist der Rahmen, innerhalb dessen das „ B ö s e " interpretiert wird? 5. Wird ein Stück Distanz in die Betroffenheit durch die Macht des „ B ö s e n " hineingebracht? 6. Wird eine prospektive Sicht des „ B ö s e n " und der Schuld ermöglicht? Wird Veränderung einkalkuliert? 7. Wird die Aporie der Rationalität der Strafe gesehen? die Straflogik als Kontrapunkt für die Verkündigung des Evangeliums? 8. Finden wir so etwas wie stellvertretendes Leiden statt Projektion? 9. Wo wird Einfühlung in das gefangene Gegenüber besonders deutlich? Wo wird eine Beziehung hergestellt zwischen den eigenen Erlebnisformen und denen des anderen? Umgekehrt werden wir darauf zu achten haben, wo sich möglicherweise Wahrnehmungstrübungen und Verzerrungen der Realität andeuten, wo das eigene „ B ö s e " in auffälliger Weise nicht thematisiert oder geleugnet wird, wo Selbstidealisierung in den Vordergrund tritt. Hier werden wir damit rechnen, daß stärkere Momente von Projektion in den Umgang mit Gefangenen eingeflossen sind.

117

3. Entwicklungsstufen der Identifikation in den Anfängen der Gefangenenseelsorge in der Alten Kirche 3.0 Vorbemerkung Eine theologische Begründung der Gefangenenseelsorge bedarf einer eingehenden Rückschau auf die Anfänge dieses kirchlichen Arbeitsfeldes in den ersten Jahrhunderten. Dies ist zum einen wichtig, weil die Seelsorge an Strafgefangenen, anders als andere charitative Tätigkeiten (wie z.B. Hilfe für Kranke etc.), ihre besondere Problematik des generellen Umgangs mit dem „Bösen" birgt und daher, in der frühen Christenheit zumindest, noch nicht allgemein praktiziert oder für notwendig gehalten wurde. Die ersten Christen haben sich zu einer eindeutigen Identifikation mit Strafgefangenen auf dem Hintergrund ihres Glaubens allmählich und unter Überwindung innerer und äußerer Hindernisse durchgerungen. Zum andern sind diese Anfänge der Gefangenenseelsorge für uns wichtig, weil es den Anschein hat, als seien fast alle grundlegenden psychologischen Probleme und Konflikte der Gefangenenseelsorge in den ersten sechs Jahrhunderten durchdacht und durchlebt worden — wenn auch nicht bewußt und in anderer Sprachgestalt als der der modernen Psychologie. Dieser Überblick bietet uns also neben der historischen Rückschau einen Überblick über Grundsatzfragen der Gefangenenseelsorge überhaupt. Im Rahmen der vorliegenden Abhandlung kann nun keine vollständige Geschichte der Anfänge der Gefangenenseelsorge geboten werden. Vielmehr sollen ihre grundlegenden Entwicklungsstufen an Hand exemplarischer Vertreter oder Texte skizziert werden. Wir beschränken uns dabei im wesentlichen auf die abendländische Theologie. Als Ausgangsstufe wird das antike Strafrecht dargestellt, auf dessen Hintergrund sich die Gefangenenseelsorge entwickelte. Am Schluß dieser Rückschau wird der Versuch unternommen, die ersten sechs Jahrhunderte der Gefangenenseelsorge als eine Entwicklungsgeschichte verschiedener Identifikationsstufen mit Straftätern darzustellen.

118

3.1 Die institutionelle Verwirklichung von Projektion im antiken Strafrecht Nur in Umrissen soll hier ein Bild des antiken, insbesondere des römischen Strafrechts, gezeichnet werden, das den Hintergrund erster Ansätze einer christlichen Gefangenenseelsorge bildet. — Wohl das charakteristischste Merkmal des modernen Strafrechts bildet die dominierende Rolle der Freiheitsstrafe unter den angewandten Strafmitteln. Diese auffallende „Vorherrschaft der Freiheitsstrafe" ist erst das Ergebnis der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der letzten 3—4 Jahrhunderte 1 . Bei den antiken Völkern spielte das Gefängnis eine untergeordnete und, wenn überhaupt, eine andersartige Rolle als in der Gegenwart. „Der Gedanke an eine Strafart, welche die längere Verwahrung und den Unterhalt des Verbrechers auf öffentliche Kosten erforderte, hatte für die antiken Völker noch etwas Unfaßbares" 2 . Entsprechend dem Satz Ulpians: „Career ad continendos, non ad puniendos homines haberi d e b e t " diente das Gefängnis durch Jahrtausende vorwiegend dem Zweck der Sicherung und Bewachung. Äußerst selten kam im Altertum die Strafhaft zur Anwendung 3 . Im römischen Strafrecht stand die Gefängnisstrafe untergeordnet neben einer Vielzahl sonstiger Strafweisen 4 . Die römische Gesetzgebung kann1 Ν. H. Kriegsmann: Einführung in die Gefángniskunde (Bibliothek der Kriminalistik Bd. I), Heidelberg 1912, S. 1. 2 F. A. K. Krauss: Im Kerker vor und nach Christus. Schatten und Licht aus dem profanen und kirchlichen Cultur- und Rechtsleben vergangener Zeiten, Freiburg/ Leipzig 1895, S. 2. 3 Ebd.; Ulpian: Digesta 36, Tit. 19,8.9: „Solent praesides in carcere continendos damnare aut ut in vineulis contineantur: sed id eos facere non oportet; nam huiusmodi poenae interdictae sunt: carcer enim ad continendos homines, non ad puniendos haberi debet". In: Digesta Justiniani Augusti, hrsg. von Th. Mommsen, Bd. II, Berlin 1963 (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1870), S. 847. - Ob die Ursprünge der Freiheitsstrafe im Asylrecht, in der Schuldhaft oder in der Internierung von Verbrechern zwecks Unschädlichmachung zu suchen sind, ist über verschiedene Hypothesen hinaus noch nicht geklärt worden. D. Lang-Hinrichsen: Artikel „Freiheitsstrafe", in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft. 6. Aufl., III. Bd., Freiburg 1959, Sp. 5 5 2 - 5 5 3 . 4 Th. Mommsen: Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, S. 911 ff. Neben der Gefängnisstrafe handelte es sich um die Todesstrafe („supplicium", „poena capitis" oder „capitalis") (a.a.O., S. 91 Iff.), Verlust der Freiheit (a.a.O., S. 945ff.), Einstellung in öffentlichen Anstalten (a.a.O., S. 949ff.), Verlust des Bürgerrechts (a.a.O., S. 956ff.), Ausweisung und Internierung (a.a.O., S. 964ff.), Körperstrafen (a.a.O., S.

119

te, was die Todesstrafe betrifft, weder eine Minimal- noch eine Maximalfrist für den Aufschub der Vollstreckung. Der Termin lag im Belieben des vollstreckenden Magistrats. Damit war nicht nur die Möglichkeit zu weiteren Vernehmungen oder zur Verschiebung der Exekution aus sonstigen Gründen gegeben, sondern zur Unterlassung der Vollziehung überhaupt, was häufiger vorgekommen sein soll. Da der zum Tod verurteilte Verbrecher von Rechtswegen gefangengehalten werden mußte, lief diese Praxis nicht selten auf eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft hinaus 5 . Die Freiheitsstrafe war nicht immer gleichbedeutend mit Gefängnisstrafe. Entzug der Freiheit konnte die Verwendung des Verurteilten für öffentliche Arbeiten, z.B. in den Bergwerken oder in der Fechtschule bedeuten 6 . Ein solches Urteil beinhaltete, daß der Verurteilte in das Eigentum des Staates überging. Im Unterschied zu den anderweitig im Besitz des Staates befindlichen Sklaven bezeichnet man diese als Strafsklaven (servus poenae). Der servus poenae scheidet mit seiner Verurteilung aus seiner Familie und aus seinen ehelichen Verhältnissen aus. Mit der Person fällt auch der ganze Besitz dem Staat zu. Der Verurteilte darf von da an kein Vermögen mehr haben und unter Lebenden und von Todeswegen vermögensrechtlich nicht mehr verfügen 7 . Die Zwangsarbeit bei Einstellung in öffentlichen Anstalten ist möglicherweise zusammen mit der Deportation im Jahre 23 durch Tiberius eingeführt worden. Später wurde sie zu einem der wichtigsten Strafmittel, vollzogen in dreifacher Abstufung: Bergwerk, lebenslängliche Zwangsarbeit und Zwangsarbeit auf Zeit. Die Bergwerksstrafe galt als die schwerste nach der Todesstrafe. Sie wurde auf Lebenszeit erkannt. Wenn eine Befristung erfolgte, wurde sie nicht im Rechtssinn als Bergwerksstrafe behandelt. Diese Strafe war mit dem Verlust der Freiheit von Rechtswegen und allen vermögensrechtlichen und sonstigen Konsequenzen verbunden 8 . Vorbild für diese Strafart war vermutlich Ägypten, wo sie seit alter Zeit durchgeführt wurde 9 . — Die Bergwerksstrafe wurde in zwei Stufen durchgeführt: „metallum" und „opus metalli", die sich durch die schwereren und die leichteren Fesseln und durch strengere

981ff.), bürgerliche Zurücksetzung (a.a.O., S. 986ff.) und Einziehung des Vermögens oder einer Vermögensquote (a.a.O., S. 1005ff.). s A.a.O., S. 912f. und S. 961. « A.a.O., S. 947. 7 Ebd. 8 A.a.O., S. 949f. 9 A.a.O., S. 950.

120

oder mildere Behandlung der Strafgefangenen unterschieden 1 0 . Zwischen Zwangsarbeit und Deportation bestand ein alternatives Verhältnis, in dem die Strafungleichheit nach dem Stande der Verurteilten ihren ältesten Ausdruck findet. Allerdings wurde auch diese Unterscheidung manchmal willkürlich übergangen 11 . Weniger schwer war die Verurteilung zu öffentlicher Arbeit. Sie wurde allerdings nicht gegen Unfreie ausgesprochen, da sie dann nur den Herrn des Verurteilten getroffen hätte. Diese Strafe wurde auf Lebenszeit oder auf Zeit auferlegt 1 2 . Das Gefängnis (carcer) fiel mit der Fesselung (vincula) rechtlich zusammen 1 3 . Es diente verschiedenen Zwecken: als magistratisches Coercitionsmittel zur Brechung von Ungehorsam 1 4 oder als Untersuchungs- oder Vollstreckungshaft zur Sicherung der Fortführung des Prozesses oder der Exekution des Strafurteils 1 5 . Die öffentliche Haft „wird immer bis auf weiteres verhängt und kann jederzeit aufgehoben, aber auch ins Unbestimmte erstreckt werden, obwohl sie in der Handhabung regelmäßig transitorisch oder provisorisch auftritt" 1 6 . Sie unterliegt magistratischer Willkür 17 . Gefängnis als Strafhaft war von Rechtswegen nicht vorgesehen 18 , aber kam zum Beispiel bei Sklavendelikten zur Anwendung. Zu diesem Zweck gab es das sogenannte ergastulum, eine Art Arbeitszwinger. Dadurch wurde dem Hausherrn trotz Inhaftierung des Sklaven dessen Arbeitskraft erhalten 19 . Weder das Recht der Republik noch dasjenige der Kaiserzeit kennt die öffentliche Strafhaft, sie galt noch im justinianischen Recht als unzulässig. Allerdings war dieser Ausschluß der Gefängnisstrafe aus dem Strafsystem wohl nur nominell, faktisch beinhaltete z.B. die öffentliche Arbeit auf Lebenszeit auch die lebenslängliche Inhaftierung. Und auch bei der Verurteilung auf kurze Zeit dürfte die Freiheitsstrafe mehr in den Vordergrund getreten sein als die Strafarbeit. Allerdings ist auch dem spätesten römischen Recht im formellen Sinn die Gefängnisstrafe noch fremd 2 0 .

»o A.a.O., S. 951. 11 Ebd. « A.a.O., S. 953. 13 A.a.O., S. 960. 14 A.a.O., S. 48. is A.a.O., S. 300. 16 Ebd. " A.a.O., S. 299. « A.a.O., S. 99. 19 Näheres dazu a.a.O., S. 962f. 20 A.a.O., S. 963.

121

Tatsache ist aber, daß schon im 5. oder 6. Jhdt. v.Chr. in Rom ein Gefängnis, das sogenannte Tullianum, existiert hat. In der folgenden Zeit wurden dann eine ganze Anzahl von Gefängnissen errichtet, die zum Teil auf unterschiedlich schwere Verbrecher aufgeteilt waren 2 1 . Eine ungefähre Vorstellung von der Grausamkeit dieser alten Strafeinrichtungen vermittelt uns z.B. eine Textstelle in den Märtyrerakten, wo es von der heiligen Felicitas heißt: „Nach einigen Tagen wurden wir in den Kerker gesteckt, und ich entsetzte mich, da ich noch nie eine solche Finsternis erfahren hatte. O schrecklicher Tag! Eine gewaltige Hitze; denn in ganzen Haufen wurden die Leute von den Soldaten hineingeworfen . . , " 2 2 . — Eindrucksvoll ist die Darstellung eines solchen Baus von Prüdentius: „Nach tapferem Standhalten kommt man in ein trostloses Gewölbe, damit nicht der freie Gebrauch des Auges den tiefen Atem belebt. Mitten im innersten Zuchthaus ist ein Ort, schwärzer als die Finsternis, den die engen Steine eines eingesenkten Gewölbes ganz dicht umdrängen. Hier herrscht ewige Nacht, ohne die Sonne zu sehen. Dieser schauerliche Kerker soll seine Unterirdischen beherbergen" 2 3 . S. die ausführliche Darstellung bei F. A. K. Krauss, a.a.O., S. 56—80; vgl. S . Arbandt u. W. Macheiner: Artikel „ G e f a n g e n s c h a f t " . In: Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. von Th. Klauser, Stuttgart 1973, 9. Bd., Sp. 3 2 0 .

21

2 2 Ausgewählte Märtyrerakten, hrsg. v. G. Krüger u. G. Ruhbach, Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften, N F 3, Tübingen 1 9 6 5 , S. 36f. 23 „ S u b l a t u s inde fortior Lugubre in antrum traditur; Ne liber usus luminis Animaret altum spiritum.

Est intus imo ergastulo Locus tenebris nigrior Q u e m saxa mersi fornicis Angusta clausum strangulant. Aeterna nox illic latet, Expers diurnis sideris: Hic career horrendus suos Habere fertur I n f e r o s " .

122

Die inneren Zustände der Gefängnisse scheinen überall gleich schlecht gewesen zu sein. Eine hohe Sterblichkeitsquote war die Folge von Dunkelheit, Platzmangel, unzureichender Ernährung und dem Fehlen jeglicher hygienischer Vorkehrungen. Die Gefängnisse hatten äußere und innere Räume, in den inneren befanden sich die Gefangenen, die Ketten trugen oder an Pfähle angebunden waren. Sie unterlagen Folterungen und willkürlichen Züchtigungen, da sie ganz in der Macht der Gefängniswärter waren und diese nur durch Bestechung beeinflussen konnten. Der äußere Kerker bot den Gefangenen eine Vielzahl von Erleichterungen. Sie waren nur in seltenen Fällen gefesselt und konnten Besuche empfangen 2 4 . Grundsätzlich war die Gefängnisstrafe nur eine von vielen Haftarten, die das römische Reich kannte. Eine grobe Unterteilung bildet die in öffentliche und private Haft. Unter die öffentliche Haft fallen 1. die Coercitio, 2. die Untersuchungshaft, 3. die libera custodia, 4. die militaris custodia, 5. die Schuldhaft, 6. die Strafhaft, 7. die Exekutionshaft, 8. die Kriegsgefangenschaft 25 . — Das antike Strafrecht verhängte grausame und brutale Strafen, die, wenn es sich nicht um Todesstrafe handelte, doch den „gesellschaftlichen T o d " 2 6 bedeuteten. Straftäter wurden ein für allemal aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Dieses Strafrecht stellt die klassische Verwirklichung von Sündenbockausstoßungsmechanismen dar. Es lebte offenbar von Projektionen auf die Straftäter, die dann jede Art von Strafe legitimierten.

3.2 Das Ringen zwischen Identifikation und Projektion in der frühen Christenheit Bei einem Versuch, die allerersten Anfänge der Gefangenenseelsorge nachzuzeichnen, stoßen wir auf einige Schwierigkeiten. Gefangene waren in der damaligen Zeit — anders als heute — ein gesellschaftliches A. P. C. Prudentius: Peristephanon, Hymnus V, 237—249. In: Aurelii Prudenti] dementis Carmina, CSEL 61, Leipzig 1926, S. 343. 24 S. Arbandt u. W. Macheiner, a.a.O., Sp. 321. 25 A.a.O., Sp. 3 2 2 - 3 4 3 . 26 N. K. Teeters: Das Dilemma im modernen Strafvollzug. In: M. Busch u. G. Edel: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug. Festgabe für A. Krebs zum 70. Geburtstag, Darmstadt 1969, S. 5 9 - 6 5 ; S. 59.

123

und theologisches Randproblem. Das ergibt sich in erster Linie aus der oben dargelegten geringen Bedeutung des Freiheitsentzugs als Strafmittel. Sofern uns überhaupt altkirchliche Äußerungen zum Gefangenenproblem vorliegen, sind diese fragmentarisch und stets verquickt mit übergeordneten Problemen dargestellt, meistens im Rahmen einer allgemeinen Aufzählung christlicher Barmherzigkeit. Im eigentlichen Sinne thematisiert wird die Gefangenenseelsorge erst viel später. Gefangene werden häufig erwähnt im Rahmen einer ganzen Aufzählung von Fällen ausgesprochener Hilfsbedürftigkeit. Ignatius von Antiochien zählt den Dienst an Gefangenen zu den besonderen Merkmalen christlicher Rechtgläubigkeit und kritisiert dementsprechend die doketischen Irrlehrer mit Worten, die gleichzeitig ein Bild seines Verständnisses von christlicher Nächstenliebe vermitteln: „Um die (Nächsten-)Liebe kümmern sie sich nicht, nicht um die Witwe, nicht um die Waise, nicht um den Bedrängten, nicht um den Gefangenen oder Freigegebenen, nicht um den Hungernden und Dürstenden" 27 . Aristides von Athen charakterisiert in seiner Apologie die Christen, indem er ihre guten Werke aufzählt. Unter verschiedenen charitativen Tätigkeiten nennt er auch die Sorge für aus Glaubensgründen gefangene Brüder 28 . Justin der Märtyrer schreibt in seiner Apologie über den Gebrauch der Sonntagskollekte, daß diese unter Verwaltung des Vorstehers neben verschiedenen Gruppen Hilfsbedürftiger auch den Gefangenen der Gemeinde zugute kommt 2 9 . Ignatius von Antiochien: Brief an die Smyrnäer, 6. Kap., in: Die Apostolischen Väter, hrsg. von K. Bihlmeyer, Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften, 2. Reihe, 1. Heft, 1. Teil, Tübingen 1 9 2 4 , S. 108. Zur Ubersetzung der lateinischen Texte dieses Kapitels wurden die vorhandenen Ausgaben der Bibliothek der Kirchenväter mit herangezogen.

