Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien 9783837966237, 9783837922424


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German Pages 313 [321] Year 2014

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Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien
 9783837966237, 9783837922424

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Jan Lohl, Angela Moré (Hg.) Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus

https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Folgende Titel sind u. a. in der Reihe »Psyche und Gesellschaft« erschienen: Florian Steger (Hg.): Was ist krank? Stigmatisierung und Diskriminierung in Medizin und Psychotherapie. 2007. Boris Friele: Psychotherapie, Emanzipation und Radikaler Konstruktivismus. Eine kritische Analyse des systemischen Denkens in der klinischen Psychologie und sozialen Arbeit. 2008. Hans-Dieter König: George W. Bush und der fanatische Krieg gegen den Terrorismus. Eine psychoanalytische Studie zum Autoritarismus in Amerika. 2008. Robert Heim, Emilio Modena (Hg.): Unterwegs in der vaterlosen Gesellschaft. Zur Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs. 2008. Hans-Joachim Busch, Angelika Ebrecht (Hg.): Liebe im Kapitalismus. 2008. Angela Kühner: Trauma und kollektives Gedächtnis. 2008. Burkard Sievers (Hg.): Psychodynamik von Organisationen. Freie Assoziationen zu unbewussten Prozessen in Organisationen. 2009. Lu Seegers, Jürgen Reulecke (Hg.): Die »Generation der Kriegskinder«. Historische Hintergründe und Deutungen. 2009. Christoph Seidler, Michael J. Froese (Hg.): Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland. 2009. Hans-Jürgen Wirth: Narcissism and Power. Psychoanalysis of Mental Disorders in Politics. 2009. Hans Bosse: Der fremde Mann. Angst und Verlangen – Gruppenanalytische Untersuchungen in Papua-Neuguinea. 2010. Benjamin Faust: School-Shooting. Jugendliche Amokläufer zwischen Anpassung und Exklusion. 2010. Jan Lohl: Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zu Generationengeschichte des Nationalsozialismus. 2010. Markus Brunner, Jan Lohl, Rolf Pohl, Sebastian Winter (Hg.): Volksgemeinschaft, Täterschaft und Antisemitismus. 2011. Hans-Jürgen Wirth: Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. 4., korrigierte Auflage 2011. Oliver Decker, Christoph Türcke, Tobias Grave (Hg.): Geld. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2011. Johann August Schülein, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Analytische Sozialpsychologie. Klassische und neuere Perspektiven. 2011. Antje Haag: Versuch über die moderne Seele Chinas. Eindrücke einer Psychoanalytikerin. 2011. Tomas Böhm, Suzanne Kaplan: Rache. Zur Psychodynamik einer unheimlichen Lust und ihrer Zähmung. 2., ergänzte Auflage 2012. Markus Brunner, Jan Lohl, Rolf Pohl, Marc Schwietring, Sebastian Winter (Hg.): Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. 2012. Thomas Auchter: Brennende Zeiten. Zur Psychoanalyse sozialer und politischer Konflikte. 2012. Hartmut Radebold (Hg.): Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen. 3. Aufl. 2012. Helmut Dahmer (Hg.): Analytische Sozialpsychologie. Texte aus den Jahren 1910–1980, 2 Bände. 2013. David Tuckett: Die verborgenen psychologischen Dimensionen der Finanzmärkte. Eine Einführung in die Theorie der emotionalen Finanzwirtschaft. 2013.

»PSYCHE UND GESELLSCHAFT« HERAUSGEGEBEN VON JOHANN AUGUST SCHÜLEIN UND H ANS -J ÜRGEN W IRTH https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Jan Lohl, Angela Moré (Hg.)

Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien Mit Beiträgen von Ute Althaus, Wolfgang Benz, Oliver Decker, Kurt Grünberg, Hannes Heer, Elke Horn, Jan Lohl, Friedrich Markert, Angela Moré, Heike Radeck, Katharina Rothe und Ruth Waldeck

Psychosozial-Verlag https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. E-Book-Ausgabe 2014 © der Originalausgabe 2014 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 9978 - 18; Fax: 06 41- 969978- 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Paul Klee »Kleinwelt«, 1914 Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-world.de ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2242-4 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6623-7 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Inhalt

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Einleitung Das Erbe des Nationalsozialismus – eine Tagungsreihe Heike Radeck Der Skandal als vorlauter Bote Deutsche Geschichtsdebatten als Generationengespräch Hannes Heer Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Wolfgang Benz »Morden für das vierte Reich« Transgenerationalität und Rechtsextremismus Jan Lohl Emil Behr – Briefzeugenschaft vor | aus | nach Auschwitz Zum Szenischen Erinnern der Shoah Kurt Grünberg & Friedrich Markert NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen Angela Moré Spuren des Grauens Über Kriegserlebnisse der Väter und ihre Schatten auf die Nachkriegsgeneration Ruth Waldeck

15 25

147 169

197

209 225

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Inhalt

Was tun mit dem transgenerationalen Erbe? Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog Elke Horn

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Lügen – Wünsche – Wirklichkeiten Über die Folgen der Verleugnung der NS-Geschichte der Eltern und Großeltern für die Nachkommen und die Notwendigkeit, diese Geschichten aufzuarbeiten Ute Althaus

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Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus und Geschlecht Katharina Rothe & Oliver Decker

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung

Mit nahezu siebzig Jahren liegt das Ende des Nationalsozialismus um die Dauer eines durchschnittlichen Menschenlebens zurück. Die Hoffnung, der Wunsch und die Illusion, er habe für die späteren, nach dem Krieg geborenen Menschen keine Bedeutung mehr, wuchsen mit der Anzahl der Nachkriegsjahrzehnte. Das Unbewusste kennt jedoch keine Zeitvorstellungen, Vergangenes ist in ihm gegenwärtig, wie bereits der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, feststellte. Die Organisation des Unbewussten kennt nur das Präsens, in welchem Emotionen, Vorstellungen, unbewusste Fantasien und Träume aktualisiert und widerspruchsfrei nebeneinander stehen. Dies gilt auch, wenn es sich um historisch weit auseinander liegende Eindrücke und Erfahrungen handelt. In der bewussten Erinnerung erscheinen vergangene und gegenwärtige oder in der Zukunft erwartete Ereignisse getrennt, im Unbewussten durchweben sich Vergangenheit, und Gegenwart zu einer einzigen psychischen Aktualität. Hier erhalten sich auch Jahrzehnte alte Ereignisse so frisch und lebendig, als hätten sie gerade eben erst statt gefunden. Dass dies auch für Ereignisse gilt, die ein Individuum gar nicht selbst erlebt haben muss, von dem es vielmehr nur eine unbewusste Ahnung empfindet, belegen zahlreiche psychoanalytische Fallgeschichten. Dieses Phänomen ist inzwischen zum Gegenstand umfassender Forschungen geworden. Emotional schmerzhafte oder verpönte Erinnerungen der Eltern können in den Beziehungen zu ihren Kindern szenisch wiederholt und so psychisch aktualisiert werden. Auf diesem Weg finden sie Eingang in die Psyche der Kinder und Enkel. Zu den unausgesprochenen Erfahrungen der älteren Generationen, die auf diesem Weg tradiert werden, gehören Ereignisse von traumatischer Qualität, die mangels Bewältigung abgespalten wurden und darum psychisch nicht integriert, betrauert und verarbeitet werden konnten. Zum anderen werden verschwiegene eigene Beteiligungen an Verbrechen oder die Duldung derselben durch die Übermittlung von Schuld- und Schamgefühlen über die Generationengrenze hinweg tradiert. 7 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

Aufseiten der Verfolgten des Nationalsozialismus zeigt sich, dass angesichts der multiplen Extremtraumatisierungen, die sie erlitten haben, deren unverarbeitbare Bedrohungs- und Gewalterfahrungen gegenwärtig blieben und an ihre Nachkommen weitervermittelt wurden, wie der Beitrag von Kurt Grünberg und Friedrich Markert in diesem Band zeigt. Die Überlebenden der Shoah konnten zum einen oftmals das unsagbare Grauen ihres Erlebens nicht in Worte fassen. Aber sie versuchten auch, die schrecklichen Bilder, die sich während ihrer Verfolgung, Deportation und der Ermordung von Familienangehörigen und anderen Menschen in ihr Gedächtnis traumatisch eingeschrieben hatten, von sich und ihren Kindern fernzuhalten, was ihnen jedoch häufig nicht gelang. Nonverbal-körpersprachlich, szenisch und in ihren Affekten, aber auch im Verlust ihrer Lebenssicherheit und ihrer lebendigen Emotionalität, durch ihre Überlebens-Schuldgefühle und den seelischen Schmerz kamen die traumatischen Erfahrungen als sprachlose und rätselhafte Botschaften bei den Kindern und Enkeln an. Alexander und Margarete Mitscherlich stellen in ihrem 1967 veröffentlichten Buch Die Unfähigkeit zu trauern fest, dass die Anhänger/innen und Mitläufer/ innen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems es vermieden, sich mit dem Verlust ihrer kollektiven Ideale und der Größenfantasien, über andere Menschen und Völker zu herrschen, sowie mit ihrer Bereitschaft zu Grausamkeit und brutaler Unmenschlichkeit auseinander zu setzen. Anstatt dies als eklatante Formen der Schuld und Anlass tiefster Schamgefühle anzuerkennen, nahmen sie ihren Kindern gegenüber eine Position der Rechtfertigung und Verharmlosung ein und pfropften ihren Nachkommen unbewusst ihre abgewehrten Schuld- und Schamgefühle auf. Auch die Traumatisierung der deutschen Bevölkerung ab dem Zeitpunkt, als der von der großen Mehrheit gewollte und unterstützte oder zumindest hingenommene Krieg sich zurück gegen die deutschen Soldaten und die deutsche Zivilbevölkerung richtete, hinterließ transgenerationale Spuren. An den zahllosen in deutschem Namen verübten Grausamkeiten und Verbrechen war ein großer Teil der damals erwachsenen Deutschen beteiligt. Dies wird offenkundig, wenn man sich die dafür erforderliche umfassende Logistik der Organisation der Deportationen, Vernichtungen und der Aneignung des geraubten Eigentums der Verfolgten und Ermordeten vergegenwärtigt. Einige der Kinder und noch die Enkel oder gar Großenkel der Täter, Mitläufer und Zuschauer der NS-Verbrechen kommen von den sie bedrängenden Fragen, dumpfen Gefühlen, Ängsten und Zweifeln nicht los und stehen unter einem inneren Druck, etwas wieder gut zu machen, von dem sie nicht genau wissen, was es ist. Die Angehörigen dieser Generationen beginnen in sich die dunklen Spuren ihrer Selbstunsicherheit und Zweifel, dumpfe Gefühle von unverstandener Schuld und Irritationen zu entdecken. Sukzessive realisieren sie, dass ihnen die Schuld- und Schamgefühle ihrer Vorfahren aufgebürdet wurden, die sie stellvertretend für die eigentlich Verantwortlichen, aber auch anstelle der 8 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

Mehrheit ihrer eigenen Generation abtragen. Während viele der Täter/innen selbst weder Schuldgefühle noch Scham über die von ihnen begangenen oder mitverantworteten Verbrechen empfanden, tauchen diese in den Nachkommen oft in diffusen Empfindungen von Schuld und Scham auf, aber auch in Form von tiefer greifenden Identitätsstörungen, Selbstwertzweifeln, Depressionen und autoaggressiven Tendenzen. Nicht selten unterliegen sie dem Zwang, Dinge tun zu müssen, die sich erst in mühsamen familiengeschichtlichen Rekonstruktionen oder in therapeutischen Prozessen als unbewusste Reinszenierungen von erahnten Schicksalen der Eltern oder Großeltern zeigen. Nur für einen kleineren Teil der Kinder von Täter/innen sind die ideologische Verblendung, die Entwertungen anderer Völker und Kulturen, die Rechtfertigungsstrategien nach dem Krieg so klar erkennbar wie z. B. für den gegenwärtigen Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, dessen Vater noch bis ins hohe Alter unbelehrbar und uneinsichtig an seiner NS-Ideologie festhielt und den Sohn wie dessen Freunde und Angehörige damit zu beeinflussen suchte (vgl. Die Zeit Nr. 3, 10.01.2013, S. 3f.). Gelegentlich gelingt es in der Tat den Großvätern, die Enkel/innen noch einmal in den Bann ihrer alten nationalsozialistischen Vorstellungen zu ziehen, insbesondere, wenn sie die Loyalität der Kinder und Enkel einfordern und letztere versuchen, die konflikthaft-ambivalenten Beziehungen zwischen Großeltern und Eltern zu reparieren. Diese Gefühlserbschaften wecken aber auch Abscheu, Irritationen und Schamgefühle bei den Nachkommen, wie dies u. a. Sigmar Gabriel in dem oben genannten ZeitBericht oder Ute Scheub in ihrer Studie Das falsche Leben (2006) verdeutlichen. Die Einsicht in die Weitergabe transgenerationaler Gefühlserbschaften wurde ab den 1960er und 1970er Jahren nach und nach durch psychoanalytische Therapien deutlich. Der Begriff der »Gefühlserbschaft« geht auf Freud zurück, der am Ende seiner kulturtheoretischen Schrift Totem und Tabu bereits im Jahr 1909 einen Zusammenhang zwischen verleugneter Schuld der älteren und der Erahnung derselben bei den jüngeren Generationen vermutete. Jenseits der bewusst gewollten kulturellen Tradierung geben die älteren Generationen an die nachfolgenden gerade das weiter, was sie vor diesen, aber auch vor sich selbst verbergen wollen. Diese Weitergabe vollzieht sich unbewusst in verschlüsselten Botschaften und Signalen. Auch aus den Forschungen zur Bindungstheorie ergeben sich Erkenntnisse über die unbewusste Reproduktion von Beziehungsmustern und -strukturen, mit welchen vor allem traumatische Erfahrungen weiter gegeben werden. Der Säuglingsforscher Allan Schore bestätigt die enorme Bedeutung, die der transgenerationalen Übertragung von Traumen, emotionalen und psychischen Störungen in den Interaktionsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern zukommt. Sie sind bereits ab Lebensbeginn und während des größten Teils der Entwicklung des Kindes wirksam (Schore 2009, S. 28; s.a. Schore 1994; Main/Hesse 1990). Während sich der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott um die unmittelbaren Auswirkungen des 9 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

Krieges und seiner Schrecken sowie der oft damit einhergehenden Trennungen auf die Psyche von Kindern sorgte, sorgt sich die aktuelle Auseinandersetzung mit transgenerationalen Übertragungen um die psychischen Folgen bei den Nachgeborenen. Der vorliegende Band geht auf eine Tagungsreihe an der Evangelischen Akademie Hofgeismar zurück, die von der damaligen Referentin der Akademie, Heike Radeck, initiiert wurde. In ihrem Beitrag fasst Heike Radeck die Geschichte dieser Tagungsreihe zusammen. Mehrheitlich waren die Autor/innen dieses Bandes als Referent/innen an (mindestens) einer dieser Tagungen beteiligt. Andere Beiträge wurden zusätzlich in diesen Band aufgenommen, um ein noch vollständigeres Bild der Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu erzielen. Als zweiter Beitrag folgt »Der Skandal als vorlauter Bote« des Historikers Hannes Heer. Heer, der die erste Version der Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg organisierte, stellt in diesem Beitrag die Frage nach einem »angemessenen Umgang mit der Vergangenheit« und zieht dafür exemplarisch die Umgangsweisen der Schriftsteller Günter Grass und Martin Walser mit ihrer NS-Vergangenheit heran. An diesen Beitrag schließt sich die Arbeit über Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland des Historikers Wolfgang Benz an. Benz ist Professor emeritus der Technischen Universität Berlin und war von 2009 bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung derselben Universität. In seinem Beitrag skizziert er detailgenau und kenntnisreich die Geschichte des Rechtsextremismus nach dem Ende der NS-Herrschaft und in der Bundesrepublik Deutschland. Aus sozialpsychologischer Sicht vertieft im Anschluss daran der Sozialwissenschaftler Jan Lohl die Frage nach dem Verhältnis von historischem Nationalsozialismus und aktuellem Neonazismus aus einer transgenerationalen Perspektive. Hierbei wendet er sich in einem ersten Schritt dem psychischen Erbe des Nationalsozialismus bei Kindern und Enkel/innen von »NS-Volksgenoss/innen« zu. In einem zweiten Schritt geht er auf den aktuellen Neonazismus ein und thematisiert die Bedeutung dieses psychischen Erbes für die Entwicklung von neonazistischen Orientierungen. Der Beitrag von Kurt Grünberg und Friedrich Markert, die am Sigmund-FreudInstitut gemeinsam das Forschungsprojekt Szenisches Erinnern der Shoah durchführen, untersucht hingegen exemplarisch das Weiterwirken des extremen Traumas eines KZÜberlebenden in den folgenden Generationen. Die Autoren betrachten Briefzeugnisse des Auschwitz-Überlebenden Emil Behr, der diese vor allem während seiner KZ-Haft verfasst hatte. Mit dem Konzept des »szenischen Erinnerns der Shoah« werden nicht nur schriftliche Dokumente untersucht, sondern auch persönliche Gespräche mit Monique Behr, einer Enkelin Emil Behrs, geführt. Sie hat zusammen mit Jesko Bender die Ausstellung »Emil Behr – Briefzeugenschaft vor/aus/nach Auschwitz, 1938–1959« für das Frankfurter Museum Judengasse kuratiert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit 10 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

stehen die sequenzielle Traumatisierung Emil Behrs, die psychosozialen Spätfolgen der Verfolgung sowie die Tradierung des erlittenen Traumas an seine Enkelin. Auf diesen Text folgt der Beitrag von Angela Moré, der die verschiedenen Auswirkungen, die die Schuldverstrickungen von Täter/innen und Mitläufer/innen des Nationalsozialismus in deren Nachkommen haben, thematisiert. Diese nahmen sowohl die indirekten Äußerungen, die Lügen und Verdrehungen, die emotionalen Reaktionen und affektiven Zustände aufseiten der (Groß-)Eltern war wie auch deren ungewollte, oft nur körpersprachlich und affektiv übermittelte Ängste, Konflikte und Tabus. Nicht selten reagierten die einst offen sich zum Nationalsozialismus bekennenden Eltern äußerst aggressiv auf Nachfragen. Aber es kam auch häufig vor, dass sie die Verbrechen verharmlosten oder, wie einst, anderen die Schuld gaben und sich als Opfer darstellten. In den nachfolgenden Generationen entstanden sowohl Identifikationen wie Gegenidentifikationen und es bildeten sich Introjekte und Leerstellen, die meist erst durch psychoanalytische Therapien sichtbar wurden. Die Autorin beschreibt sowohl die Mechanismen dieser unbewussten transgenerationalen Übermittlungen wie die Auswirkungen derselben auf die Nachkommen. Diese Zusammenhänge werden im Anschluss daran durch den autobiografischen Text von Ruth Waldeck veranschaulicht. Wie sich Kriegserlebnisse von Vätern als »Gefühlserbschaften« in die Familiengeschichte und körperlich in die nachfolgende Generation einbrennen können, wird an zwei Beispielen anschaulich gemacht: der Reise Waldecks mit ihrem Vater zu einem seiner Kriegsschauplätze, die zugleich zu einer inneren Reise der Autorin voller Zweifel und Fragen wird, sowie der Begegnung Waldecks mit einem Studienfreund in Italien, bei der sich eine Szene ereignet, die von beiden als eine Reinszenierung mörderischer Kriegsgreuel empfunden wird. Dabei gelingt es der Frankfurter Psychoanalytikerin, durch die selbstreflexive Einbeziehung ihrer Affekte und Reaktionen das interaktive Geschehen zwischen sich und ihrem Vater sowie in der Begegnung mit dem Studienfreund in jener Tiefendimension zu erfassen, die die grauenhaften Schatten der Vergangenheit sichtbar und spürbar werden lässt. Ihr Beitrag macht deutlich, wie es der nachfolgenden Generation möglich sein kann, diese unsagbaren Botschaften zu entschlüsseln: durch die Ermöglichung des Sprechens über jene grauenvollen Kriegshandlungen und über ihr eigenes Erleben beim Gewahrwerden des Grauens, sodass bewusst und begreifbar wird, was sie zuvor nur als unbewusste Erbschaft weitergeben konnten. Für viele heute lebende Nachkommen besteht die Möglichkeit hierzu jedoch nicht mehr. Die Düsseldorfer Psychoanalytikerin Elke Horn fragt bezogen auf die Gegenwart und die in ihr sich reinszenierenden Konflikte nach den Möglichkeiten des Umgangs mit dem transgenerationalen Erbe. Im ersten Teil ihrer Studie werden Spaltungsprozesse auf gesellschaftlicher und individueller Ebene als Folge der NS-Verbrechen und deren Auswirkungen auf das Erleben von Identität beschrieben. Individuelles und kollektives Identitätserleben werden dabei als Resultate von Selbst- und Fremdzuschreibungen 11 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

verstanden. Die Autorin sieht den Dialog zwischen ehemals verfeindeten Gruppen als eine Möglichkeit an, Spaltungen sichtbar zu machen und zu überwinden. Im zweiten Teil ihres Beitrags stellt Horn Dialogbeispiele aus dem deutsch-jüdischen Kontext vor und analysiert deren Gehalte, phantasmatische Zuschreibungen und Auflösungen. Dabei kommt sie zu der Erkenntnis, dass es sich bei der emotionalen Reinszenierung von Opfer-Täter-Konstellationen in der zweiten Generation und dem damit verbundenen Kollaps des inneren Raumes um regelmäßig auftretende Phänomene handelt, die häufig zum Scheitern des Dialogs führen, wenn die Ursachen nicht bewusst gemacht werden können. Um dies zu verhindern oder aus dieser Konstellation wieder heraus zu finden, bedarf es, wie die Autorin anhand von Beispielen zeigt, eines heilsamen »Dritten«. Auch Ute Althaus, in Basel lebende Psychotherapeutin, hat sich bereits seit vielen Jahren mit der eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt: mit dem Vater und überzeugten Nationalsozialisten, der an einem der letzten Kriegstage zum Mörder wird; mit den Eltern, die gemeinsam nach dem Krieg die Begeisterung für den Nationalsozialismus und die Mitschuld vehement leugnen; mit der eigenen Geschichte, dem Erahnen des Falschen und dem mühsamen Abtragen der von Lügen überlagerten Vergangenheit. Seit Jahren tritt sie in der Öffentlichkeit auf und reflektiert in dem Beitrag dieses Buches nun auch, wie sich diese Auseinandersetzung mit der Familienvergangenheit auf die persönliche Entwicklung auswirkt und warum sie not-wendig ist. In dieser Reflexion bezieht sie sich auch auf die Aussage Raoul Hilbergs, dass der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte ist. In dem letzten Beitrag dieses Buches untersuchen Katharina Rothe und Oliver Decker empirisch das Verhältnis von nationalsozialistischer Gefühlserbschaft und Geschlecht bzw. Geschlechterkonzeptionen des Nationalsozialismus, die sich in die Gefühlserbschaften hinein auswirken. Sie vertreten hierbei theoretisch kenntnisreich und empirisch sensibel die These, dass (Geschlechter)Differenz auf der latenten Ebene der Fantasie der Volksgemeinschaft und dem Phantasma der deutschen Nation keine Bedeutung habe. Zwar teilen die Herausgebenden diese These nicht, halten aber die Diskussion über die latenten bzw. unbewussten Beziehungen zwischen den Konstrukten von Nation, Generation und Geschlecht für eine zentrale Fragestellung, die bislang wenig untersucht wurde. Dass gerade diese Differenz am Ende des Bandes steht, ist daher kein Zufall. Denn der Beitrag von Decker und Rothe sensibilisiert für neue kulturgeschichtliche Fragestellungen und sozialpsychologische Perspektiven, die von einer psychoanalytischen Generationengeschichte stärker zu thematisieren wären. Die Herausgebenden möchten mit der vorliegenden Textsammlung jedoch nicht nur die Geschichte des Nationalsozialismus in ihrer unbewussten psychodynamischen (Weiter-)Wirksamkeit thematisieren und in das öffentliche Bewusstsein bringen. Dieser Bezug hat auch exemplarischen Charakter, denn er soll auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass und wie sich Phänomene der Dehumanisierung anderer Menschen, ihrer Ausgrenzung, Verfolgung, und Ermordung in die Psyche der Nachkommen 12 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Einleitung

sowohl der Verfolgten wie der Täter/innen einschreiben. Dies gilt vermutlich für alle Grausamkeiten und Greuel, die Menschen anderen Menschen antun. Dieses Wissen findet sich auch wieder in den Traumatheorien und -therapien, die bestätigen, dass man made disasters und die gezielte Verletzung des Lebensrechtes eines Menschen zu den schwersten Formen der Traumatisierung führen. Die Dehumanisierung des Anderen schlägt jedoch auf die Psyche derjenigen zurück, die sie vollziehen: die von Menschen begangenen Grausamkeiten untergraben ihr eigenes Menschsein in einem ihnen nicht bewussten Ausmaß und überdauern die Generationenfolge. Bemühungen um die Bewältigung und Aufarbeitung benötigen daher mehrere Generationen. Wo dies nicht gelingt, droht die Wiederholung des Grauens qua Reinszenierungen. Eine sozialpsychologisch-psychoanalytische Perspektive auf die globalen Ereignisse von Kriegen, Vertreibungen und Bürgerkriegen verlangt auch eine Einbeziehung der Vorgeschichten derselben, der Kolonial-, Kriegs- und Ausbeutungsprozesse vieler Generationen. Ansätze hierzu finden sich zum Beispiel bei Autor/innen wie Vamik Volkan (1999), Dan Bar-On (2006) oder Luc Ciompi und Elke Endert (2011) und werden durch die Beiträge des vorliegenden Buches bestärkt. Angela Moré & Jan Lohl

Literatur Bar-On, Dan (2006): Die »Anderen« in uns. Dialog als Modell der interkulturellen Konfliktbewältigung. (Aktual. Neuaufl.) Hamburg (edition Körber Stiftung). Bode, Sabine (2009): Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart (Klett-Cotta). Ciompi, Luc & Endert, Elke (2011): Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). Main, Mary & Hesse, Erik (1990): Parents’ unresolved traumatic experiences are related to infant disorganized attachment status. Is frightend and/or frightening parental behavior the linking mechanism? In: Greenberg, Mark T., Ciccetti, Dante & Cummings, E. Mark (Hg.): Attachment in the preschool years. Chicago (Univ. Chicago Press), S. 161–182. Mitscherlich, Alexander & Margarete (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. München, Zürich (Piper). Scheub, Ute (2006): Das falsche Leben. Eine Vatersuche. München (Piper). Schore, Allan (1994): Affect regulation and the origin of the self. The neurobiology of emotional development. Hillsdale, NJ (Erlbaum). Schore, Allan (2009): »Traumatische Beziehungserfahrungen brennen sich direkt in das kindliche Gehirn ein«. Interview mit Anne-Ev Ustorf. Psychologie heute, 10/2009, 26–29. Volkan, Vamik (1999): Blutsgrenzen. Die historischen Wurzeln und die psychologischen Mechanismen ethnischer Konflikte und ihre Bedeutung bei Friedensverhandlungen. München, Wien (Scherz). Wardi, Dina (1997): Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern von Überlebenden. Stuttgart (Klett-Cotta). 13 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Das Erbe des Nationalsozialismus – eine Tagungsreihe Heike Radeck

In dem Zeitraum von 2004 bis 2012 haben an der Evangelischen Akademie Hofgeismar fünf Tagungen stattgefunden, in deren Zentrum die Debatte um das Erbe des Nationalsozialismus stand. Sie waren nicht im Vorhinein als eine Tagungsreihe gedacht, sondern haben sich aus der Reflexion über die je vorangegangenen Veranstaltungen und in Reaktion auf Anregungen von Referierenden oder Tagungsteilnehmer/ innen entwickelt. Wichtig war dem jeweiligen Vorbereitungsteam dabei eine Form des Erinnerns und Umgangs mit dem Nationalsozialismus, die sich nicht in eindeutigen entlastenden Zuordnungen erschöpft. Denn für die Erinnerungskultur in Deutschland hängt viel davon ab, ob auch Verschwiegenes, Verdrängtes und Tabuiertes zur Sprache und ins Bewusstsein kommen dürfen. Dazu gehört ganz wesentlich die Auseinandersetzung mit den Deutschen als Täterinnen und Tätern. Nicht um mit dem Zeigefinger auf »die Bösen« zu zeigen und sie selbstgerecht mit ihren Verbrechen zu konfrontieren, sondern um die Leidensgeschichten zu unterbrechen, die das Verschweigen ihrer Taten in ihren Familien ausgelöst hat. Inzwischen liegen zahlreiche Fallbeschreibungen aus Forschung, therapeutischer Praxis oder literarischer Reflexion auf die eigene Lebensgeschichte vor, die zeigen, wie massiv die verschwiegenen Kriegsverbrechen in den Familien weiter wirken und dem Leben von Kindern und Enkelkindern eine bedrückende Bürde auferlegen. Auf erschreckende Weise spiegelt sich hier die biblische Ahnung, dass die Missetaten der Väter (und Mütter) bis ins dritte und vierte Glied fortwirken (Exodus 20,5). Oder wie der Prophet Ezechiel es in ein griffiges Bild fasst: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden« (Ezechiel 18,2). Im Rückblick auf diese – regelmäßig von 80 bis 100 Teilnehmenden besuchte – Tagungsreihe möchte ich den Versuch unternehmen, einige rote Linien aufzuzeigen, die alle an der Tagungskonzeption Beteiligten immer wieder beschäftigt haben. Vorab und zur besseren Orientierung seien die fünf Veranstaltungen mit Titel und Jahreszahl genannt. Im Weiteren wird auffallen, dass ich auf die Tagung »Vaterlose 15 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Heike Radeck

Töchter« (2010) nicht weiter eingehen werde. Sie war von der Forschungsgruppe »Weltkrieg2Kindheiten« angestoßen worden, die eine Zeitlang an der Akademie Hofgeismar beheimatet war. Die von der Forschungsgruppe verfolgte Perspektive macht das Leid der Kriegskinder in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich, an den dramatischen Kriegs- und Nachkriegsereignissen fest und klammert das Leid, welches durch die Täterschaft der Eltern oder Großeltern verursacht wurde, aus. Damit steht die Veranstaltung außerhalb der hier beschriebenen und für die anderen vier Veranstaltungen maßgeblichen Gedankengänge. Die Tagungen: ➣➣ Das Ende des Schweigens? – Auswirkungen traumatischer Kriegserfahrungen über mehrere Generationen (29.10.–31.10.2004) ➣➣ »In der Erinnerung« – Die Nazizeit in der familiären Überlieferung und im neuen deutschen Familienroman (27.01.–29.01.2006) ➣➣ Schweigen tut weh – Deutsche Familienlegenden und was sich dahinter verbirgt (30.01.–01.02.2009) ➣➣ Vaterlose Töchter – Vom Umgang mit weiblichen Verlusterfahrungen bei »Kindern des Zweiten Weltkriegs« (29.01.–31.01.2010) ➣➣ Das psychohistorische Erbe der Nazizeit – und seine Spuren in der Gegenwart (20.01.–22.01.2012) Als damalige Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar wurde ich durch ein Feature von Hannes Heer zum Thema »Unscharfe Bilder. Der Vernichtungskrieg im neuen deutschen Familienroman« ( Juli 2004) auf dieses neue literarische Genre aufmerksam. Der neue deutsche Familienroman tauchte in den Jahren 2003/2004 mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen auf und zeichnete sich dadurch aus, dass er neue Räume im Blick auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus eröffnete. Zweiter Weltkrieg und NS-Zeit wurden hier als Familiengeschichte erzählt. Die Autor/innen nehmen dabei eine doppelte Rolle ein: Sie leisten Forschungsarbeit im Blick auf die schuldhaften Verstrickungen eigener Familienmitglieder und versuchen so etwas wie eine der »Tatsachenwahrheit« (Hannah Arendt) möglichst nahe kommenden Rekonstruktion der Geschehnisse. Und sie schreiben aus der Rolle eines Familienangehörigen heraus, der mit den Täterinnen und Tätern in einer familiären Bindung steht. So bleibt es nicht bei dem Blick auf die Taten, sondern Verstehenshintergründe werden ausgeleuchtet, begleitende Emotionen und Fantasien rekonstruiert oder imaginiert bis hin zu einem liebevollen Blick auf den Vater, den Bruder, die Mutter. Hannes Heer ging in dem Radiofeature u. a. auf die Romane von Stefan Wackwitz Ein unsichtbares Land (2003), Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders (2003), Wibke Bruhns Meines Vaters Land (2004), Tanja Dückers Himmelskörper (2003) und Reinhard Jirgl Die Unvollendeten (2003) ein. Dazu zählen lassen sich zahlreiche 16 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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weitere Publikationen wie etwa die Arbeiten von Dagmar Leupold Nach den Kriegen (2004) und Martin Pollack Der Tote im Bunker (2004). Etwas später und stärker dokumentarisch dann: Ute Althaus »NS-Offizier war ich nicht«. Die Tochter forscht nach (2006) sowie Alexandra Senfft Schweigen tut weh (2007). Gemeinsam konzipierten wir dann die Tagung »In der Erinnerung«. Ausgangspunkt war die Unterscheidung der drei Ebenen des öffentlichen Gedenkens bzw. der öffentlichen Geschichtsschreibung samt ihrer pädagogischen Vermittlung, der familiären Überlieferung, also den Familiengeschichten oder Legenden und drittens der literarischen Erinnerung, hier in Form des neuen deutschen Familienromans. Einige Jahre zuvor war die Veröffentlichung von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis (2002) erschienen mit dem Ergebnis, dass zwei Drittel der aufgezeichneten Familiengespräche aus Opfer- oder Heldenerzählungen bestehen. Und das, obwohl bei den Kindern und Enkeln der Tätergeneration durchaus ein – auch abrufbares – kognitives Wissen über den Nationalsozialismus konstatiert wurde. Wie immer diese kontrovers diskutierte Studie auch zu bewerten ist, hat sie doch einen entlarvenden Blick auf das Familiengedächtnis geworfen und gezeigt, nach welchen Mustern von Vernebelung, Verdrehung und Verdrängung die Fortschreibung von Familiengeheimnissen geschehen kann. Im Unterschied dazu boten die Lesungen von Tanja Dückers und Martin Pollack aus ihren oben genannten Romanen einen Einblick in eine überzeugende Verbindung von geschichtlicher Wahrheit und privater Erinnerung(sarbeit). Der Erfolg dieser Tagung und der Wunsch vieler Teilnehmenden nach einer Fortsetzung führte im Jahr 2009 zu der Folgeveranstaltung »Schweigen tut weh«, in der ergänzend zu den Lesungen von Alexandra Senfft und Ute Althaus (s. o.) die Verfilmungen zweier Familiengeschichten diskutiert wurden. Besonders eindrucksvoll war der Film 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß. Zum einen, weil sein Regisseur, Malte Ludin, der Onkel von Alexandra Senfft ist, sodass eine Familiengeschichte in zwei unterschiedlichen Medien mit ihren je verschiedenen Zugängen lebendig wurde. Zum anderen ermöglicht der Film den Zuschauenden den seltenen Einblick in das typische Geschehen einer im Familiengespräch erfolgenden Viktimisierung und Heroisierung des Vaters und Großvaters Hanns Ludin, der in Wirklichkeit ein hochrangiger Nationalsozialist und Kriegsverbrecher gewesen ist. Wie den beiden vorgestellten Familienromanen so geht es auch den gezeigten Filmen sowohl um das Aufdecken von Familiengeheimnissen als auch um Heilung und Verstehen. In der Reflexion der beiden Tagungen fiel mir ein Phänomen auf, das dann in die Konzeption einer dritten Veranstaltung zu dem Thema einfließen sollte. Ich bemerkte, dass die auslösende Suchbewegung vieler dieser Romane häufig ein scheinbar banales und plötzlich auftauchendes Fundstück war. Dessen scheinbar zufällige Erscheinung oder auch Wahrnehmung glich häufig dem Auffinden eines Fadens, der sich im Schrei17 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ben und Recherchieren als Ariadnefaden erweisen sollte und mitten in das Labyrinth des verschwiegenen Familiengeheimnisses führte. Bei Stefan Wackwitz ist es etwa eine von der Wehrmachtsauskunftsstelle Jahrzehnte nach ihrer Konfiszierung plötzlich wieder an den Vater zugestellte Kamera. Sie bringt den Autor auf die Idee, den Blick auf die in der Familie verschwiegenen Taten und menschenverachtenden Einstellungen des Großvaters zu richten. Uwe Timm stolpert über eine Bemerkung, die sein Bruder als Angehöriger der SS-Totenkopf-Division in seinem Tagebuch macht. Obwohl diese Division der deutschen Waffen-SS für ihre besonders rücksichtslose und äußerst brutale Kriegsführung bekannt ist, findet sich in dem Tagebuch kein Wort über die begangenen Extremverbrechen. Mit einer Ausnahme, denn im letzten Eintrag heißt es: »Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen«. Dieser rätselhafte Satz führt den Autor auf die Spur eines emotionalen Panzers, der die männlichen Familienmitglieder unfähig zu jeglichem Mitgefühl ihren Opfern gegenüber macht. Und sie gleichzeitig so mit ihrem Ich-Ideal identifiziert sein lässt, dass sie zu einer Konfrontation mit der eigenen Schuld nicht in der Lage sind. Für Wibke Bruhns wird eine Videokassette zum Anlass, nach dem unbekannten Vater zu forschen. Auf den Bildern des Videos sieht sie einen Ausschnitt aus einer Naziwochenschau aus dem August 1944, die den Vater als Hochverräter zeigt, angeklagt vor dem Volksgerichtshof. Elf Tage später, so weiß die Autorin, wird ihr Vater in der Berliner Haftanstalt Plötzensee gehängt. Vergeblich sucht sie nach den Anklagegründen, genauso wie unklar bleibt, was er als Major der Abwehr gesehen, gedacht und verbrochen hat. Durch die Fakten von überzeugter NSDAP- und SS-Mitgliedschaft hindurch sucht Wibke Bruhns nach einem Bild ihres Vaters, das seinem gesamten Leben gerechter wird als der »Mann mit dem erloschenen Gesicht«, der ihr auf den Videobildern entgegen blickt. Dabei gelingt es ihr, wie auch den anderen genannten Autoren, »Tatsachenwahrheit« mit einem verständnisvollen oder gar liebevollen Blick auf die eigenen Familienangehörigen, hier also den Vater, zu verbinden. Der Autorin Tanja Dückers wird ein bekanntes Phänomen zum Such- und Schreibanlass: Rätselhaft hingeworfene Sätze und immer wieder kehrende Wendungen wie »Von dem Schiff erzählst Du ihnen nichts!« oder »das Kind hat uns das Leben gerettet« oder »unsere guten Verbindungen zur Partei« – im Kontrast zu – »wir waren keine Nazis«. Durch solche Bemerkungen irritiert und zum Nachfragen veranlasst, gelingt es der Protagonistin ihres Romans nach dem Tod des Großvaters endlich, das Geheimnis der merkwürdigen Rettung der Familie zu entdecken, die entgegen ihrer ständigen Beteuerungen eben doch Nazis gewesen sind. Hannes Heer spricht resümierend von den sichtbaren Fragmenten der verschwiegenen Familiengeheimnisse und verwendet die Metapher der »Meteoritensplitter, die auf dramatische Ereignisse und eine geheime, nicht eingelöste Schuld 18 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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verweisen«. In ihnen sieht er den Motor des neuen deutschen Familienromans, denn diese Splitter »verschwinden, einmal aufgetaucht, nicht in der schweigenden Galaxis des Tabus, sondern teilen sich mit als Andeutung, als plötzlicher Abbruch eines Gesprächs, als auffälliger Blickkontakt. Diese Sprache der abgebrochenen Sätze und der verrutschten Gesten […] führt die Nichteingeweihten in einen Raum der Irritation und des Suchens […]« (Heer 2004).

Ute Althaus geht als psychotherapeutisch versierte Autorin auch auf den psychodynamischen Hintergrund solcher Fragmente und Fundstücke ein und nennt sie »Ablagerungen«: »Das Familiengeheimnis, das die Eltern als NS-Mitläufer und NS-Täter verbirgt, lagert sich also in jedem Einzelnen der Familie sowie in den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander ab. Diese Ablagerungen enthalten aber auch Schlüssel, mit denen das Familiengeheimnis geöffnet werden kann« (Althaus 2010, S. 82).

Und sie führt ein besonders eindrucksvolles Beispiel eines französischen Psychoanalytikers an. Er erzählt, wie ein Fundstück in seiner eigenen Familie dazu verhilft, das Geheimnis um seinen von den Nazis verschleppten und ermordeten Halbbruder namens Simon Schritt für Schritt zu entschlüsseln. Als Kind entdeckte der Analytiker einen Plüschhund auf dem Speicher, nahm ihn in die Wohnung mit und war fortan nicht bereit, ihn aus der Hand zu geben. Er gab ihm den Namen »Sim«, unschwer als Kurzform von »Simon« erkennbar. Dieser Name war dem Kind so aufgeladen und bedeutungsvoll von den Familienangehörigen präsentiert worden, dass er den Plüschhund spontan so nannte. Tatsächlich war das Stofftier das einzig vorhandene Relikt des Halbbruders. Und dieses auf dem Speicher entdeckte Fundstück half ihm dann, nach und nach das Familiengeheimnis zu entschlüsseln (ebd.). Bei ihr selbst war es ihre Legasthenie, die sie als sinnvolles Symptom oder anders gesagt als Absonderung des in ihrer Familie Verschwiegenen zu begreifen begann. Ute Althaus schreibt: »Je mehr ich mich mit den Briefen von meinen Eltern beschäftigte, desto sinnvoller erschien mir diese ›Störung‹, denn Worte bedeuteten in der Familie oft nicht das, was sie aussagten. Ernst [ihr Vater; H.R.] sprach z.B. über Liebe und meinte Gehorsam. Herta [ihre Mutter; H.R.] sprach über Stärke und meinte Unterordnung. Hab ich mir als Kind durch die Legasthenie unbewusst das Wissen um die Doppelbödigkeit in der Familie bewahrt? Einen anderen Weg, gegenüber den Eltern für die eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnisse einzustehen, gab es kaum; wir Kinder hatten zu parieren« (Althaus 2006, S. 21). 19 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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In der wissenschaftlichen Forschung wird die nonverbale Weitergabe von Familiengeheimnissen sowie der damit verbundenen Gefühle und Fantasien mit dem Begriff der »unbewussten Gefühlserbschaften« bezeichnet. Er begegnete mir zum ersten Mal im Rahmen eines Vortrags, den Angela Moré auf dem Hofgeismarer Frauenforum im Mai 2003 gehalten hat. Unter dem Thema »Vom ›ewig Weiblichen‹ zum ›anderen Geschlecht‹« sprach sie über die Kontinuitäten zwischen den Frauengenerationen, von denen trotz zahlreicher gesellschaftlicher Umbrüche auszugehen ist. Um die entsprechenden psychisch unbewussten Prozesse zu beschreiben, griff sie auf Einsichten aus der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern von Holocaust-Überlebenden, von aktiven Nationalsozialist/innen und Vietnamveteranen zurück und sagte: Diese Arbeit »hat uns erst in den letzten Jahrzehnten erkennen lassen, in welchem Ausmaß bestimmte Erfahrungen früherer Generationen und insbesondere die mit ihnen verknüpften Gefühlsanteile und Phantasien sich bei den nachfolgenden Generationen wiederfinden. Es geht hier durchweg um traumatische und darum unverarbeitete Erfahrungen, die mit Schuldgefühlen oder Schamgefühlen verbunden sind, mit der Erfahrung von Hilflosigkeit in lebensbedrohlichen Situationen oder dem erlittenen Missbrauch von Überlegenheit durch andere bei den Opfern und dem Verrat am eigenen moralischen Gewissen bei den Tätern und Täterinnen.[…] In den Kindern und Enkelkindern von Opfern und Tätern tauchen die von den Eltern bzw. Großeltern nicht erzählten, ausgeblendeten Erfahrungen und Gefühle in Phantasien, diffusem Selbsterleben, körperlichen Symptomen etc. wieder auf« (Moré 2004, S. 4f.).

Dieser Hinweis der Referentin weckte bei den Teilnehmerinnen des Frauenforums über das Frauenthema hinaus großes Interesse. So beschlossen Angela Moré und ich eine Tagung dazu zu konzipieren, die wir im Oktober 2004 unter dem Titel »Das Ende des Schweigens? – Auswirkungen traumatischer Kriegserfahrungen über mehrere Generationen« durchführten. Auf dieser Veranstaltung hielt sie den viel beachteten Grundsatzvortrag »Die intergenerationelle Übertragung von Gefühlen und Erfahrungen«. Die anderen auf dieser Tagung gehaltenen Vorträge bestätigten – sofern sie das Thema der Gefühlserbschaften berührten – die von Angela Moré ausgeführten Forschungserkenntnisse und ergänzten sie durch eine Fülle von Praxisbeispielen. Die meisten Tagungsteilnehmenden gehörten der Generation der Kriegskinder an; dazu kamen einige aus der Enkelgeneration. Zahlreiche Wortbeiträge ließen erkennen, wie intensiv sie sich bereits mit ihrer Kriegskindschaft beschäftigt hatten – viele auch in Form von Psychotherapie. Das kam neben Äußerungen im Plenum vor allem in den regelmäßig in dieser Tagungsreihe angebotenen nachmittäglichen Arbeitsgruppen zum Ausdruck. Mir war es als Tagungsleiterin wichtig, neben der Diskussion von Vorträgen und den sich anschließenden Diskussionen einen Raum auch für den Austausch persönlicher, häufig genug schmerzhafter Erfahrungen zu 20 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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öffnen. Allerdings musste ich auch feststellen, dass die Möglichkeiten des förderlichen Umgangs mit den individuellen Erfahrungen vonseiten der Arbeitsgruppenleitung im Rahmen eines dreistündigen Workshops begrenzt sind. Im Grunde kann es nur um einen ersten Austausch gehen und um das Aufzeigen weiterer möglicher Schritte, die die Einzelnen dann für sich persönlich verfolgen können. So habe ich es als großen Gewinn erlebt, dass mit der zweiten Tagung in dieser Reihe ergänzend zu der direkten systematisch-wissenschaftlichen oder therapeutischen Bearbeitung der Nazivergangenheit in den Familien ein literarisch vermittelter getreten ist. Denn im Medium der Kunst lassen sich nicht selten schreckliche bzw. traumatische Erfahrungen anschauen, die einen direkten Blick (noch) nicht vertragen. Davon spricht schon der alte Mythos von der Enthauptung der ungeheuerlichen Medusa, die dem Perseus nur möglich war, weil er ihr furchtbares Antlitz nicht anblickte. Denn, so erzählt die Geschichte, ihr Anblick soll so abscheulich gewesen sein, dass jeder, der sie ansah, sofort zu Stein erstarrte. Er dagegen hatte Pallas Athene auf seiner Seite, bekam ihr Schild und benutzte es wie einen Spiegel. Weil er sie nicht direkt ansah, sondern nur auf ihr Abbild schaute, das sich auf der Oberfläche des Schildes spiegelte, konnte er sie besiegen. Im Spiegel der Kunst, so die damit für die Tagungen verbundene Hoffnung, lässt sich der Blick auf das Ungeheuerliche ertragen. Denn dann begegnet es nicht in totalitärer Unmittelbarkeit, sondern ausschnitthaft und als vermittelte Realität. Im Medium der Literatur kann so manches ausgehalten, berührt und emotional nachvollzogen werden, was sonst einer Überforderung gleich käme. Bekanntlich funktioniert Erinnerung selektiv und Eingang in die eigenen Lebensgeschichten erhält nur, was erträglich und irgendwie noch akzeptabel erscheint. Hier erfüllt die Literatur eine wichtige Aufgabe, indem sie einen Einblick in die sonst verborgenen Abgründe von Lebensgeschichten gibt und insofern den Raum für die Akzeptanz eigener mit Scham- und Schuldgefühlen besetzter Familiengeschichten erweitern hilft. Etwas Ähnliches habe ich auf religiös-symbolischer Ebene mit meinen Andachten zum jeweiligen Tagungsthema versucht. In der Andacht zur letzten Veranstaltung in dieser Reihe hat ein Bild von Pieter Bruegel eine Rolle gespielt. Es veranschaulicht das Phänomen der Fundstücke oder Ablagerungen von Familiengeheimnissen so treffend, dass ich es abschließend mit einigen Grundgedanken dazu vorstellen möchte. Auf den ersten Blick wirkt dieses berühmte Gemälde beschaulich: Im Vordergrund zieht ein Bauer in flämischer Tracht mit seinem Pferdepflug gleichmäßige Furchen. Darunter weilt ein Schäfer mit seiner Schafherde und eine Etage tiefer, rechts unten im Bild, sitzt mit dem Rücken zu den Betrachtenden ein Angler. Auf dem Meer zieht ein Handelsschiff, eine Karavelle, mit vom Wind geblähten Segeln vorbei. Sie nimmt Kurs auf die Hafenstadt, die auf der linken Bildhälfte im Hintergrund zu sehen ist. Eine idyllische Küstenlandschaft mit untergehender Abendsonne, in der alles seine Ordnung zu haben scheint. 21 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Abb. 1: Pieter Bruegel: Landschaft mit Sturz des Ikarus, um 1555–68 Wären da nicht die beiden Beine, die zwischen dem Kopf des Anglers und dem Heck der Karavelle aus dem Wasser ragen. Auch eine Hand ist noch zu sehen – und schaut man noch genauer hin, kann man die Federn entdecken, die auf das Meer herab schweben. Nun wird der Titel des Bildes Landschaft mit Sturz des Ikarus verständlich. Der klassische Fundort der Ikarusgeschichte war seit der Antike das achte Buch von Ovids Metamorphosen. Bruegel muss Abb. 2: Pieter Bruegel: Landschaft mit die entsprechende Stelle gekannt haben, Sturz des Ikarus (Detail) denn er hat gemalt, was man bei Ovid lesen kann: Der Dichter hat beschrieben, wie Vater Dädalos und Sohn Ikarus sich in die Lüfte erhoben und wie ein Fischer, ein Hirte und ein Pflüger kaum ihren Augen trauen, als sie die beiden am Himmel über sich hinweg fliegen sehen. Allerdings ist Bruegels Bild weit mehr als die bloße Illustration dieser Szene. Der Maler greift auf, was Ovid beschrieben hat, stellt aber ganz neue Zusammenhänge her. Zunächst fällt auf, dass alle drei Männer gerade nicht sehen, dass dort jemand ertrinkt. Der Bauer schaut konzentriert auf seine Furche, die er gerade zieht; der Blick des Anglers folgt seiner Angel, die er gerade auszuwerfen scheint; und der Hirte blickt in den Himmel 22 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und schaut auf den fliegenden Dädalus. Der wirkt allerdings so, als ob er sich in diesem Moment nach seinem Sohn Ikarus umschaute. Doch die drei mit Fischerei, Viehzucht und Landwirtschaft beschäftigten Männer gehen ihrer Arbeit nach als wäre nichts geschehen. Als habe sich nicht gerade in ihrer unmittelbaren Nähe eine Katastrophe ereignet. Und so ist neben dem, was wir auf dem Gemälde erkennen können, genauso bedeutsam, was wir nicht sehen. Wir sehen nicht die Todesangst des Abstürzenden, kein im Schrei erstarrtes Gesicht, das ganze Unglück des Ertrinkenden ist vom Meer verdeckt und bleibt unsichtbar. Damit gleichen die sichtbaren »Relikte« von Ikarus, die zappelnden Beine, die Hand des Ertrinkenden und die Federn, die auf den Grund seines Absturzes weisen, den Fragmenten, Fundstücken oder Absonderungen, die so häufig das einzig sichtbare Zeugnis von einer Familienkatastrophe sind. Alles andere ist in einem Meer des Schweigens verschwunden. Die Forschung bietet die Möglichkeit, solche Relikte als Spitzen von darunter verborgenen Eisbergen zu erkennen, indem sie die Mechanismen der unbewussten Gefühlserbschaften systematisch aufzeigt. Die Literatur eröffnet einen Raum der Lektüre, in dem die eigene Lebensgeschichte samt der Familiengeheimnisse in eine Art imaginäres Gespräch mit den dort beschriebenen Lebensgeschichten treten kann. Und ein Bild wie das von Pieter Bruegel ist in der Lage, individuelle Seelenlandschaften zu spiegeln. So jedenfalls haben es einige Tagungsteilnehmende in den Arbeitsgruppen erzählt: Als sie angefangen hatten, die erkennbaren Absonderungen ernst zu nehmen und sie als sinnvoll zu begreifen, ihrer Spur nachzugehen und Schritt für Schritt die familiäre Katastrophengeschichte aufzudecken, haben sie sich damit oft allein gefühlt. Denn die Gesellschaft um sie herum scheint keine Nachwirkungen von Krieg und Nazizeit zu bemerken. Ungestört von jeglichen Irritationen leben sie ihre alltägliche Normalität, ziehen die beruflichen und privaten Furchen ihrer eigenen Lebensbahnen, ohne dass Krieg und Nazizeit dabei eine Rolle spielten. Denn beides ist ja längst vergangen, von der Geschichte überholt, die Schlussstriche sind gezogen oder werden eingefordert. Nur die mit den Relikten der Gefühlserbschaften Beschäftigten scheinen Kontinuitäten zu bemerken. Nur ihre inneren Landschaften scheinen dem zu gleichen, was auf dem Bild von Bruegel nicht zu sehen ist, weil es sich unterhalb des Meeresspiegels befindet. Und schnell kann sich jemand, der die Konfrontation mit den verdrängten Scham- oder Schuldgefühlen wagt, damit genauso einsam und unbeachtet fühlen wie der abgestürzte Ikarus. »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden.« Der Prophet Ezechiel zitiert dieses der Volksweisheit entnommene Sprichwort nicht, um es zu belegen, sondern um ihm im Namen Gottes heftig zu widersprechen. Er hält dagegen: »Der Sohn soll nicht die Schuld des Vaters tragen, und der Vater nicht die Schuld des Sohnes. Die Gerechtigkeit des Gerechten kommt nur ihm selbst zugute und die Ungerechtigkeit eines Ungerechten lastet nur auf ihm selbst« (Ezechiel 18, 20). Ein Einspruch gegen vielfach belegte biografische Erfahrun23 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gen. Dieses Diktum entspricht möglicherweise unserem Rechtsempfinden, aber nicht psychosozialer Wirklichkeit. Selbstverständlich lässt es sich leicht als theologisches Ideal einer Individualisierung von Schuld und Unschuld mit ihren jeweiligen Konsequenzen abtun. Allerdings hat der Grundgedanke, lediglich für meine eigenen Taten die Verantwortung tragen zu müssen und nicht auch noch die Lasten der Verbrechen von Eltern oder Großeltern aufgebürdet zu bekommen, auch etwas Befreiendes. So lese ich Ezechiels Einspruch als prophetische Verheißung. Als eine Zukunftsansage von einem Neuanfang, der Wirklichkeit werden kann nach der Beschäftigung mit den »sauren Trauben« der vorangegangenen Generationen. Wenn der Pakt mit den Tätereltern oder Großeltern aufgekündigt ist, dann ist die leidvolle Weitergabe von Generation zu Generation endlich durchbrochen und nur noch das eigene Leben und Tun aufgegeben. Die Verbrechen sind damit nicht aus der Welt geschafft und auch nicht das Leid, das sie bei den nachfolgenden Generationen ausgelöst haben. Aber sie sind mit dem richtigen Namen benannt und bei den Personen verortet, die sie auch begangen haben. Und die vorher ins das Geheimnis mit Einbezogenen sind befreit aus den Zonen von Tabus, Irritationen, Schuld- und Schamgefühlen. Insofern hat das prothetische Wort etwas Revolutionäres: Die ungerechte Tat wird dahin »zurückgewälzt«, woher sie stammt. Ich hoffe, dass die Tagungsreihe in diesem Sinne revolutionäre Anstöße geben konnte und zu einer Erinnerungskultur beigetragen hat, die seelischen Reichtum und geistige Würde befördert.

Literatur Althaus, Ute (2006): »NS-Offizier war ich nicht«. Die Tochter forscht nach. Gießen (Psychosozial-Verlag). Althaus, Ute (2010): Umgang mit dem Nationalsozialismus. Das Wirken der beschwiegenen Vergangenheit: Wer waren die Nazis, wenn es in den (meisten) Familien keine gab? psychosozial 33(119), 75–83. Heer, Hannes: Unscharfe Bilder. Der Vernichtungskrieg im neuen deutschen Familienroman. Deutschlandfunk 10.07.2004. Moré, Angela (2004): Vom »Ewig Weiblichen« zum »anderen Geschlecht«. Die psychosexuelle Entwicklung des Mädchens aus der Sicht der heutigen Psychoanalyse. Hofgeismarer Vorträge, Bd. 26, S. 3–20.

Abbildungen Abb. 1: Pieter Bruegel, Landschaft mit Sturz des Ikarus, um 1555–68, Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel. Abb. 2: Pieter Bruegel, Landschaft mit Sturz des Ikarus (Detail), um 1555–68, Königliche Museen der Schönen Künste, Brüssel. 24 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Der Skandal als vorlauter Bote Deutsche Geschichtsdebatten als Generationengespräch Hannes Heer

Im Februar 1986 musste Wilderich Freiherr von Mirbach, der Bürgermeister von Korschenbroich bei Düsseldorf, wegen der bei der Debatte des städtischen Haushalts salopp hingeworfenen Formulierung, die Hindernisse auf dem Weg zur Sanierung des Etats seien derart gewaltig, dass man wohl erst »einige reiche Juden erschlagen müsse«, sein Amt niederlegen.1 1988 hatte Thomas Kapielski, ein freier Mitarbeiter der Tageszeitung taz eine Disco als »gaskammervoll« bezeichnet. Die zuständige Redakteurin wurde daraufhin entlassen. Bei einem Gastspiel in Israel unterschrieb 1997 Gerd Reinke, Kontrabassist an der Deutschen Oper Berlin, eine Hotelrechnung mit »Adolf Hitler«. Der Musiker erhielt eine Abmahnung. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann nannte 2003 in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit die Juden ein »Tätervolk« und wurde deswegen aus seiner Partei ausgeschlossen. Im September 2007 hatte Eva Herrmann, beim NDR angestellte prominente Nachrichtensprecherin und Talkshowmoderatorin, bei der Präsentation ihres neuen Buches erklärt, im Dritten Reich sei einiges, so die Förderung von »Werten wie Familie, Kinder und das Mutterdasein«, sehr gut gewesen.2 Sie wurde daraufhin entlassen. 2008 verlor eine Kollegin, Juliane Ziegler, ihre Quizshow bei Pro7, weil sie mit dem zynischen Spruch, der die Lagertore von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern geschmückt hatte – »Arbeit macht frei« – einen lustlosen Anrufer munter machen wollte.3 Im gleichen Jahr warnte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff in einer Debatte mit dem jüdischen Rechtsanwalt und Publizisten 1 Jürgen Leinemann: Die Vergangenheit holt uns ein. Der Spiegel 10/1986, 59ff. 2 »Aussagen zur Nazi-Zeit: NDR feuert Eva Hermann«. Spiegel Online, 09.09.2007. URL: http://www. spiegel.de/kultur/gesellschaft/aussagen-zur-nazi-zeit-ndr-feuert-eva-herman-a-504684.html (Stand: 24.10.2013). 3 »9Live schmeißt Juliane Ziegler raus!« dieflimmerkiste2 – Aktuelle News aus dem Fernsehen und Internet (30.01.2008): URL: http://dieflimmerkiste2.wordpress.com/2008/01/30/9live-schmeistjuliane-ziegler-raus/ (Stand: 24.10.2013). 25 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Hannes Heer

Michel Friedman vor einer »Pogromstimmung« gegen Manager wegen deren Honoraren und Sondervergütungen.4 Hans-Werner Sinn, der Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung der Münchener Universität, wurde konkreter: Er verglich die heute in öffentlichen Misskredit geratenen Banker mit den für die Wirtschaftskrise von 1929 verantwortlich gemachten Juden.5 Beide mussten sich entschuldigen. 2009 mussten Tchibo und Esso eine Werbekampagne stoppen, die unter dem Titel »Jedem den Seinen« gerade angelaufen war. Der Slogan war eine Variation des Spruches auf dem Eingangstor zum KZ Buchenwald »Jedem das Seine«.6 Als dem polnisch gebürtigen Miroslav Klose bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 nach langer Torflaute endlich sein erstes Tor für die deutsche Nationalmannschaft glückte, feierte die Sportmoderatorin des ZDF, Katrin Müller-Hohenstein, dieses Ereignis vor Millionen Fernsehzuschauern mit der Bemerkung, das müsse für den Torschützen »doch ein innerer Reichsparteitag« gewesen sein. Der ZDF-Sportchef entschuldigte sich für diese »sprachliche Entgleisung« und suchte sie mit dem »Eifer der Halbzeitpause« zu erklären.7 Ken Jebsen, populärer Moderator beim ARD-Sender RBB, teilte 2011 einem Hörer mit, er wisse, »wer den Holocaust als PR erfunden hat«. Jebsen musste nach längerem Hin und Her seinen Job quittieren.8 Nicht ganz so hart traf es den früheren Stuttgarter CDU-Stadtrat und evangelischen Pfarrer Johannes Bräuchle: Weil er den Gegnern von Stuttgart 21 »Terror« vorgeworfen hatte, wie man ihn »aus der SA-Zeit« kenne, wurde er vorübergehend von seinem kirchlichen Amt suspendiert.9 2012 benutzte der Sportreporter der ARD Carsten Sostmeier bei den Olympischen Spielen in London den berüchtigten Ausspruch Adolf Hitlers beim Überfall auf Polen – »seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen!« – als Vorlage, um die Goldmedaille der deutschen Vielseitigkeitsreiter zu würdigen: 2004 war der Equipe nach einem Protest Frankreichs, Großbritanniens und der USA diese Medaille aberkannt worden. Sostmeier: »Und das haben die Deutschen sich gemerkt, denn seit 2008 wird zurückgeritten. Wir holen uns Gold zurück, gnadenlos«. Auch »gnadenlos« stammte übrigens aus dem Wortschatz Hitlers und fand vornehmlich bei seinen völkerrechtswidrigen Angriffskriegen Verwendung. Der Leiter des deutschen Teams in 4 5 6 7 8

»Wulff spricht von Pogromstimmung gegen Manager.« Die Welt, 07.11.2008. Georg Fülberth: Viel Lärm um Sinn. Konkret 12/2008, 19. Zit. in dem Blog »Coffee and TV« (Stand: 16.01.2009). Jörg Rößner: ARD-Reporter – »Seit 2008 wird zurückgeritten«. Die Welt, 31.07.2012. Süddeutsche Zeitung [SZ], 10.11.2011; »Antisemitismusvorwürfe: RBB feuert Moderator Ken Jebsen«. Spiegel Online, 24.11.2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/antisemitismusvorwuerfe-rbb-feuert-moderator-ken-jebsen-a-799673.html (Stand: 24.10.2013). 9 Roman Deininger: Stuttgart 21 vor der Abstimmung. Nackte Brüste für den Bahnhof. SZ, 19.11.2011; »Kirche hebt Suspendierung von Pfarrer wegen ›Stuttgart 21‹ auf«, www.evangelisch. de, 19.12.2011. URL: http://www2.evangelisch.de/themen/religion/kirche-hebt-suspendierungvon-pfarrer-wegen-stuttgart-21-auf54891 (Stand: 24.10.2013). 26 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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London distanzierte sich von dem in der »Begeisterung über den ersehnten Reitererfolg« zu weit gegangenen Mitarbeiter und sprach wie das ZDF von »Entgleisung«.10 Harald Schmidt hatte nach Eva Herrmanns Lob von Kinderflut und Mutterkreuz in seiner Comedy-Show einen Apparat vorgestellt, das »Nazometer«, das versprach, jede künftige Tabuverletzung zu messen. Der Scherz karikiert die alltäglich gewordene Permanenz der Skandale ebenso wie die reflexartig erfolgenden und immer bußfertigen öffentlichen Reaktionen.11 Dabei täuschen die Schnelligkeit und Entschiedenheit der Sanktionen einen Konsens vor, den es gar nicht gibt: Gerade weil diese Art der Reaktion jedes weitere Nachdenken ausschließt und jede Debatte verhindert, offenbart sie eine kollektive Angst, hinter der sich eine generelle Unsicherheit beim Sprechen über die Jahre 1933 bis 1945 verbirgt. Mit zwei Ausnahmen gehören alle hier Zitierten der zweiten Generation an, sind also Kinder von Eltern, die ihre entscheidende Prägung in den nationalsozialistischen Schulen und Jugendorganisationen und – wenn sie männlich waren – als Soldaten an der Front oder noch als Flakhelfer in der Endphase des Krieges erhalten haben. Ihre schiefen, die Verbrechen von damals verharmlosenden Vergleiche, die von den Großeltern oder Eltern als unbewusstes Erbe oder in unkritischer Loyalität übernommenen populären Hitlersprüche, die kalkulierten, auf Tabubruch abzielenden Provokationen wie die offen ausgeplauderten klammheimlichen Wünsche verraten, dass die Deutschen trotz allen Bemühens weit davon entfernt sind, einen angemessenen, auf Wissen und Empathie gegründeten Umgang mit der Nazizeit erreicht zu haben. Das demonstrieren vor allem fünf Skandale, die anders als bei den bisherigen Beispielen, mit prominenten Namen verbunden sind und das Bild einer immer wieder von Erdbeben heimgesuchten Erinnerungspolitik zeigen.

Der Historikerstreit12 Unter dem Titel Vergangenheit, die nicht vergehen will hatte der Historiker Ernst Nolte am 6. Juni 1986 in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung behauptet, die Nationalsozialisten hätten den »Rassenmord« an den europäischen Juden nur als Reaktion auf den am russischen Bürgertum vollzogenen »Klassenmord« der Bolschewiki und aus Angst davor, selber »potenzielle oder wirkliche Opfer« einer solchen »asiatischen Tat« zu werden, begangen: »War nicht der ›Archipel GULag‹ 10 Jörg Rößner: ARD-Reporter – »Seit 2008 wird zurückgeritten«. Die Welt, 31.07.2012; »Hitler-Zitat. Entgleisung in der ARD«, Zeit-Online, 31.07.2012. URL: http://www.zeit.de/sport/2012-07/sostmeier-reiten-zurueckgeritten (Stand: 24.10.2013). 11 Vgl. die unvollständige Liste in dem Blog »Coffee and TV«, 02.02.2008. 12 Zitiert wird im Folgenden wiederholt aus (o. Hg.) (1987): »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München/Zürich (Piper Verlag). Im fortlaufenden Text als »Historikerstreit« abgekürzt. 27 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ursprünglicher als Auschwitz?« lautete seine in die Form einer Frage verkleidete These.13 Nolte hatte die provokante Behauptung, die Naziverbrechen seien nur die »verzerrte Kopie« einer verbrecherischen Vorlage gewesen,14 schon in vorhergehenden Artikeln mit Rückgriff auf die Vorgeschichte der französischen Revolution zu begründen versucht: Die Mord-Konzepte der damals tonangebenden »Gleichheitsideologen« hätten »stets auf ganze Klassen oder Systeme« gezielt.15 1789 sei dann damit ernstgemacht und den folgenden »Vernichtungstherapien«, inklusive der bolschewistischen, der Weg gebahnt worden. Diese Thesen wären wahrscheinlich als etwas abwegiger Debattenbeitrag zum Thema Faschismustheorien eingeordnet und vergessen worden, wenn nicht zeitgleich Noltes berühmterer Kollege Andreas Hillgruber eine kleine Schrift unter dem Titel Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums veröffentlicht hätte (Hillgruber 1986). Darin bezog er sich auf die Behauptung des prominenten CDUPolitikers Norbert Blüm, die Wehrmacht habe durch das Halten der Front im Osten den Weiterbetrieb von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ermöglicht und damit eine Mitschuld am Holocaust auf sich geladen16, und erklärte, die Generäle hätten sich damals in einer »heillosen Situation« befunden (ebd., S. 23): Ihre Strategie habe dem Schutz und der Flucht der Zivilbevölkerung (ebd., S. 18ff., 35) und der Rettung des Reiches vor der schon lange von den Alliierten geplanten Zerschlagung gegolten (ebd., S. 9f., 64). Der Holocaust sei dagegen allein die Schuld Hitlers gewesen (ebd., S. 90). In deutlicher Abgrenzung zu der Aussage, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8. Mai 1985 gemacht hatte – alle Deutschen seien vor 40 Jahren »befreit« worden – wollte Hillgruber diese Beschreibung nur für die kleine Gruppe der Überlebenden des Holocaust gelten 13 Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. FAZ, 06.06.1986. Abgedruckt in: »Historikerstreit«, S. 39–47, hier S. 45. 14 Der im Jahr 1980 in der FAZ erschienene Artikel Noltes »Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches. Eine Frage aus dem Blickwinkel des Jahres 1980« war die Kurzfassung eines Vortrags in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung München, der 1985 veröffentlich wurde: Between Myth and Revisionism? The Third Reich in the Perspective of the 1980s. In: Koch, Hansjochen W. (Hg.) (1985): Aspects of the Third Reich, London, S. 17–38. Klaus Hildebrand hatte Noltes Thesen kurz vor der Veröffentlichung von dessen Artikel in der FAZ als »wegweisend« bezeichnet (vgl. Historische Zeitschrift 242(1986), S. 465f. 15 Ernst Nolte: Revolution und Reaktion. FAZ, 17.12.1977. Die These vom Zusammenhang des Judenmordes mit der Oktoberrevolution hatte Nolte erstmals 1974 in seinem Buch Deutschland und der Kalte Krieg entwickelt (s.  E. Nolte 1985, S.  111). Das Buch führte wegen der Behauptung, jedes bedeutendere Land der Gegenwart habe »seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt« (S. 562ff.) und der Vietnamkrieg sei in diesem Sinne »die noch grausamere Version von Auschwitz« (S. 487), in den USA zu heftiger wissenschaftlicher Kritik (vgl. Wehler 1988, S. 17). 16 Norbert Blüm: »Die Zeit der Schuldlosen ist Utopie«. Spiegel, 10.07.1978. 28 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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lassen. Zur Kennzeichnung des Schicksals der »deutschen Nation als Ganzes« hielt er dagegen den Begriff »Befreiung« für unangebracht (ebd., S. 24). Auf diesen doppelten Tabubruch antwortete, für alle überraschend, keiner der prominenten Historiker, die alle, wie einer von ihnen später freimütig zugab, einfach »ihrem Tagewerk weiter nach [gingen]« (Wehler 1988, S. 79),17 sondern Deutschlands bekanntester Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas. Daher ist der Name, unter dem diese Debatte später bekannt wurde – »Historikerstreit« – eine nachträgliche und eher plumpe Ehrenrettung der deutschen Geschichtswissenschaft. Der Philosoph ließ sich auf keine kleinteilige Fachdebatte ein, sondern attackierte die Grenzüberschreitung, die hier in doppelter Weise erfolgt war und deren Methode. Noltes Entlastungsmanöver bestehe darin, dem Nationalsozialismus eine Vorgeschichte zu erfinden – die Aufstandsbewegung »gegen die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung«18 – und diesem damit eine historische Berechtigung zuzusprechen. Seine angeblich »wahre Intention« werde dann säuberlich von dessen »unseliger Praxis« getrennt (»Historikerstreit«, S. 70). Hillgruber, der als Soldat an den Endkämpfen im Osten beteiligt gewesen war, warf er vor, in seiner Rolle als Historiker auf die vom Fach gebotene Zentralperspektive zu verzichten (vgl. ebd., S. 64). Gravierender aber sei, dass er den Krieg vom Holocaust getrennt und die deutsche Geschichte in eine jüdische und eine nichtjüdische aufgespalten und mit der Behauptung von der Alleinschuld Hitlers für den Holocaust die Masse der Deutschen zu Unschuldigen erklärt habe (vgl. ebd., S. 63ff., 67). Habermas interpretierte diese Revisionen am bisherigen Geschichtsbild als Versuch einer Gruppe konservativer Historiker, die Hypotheken der Vergangenheit endlich »abzuschütteln« und mit einer neuen, bereinigten Lesart der Geschichte des Dritten Reiches zu der von Kohl gewünschten »nationalgeschichtlichen Aufmöbelung« beizutragen (ebd., S. 73). Durch die Auseinandersetzung mit Auschwitz, so Habermas, hätten die Deutschen den Anschluss an die universalistischen Traditionen der westlichen Welt wiedergefunden. Der darauf gründende »Verfassungspatriotismus« sei, angesichts der geschehenen Verbrechen, der einzig in Deutschland mögliche Patriotismus (ebd., S. 75). Die Antwort auf diese fulminante Klarstellung fiel kläglich aus: Die Urheber des Skandals zogen sich beleidigt als Opfer einer Rufmordkampagne in die Leserbriefspalten zurück19 und ließen sich durch zwei Sekundanten vertreten. Während Klaus Hildebrand sich um Mäßigung der heftigen Reaktionen bemühte, indem er Frageverbote wie das nach der Vergleichbarkeit der »Vernichtungsqualität des Kom17 Einige seiner Kollegen, wie Wolfgang J. Mommsen und Hans Mommsen, hatten schon während der Römerberg-Gespräche scharf gegen Noltes Thesen Stellung bezogen, mit Nolte solidarisiert hatte sich hingegen Michael Stürmer (vgl. Wehler 1988, S. 22; Hillgruber 1986, S. 24). 18 Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Die Zeit, 11.07.1986 (in: »Historikerstreit«, S. 62–76, hier S. 69). 19 Vgl. Leserbriefe von Hillgruber in der FAZ vom 23.08.1986 und Nolte in Die Zeit vom 01.08.1986. 29 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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munismus und des Nationalsozialismus« ablehnte und mit Blick auf »Totalitarismus, Völkermord und Massenvertreibung« als Signatur des 20. Jahrhunderts vor einer simplifizierenden Schwarz-Weiß-Sicht warnte,20 goss Joachim Fest noch Öl ins Feuer. Fest, der als Mitherausgeber und Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Außenseiter Nolte als Haushistoriker für das 20. Jahrhundert zur FAZ geholt und auch den skandalauslösenden Artikel als bewusste Provokation ins Blatt gesetzt hatte21, radikalisierte in seiner Antwort Noltes Thesen und widerrief damit die Befunde seiner eigenen, hochgerühmten Hitler-Biografie: Wie die Bolschewiki zunächst nur die gesellschaftliche Ausschaltung der russischen Bourgeoisie geplant hätten und erst durch den revolutionären Prozess und dessen Rhetorik zur physischen Auslöschung des Bürgertums getrieben worden wären, habe auch Hitler sich beim Massenmord an den Juden »im Netz verbaler Exzesse verstrickt« und sei »zum Gefangenen eines Prozesses« geworden, den er letztlich selbst in Gang gesetzt, aber nicht von vornherein geplant oder zielgerichtet vorangetrieben habe.22 Der Unterschied zwischen den von Fest erfundenen »Mordfabriken« Stalins und Hitlers Vernichtungslagern vom Typ Auschwitz sei nur die Existenz einer »technischen Innovation« gewesen – die deutschen Gaskammern (ebd., S. 111). Erst später, als sich drei Dutzend prominente Wissenschaftler und Publizisten, darunter Hans Mommsen, Eberhard Jäckel, Christian Meier, Rudolf Augstein gegen und Michael Stürmer, Hagen Schulze, Horst Möller für Nolte schon in die Diskussion eingeschaltet hatten, meldeten sich Nolte und Hillgruber noch einmal zu Wort.23 Aber da war die Debatte schon zu ihren Ungunsten entschieden. Der amerikanische Harvard-Professor und Deutschlandkenner Charles S. Maier hat den Historikerstreit im Rückblick als eine Debatte charakterisiert, die »über den universitären Rahmen hinaus« Konsequenzen gehabt habe und daher von allen ausländischen Beobachtern »mit größtem Interesse« verfolgt worden sei: »Hier wurde – initiiert durch eine historische Fragestellung – erstmals eine Auseinandersetzung über die Orientierung und die Grundwerte der Bundesrepublik geführt«, 20 Klaus Hildebrand: Das Zeitalter der Tyrannen. Geschichte und Politik: Die Verwalter der Aufklärung, das Risiko der Wissenschaft und die Geborgenheit der Weltanschauung. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas. FAZ, 31.07.1986 (in: »Historikerstreit«, S. 84–92). 21 Marcel Reich-Ranicki hat später gestanden, dass er sich wegen des Historikerstreites »geschämt« habe, »denn er ging von der Frankfurter Allgemeinen aus – und sie spielte in ihm keine rühmliche Rolle«. Dann wurde er deutlicher und nannte den Namen seines mit ihm damals befreundeten Kollegen und Chefs: Er habe sich geschämt, weil dieser Skandal »von Joachim Fest inspiriert und zeitweise organisiert« worden sei (Reich-Ranicki 2000, S. 540). 22 Joachim Fest: Die geschuldete Erinnerung. Zur Kontroverse über die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Massenverbrechen. FAZ, 29.08.1986 (in: »Historikerstreit«, S.  100–112, hier S. 106f.). 23 Ernst Nolte: Die Sache auf den Kopf gestellt. Gegen den negativen Nationalismus in der Geschichtsbetrachtung. Die Zeit, 31.10.1986; Andreas Hillgruber: Für die Forschung gibt es kein Frageverbot. Interview. Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 31.10.1986. 30 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die auch »die Komponenten der deutschen Nationalidentität« thematisiert habe (Maier 1992, S. 7–11).