27

„Die Witwen mißachten sie nicht; die Waise befreien sie von dem, der sie mißhandelt. Wer hat, gibt neidlos dem, der nicht hat. Wenn sie einen Fremdling erblicken, führen sie ihn ,unter Dach' und freuen sich über ihn, wie über einen wirklichen Bruder. Denn sie nennen sich nicht Brüder dem Leibe nach, sondern (Brüder) im Geiste und in Gott. Wenn aber einer von ihren Armen aus der Welt scheidet und ihn irgendeiner von ihnen sieht, so sorgt er nach Vermögen für sein Begräbnis. Und hören sie, daß einer von ihnen wegen des Namens ihres Christus gefangen oder bedrängt ist, so sorgen alle für seinen Bedarf und befreien ihn, wo möglich. Und ist unter ihnen irgendein Armer oder Dürftiger, und sie haben keinen überflüssigen Bedarf, so fasten sie zwei bis drei Tage, damit sie den Dürftigen ihren Bedarf an Nahrung decken". Aristides von Athen: Apologie X V , 18. In: Die ältesten Apologeten, hrsg. von E. J . Goodspeed, Göttingen 1 9 1 4 , S. 21. 2 9 „Wer aber die Mittel und guten Willen hat, gibt nach seinem Ermessen, was er will, und das, was da zusammenkommt, wird bei dem Vorsteher hinterlegt; dieser kommt damit Waisen und Witwen zu Hilfe, solchen, die wegen Krankheit oder aus sonst einem Grunde bedürftig sind, den Gefangenen und den Fremdlingen, 28

124

Und Tertullian rühmt die Christen, indem er den Gebrauch ihrer Gemeindekasse schildert: Dieses Geld kommt auch den Gefangenen zugute, allerdings eindeutig nur den Glaubensgefangenen 3 0 . In den Apostolischen Konstitutionen wird den Bischöfen aufgetragen: „Ihr nun, o Bischöfe, sollt für ihre Pflege Sorge tragen und es ihnen an nichts mangeln lassen; den Waisen sollt ihr die Eltern, den Witwen die Männer ersetzen, den Erwachsenen zur Verehelichung verhelfen, dem Künstler Arbeit, dem Arbeitsunfähigen Unterstützung verschaffen, dem Fremdling gastliche Aufnahme gewähren, dem Hungrigen Brot, dem Durstigen Trank, dem Nackten Kleidung, dem Kranken Besuch, den Gefangenen Hilfe" 3 1 . Und die Priester werden beauftragt, das Volk zur Wohltätigkeit und zur Linderung menschlichen Elends zu ermahnen: „Von der rechtlichen Arbeit der Gläubigen also nähret und kleidet die Dürftigen; verwendet das hieraus zusammengebrachte Geld, wie wir vorhin gesagt haben, zur Loskaufung der Heiligen, zur Befreiung von Sklaven, Kriegsgefangenen, Eingekerkerten, Mißhandelten und solchen, welche des Namens Christi wegen von den Tyrannen zu Zweikampf und Tod verurteilt sind . . ," 3 2 . Laktanz preist es als ein spezifisches Werk Gerechter, also der Christen, „Arme zu nähren und Gefangene loszukaufen", und nach einigen Erläuterungen fährt er fort: „Ein nicht weniger großes Werk der Gerechtigkeit ist, verlassene Waisen und Witwen und Hilfsbedürftige zu schützen und zu verteidigen" 33 . So kann er fordern: „Wovon du dir wilde Tiere kaufst, davon kaufe Gefangene zurück, wovon du wilde Tiere erdie in der Gemeinde anwesend sind, kurz, er ist allen, die in der Stadt sind, ein Fürsorger". Justin der Märtyrer: Apologie 1,67. In: E. J. Goodspeed, a.a.O., S. 75f. 30 „Das sind gleichsam die Sparpfennige der Gottseligkeit. Denn es wird nichts davon für Schmausereien und Trinkgelage oder nutzlose Freßwirtschaften ausgegeben, sondern zum Unterhalt und Begräbnis von Armen, von elternlosen Kindern ohne Vermögen, auch für bejahrte, bereits arbeitsunfähige Hausgenossen, ebenso für Schiffbrüchige, und wenn welche in den Bergwerken, auf Inseln oder in den Gefängnissen, selbstverständlich nur dann, wenn wegen der Sache der Genossenschaft Gottes diese Heimsuchung sie trifft, Versorgungsberechtigte ihres Bekenntnisses werden". Tertullian: Apologeticum c. 39. In: CC Series Latina 1, Turnholti 1954, S. 151. 31 Apost. Konst. IV, 2. In: F. X. Funk (Hrsg.): Didascalia et Constitutiones Apostolorum, Vol. I, Paderborn 1905, S. 219. — Zur Übs. wurde die Ausgabe „Apostolische Constitutionen und Canonen", Kempten 1874, herangezogen. 32 Apost. Konst. IV, 9, a.a.O., S. 229ff. 33 Lactantius: Divinorum Institutionum VI, 12. In: CSEL Bd. 29, Wien 1890, S. 524ff.; „proprium igitur iustorum opus est alere pauperes ac redimere captivos" (S. 527); „non minus magnum iustitiae opus est pupillos et viduas destitutos et auxilio indigentes tueri atque defendere" (S. 528).

125

nährst, davon ernähre die Armen, wovon du Menschen für den Schwertkampf ausstattest, davon bestatte die unschuldigen Toten" 3 4 . Gefangenschaft wird bei allen hier erwähnten Autoren deutlich als ein besonderer Einzelfall von Hilfsbedürftigkeit neben anderen gesehen. Gefangene werden erwähnt als solche, die Anspruch haben auf die Fürsorge der christlichen Gemeinden, und zwar auf einer Stufe mit Witwen, Waisen, Bedrängten, Hungernden, Dürstenden, Besitzlosen oder Armen, Fremdlingen oder Gästen, Kranken, Toten, Alten und Arbeitsunfähigen, Schiffbrüchigen, Unverheirateten, Nackten, Sklaven und Kriegsgefangenen. In der Regel wird in diesen Texten die Unterstützung der genannten Personengruppen ohne irgendwelche Bedingungen oder Einschränkungen gefordert bzw. gewährt. Die häufigste theologische Begründung wird mit Matth. 25 gegeben, wo Jesus als Kriterium für die Scheidung der Guten und Bösen im Endgericht angibt, ob jemand Hungrigen zu essen und Durstigen zu trinken gegeben, Fremde beherbergt, Kranke und Gefangene besucht hat 3 5 . Nur bei der Sorge um die Gefangenen finden wir zweimal das Schema einfacher Aufzählung durchbrochen durch eine Einschränkung, so bei Aristides und Tertullian. Aristides spricht nicht einfach von Gefangenen, sondern es heißt: , , . . . daß einer von ihnen wegen des Namens ihres Christus gefangen oder bedrängt ist" 3 6 . Bei Tertullian klingt die Einschränkung noch um einiges exklusiver: „selbstverständlich nur dann, wenn wegen der Sache der Genossenschaft Gottes diese Heimsuchung sie trifft"31. Beide Einschränkungen hängen mit der Situation zusammen, aus der heraus die Verfasser diese Texte geschrieben haben. Auf die hier angesprochene Sorge um die gefangenen Märtyrer kommen wir noch zu sprechen. Hier sei nur festgehalten, daß sich an diesen Einschränkungen eine begründete Unsicherheit der frühen Christenheit gegenüber Gefangenen andeutet. 34

„unde bestias emis, hinc captos redime, unde feras pascis, hinc pauperes ale, unde homines ad gladium comparas, hinc innocentes mortuos sepeli". A.a.O., S. 53 l f . 35 Ambrosius: De officiis ministrorum, Lib. II, Cap. XXI, 107. In: Migne SL 16, Ambrosius 2, 1, Sp. 140; Ders.: Expositio Psalmi CXVIII, CSEL 62, S. 184. 36 Aristides von Athen, a.a.O., S. 21. 37 Tertullian: Apologeticum, a.a.O., S. 151; E. Levy: Captivus redemptus. In: Gesammelte Schriften Bd. II, hrsg. von W. Kunkel u. M. Käser, Köln/Graz 1963, S. 2 5 - 4 5 , speziell S. 31 u. 40.

126

Auf keinen Fall war es auch nur annähernd selbstverständlich, sich um Sira/gefangene zu kümmern. In den meisten Texten bleibt offen, ob es sich um Glaubensgefangene, um Verbrecher oder um beide Gruppen handelte, manchmal aber war es offensichtlich nicht geboten, dies in der Schwebe zu lassen. In bestimmten Situationen bewirkte die eigene Bedrängnis zunächst eine Absetzung von Kriminellen. Das Problem straffällig gewordener Brüder bzw. solcher, die sich als „Brüder" bezeichneten, ist in den Apostolischen Konstitutionen angeschnitten. Die Gefahr, mit diesen in einen Zusammenhang gebracht zu werden, mußte energisch abgewehrt werden. Man kann wohl davon ausgehen, daß Straffälligkeit, wenn sie bei Christen vorkam, viel härter verurteilt wurde als bei Nichtchristen. Es heißt dort: „Wenn jemand, der sich selbst Bruder nennt, vom Teufel betrogen, Böses getan hat und dessen überwiesen zum Tode verurteilt worden ist als Ehebrecher oder Mörder, so verkehrt nicht mit ihm, damit ihr sicher seid und niemand von euch in Verdacht komme, am Vergehen beteiligt zu sein, und damit nicht das üble Gerücht sich verbreitet, als hätten alle Christen an ihren schändlichen Handlungen Wohlgefallen. Deswegen entfernt euch weit von ihnen. Denen aber, welche um Christi willen von den Gottlosen verfolgt und ins Gefängnis geworfen oder zum Tode oder zum Kerker oder zur Verbannung verurteilt wurden, kommt mit allem Eifer zu H i l f e " 3 8 . Hier sind also zwei extreme Gruppen von Gefangenen ins Auge gefaßt und einander gegenübergestellt: die unschuldig verurteilten Märtyrer und die trotz ihres behaupteten Christseins Straffälligen. Man könnte möglicherweise aus der Abwehr der letzteren auf eine solche generelle Einstellung zu Kriminellen schließen. Aber dafür dürfte dieser Beleg kaum ausreichen. Eher wird dieser Text wohl im Zusammenhang des Kampfes gegen die eigene Kriminalisierung zu verstehen sein, zumal das Problem der Glaubensgefangenen j a zur selben Zeit akut war. Wo und solange dieser K a m p f anhielt, war die Existenz krimineller Christen für die Gemeinden tödlich. Darum mußten sie sich so energisch und kompromißlos von ihnen absetzen. Laktanz, der, nachdem er noch unter Verfolgungen Christ geworden war, im Alter den Ubergang zur konstantinischen Ära miterlebte, genoß „als kaiserlicher Günstling zuerst die Vorteile des beginnenden Bundes von Staat und Kirche, Christentum und herrschender K u l t u r " 3 9 . In den ersten Jahren des 4. J h d t s . hat er die „Divinae Institutiones" („Sieben Bücher göttlicher Unterweisungen") verfaßt, „die umfassendste Apolo38 39

Apost. Konst. V, 2, a.a.O., S. 2 3 9 u. 2 4 1 . H. Frhr. v. Campenhausen: Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1 9 6 0 , S. 57.

127

gie, die das Christentum vor Abschluß der Verfolgungszeit überhaupt gefunden hat". Das Werk richtet sich an gebildete Heiden, an jene „Kreise, denen Laktanz selber angehört hat und die sich im dünkelhaften Gefühl ihrer Überlegenheit jetzt darin gefallen, das Christentum verächtlich zu machen" 4 0 . Als die Unterdrückung der Christen im Jahr 313 ein Ende fand, war im Gedanken der „Gerechtigkeit", wie Laktanz ihn in den „Institutionen" entwickelt hat, bereits der „gemeinsame Nenner für Staat und Kirche" gefunden 4 1 . Die starke Übereinstimmung zwischen Konstantins Erlassen und Reden und den Schriften des Laktanz ist so groß, daß dies kaum Zufall sein kann 4 2 . Die „Gerechtigkeit", von der Laktanz spricht, ist gänzlich zweckfrei: „Es muß daher auf jede Art beachtet werden, daß vom Liebesdienst des Mitleids die Hoffnung auf Wiedererstattung gänzlich fern sei: denn der Lohn dieses Werkes und Dienstes ist allein von Gott zu erwarten" 4 3 . Gerechtigkeit ist dort, „wo kein Band der Notwendigkeit, Gutes zu tun, ist" 4 4 . Zu den Werken eben dieser Gerechtigkeit gehört es, Gefangene loszukaufen 4 5 . Laktanz zitiert hier Cicero, bei dem es heißt: „Und diese Wohltätigkeit ist auch dem Staate nützlich, daß die Gefangenen aus der Sklaverei losgekauft werden, die Armen bereichert werden" 4 6 . Er selber schreibt aber außerhalb dieses Zitats nur allgemein vom Loskauf Gefangener 4 7 . Ob er hier auch Sklaven oder nur Glaubensgefangene im Auge hatte, oder ob er den Begriff „Gefangene" schon weiter faßte, muß offenbleiben. In jedem Fall sieht er in dem Loskauf Gefangener ein spezifisches Werk der Christen: „solche Werke kommen ausschließlich von uns, die wir das Gesetz, die wir die Worte eben des Gottes, der es anordnet, angenommen haben" 4 8 . Es liegen uns also einige Texte vor, die offenlassen, um was für Gefangene es sich handelt oder aus denen hervorgeht, daß es jedenfalls keine 40 A.a.O., S. 62. « A.a.O., S. 74. « Ebd. 43 „Tenendum est igitur omni modo ut ab officio misericordiae spes recipiendi absit omnino: huius enim opens et officii merces a deo est expectanda, solo". Lactantius: Divinorum Institutionum VI, 12. In: CSEL Bd. 29, Wien 1890, S. 524. 44 „Ibi ergo iustitia est ubi ad bene faciendum nécessitas vinculum nullum est". A.a.O., S. 528. 45 „Proprium igitur iustorum opus est . . . redimere captivos". A.a.O., S. 527. 46 „Atque haec benignitas inquit etiam rei publicae est utilis, redimi e Servitute captos". A.a.O., S. 527. ν A.a.O., S. 527 u. 53If. 48 „Verum haec opera proprie nostra sunt, qui legem, qui verba ipsius dei praecipientis accepimus". A.a.O., S. 528.

128

Gefangenen aus Glaubensgründen sind. Möglicherwiese war es zunächst selbstverständlich, daß man sich, sofern es nicht um anderweitig unschuldige Gefangene ging, nur u m Glaubensgefangene kümmerte u n d dies b e d u r f t e keiner weiteren Erklärung. Da es keine weiteren Belege dafür gibt, daß die Betreuung Sira/gefangener zu den üblichen charitativen Tätigkeiten der christlichen Gemeinden zählten, wird man am ehesten damit rechnen k ö n n e n , daß sich eine allgemeine Gefangenenbetreuung nur sporadisch u n d zunächst völlig unorganisiert durchsetzte, vielleicht als Begleiterscheinung der Betreuung glaubensgefangener Brüder. Das vorhandene Quellenmaterial bezeugt jedenfalls keineswegs sicher, ob es den christlichen Gemeinden damals schon speziell u m das Wohl krimineller Strafgefangener ging oder nicht. Im Gegenteil wissen wir, daß sie sich — wie o b e n ausgeführt — zeitweise explizit von diesen absetzen m u ß t e n , u m die eigene Kriminalisierung zu verhindern oder doch zu b e k ä m p f e n . Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Sicherheit diese Frage zum Teil in der Literatur angegangen wird. Grellet-Wammy setzt o f f e n b a r eine Fürsorge für alle Gefangenen voraus, wenn er schreibt: „Die ersten Christen beschränkten ihre Mildtätigkeit nicht auf gegenseitige Unterstützung, sie b e t r a c h t e t e n alle Menschen als ihre Brüder; die Lehren, welche ihr Meister ihnen zu wiederholten Malen gegeben hatte, u n d insbesondere diejenige, welche uns mit einer gewissen Ausführlichkeit in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter überliefert ist, sind uns eine sichere Bürgschaft von ihrem Eifer, die Gefangenen, J u d e n und Heiden, zu b e s u c h e n " 4 9 . A. v. Harnack dagegen n e n n t in seinem Kapitel über die Sorge für die Gefangenen nur „unschuldige Gefangene", nämlich „ u m des Glaubens willen Eingekerkerte und in Schuldhaft Befindliche" 5 0 . Es dürfte nach der Sicht der Quellenlage dem Gegenstand aber kaum angemessen sein, hier mit alternativen Lösungen zu hantieren. Die ersten Christen hatten keine eindeutigen Richtlinien für ihr Verhalten gegenüber Gefangenen. Dies richtete sich vielmehr sehr stark nach der eigenen äußeren Situation und dem Maß der K o n f r o n t a t i o n mit Problemen der Gefangenschaft überhaupt. Wir müssen uns, was die Anfänge der christlichen Gefangenenseelsorge b e t r i f f t , auf die Feststellung beschränken, 49

Grellet-Wammy: Handbuch der Gefängnisse, übs. aus dem Französischen von K. Mathy, Solothurn 1838, S. 5. 50 A. v. Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. 4. Aufl., Bd. I u. II (unveränderter Nachdruck der Originalausgabe 1924), Leipzig 1965, S. 187. 9 Stubbe, Seelsorge

129

daß die frühen Christen zwischen Identifikation und Projektion unterschiedliche Wege beschritten: den Glaubensgefangenen gegenüber den eindeutigen Weg der Identifikation, den straffälligen Christen gegenüber den ebenso eindeutigen Weg der Projektion; sonstigen Gefangenen gegenüber waren sie unsicher, werden sich vermutlich nur spontan, je nach der äußeren Lage, für identifikatorische Verhaltensweisen diesen gegenüber entschieden haben.

3.3 Die Erschließung des Identifikationsbereichs der Gefangenschaft in der Märtyrerseelsorge 3.3.1

Die Christenverfolgungen als historischer Hintergrund

und Anlaß

In den Nachrichten über die Sorge um gefangene Glaubensbrüder finden wir die ersten präziseren Hinweise auf eine christliche Gefangenenseelsorge. Der Trost, den man gefangenen Märtyrern spendete, dürfte von nicht geringem Einfluß gewesen sein auf die spätere Sorge um Gefangene überhaupt. Wir möchten daher diesem Gebiet der anfänglichen Gefangenenseelsorge unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Das Schicksal der Kirche in den ersten J a h r h u n d e r t e n hing im wesentlichen ab von der Art und Weise, wie sie sich mit dem römischen Staat arrangierte. Im J a h r 143 n.Chr. nannte der kleinasiatische Rhetor Aelius Aristides das R ö m e r t u m einen „Begriff für ein allgemeines, übernationales Menschentum". Der karthagische Rhetor und Christ Tertullian konstatierte dagegen gut 50 Jahre später: „Wir kennen nur einen Staat ( . . . ) für alle: die Welt". Solange sich diese beiden Konzeptionen eines durchaus auch für das alltägliche Verhalten der Reichsbewohner bedeutsamen Universalismus gegenseitig ausschlossen, war der Kampf zwischen den beiden Trägern dieser „missionarischen Universalismen", das heißt: zwischen dem römischen Staat und der christlichen Kirche, unvermeidlich. Dabei lagen natürlich zunächst Macht und Recht einseitig auf der Seite der römischen Staatsgewalt 5 1 . In den ersten Jahrzehnten hatte sich der römische Staat um das Christent u m fast nicht gekümmert. Es genoß denselben Schutz wie das J u d e n 51

R. Freudenberger: Die Auswirken kaiserlicher Politik auf die Ausbreitungsgeschichte des Christentums bis zu Diokletian. In: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte Bd. I, Die Alte Kirche, hrsg. von H. Frohnes u. U. Knorr, München 1974, S. 131—146; S. 131.