Die Jenninger-Rede24 Der nächste Skandal ereignete sich zwei Jahre später. Es ging diesmal um ein ähnlich brisantes Thema – die Rolle der Deutschen im Dritten Reich – aber der Konflikt nahm einen ungleich dramatischeren Verlauf. Philipp Jenninger wollte in seiner Funktion als Bundestagspräsident am 10. November 1988 an den 50. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938 erinnern. Zu Beginn seiner Rede hatte er erklärt, dass anders als am Vortag, an dem auf Einladung des Zentralrats der Juden in der Frankfurter Synagoge »der Opfer« gedacht worden war, heute, bei der Gedenkveranstaltung im Bundestag, die Täter im Zentrum stünden: »Wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, [müssen] erinnern und Rechenschaft ablegen« und dabei auch »über das Verständnis unserer Geschichte« nachdenken, um daraus »Lehren« für Gegenwart und Zukunft zu ziehen«. »Die Opfer«, so fuhr er fort, »wissen nur zu genau, was der November 1938 für ihren künftigen Lebensweg zu bedeuten hatte. – Wissen wir es auch?«25 In Beantwortung dieser, wie sich zeigen sollte, keineswegs rhetorischen Frage, rief er die Ereignisse des 9./10. November 1938 noch einmal in Erinnerung und ordnete sie ein in Planung und Ablauf der Judenverfolgung seit 1933. Dieser sich steigernden Leiderfahrung der jüdischen Deutschen stellte er – in der Form der erlebten Rede – die ganz andere Erfahrung der Angehörigen der von allen Feinden gereinigten »Volksgemeinschaft« entgegen: Sie hätten diese Zeit als persönliche Erlösung aus dem sozialen und politischen Elend der gescheiterten Republik und als kollektiven Triumph durch den Aufstieg Deutschlands zu neuer Größe erlebt und wären darüber zu begeisterten Anhängern Hitlers geworden. Diesem seien sie auch treu geblieben, als mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 die »Endlösung« begann: Hinter der Front wurden in Absprache mit der Wehrmacht Hunderttausende jüdische Männer, Frauen und Kinder von Einsatzgruppen der SS erschossen. Jenninger mutete den Teilnehmern der Gedenkveranstaltung zu, in die allernächste Nähe dieser Verbrechen geführt zu werden: Er ließ sie, an der Seite eines Augenzeugen, zu Zuschauern einer der üblichen Massenerschießungen von Juden und zu Zuhörern der Rede werden, mit der Himmler vor den im Posener Schloss versammelten Gauleitern im Oktober 1943 den Völkermord moralisch legitimiert hatte. 24 Zitiert wird im Folgenden wiederholt aus Holger Siever (2001): Kommunikation und Verstehen. Der Fall Jenninger als Beispiel einer semiotischen Kommunikationsanalyse. Frankfurt a.M./New York (Lang). Im fortlaufenden Text als »Der Fall Jenninger« abgekürzt. 25 Philipp Jenninger: Rede zum Gedenken an den 09./10.11.1938 vor dem Bundestag am 10.11.1988. Abgedruckt in: »Der Fall Jenninger«, S. 488–501, hier S. 488. 31 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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In der unmittelbaren Nachkriegszeit, unter dem Schock der Niederlage und angesichts der Sinnlosigkeit aller Anstrengungen und Toten in sechs Kriegsjahren seien die Deutschen unfähig gewesen, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen: Sie hätten sich in die »Abwehr von Trauer und Schuld« geflüchtet und sich zu Opfern erklärt, die »von den NS-Herrschern nur mißbraucht, ›besetzt‹ und schließlich befreit worden« seien. Dieses Verhalten sei, so Jenninger, die psychische Voraussetzung für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder gewesen. Heute aber, im Wissen um Auschwitz, sei es möglich, diese »schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit« zu führen und sich auch der Frage der Schuld zu stellen. »Wahr ist […], dass jedermann um die Nürnberger Gesetze wusste, dass alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und dass die Deportationen in aller Öffentlichkeit von statten gingen. Und wahr ist, dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand, […]. Viele Deutsche ließen sich vom NS blenden und verführen. Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und ihrer Verdrängung muss jeder für sich selbst beantworten. Wogegen wir uns aber gemeinsam wehren müssen, das ist das Infragestellen der historischen Wahrheit, das Verrechnen der Opfer, das Ableugnen der Fakten« (»Der Fall Jenninger«, S. 498f.).

Das führe nicht nur zur Verleugnung der Opfer, sondern bedeute auch, sich aus der deutschen Geschichte davonzustehlen. »Auch für die Psyche eines Volkes gilt, dass die Verarbeitung des Vergangenen nur in der schmerzlichen Erfahrung der Wahrheit möglich ist. Diese Selbstbefreiung in der Konfrontation mit dem Grauen ist weniger quälend als seine Verdrängung« (ebd., S. 500). Stefan Heym, verfolgter Jude und renitenter Kommunist, hat diese Rede so kommentiert: »Wenn es eine Auszeichnung für geschichtliche Offenheit gäbe, dann würde ich sie Herrn Jenninger verpassen«.26 Und der jüdische Jurist Robert Kempner, der 1933 aus Deutschland geflohen und 1945 als stellvertretender Chefankläger beim Nürnberger Gerichtshof in seine Heimat zurückgekehrt war, hatte erklärt, er fände die Rede nicht nur gut – »ich finde diese Rede sogar sehr gut«.27 Die Abgeordneten und eingeladenen Gäste, die im Plenarsaal des Bundestages bei der Rede zugegen waren, hatten darauf ganz anders reagiert. Schon kurz nach Jenningers einleitenden Worten kam es durch den Zwischenruf einer Abgeordneten der GRÜNEN, die Deutsch-Israelin war, zu einer ersten Störung.28 Die bei einer solchen 26 »Er oder ich«, Der Spiegel 47/1988, 37. 27 Frankfurter Rundschau [FR], 12.11.1988. 28 Die Abgeordnete Jutta Österle-Schwerin hatte, erregt durch einen aktuellen Pressebericht über die Abschiebung von tamilischen Flüchtlingskindern und in Erwartung einer der üblichen »Entlastungsreden«, den Zwischenruf »Es ist doch alles gelogen!« schon vorab geplant (in: »Der Fall Jenninger«, S. 361ff.). 32 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Gedenkveranstaltung ungewöhnliche Intervention sollte sich zu einem Eklat steigern, als wenig später, bei Schilderung der »Erfolge Hitlers«, mindestens 50 Abgeordnete von SPD, GRÜNEN und FDP unter Protest den Plenarsaal verließen.29 Auch der weitere Verlauf der Rede Jenningers wurde immer wieder unterbrochen: Vor allem diejenigen Passagen, in denen der Widerwille der Deutschen in der Nachkriegszeit, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, thematisiert und diese Verweigerung als psychische Bedingung für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder diagnostiziert wurde, führten dazu, dass sich Abgeordnete von ihren Sitzen erhoben und lautstark ihren Protest artikulierten (»Der Fall Jenninger«, S. 373f.). Prominente aus den Reihen der CDU wie Richard von Weizsäcker oder Rainer Barzel reagierten mit bitterer Miene oder ungläubigem Kopfschütteln.30 Jenninger selber hat nachher von der »Eiseskälte« gesprochen, die ihm aus dem Plenum entgegen gekommen sei (ebd., S. 366). Nach dem Ende des Festaktes trafen sich die Fraktionen zu getrennten Beratungen, um das Geschehene einzuordnen und mögliche Schritte zu beschließen. Die GRÜNEN forderten den sofortigen Rücktritt des Bundestagspräsidenten, der ein Beispiel für »die Unfähigkeit vieler Deutscher« geliefert habe, sich der Vergangenheit zu stellen, und dem man nur attestieren könne, dass er vom Wesen des Nationalsozialismus »nichts, aber auch gar nichts begriffen« habe. Auch die »Chance, Trauerarbeit zu leisten«, sei von ihm vertan worden.31 Ähnlich scharf fiel das Urteil der FDP aus: Ihr Vorsitzender Otto Graf Lambsdorff gab zu Protokoll, »daß sich seine Liberalen durch Jenningers Äußerungen nicht vertreten fühlten«:32 Ein Abgeordneter gab an, ihm sei bei der Schilderung von Hitlers Triumphen »schlecht geworden«, andere erklärten, die Rede habe auf sie »wie eine Rechtfertigung oder eine Teilrechtfertigung der Pogrome gewirkt«.33 Die Ablehnung der SPD wurde von ihrem Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel mit dem »bestürzenden Mangel an Sensibilität«34 und von dessen Stellvertreter Willfried Penner mit dem Fehlen des Wortes »Trauer« um die Opfer begründet.35 Die Empörung über die »gutgemeinte Katastrophe«, wie ihr kulturpolitischer Sprecher Freimut Duve die Rede genannt hatte,36 manifestierte sich in einem Brief der Fraktion an Jenninger, in dem ihm das Vertrauen entzogen wurde.37 29 Die Welt, 11.11.1988; Die FR desselben Datums bezifferte die Zahl der Protestierer auf das Doppelte. Abgeordnete der CDU/CSU beteiligten sich nicht an dem Protest (vgl. »Der Fall Jenninger«, S. 398). 30 Die Welt, 11.11.1988; SZ, 11.11.1988. 31 Das Parlament, 25.11.1988; Die Welt, 11.11.1988; FR, 11.11.1988. 32 Stuttgarter Zeitung [StZ], 11.11.1988; FAZ, 12.11.1988. 33 FAZ, 11.11.1988; SZ, 11.11.1988. 34 StZ, 11.11.1988; ähnlich äußerte sich Hartmut Soell in der FAZ vom 11.11.1988. 35 FAZ, 11.11.1988; ein ähnliches Urteil fällte Willy Brandt in der SZ vom 11.11.1988. 36 FR, 11.11.1988. 37 SZ, 11.11.1988. 33 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Abgeordneten der CDU/CSU hielten sich mit Kommentaren zum Auftritt ihres Parteifreundes auffällig zurück. Das dürfte seinen Grund auch darin gehabt haben, dass der Hardliner und Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger wegen Krankheit fehlte und dessen Stellvertreter Theo Waigel hinter den Kulissen verhandelte, um eine parteiübergreifende Lösung zu finden (»Der Fall Jenninger«, S. 401). Nach dem Scheitern dieses Manövers, so beschrieb die Abgeordnete Ursula Männle die Stimmung in der CDU/CSU-Fraktion, »war niemand da, der die Rede verteidigt hätte«.38 Einen Tag nach seiner umstrittenen Rede im Bundestag trat Jenninger von seinem Amt zurück. Der Rücktritt war zwar aufgrund der generellen Verurteilung durch die im Bundestag vertretenen Parteien erzwungen worden, entsprach aber, wie eine abschließende Auswertung der Kommentare von 50 Politikern, Journalisten und Publizisten in Presseberichten, Feuilletons und Fernsehdiskussionen zeigte, auch der mehrheitlich negativen öffentlichen Meinung: Die Rede sei »ungeschickt vorgetragen« worden und daher beim Publikum »nicht rübergekommen«, der Unterschied zwischen Zitat und eigenem Wort sei »verwischt« worden und der Redner habe »das Rollenspiel, mit dem er sich in die Mehrheit der Deutschen von damals versetzte, nicht beherrscht«, Jenninger habe »zuviel über die Täter« bzw. »zuwenig über die Leiden der Opfer gesprochen« und einen »Mangel an Sensibilität« und »Wärme« gezeigt, schließlich sei die Rede des Bundestagspräsidenten einer »Verherrlichung« und »Rechtfertigung« des NS-Regimes gleichgekommen, sie habe »um Verständnis für die Täter« geworben und »den Holocaust verharmlost«.39 Fragt man nach den Gründen des Rücktritts, ist es wichtig, die Vorgeschichte zu kennen und deren Folgen mit zu berücksichtigen: Die ursprünglich gar nicht vorgesehene Gedenkveranstaltung im Bundestag hatte 1987 der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Werner Nachmann, Jenninger vorgeschlagen, damit auch »die Vertreter der Täter die Gedenkstunde einmal gestalten« (König 2011, S. 439).40 Nachmann hatte auch Jenninger gebeten, diese ungewöhnliche Aufgabe selbst zu übernehmen (ebd.). Als der Zentralratsvorsitzende ein halbes Jahr nach dieser Absprache gestorben war, hatte dessen Nachfolger, Heinz Galinski, von Jenninger gefordert, ihm den Vortritt zu lassen. Als das aus formalen Gründen abgelehnt worden war und Galinski über die SPD und DIE GRÜNEN versuchte, seine Absicht durchzusetzen, hatte Jenninger dem Ältestenrat diesen Konflikt vorgetragen und war als Redner bestätigt worden (ebd., S. 439f.). Damit war für einen Teil der Abgeordneten die Auseinandersetzung mit einem ungeliebten Thema öffentlichkeitswirksam auf die 38 Der Spiegel 46/1988, S. 25. Zustimmung zur Rede und deutliche Kritik am Verhalten seiner Fraktion äußerte der CSU-Abgeordnete Norbert Geis (in: »Der Fall Jenninger«, S. 403). 39 Peter von Polenz: Verdünnte Sprachkultur. Das Jenninger-Syndrom in sprachkritischer Sicht. Deutsche Sprache 4, 1989, S. 289–316 (in: »Der Fall Jenninger«, S. 254f., 257, 260). 40 Interview Jan C. L. König mit Dr. Philipp Jenninger am 16.05.2006 in Stuttgart (abgedruckt in: König 2011, S. 437–499). Im Folgenden zitiert als »Interview Jenninger 2006«. 34 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Tagesordnung gesetzt,41 den anderen das gewünschte antifaschistische GedenktagRitual mit der Suggestivkraft der Opfererzählung verweigert worden (Senfft 1999, S. 112). Der stattdessen angebotene Typ von Veranstaltung, die nach Jenningers Worten erklären wollte, »wie es dazu kam, wie es dazu kommen konnte« (»Der Fall Jenninger«, S. 500), war etwas gänzlich Neues, für das die Gesten eingeübter Trauer und kostenloser Scham unbrauchbar waren. Das erklärt das schon vorab bestehende distanzierte Verhalten wie die später entstehende Irritation von großen Teilen des Publikums. Als erschwerend für das Gelingen von Jenningers hochgesteckten Zielen erwiesen sich dessen von allen Anwesenden bestätigte rhetorische Defizite wie die Anforderungen, die sein hochkomplexer Vortrag an das kognitive wie emotionale Verstehen stellte. Das zeigte sich vor allem bei den Passagen, in denen er von der darstellenden zur erlebten Rede wechselte, sich also einer literarischen Technik bediente, die eine »Überblendung von distanzierender und identifizierender Perspektive«42 vornahm. Dieses anspruchsvolle Stilmittel kann zwar, wie der Romanist Paul Geyer es formuliert hat, »die Suggestivkraft der Darstellung erhöhen« und dem Autor gleichzeitig »eine subtile Form der ironischen Distanzierung« zur Verfügung stellen, aber es vermag seine Wirkung nur unter der Bedingung zu entfalten, dass das Publikum wohlwollend kooperiert. »Erkennt der Leser oder Hörer diese Form der Ironie nicht, wird er den Sprecher mit der ›erlebten Rede‹ identifizieren« (»Der Fall Jenninger«, S. 234f.). Zu diesem Missverständnis kam es in der Gedenkstunde des Bundestags. Aber es blieb nicht bei diesem »Erwartungsbruch«, Jenningers Auftritt bedeutete auch einen »Tabubruch« (ebd., S. 373). Die Passagen, in denen er mithilfe der erlebten Rede den nichtjüdischen Deutschen eine Stimme verlieh und den Raum öffnete für deren sympathische Darstellung des Dritten Reiches, lieferte eindeutige Bestätigungen sowohl für den massenhaften Antisemitismus wie für die mehrheitliche Unterstützung Hitlers. Und seine dezidierte Feststellung vom Wissen des »jedermann« von der Verfolgung, der Deportation und wohl auch der Ermordung der Juden war für die konservativen Zuhörer ebenso schwer auszuhalten wie die Formulierung, dass das »millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner« bestanden habe (ebd., S. 94). Ganz zu schweigen von der Ungeheuerlichkeit, daran zu erinnern, dass die militärische Eroberung von »Lebensraum« im Osten auch der Beginn des Holocaust gewesen war und der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik den Schatten der gescheiterten Aufarbeitung der Verbrechensgeschichte hinzuzufügen. Der medienwirksame Auszug von Teilen der Abgeordneten aus dem Plenarsaal und der spätere Vorwurf fehlender Sensibilität und Empathie war Ausdruck des Protestes gegen Jenningers Entscheidung, statt der Opfer die Täter zum Gegenstand 41 Peter Conradi (SPD) in der StZ, 12.11.1989. 42 Paul Geyer: »Flaubert und die Technik der erlebten Rede. Jenninger ist auch an einem literarischen Stilmittel gescheitert« FAZ, 05.12.1988, S. 29 (in: »Der Fall Jenninger«, S. 234f.). 35 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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des Gedenkens zu machen und wohl auch der Angst vor der Kritik aus jüdischen Kreisen43 und von Stimmen aus dem Ausland geschuldet.44 Die Beschuldigung, der Bundestagspräsident habe eine »Rechtfertigung« und »Verherrlichung« des Dritten Reiches geliefert und erwecke den Eindruck »als liebäugele er mit dem braunen Gedankengut« (Polenz 1989, zit. nach »Der Fall Jenninger«, S. 260), war ebenfalls ein Ausdruck von Abwehr und verriet die Ängste der Urheber dieser Diffamierung, den Blick auf die eigene oder auf die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu richten. Jenningers Sturz war weder das Ergebnis eines tragischen Missverständnisses, wie die SPD meinte45, noch eine »Fehlleistung« im Sinne Sigmund Freuds, wie es der Soziologe und Forschungsanalytiker Christian Schneider behauptet hat ( Jureit/ Schneider 2010, S. 157ff.). Der Bundestagspräsident musste sein Amt aufgeben, weil er etwas getan hatte, was bei Gedenkstunden im Bundestag noch nie geschehen und für die Deutschen noch immer unheimlich war – die Frage zu stellen nach den Tätern und nach der »Schuld der Vielen«. Man dürfe »noch nicht alles […] beim Namen nennen in Deutschland«, so hat der CDU-Mann Jenninger seinen erzwungenen Abgang selber kommentiert (»Der Fall Jenninger«, S. 443).

Die Verbrechen der Wehrmacht Am Anfang stand ein Projekt des Hamburger Instituts für Sozialforschung, das vom Ende des Jahrhunderts her noch einmal einen Blick werfen wollte auf die Gewaltgeschichte des vergangenen Säkulums, um eine Prognose für das kommende zu wagen. In diesem Kontext war der Krieg, den Nazideutschland von 1939 bis 1945 führte, ein natürlicher und zentraler Forschungsgegenstand: Der Überfall auf Polen, die Niederwerfung Jugoslawiens, vor allem aber der Feldzug gegen die Sowjetunion konstituierten den neuen Typ eines jenseits aller Konventionen des Völkerrechts geführten und daher entgrenzten Krieges. Die Wehrmacht – mit 19 Millionen Angehörigen 43 Prominente Juden wie der Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski und die jüdische Schriftstellerin Lotte Paepke reagierten, wie die meisten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Deutschland, negativ auf Jenningers Rede (Der Spiegel 47/1988, 21.11.1988). 44 So hatte Willy Brandt schon am Tag nach der Rede davor gewarnt, dass die Wirkung des Jenninger-Skandals noch »verheerender« sein werde als Kohls Bitburg-Rede: vor allem im Ausland würden die Zweifel an der Fähigkeit der Deutschen wachsen, »die Trauer um die Opfer angemessen zum Ausdruck zu bringen« (SZ, 11.11.1988). 45 Das legte Freimut Duves Formulierung von der »gutgemeinten Katastrophe« ebenso nahe wie die Stellungnahme Hans-Jochen Vogels, Jenninger habe »keineswegs eine falsche Einstellung zu dem damaligen Geschehen« gehabt, wohl aber einen »bestürzenden Mangel an Sensibilität« verraten (StZ, 11.11.1988). So auch Horst Ehmkes Vorwurf in Richtung CDU/CSU: »Wie könnt Ihr den Mann denn eine solche Rede halten lassen. Das spricht man doch ab!« (Die Welt, 11.11.1988). 36 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die größte Massenorganisation Nazideutschlands – war in diesem Krieg, das wusste man spätestens seit den Nürnberger Prozessen, zugleich Instrument und Motor nationalsozialistischer Rassen- und Eroberungspolitik. Sie führte einen Krieg, dessen Ziel nicht mehr nur der Sieg über feindliche Armeen war, sondern die Zerstörung von ganzen Gesellschaften, die Ausplünderung des Landes, die Dezimierung der als rassisch minderwertig eingestuften slawischen Bevölkerung und die Ausrottung aller Juden. Beim Überfall auf Polen im September 1939 hatten 123.000 polnische Soldaten und mehr als 10.000 Zivilisten ihr Leben verloren (vgl. Piekalkiewicz 1997, S. 272; Böhler 2006, S. 241). 20.000 Kriegsgefangene und Zivilisten, davon 2.000 Juden, wurden von der Wehrmacht im Laufe des Feldzuges außerhalb von Kampfhandlungen erschossen (vgl. Heer 2012, S. 19, 22). Insgesamt verloren sechs Millionen Polen, davon drei Millionen Juden, in der Zeit der deutschen Besatzung ihr Leben (vgl. Madajczyk 1988, S. 617). Im ehemaligen Königreich Jugoslawien, wo sich nach der Kapitulation im April 1941 schon ab Herbst unter der Führung Titos ein äußerst entschlossener militärischer Widerstand entwickelte, wurden in vier Kriegsjahren zwei Millionen Menschen durch Kampfhandlungen und Hinrichtungen, in Lagern und bei Vertreibungen getötet (vgl. Calic 2010, S. 169). Die Sowjetunion zählte insgesamt 27 Millionen Opfer – 11,5 Millionen Rotarmisten, davon 3,5 Millionen als Kriegsgefangene der Wehrmacht, und 15,2 Millionen Zivilisten, die infolge der militärischen Operationen bei der Besetzung wie beim Rückzug, als »Partisanen« oder Geiseln, durch eine gezielte Politik des Hungers und als Zwangsarbeiter in Deutschland ihr Leben verloren (vgl. Zahlenangaben nach Hartmann 2009, S. 789; vgl. auch Hamburger Institut für Sozialforschung 1996). 2,1 Millionen davon waren Juden, von denen 1,5 Millionen von SS-Verbänden und Polizei-Bataillonen mit Unterstützung der Wehrmacht ermordet wurden (vgl. Benz 1996). Das war – im Ausschnitt – das Ergebnis eines Krieges, den die Ausstellung zur Unterscheidung vom Ersten Weltkrieg als »Vernichtungskrieg« charakterisiert hat.

Das Ende der »sauberen« Wehrmacht Die Ausstellung, die sich auf den Zeitraum 1941 bis 1944 und auf wenige Frontabschnitte beschränkte, entwickelte ihre Argumentation anhand dreier Fallstudien: ➣➣ Man sah, wie im Militärverwaltungsbezirk Serbien innerhalb des ersten Kriegsjahres 1941 alle 8.000 männlichen Juden im Rahmen der Partisanenabwehr als Geiseln verhaftet und dann sukzessive ermordet wurden. 6.000 Frauen und Kinder verloren im Frühjahr 1942 durch Gaswagen der SS ihr Leben. ➣➣ Man wurde Zeuge, wie die 6. Armee auf ihrem Weg durch die Ukraine im Sommer und Herbst 1941 den für den Judenmord verantwortlichen Einsatzgruppen der SS tatkräftige Beihilfe geleistet hat – z. B. durch Befehle an die mehr als 37 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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30.000 Kiewer Juden, sich für den Marsch nach Babij Yar zu sammeln, aber auch, indem sie überall auf dem Vormarsch beim Zusammentreiben, Abtransportieren, Absperren und manchmal auch beim Erschießen der Juden – Männer, Frauen und Kinder – half. In Großstädten wie Charkow ließ die Armeeführung 1941/42 mehr als zehntausend Bewohner verhungern. ➣➣ Man erlebte, wie die Wehrmacht während der dreijährigen Besetzung von Weißrussland vom ersten Tag an einen unerbittlichen Rassenkrieg gegen Juden und »slawische Untermenschen« führte: Sie war verantwortlich für das geplante Massensterben von Hunderttausenden von sowjetischen Kriegsgefangenen durch Erschießen, Hunger, Erfrieren, Seuchen; sie wurde durch Registrierung, Kennzeichnung und Ghettoisierung der Juden beim Vormarsch, durch die Ermordung der Juden auf dem Land und durch die Unterstützung von SS und Polizei beim Massenmord zum Komplizen der »Endlösung«; sie erschoss oder verbrannte, im Zusammenwirken mit Himmlers SS- und Polizeiverbänden, Hunderttausende Zivilisten im Rahmen des Partisanenkrieges oder deportierte sie, ab dem Alter von 14 Jahren, zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Die Ausstellung, die ihre Thesen mit den übriggebliebenen, aber gesäuberten Akten der ehemaligen deutschen Wehrmacht, mit Feldpostbriefen, Tagebüchern und privaten Fotos von Landsern, Unterlagen aus Nachkriegsprozessen und Berichten von Opfern belegte, war von Bernd Boll, Hannes Heer, Walter Manoschek, Hans Safrian erarbeitet und von Christian Reuther gestaltet worden. Sie wurde am 5. März 1995 unter dem Titel »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« mit einer Rede des hochdekorierten ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Klaus von Bismarck in der Hamburger Kampnagelfabrik eröffnet.46 Ursprünglich für ein wissenschaftliches Publikum und nur für eine einmalige Präsentation im Hamburger Institut konzipiert,47 war die Nachfrage so groß, dass sie anschließend in 33 deutschen und österreichischen Städten gezeigt wurde.48 Fast eine Million Besucher haben sie 46 Nachzulesen in: Krieg ist ein Gesellschaftszustand. Reden zur Eröffnung der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« (Hamburger Institut für Sozialforschung 1998b, S. 14–20). 47 Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Begleitband, der auch das Wirken der Wehrmacht an anderen europäischen Kriegsschauplätzen zeigte (Heer/Naumann 1995); als die Ausstellung zur Wander-Ausstellung wurde, erschien ein Katalog (Hamburger Institut für Sozialforschung (1996), und zur ersten Präsentation der Ausstellung in Österreich wurde ein weiterer Sammelband publiziert (Manoschek 1996). 48 Die Ausstellungsorte in zeitlicher Reihenfolge: Hamburg, Berlin, Potsdam, Stuttgart, Wien, Innsbruck, Freiburg, Mönchengladbach, Essen, Erfurt, Regensburg, Klagenfurt, Nürnberg, Linz, Karlsruhe, München, Frankfurt am Main, Bremen, Marburg, Konstanz, Graz, Dresden, Salzburg, Aachen, Kassel, Koblenz, Münster, Bonn, Hannover, Kiel, Saarbrücken, Köln, erneut Hamburg und Osnabrück. 38 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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in diesen vier Jahren gesehen. Weitere Anfragen aus 70 deutschen Städten und von zahlreichen ausländischen Institutionen lagen vor.49 Die erste Phase ihrer Präsentation in der Bundesrepublik war gekennzeichnet von medialer Zustimmung. Die großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen würdigten die Ausstellung als einen bemerkenswerten Beitrag zum Gedenkjahr 1995: »Die wichtigste historische Ausstellung seit langem«, so formulierte stellvertretend Die Zeit.50 Der Tenor der Berichte ließ sich an den fast identischen Schlagzeilen ablesen: »Die Zerstörung einer Legende«, »Lebenslügen«, »Vom Mythos bleibt nur noch die Lüge«, »Die Lüge von der anständigen Wehrmacht«, »Die Legende von der sauberen Wehrmacht«, »Das ernüchternde Ende einer Legende«, »Eine Ausstellung zerstört die historische Lüge von den sauberen Soldaten«.51 Auffallend war, mit welcher Erleichterung die Berichterstatter diesen Tatbestand festhielten, so, als sei jetzt endlich Raum gewonnen für öffentliche Korrekturen und private Gewissenserforschung. Statt der Legende, so schrieb Die Zeit, werde »die fürchterliche Wahrheit offenbar […], die sich gegen eine Mauer einvernehmlichen Schweigens in der deutschen Öffentlichkeit nie durchsetzen konnte«.52 Natürlich gab es von Beginn an auch andere Stimmen: Die Traditionsverbände der ehemaligen Wehrmachtssoldaten hatten sofort Front gegen die Ausstellung gemacht und ihr eine »Kombination aus Verfälschungen von Quellen und pauschalen Verleumdungen« vorgeworfen.53 Aber diese Stimmen erhielten erst Gewicht, als sich mit Beginn des Jahres 1996 seriösere Organe kritisch der Ausstellung annahmen und damit die zweite Phase einer wachsenden Gegnerschaft und aufgeregter öffentlicher Debatten einleiteten (Greiner 1999, S. 15–86; Wiegel 2001, S. 192–207; Klotz 2001, S. 116–176). Den Anfang machte ein Artikel von Günther Gillessen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er verwahrte sich gegen die einseitige und pauschale Schuldzuweisung an die Wehrmacht – die allmächtige SS sei für die Verbrechen verantwortlich gewesen. Übergriffe der Wehrmacht wie z.B. im Partisanenkrieg seien nur in Reaktion auf Stalins brutale Kriegsführung hinter den deutschen Linien erfolgt. 49 Anfragen aus dem Ausland kamen u. a. aus Frankreich, Luxemburg, Holland, Italien, Griechenland, Tschechien, Russland, England, Israel, Japan, China und Australien. 50 Karl-Heinz Janßen: Als Soldaten Mörder wurden. Die Zeit, 17.03.1995. 51 Die Welt, 02.03.1995; Die tageszeitung [taz], 08.03.1995; FR, 09.03.1995; Die Zeit, 17.03.1995; FAZ, 06.04.1995; Allgemeine jüdische Wochenzeitung, 23.03.1995. Leipziger Volkszeitung, 03.05.1995. 52 Karl-Heinz Janßen: Als Soldaten Mörder wurden. Die Zeit, 17.03.1995. 53 So ein von ihnen bestelltes »Gutachten«: Hartmut Schustereit, Gutachten zur Einleitung von Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.) (1995) Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, veranlasst und überreicht durch die Arbeitsgemeinschaft für Kameradenwerke und Traditionsverbände e. V., Stuttgart 1995, S. 44. Ein Arbeitskreis »Wahrheit für die Soldaten der Wehrmacht« legte wenig später ein Buch mit dem Titel Armee im Kreuzfeuer vor (Weber 1997). Vgl. auch den Aufsatz Klaus Latzels »Soldatenverbände gegen die Ausstellung ›Vernichtungskrieg‹ – der lange Schatten des letzten Wehrmachtsberichts« (Latzel 2000, S. 325–336). 39 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Ausstellung sei kein wissenschaftlicher Beitrag, sondern ein »Pamphlet«, das einem »Bedürfnis der Betroffenheit« und einem nach Anlässen förmlich süchtigen »Schuldempfinden« entspreche.54 Zeitgleich erschien eine scharfe Polemik des ehemaligen Fernsehjournalisten Rüdiger Proske, in der er die Autoren und Initiatoren der Ausstellung als »Altkommunisten und Spät-68er« und als deren Zielsetzung die Diffamierung der Bundeswehr als Nachfolger der Wehrmacht »entlarvte« (Proske 1996).55 Beide Publikationen machten Wirbel auf der offiziellen politischen Bühne: Verteidigungsminister Rühe (CDU) verbot den Gliederungen der Bundeswehr jeden öffentlichen Kontakt mit den Trägern der Ausstellung und untersagte jede Teilnahme an Diskussionen, CSU-Bürgermeister weigerten sich erstmals, an der Ausstellungseröffnung in ihren Städten teilzunehmen, in Bremen setzte die CDU die mitregierende SPD wegen der Ausstellung so unter Druck, dass es fast zu einem Bruch der Koalition gekommen wäre. Den Höhepunkt markierte dann die bayrische CSU im Februar 1997. Ihr Münchener Vorsitzender Peter Gauweiler diffamierte Jan Philipp Reemtsma, der sein Erbe aus Deutschlands größter Tabakfirma zur Gründung des Hamburger Instituts für Sozialforschung verwendet hatte, indem er ihn aufforderte, seine Millionen – statt für das Gedenken an ermordete Juden, kriegsgefangene Rotarmisten und aufgehängte Zivilisten – für die Opfer des Tabakkonsums zu verwenden.56 Der Bayernkurier als Zentralorgan der CSU prangerte die Ausstellung als »Verschärfung« der Nürnberger Prozesse an: Indem Millionen von deutschen Soldaten die Ehre abgesprochen werde, würden die Verantwortlichen einen »moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk« inszenieren.57 Mit einer nächtlichen Kranzniederlegung der Münchner CSU am Grabmal des Unbekannten Soldaten, mit der Empfehlung des bayrischen Kultusministers, Lehrer mit ihren Schülern sollten die Ausstellung nicht besuchen und schließlich mit der von der Partei vielleicht nicht gewollten, aber sicherlich einkalkulierten Großdemonstration von 5.000 Neonazis erreichte die Kampagne ihren traurigen Höhepunkt und zugleich eine eindeutige Niederlage: Mit dem Besuch von 90.000 Menschen, davon 20.000 Schüler, wurde die Ausstellung endgültig zu einem bundesweiten Ereignis. Deutlicher Ausdruck dafür war die denkwürdige Debatte am 13. März 1997 im Bundestag, bei der es um die Verbrechen der Wehrmacht ging. Redner aller Parteien versuchten in 54 Günther Gillessen: Zeugnisse eines vagabundierenden Schuldempfindens. FAZ, 06.02.1996. 55 Proske wandte sich in einer Briefkampagne – vom Bundeskanzler an abwärts – an alle wichtigen politischen Funktionsträger der Bundesrepublik Deutschland (vgl. eine Auswahl von Antworten in seiner Schrift, S. 95–99), aber auch an die Bürgermeister und Mandatsträger in den geplanten Ausstellungsorten: er bat sie zu überprüfen, »ob die Überlassung kommunaler Einrichtungen für eine, wegen ihrer uneingeschränkten Pauschalurteile an Goebbels erinnernde infame Desinformations-Ausstellung gerechtfertigt erscheint« (Brief an den Freiburger Oberbürgermeister Dr. Rolf Böhme vom 15.12.1995). 56 Berthold Neff: CSU attackiert das Rathaus. SZ, 15.02.1997. 57 Florian Stumfall: Wie Deutsche diffamiert werden. Bayernkurier, 22.02.1997. 40 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ganz persönlicher Weise und manchmal unter Tränen, sich diesem offiziell nie eingestandenen Thema deutscher Schuld zu nähern (Dubiel 1999). Wenig später wurde die Ausstellung dort gezeigt, wo sich in der 1848er Revolution das erste deutsche Parlament versammelt hatte, in der Frankfurter Paulskirche. Ab jetzt, so schien es, war die Ausstellung endgültig durchgesetzt. Es begann die dritte Phase. Statt der bisher meist privaten Veranstalter rissen sich jetzt staatliche Institutionen um sie: Parlamente der Bundesländer und Städte, Archive und Museen, Universitäten und Volkshochschulen. Jetzt hielten Botschafter und Ministerpräsidenten, Ex-Minister und Ex-Bundeskanzler die Eröffnungsreden.58 Die Stationen der Ausstellung verwandelten sich in öffentliche und permanente Diskussionsforen. Zeitzeugen meldeten sich zu Wort und die Lokalzeitungen kamen fast nicht hinterher, die Ereignisse zu dokumentieren. Fast jede Stadt begann, die Debatten vor Ort zu dokumentieren, und es erschienen die ersten wissenschaftlichen Studien über die »Wehrmachtsdebatte«. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigte der Ausstellung, sie habe bewirkt, dass der Zweite Weltkrieg in der öffentlichen Wahrnehmung »sein Gesicht veränderte« und dadurch »Bewußtseinstatsachen geschaffen« habe. So habe die Militärgeschichte, die »der Rassenpolitik des Regimes wenig Aufmerksamkeit geschenkt« habe, jetzt begriffen, »daß im Schatten des Krieges der Holocaust sich entwickelt und ausgebreitet hat«.59

Der Rückzug in die »Konsensgeschichte«60 Aber der Eindruck, den Durchbruch und das Ende der Debatte erreicht zu haben, trog. Angestachelt durch den offensichtlichen Erfolg und die kurz bevorstehende Eröffnung einer englischsprachigen Version der Ausstellung in New York am 2. Dezember 1999, die den Auftakt zu einer Tour durch zahlreiche amerikanische Universitäten bilden sollte,61 intensivierten die Gegner und Kritiker ihren Widerstand. Nachdem der NeoNazi Manfred Roeder am 9. Juni 1996 die Ausstellungstafeln in Erfurt mit der Parole 58 Frankfurt: Hans Eichel, Hessischer Ministerpräsident; Marburg: Hans-Jochen Vogel, Bundesminister a. D.; Graz: Heinz Fischer, Präsident des österreichischen Nationalrats; Salzburg: Franz Vranitzky, Bundeskanzler a. D.; Aachen: Avi Primor, israelischer Botschafter; Bonn: Johannes Rau, Ministerpräsident a. D.; Hannover: Rolf Wernstedt, Präsident des Landtages von Niedersachsen; Kiel: Ludwig von Friedeburg, Hessischer Kultusminister a. D.; Saarbrücken: Reinhard Klimmt, Ministerpräsident des Saarlandes. 59 Ulrich Raulff: Schockwellen. FAZ, 01.09.1999. 60 Hannes Heer: Vom Verschwinden der Täter. Die bedingungslose Kapitulation der zweiten Wehrmachtsausstellung (in: ders. 2004c, S. 14). 61 Für die Ausstellungstour erschien ein eigener Katalog: The German Army and Genocide. Crimes Against War Prisoners, Jews, and Other Civilians in the East, 1939–1944 (New York 1999) und der übersetzte Begleitband zur deutschen Ausstellung: War of Extermination. The German Military in World War II, 1941–1944 (New York/Oxford 2000). 41 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»Lüge« übersprüht hatte,62 setzten seine Kameraden drei Jahre später auf explosivere Mittel: Am 9. März 1999 detonierte morgens gegen 4.30 h eine Vier-Kilo-Bombe vor dem Gebäude der Saarbrücker Volkshochschule, in der seit drei Wochen die Ausstellung gezeigt wurde und richtete eine halbe Million Sachschaden an der VHS und an einer benachbarten Kirche an.63 In einem Bekennerschreiben erklärte der Verfasser am 15. März, er gehöre einer Gruppe an, die eine Fortsetzung der Ausstellung verhindern wolle.64 Dem naheliegenden Verdacht, es handle sich um Neo-Nazis, ging die Staatsanwaltschaft trotz der geschätzten Zahl von 600 Rechtsextremisten im Saarland und zahlreichen Sprengstoffanschlägen in den vergangenen Jahren gegen Büros linker Parteien und Asylanten-Unterkünfte (vgl. Greiner 1999, S. 84,) nur äußerst lustlos nach und stellte das Verfahren bald ein.65 Die Intervention des konservativen Lagers erfolgte diesmal nicht in Person von Veteranen, Publizisten oder Politikern, sondern erstmals von Historikern. Und sie richtete sich nicht offen gegen die Grundthese der Ausstellung, sondern gegen ihr wirkungsmächtigstes, weil erschreckendstes Medium, gegen die Bilder. Was zuvor schon das Magazin Focus mit einer Kampagne gegen ein einzelnes Foto probiert hatte,66 wurde nun umfassender und wirkungsvoller in Szene gesetzt. Der polnische Historiker Bogdan Musial behauptete, dass auf mindestens neunFotos in der Ausstellung statt Verbrechen der Wehrmacht solche des sowjetischen NKWD zu sehen seien (Musial 1999, S. 565). Darüber hinaus würden »etwa die Hälfte« der Fotos Motive zeigen, die nichts mit Kriegsverbrechen zu tun hätten (ebd., S. 589). Sein ungarischer Kollege Chrisztián Ungváry monierte, dass eine Fotoserie eine Exekution serbischer Widerständler in einer besetzten Stadt zeige, die statt von Soldaten der Wehrmacht, wie in der Ausstellung behauptet, von Einheiten der (damals verbündeten) ungarischen Armee durchgeführt worden sei und übertrumpfte noch seinen polnischen Kollegen, indem er behauptete, 90 Prozent der in der Ausstellung gezeigten Fotos hätten mit Verbrechen nichts zu tun (Ungváry 1999, S. 586, 593). Dieter Schmidt-Neuhaus schließlich zweifelte die Bildunterschriften von vier Fotos

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DGB-Bildungswerke Thüringen, Presseerklärung 12.06.1996; taz, 14.06.1996. SZ, 10.03.1999. Saarbrücker Zeitung, 16.03.1999. Der Spiegel, 15.03.1999, S. 18; Erich Später: Braun ist die Saar. Konkret 1/2012, 22f. Das Foto zeigte eine Gruppe nackter Juden und war vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg als Exekutionsfoto untertitelt worden; Focus präsentierte dasselbe Foto mit der harmloszynischen Bildlegende einer Badeszene und wies als Quelle eine Nazibroschüre nach, die Ende 1941 von der Propaganda-Abteilung der im besetzten Polen eingerichteten »Regierung des Generalgouvernements« herausgegeben und von einem Helmut Gauweiler bearbeitet worden war. Da der Vorgang, auch nach Umfragen in internationalen Archiven nicht geklärt werden konnte, wurde das Foto aus der Ausstellung entfernt (vgl. Markus Krischer & Robert Vernier: Warnung vor »Bild 26«. Focus 16/1997; Focus 17/1997; Focus 24/1997; Focus 6/1998; Focus 11/1998; Focus 42/1998.

42 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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aus dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien an, die Opfer eines Massakers in Tarnopol zeigten (Schmidt-Neuhaus 1999). Der Vorstoß erfolgte als konzertierte Aktion: Die Kritiken erschienen zeitgleich in zwei historischen Fachzeitschriften, und den überregionalen Zeitungen lagen Vorabdrucke vor. Das Trommelfeuer der Medien setzte sofort ein: »These richtig – Bilder falsch?«, »Die zweifelhafte Macht der Bilder«, »Sadistische Schaulust«, »Vom Krieg ein falsches Bild«, »Die Spitze eines Eisbergs«.67 Im Wirbel der Proteste und öffentlichen Erklärungen fielen besonders zwei Stimmen auf, die als Vertreter ihrer Institute von Beginn an zu den schärfsten Kritikern gehört hatten.68 Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, das dem Verteidigungsministerium unterstand, warf den Ausstellungsmachern in einem Interview vor, »einen kaum zu ermessenden Schaden« verursacht zu haben: »Hunderttausende von Besuchern werden sich heute fragen, wofür sie eigentlich Eintrittsgeld bezahlt haben, was eigentlich richtig und was falsch gewesen ist«.69 Noch schärfer reagierte der Direktor des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller. Er hatte im Historikerstreit 1986 Nolte unterstützt und sollte sogar dessen Laudator werden, als diesem im Juni 2000 von der rechtslastigen »Deutschlandstiftung« der »Konrad-Adenauer-Preis« verliehen wurde.70 Jetzt, 1999, überschlug er sich fast vor Empörung über die vermeintliche Agitation der Ausstellung: »Das ist der Einhämmerungseffekt […], den schon Hitler zitiert hat: immer dasselbe wiederholen, dann wird es schon einsickern. Nämlich, daß die Wehrmacht zumindest in solchem Umfang an Verbrechen beteiligt war, daß man sie insgesamt als ein Instrument des Verbrechens bezeichnen muß«.71

67 Dominik Wichman, SZ, 16.10.1999; Susanne Leinemann, Die Welt, 21.10.1999; Andreas Krause, Berliner Zeitung, 21.10.1999; Kai Müller, Der Tagesspiegel, 22.10.1999; Welt am Sonntag, 24.10.1999; zur Debatte um die »falschen Bilder«, vgl. Klotz 2001, S. 157–172). 68 Rolf-Dieter Müller hatte der Ausstellung »die Dämonisierung der gesamten Wehrmacht«, die Absicht »suggestiver Wirkung« und »fragwürdige Schlußfolgerungen« vorgeworfen (R.-D. Müller 1995, S. 324). Müller organisierte 1997 im Auftrag des MGFA eine internationale Konferenz über »Mythos und Realität« der Wehrmacht, bei der er der Hamburger Ausstellung »Pauschalurteile« und »politische Instrumentalisierung« unterstellte, den Begriff »Vernichtungskrieg« verwarf und eigene genozidale Ziele der Wehrmacht leugnete: diese habe sich nur in Hitlers rasseideologischen Krieg »verstricken lassen« (R.-D. Müller/Volkmann 1999, S. 11, 19f., 21, 13). Horst Möller hatte sie als »ganz einseitig« kritisiert; »Die schwierige Frage nach der Schuld.« Gespräch mit Horst Möller u. a. SZ, 06.03.1997. 69 »Eine Blamage«. Interview mit Rolf-Dieter Müller. Die Woche, 12.11.1999. 70 Johannes Willms: Die Fahne hoch. Feier der Unbelehrbarkeit: Konrad-Adenauer-Preis für Ernst Nolte. SZ, 22.05.2000(Nr. 117), 15; Reinhard Mohr: Verwilderung der Sitten. Der Spiegel 25/2000. 71 Horst Möller im Focus-Interview; Markus Krischer & Robert Vernier: »Es geht nicht um die Wahrheit«. Interview mit Horst Möller. Focus 43/1999, 25.10.1999. 43 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Was sich nach diesem generalstabsmäßig geplanten Auftakt in Stunden entwickelte, glich einer Stampede: Es ging nicht um Wissenschaft, daher waren Argumente nicht gefragt; für Differenzierung gegenüber denen, die man der mangelnden Differenzierung beschuldigte, war kein Raum; Experten, die sich auf dem schwierigen Terrain des Umgangs mit Fotos als historischen Quellen auskannten, lud man nicht zur Stellungnahme ein. Allerdings drängten sich die Wissenschaftler, die vorher die Ausstellung begrüßt hatten, auch nicht gerade danach, sie jetzt zu verteidigen. Es waren wenige, die sich gegen den Strom stellten und auf den Regeln des Fachs beharrten,72 und nur einer wagte es, auch die Form der Auseinandersetzung als das zu bezeichnen, was sie war –»Krawallkommunikation«.73 Dem Trommelfeuer der Medien, das durch Meldungen über Gerichtsverfahren des Hamburger Instituts gegen Kritiker der Ausstellung noch verstärkt worden war,74 hielt Jan Philipp Reemtsma nicht stand: Nachdem er Hannes Heer als Leiter der Ausstellung abgesetzt75 und diesem wie den übrigen Autoren jede öffentliche Stellungnahme verboten hatte,76 zog er die Ausstellung, nur von wenigen kritischen Stimmen begleitet, zurück77 und übergab sie – im Einverständnis mit dem seit 1998 existierenden Trägerverein78 – zur Überprüfung einer internationalen unabhängigen Historikerkommission. 72 Wolfgang Benz: Geschrei ist unangebracht. SZ, 08.11.1999; Christian Gerlach: In der Steppe versickert. Es geht nicht bloß um Fotos, es geht um die Wehrmacht, FR, 30.11.1999; Christian Streit: Der Pest Herr werden. Wehrmachtsausstellung. Die Kritik an der Kritik geht weiter. FR, 17.12.1999. 73 Norbert Frei: Faktor 100 – Wehrmacht und Wahrheit in Zeiten der Krawallkommunikation. FAZ, 02.11.1999. 74 In der Vorbereitungszeit zu seiner Kampagne hatte Musial Kontakt zu rechtsextremen Gegnern der Ausstellung aufgenommen und war als Gast bei einer ihrer Veranstaltungen angekündigt worden. Und als er in Interviews die angeblich falschen Fotos präsentierte, behauptete er wahrheitswidrig, er habe diese Beweise dem Hamburger Institut mehrmals zur Ansicht angeboten, sei aber ohne Antwort geblieben (vgl. Heer 2004, S. 22). Die Fotos hatte Musial bei der Recherche zu einer Studie gefunden, die unmittelbar nach der Zurückziehung der Ausstellung unter dem Titel »Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen«. Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941 erschien (Musial 2000). In dieser Studie hatte er den ukrainischen Juden, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht zu Zehntausenden erschossen worden waren, eine Mitschuld dafür gegeben: Sie hätten mit dem sowjetischen NKWD kollaboriert (vgl. Heer 2004b). 75 Johannes Klotz: Feudale Abstrafung. Der späte Sieg einer Hetzkampagne. Freitag, 12.11.1999. 76 Uwe Schmitt: Vorwürfe und Mutmaßungen. Die Welt, 10.12.1999; Walter Manoschek 2000, Format 2000(47), 64. 77 Fritz Göttler: Bilder einer Einstellung. SZ, 09.11.1999; Johannes Klotz: Kurzer Atem. Resignierten die Macher zu schnell? – Eine Kritik der Kritiker der Wehrmachtsaustellung. FR, 26.11.1999; mit Verzug: Peter Steinbach: Schuld und Verbrechen. Beim nicht enden wollenden Streit um die Wehrmachtsausstellung geht es nicht nur um falsch zugeordnete Bilder, sondern auch um Geschichtsschreibung als Sinnstiftung. taz, 17.08.2000. 78 Nachdem Reemtsma nach den heftigen Kontroversen in München, Bremen und Frankfurt 1997 dem Leiter der Ausstellung erklärt hatte, dass er deren Präsentation bald zu beenden gedenke, hatte sich ein Förderverein aus prominenten Personen des öffentlichen Lebens kon44 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Der Bericht dieser Kommission, der nach einjähriger Überprüfung am 15. November 2000 vorgelegt wurde, kam zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Er bestätigte Fehler bei den Bildunterschriften einiger Fotos, die von den Autoren wegen fehlender Quellen meist unbesehen übernommen worden waren: »Bei zwei von zehn kritisierten Fotografien« seien auf diese Weise NKWD-Opfer fälschlicherweise als Opfer der Wehrmacht ausgewiesen worden (Bartov et al. 2000, S. 33). Als Folge dieses nachlässigen Umgangs mit der Quelle Fotografie bilanzierte die Kommission, »daß von den 1.433 Fotografien der Ausstellung weniger als 20 Fotos nicht in eine Ausstellung über die Wehrmacht gehören« (ebd., S. 79). Damit war die Maßlosigkeit der Kritik ebenso erwiesen wie die Tatsache, dass die wenigen Fehler nur der gewünschte Anlass, nicht aber die Ursache für die Schließung der Ausstellung gewesen waren. Die Kommission stellte nämlich unmissverständlich klar, dass »die Grundaussagen der Ausstellung über die Wehrmacht und den im ›Osten‹ geführten Vernichtungskrieg der Sache nach richtig« sind. Sie bestätigte »die Intensität und Seriosität der von den Autoren der Ausstellung geleisteten Quellenarbeit« und stellte gegenüber der öffentlich geführten Kampagne fest, dass die Ausstellung »keine Fälschungen« enthielt (ebd., S. 85). Der Bericht merkte zwar kritisch an, dass »die Defizite der Ausstellung […] im bemerkenswert unbekümmerten Gebrauch fotografischer Quellen, wie er in geschichtswissenschaftlichen und populären Publikationen leider sehr verbreitet ist«, bestünden (ebd., S. 79). Die Kommission relativierte diese Kritik aber mit der abschließenden Feststellung, dass zum einen »keine historische Ausstellung, die mit Fotografien arbeitet, jemals so gründlich untersucht worden ist«, und zum anderen, dass der in der Ausstellung geübte Umgang »mit historischen Fotografien derart verbreitet [ist], daß gegenwärtig vermutlich nur wenige Ausstellungen und Publikationen historischer Fotografien den strengen Kriterien standhalten würden, von denen hier ausgegangen wird« (ebd., S. 25). Dieser Befund, der eine eindeutige Rehabilitierung der Ausstellung und ihrer Autoren darstellte, hätte eine brauchbare Hilfestellung zu einer raschen Behebung der festgestellten Defizite leisten können. Aber der Leiter des Hamburger Instituts hatte sich längst anders entschieden: Entgegen seiner öffentlichen Erklärung, den Befund der Historiker-Kommission für eine Korrektur abzuwarten79 und unter Ausschluss der ehemaligen Autoren hatte er schon Ende 1999 eine gänzlich neue Ausstellung konzipiert und in Auftrag gegeben.80 Sie wurde am 27. November 2001 stituiert – darunter Ignatz Bubis, Burkhardt Hirsch, Hans-Jochen Vogel, Franz Vranitzky, Hans Koschnik, Michel Friedman und Otto Schily. Diesem Verein war die Ausstellung 1998 übertragen worden. Die Präsentation der Ausstellung in Osnabrück im September/Oktober 1999 war die erste Station in freier Trägerschaft. 79 »Auch im Inferno kann man den Teufel noch unterscheiden. Warum die Wehrmachtsausstellung dringend überarbeitet werden muß und warum sie trotzdem weiter dringlich ist.« Ein Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma. FAZ, 06.11.1999. 80 Volker Ullrich: Sie waren Mörder. Die Wehrmachtsausstellung ist rehabilitiert. Die Zeit, 17.11.2000. 45 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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in Berlin eröffnet und verzichtete auf alle die visuellen und inhaltlichen Elemente, denen die alte Ausstellung den öffentlichen Skandal wie die reinigende Katharsis zu verdanken gehabt hatte. »Das Unheimliche der ersten Ausstellung«, konstatierte der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen, »war die magische Wiederkehr der Täter in unsere Gesellschaft« (Lethen 2002, S. 84). Sie hatten durch die selbst geknipsten Fotos Gesichter bekommen. Und Klaus Theweleit hatte zu den Fotos angemerkt: »Der Mord wird nicht als ›Mord‹ wahrgenommen, weil er genehmigt ist, er kann als Urlaubsfoto nach Hause gehen oder neben die Familienbilder ins Portemonnaie geraten, weil er das eigene Leben im Zustand krimineller paradiesischer Freiheit zeigt, das sich dabei gefällt, die Erde von Ungeziefer zu befreien. ›Strafe‹? Keine zu erwarten. Wir werden gesiegt haben. Dieses Bewußtsein, diesen Blick zeigen die Fotos der fotografierenden Soldaten in Rußland, in Polen oder auf dem ›Balkan‹ in aller Klarheit; in aller unschuldigen Klarheit. Die ganze Rede von der behaupteten Schuldlosigkeit des deutschen Soldaten im Osten, wie sie nach dem Ende des Krieges in den westdeutschen Rechtfertigungsreden zur Wehrmacht auftauchte, ist auf diesen Fotos vor- und abgebildet. Dies ist der Schock, den die Fotos bei den Gegnern der Wehrmachtsausstellung auslösten«.81

Für die Verantwortlichen der neuen, zweiten Ausstellung war jeder der Millionen knipsender Soldaten dagegen nur noch ein »fragwürdiger Augenzeuge«.82 Ihre Bilder tauchten nicht mehr auf. Statt dessen griff man auf die professionell gemachten Produkte der Propagandakompanien zurück, also jener Einheiten, die von Goebbels in Zusammenarbeit mit dem OKW aufgestellt worden waren, um Front und Heimat mit genau den Bildern zu belieferten, die zur Steigerung von Kampfmoral und Durchhaltewillen dienten (Arani 2002). Ähnlich erging es dem Versuch der Ausstellungsmacher, durch wissenschaftliche Analyse der Landser-Fotos, Kriegstagebücher und Feldpostbriefe, Aussagen vor Nachkriegsgerichten und Befragungen von älteren Besuchern der Ausstellung Rückschlüsse auf die Mentalität der Frontsoldaten zu ziehen. Schon der Begleitband zur Ausstellung hatte zwei Beiträge zum Thema Fotografie und Mentalität sowie drei Fallstudien zur Gewalt enthalten.83 Gleichzeitig erschienen zwei Broschüren mit Originaldokumenten Der Leiter des Hamburger Instituts hatte im November bzw. Dezember 1999 zwei Papiere mit einem Vorschlag zu einer »Neufassung« bzw. »Transformation« der zurückgezogenen Ausstellung formuliert, darauf hatte ich mit einem Thesenpapier geantwortet: Korrektur oder Transformation? Zum Schicksal der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944« (unveröffentl. Manuskript). 81 Klaus Theweleit: Schulddiskussion und Wehrmachtsausstellung. Badische Zeitung, 11.11.2000. 82 Volker Ullrich: Fragwürdiger Augenzeuge. Gespräch mit Ulrike Jureit. Die Zeit, 49, 29.11.2001. 83 Fotos und Mentalität: Dieter Reifahrth/Victoria Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Täter (S.  475–503) und Bernd Hüppauf, Der entleerte Blick hinter der Kamera (in: Heer/Naumann 1995, S.  504–527). Fallstudien: Mark Mazower, Militärische Gewalt und nationalsozialistische 46 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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(Manoschek 1995; Heer 1995). Später folgte ein Buch, das die 130 Interviews mit ehemaligen Soldaten auswertete (Hamburger Institut für Sozialforschung 1998a) und der Film einer prominenten österreichischen Filmemacherin mit Besuchern der Ausstellung (Beckermann 1996). »Die alte Ausstellung«, erklärte Reemtsma im Interview mit der ausstellungskritischen Zeitung Die Welt, »hat zu viele mentalitätsgeschichtliche Aussagen gemacht, die dann auch noch überzeichnet werden konnten«.84 Entsprechend mager sind die Auskünfte in der neuen Ausstellung. Sie gehen über den vagen Satz, »daß viele Soldaten mit den Wirklichkeitsdeutungen des Nationalsozialismus in hohem Maße übereinstimmten« (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002, S. 629), nicht hinaus. Und zur geschätzten Anzahl der an Verbrechen beteiligten Wehrmachtsangehörigen befragt, erklärte die Sprecherin der neuen Ausstellung: »Dazu kann man keine Aussage machen. Jede Zahl außer Null wäre in diesem Zusammenhang völlig spekulativ«.85 Die neue Ausstellung zeigte verbrecherische Taten ohne die Täter. Dass das Bemühen Reemtsmas, sich von dem anrüchigen Ruf seines bisher als »links« bzw. »politisch« geltenden Instituts zu befreien und endlich auch von den konservativen Eliten ernstgenommen zu werden, von Erfolg gekrönt war, zeigte ein Artikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung, in dem die neue Ausstellung als »ein gutes Stück Konsensgeschichte« gefeiert wurde.86 Und das Hamburger Institut hat diese Interpretation sofort als zutreffend bestätigt. Auf die Frage des Wiener Standard, warum denn die neue Ausstellung gar keine kontroversen Debatten und keine öffentliche Polarisierung mehr hervorrufe, antwortete die neue Leiterin der Ausstellung, Ulrike Jureit, wie auf Stichwort: »In der FAZ wurde gefragt: Wird hier Konsensgeschichte gezeigt? Das trifft den Punkt momentan sehr gut«.87

Martin Walser oder der Aufstand des Gewissens Am 29. September 1998 war die erste Wehrmachtsausstellung vom ehemaligen Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens und späteren Bundespräsidenten Johannes Rau in der Bonner Beethoven-Halle eröffnet worden. Kurze Zeit später, am 11. Oktober

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Werte. Die Wehrmacht in Griechenland 1941 bis 1944 (in: ebd., S. 157–190); Michael Geyer, »Es muß daher mit schnellen und drakonischen Maßnahmen durchgegriffen werden«. Civitella in Val di Chiana am 29. Juni 1944 (in: ebd., S. 208–238); Hannes Heer, Die Logik des Vernichtungskrieges. Wehrmacht und Partisanenkampf (in: ebd., S. 104–138). Matthias Kamann & Susanne Leinemann: »Das hat mit Relativierung nichts zu tun«. Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma und Bogdan Musial. Die Welt, 16.09.2000. Michael Jeismann: Die Wehrmacht war keine Mörderbande. Interview mit Jan Philipp Reemtsma und Ulrike Jureit. FAZ, 27.11.2001. Michael Jeismann: Das Ende der Wiedergänger. FAZ, 29.11.2001. Die Verweigerung von Konfrontation. Interview mit Ulrike Jureit. Der Standard, 15.04.2002. 47 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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1998, ereignete sich in derFrankfurter Paulskirche ein Skandal, dessen Anlass die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Martin Walser war. Die durch ihn ausgelöste Debatte markierte einen Stimmungsumschwung in der deutschen Erinnerungspolitik und nahm das Ende der Wehrmachtsausstellung schon vorweg.

Rede und Gegenrede Schon in den ersten Sätzen seiner Dankes-Rede präsentierte sich Walser als ein Preisträger in Fesseln und unter Rechtfertigungszwang: Als er von der Ehrung erfahren habe, sei sein spontaner Einfall gewesen, über das Schöne und nur über das Schöne zu sprechen – über ihm seit Langem vertraute Bäume und die Sonnenuntergänge am See. Aber dann sei er sich innegeworden, dass man kein Schönheitspotpourri, sondern eine »kritische Sonntagsrede« von ihm erwartete. Er würde sich mit einem Geständnis aus der Schlinge ziehen: »Ich verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen wegzuschauen. […] Unerträgliches muss ich nicht ertragen können. Auch im Wegdenken bin ich geübt. An der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich nicht beteiligen«.88

Dieser verspielte Prolog täuschte ebenso wie die dann folgende Pirouette, in der er mit der Maske des kritischen Zeitgenossen den anwesenden Bundespräsidenten um die Begnadigung eines unschuldigen DDR-Spions bat. Aus der virtuosen Ablenkung erfolgte blitzartig der Angriff. Mit dem »Unerträglichen«, das er zu ertragen ablehnte, war nichts Geringeres als Auschwitz gemeint –»unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande« – und deren Tag für Tag von Intellektuellen »im grausamen Erinnerungsdienst« betriebene »Dauerpräsentation« (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 11f.). Walser äußerte sein Unverständnis, »warum man in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wie noch nie zuvor« und nannte als Beispiel dafür das in Berlin geplante Holocaustdenkmal – »die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum« (ebd., S. 12f.). Ein ebenso großes Ärgernis dürften aber für Walser die vergangene Goldhagen-Debatte und die zu dieser Zeit laufende Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht gewesen sein. Letztere hatte er wahrscheinlich in Stuttgart, Regensburg oder Konstanz besucht.89 Dafür 88 Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, 11.10.1998. Abgedruckt in: Schirrmacher, Frank (Hg.) (1999): Die Walser-Bubis-Debatte, S. 7–17. Dieser Sammelband wird im Folgenden abgekürzt als »Walser-Bubis-Debatte«. 89 Die Ausstellung wurde dort im September/Oktober 1995, im Juni/Juli 1996 bzw. im Oktober/ November 1997 gezeigt (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 1999, S. 313–320). 48 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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spricht, dass Walser schon 1996 in Finks Krieg durch die Hauptfigur des Romans diese »Flat- und Unflatexplosion« beklagt hatte, die nach Jahrzehnten der Ruhe und des Friedens plötzlich über das Land hereingebrochen sei und jeden Soldaten zum »Mitglied einer Verbrecherbande« gemacht und »als Verbrecher« diffamiert habe (Walser 1998, S. 293f.). Auch in einem im Spiegel veröffentlichten Gespräch, drei Wochen vor seiner Preisrede, hatte er dieses skandalöse Ereignis erwähnt: Als sein Freund Augstein, ein ehemaliger Leutnant der Wehrmacht, ihm das Märchen aufbinden wollte, er sei während des Krieges »immer Deserteur, wenn auch nicht richtig« gewesen, hatte Walser sarkastisch gekontert: »Du bist im Grunde genommen die Krönung der Wehrmachts-Wanderausstellung für alle Zeiten«.90 An alle diese, durch Goldhagen, das Holocaust-Denkmal und die Wehrmachtsausstellung ausgelösten öffentlichen Erregungszustände dürfte er gedacht haben, als er von einer allgegenwärtigen Potenzierung des Erinnerns und von seinem Verdacht sprach, den er nun artikulieren wolle: Das Motiv sei nicht »das Gedenken, das Nichtvergessendürfen […], sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken« (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 12). Was er darunter verstand – die Durchsetzung des geplanten Holocaust-Denkmals, die anstehende Entschädigung von Millionen Zwangsarbeitern, den moralischen Surplus, den eine bestimmte Sorte von Intellektuellen aus dem Erinnern bezog oder weitergehend: die Errichtung einer Gesinnungsdiktatur – das sprach er nicht aus. Die Erwähnung des Zwangs beim Verfassen seiner Sonntagrede wie die Bezeichnung von dessen namen- und gesichtslosen Exekutoren legten Letzteres nahe: »Meinungssoldaten« würden mit der »Moralpistole« ihn, aber auch das deutsche Volk in den »Meinungsdienst« nötigen. Diesen »Meinungs- und Gewissenswart[en]« (ebd., S. 15) schleuderte Walser sein Verdikt entgegen: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung« (ebd., S. 13). Mit Pflichtübung meinte er öffentliches Erinnern, kollektives Gedenken, staatlich verordnetes Ritual. An dessen Stelle setzte der Redner das Primat des Gewissens und beschwor, Hegels Rechtsphilosophie in der Faust, das Privileg des Privaten auch für die Schande von Auschwitz: »Mit seinem Gewissen ist jeder allein«. Und dann noch: »Gewissen ist nicht delegierbar« (ebd., S. 14, 9). Martin Walser propagierte damit das Gegenteil von dem, was Philipp Jenninger in seiner Gedenkrede zum 9. November 1938 gefordert und was das vierjährige Gruppenexperiment der Wehrmachtsausstellung erstmals in einem solchen Umfang erreichen sollte – sich den Verbrechen des eigenen Volkes zu stellen, die historische Schuld anzuerkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Und noch etwas war völlig anders als in diesen beiden Fällen: Während die politische Klasse 90 Rudolf Augstein & Martin Walser: Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit. Der Spiegel 45/1998, 02.11.1998, S. 50. 49 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Jenninger für seine provozierenden Wahrheiten abgestraft hatte und die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht die deutsche Gesellschaft wie die Generationen spaltete, wurde Walsers elegant komponierte Rede von einem Publikum, das die Spitzen von Politik, Wirtschaft und Kultur repräsentierte, mit standing ovations gefeiert. Nur einer war demonstrativ sitzen geblieben und hatte nicht geklatscht, sondern geschwiegen – Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden. Er verurteilte noch in der Paulskirche die Ausführungen des Preisträgers und warf ihm »geistige Brandstiftung« vor. Bubis wiederholte diesen Vorwurf am folgenden Tag und rückte Walsers Sonntagsrede in die Nähe von Politikern der extremen Rechten wie Gerhard Frei von der DVU oder Franz Schönhuber von den Republikanern. Er kündigte an, in seiner Rede zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 auf Walsers Äußerungen einzugehen.91 Die nachfolgende öffentliche Debatte, durch Reden und Interviews beider Kontrahenten noch verschärft, offenbarte die Polarisierung in puncto deutscher Geschichte und deren Folgen: Sie verlief jetzt nicht mehr nur entlang der üblichen Front zwischen rechts und links, sondern auch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, deren Mitherausgeber Frank Schirrmacher Walsers Laudator in der Paulskirche gewesen war, unterstützte diesen auch am Tag nach dem Skandal: Sie lobte ihn, weil er »für die Freiheit des Gewissens« eingetreten sei und hielt seine »Wehr« gegen die »Anprangerungen« im Namen von Auschwitz für ebenso berechtigt wie gegen die »Totschläger-Worte«, die bei jedem ausländerfeindlichen Vorfall oder bei umstrittenen politischen Entscheidungen sofort zur Hand seien – »Hitler, NS-Staat, SS-Methoden«.92 Auch die Welt sekundierte dem Preisträger offen, indem sie dessen »Unbehagen« über einen uniformen Meinungsdruck für rechtens erklärte und ihn für seine ohne »Bescheidwisserei« erfolgte Aufwertung des Gewissens als autonomer und zentraler Instanz in allen »Weltangelegenheiten« ausdrücklich lobte.93 Während das Flaggschiff der liberalen Presse, die Süddeutsche Zeitung, sich scheute, eindeutig Position zu beziehen und zwischen der Einschätzung der Rede als »absurd und trotzig, verquer und verquast« und der Feststellung »der richtige Text am falschen Ort« hilflos mäanderte,94 sprachen die Kommentare in der Frankfurter Rundschau und in der Zeit Klartext. Wolfram Schütte warf dem Autor vor, bei diesem heiklen Thema nicht die Sprache der »Unmissverständlichkeit« gefunden zu haben, sondern sich eines durch die extreme Rechte »bereits besetzten Vokabulars« bedient zu haben – die Urheber würden sich dafür bedanken. Schwerer aber wiege der Irrtum Walsers, Auschwitz als die »deutsche Schande« anstatt als einen weit darüber hinausreichenden »Zivilisationsbruch« zu begreifen: »Er setzt 91 92 93 94

dpa/FAZ, 13.10.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 34). Manfred Fuhrmann: Gewissenswarte. FAZ, 14.10.1998 (in: ebd., S. 43). Jost Nolte: Martin Walser und der Streit um das Gewissen. Die Welt, 13.10.1998 (in: ebd., S. 35f.). Fritz Göttler: Der Frieden und sein Preis. SZ, 14.10.1998 (in: ebd., S. 46f.).