130

t u m , das „religio licita" war. Der Zusammenstoß der Christen mit dem römischen Staat ergab sich dann aber fast zwangsläufig aus dem von den Christen gelehrten Monotheismus, der sie zur Verweigerung des Kaiserkultus und der Anrufung der Staatsgötter, d.h. zum Staatsverbrechen, veranlaßte. Damit boten sie einen ganz eindeutigen Anlaß, als Staatsfeinde bekämpft zu werden. Bis zur Mitte des 3. J h d t s handelte es sich dabei um ein ziemlich willkürliches Vorgehen der Behörden gegen einzelne Christen. Die erste bekannte größere Christenhetze fällt bereits unter die Regierungszeit des Nero (54—68). Trajan (98—117) traf die erste uns bekannte staatsrechtliche Regelung der Christenprozesse. Nachdem seit 180 die Verfolgungen immer seltener und die Friedenszeiten immer länger geworden waren, kam es im J a h r 250 zu einer entscheidenden Wende. Decius (249—251) unternahm die erste allgemeine Christenverfolgung. Decius' Nachfolger Gallus (251—253) startete einen zweiten Versuch, in einer großen Verfolgung die Kirche auszuschalten. 257—258 Schloß sich Valerianus mit einer großen Verfolgung an. Der Entscheidungskampf zwischen dem Christentum und dem Römischen Staat fand unter Diokletian und dessen Nachfolgern statt. Die Diokletianische Verfolgung ( 3 0 3 - 3 0 5 / 3 0 3 - 3 1 1 ) übertraf an Dauer und Grausamkeit alle vorangegangenen. Der bedeutsame Umschwung erfolgte 311 mit dem Toleranzedikt des Galerius. Mit dem politischen Übergewicht Konstantins im J a h r 312 war der Sieg des Christentums entschieden. 3.3.2

Die Fürsorge für

Glaubensgefangene

Bis dahin aber gehörte es zur Tagesordnung christlichen Gemeindelebens, daß immer wieder Brüder im Kerker gefangengehalten wurden — meistens, um dort auf ihren Tod oder ihre Hinrichtung zu warten. Es galt als selbstverständlich, daß diese gefangenen Glaubensbrüder der Sorge und Hilfe der Gemeinden anvertraut waren 5 2 . Exkurs: Wurden Märtyrer im Kerker aufgesucht, so handelte es sich allerdings nicht nur um Gemeindeglieder, die sie unterstützen oder trösten wollten. Teilweise hatte sich die Gewohnheit eingeschlichen, daß Unzuchtssünder in die Kerker oder in die Bergwerke zu den Märtyrern kamen, um auf deren Fürbitte hin den Kirchenfrieden 52 Eusebius: Kirchengeschichte IV, 23, 10. In: GCS, Eusebius, Bd. II, 1. Teil, Leipzig 1903, Sp. 376f.; VI, 3, a.a.O., Bd. II, 2. Teil, Leipzig 1908, Sp. 524f.; Lukian von Samosata: Das Lebensende des Peregrinos, Hauptwerke, griechisch und deutsch, hrsg. u. übs. von K. Mras, München 1954, S. 479; Aristides von Athen, a.a.O. 131

zu erlangen. Tertullian führt aus, daß die Kirchenoberen, wenn sie sich darauf einlassen, während sie nicht einmal denen, die unter Folterqualen abgefallen sind, den Kirchenfrieden erteilen, sehr verkehrt handeln s 3 . — Es scheint auch einen Brauch gegeben zu haben, in die Kerker zu gehen und dort die Märtyrer zu verehren. In dem 2. Brief an seine Frau, in dem Tertullian sich über die Schwierigkeiten einer christlichen Frau in einem heidnischen Haus ausläßt, erwähnt er, daß man eine solche Frau auch an der Ausübung dieser Gewohnheit hindern wird: „Wer wird sie in die Kerker schleichen lassen, um die Ketten eines Märtyrers zu küssen?" 5 4

Die strafende J u s t i z der damaligen Zeit übte den Märtyrern gegenüber offenbar besondere Härten aus. S o wurden sie zum Teil von allgemeinen Amnestien ausgeschlossen 5 5 . Um die Christen umzustimmen, war grundsätzlich jedes Mittel recht. Man bediente sich aller Arten von Folterungen. Zwischen den einzelnen Foltertorturen brachte man die Gefangenen in die Kerker zurück. S o verstarben einige schon dort, bevor es zu der eigentlichen Hinrichtung k a m 5 6 . Den Christen galt der Kerker als eine Schule, die auf den Märtyrertod vorbereitete 5 7 . Offensichtlich war es aber bisweilen üblich, den Gefangenen in den Gefängnissen Küchen einzurichten, „damit sie nicht aus der Gewohnheit kommen, des Lebens nicht überdrüssig werden und sich an der Disziplin der ihnen ungewohnten Entbehrungen nicht stoßen". Tertullian hat aufs schärfste diese „Schule der Mäßigkeit" verurteilt 5 8 . Für ihn war die Haft eine Einübung in christliche Askese. Die Christen, die ihren Brüdern, die nur noch auf ihre Hinrichtung zu warten brauchten, bis zum letzten Augenblick beistanden und diese trösteten, taten dies zum Teil unter eigener Lebensgefahr. Euseb berichtet, daß Origines einem Bruder namens Plutarch bis zu dessen Ende beigestanden habe 5 9 . Tertullian: De Pudicitia c. 22. In: CC Series Latina 2, Turnholti 1954, S. 1328ff. 5 4 Ders.: Ad Uxorem II, 4. Kap., 2. In: CC Series Latina 1, S. 389. 5 5 Eusebius: Über die Märtyrer in Palästina II. In: GCS, Eusebius Bd. II, 2. Teil, S. 909. 5 6 Ausgewählte Märtyrerakten, a.a.O., S. 41. s"> Tertullian: De Ieunio XII, 2. In: CC Series Latina 2, S. 1270f. s» A.a.O., S. 1271. S 9 „Er stand nämlich den heiligen Märtyrern nicht nur zur Seite, solange sie noch im Gefängnis waren und das Endurteil noch nicht über sie gesprochen war, sondern auch nachher, wenn sie zum Tode geführt wurden, freimütig und geradewegs den Gefahren entgegensehend. Er wäre auch, wenn er so mutig zu den Märtyrern trat und sie offen und frei mit einem Kusse begrüßte, oftmals von dem herumstehenden wütenden Pöbel fast gesteinigt worden, wenn er nicht ein für allemal unter dem Schutz der göttlichen Rechten gestanden und so stets auf wunderbare Weise entkommen wäre". Eusebius: Kirchengeschichte VI, 3, a.a.O. 53

132

Was die Besuche in den Kerkern betrifft, so wurde behutsam abgewogen, was man ohne Risiko tun konnte und wo Vorsicht geboten war. Cyprian mahnt in seinem 5. Brief (250 n.Chr.), den er während der decianischen Verfolgung aus einer unbekannten Zufluchtsstätte in der Nähe von Karthago an den dortigen Klerus schreibt, der mit seiner Vertretung beauftragt ist, die Gefängnisbesucher aus den Gemeinden zu Zurückhaltung und Vorsicht. Er legt ihnen gleichzeitig die Unterstützung der Gefangenen ans Herz und gibt Anweisungen für die Durchführung ihres Beistandes: „Sorgt also dafür und seht zu, daß diese Besuche mit Maß und dadurch in umso größerer Sicherheit stattfinden! Auch die Priester, die dort bei den Bekennern das Opfer darbringen, sollen je mit einem Diakon der Reihe nach abwechseln; denn ein solcher beständiger Wechsel in der Person der Besucher vermindert das Mißtrauen (der Heiden). Unsere Pflicht ist es ja, uns willig in die Zeitverhältnisse zu schicken, für Ruhe zu sorgen und auf das Wohl des Volkes bedacht zu sein" 6 0 . Die Christen haben ihre gefangenen Brüder neben dem Besuch mit einer Anzahl äußerer Hilfen unterstützt. Daneben trat der geistliche Trost. Wir finden in der Sorge um gefangene Märtyrer zum erstenmal so etwas wie eine parallel laufende Durchführung von Gefangenenfürsorge und -seelsorge. Dieser Differenzierung entsprechend sollen jetzt zunächst die Hilfen dargestellt werden, die dem äußeren Wohl der Gefangenen dienten, also der fürsorgerische Aspekt. Anschließend werden wir uns mit Texten befassen, die uns ein Bild vermitteln von dem geistlichen Trost, den die Christen den gefangenen Brüdem spendeten, also dem seelsorgerlichen Aspekt. Die sehr frühe Schilderung eines Nichtchristen, des Lukian, gibt uns Aufschluß über den Eifer, mit dem die ersten Christen ihre Brüder im Gefängnis versorgten, und über die Vielfalt ihrer Hilfen. Lukian beschreibt in einer satirischen Darstellung die Sorge der Christen um einen gewissen Peregrinos, der von ihnen fälschlicherweise für ihresgleichen gehalten wird und sich auch als Christ ausgegeben hat, weshalb er in Haft genommen wurde. Hier wird das Ziel, den Gefangenen loszukaufen, zuerst genannt. Das scheint das Hauptanliegen gewesen zu sein. Darüber hinaus wird Peregrinos mit Essen versorgt, und man besucht ihn und leistet ihm Gesellschaft. Um das zu ermöglichen, war, wenn man Lukian in diesem Punkt Glauben schenken kann, sogar das

60

Cyprian: 5. Brief, 2. In: CSEL, S. Thasci Caecili Cypriani opera omnia, Vol. III, Pars II, S. 4 7 9 .

133

Mittel der Bestechung recht. Für das geistliche Wohl des Peregrinos wurde ebenfalls gesorgt, m a n verlas im Gefängnis heilige S c h r i f t e n 6 1 . Die Fürsorge für die gefangenen Glaubensbrüder bezweckte, soweit dies möglich war, eine völlige Freilassung der gefangenen Brüder. Die Befreiung der G e f a n g e n e n 6 2 geschah in erster Linie durch Loskauf. Die Apostolischen K o n s t i t u t i o n e n e r m a h n e n die Priester, „zur Losk a u f u n g der Heiligen" 6 3 Geld im Volk zu sammeln. An anderer Stelle heißt es d o r t : „Denen aber, welche u m Christi willen von den Gottlosen verfolgt u n d ins Gefängnis geworfen oder z u m T o d e oder zur Verb a n n u n g verurteilt w u r d e n , k o m m t mit allem Eifer zu Hilfe, damit ihr eure Glieder aus den Händen der Gottlosen b e f r e i t " 6 4 . Schon bei Hippolyt lesen wir, daß eine f r o m m e Frau durch ihr Drängen auf Erstellung eines Freilassungsdekrets beim Bischof die Entlassung gefangener Glaubensbrüder aus den sardinischen Bergwerken erwirken k o n n t e 6 5 . Ob dies durch Loskauf oder einfach durch persönlichen Einfluß geschah, ist allerdings nicht überliefert. Was die Begründung dieses Anliegens, gefangene Christen loszukaufen, b e t r i f f t , so wird immer wieder das Leib-Christi-Sein der Kirche (Soma· Bild) genannt. In den Apostolischen K o n s t i t u t i o n e n klingt es an, w e n n von „euren G l i e d e r n " 6 6 die Rede ist. Von Cyprian liegt uns eine ausführliche Begründung in seinem 62. Brief vor, in dem es allerdings nicht speziell u m den Loskauf von Glaubensgefangenen geht, sondern u m den Loskauf von gefangenen Christen über61

Lukian von Samosata: Das Lebensende des Peregrinos, a.a.O., S. 477ff.: „Als er nun im Gefängnis war, hielten das die Christen für ein Unglück und setzen alle Hebel in Bewegung, um ihn loszubekommen. Dann wurde, da das nicht möglich war, seine Pflege im übrigen zur Gänze nicht nebenbei, sondern mit Eifer durchgeführt, und gleich am frühen Morgen konnte man beim Gefängnis alte Weiblein stehen sehen, einige Witwen und Waisenkinder, die Vorsteher der Christen schliefen sogar drinnen mit ihm, da sie die Gefängniswärter bestochen hatten. Dann wurden vielerlei Speisen hineingebracht und heilige Schriften derselben vorgetragen . . . Sie legen aber eine unglaubliche Schnelligkeit an den Tag, wenn etwas derartiges die Gemeinde trifft; kurz gesagt, sie kennen da kein Sparen. So kamen also dem Peregrinos damals aus dem Grunde seiner Haft viele Gelder von ihnen zu . . . Dann hat ihr erster Gesetzgeber sie überzeugt, daß sie einander Brüder seien". 62 Den allgemein gehaltenen Begriff des „Befreiens" finden wir bei Aristides, Apologie XV, 18, a.a.O. 63 Apost. Konst. IV, 9, a.a.O., S. 231. 64 Apost. Konst. V, 2, a.a.O., S. 145. 65 Hippolyt: Die Widerlegung aller Häresien (Philosophumcna) IX, 12. In: GCS Bd. 26, Hippolyt III, Leipzig 1916, S. 246ff. «« S.o.

134

haupt. Wir gehen dennoch an dieser Stelle auf diesen Text ein, da wir ihm wesentliche Argumente für den Loskauf entnehmen. Cyprian hat diesen Brief im Jahr 253 geschrieben. Damals waren Barbaren in Numidien eingefallen und hatten eine größere Zahl von Christen gefangengenommen und fortgeschleppt. Als Cyprian davon Nachricht erhalten hatte, beschaffte er sofort durch eine Sammlung unter den Gläubigen die Mittel zum Loskauf der Gefangenen. Im 62. Brief setzt er nun acht numidische Bischöfe von dem Erfolg seiner Aktion — 100000 Sesterzen — in Kenntnis und schickt ihnen das Geld 6 7 . Cyprian zieht gleich am Anfang seines Briefes das Sorna-Bild heran und zitiert l.Kor. 12,26: „Wenn ein Glied leidet, leiden auch die übrigen Glieder, und wenn ein Glied sich freut, so freuen sich mit ihm auch die übrigen". Hier liegt die eigentliche Motivation für Cyprians intensiven Einsatz: „Daher müssen auch wir jetzt die Gefangenschaft der Brüder als die unsrige ansehen und den Schmerz der Gefährdeten als unseren Schmerz betrachten; denn wir sind ja doch zu einem Leib vereinigt, und nicht nur die Liebe, sondern auch die Frömmigkeit muß uns dazu anspornen und stärken, die Glieder der Brüder loszukaufen" 6 8 . Die Bezeichnungen der Gefangenen bei Cyprian steigern sich: sie sind „Tempel Gottes" 6 9 ; in ihnen ist Christus 70 . So kann Cyprian mit überschwenglichen Worten schreiben: „Ihn also, der uns aus dem Rachen des Teufels herausgezogen hat, der jetzt selbst in uns bleibt und wohnt, ihn müssen wir den Händen der Barbaren entreißen und durch eine Geldsumme auslösen, wie er uns durch sein Blut am Kreuze erlöst hat". Sowohl die Interpretation der aktuellen Situation als Glaubensprobe als auch eine starke Identifizierung mit den Leiden der Gefangenen bestärken Cyprian in seinem Eifer: „Denn dies alles läßt er einstweilen nur deshalb geschehen, um unseren Glauben zu prüfen und zu sehen, ob ein jeder für seine Nächsten das tut, was er für sich getan wissen möchte, wenn er selbst bei den Barbaren gefangen gehalten würde" 7 1 . — Auch Cyprian beruft sich auf Matth. 25, und er zieht aus diesem Text die Gewißheit, für dies gute Werk vom Herrn den Lohn zu empfangen 7 2 . In vielen Fällen gelang es nicht oder war es von vornherein unmöglich, die gefangenen Brüder zu befreien. Dann blieb aber die Aufgabe, ihnen «7 Einleitung zum 62. 68 Cyprian, 62. Brief, 6» Ders.: 62. Brief, 3, ·» Ebd. 7) Ebd. Ders.: 62. Brief, 4,

Brief von Cyprian, BKV 60, München 1928, S. 6 0 4 . 1, a.a.O., S. 6 9 8 . a.a.O., S. 6 9 9 .

a.a.O., S. 700.

135

Unterstützung für ihren alltäglichen Bedarf zukommen zu lassen 73 . Euseb hat in seiner Kirchengeschichte einen Brief des Dionysius, der um 170 Bischof in Korinth war, an den Bischof Soter in Rom überliefert. Dort erwähnt er Hilfssendungen der römischen Gemeinde an die in den Bergwerken lebenden Brüder: „Durch die Gaben, die ihr von jeher geschickt habt ..., erleichtert ihr die Armut der Dürftigen und unterstützt ihr die in den Bergwerken lebenden Brüder" 7 4 . Die materielle Unterstützung fand häufig durch Geldmittel statt 7 5 . In seinem Brief an die Priester und Diakone, die ihn vertreten, legt Cyprian diesen die Unterstützung der gefangenen Bekenner nahe, und zwar in Form einer Verteilung der hierfür eingegangenen Geldmittel 7 6 . Cyprian ließ selber in drei verschiedene Bergwerke leidenden Brüdern aus eigenen Mitteln eines gewissen Quirinus eine größere Geldsumme zukommen 7 7 . Offenbar wurden sowohl kirchliche als auch private Gelder den gefangenen Glaubensbrüdern geschickt. Das geht aus der Einleitung der Schrift Tertullians an die Märtyrer hervor 7 8 . — Nur am Rande sei erwähnt, daß die Gefangenen nicht immer das, was man ihnen brachte, auch annahmen. Von einem gewissen Pionius wird berichtet, daß er das, was ihm von Gläubigen gebracht wurde, ablehnte mit den Worten: „Ich bin oft in großer Not und doch niemandem zur Last gewesen; wie sollte ich nun gezwungen sein, etwas anzunehmen?" 7 9 Hier verquickt sich das asketische mit dem Märtyrerideal. Neben Freikaufungsbemühungen und materiellen Unterstützungen aller Art hatte die Gemeinschaft als solche aber auch eine nicht unwichtige Funktion, um den Gefangenen ihr Schicksal zu erleichtern. Hier ist einmal der schon oben erwähnte Beistand zu nennen, den man denen gewährte, die kurz vor ihrer Hinrichtung standen. Sie wurden bis zu ihrem Ende nicht allein gelassen 80 . Der Besuch in den Kerkern spielte eine große Rolle. Es heißt, daß die Christen sich dort gegenseitig „erheitern" konnten 8 1 . Laktanz begründet die Sorge für Witwen und Waisen damit, daß keiner aus Rücksicht auf Angehörige den Märtyrertod zu 73

Aristides von Athen: Apologie XV, 18, a.a.O. Eusebius: Kirchengeschichte IV, 23,10. In: Eusebius, Bd. II, 1. Teil, a.a.O., Sp. 376f. 75 Tertullian: Apologeticum c. 39. In: CC Series Latina 1, S. 151. 76 Cyprian: 5. Brief, 1, a.a.O., S. 478f. 77 Ders.: 78. Brief, 3, a.a.O., S. 837f. 78 Tertullian: Ad Martyras I, 1. In: CC Series Latina 1, S. 3. 79 Ausgewählte Märtyrerakten, a.a.O., S. 51. «o Eusebius: Kirchengeschichte VI, 3 u. 4, a.a.O., Bd. II, 2. Teil, S. 524ff. 81 Ausgewählte Märtyrerakten, a.a.O., S. 39.

136

umgehen braucht: „Denn Gott, dessen Mildtätigkeit ewig ist, läßt deshalb Witwen und Waisen verteidigen und fördern, damit nicht jemand aus Rücksicht und Mitgefühl auf seine Liebsten gehindert werde, den Tod für Gerechtigkeit und Glauben auf sich zu nehmen, da er weiß, daß er seine Angehörigen Gott zurückläßt und ihnen niemals eine Hilfe fehlen w i r d " 8 2 . Die Sorge für die Hinterbliebenen ist also am Rande mit zur Fürsorge für die gefangenen Brüder zu zählen, da sie diesen vor ihrer Hinrichtung die Sorgen um dieselben abnahm. 3.3.3

Seelsorge und geistlicher Trost für Glaubensgefangene bei Tertullian

Ein schönes Beispiel geistlichen Trostes und christlicher Ermahnung zum Durchhalten an Brüder, die wegen ihres Glaubens gefangen sind, stellt Tertullians Schrift „An die Märtyrer" dar. Tertullian (geb. ca. 1 5 0 / 1 5 5 , + 2 2 2 / 2 2 3 ) , der nach rhetorischen und philosophischen Studien Jurist geworden war, trat um 190 in Karthago in die katholische Kirche ein. Er vertrat ein rigoristisches Christentum, das im Grunde genommen schon zu seiner Zeit veraltet war. So war es auch kein wirklicher innerer Bruch, als er 2 0 7 / 2 0 8 zum Montanismus 8 3 übertrat, bei aller Betonung, die er diesem „Frontwechsel" angedeihen ließ 8 4 . Tertullians Schriften zeichnen sich, worum es auch immer gehen mag, durch eine unerbittliche Konsequenz aus. Seine frühesten Schriften gelten der Verteidigung des Christentums gegen heidnisches Mißtrauen, Verleumdung und Verfolgung 8 5 . Er hat zahlreiche Verfolgungen der Christen in Nordafrika miterlebt, so in den Jahren 180 n.Chr., 194— 198 n.Chr., 199 n.Chr., 2 0 0 - 2 0 3 n.Chr. und 2 1 2 n.Chr. 8 6 . In seiner Apologie verteidigt er mit harten Worten die Unschuld der verurteilten Christen und bekämpft die Unsinnigkeit der gegen sie erhobenen „Deus enim, cuius perpetua dementia est, idcirco viduas pupillosque defendi ac foveri iubet, ne quis respectu ac miseratione pignorum suorum retardetur quominus mortem pro iustitia fideque suscipiat, sed incunctanter ac fortiter subeat, cum sciat se caros suos deo relinquere nec iis umquam praesidium defuturum". Lactantius: Divinorum Institutionum VI, 12. In: CSEL Bd. 2 9 , Wien 1 8 9 0 , S. 5 2 8 f . 8 3 H. Lietzmann: Geschichte der Alten Kirche Bd. II, Berlin u. Leipzig 1 9 3 6 , S. 2 2 6 ; H. Frhr. v. Campenhausen: Lateinische Kirchenväter, S. 5 2 8 f . 8 4 H. Lietzmann, a.a.O., S. 2 2 7 . 8 5 H. Frhr. v. Campenhausen, a.a.O., S. 17. 8 6 K. A. H. Kellner in: Tertullian: Private und katechetische Schriften, übs. u. eingel. von K. A. H. Kellner, München 1 9 1 2 , S. X X V I - X X I X . 82

137

Anschuldigungen: „Wenn der Tiber die Mauern überflutet, wenn der Himmel sich nicht rührt, wenn die Erde sich bewegt, wenn eine Hungersnot, wenn eine Seuche wütet, gleich schreit man: ,Die Christen vor den L ö w e n ' " 8 7 . Er stellt die Situation der Christen hier richtig als die Verwirklichung der klassischen Sündenbockrolle dar 8 8 . Tertullian lebt in einer Zeit, in der es üblich ist, die Christen nur auf Grund ihres Glaubens zu kriminalisieren. In immer neuen Anläufen muß er diese Unterstellung abwehren und darlegen, daß die Christen eben gerade nicht auf der kriminellen Seite stehen: ,,So viele Verbrecher werden euch unter verschiedenen Schuldtiteln zur Untersuchung vorgeführt: wer dort als Meuchelmörder erscheint, wer als Taschendieb, wer als Tempelschänder oder als Verführer oder als Baderäuber, wer von denen wird zugleich als Christ bezeichnet? Oder aber wenn die Christen unter ihrem Christennamen vor Gericht gezogen werden, wer von ihnen ist dann in solcher Weise schuldig wie alle jene Verbrecher? Aus euren Reihen stammen alle die, von deren Seufzen die Bergwerke widerhallen, alle die, mit denen die Tiere der Arena gefüttert werden, alle die, aus denen die Veranstalter der Spiele ihre Verbrecherherden mästen. Keiner, der dort ist, ist Christ — oder aber, wenn er auch noch etwas anderes ist, so ist er nicht mehr Christ" 8 9 . Zwei Dinge sind hier festzuhalten: 1. Tertullian kämpft gegen die ungerechte Kriminalisierung der Christen. 2. Die rigoristische Einstellung Tertullians macht Christentum und Kriminalität zu zwei sich gegenseitig ausschließenden Alternativen. Man muß diese Gesichtspunkte im Auge behalten, um Tertullians Schrift an die Märtyrer richtig zu verstehen, die innere und die äußere Notwendigkeit, die für Tertullian bestand, „immer die radikalsten Lösungen und die strengsten Positionen für die besten und für die eigentlich christlichen" zu halten 9 0 . Die Situation des Tertullian ist — kurz gesagt — die des Kampfes, und er ist getragen von der Gewißheit, am Sieg teilzuhaben: „Alle seine Werke . . . bekämpfen einen Gegner, und alle enden mit seiner restlosen Vernichtung" 9 1 . Tertullian: Apologeticum 40, 2. In: CC Series Latina 1, S. 153. G. W. Allport nennt dieses Zitat Tertullians als einleitendes Beispiel zu seinen Ausführungen über die Wahl des Sündenbocks. G. W. Allport: Die Natur des Vorurteils, hrsg. u. kommentiert von C. F. Naumann, Köln 1971, S. 250. 89 Tertullian: Apologeticum 44, 1 - 3 . In: CC Series Latina 1, S. 158f. Ό H. Frhr. ν. Campenhausen, a.a.O., S. 28. 91 H. Lietzmann, a.a.O., S. 224.