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nationale Geschichtspolitik über universalistische Erinnerungspolitik«.95 Und Klaus Harpprecht in der Zeit vermisste beim Festredner »die Trauer« als Grund seines Appels und sah stattdessen nur »Ressentiment, das in einem beleidigten Nationalgefühl zu Haus ist«. Walsers Wunsch nach »Normalität«, verstanden als Abwesenheit des Vergangenen, widerspreche diametral dem, was dieser Begriff für die Deutschen zu bedeuten habe – die quälende Erfahrung der »Normalität der Tätergesellschaft« und die daraus entstandene Notwendigkeit einer »permanente[n] Debatte über die Vergangenheit«.96 Das waren Ausschnitte aus den ersten und wenigen Reaktionen in einer Debatte, die zunächst gar nicht in Gang kam: Die deutsche Öffentlichkeit und ihre Medien wollten, wohl in der Hoffnung, es habe sich bei dem Vorfall in der Paulskirche um ein Missverständnis gehandelt, offensichtlich zunächst die Gedenkrede von Bubis am 9. November abwarten. Aber der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland nahm nichts zurück. In seiner Rede in der Synagoge Rykerstraße in Berlin, in Anwesenheit des Bundespräsidenten Roman Herzog, des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, erinnerte er eingangs an die sechs Millionen ermordeter Juden, aber auch an die 50 Millionen Kriegstoten und an die Millionen meist aus Osteuropa stammenden Menschen, die während des Krieges im Deutschen Reich Zwangs- und Sklavenarbeit verrichten mussten- allein im Jahr 1944 mehr als sechs Millionen. »Wir, die jüdische Gemeinschaft, können nicht die einzigen sein, die [diese] Verbrechen […] beklagen. […] Es ist die Gesellschaft, die hier gefordert ist, und es kann nicht sein, daß die Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus […] den Juden überlassen wird, während ein Teil der Gesellschaft sich dadurch eher belästigt fühlt«, unterstrich Bubis.97

Schon unmittelbar nach dem Krieg hätte man begonnen, diese »Schuld des NS-Systems […] zu verharmlosen oder zu leugnen«. Der Historikerstreit und Martin Walsers Dankesrede stünden, so Bubis, in dieser Tradition (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 108). Schon 1978 habe der Schriftsteller die Hinwendung »zu nationalen Aufgaben« davon abhängig gemacht, »Auschwitz [zu] bewältigen« (ebd., S. 110). In einer Ichbezogenen und vor allem Religiösen fliehenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik könne man aber »Schuld nur verdrängen« (ebd.). Diese damals kritisierte Haltung habe Walser sich jetzt zueigen gemacht. So wie er versuche, der Vergangenheit zu entkommen, wolle er auch den sich in Gewalt gegen Asylanten und Ausländer manifes95 Wolfram Schütte: Wunden. FR, 14.10.1998 (in: ebd., S. 45). 96 Klaus Harpprecht: Wen meint Martin Walser? Die Zeit, 15.10.1998 (in: ebd., S. 52). 97 Ignatz Bubis: Rede des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland am 9. November 1998 (in: ebd., S. 108). 51 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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tierenden Rassismus der Gegenwart nicht akzeptieren: Er sehe in solchen Meldungen nur die Absicht von Intellektuellen, den Deutschen »weh [zu] tun, weil sie finden, wir haben das verdient« (ebd.). Angesichts dieses Plädoyers Walsers für eine »Kultur des Wegschauens und Wegdenkens« (ebd., S. 111) halte er seine Kritik aufrecht. Sie beruhe weder auf einem Missverständnis, noch sei seine Charakterisierung solcher Ansichten als »geistige Brandstiftung« überzogen gewesen: Walsers Vorwurf der »Instrumentalisierung« von Auschwitz werde üblicherweise von rechtsextremen »Parteiführern« erhoben. Diese könnten sich jetzt auf jemand berufen, der zu den »führenden Schriftstellern« der Bundesrepublik gehöre (ebd.). Für Bubis war Walser damit nicht nur zu einem prominenten Kronzeugen von DVU und NPD geworden, sondern er sah in ihm auch den Vertreter einer neuen Tendenz von »intellektuelle[m] Nationalismus«, der deshalb gefährlich werden könne, weil er »nicht ganz frei sei von unterschwelligem Antisemitismus« sei (ebd., S. 112). Der Blick in die rechtsextreme Presse bestätigte, wie recht Bubis mit seiner Ankündigung gehabt hatte: Die Junge Freiheit brachte als Aufmacher auf der Titelseite ein Foto von Walser und seine zentralen Aussagen zur »Dauerpräsentation unserer Schande«, zu Auschwitz als »Moralkeule« und zu den Deutschen als »normalem Volk«. Im Innenteil wurde dann, kommentiert von zwei Artikeln, die gesamte Rede abgedruckt.98 Bis Ende des Jahres folgten vier weitere Artikel, die dem »Glücksfall Walser« und der von ihm propagierten Befreiung vom »selbstgerechten Tugendterror« gewidmet waren.99 Auch die National- und Soldatenzeitung, das Organ von Freys DVU, feierte in mehreren Artikeln den »Tabu-Bruch« des prominenten Schriftstellers und ehemaligen Vorzeigelinken.100 In der Berichterstattung der seriösen Medien kamen diese Stimmen nicht vor, so als ob sie nicht zu dieser Debatte dazugehörten oder weil sie einen Verdacht bestätigten, den man nicht zu Ende denken und aussprechen wollte. Auch die Edition, die unter dem Titel Die Walser-Bubis-Debatte von Frank Schirrmacher im Suhrkamp Verlag publiziert wurde, unterschlug diese Kommentare und das Nachwort des Herausgebers verzichtete auf jede Begründung dafür. Dafür bewies der Abdruck von 38 Briefen – eine von Walser vorgenommene Auswahl von mehr als 1.000, die ihm ihre Unterstützung bekundet hatten – wie weit verbreitet dessen Ansichten zum Umgang mit der Nazi-Vergangenheit waren und wie sehr Teile des Bildungsbürgertums bei diesem Thema mit der Gedankenwelt der extremen Rechten übereinstimmten. Die Mehrheit der 1.000 Zuhörer, die in der Paulskirche aufgesprungen und geklatscht hatten, kann man diesen Briefschreibern getrost hinzurechnen.

98 Junge Freiheit, 16.10.1998. 99 Junge Freiheit, 23.10., 13.11., 04.12. und 18.12.1998. 100 National- und Soldatenzeitung,16.10., 23.10. und 25.12.1998. 52 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Verteidigung der kollektiven Erinnerung Die Auseinandersetzung über Walsers Preisrede kam erst nach der Gedenkrede von Bubis zur Reichspogromnacht, also drei Wochen später, richtig in Gang. Im Zentrum standen fünf Themen – der zeitliche Kontext der Debatte, der Begriff der Normalität, die Rolle des Gewissens, kollektives Gedächtnis und Erinnerung und Hinweise auf Revisionismus und Antisemitismus. Der Zeitpunkt der Debatte, darauf wurde immer wieder hingewiesen, sei der einer »Zeitenwende« – die Zeitzeugen, die letzten noch überlebenden Opfer wie die letzten der »halbbeteiligten« Vertreter der Generation Walser, würden abtreten und das erkläre die Leidenschaft um die künftige Wahl und Wirkung der Worte.101 Gleichzeitig habe ein Macht-Wechsel von Helmut Kohl zu Rot-Grün stattgefunden. Weil damit eine neue Generation die politische Bühne betreten habe, könne ein »Paradigmenwechsel« die Folge sein – die Rücknahme der bisherigen, »auf dem schlechten Gewissen beruhenden« Geschichtspolitik und ein neu definiertes öffentliches Gedächtnis nach dem Muster »Holocaust-Denkmal ersetzt Bitburg«.102 Abweichend davon vermuteten andere Beobachter, von Gerhard Schröders Ablehnung des Eisenmann’schen Mahnmals ausgehend, es werde zu einer »unsentimentalen, interessegeleiteten« Politik der neuen Berliner Republik kommen,103 »zentralistisch und machtbewusst, ohne die Sperrfunktion der Erinnerung«.104 Rot-Grün mit dem hochreflektierten Post-68er Antifaschisten Joschka Fischer als Frontmann werde die Normalisierung gelingen, die Kohl so täppisch verfehlte.105 Dass Walser mit seiner Rede auf die »kollektive Neudefinition« der Berliner Politik abgezielt habe, darin stimmten die meisten Kommentatoren überein.106 Den Streit um die Deutung des Begriffs »Normalität« hatte der Preisträger ausgelöst, der vor dem Hintergrund der permanenten Einschüchterung durch die »Moralkeule« Auschwitz die in diesem Zusammenhang verblüffende Frage gestellt 101 Jan Roß: Aus Auschwitz lernen? Das Gedenken ist nicht deshalb wichtig, weil es für die politische Moral nützlich wäre. Die Zeit, 26.11.1998 und Johannes Willms: Streit ums richtige Gedenken. SZ, 11.11.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 131). 102 Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur. Neue Zürcher Zeitung, 12.12.1998 (in: ebd., S. 422). 103 Jan Roß: Aus Auschwitz lernen? Das Gedenken ist nicht deshalb wichtig, weil es für die politische Moral nützlich wäre. Die Zeit, 26.11.1998. 104 Thomas Assheuer: Das Deutschlandspiel. Viel Abschied, wenig Ankunft. Der Streit um die Deutung einer Berliner Republik. Die Zeit, 03.09.1998. Der Artikel bezog, im Wissen darum, dass Walser der aktuelle Träger des Friedenspreises sein werde, Walsers »Tagträume« vom Vaterland schon ein, indem er auf dessen neuesten Roman Ein springender Brunnen einging. 105 Stefan Reinecke: Die Zukunft der Vergangenheit. taz, 28.11.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 261). 106 Wolfram Schütte: Ende oder Anfang der Debatte? FR, 09.12.1998 (in: ebd., S. 384f.). Ähnlich Johannes Willms: Moralkeule und Tabu-Mine. SZ, 08.12.1998 (in: ebd., S. 379). 53 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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hatte: »Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?« Man würde, so hat Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeine Zeitung die rethorische Frage beantwortet, »in den Verdacht geraten, es sei einem einfach lästig […], dauernd von Auschwitz reden und hören zu müssen«.107 Hinzuzufügen wäre, dass man, ähnlich wie im Falle der »Moralkeule«, attackiert und gezwungen würde, weiter bußfertig vom verdienten Paria-Dasein der Deutschen zu sprechen. Normalität, das bedeutete für Walser offensichtlich ein Leben ohne die Erinnerung an Auschwitz und damit Lebensumstände, wie sie die Nachbarvölker genossen. Rudolf Augstein hat in seinem Spiegel-Gespräch mit dem Schriftsteller, drei Wochen nach dessen Rede, dafür die Formel gefunden »Wir sind ein normales Volk, das Probleme hat, die andere Leute auch haben«. Sein Gesprächspartner hat dem nicht widersprochen. 108 Bahners hat in diesem Zusammenhang von der »Normalitätsfalle« gesprochen: »Was normal ist, versteht sich von selbst. […] Kein anderes Volk der Welt würde sich normal nennen, und schon deshalb darf man sicher sein, dass die Deutschen nicht normal sind«.109 Thomas Assheuer machte in der Zeit auf einen anderen Aspekt aufmerksam: Die besondere Aggressivität Walsers in der Wortwahl zum Holocaust-Denkmal – ein »Alptraum« – rühre daher, dass dieses unübersehbar im Zentrum der Hauptstadt errichtete Monument der Schande »die Rückkehr in deutsche Normalität blockiert«. Für den von den deutschen Buchhändlern geehrten Dichter bedeute Normalität die Arbeit in dem von der »Herrschaft der Vergangenheit« befreiten Reich der »Schönheit« und das »Buchstabieren unserer Existenz« in der Zusammenarbeit zwischen Autor und Leser. Walsers Traum, so Assheuer, sei die Beseitigung der Schande durch die Kultur: »Das Gedächtnis von Weimar obsiegt über die Erinnerung an Buchenwald«.110 Besonders umstritten war das von Walser propagierte Primat des Gewissens vor allem äußeren Einreden und öffentlichen Verabredungen. Das Gewissen hatte der Redner, Hegel zitierend, als »tiefste innerliche Einsamkeit mit sich« bezeichnet, »wo alles Äußerliche und alle Beschränktheit verschwunden ist, diese durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst« (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 14). Mit Walsers eigenen Worten: »Mit seinem Wissen ist jeder allein« (ebd.). Diese solipsistische Definition unterschlug, wie von Klaus Georg Koch in der Berliner Zeitung und Jost Nolte in der Welt angemerkt wurde, den Tatbestand, dass das Gewissen eine durch die Gesellschaft und deren Werte, also durch ein Außen und ein Kollektiv geprägte Instanz 107 Patrick Bahners: Total normal. FAZ, 03.11.1998 (in: ebd., S. 100). 108 Vgl. das Gespräch zwischen Rudolf Augstein und Martin Walser: Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit. Der Spiegel 45/1998, 02.11.1998, 48, 53. 109 Patrick Bahners: Total normal. FAZ, 03.11.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 100). 110 Thomas Assheuer: Ein normaler Staat? Die Zeit, 12.11.1998 (in: ebd., S. 136ff.). 54 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sei,111 die bei wechselnden Gesellschaftssystemen auch eine andere Formung erfahren könne, wie das Beispiel der berüchtigten Posener Rede Heinrichs Himmlers mit dem Appell an das SS-Gewissen seiner Zuhörer zeige. Nolte zog es daher vor, »von Gewissen im Plural [zu] reden«, weil sie immer in Konkurrenz miteinander ständen und daher keines allein die Wahrheit gepachtet hätte.112 Der Mitarbeiter der taz, Stefan Reinecke, sah in Walsers Abkoppelung vom gesellschaftlichen Diskurs und seiner Absage an jedes öffentliche Gedenken eine »Ontologisierung des individuellen Gewissens« und damit einen Rückfall in die »unselige deutsche Tradition eines unpolitischen Individualismus«. In der Rede des jetzt zum Liebling des liberalen Bürgertums gewordenen ehemaligen Linken komme »ein endlich von den Fesseln universalistischer Intellektualität befreites Ich zur Sprache«.113 Günter Grass meldete sich nur kurz und ruppig zu Wort: Er warf dem Kollegen vor, »seinen Privatwunsch«, in Ruhe gelassen zu werden, »veröffentlicht und so – gewollt oder ungewollt – zu einem allgemeinen Verhalten aufgerufen« zu haben.114 Die Verteidiger des neuen Luther hatten es angesichts dieser Gegenargumente schwer. Schirrmacher, der erfolgreiche Regisseur der Friedenspreisverleihung und weniger glückliche trouble-shooter des dann entstandenen Skandals, gab nach dem später gescheiterten Einigungsgespräch zwischen den beiden Kontrahenten am 13. Dezember 1998 die folgende kryptische Rettungsmeldung zu Protokoll: »Offensichtlich schwebt Walser ein kollektiver Verständigungsprozeß vor, der unterirdisch die Routinen durchbricht und Auschwitz wieder zu einer Angelegenheit, und das kann nur heißen: zu einer Verstörung, des eigenen Gewissens macht«.115 Walser selbst, der hier nachträglich gerettet werden sollte, hatte in dem Gespräch noch einmal und diesmal schärfer jede Verständigung über eine kollektive Politik der Erinnerung abgelehnt: »Wie man Auschwitz denkt, ist eine Sache des persönlichen Gewissens«.116 Dass Walser jede Erinnerung an die Verbrechen Nazideutschlands in die Sackgasse des persönlichen Gewissens verlagerte und der Gesellschaft das Recht des öffentlichen Gedenkens bestritt, war das Zentrum des Skandals. Wolfram Schütte sprach in der Frankfurter Rundschau von einem »Kulturbruch« und Stefan Reinecke nannte Walsers Attacke einen »Angriff auf die Erinnerungspolitik«.117 Beide wiesen auf die 111 Klaus Georg Koch: Wie ich soll. Mehr als ein Streitritual älterer Herrschaften. BZ, 23.11.1998 (in: ebd., S. 211). 112 Jost Nolte, Die Welt, 25.11.1998 (in: ebd., S. 218, 217). 113 Stefan Reinecke: Die Zukunft der Vergangenheit. taz, 28.11.1998 (in: ebd., S. 261f.). 114 Günter Grass: »Unglücklich, irreführend und geschichtsvergessen«. Interview. Die Woche, 24.12.1998 (in: ebd., S. 551). 115 Frank Schirrmacher, FAZ, 14.12.1998 (in: ebd.: S. 437). 116 Ignatz Bubis, Salomon Korn, Frank Schirrmacher und Martin Walser: Ein Gespräch. FAZ, 14.12.1998 (in: ebd., S. 446). 117 Wolfram Schütte: Lawinenkunde. Folgekosten einer »literarischen« Friedenspreisrede. FR, 25.11.1998 (in: ebd., S. 223); Stefan Reinecke: Die Zukunft der Vergangenheit. taz, 28.11.1998 (in: ebd., S. 262). 55 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Notwendigkeit eines kollektiven Gedächtnisses jenseits allen privaten Erinnerns hin: Keine Gesellschaft, so Schütte, könne »ohne moralische Übereinkünfte sinnstiftender Rituale oder verbindender Erinnerungen auskommen«. Und Reinecke wies daraufhin, dass solch kollektive Erinnerung, »in der Gesellschaften sich ihrer Geschichte und Legitimation vergewissern«, stets kanonisiert sei.118 Diese Art des Umgangs mit Geschichte hat der Ägyptologe Jan Assmann, gestützt auf die historischen Überlieferungen und rituellen Traditionen der ägyptischen Geschichte, »kulturelles Gedächtnis« genannt: Im Unterschied zum Kurzzeitgedächtnis von Individuen und Gruppen, dem »kommunikativen Gedächtnis«, speise sich das »kulturelle Gedächtnis« aus den Erfahrungen der Zeitgenossen wie von den Deutungen und Zuschreibungen der Nachlebenden. Ein solches Gedächtnis sichere, indem es eine kollektive Identität und eine über die Gegenwart hinausgehende Sinnstiftung schaffe, den Erhalt von Kulturen und Staaten ( J. Assmann 1992). Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat diese Begriffsbildung für die Neuzeit fortentwickelt und differenziert: Sie definiert das »kulturelle Gedächtnis« durch den »Fundus von Erfahrung und Wissen« und durch die Tatsache, dass es sich von »seinen lebendigen Trägern abgelöst [hat] und auf materielle Datenträger übergegangen ist« – auf geschichtliches Wissen, kulturelle Symbole und Zeichen. »Monumente und Denkmäler, Jahrestage und Riten befestigen Erinnerung transgenerationell durch materielle Zeichen oder periodische Wiederholung. Sie bieten damit Anlässe für spätere Generationen, ohne eigenen Erfahrungsbezug in eine gemeinsame Erinnerung hineinzuwachsen« (A. Assmann 2006, S. 34f.).

Für Karl Heinz Bohrer war Walsers Negation des Bestehens wie der Funktion eines solchen »kulturellen Gedächtnisses« nicht mehr als ein »intellektueller Lapsus« – er habe kollektives Gedächtnis im Sinne der Assmanns mit individueller Erinnerung »verwechselt«.119 Nichts gelesen oder nichts verstanden? In jedem Fall – eine billige Ausrede. Ulrich Raulff hatte am Tag nach der Rede von Ignatz Bubis am 9. November in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf aufmerksam gemacht, dass der Mord an den europäischen Juden das kollektive Gedenken vor größte Schwierigkeiten stelle. »Seit gestern ist der Schleier zerrissen, den eine trügerische Vorstellung von ›Gedächtniskultur‹ vor der Tatsache aufgespannt hatte, daß das Gedächtnis alles andere als einheitlich ist«. Dem »Gedächtnis der Leiden« der traumatisierten überlebenden Opfer stehe das »Beharren auf der besonderen Erinnerung« der Täter 118 Schütte (ebd., S. 222); Reinecke (ebd., S. 262). 119 Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur. Neue Zürcher Zeitung, 12.12.1998 (in: ebd., S. 422f.). 56 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gegenüber. Es existiere keine gemeinsame, die unterschiedlichen Leidenserfahrungen überwölbende Gedächtniskultur. »Man kann des Holocaust«, so Raulff, »nicht gedenken, wie man des Ersten Weltkrieges gedenken kann, Feinde von einst, heute versöhnt«.120 Das nationale Gedächtnis nach 1945 war, so hat Aleida Assmann diesen Ausnahmefall begrifflich zu fassen versucht, nicht mehr nur das nach einer Niederlage übliche »Verlierergedächtnis«, sondern auch ein »Tätergedächtnis« (A. Assmann 2006, S. 67.). Und die Opfer waren nicht bei Kriegshandlungen ums Leben gekommen, sondern durch einen geplanten Genozid ermordet oder zu »traumatisierten Opfern« gemacht worden. Da ein solches »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« die heilende Kraft des Vergessens ausschließe, gebe es nur eine »geteilte Erinnerung« von Opfern und Tätern (ebd., S. 79). Die Folgen dieser Situation für die Erinnerungskultur im Nachkriegsdeutschland hat Salomon Korn, anerkannter Architekt und prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, in einem Artikel zur Walser-Kontroverse aufgezeigt. Es war einer der erhellendsten Beiträge in der ganzen Debatte, weil er Walser nicht als Einzelfall behandelte oder als Kombattant beurteilte, sondern ihn in den Kontext der Nachkriegsdebatten um die deutsche Schuld einordnete und sein Verhalten auf diese Weise verstehbar machte. Die Wortmeldung zeigte, warum es sich bei Walser nicht, wie es von Bohrer vorgeschlagen worden war, um einen »intellektuellen Lapsus«121 gehandelt hatte, der dafür verantwortlich war, dass er die eigene Erinnerung so vehement gegen das kollektive Gedächtnis ausspielte. Die Forderung der überlebenden Opfer und deren Kinder an die Nachfahren der Täter, so Korn, bestehe in einer »unverbrüchlichen kollektiven Erinnerung, in der Hoffnung, sie könne eine Versicherung gegen die Wiederholung des unvorstellbaren Infernos sein«. Andererseits bestünden viele Täter oder Mitläufer wie deren Nachkommen auf ihrer eigenen Erinnerung, »um nicht unter der Last der kollektiven Erinnerung ihre fragile nationale Identität zu gefährden«. 122 Um diesen Prozess zu erleichtern, gebe es zwei Abwehrstrategien: Die eine bestehe im Umdeuten der deutschen Verbrechen bis zur »graduelle[n] Beseitigung der nationalsozialistischen Erblast«, bei der anderen werde »die individuelle Erinnerung […] von der kollektiven partiell abgekoppelt«. Walsers Rede finde deshalb unter Journalisten wie unter seinen Lesern – alles Nachkommen von Tätern oder Mitläufern – so große Zustimmung, weil er ihnen das »Recht […] auf ein ›normales‹, vom nationalsozialistischen Verbrechen nicht mehr verstörtes Leben« verspreche (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 304). Bubis hatte die Strategie der Abkoppelung in seiner Rede zum Gedenken an den 9. November 1938 scharf kritisiert: Es dürfe nicht sein, »daß die Bekämpfung des Rassismus und Antisemitismus […] den Juden überlassen wird«, während »ein 120 Ulrich Raulff: Das Geteilte Gedächtnis. FAZ, 10.11.1998 (in: ebd., S. 123). 121 Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur. Neue Zürcher Zeitung, 12.12.1998 (in: ebd., S. 422f.). 122 Salomon Korn: Es ist Zeit. FAZ, 01.12.1998 (in: ebd., S. 303). 57 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Teil der Gesellschaft sich dadurch eher belästigt fühlt«.123 Dieser Skandal, dass nach Walsers Ansicht »die einen Deutschen mit ihrem Leiden und die anderen mit ihrer Schande also künftig getrennt umgehen«, dass also zugespitzt, »die Erinnerung an den Holocaust zu einer Privatsache der Juden wird«, 124 entsprach dem Szenario, das Andreas Hillgruber mit seiner Trennung des Gedächtnisses vom 8. Mai 1945 – für die verfolgten Deutschen ein Tag der Befreiung, für die Überlebenden der »Volksgemeinschaft« eine Katastrophe – zur Auslösung des Historikerstreits 1986 beigesteuert hatte (Hillgruber 1986). Weil diesmal, so Salomon Korn, nicht ein Streit um historische Theorien geführt werde, sondern »authentische Lebensgeschichten mit gegensätzlichen Biographien, unmittelbar aufeinandertreffen, wird der Kampf um legitimatorische Erinnerung persönlicher, leidenschaftlicher und auch erbitterter ausgetragen« als bei dem Skandal von 1986.125 Auch andere Teilnehmer der Debatte stellten diesen Zusammenhang her.126 Nach der Gedenkrede von Bubis zum 9. November in der Berliner Synagoge hatte der Bundespräsident Roman Herzog gesprochen. Er betonte die Lebensnotwendigkeit des kollektiven Gedächtnisses für Staat und Gesellschaft, besonders in Bezug auf das Dritte Reich und weil jetzt eine Generation politische Verantwortung übernehme, die diese Zeit nicht mehr selbst erlebt habe. Gedächtnis und Erinnerung müssten weitergegeben werden – »um der Opfer willen, aber auch unserer selbst willen«.127 Dann wandte sich Herzog dem aktuellen Anlass seiner Rede zu: Gedenken an die Opfer bedeute, »die Entwürdigten wieder ins Recht zu setzen«. Es beinhalte aber auch, »Erinnerung an die Taten und die Täter«, was eine möglichst genaue Rekonstruktion der historischen Zusammenhänge erfordere. In diesem Sinne diene Erinnerung »der moralischen und politischen Selbstprüfung« der Gemeinschaft, nicht aber »der Instrumentalisierung in gegenwärtigen Konflikten«. Über diesen nationalen Aspekt des Gedenkens hinausgehend wies der Redner daraufhin, dass Auschwitz als Synonym für die deutschen Verbrechen des 20. Jahrhunderts eine neue politische und philosophische Ethik begründet habe. »Das Undenkbare ist einmal Wirklichkeit geworden, und damit bleibt es historische Möglichkeit – überall auf der 123 Ignatz Bubis: Rede des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland am 9. November 1998 (in: ebd., S. 106–113; hier S. 108). 124 Wolfram Schütte: Ende oder Anfang der Debatte? FR, 09.12.1998 (in: ebd., S. 384); Stefan Reinecke: Die Zukunft der Vergangenheit. taz, 28.11.1998 (in: ebd., S. 262). 125 Salomon Korn: Es ist Zeit. FAZ, 01.12.1998 (in: ebd., S. 305). 126 Wolfram Schütte: Lawinenkunde. Folgekosten einer »literarischen« Friedenspreisrede. FR, 25.11.1998; Wolfram Schütte: Ende oder Anfang der Debatte? FR, 09.12.1998 (in: ebd., S. 222, 384). 127 Roman Herzog: Rede des Bundespräsidenten bei der Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60.  Jahrestages der Synagogenzerstörung am 9./10.  November 1938 (in: ebd., S.  113–118; hier: S. 113). 58 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Welt. Durch Verdrängen, Vergessen, Auf-sich-beruhen-lassen werden wir mit dieser Katastrophe der Zivilisation nicht fertig werden« (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 114). Herzog gestand im Fortgang seiner Rede ein, er sei unsicher, »ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben« und machte darauf aufmerksam, dass es beim Gespräch mit jungen Menschen über diese Zeit wichtig sei, »die richtige Dosierung« zu finden (ebd., S. 114f.). Damit hatte er die kritischen Hinweise Walsers auf Fehlentwicklungen im Umgang mit der Erinnerung aufgegriffen. Aber er hatte auch gegen Walser darauf bestanden, dass es neben der individuellen Erinnerung ein für das Gemeinwesen unabdingbares kollektives Gedächtnis gebe, dass es die Pflicht dieses Gemeinwesens sei, der Erinnerung an den Holocaust wie an alle anderen Verbrechen Nazideutschlands einen zentralen Platz im öffentlichen Gedächtnis einzuräumen und dass Auschwitz als Zivilisationsbruch auch ein stets präsentes Thema der Völkergemeinschaft bleiben werde.128

Trübe Untertöne: Die »Schande der Besiegten« und das »aufgezwungene Brandmal« Eigentlich hätte nach dieser ebenso klaren wie abgewogenen Rede die Debatte beendet sein können. Aber die Rede Walsers hatte so viel Verborgenes und Verbotenes enthalten und angedeutet, dass mit einem Mal all das zur Sprache kommen konnte, was es sonst nie schafft, zum öffentlichen Gespräch zu werden. Thomas Schmid, der Chefredakteur der Welt, hatte diese Wirkung beschrieben, als er in einem DebattenBeitrag Walser den Titel eines »Volksschriftstellers« verlieh: »Weil er so nah am Quell des bundesdeutschen Wesens sitzt, spricht ›es‹ zuweilen aus ihm. Daher die trüben Untertöne, daher der feine Hang zum Ressentiment«.129 Diese Rolle konnte der Dichter einnehmen, weil er in seiner Rede nicht nur die Abkoppelung der individuellen Erinnerung vom kollektiven Gedächtnis betrieben hatte, sondern auch eher verdeckt, aber umso wirkungsvoller die Strategie verfolgte, die Salomon Korn als das »Umbiegen« und das »Zurechtbiegen« der kollektiven Geschichte bezeichnet hatte. Sein Bekenntnis »Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande« wie die Bekräftigung »Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum« (ebd., S. 11) schienen dieser Einschätzung zu widersprechen. Aber diese Erklärungen 128 Die Verteidiger Walsers zitierten aus dieser Rede nur die Teile, die sich auf dessen Kritik an Fehlentwicklungen der Erinnerungspolitik bezogen (vgl. Eckhard Fuhr: Deprimierend. FAZ, 10.11.1998 (in: ebd.: S. 121); Ulrich Raulff: Das Geteilte Gedächtnis. FAZ, 10.11.1998 (in: ebd., S. 122). 129 Thomas Schmid: Dichtergrübler, Bauernbub und deutscher Seelenforscher. Die Welt, 01.12.1998 (in: ebd., S. 318). 59 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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klangen so röhrend-plakativ, dass ihr einziger Nutzen nur darin bestehen konnte, dem Zuhörer oder Leser, der über den rechten Sinn verfügte, ein Signalement zukommen zu lassen, statt auf die Plattitüden auf das Subtile zu achten – auf das Nichtgesagte, den Subtext. Diese enthielten, wie ein Kassiber, die Botschaft. Und diese enthüllte einen völlig anderen Text, als den, der im Zentrum der öffentlichen Kontroverse stand: In diesem »zweiten Text« ging es Walser nicht um das »Wie« des Erinnerns, sondern um das Erinnerte oder das zu Erinnernde, es ging um die Frage nach der deutschen Schuld und den Schuldigen. Walser negierte Beides: Er sprach nie von der Schuld, sondern immer nur von der »Schande«. Zwei Professoren der Universität Duisburg hatten in einem Offenen Brief an den zu einem lange verabredeten Vortrag an ihrer Universität eingeladenen Dichter diesen gefährlichen Wortgebrauch kritisiert und ihm vorgeworfen, er falle damit »nicht nur hinter die ersten Versuche rationaler Annäherung an das Geschehene zurück« – gemeint war Karl Jaspers’ 1946 publizierte Schrift Die Schuldfrage, – sondern rufe »zugleich nationalistische Topoi ab (die ›Schande von Versailles‹ und ähnliches)«.130 Walser wies diese Vorwürfe bei seinem Duisburger Vortrag, dem ersten öffentlichen Auftreten nach seiner Rede in der Paulskirche, mit verdächtigem fortissimo zurück: »Mein Gott, möchte ich da ausrufen, wovon, wenn nicht von Verbrechen, zeugt Schande«.131 Dabei wusste der an Hölderlin und Kafka geschulte Autor, dass es spätestens seit der Einführung des »Schandpfahls« zum Wissen der Gebildeten gehörte, dass »Schande« kein juristischer Begriff war und die Zuschreibung der »Schande« keine nachweislichen Straftatbestände erforderte, sondern nur das hinterhältige Hörensagen, die üble Nachrede, die böswillige Denunziation oder die pure Macht. Die Schande, daran hat Lothar Baier im Freitag erinnert, schließt, weil bei ihrem Zustandekommen »stets ›die anderen‹ mitbeteiligt [sind], die nachreden und zuschreiben«, die Unschuld nicht aus, ist oft nur »unverdiente Schande«.132 Assheuer ergänzte diese Kritik an dem seltsam distanzierten Wortgebrauch, indem er darauf hinwies, dass »Schande« auch einem »Verhängnis« entspringen könne, das nur »schuldlos Schuldige« zurückließe: »Dann wäre Schande etwas, was einem einzelnen oder einem Volk bloß widerfährt – und von einer Dimension, die keine moralische Zurechnung mehr erlaubt«.133 Auch der Begriff der »Last« gehörte in die Grammatik des Passivs: 130 Klaus M. Bogdal & Michael Brocke: Offener Brief an Martin Walser, 09.11.1998 (in: ebd., S. 119– 120; hier: S. 119). 131 Martin Walser: Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von Verbrechen. Das Gewissen ist die innere Einsamkeit mit sich: Ein Zwischenruf. FAZ, 28.11.1998 (in: ebd., S. 257). Die Rede krallte sich in einer verstörend rechthaberischen Weise an der Zurückweisung des »Offenen Briefes« fest und enthielt als einzige Neuigkeit die Mitteilung von den »mehr als tausend Briefen voller Zustimmung«, die er erhalten habe. 132 Lothar Baier: Meister Anton und Walsers Schande. Freitag, 11.12.1998. 133 Thomas Assheuer: Ein normaler Staat? Die Zeit, 12.11.1998; (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 136). 60 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Eine Last wird einem in den meisten Fällen aufgebürdet und wenn man es selbst tut, geschieht es in den wenigsten Fällen freiwillig. Das gilt auch für die »geschichtliche Last«, die eines der Lieblingsworte des Dichters war. Dem Hörer oder dem Leser, der die Zeichen von Walsers Signalflagge lesen konnte, fielen je nach Altersstufe eine Menge anschlussfähiger Assoziationen zu den Reizworten »unvergängliche Schande« und »geschichtliche Last« ein – vom »Versailler Schandvertrag« über die »Nürnberger Siegerjustiz« und den Zwilling von »Entnazifizierung« und »Umerziehung« bis zur erzwungenen Anerkennung der »Oder-Neiße-Grenze« oder der »DDR«. Auch die für einen Schriftsteller seines Formats feierlich verkündete Plattitüde, dass es Auschwitz gab und dass es dort grauenhaft war, wollte doch, neben dem Nachweis seiner eigenen wie seiner Zuhörer Demokratie-Tauglichkeit, nur den dazu gehörenden Lieblingssatz der Deutschen »Aber davon haben wir nichts gewusst« abrufen. Eigentümlich war in diesem Zusammenhang auch Walsers Umgang mit Begriffen: Er sprach nie von Schuldigen, sondern immer nur von »Beschuldigten«. Eine solche Wortwahl dürfte dem Sprachvirtuosen nicht unbewusst oder fälschlich unterlaufen sein: »Beschuldigte« bedeutete, dass zwar eine Anklage existierte, aber das Urteil noch nicht gesprochen war. Walser wollte, dass zeigt dieser kurze Blick in die Sprachwerkstatt, in der seine Sonntagsrede entstanden war, die juristische wie moralische Abrechnung über die jüngere deutsche Geschichte offenhalten. Das legt nahe, zumindest seine Paulskirchenrede in die Nähe des Geschichtsrevisionismus zu rücken. Es sollte aber auch noch ein ganz anderer, bösartiger Ton in die Debatte kommen. Verantwortlich dafür war jemand, mit dem niemand gerechnet hatte und der sich, als Unterstützer von Walser, sofort mit einem halben Dutzend von dessen Gegnern zertritt. Klaus von Dohnanyi war in der Ära von Willy Brandt Staatssekretär in verschiedenen Ministerien, dann in den 1980er Jahren ein vorzüglicher Bürgermeister der Hansestadt Hamburg gewesen, inzwischen aber wegen seiner exzentrischen Ansichten zum Außenseiter in der SPD geworden. Wegen der Geschichte seines Vaters Hans von Dohnanyi, der schon früh zum Verschwörerkreis von Oberst Hans Oster im Amt Abwehr/Ausland des Oberkommandos der Wehrmacht gehört hatte und nach zweijähriger Haft im KZ Sachsenhausen 1945 hingerichtet wurde, war Klaus von Dohnanyi über jeden Verdacht rechtskonservativer oder gar revisionistischer Ansichten erhaben. Für ihn war der Friedenspreisträger »ein vom Gewissen bedrängter Deutscher«, der für eine »menschliche Form des Gedenkens«, frei sowohl von jeder »bequemen Routine« als auch von »monumentaler« Übersteigerung wie im Falle des Berliner Holocaust-Denkmals, eintrat.134 Aber schon in seiner ersten Intervention, einer Entgegnung auf die Gedenkrede von Ignatz Bubis, zündete Dohnanyi einen Sprengsatz: Er forderte von den nichtjüdischen Deutschen die klare Anerkenntnis der historischen Schuld für die Verbrechen des Dritten Reiches. Im Gegenzug verlangte 134 Klaus von Dohnanyi: Eine Friedensrede. FAZ, 14.11.1998 (in: ebd., S. 150, 149). 61 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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er aber von den jüdischen Deutschen das ehrliche Eingeständnis, »ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ›nur‹ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären«.135 Diese Gleichstellung von Opfern und Tätern in den Tagen, da die überlebenden Juden des Beginns der Vernichtung ihrer Eltern und Geschwister, ihrer Freundinnen und Freunde gedachten, verriet nicht nur eine zynische Rabulistik, sondern auch das Fehlen jeglicher Empathie. Bubis wies in einem Brief die Frage als »bösartig« zurück.136 Henryk M. Broders Antwort fiel entschieden schärfer aus: Dohnanyi müsse sich fragen lassen, »wie ›es‹ in ihm denkt, wenn die Rede auf Juden kommt«. Tatsächlich hätten sich die Juden, wenn sie nicht verfolgt worden wären, genauso verhalten wie die Deutschen, weshalb sich diese Frage erübrige. Ertragreicher sei es aber, nach dem Subtext von Dohnanyis Bohren zu fragen: Der enthalte die unausgesprochene Überlegung, »daß es nur eine Laune des Zufalls war, daß die Deutschen mit den Juden Schlitten gefahren sind, genausogut hätten die Juden die Deutschen auf die lange Reise schicken können«. Broder vermutete als Motiv dieser Spekulation »ein starkes Entlastungsbedürfnis«.137 Offensichtlich hatte Ernst Noltes im Historikerstreit präsentierte Kippfigur von weltgeschichtlicher Aktion – Reaktion bei Dohnanyi ihre Spuren hinterlassen: Aus Angst, der von den jüdischen Bolschewiki an der eigenen Bourgeoisie begangene »Klassenmord« könne sich in einem revolutionären Deutschland wiederholen, hätten die Nationalsozialisten den präventiven »Rassenmord« inszeniert. »War nicht der ›Archipel Gulag‹ ursprünglicher als Auschwitz?«, mit dieser Frage hatte Nolte zwölf Jahre zuvor eminente Räume für krude Geschichtsfantasien geöffnet.138 Für einen kreativen Kopf wie den ehemaligen Bürgermeister von Hamburg ein ideales Gelände. Bubis’ Antwort auf Dohnanyi löste eine Lawine von Erklärungen und Gegenerklärungen der beiden Widersacher aus, in denen die »Verletzbarkeit« der nichtjüdischen und jüdischen Deutschen und das Verlangen nach einem »etwas behutsameren« Umgang mit der jeweils anderen Gruppe im Zentrum standen und die mit der ultimativen Forderung Klaus von Dohnanyis endeten, den Streit auf der Grundlage aller Verlautbarungen der Kontrahenten zum Thema »vor dem vollständigen Zentralrat der Deutschen Juden« auszutragen.139 Diese offensichtlich nicht mehr aufzuhaltende Woge der Aggressivität führte zur Intervention des ehemaligen Bundespräsidenten 135 136 137 138

Ebd., S. 148. Ignatz Bubis: Ich bleibe dabei. FAZ, 16.11.1998 (in: ebd., S. 158). Henryk M. Broder: Halbzeit im Irrenhaus. Der Tagesspiegel, 24.11.1998 (in: ebd., S. 214f.). Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. FAZ, 06.06.1986 (in: »Historikerstreit«, S. 45). 139 Klaus von Dohnanyi: Wir sind alle verletzbar. FAZ, 17.11.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S.  164); Ignatz Bubis: Über den Seelenfrieden. FAZ, 19.11.1998 (in: ebd., S.  174f.); Klaus von Dohnanyi: Wer das Wir zerbricht. FAZ, 20.11.1998 (in: ebd., S. 186).