87 88

138

Um das Jahr 202 n.Chr. verfaßte Tertullian die Schrift „An die Märtyrer". Es ist eine Trostschrift, die er an eine Gruppe seiner Katechumenen während der Severianischen Verfolgung in den Kerker schickte 9 2 . Tertullian war als theologischer Laie Lehrer der Katechumenen (er redet diese als „Benedicti" an) 9 3 . — Er selber bezeichnet diese Schrift als „eine Gabe von mir zur Stärkung des Geistes". Er weiß darum, daß den gefangenen Brüdern schon materielle Hilfe von der Gemeinde zugekommen ist, aber noch wichtiger ist für ihn der geistliche Trost: „Den Leib zu pflegen und den Geist darben zu lassen, wäre nicht gut; oder besser gesagt, wenn das, was schwach ist, gepflegt wird, so darf das, was noch schwächer ist, nicht vernachlässigt werden" 9 4 . Der Kerker hat für Tertullian die Bedeutung eines Kampf- und Kriegsschauplatzes: „Ich gebe zu, Gesegnete, daß hienieden der Kerker auch für Christen eine Plage sei. Wir sind zum Kriegsdienste des lebendigen Gottes berufen schon dann, wenn wir die Worte des Fahneneides nachsprechen" 9 5 . Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist die feste Überzeugung von einer inneren Freiheit, der äußere Gefangenschaft nichts anhaben kann. „Der Christ . . . hat, auch nicht im Kerker befindlich, der Erde entsagt, im Kerker auch noch dem Kerker" 9 6 . So besteht Tertullians seelsorgerlicher Rat an die gefangenen Märtyrer auch in erster Linie darin, diese den Christen eigentümliche innere Freiheit zu pflegen und zu erhalten: „Reise im Geiste umher, lustwandle im Geiste, ohne dir schattige Promenaden oder lange Säulenhallen als Ziel zu setzen, sondern den Weg, der zu Gott führt. So oft du diesen im Geiste wandelst, wirst du nicht im Kerker sein. Nichts spürt das Schienenbein an seiner Sehne, wenn der Geist im Himmel ist. Der Geist trägt den ganzen Menschen und nimmt ihn mit sich, wohin er will" 9 7 . Der Kerker wird von Tertullian als exemplarisch für die Welt angesehen. Er ist „eine Wohnung des Teufels, worin er seine Angehörigen beisammen hat". Die Märtyrer sind dort hineingekommen, damit sie ihn „in seinem eigenen Hause" überwinden 9 8 . Der Unterschied zwischen der Welt draußen und drinnen im Kerker ist nur sehr relativ: „Denn, wenn wir uns daran erinnern, daß die Welt selbst vielmehr ein Kerker ist, so wer92 93 94 95 96 97 98

Κ. Α. H. Kellner, a.a.O., S. XL. A.a.O., S. XXXVIII. Tertullian: Ad Martyras I, 1. In: CC Series Latina 1, S. 3. A.a.O., Ill, 1, S. 5. A.a.O., II, 5, S. 4. A.a.O., II, 9f., S. 5. A.a.O., I, 4 , S. 3.

139

den wir erkennen, daß ihr vielmehr aus einem Kerker herausgegangen als in einen Kerker eingetreten seid. Was die dort herrschende Dunkelheit betrifft, so gibt es in der Welt eine noch größere, die nämlich, welche die Herzen der Menschen blind macht" 9 9 . Und so kann Tertullian auch ganz euphemistisch sagen: „Schaffen wir den Namen Kerker ganz ab, nennen wir ihn Ort der Zurückgezogenheit" 1 0 0 . Tertullian wird nicht müde, seinen Adressaten aufzuzählen und darzulegen, welche Vorteile der Kerker sogar bringt. „Ketten — legt die Welt noch schwerere an, solche, welche die Seelen sogar fesseln. Unsaubere Dünste — haucht die Welt noch schlimmere aus, die Wollüste der Menschen. Schuldige — enthält die Welt schließlich noch in größerer Zahl, nämlich das ganze Menschengeschlecht. Verurteilung endlich — hat sie nicht vom Prokonsul, sondern von Gott zu erwarten. Darum, Gesegnete, haltet euch höchstens für solche, die aus einem schweren Kerker in einen leichten Gewahrsam versetzt sind. Er hat zwar seine Finsternisse, aber ihr selbst seid das Licht; es gibt dort Ketten, aber ihr seid frei vor G o t t ; es ist dort eine dumpfige Ausdünstung, aber ihr seid ein Wohlgeruch; es wird zwar ein Richter erwartet, aber ihr seid diejenigen, welche über die Richter selbst richten werden" 1 0 1 . So ist es seine feste Überzeugung, daß „der Geist im Kerker . . . mehr gewinnt, als das Fleisch einbüßt" 1 0 2 . Er vergleicht das Leben in der Welt und im Kerker. Er zählt Dinge auf, die den Christen der damaligen Zeit in seiner Umgebung anwiderten. Der Kerker schützt gleichsam vor ihrem Anblick oder der unmittelbaren Konfrontation mit ihnen: fremden Göttern, heidnischen Festen, Opferdünsten, Spielen etc. 1 0 3 Die Vorteile, die der Kerker dem Christen gewährt, sind „dieselben Vorteile wie die Wüste den Propheten" 1 0 4 . Der Kerker wappnet die Christen im voraus gegen die letzten Zeiten. Er ist eine „Schule", und der Christ verrichtet dort „nur einen schuldigen Dienst", nämlich „als einer, der umso zuversichtlicher aus dem Gefängnis zum Kampfe schreitet, da er schon ganz aufgebraucht ist und gar kein Fleisch mehr an sich hat, so daß die Folter kein Objekt mehr findet . . . , der sein Blut schon im voraus vergossen hat, als wäre es ein Hindernis für seine Seele, die auch selbst sich schon beeilt, den Körper

99 A.a.O., II, If., S. 4. "» A.a.O., 101 A.a.O., 102 A.a.O., κ» A.a.O., 104 A.a.O.,

140

II, II, II, II, II,

8, S. 2-4, 6, S. 7, S. 8, S.

5. S. 4 4. 4. 4.

zu verlassen, da sie durch häufiges Fasten mit dem Tode schon ganz nahe Bekanntschaft gemacht hat" 1 0 5 . Gemäß dieser Einstellung schreibt Tertullian den Märtyrern: „Was daran nun auch Hartes ist, das haltet, hochgepriesene Märtyrer, für eine Übung in den Tugenden des Geistes und Körpers" 1 0 6 . Noch deutlicher wird diese asketische Geringschätzung der leiblichen und irdischen Existenz in der Schrift über die Auferstehung der Toten: „Nun sag, was du über das Fleisch denkst, wenn es für den Glauben an den Namen in die Öffentlichkeit gezerrt wird und, dem öffentlichen Haß ausgesetzt, kämpft, oder wenn es in Gefängnissen zerstückelt wird bei finsterem Entzug des Lichtes, bei Mangel an Waschgelegenheit, bei Dreck und Gestank und bei schmählicher Kost, nicht einmal im Schlafe frei, da es selbst auf der Schlafstätte besiegt wird und selbst von der Unterlage her zerfleischt wird, wenn es dann auch beim Licht durch jegliche Mißhandlung von Foltern zerfetzt wird, wenn es dann schließlich bei der Hinrichtung getötet wird, wobei es sich bemüht, Christus gleichzukommen, indem es für ihn selber stirbt, und zwar häufig durch dasselbe Kreuz oder sogar durch schlimmere Arten von Strafen?" 1 0 7 Der Heilige Geist hat die Gefangenen in den Kerker geleitet, seine Gemeinschaft gilt es zu erhalten 1 0 8 . Und Tertullian kann seine Adressaten trösten mit dem großen Gewinn, der ihnen verheißen ist: „Und wenn ihr auch einige Lebensfreuden verloren habt, so ist es ja ein Handelsgeschäft, etwas verlieren, um größeres zu gewinnen" 1 0 9 . Tertullian zieht eine deutliche Grenze zwischen Kirche und Welt, nicht zwischen bürgerlicher Welt und Kriminellen. Kriminelle, die Insassen der Kerker, sofern es nicht die Christen sind, gehören zur Welt, von der man sich als ganzer rigoristisch absetzt. Das Problem der Verantwortung gegenüber kriminellen Gefangenen konnte noch nicht ins Blick-

Ders.: De Ieunio XII, 2. In: CC Series Latina 2, S. 1270. 106 Ders.: Ad Martyras III, 3, S. 5. 107 Ders.: De resurrectione mortuorum VIII, 5. In: CC Series Latina 2, S. 931f.: „Age iam, quid de ea sentis, cum pro nominis fide in medium extrada et odio publico expósita decertat, cum in carceribus maceratur teterrimo lucis exilio penuria mundi sqalore paedore contumelia victus, ne somno quidem libera, quippe ipsis etiam cubilibus viñeta ipsisque stramentis lancinata, cum iam et in luce omni tormentorum machinatione laniatur, cum denique subpliciis erogatur, enisa reddere Christo vicem moriendo pro ipso, et quidem per eandem crucem saepe, nedum per atrociora quoque ingenia poenarum?" Ders.: Ad Martyras I, 3, a.a.O., S. 3. κ» A.a.O., II, 6, S. 4.

141

feld geraten, er war absorbiert vom Kampf gegen die Kriminalisierung der Christen durch die heidnische Umwelt. 3.3.4

Seelsorge und geistlicher Trost für Glaubensgefangene bei Cyprian

Ein besonders intensives und warmherziges seelsorgerliches Bemühen um das leibliche (s.o.) und vor allem das geistliche Wohl der in den Christenverfolgungen gefangengenommenen Glaubensbrüder hat sich in einigen Briefen Cyprians (5., 6., 37., 62. und 7 6 . - 7 9 . Brief) niedergeschlagen. Cyprian (210/215—258), Bischof von Karthago, war schriftstellerisch und theologisch von Tertullian abhängig, sah allerdings ab von den rigoristischen Übertreibungen seines „Lehrers" 1 1 0 . Während der Decischen Verfolgung gelang es Cyprian, einen sicheren Zufluchtsort zu finden, an dem er während der ganzen Verfolgung geschützt war. Während seiner Abwesenheit, über die offenbar sehr unterschiedlich geurteilt wurde — und zwar nicht immer ohne Zweifel an der Lauterkeit seiner Motive zur Flucht 1 1 1 — behielt er die Leitung der Gemeinde in der Hand und gab die entscheidenden Weisungen brieflich weiter 112 . Im Briefwechsel Cyprians ist uns daher u.a. eine wichtige Quelle für die Geschichte der Decischen Verfolgung erhalten geblieben. Cyprian, der „die Sprache des erfahrenen Gemeindepredigers" 113 spricht und in dessen Kirche „praktisches Christentum" 1 1 4 geübt wurde, war während seiner Abwesenheit von der Gemeinde insbesondere auch um die Betreuung der Eingekerkerten besorgt. Er schrieb ihnen mehrfach Trostbriefe und schickte ihnen von seinem Vermögen Geld (s.o.) 1 1 5 . Einen guten Eindruck von Cyprians tröstenden Bemühungen um die gefangenen Brüder vermitteln uns vor allen Dingen der 6., der 37. und der 76. Brief sowie die Antworten hierauf ( 7 7 . - 7 9 . Brief). Den 6. Brief schrieb er im Frühjahr 250 von seinem Zufluchtsort aus an die Bekenner im Gefängnis zu Karthago 116 . Gegen Ende desselben Jahres war ein junger Christ namens Celerinus wieder aus dem Gefängnis ent1 1 0 K. Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, 13. erg. Aufl., Tübingen 1971, S. 83. 111 H. Frhr. v. Campenhausen, a.a.O., S. 41. 112 H. Lietzmann, a.a.O., S. 2 3 0 . 1 1 3 H. Frhr. v. Campenhausen, a.a.O., S. 47. iw A.a.O., S. 48. us H. Lietzmann, a.a.O., S. 2 3 1 . 116 Einleitung zum 6. Brief Cyprians in: Bibliothek der Kirchenväter Bd. 60, München 1928, S. 3 7 1 .

142

lassen worden. Wieder in Karthago eingetroffen berichtete er seinem Bischof Cyprian von der großen Verehrung, die ihm die römischen Bekenner entgegenbrachten. Der 37. Brief, geschrieben gegen Ende des Jahres 250, ist die Reaktion Cyprians auf diese Nachricht, die ihn mit großer Freude erfüllte 1 1 7 . Einige Jahre später, während der Valerianischen Verfolgung, wurden viele Gläubige in die Bergwerke gesteckt. Mühsam konnte Cyprian einen brieflichen Kontakt zu ihnen aufrechterhalten. Aus dieser Zeit stammt der 76. Brief, den Cyprian im Herbst 257 verfaßt hat 1 1 8 . In den Einleitungen seiner Briefe bringt Cyprian immer wieder bedauernd zum Ausdruck, daß ein persönlicher Kontakt zwischen ihm und den gefangenen Adressaten nicht möglich ist. Er versucht, sich und den gefangenen Brüdern über diese notvolle Situation hinwegzuhelfen, indem er betont, daß er doch ,,in der Liebe und im Geiste" 1 1 9 zu ihnen kommt, daß der Brief quasi sein „Stellvertreter" 1 2 0 ist. Und er betont die innige Verbundenheit miteinander durch sein Mit-Leiden: „Mit euch zusammen schmachten auch wir gewissermaßen dort im Kerker" 1 2 1 . Die gemeinsame Verbundenheit tritt noch stärker hervor in der Betonung der gegenseitigen Fürbitte füreinander. Cyprian schließt die gefangenen Brüder in sein Gebet ein: „Wir . . . gedenken euer Tag und Nacht, und wenn wir beim Opfer mit mehreren zusammen unser Gebet verrichten, aber auch wenn wir allein sind und nur für uns beten, dann flehen wir zum Herrn um seine volle Gnade für eure Krone und euren R u h m " 1 2 2 . Ihm liegt freilich genauso sehr an der Fürbitte der Bekenner für seine Person. Er scheint geradezu darum zu bitten, wenn er schreibt: „Mehr gebt ihr, wenn ihr unser im Gebete gedenkt, ihr, die ihr bereits nur noch Himmlisches hofft . . ," 1 2 3 . Hier klingt denn auch schon an, was an anderen Stellen seiner Briefe noch deutlicher wird, Cyprians uneingeschränktes und stolzes Lob für die Bekenner. Geradezu überschwenglich kann er schreiben: „Wie glücklich der Kerker, den eure Gegenwart verherrlicht hat! Wie glücklich der Kerker, der die Männer Gottes zum Himmel sendet!" 1 2 4 Und an anderer 117 1,8 119 120 121 122 123 124

Cyprian: 37. Brief, Einleitung in Β KV 60, S. 4 7 2 f . Cyprian: 76. Brief, Einleitung in BKV 60, S. 746. Cyprian: 76. Brief, 1. In: CSEL III, 2, S. 8 2 8 . Ders.: 6. Brief, 1, a.a.O., S. 4 8 0 . Ders.: 37. Brief, 1, a.a.O., S. 5 7 6 . Ebd. Ebd. Ders.: 6. Brief, 1, a.a.O., S. 4 8 0 f .

143

Stelle: „Was Wunder vollends, wenn man euch als goldene und silberne Gefäße ins Bergwerk, das heißt: an die Fundstätte des Goldes und Silbers, bringen ließ!" 1 2 5 Auch die ganz konkrete Bewältigung des Leidens im Kerker wird Gegenstand seines Lobes: „Den Hunger überwindet ihr, des Durstes spottet ihr, und über den starrenden Schmutz des Kerkers und den Greuel der Stätte eurer Pein setzt ihr euch mit Heldenkraft hinweg" 1 2 6 . Und immer wieder wird die Ausdauer der Bekenner thematisiert: , J e langwieriger der Kampf ist, desto erhabener ist die Krone" 1 2 7 . Jeder neue Entschluß, standhaft zu bleiben, ist ein neues Bekenntnis: „Ihr bekennt jedesmal, sooft ihr auf die Aufforderung, den Kerker zu verlassen, in eurem mutigen Glauben dem Kerker den Vorzug gebt" 1 2 8 . Cyprian wird nicht müde, einen Sinn des gegenwärtigen Leidens aufzuzeigen. Da ist zunächst die Wirkung auf die übrigen Kerkerinsassen·. „die in eurem Herzen und Sinn widerstrahlende Herrlichkeit Christi erleuchtete die für andere so schreckliche und schauerliche Finsternis am Orte der Pein mit jenem ewigen und reinen Lichte" 1 2 9 . Und noch wichtiger ist wohl die Tatsache, daß sie zur Stärkung des Glaubens der übrigen Brüder beitragen („ihr, die ihr . . . den wankenden Glauben vieler durch euer wahres Martyrium befestigt habt" 1 3 0 ). Die übrigen Gemeindeglieder werden durch ihr Leiden ebenfalls zum Martyrium angefeuert: „Und um es als Muster alles Guten bei euch ja án nichts fehlen zu lassen, feuert ihr auch jetzt mit dem Bekenntnis eures Mundes und durch das Leiden eures Körpers die Herzen der Brüder zum göttlichen Martyrium an und erweist euch durch eure Heldentaten als Führer, damit die Herde für die gleichen Verdienste des Gehorsams vom Herrn gekrönt wird, indem sie ihren Hirten nachfolgt und nachahmt, was sie ihre Vorsteher tun sieht" 1 3 1 . Aber nicht nur in diesen Auswirkungen liegt der Sinn ihres Lebens, sondern auch in dem zukünftigen Lohn, den sie dafür empfangen werden. Schon jetzt, empfiehlt ihnen Cyprian, sollen sie sich nur dahin orientieren: „Nicht an den Tod, sondern an die Unsterblichkeit denke ein jeder und nicht an die zeitliche Pein, sondern an die ewige Herrlichkeit" 1 3 2 . 125

12« 127 im 12» 130 131

Ders.: Ders.: Ebd. Ders.: Ders.: Ders.: Ders.:

144

76. Brief, 2, a.a.O., S. 829. 37. Brief, 3, a.a.O., S. 578. 37. 37. 37. 76.

Brief, Brief, Brief, Brief,

1, 2, 4, 1,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. S. S. S.

576f. 577. 476. 828f.