62 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Richard von Weizsäcker. Mit dem Hinweis, dass der Streit unter den Dreien drohe, »außer Kontrolle zu geraten« und sich »besorgte Fragen« im Ausland häuften, formulierte er ein Konsensangebot, das zwar keines sein konnte, aber Bubis den Rücken stärkte140 und eine Aussprache zwischen dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland und dem Ex-Politiker zustande brachte. Diese Eskalation war auch der Anlass für Salomon Korns oben zitierten Beitrag zu dieser Debatte gewesen. Er hatte darin auf eine aus dem unterschiedlichen Schicksal von Opfern und Tätern resultierende Gefahr hingewiesen, die zu einer Belastung im Umgang der beiden Gruppen miteinander führen könnte: »Zwar tragen erstere weit schwerer an der Last ihrer Erinnerung, jedoch ohne Verantwortung für die begangenen Verbrechen. Es ist diese von Schuld losgelöste Einheit in der Negativität, die den überlebenden Opfern und ihren Nachfahren von vielen Täternachkommen geneidet wird. Obwohl einer solchen Position von sich aus keine besondere moralische Position zukommt, begünstigt allein diese voreingenommene Haltung den Eindruck, als sprächen die Nachfahren der Opfer […] vom hohen Roß der Moral zu den tieferstehenden Täternachkommen. Das kann«, so schlussfolgerte Korn, »unter bestimmten Konstellationen Unbehagen, Abwehr, ja Wut hervorrufen«.141

Dieses Gefühl, sich herabgesetzt zu sehen, hatte offensichtlich auch Dohnanyi in seinen Kampf mit Bubis getrieben: Die Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft der Täter war stärker als seine Zugehörigkeit zu einer Widerstands- und Opferfamilie. Aber diese Energie war durch Walsers »zweiten Text« freigesetzt worden: Er, der als Anwalt des individuellen Gewissens immer als »Ich« zu sprechen pflegte, wechselte zum »Wir«, wenn er von der Dauerpräsentation der Schande sprach und die »Anderen« angriff, diejenigen, die wort- und bilderreich daran erinnerten – die Intellektuellen, die Medien und die für Gedenktage und Denkmäler zuständige Politik. Dazu gehörte auch eine zweite Gruppe, die durch ihre pure Existenz die Verbrechen des Dritten Reiches aufrief: die überlebenden Nachkommen der Opfer des Holocaust. Klaus Georg Koch hat darauf hingewiesen, dass die Bezeichnungen, die Walser für die Repräsentanten und Repräsentierer der Erinnerung fand – »Meinungssoldaten«, »Meinungs- und Gesinnungswarte«, die mit vorgehaltener »Moralpistole« jedermann/jedefrau in den »Meinungs-« oder »Erinnerungsdienst« zwingen würden – Assoziationen an das Dritte Reich wachriefen, an Nazis und Nazi-Organisationen.142 Diesen Bildern Juden zuzuordnen, verrät die Umkehrung von Ursache und Wirkung. »Die Erinnerung«, hat Henryk M. Broder angemerkt, wecke den Wunsch, statt 140 Richard von Weizsäcker: Der Streit wird gefährlich. FAZ, 20.11.1998 (in: ebd., S. 187f.). 141 Salomon Korn: Es ist Zeit. FAZ, 01.12.1998 (in: ebd., S. 305). 142 Klaus Georg Koch: Wie ich soll. Mehr als ein Streitritual älterer Herrschaften. BZ, 23.11.1998 (in: ebd., S. 212). 63 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Täter »die Erinnerer für den Schrecken zur Verantwortung zu ziehen«. Und er hat, um jede Unschärfe bezüglich dieses Vorgangs zu beseitigen, den bösen Satz des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rex hinzugefügt: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«.143 Das alles war kein Partei- und Programm-Antisemitismus, aber es waren Verschiebungen der eigenen Schuld auf die als feindlich imaginierten Juden, ein Vorgang, der sich mit den altbekannten antisemitischen Stereotypen und Ressentiments mischte. Kein Geringerer als Rudolf Augstein, der so unerwartet wie Dohnanyi die Bühne der Auseinandersetzung betreten hatte, deponierte in der Debatte um ein angemessenes Holocaust-Gedenken und um das fortwährende Elend mit der deutschen Schuld einen Kommentar, der voll davon war. Bubis hat diesen später »die schlimmste Reaktion auf Walsers Rede« genannt.144 Augstein lobte eingangs seinen Duzfreund Walser wegen dessen berechtigter Kritik an den »routinierten Reuebekundungen« und dafür, dass er eine längst »fällige Debatte« ausgelöst habe.145 Dann kam er, nachdem er als ehemaliger Leutnant an der Ostfront versichert hatte, wie sein Offizierskamerad im Luftwaffenministerium, Helmut Schmidt, von »der Endlösung« erst nach dem Krieg erfahren zu haben, gleich zur Sache. Das in Berlin geplante Denkmal wolle an dieses Verbrechen erinnern, ein Vorhaben, das bei keinem anderen Volk auf der Welt möglich wäre: Dieses »Schandmal« sei nämlich »gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet«. Politischen Widerstand werde es »mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand« nicht geben. Denn das Mahnmal sei, wie man dann erfährt, ein jüdisches Projekt: Als der Kanzler Helmut Kohl wegen einer desaströs verlaufenen Israel-Reise international unter Druck geraten sei, habe er Ignatz Bubis, dem »früheren Frankfurter Baulöwen« und jetzigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland eine nationale Gedenkstätte des Holocaust in die Hand versprochen. Kohl fürchtete eine »Stimmungsmache« ähnlich der, die sein berühmter Vorgänger Konrad Adenauer in den 1950er Jahren erlebt und mit diesem Satz erklärt hätte: »Das Weltjudentum ist eine jroße [sic!] Macht«. Auf diese Weise sei den Deutschen von außerhalb ein »steinernes Brandmal aufgezwungen« worden, das wegen seiner Ästhetik »eine Verhöhnung« des in Auschwitz Geschehenen und wegen der politischen Umstände seiner Realisierung »eine Absage« an die gerade erst wiedergewonnene staatliche Souveränität bedeute (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 287). Das Denkmal, dessen war sich Augstein sicher, werde kommen: Sonst würden wir »Prügel in der Weltpresse«, die, wie jeder Leser spätestens jetzt begriffen hatte, vom Weltjudentum beherrscht war, beziehen – »jedes Jahr und lebenslang, und das bis ins siebte Glied« (ebd., S. 289). 143 Henryk M. Broder: Halbzeit im Irrenhaus. Der Tagesspiegel, 24.11.1998 (in: ebd., S. 215, 213). 144 »Die Haare sind mehr geworden«. KONKRET-Gespräch. Konkret 2/1999, 12–15; hier: S. 12. 145 Rudolf Augstein: »Wir sind alle verletzbar«. Der Spiegel, 30.11.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 286. 64 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Der tiefe Graben: Opfer- und Tätererinnerung Am 13. Dezember 1998 kam es zu dem von Vielen gewünschten und von prominenten Vermittlern zustande gebrachten Gespräch zwischen Ignaz Bubis und Martin Walser, das von Frank Schirrmacher und Salomon Korn sekundiert bzw. moderiert wurde. Walser hatte die Rücknahme des »Brandstifter«-Vorwurfs als Vorbedingung gefordert, was Bubis verweigert hatte. An dieser Blockade wäre das Treffen fast noch gescheitert. Es begann mit der Aufzählung der Reizworte durch Bubis – die Munition, die Walser den Rechtsradikalen geliefert habe, der Verdacht der Instrumentalisierung von Auschwitz z.B. für die Verhandlungen zu den Zwangsarbeiter-Entschädigungen, die brennenden Asylantenheime und die Aufforderung wegzuschauen. Doch dann veränderte sich etwas: Bubis erzählte, dass er sich nur vier Filme über den Holocaust angeschaut habe – zwei Teile der gleichnamigen Serie im Fernsehen, Shoah und Schindlers Liste – und nur ein einziges Buch über die Zeit gelesen habe, Die Falle mit dem grünen Zaun, ein Überlebensbericht aus dem Vernichtungslager Treblinka. Erst durch dieses Zeugnis habe er die Gewissheit gewonnen, dass sein Vater nach der Deportation im Herbst 1942 dort spätestens 1943 ermordet wurde. Er habe mehrmals Auschwitz und Majdanek besucht, aber Treblinka erst 1989 und dann nie wieder. 1985 habe er zum ersten Mal ein deutsches KZ besucht, Bergen-Belsen, wohin seine Frau vom KZ Dachau aus hin verlegt worden sei. Dachau und Sachsenhausen habe er nie aufgesucht. Seine Frau sei 1995 in Dachau bei der Befreiungsfeier gewesen, in Bergen-Belsen nie mehr. Diese Erzählung, penibel wie ein Rechenschaftsbericht, war, weil mit jedem Ort die Erinnerungen an Geschundene und Gemordete aufgerufen wurde, ein schleppender und klagender Gang über die Killing Fields Europas. Er endete abrupt und wie ein Echo auf Walsers Paulskirchenrede: »Ich kann da nicht hinschauen, ich würde zerbrechen, wenn ich wieder nach Treblinka gehen würde. Es würde mich zerbrechen«.146 Das war ein anderes Nicht-Hinschauen-Können als das von Walser propagierte Wegsehen. Fünf Minuten später wurde auch Walser privat: Er wies Bubis’ Vorwurf, er habe mit seiner Rede einen Schlussstrich ziehen wollen, empört zurück und erinnerte an seine langjährige Auseinandersetzung mit dem Thema Auschwitz. »Und, Herr Bubis, da muß ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet; Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich« (»Walser-Bubis-Debatte«, S. 442). Bubis Antwort: »Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte« (ebd.). Da zeigte sich der Riss zwischen den zwei Erinnerungen, der Abgrund zwischen der Totenklage eines jüdischen Davongekommenen und der 146 Ignaz Bubis, Salomon Korn, Frank Schirrmacher & Martin Walser: Ein Gespräch. FAZ, 14.12.1998 (in: ebd., S. 440). 65 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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herzlosen Rechthaberei eines, der zur »Volksgemeinschaft« gehört und deren Uniformen und Abzeichen getragen hatte. Und die Unfähigkeit des Einen, zu trauern und den klagenden Anderen ein Stück wortlos auf seinem Weg zu begleiten. Das gelang nicht, weil Walser mit seinem eigenen »Leid« vollauf beschäftigt war. Er teilte es, wie er mit Hinweis auf die mehr als tausend zustimmenden Briefe beteuerte, mit Vielen: Die Deutschen ständen unter »Generalverdacht«, man behandle sie »wie einen Straftäter auf Bewährung, der andauernd seine Resozialisierung unter Beweis stellen muß« und den man »nicht oft genug an seine Schuld erinnern […] kann« (ebd., S. 451, 463). Was er jetzt sage, sei riskant, aber er müsse es aussprechen: »Schauen Sie, wenn in der Bundesrepublik Brutalitäten gegen Ausländer vorkommen, gegen Asylanten, dann sind unsere Medien sofort bereit, das zurückzubinden an diese deutsche Vergangenheit. Da wird die Resozialisierung – […] Ich glaube, ich habe Sie im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage ich Sie, als was waren Sie dort?« (ebd.)

Als Bubis nicht sofort reagierte, gab Walser die Antwort: »Denn ich sah ihr empörtes Gesicht im Fernsehen, begleitet vom Schein der brennenden Häuser, das war sehr heroisch« (ebd., S. 452). Bubis war überführt: Er zählte für Walser zu jenen Empörungsaposteln und Menschenrechtshelden, für die er die Bezeichnungen schon geprägt hatte –»Meinungs- und Gewissenswarte« – und denen er jetzt eine neue hinzuerfunden hatte – »Gefängnis- und Resozialisierungswärter«. In Walsers herrischer Aufforderung, Bubis möge sich für seine Anwesenheit am Tatort Lichtenhagen rechtfertigen, gab es einen unausgesprochenen Text, der so lautete: Da haben Sie als Jude nichts verloren, kümmern sie sich um Ihren Holocaust und mischen Sie sich nicht in andere Angelegenheiten ein. Versuchen Sie erst recht nicht, einen Zusammenhang zwischen den heutigen Brandstiftern und dem Dritten Reich herzustellen, um uns ein schlechtes Gewissen zu machen und sich selber als besserer Mensch aufzuspielen. Im gesprochenen Text widersprach Walser der Deutung von Bubis, es habe sich bei den Tätern um Rechtsradikale gehandelt – es seien nur ein paar »Asoziale« gewesen und bei den 12 Prozent der Wähler, die in Sachsen-Anhalt der rechtsextremen DVU zum Einzug in den Landtag verholfen hätten, habe es sich um »Protestwähler« gehandelt (ebd., S. 453). Dieser politischen Belehrung fügte er noch einen persönlichen Rat hinzu: Der Religionsphilosoph Jakob Taubes habe aus der Tatsache, dass er Jude sei und daher 1933 gar keine Wahl gehabt habe, wie alle anderen mitzumachen oder sich gegen Hitler zu entscheiden, die Folgerung gezogen, sich des Urteils zu enthalten: »Wer keine Wahl hat, ist auch im Urteil eingeschränkt. Das heißt, er kann nicht beurteilen, was die Faszination anderer [für Hitler] ist, die stolpern, die rutschen, die wollen, die fasziniert sind« (ebd., S. 452). Das hieß: Zurückhaltung beim Thema Drittes Reich. Einer wie Bubis war da »befangen«. Und für fremdenfeindliche An66 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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schläge wie in Rostock-Lichtenhagen lautete die Warnung an den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden: Solche Orte meiden! »Ich will nur sagen: Wenn Sie irgendwo auftauchen – das meine ich –, dann kommen die [ Journalisten und sagen; H. H.], das ist Neonazitum« und dieser Vorgang wird »sofort zurückgebunden an 1933« (ebd.). Und dann ließ Walser, obwohl er jede Schlussstrich-Absichten erneut geleugnet hatte, diejenigen zu Wort kommen, die ihm in Briefen und Gesprächen dafür gedankt hatten, dass er genau das getan hatte: »Und das können die Leute nicht mehr ertragen, und das wollen sie nicht andauernd hören, und darauf haben sie ein Recht, denn sie haben mit dem Spuk nichts mehr zu tun« (ebd., S. 454). Durch dieses rechthaberische Auftrumpfen Walsers, der jedes selbstkritische Einlenken verweigerte, war der schon vorhandene Riss im Laufe des Gesprächs immer tiefer geworden. Avi Pimor, der damalige Botschafter Israels in Deutschland, hatte sich ein paar Tage vorher in die öffentliche Debatte eingeschaltet und, an Walser adressiert, einen Lehrsatz aus dem Talmud zitiert: »Ein geistig Hochstehender, der auf seinem Rock einen Fleck duldet, hat die Todesstrafe verdient«. Mit Bezug auf dieses Zitat forderte er den Friedenspreisträger auf, wegen seiner Vorbildfunktion die Missverständnisse, die seine Rede enthalten und im Lande ausgelöst hätten, klarzustellen.147 Als Salomon Korn und Frank Schirrmacher Walser in diesem Sinne gegen Ende des Gesprächs baten, sich in einer Erklärung vom Missbrauch seiner Rede durch Zeitungen und Organisationen der extremen Rechten doch zu distanzieren, lehnte er diesen Vorschlag harsch ab: Die Nationalzeitung existiere für ihn nicht und im Übrigen nehme er das, was man mit seiner Rede mache, nicht zur Kenntnis. Dann holte er den Artikel des israelischen Botschafters hervor, der unter dem Titel Der Fleck auf dem Rock. Keine Frage der Schuld, sondern der Verantwortung – Meine Antwort an Martin Walser veröffentlicht worden war und zitierte die Stelle aus dem Talmud. Er nannte den Artikel »eine Unverschämtheit«, weil ihm darin von Avi Primor die Todesstrafe angedroht worden sei: »Er sagt natürlich, es gehe hier um eine Metapher. Und trotzdem ist das erste Bild, das er einführt, daß der eine Todesstrafe verdient hat, der einen Fleck auf dem Rock duldet. Wo ist der Fleck auf meinem Rock? Wo ist die Nachlässigkeit? Ich sage Ihnen, diesen Umgang mit Menschen ertrage ich nicht« (ebd., S. 460f.).

In der Erregung über diesen Angriff eines hohen und man muss hinzufügen: jüdischen Diplomaten überhörte Walser auch die Bitte von Ignatz Bubis, »einen Weg [zu] finden für ein gemeinsames Erinnern« (ebd., S. 461). Auch als Bubis den Vorwurf des »geistigen Brandstifters« zurücknahm, reagierte Walser eisig: »Ich bin kein 147 Avi Primor: Der Fleck auf dem Rock. Keine Frage der Schuld, sondern der Verantwortung – Meine Antwort an Martin Walser. FAZ, 09.12.1998 (in: ebd., S. 380). 67 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Offizier aus dem Casino. Ich brauche das nicht« (ebd., S. 464). Die Runde ging ohne jede Klarstellung und ohne auch das minimalste Einverständnis auseinander. Sigrid Löffler sprach in der Zeit von »Walsers Selbstdemontage«.148 Wolfram Schütte bilanzierte das Auftreten Walsers als »anmaßend, starrsinnig, schamlos und feige«.149 Sein Kommentar in der Frankfurter Rundschau endete: »Unerträglich ist einer, der den ›Fleck‹ auf seinem Rock nicht sehen will, weil er auf Teufel komm raus bei denen Liebkind sein will, die ihn für ihren ›Seelenhaushalt‹ instrumentalisieren« (ebd., S. 476). Ignatz Bubis hat, in einem Interview nach dem Erfolg seines Protestes in der Paulskirche befragt, eine äußerst resignierte Antwort gegeben: »Ich habe wenig erreicht. Es ist im Gegenteil so, daß die Mehrheit, von der Walser sagt, daß sie seine Rede als befreiend empfunden habe, sich ermutigt fühlt«.150 Im Falle Jenningers hatte eine ungewöhnliche Einheitsfront aller im Parlament vertretenen Parteien das Aussprechen der Wahrheit verhindern wollen. Jetzt schwiegen die Spitzen der Regierung – Gerhard Schröder und Joschka Fischer – zum Aufruf Walsers, Augsteins und Dohnanyis, die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld den Juden zu überlassen und zur Tagesordnung, d.h. zur »Normalität« überzugehen. Als Schröder in der Fernsehsendung Talk im Turm zu Walser und der von ihm ausgelösten Debatte befragt wurde (»Finden Sie, dass bei uns Auschwitz als moralische Keule mißbraucht wird?«), antwortete er nicht mit »Nein«, sondern mit dem vielsagenden Satz: »Ich denke, ein Schriftsteller muß das sagen dürfen, der Bundeskanzler nicht.«151 Da weiß man, wo er stand.

Günther Grass, ein ganz normaler Deutscher Der Skandal, von dem abschließend die Rede sein soll, unterschied sich von den beiden vorigen dadurch, dass er nicht durch einen einmaligen Auftritt ausgelöst wurde, sondern eine Abfolge von Tabubrüchen war, die 2011/12 eskalierten. Der Auslöser war kein Geringerer als der erste Nobelpreisträger des wiedervereinigten Deutschlands, Günter Grass. Als er 2006 seine Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel veröffentlichte, erfuhr die überraschte deutsche und internationale Öffentlichkeit, dass zumindest die Darstellung eines wichtigen Abschnitts seines bisher verbreiteten Lebenslaufes, er sei 1944 als Flakhelfer und dann zur Wehrmacht eingezogen worden, nicht der Wahrheit entsprochen hatte: Grass erklärte, er habe sich nach dem Ende des Reichsarbeitsdienstes als Kriegsfreiwilliger bei der Marine gemeldet, sei dann aber, weil keine U-Boote mehr ausgelaufen seien, an die Waffen-SS überstellt und zur 148 149 150 151

Sigrid Löffler: Im Schein der Versöhnung. Die Zeit, 16.12.1998 (in: ebd., S. 486). Wolfram Schütte: Der Fleck auf seinem Rock. FR, 15.12.1998 (in: ebd., S. 473). »Die Haare sind mehr geworden«. KONKRET-Gespräch. Konkret 2/1999, 12–15; hier: S. 12. Werner A. Perger: »Wir Unbefangenen«. Die Zeit, 12.11.1998.

68 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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SS-Panzer-Division Frundsberg in Marsch gesetzt worden (vgl. Grass 2006, S. 82ff., 113, 126). Weil man sich aber nicht freiwillig zu einer Waffengattung melden durfte, sondern sich nur zwischen Wehrmacht und SS entscheiden konnte, dürfte Grass in Wirklichkeit »Kriegsfreiwilliger« der Waffen-SS gewesen sein, wie es in der Biografie von Michael Jürgs richtig dargestellt wurde. Dem Nobelpreisträger war die eigene Fassung von der Zwangsrekrutierung so wichtig, dass er vor Gericht ging und in einem Vergleich die Formulierung durchsetzen konnte, er sei als SS-Mann »eingezogen« worden.152 Das bußfertig vorgetragene »confiteor« – ich bekenne – war also auch nur die halbe Wahrheit. Aber in der sofort einsetzenden Debatte ging es nicht um solche historische Spitzfindigkeiten.

Ein Geständnis ohne Reue Die Empörung bei den Konservativen, die nicht vergessen konnten, dass sich der prominente Schriftsteller und bekennende Sozialdemokrat in der Ära Adenauer in den 1950er und frühen 1960er Jahren bei der »Jagd« auf Altnazis und deren Seilschaften hervorgetan hatte, später dann in den 1970er und 1980er Jahren aus Anlass der Ostverträge oder der gemeinsamen Ehrung von gefallenen Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS auf dem Soldatenfriedhof Bitburg als der schärfste Ankläger der CDU aufgetreten war, war groß. Joachim Fest warf ihm vor, sich mit Hinweis auf die eigene saubere Weste »sechzig Jahre lang ständig zum schlechten Gewissen der Nation« erhoben zu haben.153 Die Bundestagsabgeordneten der CDU, Wolfgang Börnsen und Philipp Mißfelder, forderten ihn aus diesen Gründen zur Rückgabe des Nobelpreises auf.154 Jetzt zeigte sich, dass der selbsternannte »Musterdemokrat« nichts anderes als einer von ihnen gewesen war: Er hatte sich in der Nazizeit wie Millionen andere verhalten und sich wie diese nach dem »Zusammenbruch« selbst neue Personalpapiere ausgestellt. Zahlreiche Freunde aus dem sozialdemokratischen Lager fühlten sich in ihrem Vertrauen getäuscht: Sie hatten Seite an Seite mit ihm gekämpft, ihn bei seinen Wahlkampf-Auftritten begeistert unterstützt und sich in ihm als aufrechte Demokraten wiedererkannt und repräsentiert gesehen. Und jetzt 152 »Streit um Biografie. Günter Grass klagt gegen SS-Vorwurf«. Spiegel-Online, 23.11.2007. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/streit-um-biografie-guenter-grass-klagt-gegen-ssvorwurf-a-518926.html (Stand: 09.04.2014) und »Ehrung zu Lebzeiten. Danzig bekommt ein Grass-Museum«. Spiegel-Online, 11.02.2008. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/ehrung-zu-lebzeiten-danzig-bekommt-ein-grass-museum-a-534452.html (Stand: 09.04.2014). 153 Joachim Fest im Bild-Interview: 12/13.08.2006. 154 Wolfgang Börnsen, SZ, 14.08.2006; Philipp Mißfelder, Junge Union, Pressemitteilung 14.08.2006. 69 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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diese Enthüllung. Klaus Bölling, der ehemalige Regierungssprecher von Willy Brandt und Helmut Schmidt, fragte sich: »Warum hat ein so gescheiter Mann, der Praeceptor Germaniae, als der er sich selbst sieht, das nicht längst erzählt?«155 Und Harry Nutt, Redakteur der SPD-nahen Frankfurter Rundschau kommentierte enttäuscht: »Wie viel anders und wie viel aufgeklärter wären die verspannten geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahre verlaufen, wenn Grass sein Bekenntnis selbstkritisch in den Ring geworfen hätte? […] Die Auseinandersetzung um Schuld und Verstrickung, aber auch Schuldstolz und Entlastung hätte weniger fundamental und selbstgerecht geführt werden können«.156

Nur Parteisoldaten wie Egon Bahr und Klaus Staeck verteidigten Grass wegen seines literarischen Werkes und seiner politischen Leistungen.157 Unabhängige Beobachter kritisierten die Art seines Auftritts und dessen Motive: Jens Jessen fand den Gestus, der »mit dem Quälschrei des schlechten Gewissens den sofortigen Wunsch nach Trost und Vergebung« verbinde, lächerlich.158 Gustav Seibt kritisierte in der Süddeutschen Zeitung den inszenatorischen Aufwand, den Grass in der Öffentlichkeit betrieb, »als letzte[n] Versuch, den Makel moralisch abzufangen und die Eindeutigkeit zu retten«.159 Und der Soziologe Wolfgang Sofsky ging in der Welt soweit, dem Büßer jede wirkliche Reue abzusprechen: »Er senkt nicht das Haupt, sondern erhebt es selbstgewiss und voller Mitteilungsdrang. Was unbedingt aus dem Autor herauswollte, das war nicht das schamhaft Verschwiegene, sondern der erneute Nachweis, sich sittlich gebessert zu haben«.160 Diese Beschreibungen einer Inszenierung und eines Bewältigungstheaters statt der Konfrontation mit dem damals Geschehenen, wird durch das bestätigt, was Grass über SS und Krieg erzählte – Landser-Legenden. Dass die Debatte darauf nicht einging und nachfragte, zeigte, dass die Wirkung der Wehrmachtsausstellung den Entlastungsdiskurs nur kurz unterbrochen hatte. Und das war der eigentliche Skandal. Was hat Grass über das Dreivierteljahr, das er in einer von Himmlers Eliteeinheiten verbracht hatte, 60 Jahre später berichtet? Aus der Zeit seiner Ausbildung zum Panzerschützen blieben ihm nur Stumpfsinn, Drill und Gähnen beim weltanschaulichen Unterricht über »Lebensraum«, »Blut und Boden« in Erinnerung (Grass 2006, S. 131). Kein Wort will er damals über die Verbrechen seiner oder anderer Waffen-SS-Verbände an den europäischen Fronten gehört haben (ebd., S. 127), dafür aber Berichte über »Vergewaltigungen 155 156 157 158 159 160

Klaus Bölling, Tagesspiegel, 12./13.08.2006. Harry Nutt, FR, 14.08.2006. Egon Bahr und Klaus Staeck, FR, 16.08.2006. Jens Jessen, Zeit-Online, 16.08.2016. Gustav Seibt, SZ, 14.08.2006. Wolfgang Sofsky, Die Welt, 22.08.2006.

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und Mord […] an deutschen Frauen« durch die Russen (ebd., S. 133). Ausgebildet und vereidigt, wurde der SS-Schütze Grass ab März 1945 in den Endkämpfen gegen die Rote Armee zuerst an der Oder-Front, dann in der Lausitz zwischen Cottbus und Spremberg eingesetzt. Aber kurz vor dem Einsatz »reißt der Film«: »So oft ich ihn flicke und wieder anlaufen lasse, bietet er Bildsalat« (ebd., S. 138). Dem Zeitzeugen blieben daher nur in Bezug auf seine Einheit diffuse Bilder einer »eher imaginären Division Jörg von Frundsberg« (ebd., S. 135), von unbekannten »Marschkompanien« (ebd., S. 136f.) und von einem »zusammengewürfelten Haufen« (ebd., S. 140f.). Umso genauer erinnerte er sich daran, dass seine Ausbilder ihm nie beigebracht hätten, ein MG oder eine MPi zu bedienen und er daher während der verworrenen Vor- und Rückzüge »keinen einzigen Schuß abgegeben« habe (ebd., S. 164). Das klingt so, als wenn Grass beim Zivildienst gewesen wäre und nicht bei einer Mordformation, die ihre Rekruten zu Tötungsmaschinen ausgebildet und bis zuletzt beim Kampf um den Endsieg eingesetzt hatte. Und Rassismus habe er nicht bei der Waffen-SS, sondern erstmals im Kriegsgefangenen-Camp der US-Army erlebt – als Diskriminierung der schwarzen GIs durch die Weißen (ebd., S. 192, 220, 222). Von dem Bild eines »Ordens«, Hitlers »politischen Soldaten« (Wegner 1996) und der, nach eigenem Selbstverständnis Elitetruppe aus den »rassisch besten Deutschen«,161 wie es die Historiker rekonstruiert hatten, war nichts übriggeblieben. Das war eine offene Rehabilitierung der im Vergleich zur »sauberen Wehrmacht« in der deutschen Öffentlichkeit bis in die 1990er Jahre als »verbrecherische Organisation« geltenden Waffen-SS. »Wenn Grass dabei war und sich die Hände nicht schmutzig gemacht hatte«, schrieb Henryk M. Broder im Spiegel, »können die Jungs so schlimm nicht gewesen sein, eine kämpfende Truppe eben, mit einem etwas abgehobenen Bewußtsein, der Rohstoff, aus dem Romane geformt werden«.162 Ebenso skandalös wie diese verlogenen Landser-Geschichten waren die Reaktionen bei seinen Veranstaltungen und Lesungen: Das Publikum jubelte ihm zu und erteilte dem alles anders als bußfertig Auftretenden demonstrative Absolution. Grass, der seit der Blechtrommel bei den Älteren unter Pornografie-Verdacht stehende Literat, der politische Provokateur, der fanatische Sozi hatte also doch noch zur Volksgemeinschaft zurückgefunden und sich als ganz normaler Deutscher erwiesen: »Hitler war’s!« und »Opa war kein Nazi!«. 161 So Theodor Eicke, der Gründer der »Totenkopfverbände«, einer der Vororganisationen der Waffen-SS, in einem Brief an Himmler vom August 1936 (zit. bei Cüppers 2005, S. 99). Hier auch Belege für die bis zum Ende des Krieges bei der Waffen-SS in der Schulung vermittelten Feindbilder vom »verhängnisvollen Wirken der Juden« und einer »völlig realitätsfernen Endsiegmentalität« (ebd., S. 106f.). 162 Henryk M. Broder: Günter Grass: Der Herr der Binse. Spiegel-Online 16.08.2006. URL: http:// www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/guenter-grass-der-herr-der-binse-a-431695.html (Stand: 24.10.2013). 71 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Abrechnung Zum festen Bestandteil der Selbst-Reinigung der Nazi-Generation nach 1945 gehörte die Verteufelung der Russen. Grass übernahm auch das. Aus Anlass des Erscheinens der hebräischen Ausgabe seiner Autobiografie zog er Ende August 2011 in einem Interview mit dem israelischen Historiker Tom Segev die folgende Bilanz: »Aber der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangen genommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. Es gab 14 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, das halbe Land ging direkt von der Nazityrannei in die kommunistische Tyrannei. Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen«.163

Und dann zog er die Bilanz, auf die es ihm ankam: »Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern«. Die meisten dieser Angaben sind falsch. Im Einzelnen: Statt acht Millionen gerieten drei Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Gefangenschaft, statt der behaupteten sechs starben (nur) eine Million Gefangener und das nicht durch »Liquidation«, sondern aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen in der durch die Verheerungen des deutschen Überfalls und des folgenden Besatzungsterrors fast zerstörten und ausgebluteten Sowjetunion.164 Die zweite Opfergruppe, die Grass in dem Interview erwähnte, waren die, anders als der Dichter behauptete, nicht 14 Millionen, sondern 12 Millionen Menschen zählenden »Flüchtlinge«. Dazu gehörten die in der Endphase des Krieges vor der anrückenden Roten Armee Geflüchteten ebenso wie die aufgrund der alliierten Vereinbarungen auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 aus Polen und der Tschechoslowakei Ausgesiedelten. Statt der von den Vertriebenenverbänden bis heute behaupteten zwei Millionen hatten etwa 400.000 Deutsche bei dieser gigantischen Völkerverschiebung ihr Leben verloren (vgl. E. Hahn/H.H. Hahn 2010, S. 676). Die meisten dieser leidgeprüften Menschen, die die Rechnung für die Taten der gesamten »Volksgemeinschaft« zahlen mussten, konnten sich retten und wurden vollkommen in die beiden 163 Grass zit. nach Stefan Kuzmany: »Wirbel um Holocaust-Aussagen. Israelischer Historiker verteidigt Günter Grass«. Spiegel-Online, 03.09.2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/wirbel-um-holocaust-aussagen-israelischer-historiker-verteidigt-guentergrass-a-784170.html (Stand: 24.10.2013). Engl. Originaltext: Tom Segev: The German who needed a fig leaf. Haaretz.com, 26.08.2011. URL: http://www.haaretz.com/weekend/magazine/the-german-who-needed-a-fig-leaf-1.380883 (Stand: 24.10.2013). 164 Peter Jahn: Wie Günter Grass den Weltkrieg verrechnet. SZ, 01.09.2011. 72 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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deutschen Nachkriegsgesellschaften integriert. Diesen Hinweis unterließ Grass. Dazu rechnete er als Opfer die 16 Millionen Deutschen, die sofort nach dem Krieg der »kommunistischen Tyrannei« in der sowjetisch besetzten Zone ausgeliefert worden seien. Dass viele jüdische und aus politischen Gründen vertriebene Emigranten wie Arnold Zweig, Stefan Heym, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Johannes R. Becher, Ludwig Renn, Jürgen Kuczinsky, aber auch Bürger aus Westdeutschland wie Wolf Biermann, Stephan Hermlin, Hans Mayer, Günther de Bruyn, Ernst Busch, Robert Havemann oder Lothar Bisky in der SBZ bzw. der DDR zunächst das bessere Deutschland erblickten und freiwillig dorthin gingen – auch das verschwieg Grass. Dass einige diesen Schritt später bereuten, ist hinlänglich bekannt. Das Ziel, das er mit diesen Fälschungen und Halbwahrheiten verfolgte, war klar – er wollte Schuld gegeneinander aufrechnen. Die Zahl von angeblich sechs Millionen »liquidierten« deutschen Gefangener brauchte er als »Gegenwert« für den deutschen Völkermord an den ermordeten europäischen Juden. Die übrigen 30 Millionen Deutschen, die für ihn weniger Opfer des von Nazideutschland angezettelten Krieges als vielmehr des stalinistischen Terrors in Form von Flucht und Vertreibung bzw. der Zwangseinweisung in den Kerker DDR geworden waren, verrechnete er gegen die 27 Millionen Menschen, die in der Sowjetunion durch die Verbrechen von Wehrmacht, Polizei und SS im Vernichtungskrieg ihr Leben verloren hatten. Unterm Strich kam Günter Grass zu dem beabsichtigten Ergebnis: »Wir sind quitt«. Die Reaktionen auf diese unheimlichen Rechenmanöver waren verblüffend unaufgeregt. Peter Jahn, ein deutscher Osteuropa-Historiker, der die Fälschung der Zahlen der in sowjetische Gefangenschaft gekommenen und dort ermordeten deutschen Soldaten aufgedeckt hatte, bekam von keinem seiner berühmteren Historiker-Kollegen Unterstützung. In der Süddeutschen Zeitung, die den Beitrag Jahns abgedruckt hatte, erklärte Franziska Augstein in der gleichen Ausgabe begütigend, Grass habe sich »vergaloppiert« und »undiplomatisch« verhalten, er rede eben »gern und viel« und zeige im Übrigen die typischen Reaktionen eines 84-Jährigen: »Im Alter werden den Menschen ihre Kindheit und Jugend wieder ganz präsent«.165 Das heißt doch im Klartext: Sie kehren wieder zu den rassistischen Feindbildern der Nazi-Propaganda zurück. Der Spiegel hielt die Äußerungen von Grass zwar für »erklärungsbedürftig«, monierte aber zugleich, dass der israelische Interviewer und Historiker »die Ungenauigkeit« seines deutschen Gesprächspartners habe durchgehen lassen.166 Also: selber schuld. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung wollte in dem ganzen nur einen »Schlagabtausch« sehen, bei dem die »Aufrechnung des einen Kollektivleids gegen das andere« 165 Franziska Augstein: Undiplomatisch in die Historikerfalle. SZ, 01.09.2011. 166 Stefan Kuzmany: »Wirbel um Holocaust-Aussagen. Israelischer Historiker verteidigt Günter Grass«. Spiegel-Online, 03.09.2011. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/wirbel-um-holocaustaussagen-israelischer-historiker-verteidigt-guenter-grass-a-784170.html (Stand: 24.10.2011). 73 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sich entladen habe.167 So als ob es keinen Unterschied gäbe zwischen dem Faktum des deutschen Völkermords an den Juden und dem Tod einer Million deutscher Kriegsgefangener. Der einzig zutreffende Begriff für das von Grass mit dem Anspruch des Experten gelieferte Bild einer einzigen deutschen Passion kam in keinem dieser Kommentare vor – die Verfälschung der deutschen Geschichte unter der Flagge des Revisionismus. Auch seine eigenartige Konstruktion, dass für die Verbrechen »die Nazis« verantwortlich gewesen seien und dann »die Deutschen« die Zechen hätten bezahlen müssen und zu »Opfern« geworden seien, wurde in keinem Kommentar thematisiert und kritisiert. Dabei war diese Erzählweise das Hausmittel zur SelbstEntnazifizierung von Millionen Deutschen, von Nazis wie Mitläufern und Profiteuren. Grass hatte sich davon fünf Jahre vorher noch vehement distanziert: »Es wurde [nach dem Krieg] so getan, als wäre das arme deutsche Volk von einer Horde schwarzer Gesellen verführt worden. Und das stimmte nicht. Ich habe als Kind miterlebt, wie alles am hellen Tage passierte. Und zwar mit Begeisterung und mit Zuspruch«.168