Die Geringschätzung der irdischen Strafen ergibt sich als Konsequenz aus dieser Hoffnung: „Wenn ihr also bedenkt, daß ihr mit Christus, dem Herrn, richten und herrschen werdet, dann rnüßt ihr doch frohlocken und voll Freude über das Zukünftige die gegenwärtigen Strafen geringschätzen; denn ihr wißt ja, daß es schon von Anbeginn der Welt so üblich ist, daß die Gerechtigkeit hienieden im Kampfe mit der Welt zu leiden hat" 1 3 3 . Cyprian findet immer neue Worte, um seinen Adressaten die Alternative von irdischer Existenz und himmlischem Lohn gegenüberzustellen und um zu zeigen, daß der Geist sich nicht durch den Körper binden läßt 134 . Im 37. Brief führt er überschwenglich aus, wie „der Zeiten Wechsel durch geistliche Verdienste und himmlische Belohnungen gefeiert" 1 3 5 wird. Der bis zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes bereits über ein Jahr andauernde Aufenthalt im Kerker wird von Cyprian in bilderreicher Sprache mit dem Jahreszeitenablauf verglichen: Die Stürme der Verfolgungszeit entsprechen der stürmischen Winterszeit, der Frühling wird mit den Wonnen des bevorstehenden Paradieses verglichen, die Ernte des Sommers mit dem Ruhm der Märtyrer und die Kelter im Herbst mit den Qualen des Kerkers, der Wein mit ihrem Blut 1 3 6 . Neben den guten Auswirkungen ihres standhaften Leidens auf Kerkerinsassen wie Gemeindeglieder und neben dem ausstehenden himmlischen 132 Ders.: 6. Brief, 2, a.a.O., S. 481. ι » Ebd. ι 9 4 „Mag hier neidische oder böswillige Grausamkeit euch gefesselt oder gebunden halten, soviel sie will, rasch werdet ihr von dieser Erde und aus dieser Pein hier ins Himmelreich gelangen. Weder Bett noch Polster erquickt in den Bergwerken euren Körper, wohl aber die Labung und der Trost Christi. Auf dem harten Boden liegt der von der Arbeit erschöpfte Leib; aber es ist keine Pein, im Liegen mit Christus vereint zu sein. Ohne Bad starren die von Unsauberkeit und Schmutz entstellten Glieder; aber was äußerlich in fleischlichem Sinne befleckt wird, das wird innerlich im geistigen Sinne abgewaschen. Brot gibt es dort nur wenig; aber ,der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern vom Worte Gottes'. Den Frierenden fehlt es an Kleidung; wer aber Christus angezogen hat, der ist vollauf mit Kleidern versehen. Wirr sträubt sich das Haar des halbgeschorenen Kopfes empor; da aber Christus das Haupt des Mannes ist, so muß jenem Haupt alles gut stehen, weil er durch den Namen des Herrn ausgezeichnet ist. All diese in den Augen der Heiden abscheuliche und häßliche Entstellung — mit welchem Glänze wird sie aufgewogen werden! Diese zeitliche und kurze Pein — mit welch herrlicher und ewiger Ehre wird sie belohnt und vergolten werden, wenn einst der Herr nach dem Worte des seligen Apostels den Leib unserer Niedrigkeit nach dem Bilde seines verklärten Leibes umgestalten wird!" Cyprian: 76. Brief, 2, a.a.O., S. 829f. 135 Ders.: 37. Brief, 2, a.a.O., S. 578. 13« Ders.: 37. Brief, 2, a.a.O., S. 577f. 10 Stubbe, Seelsorge

145

Lohn liegt ein weiterer Trost in der Identifizierung ihres Leidens mit dem Tun Gottes. Es ist ein Leiden in der Nachfolge, das sie durchzustehen haben, darum ein Leiden, das jeder gern auf sich nehmen wird 137 . So kann auch jeder von ihnen „zwar dem Leibe nach als Gefangener, aber der Seele nach als Herrscher" 1 3 8 durch den Kerker gehen. Die eigentliche Bewältigung des Kerkeraufenthaltes liegt also in der totalen Entrückung von der Welt: „Da herrscht nur Gottes Wille, und obwohl ihr noch im Fleische wandelt, so ist doch das Leben, das ihr führt, nicht mehr das der gegenwärtigen, sondern das der zukünftigen Welt" 139. Cyprian hat offenbar die richtigen Worte für seine Brüder gefunden. Sein Trost wurde dankbar aufgenommen und als Hilfe empfunden. Das kommt in einem Antwortschreiben an Cyprian zum Ausdruck, wo es heißt: „Beim Lesen dieses Briefes empfanden wir Erleichterung in unseren Fesseln, einen Trost in unserer Drangsal und eine Hilfe in unserer Not, und wir fühlten uns ermuntert und noch stärker ermutigt, selbst wenn noch weitere Pein uns erwarten sollte" 1 4 0 . Cyprian hatte nach dieser Antwort auch das richtige Einfühlungsvermögen, um wahrzunehmen, wo sie sich schwach fühlten: „Denn durch deine Worte hast du auch das, was in uns weniger gerüstet war, gewappnet und gestärkt, um die Leiden zu ertragen, die wir erdulden in sicherer Erwartung des himmlischen Lohnes und der Märtyrerkrone und des Reiches Gottes auf Grund der Weissagungen, die du in deinem Briefe des Heiligen Geistes voll verkündigt hast" 1 4 1 . — Aus einem anderen Antwortschreiben geht hervor, daß es ihm auch gelungen ist, sie in der Geringschätzung der irdischen Existenz zu bestärken und zu unterstützen: „Deshalb sagen dir, teuerster Cyprianus, die mit uns Verurteilten vor Gott den innigsten Dank dafür, daß du durch deine Briefe die leidenden Herzen erquickt, die durch Schläge verwundeten Glieder geheilt, die mit Fesseln gebundenen Füße gelöst, die Halbgeschorenen wieder mit Haaren geschmückt, die Finsternis des Kerkers erleuchtet, die Hügel des Bergwerks geebnet, daß du auch der Nase duftende Blumen dargereicht und den schrecklichen Geruch und Brodem verscheucht hast" 1 4 2 . Wir fassen noch einmal zusammen, wie Cyprian seine im Kerker oder in den Bergwerken gefangenen Brüder tröstet:

137 Oers.: 76. Brief, 4, a.a.O., S. 8 3 1 . 138 139 140 Mi 142

Ders.: Ders.: Ders.: Ders.: Ders.:

146

76. 37. 78. 78. 77.

Brief, Brief, Brief, Brief, Brief,

7, 3, 1, 2, 3,

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. S. S. S. S.

833. 578. 836. 837. 835.

1. 2. 3. 4.

Er betont die innere Verbundenheit mit ihnen; er schildert sein Mit-Leiden; er versichert sie seiner Fürbitte; er lobt ihre Standhaftigkeit und Ausdauer und ermutigt sie, weiterhin durchzuhalten ; 5. er gibt den Leiden einen Sinn: a) Wirkung auf Mitgefangene und Gemeinde, b) himmlischer Lohn; 6. er interpretiert ihre Leiden als Nachfolge Christi.

Trost für gefangene Glaubensbrüder besteht bei Cyprian also in erster Linie in Mitleid, Fürbitte, Ermutigung und Sinngebung.

3.4

Die Erschließung des Identifikationsbereichs der Kriminalität bei Ambrosius

Ausgesprochen praxisnahe Äußerungen zum Gefangenenproblem finden wir von kirchlicher Seite zum erstenmal bei Ambrosius. Ambrosius (339—397), aus der stadtrömischen Aristokratie stammend, schlug die Staatslaufbahn ein, wurde Advokat und bereits als 30-Jähriger zum Statthalter der oberitalienischen Provinzen Ligurien und Ämilien ernannt. Sein Amtssitz war Mailand. Mit 35 Jahren fand seine Laufbahn in seiner Ernennung zum Bischof von Mailand (374) eine Wende 143 . Ambrosius' Wesen war gekennzeichnet durch einen „praktisch-politischen Grundzug" 144 . Wo immer er sich über Probleme der Gefangenschaft oder Kriminalität äußert, merkt man, daß hier jemand schreibt, der sich von Berufs wegen mit solchen Fragen zu beschäftigen hatte. Er kennt die Praxis und weiß sie kritisch zu beleuchten. Es ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Äußerungen zum Thema, daß Gefangenschaft auch ein ökonomisches bzw. ein Machtproblem darstellt. Im Zusammenhang verschiedener Ausführungen über die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, die auf der Eintreibung ihrer Schulden bestehen, erwähnt er z.B. folgende Beobachtung: „Ich habe einen Armen wegführen gesehen, als er gezwungen wurde, zu bezahlen, was er nicht hatte, und ihn in den Kerker bringen sehen, weil an der Tafel des Reichen der Wein fehlte, und seine Söhne zum Verkauf bringen sehen, 1 « H. Frhr. v. Campenhausen, a.a.O., S. 79ff. 144 A.a.O., S. 103.

147

damit er die Strafe eine Zeitlang aufschieben könne, um vielleicht jemanden zu finden, der ihm in dieser Notlage zu Hilfe k o m m e " 1 4 s . Er spielt hier offenbar an auf den ungerechten Sachverhalt der Schuldgefangenschaft. Aber auch die Tatsache, daß zu harte Strafen auf Grund bestimmter Machtverhältnisse verhängt werden, scheint ihm bekannt zu sein und von ihm implizit kritisiert zu werden, wenn er schreibt: „Wenn man nämlich einen bedrängten Menschen, der mehr unter der Gewalttat und Machenschaft eines Mächtigen, als unter der verdienten Strafe für ein Verbrechen leidet, befreit, so gewinnt der gute Ruf, in dem man steht" 1 4 6 . — Ganz ungewöhnlich für seine Zeit fordert Ambrosius den Schutz der Arbeitsstelle für Gefangene: „Aber auch derjenige hat Anteil an Christus . . . , der einen Menschen im Gefängnis nicht um dessen eigene Dienststelle betrügt . . ," 1 4 7 . Ambrosius hat selbst die Unterstützung Gefangener unter ökonomischem Gesichtspunkt gesehen: „Schließlich wird ja von uns das Mitleid nicht den Reichen, den Kräftigen und sich auf ihr Glück Stützenden entgegengebracht, sondern den Bedürftigen oder Schwachen oder denjenigen, die aus Reichtum in Armut oder Gefangenschaft oder irgendeine Notlage geraten sind" 1 4 8 . Mit Fragen des Loskaufs Gefangener (in diesem Fall speziell Kriegsgefangener) beschäftigt sich Ambrosius in seiner Schrift „Über die Pflichten der Kirchendiener", der „ersten christlichen ,Ethik'" 1 4 9 . Ambrosius hatte einmal gottesdienstliche Gefäße zerbrechen lassen, um davon Gefangene loszukaufen. Damit hatte er sich heftige Kritik eingehandelt. Er führt nun aus, daß Mitleid und Barmherzigkeit die Beweggründe für solches Handeln sind 1 5 0 . Er betont, daß es zweckdienlicher sei, dem Herrn die Seelen aufzubewahren als das Gold. „Die Kirche besitzt das Gold

145 „Vidi ego pauperum duci, dum cogeretur solvere quod non habebat, trahi ad carcerem, quia vinum deeset ad mensam potentis, deducere in auctionem filios suos, ut ad tempus poenam différé posset, inventum forte aliquem, qui in illa necessitate subveniret"; Ambrosius: De Nabuthae c. 5. In: CSEL Bd. 32, Wien 1897, S. 478. 146 Ders.: De officiis ministrorum II, Cap. 21, 102, a.a.O., Sp. 139. 14 7 „Sed et ille particeps Christi est, qui lugentem maesto solatur affectu, qui in carcere constitutum proprio non defraudai officio". Ders.: Expositio Psalmi CXVIII, 8. In: CSEL Bd. LXII, Leipzig 1913, S. 184. 148 „Denique non divitibus, non fortibus et felicitate subnixis misericordia conferri consuevit a nobis, sed egentibus vel debilibus vel his, qui ex divitiis in paupertatem aut captivitatem aut necessitatem aliquem deciderunt". Ambrosius, a.a.O., S. 167. H. Frhr. ν. Campenhausen, a.a.O., S. 104. "O Ambrosius: De officiis ministrorum II, XXVIII, 136, a.a.O., Sp. 148 und 142, Sp. 150.

148

nicht, um es aufzubewahren, sondern um es aufzuwenden, um den Nöten abzuhelfen" 1 5 1 . Darum rät Ambrosius: „gib den Armen Geld, hilf den Schwachen auf, kaufe die Gefangenen los, und du hast deine Fesseln gelöst" 1 5 2 . In einer Ausführung über die zwei Arten des Gebens, nämlich Freigiebigkeit und Verschwendung, schreibt er: „Freigibigkeit ist es, einen Gast aufzunehmen, einen Nackten zu bekleiden, Gefangene loszukaufen, Dürftige durch eine Geldspende zu unterstützen" 1 5 3 . Der Loskauf Gefangener war Ambrosius ein wesentliches Anliegen. Neben Schuldgefangenen und Kriegsgefangenen beschäftigen Ambrosius nun auch eindeutig kriminelle Strafgefangene. Schutz und Sicherheit werden gegen eine gerechte und effektive Behandlung Krimineller abgewogen: „Wie wenn zum Beispiel jemand einen Räuber, bewegt durch die Bitten seiner Söhne und veranlaßt durch die Tränen seiner Frau, glaubt freilassen zu sollen, in dem die Lust zu rauben noch fortlebt, gibt er da nicht Unschuldige dem Untergang preis, wenn er einen freiläßt, der den Untergang vieler im Sinne hat? Sicherlich, wenn er schon sein Schwert wegsteckt, die Fesseln löst, warum befreit er ihn auch vom Exil? Wieso entreißt er ihm, der er den Wunsch zu rauben nicht entreißen konnte, nicht die Möglichkeit zu rauben auf einem sanfteren Weg, wie es doch möglich i s t ? " l s 4 Die Vorstellung von Kriminalität als triebhaftem Geschehen (,,in dem die Lust zu rauben noch fortlebt"), das nicht ohne weiteres abzustellen ist, wird deutlich. Verschiedene Strafarten im Sinne einer „Behandlung" werden gegeneinander abgestuft: Todesstrafe, Fesseln, Exil oder der „sanftere Weg", den er nicht näher ausführt. Es zeigt sich bei diesen Erwägungen, daß es Ambrosius nicht einfach um vergeltende Strafe geht, sondern um Strafe im Sinne einer sinnvoll bedachten Behandlung. Ambrosius erkennt offenbar, daß zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen kein qualitativer Unterschied besteht, wenn er das Beispiel der Räuberei als Beispiel für Sünde benutzt und gleichsam davon spricht, daß im Verbrechen ein allgemein menschliches Phänomen („Sünde") A.a.O., II, XXVIII, 137, Sp. 148. „Eroga pauperibus, debiles elevato, redime captivos, et solvisti vincula tua". Ambrosius: Expositio Psalmi CXVIII, 8, a.a.O., S. 176. 153 Ambrosius: De officiis ministrorum II, XXI, 109, a.a.O., Sp. 140. 154 „Ut si quis latronem filiis deprecantibus motus et lacrimis coniugis eius inflexus absolvendum putet, cui adhuc latrocinandi adspiret affectus, nonne innocentes tradet exitio qui libérât multorum exitia cogitantem? certe si gladium reprimiti vincla dissolvit, cur laxat exilio? cur latrocinandi qua potest clementiore via non eripit facultatem, qui voluntatem extorquere non potuit?" Ambrosius: Expositio Psalmi CXVIII, a.a.O., S. 165. 152

149

kulminiert. „Das sind also die Bande unserer Vergehen, mit denen wir umschlungen und gefesselt werden, wie es denn eben auch Fesseln von Vergehen gibt. Und daher sagt der Erlöser, der es in der Macht hat, eine Schuld zu vergeben, zu denen, die in Fesseln liegen: Tretet heraus! Möge er auch zu mir sagen: Tritt aus deinen Fesseln heraus, tritt aus den Verstrickungen deiner Verfehlungen heraus, löse die Bande deines Irrtums, von denen du umgeben und umwickelt bist. Obwohl ich nämlich vielleicht der nichtswürdigste und verabscheuenswiirdigste von allen Sündern bin, werde ich dennoch auf seinen Befehl befreit, der in einem einzigen Augenblick einen der Räuberei Angeklagten und Verurteilten aus der Todesstrafe entrissen hat und in sein Reich aufgenommen h a t " 1 5 5 . Er betont den Vorgang der Vergebung und die Angewiesenheit aller darauf. Er führt das Bild der Fesselung fort und zieht Konsequenzen aus dem Zusammenhang zwischen (man könnte auch sagen: der qualitativen Gleichartigkeit von) eigenen Sünden und Verbrechen Krimineller: „Es gibt also Fesseln, von denen wir eingeschnürt werden, obwohl wir uns frei vorkommen. Glücklich, wer sich diese Fesseln gelöst hat! Und deshalb sagt David: Laßt uns ihre Fesseln brechen und ihr J o c h von uns abstreifen. Wir sollen nicht mit der Hand sichtbare Fesseln zerbrechen, sagte er, sondern die unsichtbaren Schlingen der Sünde durch die Umkehr unserer Sitten und das Bekenntnis unseres Glaubens, oder aber doch mit der Hand, das heißt aber, durch eine Tat mit deiner Hand; gib den Armen Geld, hilf den Schwachen auf, kaufe die Gefangenen los, und du hast deine Fesseln gelöst. Das Mitleid nämlich macht frei vom Tod. Errette den, der zum T o d geführt wird, das heißt erlöse ihn durch einen Einspruch, erlöse ihn mit deinem Einfluß, du Bischof, oder du, Kaiser, errette ihn durch eine Gegenzeichnung deiner Huld, und du hast deine Sünde gelöst, du hast dich aus deinen Fesseln b e f r e i t " 1 5 6 . Die Lösung der eigenen „Fesseln"

1 5 5 A.a.O., S. 1 7 5 : ,,hi sunt igitur funes delictorum nostrorum, quibus involvimur et ligamur, quemadmodum sunt et vincula delictorum. et ideo salvator, qui habet in potestate peccatum dimitiere, dicit his qui sunt in vinculis: exite. utinam et mihi dicat: ,exi de vinculis tuis, exi de nexibus peccatorum tuorum, solve funes erroris tui quibus circumdatus et ligatus es', etsi enim nequessimus sim omnium et detestabilissimus peccatorum, ilio tarnen iubente liberor, qui sub uno momento latrocinii damnatum reum supplicio eripuit et constituit in regno suo". 156 A.a.O., S. 175f.: „Sunt ergo vincula quibus constringimur, etsi nobis videamur liberi, beatus qui haec solvit sibi vincula, et ideo David ait: disrumpamus vincula eorum et abiciamus a nobis iugum ipsorum. non manu utique visibilia vincula dicit esse rumpenda, sed invisibiles criminum nexus morum conversione et fidei professione solvendos aut manu, hoc est opera manus tuae. eroga pauperibus, debiles elevato, redime captivos, et solvisti vincula tuae; elemosyna enim a morte libérât, eripe eum qui ducitur ad mortem, hoc est: eripe eum intercessione, eripe gratia tu, sacerdos, aut

150

steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösung fremder Fesseln (Loskauf, bischöfliche Fürsprache, kaiserliche Amnestie). Wir finden hier eine deutliche Entsprechung des Gedankens, daß nicht die Projektion des eigenen „ S c h a t t e n s " oder „ B ö s e n " , sondern dessen Integration zur Vergebung und Versöhnung führt. Der Umgang mit dem „ B ö s e n " des anderen findet seine Entsprechung in dem Umgang mit dem eigenen „ B ö s e n " . Die Erkenntnis der eigenen Vergebungsbedürftigkeit ermöglicht Vergebungsbereitschaft. Einen ausgesprochen seelsorgerlichen Aspekt hat ein Abschnitt, in dem Ambrosius ausführt, was einer im Falle eigener Gefangenschaft tun soll: „Daher haben auch unermüdlich der Apostel Paulus und Silas, als sie ins Gefängnis geworfen worden waren, obwohl sie die Füße in Fesseln hatten, sich mitten in der Nacht erhoben auf der Spur des Geistes, haben den Herrn angebetet und ihm zum Lobe ein Opfer gebracht. Und deshalb war da, wo der Dienst der Verehrung nicht fehlte, auch die Hilfe der Erlösung. Plötzlich nämlich, mitten in der Nacht, trat ein schwerer Erdstoß ein, so daß die Fundamente des Gefängnisses erschüttert wurden. Die Türen gingen auf und alle Fesseln wurden gelöst. Hörst du, wie du, wenn du etwa einmal gefesselt wärest, mit welchen Werken dich selbst freimachen könntest, wie du die Wächter nicht zu fürchten brauchtest? Steh also auf zum Beten. Das ist die Stunde, wo gegen die schweren Versuchungen Hilfe vom Himmel zu kommen pflegt. Wachen mußt du, damit du nicht von irgendeinem Trug besiegt wirst, und dich hüten, daß du nicht zu der Zeit, da du siegen kannst, vergeblich die Gelegenheit zum Sieg vorübergehen l ä ß t " 1 5 7 . Beten und Wachen helfen gegen die Anfechtungen der Gefangenschaft. Ambrosius verheißt für diesen Fall „Hilfe der Erlösung" und „Hilfe vom Himmel". Ob er hier mehr an das Wunder der äußeren Befreiung oder

tu, imperator, eripe subscriptione indulgentiae, et solvisti peccata tua, exuisti te e vinculis tuis". 1 5 7 A.a.O., S. 180f.: „ U n d e non otiose Paulus apostolus et Silas trusi in carcerem, cum in nervo pedes haberent, inedia tamen nocte surgebant mentis vestigio, exorabant dominum et laudis sacrificium deferebant; idioque, ubi non defuit devotionis officium, adfuit etiam absolutionis remedium, subito enim media nocte terrae motus factus est grandis, ita ut m o t a essent fundamenta carceris; valvae apertae, omnium vincula soluta sunt, audis q u e m a d m o d u m , si ligatus fueris, quibus manibus, quibus operibus ipse te solvas, q u e m a d m o d u m custodes timere non possis? surge igitur ad precandum. ea hora est, qua temptator nocere consuevit et nequitia consuevit inruere; ea hora est, qua solet ad versus temptationes graves remedium venire caeleste. excub a n d u m tibi est, ne qua fraude vincaris, providendum, ut eo tempore quo potes vincere nequaquam vincendi tempus a m i t t a s " .

151

an die innere Erlösung denkt, läßt der Text wohl bewußt in der Schwebe. Ambrosius hat noch einen anderen wesentlichen Gesichtspunkt der Gefangenenseelsorge hervorgehoben: Der Gefangene kann sich nicht von sich aus bemerkbar machen und um Hilfe bitten; er bedarf der direkten Zuwendung auf Grund von Eigeninitiativen: „Wir sollen ja nicht bloß ein Ohr für die Stimme der Bittenden, sondern auch ein Auge für die Nöte (der Nichtbittenden) haben . . . Nach jenem sollst du dich umsehen, der dir nicht unter die Augen tritt; nach jenem dich erkundigen, der als verschämter Arme sich nicht blicken läßt; jener Sträfling im Gefängnis ferner soll dir (im Geiste) begegnen . . ," 1 5 8 . Wir finden bei Ambrosius also erste gesellschaftskritische Äußerungen zum Problem der Gefangenschaft neben ersten Erwägungen zum „Behandlungsproblem". Die theologische Bewältigung der Gefangen en frage kulminiert im Begriff der Vergebung und in seelsorgerlichen Ratschlägen für den Fall eigener Gefangenschaft. Die besondere Problematik der einseitigen Gestaltungsfähigkeit des seelsorgerlichen Verhältnisses zwischen dem Gefangenen und dem Helfenden wird zum erstenmal gesehen. Der Gefangene hat keine Möglichkeit, einen Prozeß in Gang zu setzen, durch den ihm geholfen wird. Dies bedarf der Initiative anderer. Ambrosius hat sowohl die Identifikation mit der Situation der Gefangenschaft als auch die Möglichkeit der Identifizierung mit kriminellem Verhalten sowie deren Bearbeitung um wesentliche Überlegungen bereichert. Für unseren Zusammenhang ist besonders wichtig, daß ein tieferes Verstehen kriminellen Verhaltens bei Ambrosius zum erstenmal gelungen und formuliert ist. Damit ist der „Identifikationsbereich Kriminalität" als letzter wesentlicher Schritt zur Seelsorge an allen, auch kriminellen Strafgefangenen erschlossen.

3.5 Die Integration der beiden Identifikationsfronten der Kriminellen und der Gesellschaft im Dienst der Versöhnung und Heilung bei Augustin Bei Augustin, der als „der einzige Kirchenvater, der bis auf diesen Tag eine geistige Macht geblieben ist" I 5 9 , bezeichnet wurde, finden wir noch viel ausführlichere und differenziertere Überlegungen zum Umgang mit 158 159

Ambrosius: De officiis ministrorum II, XVI, 77, Sp. 131. H. Frhr. v. Campenhausen, a.a.O., S. 151.

152

Kriminellen aus kirchlicher Sicht und auch eine entsprechende Praxis. Neben konkrete Handlungsanweisungen tritt deren theologische Begründung. Diese „Tendenzwende" im Umgang mit straffälligen Menschen spiegelt nur wider, was allgemein als theologische Neuorientierung durch Augustin und seine Zeit gelten kann. „Das voraugustinische abendländische Christentum besitzt . . . einen jüdischen' Grundzug. Es ist moralisch, gesetzlich und streng. Es fordert Unterwerfung, es fragt nach Leistung, und es bejaht die kirchliche Ordnung und Disziplin. Es ist groß in seinem Ernst und in seiner praktischen Energie; aber es lebt von der rationalen Erwägung der göttlichen Gebote und Verheißungen, von den Ordnungen der Vergangenheit und von der Hoffnung auf die Zukunft — eine Religion ohne rechte Gegenwart, ohne volle Freiheit, ohne letzte Hingabe und Seligkeit . . . " . „ . . . den antijudaistischen Paulus, den Paulus, der das Gesetz durchbricht und die .Gerechtigkeit des Glaubens' aufrichtet, hat erst die abendländische Theologie des vierten Jahrhunderts entdeckt und dann nicht mehr fahren lassen. In Augustine Theologie der Gnade kommt diese Bewegung auf die Höhe und findet eine für lange gültige Zusammenfassung" , 6 0 . Für Augustin gab es verschiedene Anlässe, sich mit der Frage des Umgangs mit Verbrechern auseinanderzusetzen. In seinem 133. Brief an den Tribun Marcellinus legt er Fürsprache ein für einige Donatisten, die katholische Priester verstümmelt und getötet haben. Wie für diese verurteilten Donatisten pflegten Augustin und die übrigen Bischöfe für verurteilte Verbrecher Fürsprache einzulegen. Macedonius, der offenbar in Hippo Strafrichter gewesen ist, hatte in einem Brief an Augustin seiner Verwunderung darüber Ausdruck verlieh 161 . Auf die verschiedenen Fragen, mit denen er sich an Augustin gewandt hat, geht dieser in seinem 153. Brief ein und entwickelt dabei eine theologische Begründung der bischöflichen Interzession (zu deren gesetzlicher Grundlage s.u.) 162 . Bei den Anfragen des Macedonius handelt es sich kurz gefaßt um folgende: 1. Warum wird überhaupt für Verbrecher Fürsprache eingelegt? 2. Gott hat die Sünde verboten, wieso wird dann für jedes Verbrechen Vergebung gefordert?

160 161 162

A.a.O., S. 15lf. BKV 30, München 1917, Einleitung zu Augustine Brief Nr. 153, S. 563. S. die Ausführungen hierzu in der vorliegenden Abhandlung S. 220ff.

153

3. Bedeutet Verzicht auf Strafe nicht Billigung des Verbrechens? 4. Macht die Fürsprache dann nicht geradezu mitschuldig? 1 6 3 Nur am Rande sei erwähnt, daß dies generell Fragen sind, die noch in der gegenwärtigen Diskussion über die Reform des Strafvollzugs in Richtung auf einen therapeutisch orientierten Behandlungsvollzug eine große Rolle spielen. Augustin bereitet seinen Adressaten schrittweise auf seine Argumente vor. Zunächst kommt er ihm entgegen, gibt ihm sozusagen „Kredit", indem er ihn, den Strafrichter, auf seine „Güte und Milde" anspricht: „Wen würdest du mit diesen Worten nicht schrecken, wofern ihm deine Güte und Milde nicht bekannt wäre?" 1 6 4 Die Fürsprache, die doch eine besondere Form der „Milde" darstellen soll, kann ihm somit nichts wesensmäßig Fremdes sein. Damit ist ein erstes Stück gemeinsamer Basis freigelegt. Aber auch, was die Grundeinstellung zum Verbrechen betrifft, so weiß Augustin sich mit seinem Gegenüber einer Meinung und stellt auch diese Einigkeit heraus: „Deshalb nämlich legen wir, soweit man es uns gestattet, Fürsprache für alle Verbrecher ein, weil ,alle Sünden verzeihlicher erscheinen, wenn der Schuldige Besserung verspricht'. Das ist dein, das ist auch unser Anspruch" 1 6 5 . Auch Augustin billigt nicht das Verbrechen, sondern will, daß es gesühnt wird. Das Mitleid mit dem Menschen führt zu dem Wunsch seiner Besserung, dieser aber zwangsläufig zur Forderung nach Erlaß der Todesstrafe 1 6 6 . Nicht die Billigung der Tat, sondern gerade das Mißfallen am Verbrechen veranlaßt zur Fürsprache. Auf diese Art und Weise übernimmt Augustin die Argumente seines Gegenübers, stellt sie aber in überzeugender Weise in einen neuen Zusammenhang. Die Mißbilligung des Verbrechens ist gerade ein Argument fiir die in der Fürsprache sich äußernde Milde, nicht gegen sie. Augustin geht von bestimmten Voraussetzungen aus, die zum einen das Verhalten Gottes gegenüber dem Sünder, zum andern das Wesen des Menschen als Vorbedingung seines Verhaltens gegenüber dem Verbrecher betreffen. Zunächst streicht Augustin die Geduld Gottes heraus. „Sollte etwa Gott, weil diese in ihrer Bosheit verharren, deshalb nicht in seiner Geduld ver163 Augustin: Brief Nr. 153. In: Aurelii Augustini Hipponiensis Episcopi Epistolae, Pars III, CSEL Bd. 4 4 , S. 3 9 5 f f . A.a.O., S. 3 9 7 . ι « A.a.O., S. 3 9 8 . ι«« Ebd.

154

harren?" 1 6 7 Keine menschliche Bosheit kann die Geduld Gottes aufheben. In ihrer Unerreichbarkeit soll sie den Menschen als Vorbild oder Anleitung dienen. „Wenn nun er der Ungerechten und Lasterhaften schont und ihnen Leben und Gesundheit schenkt, selbst vielen von denen, die, wie er weiß, keine Buße tun werden, um wieviel mehr müssen wir barmherzig sein gegen diejenigen, die Besserung versprechen und von denen wir nur im Ungewissen sind, ob sie ihr Versprechen halten werden; sie suchen deshalb durch unsere Fürbitte eure Strenge zu beugen, da wir für sie auch zum Herrn flehen, dem in Bezug auf ihr Verhalten nichts, auch nichts Zukünftiges verborgen ist!" 1 6 8 Das Verhalten Gottes ermahnt gleichsam zur Vergebung, zur Nachahmung seiner Barmherzigkeit: „Nur möchten wir, daß ihr gegen die Bösen zur Vergebung geneigt seid, nicht damit man an ihnen Gefallen finde oder damit sie böse bleiben, sondern weil jeder, der gut ist, zuerst böse war, und weil Gott durch das Opfer der Barmherzigkeit versöhnt wird. Denn wenn Gott den Bösen nicht gnädig wäre, so gäbe es keine Guten" 1 6 9 . Neben der Herleitung der Notwendigkeit der Vergebung aus der Geduld Gottes mit den Menschen steht eine Art anthropologischer Begründung derselben. Augustin spricht von einer gemeinsamen Schwäche" der Menschen. Der Blick auf dieselbe mildert den Eifer des Anklägers wie die Strenge des Richters 1 7 0 . In moderner psychoanalytischer Terminologie würde dieser Gedanke wohl am ehesten besagen: Es gibt eine allen gemeinsame „latente Kriminalität" (wie oben ausgeführt); ein bewußter Umgang mit ihr mildert das aktive Strafbedürfnis, da die Bewußtheit der eigenen Tendenzen die Projektion derselben auf den Rechtsbrecher überflüssig macht. Auf diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Augustin einen Satz Senecas zu seiner Argumentation heranzieht: „Alle haßt, wer die Bösen h a ß t " 171. Haß, der sich an bestimmten „Bösen" festmacht, enthält immer Elemente von Sündenbockprojektion. Der Satz Senecas durchbricht die Legitimität aller Praktiken dieser Art. Konsequenterweise kann Haß sich nur gegen die ganze Menschheit richten. Dieser Satz ist freilich nur theoretisch logisch, entspricht aber nicht der „Logik" der Gefühle. Mit der „gemeinsamen Schwäche" wird auch der Vorgang der Fürsprache interpretiert. Die Bischöfe legen Fürsprache ein „als Sünder für Sünder . . . bei . .. Sündern" 172. A.a.O., S. 168 A.a.O., S. ι«» A.a.O., S. A.a.O., S. 171 A.a.O., S.

400. 401. 427. 406. 412.

™ A.a.O., S. 413.

155

Die ganze Argumentation wird zusammengefaßt in der Antwort auf eine der Fragen des Macedonius: „Du siehst also bereits, daß es in der Religion begründet ist und uns in keine Teilnahme an den Verbrechen hineinzieht, wenn wir sehr häufig auch für Lasterhafte· Fürbitte einlegen" 173 . So ist es nur folgerichtig, wenn Augustin betont, daß die Bestrafenden wegen ihrer eigenen Sünden selber auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Wenn wir heute sagen, es gäbe keinen qualitativen Unterschied zwischen Verbrechern und Nichtverbrechern, so ist dies — wie schon bei Ambrosius — eine moderne Entsprechung zu diesem Satz 1 7 4 . Wohl zum erstenmal in der Kirchengeschichte wird bei Augstin der Begriff des Verbrechens in Analogie zum Krankheitsbegriff gebracht. Und damit wird dann auch die Forderung, die Verbrecher zu lieben, begründet: „Und doch muß man die Bösen in der Absicht lieben, damit sie nicht mehr böse seien, wie man auch die Kranken liebt, nicht damit sie krank bleiben, sondern damit sie gesund werden" 1 7 5 . Dementsprechend fordert Augustin in seinem Brief an Marcellinus diesen auf, statt Rache zu üben, „die Wunden der Verbrecher zu heilen" 1 7 6 . Jedes Verhalten dem Verbrecher gegenüber soll „mit vorsorgender Lieb e " geschehen, handele es sich nun um Strafe oder um Verzeihen. Beides soll nur die Besserung des Lebens des Menschen im Auge haben. Auch dieser Begriff taucht im Zusammenhang mit Rechtsbrechern bei Augustin zum erstenmal in der Geschichte der Kirche auf. Selbst wenn aber Besserung weder durch Strenge noch durch Milde erreicht wird, so ist das Entscheidende, daß in dieser Weise die „Pflicht der Liebe" erfüllt wird 1 7 7 . Dabei wird die Rettung auch als Motiv für Strenge akzeptiert. „Wer . . . gegen ein Verbrechen nur deshalb mit Strenge verfährt, um den Verbrecher zu retten, der macht sich keiner Teilnahme an der Sünde schuldig, sondern zeigt vielmehr seine Teilnahme an der menschlichen Natur" 178 . Im Zusammenhang mit einigen Ausführungen über die Notwendigkeit einer Art Wiedergutmachung bzw. Wiedererstattung zu Unrecht angeeigneten Gutes taucht der Gedanke einer differenzierten Behandlungsweise von Verbrechern auf. Wir finden hier — vergleichbar den dargelegten Erörterungen bei Ambrosius — Ansätze zu dem heutigen Gedanken 173 i« 175 17« 177 ITS

Ebd. A.a.O., S. 404. A.a.O., S. 412. Ders.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 82. Ders.: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 418. A.a.O., S. 398.

156

an ein Maßnahmerecht: „Diejenigen aber, die nicht wiedererstatten wollen, obwohl wir wissen, daß sie sich etwas mit Unrecht angeeignet haben und Ersatz zu leisten imstande sind, diese weisen wir zurecht, machen ihnen Vorwürfe und zeigen ihnen unser Mißfallen. Bei den einen geschieht dies im geheimen, bei den anderen öffentlich, je nachdem die Verschiedenheit der Personen die Anwendung verschiedener Heilmittel zu erfordern scheint, jedoch ohne sie zum Verderben anderer in noch größere Aufregung zu bringen. Bisweilen aber, wenn Besserung nicht erhofft wird, schließen wir sie von der Gemeinschaft des Altares aus" 1 7 9 . Zusammengefaßt ist der dargelegte Gedankengang folgender: Aus der Pflicht der Liebe resultiert die vorsorgende Liebe, die Besserung bzw. Heilung bewirken will. Dorthin führen zwei Wege: Milde und Strenge. Beide Wege machen nach der Verschiedenheit der Personen die Anwendung verschiedener Heilmittel erforderlich. Ein Strafvorgang, dessen Sinn nur Leidzufügung ist, hat in diesem Gedankengang keinen Platz. Augustin orientiert sich in seiner Begründung der Fürsprache am Verhalten Jesu in J o h . 8,3—7. Jesus hat bei Menschen vermittelt, daß die Ehebrecherin nicht gesteinigt wurde. Daraus leitet er eine Pflicht der Vermittlung ab, die eben durch Fürsprache geschieht 1 8 0 . Alle Anweisungen Augustine haben das letzte Ziel, den Verbrecher zur Buße zu führen 1 8 1 . An die Stelle der vom Staat verhängten Strafe tritt, sofern die Fürsprache erfolgreich ist, die Kirchenstrafe mit eben diesem Ziel. ,,So versagen wir manchen, deren Verbrechen offenkundig sind, die Gemeinschaft mit uns am Altare, damit sie durch Buße und Selbstzüchtigung denjenigen versöhnen, den sie verachtet hatten. Denn wer wahre Buße tut, dessen Streben ist nur darauf gerichtet, das Böse, das er begangen, nicht ungestraft zu lassen. Auf diese Weise schont dann derjenige, dessen erhabenem und gerechtem Gerichte kein Verächter entgeht, dessen, der seiner selbst nicht schont" 1 8 2 . Die Verweigerung der Abendmahlsgemeinschaft ist also ein Mittel, um zur Buße zu führen. Buße ist sozusagen eine selbstauferlegte Strafe, die dann Schonung durch Gott bewirkt. So werden also überhaupt nur ganz bestimmte Strafzwecke von Augustin bejaht, andere abgelehnt: , , . . . so wollen wir doch nicht, daß für die Leiden der Diener Gottes gleichsam nach dem Vergeltungsi » A.a.O., S. 421. »so A.a.O., S. 407 »81 A.a.O., S. 401. I M Ebd.

157

recht, durch Verhängung der gleichen Pein Rache genommen werde. Nicht als ob wir euch hindern wollten, Verbrechern die Freiheit zu solchen Freveln zu nehmen; aber wir wünschen, daß es für hinreichend erachtet werde, wenn sie bei lebendigem Leibe und ohne körperliche Verstümmelung durch die Strenge der Gesetze entweder von ihrem rasenden Toben zu heilsamer Ruhe geführt oder an Stelle ihrer bösen Tätigkeit mit irgendeiner nützlichen Arbeit beschäftigt werden. Auch das ist zwar eine Art Verurteilung, aber wer sollte nicht einsehen, daß es eher eine Wohltat als eine Strafe zu nennen sei, wenn ihr Frevelmut in Schranken gehalten, aber das Heilmittel der Buße ihnen nicht entzogen wird" 1 8 3 . Eine Rache nach dem Vergeltungsrecht wird also strikt abgelehnt, nur eine Art „Sicherheitsverwahrung" findet Billigung. Ruhe und Beschäftigung mit nützlicher Arbeit sollen den Verbrechern die Möglichkeit der Buße offenhalten, ohne daß sie weiteres Unrecht tun können. Die beiden Strafzwecke, die Augustin gelten läßt, sind also Sicherheit und Buße. Wie die Bestrafung im einzelnen durchgeführt wird, ist dann nicht zuletzt eine Frage der Gesinnung: „Denn wie es bisweilen eine strafende Barmherzigkeit gibt, so gibt es auch eine schonende Grausamkeit" 1 8 4 . Zwischen diesen beiden Alternativen gilt es also einen richtigen Weg zu finden. Von Augustin bejahte Strafweisen sind also die, den Verbrecher zu heilsamer Ruhe zu führen und ihn mit einer nützlichen Arbeit zu beschäftigen. In der Anrede an Marcellinus heißt es: „Übe, christlicher Richter, das Amt eines guten Vaters! Zürne über das Verbrechen, aber vergiß dabei nicht, auch auf die Menschlichkeit Rücksicht zu nehmen! Befriedige nicht die Begierde, an so abscheulichen Verbrechern Rache zu nehmen, sondern hege vielmehr die Gesinnung, die Wunden der Verbrecher zu heilen" 1 8 5 . Verbrechen und Rache werden auf eine Stufe gestellt und beide in gleicher Weise abgelehnt. Eine ausgleichende Vergeltung würde die Leiden der Opfer, „die den Schwachen zur geistigen Erbauung dienlich sein sollten", entwerten. Durch Mäßigung der richterlichen Strenge soll gerade der Glaube und die Milde der Kirche demonstriert werden 1 8 6 . Hier bekommt der Umgang mit den Verbrechern eine zeichenhafte, fast missionarische Funktion.