Ein halbes Jahr später, am 4. April 2012, wurde Grass erneut auffällig: Er veröffentlichte in der spanischen Zeitung El País, in der italienischen La Repubblica und in der Süddeutschen Zeitung ein Gedicht unter dem Titel »Was gesagt werden muss«. Die New York Times hatte den Abdruck abgelehnt.169 Das aus neun Strophen bestehende Poem protestierte gegen die aktuelle israelische Politik. Er warf der Atommacht Israel vor, sie gefährde mit dem schon vorbereiteten, jeder internationalen Kontrolle entzogenen und für rechtens erklärten atomaren »Erstschlag« den Weltfrieden. Die Bundesregierung unterstütze mit der Entsendung eines U-Bootes mit Atom-Sprengköpfen diesen Kriegskurs, der das iranische Volk »auslöschen« könne. Nachdem er sich zu lange dem offiziellen Zwang zu schweigen unterworfen habe, wolle er jetzt das Netz aus »Lüge« und »Heuchelei« zerreißen, selbst auf die Gefahr hin, dass er als Antisemit beschimpft werde.170 An dieser politischen Stellungnahme war mit Ausnahme der bekannten Tatsache einer wachsenden Kriegsgefahr im Nahen Osten alles falsch: Nicht Israel, sondern die iranische Regierung droht seit Langem, Israel als »Krebsgeschwür« aus der Region zu entfernen, nicht nur Israel schweigt über sein Nuklearpotenzial, auch der Iran verweigert jede internationale Aufsicht über sein Atomprogramm, ein möglicher Angriff Israels zielt auf diese atomaren Anlagen und nicht auf das iranische Volk, und das angeblich versprochene deutsche U-Boot kann bestenfalls zur Abschreckung dienen, nicht aber einen Luftangriff unterstützen. 167 FAZ, 05.09.2011. 168 Frank Schirrmacher & Hubert Spiegel: »Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche«. Günter Grass im Interview. FAZ, 12.8.2006. 169 FAZ, 05.04.2012. 170 SZ, 04.04.2012. 74 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Und Mahmud Ahmadinedschad, der sein Land atomar aufrüstete und die rebellierende iranische Jugend auf den Straßen Teherans zusammenschießen ließ – nur ein »Maulheld«? Statt, wie das Gedicht versprach, endlich mit der Wahrheit herauszukommen, arbeitete Grass mit Auslassungen und Lügen, die offensichtlich nur das Ziel verfolgten, mit Israel den Alleinschuldigen für einen Völkermord und die Gefährdung des Weltfriedens zu präsentieren. Dieser Erfindung eines neuen Schurken-Staates im Nahen Osten entsprach die Konstruktion eines angeblichen Schweige-Diktates in der westlichen Welt. Jedes Aufbegehren gegen diese Zensur würde, so Grass, mit dem Bannspruch des Antisemitismus bestraft. Aber in diesem politischen Leitartikel in Gedichtform steckte ein zweiter, geheimer Text, der an Bösartigkeit Walsers Tabubruch in der Paulskirche bei weitem übertraf. Grass unterstellte mit seiner Wortwahl von der »Auslöschung« des iranischen Volkes, dass Israel eine Wiederholung des Holocaust plane. »Gealtert und mit letzter Tinte« präsentierte er die Juden als neue Nazis! Für sich selbst und sein Volk postulierte er den Status des Opfers – die Deutschen als neue Juden! Schon in der ersten Strophe seines Poems hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass »wir« nach dem israelischen Atombombenabwurf »als Überlebende […] allenfalls Fußnoten sind«. Um diesen Rollenwechsel von den Deutschen als Tätervolk zum Opferkollektiv zu unterstreichen, verzichtete der sonst so sprachmächtige Dichter sogar auf die eigenen Worte und entlieh sich letzere Formulierung von Charlotte Knobloch, einer prominenten deutschen Holocaust-Überlebenden.171 Aber Grass beließ es nicht dabei: Nachdem er in falscher Bußfertigkeit die Singularität seiner Lage wieder und wieder aufgerufen hatte – er komme aus einem Land »das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird«, er sei als Deutscher »von nie zu tilgendem Makel behaftet« und »belastet genug« – fiel es ihm leicht, sich als Geisel darzustellen, die wegen ihrer »Herkunft« am Pranger stehe und zum Schweigen verurteilt worden sei. Nicht von der Schuld an den Massenverbrechen des Holocaust und des Vernichtungskriegs, nicht von der Nazigeneration als Täterkollektiv, nicht vom Sonderweg der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert war in dieser Bußübung die Rede, sondern von dem quasi biologischen Brandmal, deutsch zu sein und entsprechend behandelt zu werden, so, wie die Juden seit Mitte des 19. Jahrhunderts nur durch ihre »Rasse« definiert und deshalb verfolgt worden waren. Grass hatte Walser wegen dessen in der Friedenspreisrede vertretenen Behauptung, die Deutschen seien jetzt »ein normales Volk« geworden, heftig angegriffen und schon den 171 Charlotte Knobloch, die damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden, hatte am 9. November 2008 in der offiziellen Berliner Gedenkfeier zum 70.  Jahrestag der Reichspogromnacht in Anwesenheit der Bundeskanzlerin davor gewarnt, dass die Opfer des Holocaust »zu einer Fußnote der Geschichte degradiert« würden (Spiegel-Online, 09.11.2008: Zentralrat der Juden: Präsidentin fürchtet um ihr Leben. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/zentralrat-der-juden-praesidentin-fuerchtet-um-ihr-leben-a-589318.html (Stand: 24.10.2013). 75 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Begriff der Normalität abgelehnt: Diese nach 1933 vom gesunden Volksempfinden legitimierte Normalität sei doch »die Brutstätte« für die dann ausbrechende Bestialität gewesen (Braun 2000, S. 105). Jetzt widerrief er seinen damaligen Einspruch: Er protestierte mit aller Schärfe gegen die aus quasi rassistischen Gründen verhängte und offensichtlich nie mehr aufzuhebende Stigmatisierung und schloss sich Walsers »Wunschvorstellung nach Normalität« an (ebd., S. 105). Das Gedicht erregte größtes Aufsehen, erst recht wegen des von der israelischen Regierung sofort erlassenen Einreiseverbots für Grass, und ließ, wie unter dem Einfluss eines Magneten, die Lager der Gegner und Befürworter gravitieren: Die Parteien CDU/CSU, FDP, SPD und DIE GRÜNEN wiesen die einseitige Schuldzuweisung an Israel zurück und warfen Grass Populismus vor.172 Dagegen lobten DIE LINKE, Sprecher der Friedensbewegung, der Präsident des deutschen PEN-Zentrums, Johanno Strasser, und der Herausgeber des Freitag, Jakob Augstein, den Pazifisten Grass, weil der mit seinem »Aufschrei« ein längst »überfälliges Gespräch« ausgelöst habe.173 Andere, wie der Vizepräsident des deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, und der Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck, applaudierten, weil der Dichter die Aufgabe des kritischen Intellektuellen erfüllt habe, unausgesprochene Ängste zu artikulieren und, statt zu kuschen und stillzuhalten, sich bei gesellschaftlich relevanten Fragen einzumischen«.174 Mit ähnlichen Worten, aber in anderer Absicht, solidarisierte sich auch Jürgen Gansel, NPD-Abgeordneter im sächsischen Landtag, mit dem prominenten Linken: Grass komme »das Verdienst eines befreienden Tabubruchs« zu, er habe »eine mächtige Schneise« für Kritik am »jüdischen Aggressionsstaat« geschlagen.175 In der Süddeutschen Zeitung, die das Gedicht abgedruckt hatte, nahm deren Literaturchef, Thomas Steinfeld, den Dichter fast entschuldigend gegen die geäußerte Kritik in Schutz: Bei Grass sei »dichten und meinen«, die Literatur und der Auftritt des Literaten, derart verschmolzen, dass dessen Werk nur in dieser Symbiose zu haben und zu bewerten sei. Dann, unter Aufhebung aller künstlerischen wie moralischen Kriterien, erfolgte die endgültige Ehrenrettung mit dem Appell, dass bei aller Kritik an dieser für Irrtümer anfälligen Legierung dieser Dichter als Denkmal eines halben Jahrhunderts deutscher Geschichte unverzichtbar sei.176 In all diesen Kommentaren fand der »zweite«, subkutane Text, in dem Grass 172 Hermann Gröhe und Ruprecht Pohlenz (CDU), Orf.at, 04.04.2012; Andrea Nahles und Rolf Mützenich (SPD), Cem Özdemir und Volker Beck (DIE GRÜNEN), FR-Online, 04.04.2012; Rainer Stinner (FDP), SZ, 09.04.2012. 173 Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE), Pressemitteilung der Bundestagsfraktion, abgerufen am 06.04.2012; Andreas Buro (Ostermarsch), Stern-Online, 07.04.2012 und ARD, TagesschauOnline, 07.04.2012; Johanno Strasser, NDR und Spiegel-Online, 04.04.2012; Jakob Augstein, Spiegel-Online, 06.04.2012. 174 Wolfgang Thierse, Deutschlandfunk 10.04.2012; Klaus Staeck, Spiegel-Online, 05.04.2012. 175 Bild.de, 07.04.2012. 176 SZ, 05./06.04.2012. 76 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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für das ehemalige Tätervolk der Deutschen heute den Status des Holocaust-Opfers verlangte, ebenso wenig Erwähnung wie die Frage, welche Rolle seine eigene Geschichte und die seiner Generation bei der Entstehung des Poems gespielt hat. Es war das Verdienst von Frank Schirrmacher, des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Gedicht im Gedicht sofort erkannt und auf dessen zentrale politische Bedeutung als »eine ziemlich bestürzende Umkehrung westdeutscher Nachkriegsdiskurse« hingewiesen zu haben. Er nannte den Text »ein Dokument der ›imaginären Rache‹ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation«. Und als Versuch eines 85-jährigen Mannes, »seinen Frieden mit der eigenen Biographie [zu] machen«.177 Nur wenige Kommentatoren teilten diese Diagnose: Malte Lehming nannte Grass im Tagesspiegel einen »Antisemiten«, der auf die Seite der »schweigenden Mehrheit« übergelaufen sei und sich »dem Pöbel anbiedere, indem er dessen Gier nach historischer Entlastung bediene«. Sein Gedicht müsse statt als »ein Ausrutscher, eine Verirrung, eine Alterssenilität« möglicherweise als »der Schlüssel zu seinem Werk« angesehen werden.178 Auch Uwe Vorkötter platzierte ihn in der Frankfurter Rundschau unter »die Rechten, Nationalen, verdrucksten Spießer, die aggressiven Glatzen«, jene »Tabubrecher«, die mit dem harmlosen Eingangssatz »man wird das doch mal sagen dürfen« auf etwas ganz anderes hinaus wollten.179 Und der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb erinnerte in der Rheinischen Post daran, dass das umstrittene Poem kein Einzelfall sei: Der Dichter habe immer wieder »eine aggressiv belehrende Rechthaberei in jüdischen Angelegenheiten« an den Tag gelegt und die Attacke sei bei ihm generell eine Form der Verdrängung.180 »Grass hatte schon immer ein Problem mit Juden«, resümierte Henryk M. Broder lapidar die Gründe für das Entstehen des Gedichtes und nannte den Nobelpreisträger den »Prototyp des gebildeten Antisemiten«.181 Ähnlich urteilte Mathias Döpfner, der Vorsitzende der Axel Springer AG, in der Bildzeitung: Grass versuche, »die Schuld der Deutschen zu relativieren« und verbreite »im raunenden Ton des Moralisten […] korrekten Antisemitismus«.182

177 Frank Schirrmacher: Was Grass uns sagen will. Eine Erläuterung. FAZ, 04.04.2012. 178 Malte Lehming: Neues Grass-Gedicht. Günter Grass: Die Atommacht Israel gefährdet den Weltfrieden. Tagesspiegel-Online, 04.04.2012: URL: http://www.tagesspiegel.de/politik/neuesgrass-gedicht-guenter-grass-die-atommacht-israel-gefaehrdet-den-weltfrieden/6473678. html (Stand: 24.10.2013). 179 Uwe Vorkötter: Günter Grass – Dichter und Maulheld. FR, 04.04.2012. 180 Lothar Schröder: Günter Grass. Die Attacke als Verdrängung. Debatte um israelkritisches Gedicht. Rheinische Post Online, 11.04.2012. 181 Henryk M. Broder: Günter Grass, der ewige Antisemit. Die Welt, 04.04.12. Gegen diesen Vorwurf sprachen sich u. a. Avi Primor, Marcel Reich-Ranicki, Wolf Biermann, Moshe Zuckermann und Fritz Stern aus. 182 Bild, 05.04.2012. 77 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Das Unheimliche Man könnte Skandale nach Sigmund Freud als »Fehlleistungen« interpretieren, die »Kompromißergebnisse« sind, insofern sie sich aus dem Konflikt »zwischen zwei unvereinbaren Strebungen« ergeben – einer bewussten und einer, von der der Akteur »selbst nichts weiß« (Freud 1969, S. 86, 82, 84). In solchen halbgelungenen, halb misslungenen Handlungen komme, so hat es Christian Schneider formuliert, »ein unbewusster Wunsch zum Ausdruck, der sich im Rahmen der geltenden Normen nicht artikulieren darf« (Schneider 2010, S. 158). Fehlleistungen dieser Art würden »entweder eine Unangepasstheit an die herrschende Realität verraten oder, […], ein Verfehlen der Realität anzeigen« (ebd.). Diese Diagnose trifft auf alle die kleinen Skandale zu, an die wir eingangs erinnert haben: Deren Verursacher hantierten mit Bildern und Begriffen, die etwas Verboten-Faszinierendes an sich hatten, größte Aufmerksamkeit und Wirkung ahnen ließen und daher mit Macht nach außen drängten. Aber die provozierenden Äußerungen stießen, weil sie nicht der Realität der deutschen Erinnerungspolitik und deren Sprachregeln entsprachen, auf geballte Ablehnung: Nach der Verurteilung und Bestrafung, die den herrschenden Diskurs bestätigte, verebbte die Aufregung sofort und die Störenfriede wurden in den meisten Fällen vergessen. Nach einem gänzlich anderen Muster verliefen die Skandale, die mit den Namen von Ernst Nolte, Andreas Hillgruber, Philipp Jenninger, Martin Walser und Günter Grass verbunden waren oder als »die Wehrmachtsausstellung« Furore machten. Diese Ereignisse lassen sich nicht mit dem Freud’schen Begriff der »Fehlleistung« interpretieren. Hier hat sich nämlich nicht das »Unbewusste«, das Verdrängte artikuliert, sondern hier kam das aus der eigenen, privaten wie aus der deutschen Geschichte der Jahre 1918 bis 1945 »Verleugnete«, Abgespaltene zu Wort. Es waren geplante und bewusste Aktionen, die in der Absicht erfolgten, gegen ein herrschendes Geschichtsbild und dessen Sprachregelungen Front zu machen und beides zu verändern oder eine neue, kritische Aneignung der Geschichte zu verhindern. Ein Skandal wurde daraus, wenn solche Vorstöße von großen Teilen der Gesellschaft oder, in deren Vertretung: von Experten als grobe Regelverstöße angesehen und mit öffentlichem Protest beantwortet wurden (vgl. Käsler 1989; vgl. auch Hitzler 1989). Peter Sloterdijk hat diese Form von gesellschaftlichem Tribunal näher zu bestimmen versucht. Der Skandal ist für ihn »eine Volksabstimmung der Gefühle über Empörungsgegenstände, die in sinnlicher und sittlicher Evidenz für alle gegeben sind, ohne daß ein Vermittlungsproblem dazwischenträte«. Ist die Konfliktlage evident, entsteht eine spontane Erhebung, für die eine komplexe Argumentation zunächst nicht nötig, ja sogar störend ist. Jeder Skandal beginne »als eine moralisch-mediale Demonstration für die Normalität und als Protest gegen deren Verletzung. Mit seinem Anspruch auf natürliche Mitempörung verpflichtet er seine Teilnehmer zur Naivität«. Sloterdijk rechnet zu 78 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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diesen strukturellen Elementen des Skandals zwei dynamische hinzu, die seine Verlaufskurve bestimmen: damit meint er zum einen die Prominenz der Akteure – »die Fallhöhe der Demontage« sei die unerlässliche Bedingung für das Ingangkommen des Prozesses – zum anderen sorge die Verwandlung des Moralischen in die Gestalt einer leichtverderblichen und daher möglichst rasch zu verkaufenden »Empörungsware und Faszinationsware« dafür, dass sich der Vorgang rasant beschleunige.183 Solche Vorgänge, die manchmal tumultartig und dann fast ohne Beweiserhebung verlaufen können oder aber einen Wissenschaft, Politik und Medien erfassenden Prozess der Reflexion auslösen, enden immer mit einer Verurteilung. In Skandalen überprüft eine Gesellschaft die Gültigkeit ihrer moralischen und politischen Normen. Das kann zur Bestätigung dieser Normen und einem neu bekräftigten Konsens führen oder aber die Öffnung zu veränderten Haltungen und entsprechend anderen Grenzziehungen ermöglichen. Im letzteren Fall wirken Skandale als vorlaute Boten des Neuen.

Der Historikerstreit Man kann die Bedeutung dieser Auseinandersetzung nur verstehen, wenn man sich die politische Lage und das intellektuelle Klima Mitte der 80er Jahre noch einmal in Erinnerung ruft.184 Der Regierungsantritt von Helmut Kohl 1982 sollte nach den Vorstellungen der Konservativen aller Couleur eine geschichtspolitische Wende einleiten – weg von dem Schuldeingeständnis, das Willy Brandts Kniefall im Dezember 1972 am Denkmal des Warschauer Ghettoaufstands bekundet hatte, hin zu einem, wie Kohl es ausdrückte, »unbefangenen Umgang« mit der Nazizeit (zit. nach Maier 1992, S. 57). Dazu war es nötig, dem Holocaust den Charakter der Einzigartigkeit zu nehmen und ihn auf diese Weise mit anderen Katastrophen der Weltgeschichte vergleichbar zu machen. Ernst Nolte bot sich an, diesen Beweisgang zu führen, indem er ihn der Genealogie einer linken Geschichte zuwies – der Französischen Revolution, die den politischen Massenmord als Reinigungsmittel legitimiert hatte und damit eine Tradition von Gewalt etablierte, die in der bolschewistischen Revolution und in der Ausrottung von großen Teilen der russischen Bourgeoisie, also im »Klassenmord« kulminierte. Der ab 1941 einsetzende »Rassenmord« an den europäischen Juden sei diesem Beispiel gefolgt und sei eine aus Angst vor einer Wiederholung dieser Mordtat am deutschen Volk entstandene präventive Reaktion gewesen. Mit dieser von Nolte vorgenommenen Umschreibung der Vorgeschichte des Holocaust war zugleich erreicht, dass dieser nicht mehr aus der deutschen Geschichte abzuleiten war: Also 183 Peter Sloterdijk: Die Grauen an die Macht. Notizen aus der Affären-Zeit. SZ, 04./05.03.2000, 18. 184 Zum politischen Klima und zur neuen Geschichtspolitik vgl. Senfft 1989 und Seuthe 2001. 79 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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aus der in der politischen Romantik begründeten und in den »Befreiungskriegen« gegen Napoleon manifest gewordenen völkisch-antisemitischen Mobilisierung, dem Kultur-Rassismus Richard Wagners oder dem Wirken der Antisemiten-Parteien und der Denkfabrik des Alldeutschen Verbandes im Kaiserreich. Zu dieser Eliminierung des Holocaust als Spezifikum der deutschen Nationalgeschichte passte vorzüglich dessen Abspaltung aus der Politik des Dritten Reiches und dessen Institutionen. Das zu beweisen, war der Beitrag Andreas Hillgrubers beim Umschreiben der deutschen Geschichte ab 1933. Keine Reichsbehörden seien verantwortlich gewesen, sondern Hitler persönlich – als »Führer«, nicht als Reichskanzler, habe er den Mordbefehl gegeben, der von Himmlers SS-Prätorianern dann vollzogen worden sei. Mit dieser Konstruktion war auch die Wehrmacht als zuständiges Exekutivorgan für den Krieg, in dessen Schutz ab Herbst 1941 das Massenmordprogramm begonnen worden war, von jeder Mitverantwortung entlastet. Damit war gleichzeitig die Möglichkeit einer getrennten Erinnerung etabliert – die an die Opfer des Krieges, die Sache der Deutschen war, und die an die Opfer des Holocaust, um die sich die Juden kümmerten. So war das Joch der Schuld abgeworfen und der Schatten der Schande gewichen. Auch hinsichtlich der Rolle der SS war damit eine neue Übersichtlichkeit geschaffen: Die »allgemeine SS« gehörte zum Schattenreich der Partei, die Waffen-SS war kämpfende Truppe unter dem Oberbefehl der Wehrmacht gewesen. Kohls Besuch mit dem US-Präsidenten Reagan auf dem Soldatenfriedhof Bitburg, auf dem außer Soldaten der Wehrmacht auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind, war ein Ausdruck dieser Lagebereinigung, die eine Befreiung von den »Verführungen einer kollektiven Schuldbesessenheit«, also endlich Normalität versprach.185 Noltes Ansichten waren schon in Zeitungsartikeln und Vorträgen vorher verbreitet worden und auch Hillgrubers Publikation war aus einer Zusammenfügung von zwei 1984/85 gehaltenen Referaten entstanden. Ihre Brisanz erhielten diese Thesen durch die erklärte politische Absicht des Bundeskanzlers Kohl, mit Hilfe von konservativen Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und konservativen Historikern wie Michael Stürmer und Klaus Hildebrand, diese »Normalität« herzustellen. Aber das Gedenken auch vor den runengeschmückten Gräbern blieb, wie andere Projekte der intendierten geschichtspolitischen »Wende«, ein Pyrrhussieg: Die Interventionen Noltes, Hillgrubers und deren publizistischen Sekundanten, so bilanzierte der amerikanische Historiker Charles S. Maier die Debatte, hätte zwar »einer Argumentation einen offiziellen Anstrich gegeben, die bisher nur in rechtsradikalen Kreisen kur185 Günther Gillessen hatte in der FAZ vom 14.05.1986 unter dem Titel »Franz Oppenheimer, Vorsicht vor falschen Schlüssen aus der deutschen Vergangenheit. Die Verführungen einer kollektiven Schuldbesessenheit?« einen Artikel des jüdischen Washingtoner Rechtsanwalts Franz Oppenheimer, der sich damit gegen die Skandalisierung des Bitburg-Besuchs in den amerikanischen Medien wandte, abgedruckt. Der Redakteur der FAZ hatte dem einen positiven Kommentar hinzugefügt. 80 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sierte«, aber ihr Versuch, eine der Aufklärung verpflichtete, »linke Interpretation« der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verhindern, sei gescheitert (Maier 1992, S. 72, 43). Auch Hans-Ulrich Wehler, damals der einflussreichste deutsche Historiker, sprach von einem »Sieg der kritischen Vernunft und Sachkunde« über die Zumutungen eines »neuen Revisionismus« (Wehler 1988, S. 197f.). Das ist die Schlachtbeschreibung zweier Sieger. Ihre Bilanz ist zutreffend, aber verkürzt, weil sie die Ursachen wie die Dynamik der Kontroverse ausblendet. Revisionistische Thesen wie die von Nolte, Hillgruber und Fest profitierten bezüglich des Massenmordes an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland von einem wissenschaftlichen Defizit, das nicht größer hätte sein können. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert hat die Lage der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren mit den Begriffen der »Marginalisierung« und der »Konkretionsvermeidung« zutreffend beschrieben (Herbert 2003, S. 99, 101). »Marginalisierung« meint den Tatbestand, dass in den wichtigen deutschsprachigen Gesamtdarstellungen dieser Jahre der Holocaust »nur konstatiert, nicht untersucht« wurde (ebd., S. 99). Das gilt für Karl Dietrich Brachers 1969 erschienenes Standardwerk Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, wo nur 13 von 580 Seiten dem Judenmord gewidmet sind, ebenso wie für die wegweisenden ersten fünf Bände der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Reihe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (Bartov 1995, S. 610)186 oder die umfangreiche HitlerBiografie von Joachim Fest, die dem Holocaust gerade einmal drei Seiten einräumte und ihn dazu in die Zeit der militärischen Katastrophen nach Stalingrad platzierte (Heer 2005a, S. 40f.). »Konkretionsvermeidung« ist für Herbert das Markenzeichen des methodischen Vorgehens der damals tonangebenden Historikergruppe um Martin Broszat, Helmut Krausnick und Hans Mommsen: Während Hitler nur das Primat der Ideologie und die Rolle des auratischen Führers zugebilligt wurde, deutete man die Ingangsetzung und Durchführung des Holocaust als Ergebnis der Interaktion rivalisierender Systeme und sich radikalisierender Prozesse. Täter spielten in dieser »funktionalistischen« Optik keine Rolle und blieben daher weitgehend anonym. Auch die Opfer und deren Schicksale kamen nicht vor. Dazu passte, dass Auschwitz zum Synonym des »vermeintlich industriellen, anonymisierten Massenmordes« wurde – eine sich gegen jede Vernunft und Erfahrung verschließende Black Box (Herbert 2003, S. 101). Statt empirisch gesättigter Gesamtdarstellungen und konkreter Fallstudien über Vernichtungslager und Mordaktionen, Täter- und Opfergruppen, Abhängigkeiten von Politik und Kriegsverlauf, gab es den Holocaust nur, so Herbert, 186 Der amerikanische Historiker hatte das »fast völlige Fehlen jeder Erörterung des Holocaust« in den 1979, 1983, 1984, 1988 und 1990 erschienenen fünf Bänden, die ca. 5.000 Seiten umfassen, festgestellt und polemisch gefragt: »Wem gehört die Geschichte«, wenn die deutschen Militärhistoriker sie nicht haben wollen – »Historikern des Holocaust? Jüdischen Historikern? Nichtdeutschen Historikern?« (Bartov 1995, S. 610f.). 81 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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als »symbolischen Wertbezug« und »von jedermann einsetzbare Schablone«. Diese Situation habe »die Grundlage und den Ansatzpunkt für zahlreiche Varianten des Revisionismus« gebildet (ebd., S. 102). Das medienmächtige Zentrum dieser Bewegung war Joachim Fest. Sein Blick auf die Lager Deutschlands war geprägt durch die Niederlage von 1945: Für ihn waren die »herkömmlichen Konservativen« durch den Schock des Zusammenbruchs zu emotionalen »Heloten« geworden, die resigniert im Vergangenen hausten, sich bereitwillig der Verlogenheit der »rituell gewordenen Reuebekenntnisse« unterworfen hatten und damit auch noch ihrer »Würde« verlustig gegangen waren. Die linken »Gesellschaftsveränderer« dagegen, hätten sich, obwohl an den Verbrechen der Hitlerjahre gar nicht beteiligt, zu »Gewissensgeschädigten« erklärt und »Trauerarbeit« zu ihrem Hauptberuf gemacht. Durch diese »ethische Schlaumeierei« geschützt, würden sie mit einer »moralischen Großmäuligkeit« und einem »palavernden Antifaschismus« Deutschland auf den »Platz des obersten Weltbösewichts« zerren (zit. nach Heer 2005a, S. 44f.). Mit seiner 1973 erschienenen Hitler-Biografie versuchte er, der von würdelosem Kleinmut befallenen Nazigeneration den Rücken zu stärken und die moralische Heuchelei der Nachgeborenen in die Schranken zu weisen. Dadurch misslang die angekündigte und berechtigte Korrektur, eine »nur im Blick auf die Opfer« möglich und üblich gewordene Haltung »ironischer Geringschätzung« gegenüber Hitler durch eine Betrachtungsweise zu ersetzen, die den Nationalsozialismus nicht als Fremdkörper behandelte, sondern als eine aus dem Material der Epoche entstandene Bewegung, deren Massenbasis »Menschen« und »nicht Ungeheuer« gewesen seien (ebd., S. 45f.). Statt der Korrektur war ein Gegenbild entstanden: Hitler, so die Botschaft von Fests bahnbrechender Studie, war so groß, dass man sich als Deutscher seiner nicht mehr nur zu schämen brauchte. Zehn Jahre später, im Aufwind der von Bundeskanzler Kohl lautstark angekündigten geschichtspolitischen Wende, verfolgte Fest größere Ziele: Statt nur das Bild einer umstrittenen Person der Zeitgeschichte zu verändern, wollte er dazu beitragen, die gesamte deutsche Geschichte umzuschreiben. 1982 kündigte er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, deren Mitherausgeber und Feuilletonchef er inzwischen geworden war, ein im Verlag seines engen Freundes Wolf Jobst Siedler entstehendes mehrbändiges Geschichtswerk unter dem Titel Geschichte der Deutschen und ihrer Nation an: Dieses Projekt werde, weil es anstelle des »Schuldcharakters« den »Verhängnischarakter« der deutschen Geschichte in den Vordergrund rücke, zu einer »Standortverschiebung« in der Geschichtsschreibung führen.187 Angesichts des von Fest konstatierten Rückzugs der »herkömmlichen Konservativen« und der 187 Joachim Fest: Von der Unverlorenheit der deutschen Frage. FAZ, 28.09.1982; drei Autoren der ersten vier Bände – Michael Stürmer, Hagen Schulze und Horst Möller – unterstützten im »Historikerstreit« die Position von Nolte und Hillgruber. 82 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Hegemonie der linken »Gesellschaftsveränderer« musste die Durchsetzung dieses Perspektivenwechsels eine gewaltige Aufgabe sein. Entsprechend positionierte sich Fest, als die von ihm vorbereiteten bzw. unterstützten Angriffe Noltes und Hillgrubers zum Skandal und zum »Historikerstreit« führten (ebd., S. 67f.): Er hat seinen Auftritt in dieser Kontroverse als verzweifelte Gegenwehr gegen das Äußerste – einen jede Frage- und Redefreiheit ausschließenden »Konformismus« – inszeniert. Spätestens seit dem Ende der 60er Jahre behauptete er, sei alles, was sich »der damals herrschend werdenden Vorstellung« widersetzt und sich den von ihr geforderten »Ritualen einer falschen Unterwürfigkeit« verweigert habe, »der heimlichen Komplizenschaft mit dem ›Faschismus‹« beschuldigt worden. Die neueste Personifikation dieser »elende[n] Praxis« der Denkverbote und Standgerichte sei Jürgen Habermas (»Historikerstreit«, S. 100f.). Während der Autor sich angesichts der Leichenberge und Blutströme des 20. Jahrhunderts als vorurteilslosen »Pessimisten« präsentiert, der in der Geschichte »nicht viel anderes wahrzunehmen vermag, als den mörderischen Prozess, der immer war« und der darum wisse, dass »keine Utopie je dagegen an[kam]«, vertrete Habermas den Typ des Intellektuellen, der trotz der Katastrophen des Jahrhunderts immer noch an die grundsätzliche ›Perfektibilität‹ des Menschen«, an dessen »Erziehbarkeit« und an »das Bild vom ›neuen Menschen‹« glaube (ebd., S. 111). Aus dieser unterschiedlichen Haltung zur Welt folge, dass es für ihn, den vorurteilslosen Skeptiker Fest, unter den Millionen Toten des 20. Jahrhunderts keine Hierarchie der Opfer gebe. Für die »Siegelbewahrer der neuen Aufklärung« aber erfolge eine Klassifizierung der Ermordeten aus »politischen Absichten«: Dementsprechend mache man sich »mit einer Empfindungslosigkeit, die schlimmste Erinnerungen heraufbeschwört […] an irgendwelchen Professoren-Schreibtischen daran, die Opfer zu selektieren« (ebd., S. 108f.). Habermas und seinesgleichen – alles Schreibtischmörder. Dieser Vergleich ließ keinen Millimeter Raum für abschwächende Interpretationen oder Dementis. Er bedeutete zugleich die Aufkündigung jeder intellektuellen Debatte und das Ende aller persönlichen Kommunikation. Hier standen sich nicht Gegner, sondern Feinde gegenüber. Dieser Ausbruch blanken Hasses hat viele damals überrascht, ohne dass sie dafür eine Erklärung fanden (Wehler 1988, S. 126; Reich-Ranicki 2000, S. 543f.). Die Gründe finden sich nicht in den Texten, wohl aber im Leben. Nolte, Hillgruber und Fest gehörten derselben Generation an. Sie hatten, 1923, 1925 und 1926 geboren, als Kinder und Heranwachsende die katastrophale Endzeit der Weimarer Republik und den Aufstieg Deutschlands nach 1933 erlebt, sie waren durch die Schulen und Organisationen des Dritten Reiches gegangen, hatten – mit Ausnahme von Nolte – als letzte Reserve der Wehrmacht an der Front gestanden und die militärisch-moralische Niederlage 1945 am eigenen Leibe erlebt. Hillgruber hatte seine ostpreußische Heimat und drei Jahre seines Lebens in amerikanischer bzw. französischer Gefangenschaft verloren. Fest war zwei Jahre lang Gefangener in einem 83 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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amerikanischen Lager in Frankreich gewesen. Für beide waren Krieg, Niederlage und Gefangenschaft, wie sich in ihren Nachkriegskarrieren zeigen sollte, einschneidende und zunächst verschwiegene Erlebnisse gewesen. Das vergrabene Erbe zeigte sich bei Fest, der in seinen Jugenderinnerungen über Krieg und Gefangenschaft eine von jeder Innenschau bereinigte Sachbeschreibung geliefert hat (Fest 2006, S. 222–296), erst in seinem literarischen Werk: Er präsentierte den geschlagenen Deutschen wie den alliierten Siegern Hitler als eine Persönlichkeit von historischer Größe, die für ein Jahrzehnt der alles »beherrschende Repräsentant« der Epoche« gewesen war und Deutschland zum verführerischen »Modell« Europas gemacht hatte, bis auf dem Höhepunkt der Macht das bei ihm wieder durchgedrungene »pathologische« Bedürfnis nach Krieg »sein lange demonstriertes Genie [verschlang]« (zit. nach Heer 2005a, S. 36f., 38). Bei Hillgruber trat das abgelagerte Sediment seiner Kriegszeit erstmals bei einem Vortrag am 17. April 1985 vor der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu Tage: Er versuchte an seinem eigenen Schicksal als Unteroffizier, der 1944 in Ostpreußen an den Abwehrkämpfen der Wehrmacht gegen den Vormarsch der Roten Armee teilnahm, zu beweisen, dass dieser zur Rettung des Vaterlandes und von Millionen gefährdeter ostdeutscher Zivilisten geführte heroische Kampf mit dem Parallelgeschehen der Judenmorde in Auschwitz und anderswo nichts zu tun gehabt habe. Dieser Vortrag sollte seine Explosivkraft erst ein Jahr später zeigen, als er, mit einem andern Beitrag verbunden, in publizierter Form vorlag (Hillgruber 1986). Ein Sonderfall war Nolte, der infolge einer verkrüppelten Hand von den Körper- und Gewaltkulten der Volksgemeinschaft und im Krieg vom Opfertod, wie ihn sein Bruder erleben musste, ausgeschlossen war. Er hat diesen Makel als »Entfremdung« und »schwere Belastung« empfunden (Gerlich 2009, S. 14f.) und ihn durch umso treuere Gefolgschaft gegenüber seinem »verehrten Meister« Martin Heidegger, bei dem er noch im Krieg und dann wieder ab 1950 Philosophie studiert und eine Promotion vorbereitet hatte, kompensiert. Sein nachgeholter Kriegseinsatz sollte an einer anderen Front erfolgen, »in der geistigen Auseinandersetzung mit diesen katastrophalen Geschehnissen«, wie sein Biograf andeutet (ebd., S. 18, 15). Die meisten Angehörigen dieser Altersgruppe haben nach dem Krieg das Wissen um Verbrechen geleugnet und ihr damaliges Verhalten im Stile Hillgrubers als Dienst am Vaterland legitimiert oder versucht, diese Zeit durch »kollektives Beschweigen« überhaupt nicht zum Thema werden zu lassen (vgl. Rüsen 2001, S. 286–291; Heer 2004a). Der Bruch dieses Schweigepakts und das Aufrollen der Schuldfrage durch die rebellierenden Studenten und Studentinnen ab Mitte der 60er Jahre war für die Mehrheit der Nazi- und Kriegsgeneration ein Schock. Sie reagierte darauf mit Empörung. Daraus wurde immer dann eine manchmal hasserfüllte und meist lebenslange Feindschaft, wenn Angehörige dieser Generation direkt zum Gegenstand der studentischen Kritik oder gar des öffentlichen Protestes wurden. Nolte und Hillgruber erlebten das als Professoren in Marburg bzw. in Freiburg und Köln (vgl. Wehler 1998, 84 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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S. 14, 21, 26). »Offensichtlich heilen einige alte Wunden aus der Zeit um 1970 verdammt schwer«, so hat Christian Meier, mit Blick auf die beiden Kollegen, sich das aufgeladene Klima der Kontroverse und die dabei aufgetretene »Böswilligkeit« zu erklären versucht.188 Bei Nolte kam noch hinzu, dass er sich nach dem internationalen Triumph seines Erstlings 1963 Der Faschismus in seiner Epoche über die Ablehnung der beiden folgenden Bücher Deutschland und der Kalte Krieg (1971) und Marxismus und Industrielle Revolution (1983) mit, wie sein Biograf schreibt, »gravierenden Mißerfolgen« seitens der Kollegen wie der Medien abzufinden hatte und daher verbittert war (Gerlich 2009, S. 23). Fest machte die Erfahrung linker und z.T. gewalttätiger Aktionen, als sein HitlerFilm 1977 zum Gegenstand öffentlicher Proteste wurde. Das Naziblatt Deutsche National- und Soldatenzeitung hatte den Film hymnisch begrüßt. Ähnlich positiv reagierten Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, aber auch sonst eher kritische Blätter wie Stern und Spiegel stimmten in das Lob ein. Während der Film in der internationalen Presse ein vernichtendes Echo fand, wurde das Hitler-Porträt nur in wenigen deutschen Zeitungen von der Kritik verworfen (Heer 2005a, S. 60). Vor allem der Rezensent der Zeit, der Redakteur und Historiker Karl-Heinz Janßen, ging mit Fest scharf ins Gericht: Er nannte den Film »gefährlich«, weil er »nur die Psyche Hitlers«, nicht aber sein Programm, die gesellschaftlichen Voraussetzungen seines Aufstiegs und die Mitverantwortung der meisten Deutschen erkläre. »Wer so ungeschützt den Geist Hitlers aus den Filmbüchsen entweichen läßt«, so das Fazit der Kritik, »der macht sich der exkulpierenden Mythen- und Legendenbildung schuldig.«189 Das sahen auch große Teile der kritischen Öffentlichkeit so: Autoren und Künstler, Landesverbände und Ortsgruppen der Gewerkschaften, die Aktion Sühnezeichen und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, jüdische Persönlichkeiten und Organisationen forderten die Aberkennung des Prädikats besonders wertvoll oder die Zurückziehung des Filmes. Politische Gruppen verteilten Flugblätter vor den Kinos. In einigen Städten kam es zu gewalttätigen Protesten – zertrümmerte Kinotüren, versuchte Brandanschläge, gesprühte Protestparolen (Heer 2005a, S. 61). Spätestens seit jetzt war die rebellische oder auch nur kritische LINKE in der Bundesrepublik für Fest ein Hassobjekt, das er in seinen Vorträgen und Artikeln nicht aufhörte zu attackieren (Fest 1983, S. 115–128; Fest 1991, S. 59–80; Fest 1993, S. 37ff., 95ff.; Fest 2004, S. 8ff., 249ff.). Habermas, zeitweilig Forschungsassistent bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an deren »Frankfurter Institut für Sozialforschung«, war nach seiner Habilitation bei dem engagierten Sozialisten und Politologen Wolfgang Abendroth in Marburg 1964 188 Christian Meier: Rede zur Eröffnung des deutschen Historikertags in Trier am 08.10.1988 (in: »Historikerstreit«, S. 204–214, hier S. 208). 189 Karl-Heinz Janßen: High durch Hitler. NS-Nostalgie auf Großleinwand mit Stereoeffekt. Die Zeit, 08.07.1977. 85 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Nachfolger Horkheimers auf dessen Frankfurter Lehrstuhl geworden. Trotz seiner 1967 erfolgten Warnung an Rudi Dutschke und den Sozialistischen deutschen Studentenbund SDS, mit seinem gewaltbereiten Aktionismus nicht in einen »linken Faschismus« abzugleiten, was einer Distanzierung gleichkam, (Habermas 1969, S. 148),190 sah Fest ein Leben lang in Habermas den geistigen Mentor der verhassten Studentenbewegung. Noch in seinen posthum erschienenen Jugenderinnerungen hat er einen gefährlichen Verdacht geäußert: Habermas sei dem NS-Regime »mit allen Fasern verbunden gewesen« und habe noch im Frühjahr 1945 in einem Brief ein »leidenschaftliches Bekenntnis zum Führer« abgelegt und seine »unerschütterliche Erwartung« des Endsieges ausgesprochen (Fest 2006, S. 342). Diese Behauptung erwies sich als haltlose Denunziation.191 Ein drittes Sediment der Erfahrung darf nicht unerwähnt bleiben, wenn man die Motive des Personenkreises, der den »Historikerstreit« auslöste, rekonstruieren will – der Machtwechsel, der auch, als eine Folge der Studentenbewegung, im September 1969 die sozialliberale Koalition in die Regierungsverantwortung gebracht hatte: Ereignisse wie Brandts Kniefall am Mahnmal des Warschauer Ghetto-Aufstandes im Dezember 1970, durch den erstmals eine Mitschuld an den Verbrechen bekundet wurde, durch den Abschluss der »Ostverträge« 1977, mit der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze erfolgte, die zunehmend wichtige Rolle des Fernsehens bei der Aufarbeitung der Nazivergangenheit, exemplarisch dafür die 1979 ausgestrahlte Serie Holocaust, waren Marksteine dieser Jahre. Vor allem durch Brandts neue Ostpolitik, die »an die Wurzel des deutschen Unheils, das 1933 bei Hitler lag« erinnerte und von der Prämisse ausging, »daß die Teilung Deutschlands das durch Deutsche selbstverschuldete […] Urteil der Geschichte darstellte«, wurde dem Selbstbild der Deutschen, die sich bisher vor allem als Opfer des Nationalsozialismus gesehen hatten, vom ranghöchsten deutschen Politiker erstmals die Dimension von Täterschaft und Schuld hinzugefügt. Dieser Prozess, der nach dem Urteil des Historikers Edgar Wolfrum, zu einer »geschichtspolitisch abgestützten Neubegründung der Bundesrepublik« führte, sollte »alle nachfolgenden Kontroversen« beeinflussen (Wolfrum 1999, S. 68f.). Nolte, Fest und Hillgruber – die beiden letzteren auch als CDU-Mitglieder – wurden auch von diesen Kämpfen der 1970er Jahre betroffen und von den sie begleitenden Debatten geprägt. Ihre weit jüngeren Unterstützer Horst Möller ( Jg. 1943) und Klaus Hildebrandt ( Jg. 1941) standen in einem Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Nolte bzw. Hillgruber und waren, wie vor allem Michael Stürmer ( Jg. 1938), der Berater von 190 Habermas hat diesen Passus noch im gleichen Jahr in einem Brief an Erich Fried relativiert (Habermas 1969, S. 149f.). 191 Andreas Zielcke, NS- Vorwürfe gegen Habermas – Verleumdung wider besseres Wissen. SZ, 27.10.2006. 86 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Bundeskanzler Kohl, Protegés der 1982 an die Macht gekommenen rechtsliberalkonservativen Koalition.192 Ihre Gegner waren Jürgen Habermas, der führende deutsche Soziologe und politische Philosoph, der Historiker Hans-Ulrich Wehler, der Geschichte als historische Sozialwissenschaft begriff und seinen Jugendfreund Habermas für dessen Gegenrede mit historischen Fakten versehen hatte, Christian Meier, Professor für Alte Geschichte und damals Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes, Eberhard Jäckel, der 1984 in Stuttgart die erste internationale Historiker-Konferenz zum Holocaust in Deutschland organisiert hatte und der als »Intentionalist« für die Erforschung des Nationalsozialismus das Primat der Ideologie zugrunde legte, das Brüderpaar Hans und Wolfgang Mommsen, der eine Pionier der »funktionalistischen« Methode zur Erforschung des Dritten Reiches, der andere Spezialist für das deutsche Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg. Welches Erbe brachten sie aus ihren genealogischen Zusammenhängen mit, und was waren ihre Motive, sich gegen den revisionistischen Ansatz von Nolte, Hillgruber und Fest zu stellen? Sie alle waren in den Jahren 1929 und 1931 geboren – Habermas 1929, Wehler 1931, Maier 1929, Jäckel 1929, Hans und Wolfgang Mommsen 1930. Anders als die Genannten hatten sie die Agonie der Weimarer Republik nicht mehr bewusst miterlebt, sondern waren in das Dritte Reich als Normalzustand hinein gewachsen. Dabei hatten sie aber den Krieg mit seinen Einschränkungen und Gefahren bewusster erlebt als die kurze und triumphalistische Friedenszeit des Regimes, in der sie noch Kinder gewesen waren. Und im Krieg wurden sie bestenfalls als Flak-, Front- oder Marinehelfer eingesetzt, waren also Schüler geblieben. Es gab für sie daher weder das traumatische Erlebnis der Niederlage noch die demütigende Tortur der Gefangenschaft. Diese Altersgruppe war aus diesen Gründen der Zukunft mehr verbunden als der Vergangenheit, sie war weniger geprägt von nationalsozialistischen Werten und mehr von der Maxime, nur irgendwie das Ende des Dritten Reiches zu überleben, um sich am Aufbau einer neuen, besseren Welt zu beteiligen. Sie hatte daher ein unbefangenes Verhältnis zur deutschen Schuld, weil sie daran nicht beteiligt war. Es gab also auch nichts zu verschweigen. Die meisten der oben genannten Angehörigen dieser Jahrgänge waren daher der SPD beigetreten oder unterstützten deren innenpolitischen Reformkurs und die außenpolitische Versöhnung mit Polen und der Tschechoslowakei bzw. die Anerkennung des Status quo der Existenz der DDR. Sie standen damit in einem elementaren Widerspruch zu den Angehörigen der älteren Jahrgänge von 1923 bis 1926. Beide Altersgruppen gehörten aufgrund ihrer 192 Horst Möller wurde 1989, als FDP-Mitglied und im Rahmen einer politisch bedingten Postenvergabe, Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Paris (vgl. Wehler 1988, S.  190f.) und aus demselben Grund 1992 Direktor des einflussreichen Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Hildebrandt und Stürmer saßen in wichtigen Personalausschüssen und Kommissionen (ebd., S. 192f.). 87 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ganz unterschiedlichen Lebens-, Leid- und Schulderfahrung weder zu einer gemeinsamen Generation, noch zu derjenigen der »Flakhelfer«, wie Herbert das behauptet hat (Herbert 2003, S. 106).193 »Flakhelfer« waren nur die Jüngeren gewesen. Auch seine Zuordnung zur »skeptischen Generation« stimmt nicht als Klammer der beiden Altersgruppen (ebd.): Die Alterskohorte der noch vom Kriegsdienst Geprägten stand unter einem daraus resultierenden länger und tiefer nachwirkenden Einfluss der Nazizeit und erwies sich in dem dauernden Versuch der Schuldabwehr daher als eher »verbohrt« und »fanatisch«. »Skeptisch« gegenüber Ideologien, staatlicher Gängelung, politischem Missbrauch der Geschichtswissenschaft und allen Forderungen, einen Schlussstrich unter die jüngste Vergangenheit zu ziehen, war dagegen die Alterskohorte der Jüngeren, für die der Krieg wirklich am 8. Mai 1945 zu Ende gewesen war. Sie hatten schon vor dem revisionistischen Angriff des Trios Nolte, Hillgruber und Fest 1986 vor einer drohenden geschichtspolitischen Tendenzwende in der Geschichtswissenschaft gewarnt, die dafür Verantwortlichen scharf kritisiert und ein Modell für einen angemessenen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit angeboten. Der »Historikerstreit« war also kein Blitzschlag, sondern ein sich lange vorbereitendes Gewitter, das sich plötzlich vor aller Öffentlichkeit entlud. Hans-Ulrich Wehler wie Hans Mommsen gehörten zu den Autoren der Aufsehen erregenden, von Jürgen Habermas herausgegebenen und 1979 beim Suhrkamp Verlag in zwei Bänden erschienenen Essaysammlung Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«.Wehler lieferte unter dem lakonischen Titel Geschichtswissenschaft heute eine fundierte Einschätzung der in Westdeutschland nach 1945 zunächst vorherrschenden konservativ-reaktionären Deutungen des Dritten Reiches. Durch Fritz Fischers 1961 erschienene Studie Griff nach der Weltmacht und die dadurch ausgelöste Kontroverse über die deutsche Schuld für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sei eine geschichtspolitische Wende eingetreten, die, von einem Generationen-Wechsel unterstützt, den Raum für eine kritische Geschichtswissenschaft geschaffen habe, als deren Repräsentanten u.a. die Namen Martin Broszat, Hans Mommsen, Peter Hüttenberger, Jürgen Kocka genannt wurden und zu denen natürlich auch Wehler selbst gehörte (Wehler 1979, S. 709–731). Diesem Aufbruch kontrastierte der Autor eine Gruppe von »Neotraditionalisten« (ebd., S. 752), die vertreten durch Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrandt eine unproduktive Methode des »Hitlerismus«, also der Fixierung auf die Person und Politik Hitlers, betrieben und gegen den Paradigmenwechel hin zu einer Gesellschaftsgeschichte mit dem Vorwurf einer »Tendenzhistorie« 193 Heinz Bude hat unter dem Begriff »Flakhelfer« die Jahrgänge 1926 bis 1931 zusammengefasst (Bude 1987, S. 9f.) Diese Zuordnung berücksichtigt nicht die entscheidende Zäsur der Kriegs- und Gewalterfahrung, die die meisten Angehörigen der Jahrgänge 1926 und 1927 noch erlebt haben. Daher verbietet sich die Zuordnung »Flakhelfer« auch für die zum Jahrgang 1927 gehörenden Martin Walser und Günter Grass, wie es zuletzt Malte Herwig schon im Titel seines Buches getan hat (Herwig 2013). 88 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und dem Menetekel einer drohenden »Erkenntnisdiktatur« zu Felde zögen (ebd., S. 732, 747f.). Die schärfste Kritik aber galt einem Kollegen, der ungenannt blieb, allerdings von jedem Leser als der Kanzler-Berater Michael Stürmer identifiziert werden konnte. Dessen Ruf nach einem »einheitlichen nationalen Geschichtsbild« und der dadurch möglichen »Wiedergewinnung einer stabilen Identität« liege ein »mißverstandener Identitätsbegriff« zugrunde: Dieser schließe eine »kritische Verarbeitung wechselnder Erfahrungen, die produktive Auseinandersetzung mit Spannungen und Brüchen« aus und gebe stattdessen »der unbefragten Hinnahme überlieferter Werte, der affirmativen Einübung von Normen« den Vorzug (ebd., S. 749). Wehlers Vorarbeit sollte, diesmal bei Nennung des Namens Stürmer und konkreter Belege, 1986 einen prominenten Platz in der Rede von Habermas und dessen Plädoyer für »einen Pluralismus der Geschichtsdeutungen« anstelle eines »von Regierungshistorikern verordneten [geschlossenen] Geschichtsbildes« und der staatstragenden Tradition von »Geschichtsbewusstsein als Religionsersatz« einnehmen (»Historikerstreit«, S. 73f.). Hans Mommsen hatte seinen Beitrag unter dem Titel Die Last der Vergangenheit mit der lapidaren Feststellung eingeleitet, die gerade auch in Deutschland gezeigte amerikanische TV-Serie Holocaust habe gezeigt, dass »die geschichtlichen Folgen des ›tausendjährigen Reiches‹ […] nicht aufgearbeitet« seien. Gleichzeitig wagte er die Prognose, dass der Holocaust-Film folgenlos bleiben werde, wenn es nicht gelänge, die durch den Film ausgelöste breite Diskussion »auf die tieferen gesellschaftlichpolitischen Ursachen der nationalsozialistischen Gewaltpolitik zu lenken« (Mommsen 1979, S. 164). Ein solcher dringend erforderlicher Schritt werde aber durch Geschichtsklitterungen wie die jüngst wieder vom CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl in Umlauf gebrachte und als Konsens der Historiker bezeichnete Behauptung erschwert, »die Weimarer Republik [sei] dem vereinten Radikalismus von links und rechts zum Opfer gefallen und zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsam erdrückt worden«, anstatt auf die Tatsache hinzuweisen, dass Hitlers »Bündnis […] mit den nationalkonservativen Eliten im Umkreis von Hindenburg« das Ende der Republik und die Machtübernahme der NSDAP herbeigeführt habe (ebd., S. 174f.). Solche Irreführungen dienten dazu, jede »politische Polarisierung als demokratiegefährdend zu denunzieren« (ebd., S. 175). Die Holocaust-Sendung habe zwar die Stimmen, die für einen Schlussstrich plädierten, zum Schweigen gebracht, sie werde, so die Prognose des Autors, »apologetische Tendenzen jedoch eher bestärken als vermindern« (ebd., S. 176). Als Beispiel nannte Mommsen den Versuch Ernst Noltes, den Mord an den europäischen Juden »bei aller Singularität dieses unerhörten Vorgangs mit äußerlich vergleichbaren Fällen von bewußtem Genozid in Verbindung zu bringen« (ebd., S. 177). Was damit gemeint war, ließ der Autor im Dunkeln. Nur sein Hinweis, dass Nolte »eine unerwartet heftige Polemik von sonst wohlwollenden westlichen Historikern« ausgelöst habe (ebd.), warf Licht auf den Vorgang: Zwei ame89 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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rikanische Historiker, die nach 1933 aus Deutschland vertriebenen Juden Felix Gilbert und Peter Gay, hatten dessen 1974 erschienenes Buch Deutschland und der Kalte Krieg scharf kritisiert.194 Mit Grund, vertrat doch Nolte darin die These, dass die USA »der Sache nach in Vietnam nichts Geringeres ins Werk setzten als ihre im Grunde noch grausamere Version von Auschwitz« (Nolte 1985b, S. 487). Zur Begründung dieses Tatbestandes fügte er die ebenso ungeheuerliche These hinzu, dass jeder bedeutende Staat der Gegenwart, […] seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt« habe (ebd., S. 562ff.). Die meisten deutschen Historiker hatten, im Glauben, es handle sich bei all dem nur »um gelegentliche und daher verzeihliche exzentrische Überspitzungen eines angesehenen Kollegen« gehandelt, von einer Kritik des Buches abgesehen (Wehler 1988, S. 17).195 Aber Nolte hatte nachgelegt, indem er sich in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Herbst 1978 gegen die von seinen amerikanischen Kritikern angeblich ausgesprochenen »Frageverbote« gewehrt und sie als Fortsetzung jener »Behauptungs-, Agitations- und Aktionsverbote« bezeichnet hatte, die von den Siegermächten nach 1945 über die Deutschen verhängt worden seien. Wer Oradour verurteile, so Nolte, müsse auch bereit sein, Katyn, Mylai und das von jüdischen Kampfverbänden 1948 in dem arabischen Dorf Deir Yassin begangene Massaker als Verbrechen zu bezeichnen.196 Mommsen kannte nicht nur die scharfe Kontroverse zwischen den amerikanischen Historikern und Nolte, die ein Politikum zu werden drohte,197 sondern er hatte auch dessen neuesten Artikel gelesen. Fast staatsmännisch ging er daher in seinem Text auf den Schaden ein, den Noltes revisionistische Rundumschläge anrichteten: »Unter der Last, die die Erbschaft des Nationalsozialismus nicht nur auf die mitlebende Generation gewälzt hat, steht es der deutschen Seite nicht an, auch in der öffentlichen Meinung anderer Völker Abwehrmentalitäten aufzudecken, die in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit untergründig fortwirken« (Mommsen 1979, S. 177).