183 184 iss 186

Ders.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 81. Ders.: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 4 1 5 Ders.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 82. A.a.O., S. 8 3 f .

158

Es liegt im Gefälle der Ausführungen Augustine, daß er die Todesstrafe ablehnt. Die Fürsprache gegen die Todesstrafe wird damit begründet, daß der Verbrecher vor ewiger Verdammnis bewahrt werden soll 187 . Vielmehr soll ihm die Besserung als Möglichkeit offengehalten werden 1 8 8 . Darum verteidigt Augustin die bischöfliche Fürsprache gegen alle Fehlschläge, die ihr nicht erspart blieben: „wir wollen nämlich durch Milde die Herzen gewinnen und dem Worte der Wahrheit Zuneigung verschaffen, wir wollen, daß die vom zeitlichen Tode Befreiten so leben, daß sie nicht dem ewigen Tode verfallen, von dem sie nie mehr befreit werden können" 1 8 9 . Der entscheidende Grundgedanke über Verbrecher, durch den es zu der dargelegten Einstellung Augustine überhaupt nur kommen konnte, ist die strikte Trennung von Tat und Täter. Eben um diesen Gedankenschritt handelt es sich, wenn Augustin zur Identifizierung mit dem Menschen, aber zur Ablehnung des Verbrechens auffordert 1 9 0 . Genauso hatte er ja auch Macedonius gegenüber argumentiert 1 9 1 . In dem Brief an diesen führt er den Gedanken noch weiter: „Denn es ist leicht und alltäglich, die Bösen zu hassen, weil sie böse sind; selten aber und ein Werk der Frömmigkeit ist es, sie zu lieben, weil sie Menschen sind, so daß man an derselben Person zugleich die Sünde mißbilligt, die Natur aber achtet und gerade deshalb mit umso größerem Rechte die Sünde haßt, weil durch sie die Natur, die man liebt, befleckt wird" 1 9 2 . Augustin spielt hier auf einen sehr typischen psychischen Mechanismus im Umgang mit Rechtsbrechern an. Die Tat, die verdammt wird, veranlaßt leicht zur Verdammung des Täters. Die Tat bietet sozusagen eine Legitimation für Gegenaggression. Das hat er erkannt und zum Ausdruck gebracht. Soll ein irrationaler Sündenbockprojektionsmechanismus durchbrochen bzw. verhindert werden, so erfordert dies eine differenziertere Einstellung, nämlich trotz der Mißbilligung der Tat die Achtung der Natur des Menschen, und zwar beides zugleich und gegenüber ein- und demselben Menschen. D.h. die Spannung muß ertragen werden, daß der Mensch nicht einfach böse oder einfach gut ist. (Dies entspricht den 187

„Damit sie nicht durch die Todesstrafe ihr Leben in solcher Weise endigen, daß sie nach ihm noch eine endlose Strafe erleiden müssen". Ders.: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 3 9 8 . 188 A.a.O., S. 4 1 5 . 189 A.a.O., S. 4 1 6 f . 190 Ders.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 8 2 - oben zitiert: „Übe, christlicher Richter (4 191 192

Ders.: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 3 9 8 . Ebd.

159

Ausführungen über die „neue Ethik" bei E. Neumann. Bei Augustin finden wir Ansatzpunkte zu eben diesem Gedanken, wenn auch in völlig verschiedener Terminologie auf Grund des historischen Abstandes). Wir stoßen bei Augustin ferner auf eine interessante Passage, in der er sich mit Fragen des Gut-Seins oder Böse-Seins des Menschen beschäftigt. Diese Ausführungen geben uns weiteren Aufschluß über seine Motivation zu der dargelegten Umgangsweise mit Verbrechern. „Gott ist also gut in einer Weise, die ihm allein zukommt, und dies kann er nicht verlieren. Denn er ist nicht gut durch Beteiligung an etwas Gutem, sondern ist sich selbst das Gute, durch das er gut ist. Wenn aber der Mensch gut ist, so kommt dies von Gott, weil er es nicht von sich aus sein kann. Denn durch Gottes Geist werden alle gut, die es überhaupt werden. Unsere Natur ist so erschaffen, daß sie hierzu durch den eigenen Willen fähig ist. Unsere Sache also ist es,, anzunehmen und zu besitzen, was derjenige gibt, der aus sich selbst gut ist. Wenn dies jemand nicht tut, so ist er böse "aus sich selbst. Soweit also der Mensch recht handelt, das heißt mit Verständnis, Liebe und Gottesfurcht das Gute tut, soweit ist er auch gut; soweit er aber sündigt, das heißt von der Wahrheit, Liebe und Gottesfurcht abweicht, soweit ist er böse. Wer aber ist in diesem Leben ohne jede Sünde? Aber wir nennen den gut, bei dem das Gute vorwiegt, den den besten, der am wenigsten sündigt" 1 9 3 . Gott also ist ganz allein, ausschließlich und auf alle Zeiten gut. Wenn der Mensch dagegen gut ist, so ist er gut durch Gott. Wenn er sich das Gute von Gott nicht aneignet — wozu er fähig ist! — so ist er böse aus sich selbst. Aber kein Mensch ist gut in der Weise wie Gott es ist, denn keiner ist ohne Sünde. So gilt der Mensch als gut, bei dem das Gute überwiegt. Das Gutsein des Menschen ist ein anderes als das Gottes, weil es nur eine Partizipation am Gutsein Gottes ist. Drei Folgerungen können wir im Hinblick auf Verbrechen oder Unrecht und den Umgang mit ihnen ziehen: 1. Gutsein ist kein eigenes Verdienst. 2. Durch seinen Willen kann der Mensch zum Teil gut sein, d.h. er ist schuldfähig, da das Böse aus ihm kommt. 3. Die Möglichkeit, ganz gut zu sein, hat er nicht, d.h. er ist immer auch schuldv erhaft et. Man kann sagen, daß Augustin einen auch im heutigen psychoanalytischen Sinne realistischen Weg des Umgangs mit dem „Bösen" gefunden 193

A.a.O., S. 409.

160

hat, der in seiner G r u n d t e n d e n z auch heute vertretenen Ansichten entspricht. K. Menninger hat eine Art „ S k a l a " aufgestellt über die „Einstellung zum Bösen und zur Aggression". Sie reicht von der pessimistischen Sicht, es gäbe nur Böses im Menschen (1) über die gleichmäßige Betonung von G u t u n d Böse (2) zur partiellen U n t e r b e t o n u n g oder Leugnung des Bösen (3) bzw. seiner Reduzierung auf gesellschaftliche Faktoren (4) bis zur radikalen Leugnung des Bösen (5) 1 9 4 . Eine Abwägung dieser Einstellungsweisen führt bei K. Menninger zu dem Fazit: „Wir halten die Verharmlosung des Bösen für ebenso unrealistisch wie das pessimistische Urteil, daß der Mensch ganz und gar böse sei. Die dualistische Triebtheorie dagegen macht aus dem Bösen weder ein unbesiegbares Ungeheuer noch eine harmlose Plage. Sie erkennt Aggression und Destruktivität als einen machtvollen Trieb an, der nicht in seiner Bedeutung verkleinert werden, sondern mit dem man sich auseinandersetzen sollte; er m u ß nicht geleugnet, sondern umgebildet, nicht gehaßt, sondern nutzbar gemacht w e r d e n " 19s. Augustin hat dies in der theologischen Terminologie seiner Zeit zum Ausdruck gebracht: „ G u t sind sie also, insoweit sie Kinder Gottes sind; insofern sie aber sündigen . . . sind sie . . . Böse" 1 9 6 . Auch der Gedanke, daß der Strafvorgang immer eine Art des Umgangs mit dem eigenen „ S c h a t t e n " ist, findet sich implizit schon bei Augustin angedeutet: „Das verbrecherische Weib k o n n t e ja fürchten, es k ö n n t e n zwar die, die in Gedanken an ihre eigenen Sünden der fremden Sünde geschont h a t t e n , sich entfernen, aber es würde sie der, der ohne Sünde war, mit voller Gerechtigkeit verurteilen. Er aber, den das Gewissen nicht erschreckt, der aber voller Güte ist, sprach zu ihr, nachdem sie geantwortet, es habe sie niemand verurteilt: ,Auch ich will dich nicht v e r d a m m e n ' , als ob er sagen wollte: Wenn die Sündhaftigkeit dich verschonen k o n n t e , w a r u m fürchtest d u die Sündelosigkeit?" 1 9 7 Augustin legt hier eine sensible Einfühlung in u n b e w u ß t e Strafvorgänge an den Tag, wie sie oben ausgeführt worden sind. S t i m m t es, daß sich im aktiven Strafbedürfnis immer ein Stück u n b e w u ß t e s passives Strafbedürfnis verbirgt, so ist es nur konsequent, zu sagen, daß die Sündlosigkeit weniger zu fürchten sei als die Sündhaftigkeit, die dem Verbrecher doch viel näher steht. Für den Sündlosen besteht keine innere Notwendigkeit der Absetzung vom Verbrecher. Er kann den anderen mit 194

K. Menninger: Das Leben als Balance, Regensburg 1974, S. 120f. « s A.a.O., S. 122. 196 Augustin: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 4 1 1 . w A.a.O., S. 4 1 3 . 11 Stubbc, Scclsorge

161

seinem „Schatten" annehmen, weil es für ihn kein Bedürfnis der Projektion des eigenen „Bösen" auf diesen gibt. Die Annahme des „Bösen" im anderen ist auch das Hauptkriterium der Unterscheidung, die Augustin zwischen einem Verteidiger und einem Fürsprecher fällt. Es besteht — wie er sagt — „ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Verteidiger und einem Fürsprecher. Denn jener gibt sich Mühe, das Verbrechen wegzustreiten oder es zu verhüllen, der Fürsprecher aber dringt, auch wenn die Schuld schon offen daliegt, auf Erlaß oder Milderung der Strafe. So tun vor Gott die Gerechten für die Sünder, so für sich gegenseitig zu tun, wird den Fehlenden ans Herz gelegt" 1 9 8 . Übergeordneter Gesichtspunkt bleibt allerdings die Ausrottung des Bösen199. „Denn wer die Sünde unterstützt, statt sie auszurotten, der leistet keine Hilfe" 2 0 0 . Und auch eine Wiedergutmachung bzw. Rückerstattung des zu Unrecht angeeigneten Gutes nennt Augustin als Voraussetzung für die Sündenvergebung 201 . Diese kann zur Not unter Zwang erfolgen, jedoch so, daß die Gerechtigkeit „die Menschlichkeit dabei nicht verletzt" 2 0 2 . Gerechtigkeit und Menschlichkeit sollen sich gleichsam gegenseitig korrigieren. Zu einer Zeit der Freiheit und staatlichen Sanktion der Kirche entwickelt Augustin auch schon erste Ansätze einer Zuordnung der Funktion von Staat und Kirche gegenüber Straftätern. Die Straffunktion der staatlichen Obrigkeit wird grundsätzlich vorausgesetzt und anerkannt und auch durch die bischöfliche Fürsprache nicht in Frage gestellt. Sie, die Obrigkeit, „ist Dienerin Gottes, eine Rächerin zur Bestrafung für den, der Böses t u t " 2 0 3 . Eine grundsätzliche Wertschätzung des Richteramtes durch Augustin erkennen wir auch darin, daß er dem Richter die Möglichkeit zugesteht, „das Amt eines guten Vaters" 2 0 4 auszuüben. Augustin orientiert sich bei der Zuordnung des seelsorgerlichen Anliegens in der bischöflichen Fürsprache zur staatlichen Rechtsordnung am Verhalten Jesu gegenüber der Ehebrecherin: „So mißbilligte er das Gesetz nicht, das für solche Vergehen die Todesstrafe verlangt, schärfte aber zugleich jenen, durch deren Urteilsspruch sie getötet werden konn198 A.a.O., S. 406f. 199 A.a.O., S. 407; Sperrdruck von Verf. vorgenommen. 2 °o A.a.O., S. 420. 201 A.a.O., S. 419. 202 A.a.O., S. 420. 203 A.a.O., S. 418. 204 Oers.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 82.

162

te, durch Schrecken Barmherzigkeit ein" 2 0 5 . Dem Gesetz wird eine volle Berechtigung gelassen, es wird aber faktisch überholt durch den Weg der Barmherzigkeit, auf den Jesus als neue Möglichkeit hinweist. Daß die bischöfliche Fürsprache nicht die Aufhebung der staatlichen Rechtsordnung bezweckt, sondern derselben sogar als notwendigem Rahmen bedarf, wird deutlich, wenn es heißt: „Aber dieser Ordnung der menschlichen Verhältnisse stehen die Fürbitten der Bischöfe nicht im Wege, vielmehr würde es der Fürbitte an Grund und Inhalt gebrechen, wenn diese Verhältnisse nicht wären. Denn die Wohltat, die sowohl durch die Fürsprache als auch durch die Begnadigung erwiesen wird, ist umso größer, je gerechter die Strafe wäre, die die Verbrecher verdienen würden" 2 0 6 . Staat und Kirche haben angesichts des Verbrechens beide wichtige Funktionen, die sich gegenseitig ergänzen bzw. korrigieren. So schreibt Augustin an den Strafrichter Macedonius: „Eure Strenge ist also von Nutzen, da durch sie auch unsere Ruhe gefördert wird; aber auch unsere Fürsprache ist von Nutzen, da durch sie eure Strenge gemildert wird" 2 0 7 . Beide Funktionen, die staatliche und die kirchliche, stehen in einer Art Ergänzungsverhältnis; darüber hinaus sollen sie sich aber auch gegenseitig korrigieren. Nie wieder ist ein so konsequent aufgezeigtes Abhängigkeitsgefüge von Staat und Kirche im Strafvollzug vertreten worden! Die Verhaltensweisen, die Augustin Verbrechern gegenüber vorschlägt, sollen durchweg auch eine demonstrative oder zeichenhafte Funktion haben. So kommt es zu der bemerkenswerten Behauptung, die mildesten Richter würden mit Sorgfalt und Eifer nach einem verborgen gehaltenen Verbrechen forschen, um dann Schonung walten zu lassen — nicht um tatbestandsgemäß zu strafen! 2 0 8 Zusammenfassend können wir festhalten: Die bei Ambrosius in der Abwägung von Sicherheit und Menschlichkeit bereits ansatzweise vorhandene Integration der beiden Identifikationsfronten von Straftätern und Gesellschaft findet bei Augustin ihre volle theoretische und praktische Entfaltung in seinem theologisch und psychologisch sorgsam abwägenden und begründenden Stil der bischöflichen Fürsprache.

2°s Oers.: Brief Nr. 153, a.a.O., S. 4 0 5 . 206 A.a.O., S. 4 1 4 . A.a.O., S. 4 1 7 . 208 Ders.: Brief Nr. 133, a.a.O., S. 82.

163

3.6 Absicherung, Gefährdung und innere Verfremdung der christlichen Identifikation mit Strafgefangenen durch ihre Institutionalisierung 3.6.1

Kirchliche und staatliche Bestimmungen nach der konstantinischen Wende

zum

Strafvollzug

Das Zeitalter Konstantins d.Gr. war der entscheidendste Wendepunkt der Geschichte des Christentums überhaupt. Der Versuch, das Christentum durch Verfolgung und Ausrottung zu beseitigen, war gescheitert. Übrig blieb der andere Weg einer Anerkennung des Christentums von Staatswegen oder wenigstens einer Duldung. Diese Wendung fand für das Christentum mit dem politischen Ubergewicht Kontantins (312) statt. Im Jahr 313 erließen Licinius und Konstantin eine Konstitution, die uneingeschränkte Religionsfreiheit gewährte. Mit der Alleinherrschaft Konstantins (324) war der Sieg des Christentums im römischen Reich besiegelt. Im Jahre 380 machten Theodosius d.Gr. und Gratianus der Religionsfreiheit ein Ende. Sie erhoben die katholische Kirche zur alleinberechtigten Staatskirche. In der Zeit vor Konstantin kann von einer offiziellen Regelung der Gefangenenbetreuung durch christliche Gemeinden nicht die Rede sein. Aber nach der konstantinischen Wende kam es auch zu offiziellen kirchlichen Beschlüssen dazu. Hier ist als erster Beleg der sogenannte 80. Kanon von Nicäa (325) zu nennen. K. Krauss geht noch von der nicänischen Echtheit dieses Kanons aus 2 0 9 . Dieser 80. Kanon gehört aber zu den sogenannten arabischen Kanones von Nicäa, von denen inzwischen als erwiesen gilt, daß sie nicht von der nicänischen Synode herrühren, sondern in eine beträchtlich spätere Zeit verweisen 210 . Da eine gewisse inhaltliche Verwandtschaft zum 20. Kanon der Synode von Orleans (549) besteht, liegen beide möglicherweise zeitlich nicht allzusehr auseinander. Genaueres läßt sich hierzu allerdings nicht sagen. Dieser sogenannte 80. Kanon von Nicäa legt fest, daß in jeder Gemeinde ein Laie oder Kleriker als Armenpfleger („procurator pauperum") gewählt werden soll. Auswahlkriterien sind, daß er ordentlich und geduldig sein und einen guten und rechtgläubigen Lebenswandel führen soll. Zu seinen Aufgabenbereichen zählt auch die Sorge für die Ker209 κ . Krauss, a.a.O., S. 125. 210 C. J. Hefele, Conciliengeschichte Bd. 1, 2. Aufl., Freiburg i.Br. 1873, S. 364.

164

kerinsassen. In Bezug auf eben diese Arbeit werden nun gewisse Differenzierungen vorgenommen: „Wenn er unter denen, die im Kerker sind, einen Christen findet, der würdig ist befreit zu werden, muß er ihn unterstützen, daß er aus dem Kerker befreit wird. Und wenn dieser irgendetwas nötig hat oder Nahrung braucht und dies nicht von denen kriegen kann, die im Gefängnis sind, so soll er ihn befreien 2 1 1 . Und wenn ihm irgendein Bürge fehlt, muß er fragen, wer für ihn bürgt, damit er befreit wird. Und wenn jemand irgendeines schweren Verbrechens angeklagt ist und der Befreiung nicht würdig ist, muß er ihn wenigstens unterstützen, damit es ihm nicht an Nahrung und Kleidung mangelt. Und es soll auch kein Unterschied in dem Beistand sein, und es soll auch nichts unterlassen werden, was bei allem, was zu seinem Fall noch zu untersuchen ist, ihm noch dient, bis er von Rechtswegen und verdientermaßen verurteilt wird" 2 1 2 . Was die alltäglichen Bedürfnisse wie Nahrung und Kleidung sowie den „Rechtsschutz" betraf, so empfand man hier offenbar eine allgemeine Verpflichtung gegenüber allen Gefangenen, ohne Ansehen ihres Deliktes. Eine diesbezügliche Allgemeingültigkeit ist wohl gemeint, wenn es heißt, daß kein Unterschied in dem Beistand sein solle. Die Befreiung aus der Gefangenschaft hingegen wurde abhängig gemacht vom Kriterium der „Würdigkeit" und der Zugehörigkeit zur Gemeinde (wenn er einen „Christen" findet!). Eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf ein richtiges Abwägen der Hilfe für Gefangene einerseits, die Bejahung von Strafsanktionen andererseits ist hier unverkennbar. Offenbar gab es hier für die Gemeinde Kriterien, die mit denen der staatlichen Strafsanktion nicht immer zur Deckung gebracht werden konnten. Das zeigt die merkwürdige Erwähnung eines speziellen Falles (offenbar von Schuldgefangenschaft) und der diesbezüglichen Vorschrift für die Gemeinde: „Und wenn ein gläubiger Mann sein Gut für Essen, Trinken und Dirnen ausgegeben hat und deshalb unbedacht in diese Not geraten ist, so soll er nicht angeklagt werden, sondern jeder gläubige Mann und jede gläubige Frau sollen nach ihrem Vermögen und guten Willen geben; und dieses Geld soll gesammelt werden, damit jener von den Gläubigern und aus der Bedrängnis be211

Hier dürfte eindeutig Loskauf gemeint sein.

212

,,Quod si inter eos qui sunt in carcere, aliquem Christianum reperiat qui sit dignus ut liberetur, debet adiuvare eum ut e carcere liberetur. Et si quid ei opus fuerit, aut victu indigeat, et non potest habere ab iis qui sunt in custodia, liberare: et si cui opus fuerit aliquo sponsere, debet quaerere qui pro ilio spondeat, ut liberetur. Et si quis fuerit alicuius criminis gravis reus, et non sit dignus liberatione, debet saltern adjuvare eum, ne ei victus et vestitus desint; neque debet différé subsidium, neque negligens esse in omni eo quod ad causam ejus expediendam pertineat, quousque juste, et ut meritus est, judicetur". Mansi 2, Graz 1960, Sp. 9 8 1 .

165

freit wird. Und diese Bestimmung verzichtet auf die Exkommunikation" 2 1 3 . Kanon 20 der Synode von Orleans (549) schreibt vor: „Eine Tat des Mitleids sehen wir gleichermaßen darin, daß darauf geachtet wird, daß die, die wegen irgendeiner Schuld im Kerker sind, vom Archidiakon oder vom Propst der Kirche an allen Sonntagen besucht werden, damit die Not der Gefangenen gemäß dem göttlichen Gebot durch Barmherzigkeit erleichtert werde; und der Bischof soll eine zuverlässige und fleißige Person einsetzen, die für die Bedürfnisse der Gefangenen sorgt und ihnen Speise aus dem Haus der Kirche besorgt" 2 1 4 . Auch hier wird materielle Hilfe für Gefangene in den Aufgabenbereich eines bestimmten Amtes (Archidiakon oder Propst) eingeordnet. Darüber hinaus wird der regelmäßige Besuch an allen Sonntagen vorgeschrieben. Weder der sogenannte 80. Kanon von Nicäa noch der 20. Kanon von Orleans legen außerdem so etwas wie eine geistliche Betreuung fest. Wir können daraus wohl schließen, daß man unter Hilfe für Gefangene in den ersten Jahrhunderten nach dem Sieg Konstantins im wesentlichen materielle Hilfe verstand. Diese jedenfalls wurde durch amtliche Vorschrift sichergestellt. Eine besondere Art kirchlicher Hilfeleistung für Gefangene bestand offenbar in der Ausstellung von Empfehlungsschreiben durch den Bischof. Kanon 2 der Kirchenversammlung zu Lyon (583) gibt hierfür Anordnungen: „Wenn Bischöfe Briefe für Gefangene schreiben, sollen sie so vorsichtig sein, daß sie in ihrer Dienstbarkeit die Briefe mit eigener Hand oder Unterschrift oder irgendeiner schriftlichen Empfehlung so schreiben, daß sie völlig eindeutig sind; und der Empfehlungsbrief soll das Datum und den festgelegten Preis angeben, und die Bedürfnisse der Gefangenen, auf die sich die Briefe beziehen" 2 1 5 . Der festgelegte Preis ist wohl der für „ E t si quis ex fidelibus bona sua epulando, potando, et scortando consumpserit, et ob hanc causam in hanc necessitatem inconsiderate incidit, non est deferendus, sed debet unusquisque fidelium tum virorum, tum faeminarum, dare secundum vires suas et bonam voluntatem; et colligatur hoc, ut ille a creditoribus et afflictione liberetur. Et hie canon caret excommunicatione". A.a.O., Sp. 9 8 I f . 2 1 4 „Id etiam miserationis intuitu aequum duximus custodiri, ut qui pro quibuscumque culpis in carceribus deputantur, ab archidiácono seu a praeposito ecclesiae singulis diebus dominicis requirantur, ut nécessitas vinctorum secundum praeceptum divinum misericorditer sublevetur; atque a pontífice, instituta fideli et diligenti persona, quae necessaria provideat, competens eius victus de domo ecclesiae tribuatur". Mansi 9, Sp. 134. 2 1 5 „Id etiam de epistolis placuit captivorum, ut ita sint sancti pontífices cauti, ut in servido pontificibus consistentibus, qui eorum manu vel subscriptione agnoscat epistlae aut quaelibet insinuationum literae dari debeant, quatenus de subscriptioni213

166

d e n L o s k a u f . D e r T e x t ist aber e t w a s unklar, z u m Beispiel b l e i b t o f f e n , o b der S c h r e i b e r d e s Briefes a u c h z a h l t o d e r nur e i n e E m p f e h l u n g ausstellt u n d an w e n die E m p f e h l u n g d a n n g e h t . D i e rapide p o l i t i s c h e u n d k i r c h l i c h e N e u e n t w i c k l u n g i m 4 . J h d t k o n n t e n i c h t o h n e Wirkung b l e i b e n auf d i e kaiserliche G e s e t z g e b u n g z u m Strafw e s e n . D e r „ m i l d e r n d e E i n f l u ß der c h r i s t l i c h e n R e l i g i o n a u f die bürgerl i c h e R e c h t s p f l e g e s o w i e speziell a u c h auf das G e f ä n g n i s w e s e n " 2 1 6 tritt m i t B e g i n n der k o n s t a n t i n i s c h e n Ära d e u t l i c h z u T a g e . In der chen

Gesetzgebung

kaiserli-

der f o l g e n d e n z w e i J a h r h u n d e r t e ist „bereits fast

alles n i e d e r g e l e g t , w a s m a n in j e n e r Zeit ü b e r h a u p t v o n einer verständigen u n d h u m a n e n G e f ä n g n i s v e r w a l t u n g e r w a r t e n k o n n t e " 2 1 7 . S c h o n ein G e s e t z aus d e m J a h r e 3 2 0 f o r d e r t e die B e s c h l e u n i g u n g des G e r i c h t s v e r f a h r e n s u n d die M i l d e r u n g der U n t e r s u c h u n g s h a f t , d a m i t sie d e n Charakter einer B e w ä h r u n g b e h ä l t ( V e r z i c h t auf s c h w e r e F e s s e l n , G e n e h m i g u n g v o n L i c h t g e n u ß ) u n d der U n t e r s u c h u n g s g e f a n g e n e „ n i c h t v o n d e n S t r a f e n des Kerkers v e r z e h r t w i r d , was für die U n s c h u l d i g e n elendig, für d i e S c h u l d i g e n n i c h t streng g e n u g ist". Willkür der G e f ä n g n i s w ä r t e r wird u n t e r s c h w e r e S t r a f e g e s t e l l t , d i e A u f s i c h t hierüber d e m R i c h t e r a u f e r l e g t 2 1 8 . Ein G e s e t z aus d e m J a h r e 3 2 6 g e b i e t e t die D u r c h -

bus nulla ratione possit Deo propitio dubitari: et epistolae commendationis pro necessitate cujuspiam promulgata, dies datarum, et pretia constituta, quos cum epistolis dirigunt, ibidem inserantur". Mansi 9, Sp. 942. K. Krauss, a.a.O., S. 126. 217 G. Bohne: Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.—16. Jahrhunderts, Teil II. Der Vollzug der Freiheitsstrafe, Leipzig 1925, S. 236. 218 Codes Theodosianus Villi, 3, 1. In: Theodosiani Libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianae, edidit Th. Mommsen, Berlin 1905, S. 4 4 0 : „In quacumque causa reo exhibito, sive accusator exsistat sive eum publicae sollicitudinis cura perduxerit, statim debet questio fieri, ut noxius puniatur, innocens absolvatur. Quod si accusator aberit ad tempus aut sociorum praesentia necessaria videatur, id quidem debet quam celerrime procurari. Interea vero exhibito non férreas manicas et inhaerentes ossibus mitti oportet, sed prolixiores catenas, ut et cruciatio desit et permaneat fida custodia. Nec vero sedis intimae tenebras pati debebit inclusus, sed usurpata luce vegetari et, ubi nox geminaverit custodiam, vestibulis carcerum et salubribus locis recipi ac revertente iterum die ad primum solis ortum ilico ad publicum lumen educi, ne poenis carceris perimatur, quod innocentibus miserum, noxiis non satis severum esse cognoscitur. Ulud etiam observabitur, ut ñeque his qui stratorum funguntur officio ñeque ministris eorum liceat crudelitatem suam accusatoribus vendere et innocentes intra carcerum saepta leto dare aut subtractos audientiae longa tabe consumere. Non enim existimationis tantum, sed etiam periculi metus iudici imminebit, si aliquem ultra debitum tempus inedia aut quocumque modo aliquis stratorum exhauserit et non statim eum penes quem officium custodiae est adque eius ministros capitali poena subiecerit." 167

f i i h r u n g eines S t r a f v e r f a h r e n s u n t e r ö f f e n t l i c h e r K o n t r o l l e 2 1 9 . I m J a h r 3 4 0 w u r d e die T r e n n u n g d e r G e s c h l e c h t e r i m K e r k e r — a u c h bei Gleicha r t i g k e i t der V e r g e h e n - g e s e t z l i c h f e s t g e l e g t 2 2 0 . Z u m S c h u t z e d e r A n g e k l a g t e n m u ß t e d e r K l ä g e r n a c h e i n e m G e s e t z a u s d e m J a h r 3 6 5 vor d e r Einkerkerung bestimmte Formalia erledigen221. Eine gewissenhafte Durchführung der B e w a c h u n g und B e o b a c h t u n g der eingewiesenen Personen w i r d d e n G e f ä n g n i s v o r s t e h e r n in e i n e m b e s o n d e r e n G e s e t z a u f e r l e g t . S i e sind z u s t ä n d i g für d i e S i c h e r h e i t d e r V e r w a h r u n g u n d d ü r f e n n i c h t an S t e l l e eines e n t l a u f e n e n A n g e k l a g t e n i r g e n d e i n e n

dahergelaufenen

M e n s c h e n v o r f ü h r e n . L ä ß t d e r G e f ä n g n i s w ä r t e r e i n e n G e f a n g e n e n entfliehen,

s o d r o h t i h m an seiner S t e l l e d i e S t r a f e , d i e j e n e m s o n s t a u f e r -

legt worden w ä r e 2 2 2 . Ein weiteres G e s e t z verbietet die Verschleppung eines V e r f a h r e n s u n d g e b i e t e t r e g e l m ä ß i g e B u c h f ü h r u n g über d i e Ins a s s e n d e s K e r k e r s (Zahl d e r P e r s o n e n , V i e l f a l t d e r V e r g e h e n , R a n g und Alter der Eingeschlossenen)223. E i n e erste g e s e t z l i c h e F e s t l e g u n g d e r F ü r s o r g e christlicher Priester für G e f a n g e n e f i n d e n wir i m J a h r e 4 0 9 in e i n e m E r l a ß der K a i s e r H o n o 219 c Th Villi, 3, 2, a.a.O., S. 440f.: „Si quis in ea culpa vel crimine fuerit deprehensus, quod dignum claustris carceris et custodiae squalore videtur, auditus aput acta, cum de admisso constiterit, poenam carceris sustineat atque ita postmodum eduetus aput acta audiatur. Ita enim quasi sub publico testimonio commemorano admissi criminis fiet, ut iudicibus immodice saevientibus freni quidam ac temperies adhibita videatur". 220 c Xh V i l l i , 3, 3; a.a.O., S. 4 4 1 : „Quoniam unum carceris conclave permixtos secum criminosos includit, hac lege sancimus, ut, etiamsi poenae qualitas permixtione iungenda est, sexum tamen disparem diversa claustrorum habere tutamina iubeatur". C Th V i l l i , 3, 4 : a.a.O., S. 4 4 1 : „Nullus ante carceris custodiae mancipetur, quam ab eo, qui in accusationem eius erupit, in codice publico sollemnia inscribtionis impleta sint". 2 2 2 C. Th V i l l i , 3, 5; a.a.O., S. 441f.: ,,Ad commentariensem receptarum personarum custodia observatioque pertineat, nec putet hominem abiectum atque vilem obiciendum esse iudiciis, si reus condicione aliqua fuerit elabsus. Nam ipsum volumus eius poena consumi, cui obnoxius docebitur fuisse qui fugerit. Si pro commentariensis necessitate aliqua procul ab officio egerit, adiutorem eius pari iubemus invigilare cura et eadem statuimus legis severitate constringi". 2 2 3 C Th Villi, 3, 6; a.a.O., S. 4 4 2 : „De his quos tenet career id aperta definitione sancimus, ut aut convictum velox poena subducat aut liberandum custodia diuturna non maceret. Temperar! autem ab innoxiis austera praeceptione sancimus et praedandi omnem segetem de neglegentia iudicum provinciarum ministris feralibus amputamus. Nam nisi intra tricensimum diem semper commentariensis ingesserit numerum personarum, varietatem delictorum, clausorum ordinem aetatemque vinctorum, officium viginti auri libras aerario nostro iubemus inferre, iudicem desidem ac resupina cervice tantum titulum gereutem extorrem impetrata fortuna decern auri libris multandum esse censemus". 221

168

rius u n d T h e o d o s i u s . D a n e b e n b e s t i m m t diese A n o r d n u n g eine allsonntägliche Vorführung d e r Angeklagten vor den R i c h t e r z u m Z w e c k e einer Befragung über ihre Bedürfnisse. A u ß e r d e m soll ihnen ein B a d g e w ä h r t werden224. N u r z e h n J a h r e später ( 4 1 9 ) legen dieselben Kaiser die A u f g a b e n u n d R e c h t e des Priesters im Gefängnis viel präziser fest: „ A u c h d e m Priester r ä u m e n wir die Möglichkeit ein, daß er die R ä u m e des Gefängnisses zur Ausübung d e r Mildtätigkeit b e t r e t e , die K r a n k e n heile, die A r m e n ernähre und die Unschuldigen t r ö s t e , und d a ß er, w e n n er n a c h g e n a u e r Befragung die Fälle der einzelnen kennengelernt h a t , seine M a ß n a h m e n bei d e m zuständigen R i c h t e r im R a h m e n des Gesetzes b e m i ß t . Wir wissen nämlich — und das ist a u c h in zahlreichen Bittgängen i m m e r wieder d a h e r vorgetragen w o r d e n , daß die m e i s t e n ins Gefängnis g e w o r f e n w e r d e n , damit sie der Freiheit b e r a u b t w e r d e n , vor den R i c h t e r zu t r e t e n , und w e n n einmal eine Person aus den niedrigen S c h i c h t e n b e g o n n e n h a t , das Gefängnis zu ertragen, b e v o r d e r Fall u n t e r s u c h t ist, dann wird sie g e z w u n g e n , eine u n g e r e c h t e S t r a f e zu erdulden. Es soll a u f der Stelle das z u w i d e r h a n d e l n d e G e r i c h t s p e r s o n a l 2 Pfund Gold an unsere Staatskasse zahlen, w e n n ein f r e c h e r W ä c h t e r einen Priester, der so heilige A u f g a b e n v e r r i c h t e t , ausgeschlossen h a t " 2 2 5 . D e m Priester wird also

224 Q Th villi, 3, 7; a.a.O., S. 4 4 2 f . : „Iudices omnibus dominicis diebus productos reos e custodia carcerali videant interrogent, ne his humanitas clausis per corruptos carcerum custodes negetur. Victualem substantiam non habentibus faciant ministrari, libellis duobus aut tribus diurnis vel quot existimaverint commentarienses decretis, quorum sumptibus proficiant alimoniae pauperum. Quos ad lavacrum sub fida custodia duci oportet: multa iudicibus viginti librarum auri et officiis eorum eiusdem ponderis constituía, ordinibus quoque trium librarum auri multa proposita, si saluberrime statuta contempserint. Nec deerit antistitum Christianae religionis cura Iaudabilis, quae ad observationem constituti iudicis hanc ingerat monitionem". 2 2 5 Sirmondianae 13, Codex Theodosianus, a.a.O., S. 9 1 7 : „Convenit, nostris praescita temporibus ut iustitiam inflectat humanitas. Nam cum plerique vim fortunae saevientis aufugerint adque ecclesiasticae defensionis munimen elegerint, patiuntur inclusi non minorem quam vitavere custodiam: nullis enim temporibus in luce vestibuli eis aperitur egressus. Adque ideo quinquaginta passibus ultra basilicae fores ecclesiasticae venerationis sanctitas inhaerebit. Ex quo loco quisque tenuerit exeuntem, sacrilegii crimen incurrat. Nihil enim confugientibus miserationis inpenditur, si aura liberior negatur adflictis. Eam quoque sacerdoti concedimus facultatem, ut carceris ope miserationis aulas introeat; medicctur aegros, alat pauperes, consoletur insontes et cum singulorum causas scrutatus agnoverit, interventiones suas apud iudicem conpetentem pro iure moderetur. Scimus enim idque crebris aditionibus supplicatum frequenter ideo plerosque in custodiam detrudi, ut adeundi iudicis libertate priventur et, cum semel coeperit humilior persona pati custodiam, antequem causa sciatur, iniuriae poenam sustinere conpellitur. Confestim duas auri libras 169

eine Art Mitaufsichtsrecht im Strafvollzug eingeräumt. Er wird so zu einem Anwalt der Unschuldigen und Mittellosen unter den Gefangenen. Diese Aufsichts- und Kontrollrechte der Priester werden bei Strafe der Wächter sichergestellt. Wie wir gezeigt haben, hatte in erster Linie die „strafweise Verfolgung der jungen Kirche den praktischen Anlaß zum Beginn der Gefangenenseelsorge gebildet" 2 2 6 . Sorge um kriminelle Gefangene hat es vielleicht am Rande gegeben. Die „umwälzende Veränderung" der kirchlichen Situation „von blutiger Unterdrückung bis zur Freiheit und staatlichen Sanktion gestattete es nun, sich der Sünder im Bereich der weltlichen Strafgewalt, der Verbrecher, anzunehmen" 2 2 7 . Uber Jahrhunderte hält nun, seit dieser Zeit der freieren, ungestörten Entfaltung das Bestreben der Kirche an, „auf die weltliche S traf Ordnung einzuwirken, deren Regeln im Sinne der eigenen Prinzipien zu beeinflussen und die Verbrecher, wenn möglich, vor weltlichen Strafen, insbesondere der Todesstrafe, zu bewahren" 2 2 8 . Diese Bemühungen äußerten sich am eindeutigsten im Asylprivileg der Kirche, der österlichen Indulgenz und im bischöflichen Interzessionsrecht. Hierauf kommen wir noch zu sprechen. Es nimmt nicht wunder, daß bei Ambrosius und Augustin völlig andere Töne angeschlagen werden als in den ersten drei Jahrhunderten der Kirche. Sie schreiben auf dem Höhepunkt der freien Entfaltung der Kirche, unbeschwert von staatlichem Druck oder sonstiger Repression, wie sie die ersten Christen erlebt haben. Jetzt konnte man sich eine volle Zuwendung zu Kriminellen risikofrei leisten. Die eigene Freiheit spiegelt sich in der Freiheit und wachsenden Unbekümmertheit des Umgangs mit diesen wider. 3.6.2

Das Asylprivileg

der Kirche

Das kirchliche Asylrecht ist „eine Erbschaft aus der vorchristlichen Zeit" 2 2 9 . Als Asyl (ααύλον, unverletzlich) galt eigentlich jedes Heiligtum mit Altären, Götterbildern, Schätzen und allem, was dazu gehörte. Die Heiligtümer liehen Personen ihren Schutz. Es galt als Frevel, Bedrängte, Verfolgte und sogar Verbrecher, die in einen Tempel geflohen fisco nostro contumax solvet officium, si sacerdotem negotia tarn sancta curantem ianitor feralis excluserit". 226

So auch E. Stromberg: Beiträge zur Geschichte der Seelsorge in der Strafrechtspflege. Diss. jur. Hamburg 1953, S. 9. 227 A.a.O., S. 10. 228 A.a.O., S. 11. 229 F. Α. K. Krauss, a.a.O., S. 107.

170

waren, ohne weiteres von dieser Zufluchtstätte wegzureißen. In besonderer Weise forderte es die Rache der Götter heraus, wenn man sich in ihren Heiligtümern an Unschuldigen vergriff. Höchstens bei solchen Personen wagte man eine Ausnahme zu machen, „denen infolge über sie verhängter Atimie das Betreten heiliger Orte verboten war, oder die bereits zum Tode verurteilt waren... Jeder andere Flüchtling war sicher, auch wenn es ein Sklave war" 2 3 0 . Während es im griechischen Bereich eine Vielzahl von Asylstätten gegeben zu haben scheint 231 , hat Rom das Asylrecht offenbar nicht gekannt. Th. Mommsen bemerkt dazu: „Den Tempel frieden, die besondere Unverletzlichkeit des Gotteshauses und alles dessen, was in demselben sich befindet, kennt das römische Strafrecht wohl insofern, als die Beraubung des Tempels, das sacrilegiurn schwerer geahndet wird als diejenige des bürgerlichen und des Gemeindehauses; aber die Ausdehnung dieser ασυλία auf den Schutz der Person vor der Strafgewalt, die Unzulässigkeit der Verhaftung eines Angeschuldigten, solange er in dem Heiligtum verweilt, ist ein durch die dauernde Rechtsunsicherheit der griechischen Politien hervorgerufener Mißbrauch, von dem die römische Republik sich frei gehalten hat