Der Experte für die Geschichte des Dritten Reiches und streitbare Zeitgenosse Mommsen war mit dem apologetischen und revisionistischen System von Nolte also bestens vertraut, als dieser am 6. Juni 1986 während der Römerberg-Gespräche in Frankfurt, zu denen er eingeladen aber nicht erschienen war, seinen vorgesehenen Redebeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte: Hans Mommsen wie sein Bruder Wolfgang, der die Eröffnungsrede gehalten hatte, reagierten noch auf 194 Zu den Kritiken und der Kontroverse mit Nolte 1976 bis 1978 vgl. Wehler 1988, S. 215, Fußnote 7. 195 Wehler gestand später ein, dass diese Haltung »falsch und zu rücksichtsvoll« gewesen sei (ebd., Fußnote 6). 196 Ernst Nolte: Über Frageverbote. FAZ, 25.11.1978. 197 Vgl. Sigrid Bauschinger: Deutsch/jüdisch. FAZ, 06.05.1978. 90 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Tagung sofort und übten scharfe Kritik. Michael Stürmer, als Referent ebenfalls anwesend, solidarisierte sich mit Nolte (Wehler 1988, S. 222). Ein halbes Jahr vor dem Skandal hatte ein anderer Angehöriger der Gruppe der Neuerer, Christian Meier, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes in Tel Aviv einen Vortrag gehalten, der die Geschichte der deutschen Erinnerung nach 1945 skizzierte, deren aktuelle Lage beschrieb und die Erfordernisse im Umgang mit der Vergangenheit für die Zukunft umriss. Die Gruppe sollte, auch weil sie von der Kontroverse nicht beeinflusst war, für diese Erinnerungsgeschichte setzen und wegen ihrer Hellsicht weit darüber hinaus wirken.198 Meier ging davon aus, dass zwar »die Erinnerung an die deutschen Verbrechen in die Fundamente der Bundesrepublik tief installiert« seien, in der Ambivalenz sich widersprechender Gefühle aber Symptome »einer im Ganzen unbewältigten Geschichtserinnerung« zu Tage träten (»Historikerstreit«, S. 48), »ein Niemandsland unserer Geschichte«, an dem »gearbeitet« werde, das aber auch »selbst arbeitet« (ebd., S. 49). Was uns da umtreibe, sei die immer noch offene Frage, »ob und wie wir anerkennen, was wir zwischen 1933 und 1945 angerichtet haben. Genauer gesagt geht es um die prägnante Bestimmung und das klare Bewusstsein dessen, was da geschah, sowie um das Subjekt, dem dieses Geschehen zuzurechnen ist: Waren wir das, also das deutsche Volk – oder nur unsere Eltern und Großeltern, (die inzwischen tot oder an der Schwelle des Todes sind), das deutsche Bürgertum (oder eher Kleinbürgertum), der Faschismus, nur ein paar Verbrecher unter uns (in einer im ganzen anständig gebliebenen Nation) oder war es gar nur Hitler?« (ebd.). Diese Frage sei nicht nur wegen des Umfangs der Verbrechen, sondern auch wegen deren »Einzigartigkeit« so schwierig: »Daß da ein Land, ein Volk, vertreten durch seine Regierung, sich die Entscheidung darüber anmaßt, ob ein ganzes anderes Volk, […] auf Erden leben darf oder nicht«, das sei ohne Parallelen in der Weltgeschichte (ebd., S. 50). Deshalb dürfe das Geschehene auch nie vergessen werden, forderte Meier, verwies aber auch sofort auf die Grenzen: »Verantwortung nötigt uns, diese Geschichte als die unsere anzunehmen. Das Bewußtsein der Verbrechen aber sperrt sich dagegen« (ebd., S. 51). Die Geschichte der Versuche, diesem Druck auszuweichen, sei lang – vom Antikommunismus im Kalten Krieg bis zum Versprechen der jetzigen Regierung, die Beziehung zur jüngsten Geschichte »zu normalisieren« oder der Aufforderung, sich der »Gnade der späten Geburt« zu erfreuen (ebd., S. 53f.). Diese Tendenz zur Flucht werde auch deshalb befördert, weil im Abstand von 40 Jahren immer deutlicher werde, dass die alte Vorstellung, da hätten »einige befohlen und andere gehorcht«, falsch sei und an deren Stelle »die Frage nach dem ganzen Volk« gestellt werden müsse, »das Voraussetzungen geschaffen, geduldet und mitgetan hat« (ebd., S. 56). Wenn man diesen Schritt tue 198 Christian Meier: Verurteilen und Verstehen. An einem Wendepunkt deutscher Geschichtsschreibung. FAZ, 28.06.1986 (abgedruckt in »Historikerstreit« S. 48–61). 91 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und sich der »sehr weit verzweigte[n]« Beteiligung an den Untaten nähere – den Polizisten, »die die Opfer sammelten«, den Eisenbahnern, »die sie brachten«, der Wehrmacht, »die die Fronten verteidigte, hinter denen die Vernichtungsmaschinen arbeiten konnten« – dann seien zwei Voraussetzungen unerlässlich – dem, was von den Großeltern und Eltern getan worden sei, »nicht nur mit Verurteilen, sondern auch mit Verstehen [zu] begegnen« und darauf zu achten, wenn man »der Wahrheit des Geschehens« näherkomme, dass diese für die nachgeborenen Generationen auch »aushaltbar« sei (ebd., S. 57). Diese komplexe Aufgabe könne man nicht an die Geschichtswissenschaft delegieren, so schloss Christian Meier: »Wir werden neue Kategorien nicht nur des Verstandes, sondern auch des Herzens brauchen.« Und neue Formen, die, jenseits aller Wissenschaft, auf das Gespräch in der Familie oder auf die Sprache der Kunst verwiesen: »Vielleicht muß das Geschehen im Großen und im Kleinen und im Verhältnis von diesem zu jenem vor allem erzählt werden« (ebd., S. 61). Meier erwies sich als der Hellsichtigste in dieser Debatte, auch weil er die Grenzen der Profession durchbrach und über das sprach, was mit Menschen, die sich erinnern, geschieht – der Absturz in Verzweiflung, Wut, Schmerz, Trauer – und was danach geschehen kann: gegenseitiges Verstehen und einander Aushalten. Dank dieser Sensibilität war er auch der einzige, der schon während der Kontroverse deren geheimen generationellen Subtext entzifferte: »Es ging und geht beim Thema des ›Historikerstreits‹ weniger um die Vergangenheit als um Gegenwart und Zukunft. Denn dahin zielt doch die Frage, wie wir auf die Dauer mit dem tief in uns verankerten (respektive nicht gar so tief zu verdrängenden) Bewußtsein von dieser Vergangenheit leben wollen. […] Vermutlich ist es kein Zufall, daß diese Fragen sich vierzig Jahre nach Kriegsende neu stellen. Es ist der Zeitpunkt, da die Jüngsten, die am NS-Regime noch aktiv beteiligt sein konnten, ins Großelternalter einrücken. Insofern hat der ›Historikerstreit‹ vermutlich Fragen aufgenommen, deren Beantwortung sich in der Allgemeinheit wandelt. Vielleicht vollzieht sich hier sogar ein sehr tiefer, elementarer Vorgang, dem Aufbrechen einer Eisdecke vergleichbar.«199

Saul Friedländer hat das im Rückblick ähnlich gedeutet: Bei dem in Deutschland erst in den 1960er Jahren einsetzenden Prozess der öffentlichen Auseinandersetzung über die Verbrechen des Dritten Reiches sei das Phänomen eines immer wieder auftretenden plötzlichen Ausbruchs einer »ungezähmten Erinnerung« zu beobachten. So habe »das symbolische Datum 1985« – 40 Jahre nach der Beseitigung des Dritten Reiches – den »Historikerstreit« ausgelöst, und dessen »Heftigkeit« sei damit zu 199 Christian Meier: Kein Schlusswort. Zum Streit über die NS-Vergangenheit. FAZ, 20.11.1986 (abgedruckt in: »Historikerstreit«, S. 264–274, hier: S. 268). 92 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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erklären, dass die Kontroverse »mindestens genauso stark vom Einfluss persönlicher Lebensgeschichte hergerührt [habe] wie von politischen und ideologischen Faktoren« (Friedländer 1999, S. 17).200 Der Philosoph Horst Günther hat seine Beobachtung dieser Kontroverse, weil er keine Rücksicht auf Kollegen zu nehmen hatte, drastischer formuliert: Die deutschen Historiker hätten vierzig Jahre gebraucht, »um sich selbst und anderen einzugestehen, daß sie eine notwendige Begebenheit nicht verarbeitet haben, daß eine nationale Niederlage im Untergrund ihrer Persönlichkeit rumort« (Günther 1994, S. 38).201

Die Jenninger-Rede Im Gegensatz zum Versuch dieser revisionistischen Historiker, Nazideutschlands Schuld zu relativieren und die Einzigartigkeit des Holocaust zu leugnen, war es die erklärte Absicht des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, mit der von ihm initiierten Gedenk-Veranstaltung zur Reichspogromnacht zwei Jahre später den Impuls zu verstärken, den der damalige Bundespräsident mit seiner Aufsehen erregenden Rede am 8. Mai 1985 ausgelöst hatte. Richard von Weizsäcker hatte seine Ausführungen mit dem Appell an alle Deutschen begonnen, »der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit« (Weizsäcker 1985, S. 1). Dann hatte er zum Tag des Kriegsendes erklärt, dass dieser damals für die Deutschen »kein Tag zum Feiern« gewesen, das Datum aber mittlerweile »ein Tag der Befreiung« geworden sei, weil er für alle das »System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« beendet habe (ebd., S. 2). Vor allem der Völkermord an den Juden »sei beispiellos in der Geschichte« gewesen. Die Ausführung dieses Verbrechens, das ja nicht erst mit den Deportationen 1941 eingesetzt habe, sondern mit »den unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde« schon ab 1933 praktiziert worden sei, habe zwar nur »in der Hand weniger« gelegen (ebd., S. 5). Dennoch habe es damals angesichts der offensichtlichen Verbrechen den Versuch »allzu vieler« gegeben, »das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen«. Später hätten dann eben so viele behauptet »nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben«. Daher müsse sich heute jeder damals erwachsene Deutsche »nach seiner Verstrickung« (ebd., S. 5f.) in diese Schuld befragen. Der Sprach- und Kommunikationsforscher Josef Kopperschmidt hat bei einem Vergleich der Reden von Weizsäckers und Jenningers der ersteren das große Verdienst zugesprochen, »die Befreiung von einer qualvollen Sprachlosigkeit« bei der 200 Vgl. auch Frei 1997, S. 68f. 201 Den Hinweis auf diese Stimme verdanke ich Nicolas Berg (2004): Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Paderborn, S. 34. 93 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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innerdeutschen Diskussion des Nationalsozialismus bewirkt zu haben, aber auch darauf hingewiesen, dass von Weizsäcker gleichzeitig »diese Erinnerungsarbeit einer Sprachregelung unterworfen« habe, die vom Interesse am öffentlichen Konsens geleitet gewesen sei (Kopperschmidt 1989, S. 225). Jenninger wollte mit seiner Rede im Bundestag drei Jahre später von Weizsäckers Appell zur Annahme der Wahrheit und zur Prüfung des Gewissens verstärken. Aber er war nicht bereit, sich an dessen Sprachregelungen und Konsensgebote zu halten, sondern widersprach ihm in entscheidenden Punkten. Als jemand, der 1932 geboren wurde und das Dritte Reich nur als Kind erlebt hatte, konnte er unbefangener mit den Verbrechen dieser Zeit umgehen als Richard von Weizsäcker. 1920 geboren war dieser zur Wehrmacht eingezogen worden, hatte den Überfall auf Polen und die Besetzung Frankreichs mitgemacht und war dann vier Jahre lang Offizier im Krieg gegen die Sowjetunion gewesen.202 Jenninger verwarf von Weizsäckers These von der Tatbeteiligung »der Wenigen« und ersetzte sie durch die prononcierte Formulierung, »dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner« bestanden habe (»Der Fall Jenninger«, S. 499). Zugleich machte er in Anknüpfung an Karl Jaspers’ 1946 veröffentlichte Schrift Die Schuldfrage ( Jaspers 1979) deutlich, dass der vom Juristen Weizsäcker aus politischer Rücksichtnahme mit »Verstrickung« möglichst unscharf umschriebene Begriff der Schuld untauglich war: »Viele Deutsche ließen sich vom Nationalsozialismus blenden und verführen. Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und ihrer Verdrängung muß jeder für sich beantworten« (»Der Fall Jenninger«, S. 449.). Das bedeutete einen Zugewinn an Differenzierung beim Reden über Schuld: Es existierte eine kriminelle Schuld, die normalerweise gerichtlich geahndet wird. Und während es für von Weizsäcker nur Täter und Unschuldige gab, führte Jenninger auch die Kategorie der Mitläufer ein und erweiterte so den Bereich der Schuldfähigen. Weizsäcker hatte behauptet, diese Auseinandersetzung mit der Schuld sei in einem kontinuierlichen Prozess geführt worden und spätestens mit seiner jetzigen Rede zu einem positiven Abschluss gekommen: »Es gab keine ›Stunde Null‹, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt«, erklärte von Weizsäcker (Weizsäcker 1985, S. 13). Für Jenninger dagegen war die Chance vertan worden – im »Widerwillen« gegen eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und »durch die Abwehr von Trauer und Schuld« (»Der Fall Jenninger«, S. 498). Erst jetzt in einer ökonomisch wie politisch stabilen Lage und im Besitz des Wissens über Holocaust und NS-Regime, sei, so der Tenor seiner Rede, dieser notwendige, längst überfällige Schritt auch möglich. Am spektakulärsten aber war der Widerspruch, den der Bundestagspräsident beim 202 Biografie Richard von Weizsäckers. URL: http://www.hdg.de/lemo/html/biografien/WeizsaeckerRichardV/, (Stand: 09.04.2014). 94 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Umgang mit einer Institution einlegte, die seit 1945 auf wundersame Weise als unschuldig behandelt worden war – die großdeutsche Wehrmacht. Auch in Weizsäckers Rede wurde sie als bewaffnete Macht, die andere Länder erobert und deren Bevölkerung, vor allem in Polen und der Sowjetunion, »Leid« zugefügt hatte, in auffälliger Weise geschont. Wenn er erwähnte, dass unter deutscher Besatzung stehende Völker »gequält und geschändet« worden waren, dann machte er dafür »das nationalsozialistische Regime« verantwortlich (Weizsäcker 1985, S. 3, 9). Kein Wort vom »Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg« der Wehrmacht in Polen und in der Sowjetunion, keine Erwähnung der Vielzahl derer, die diesen Verbrechen zum Opfer gefallen waren – sechs Millionen Polen und 27 Millionen sowjetische Menschen, darunter fast fünf Millionen Juden. Hier sprach erst Jenninger Klartext, zum ersten Mal als ranghoher Repräsentant der Bundesrepublik und zum ersten Mal im Bundestag.203 Er legte dar, dass dieser Krieg schon mit der Abfassung von verbrecherischen Befehlen vorbereitet und als gleichzeitig stattfindende »Eroberung von ›Lebensraum‹« und »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« geplant wurde. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hätten »hinter der Front« die Erschießungen »hunderttausende[r] jüdischer Männer, Frauen und Kinder« durch die Einsatzgruppen der SS eingesetzt. Mit diesem Datum, so Jenninger, »[hat] die ›Endlösung‹ […] begonnen – lange bevor sie am 20. Januar 1942 auf der ›Wannsee-Konferenz‹ aktenkundig wird« (»Der Fall Jenninger«, S. 495f.). Jetzt weiß man, warum Weizsäckers Gesicht sich bei Jenningers Rede zusehends verfinstert und Rainer Barzel ständig mit dem Kopf geschüttelt hatte. Hier war jemand aufgetreten, der, wie Die tageszeitung schon damals schrieb »mit [in] vierzig Jahren heuchlerischer Gedenkkultur aufgebauten Tabus brechen wollte«.204 Jenninger stand bei der Planung und Vorbereitung seiner Rede noch immer unter dem Einfluss der Debatten um Noltes, Hillgrubers und Fests revisionistische Thesen. Offensichtlich wurde die Art, wie dieser Versuch, die deutsche Schuld durch Relativierung des Holocaust abzuschütteln, durch eine Gruppe von kritischen Historikern, angeführt von dem Philosophen Jürgen Habermas, mit wissenschaftlicher Genauigkeit und polemischer Schärfe zurückgewiesen worden war, zur Ermutigung und zum Maßstab seines eigenen Projekts: Gestützt auf die Beiträge des »Historikerstreits«, die mittlerweile als Dokumentation vorlagen, wollte er das durch Weizsäckers verdienstvollen Anstoß 1985 in Gang gesetzte Gespräch über den Umgang der Deutschen mit der Vergangenheit aufnehmend, dessen schonende Geschichtsklitterungen und diplomatische Halbherzigkeiten durch Fakten und klare Worte ersetzen. Statt der wohlgemeinten, aber verschwommenen Absichtserklärung des Bundespräsidenten – 203 So auch Karl-Heinz Janßen: »Die Wahrheit nicht bezweifelt«. Die Zeit, 18.11.1988. 204 Horst Pöttker, taz, 13.11.1988; Siever gibt als Datum fälschlicherweise 1989 an. 95 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit« (Weizsäcker 1985, S. 1) – sollte die Rede des Bundestagspräsidenten drei Jahre später ein unmissverständliches Zeichen setzen, dass es jetzt an der Zeit sei, sich mit den Verbrechen des Dritten Reiches und der Schuld der Deutschen endlich auseinanderzusetzen. Die Tatsache, dass er seinen Büroleiter, der selbst Historiker war, mit dem Entwurf der Rede beauftragte und dass dieser noch einen Mitarbeiter jüdischer Herkunft mit hinzuzog,205 unterstreicht diese ambitionierte Zielsetzung. Als Jenninger 2006 in einem Interview nach der Absicht seiner Rede befragt wurde, hat er die Rolle, die der »Historikerstreit« und dessen Ergebnis als Modell für einen angemessenen Umgang mit Schuld und Erinnerung für ihn selbst und seine damalige Aufgabe als zweithöchster Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland gespielt hat, bestätigt: »Meine Absicht war nicht die komplette historische Aufarbeitung des Themas, sondern einen Anstoß zur Diskussion zu geben, wohl wissend, daß die Rede riskant war. Es war ja zwei Jahre zuvor der sogenannte Historikerstreit vorausgegangen; ich spürte schon meine Grenzen. Dennoch dachte ich mir, daß man auch den Mut haben müßte, die Dinge einmal beim Namen zu nennen und der nachfolgenden Generation Antworten zu geben auf ihre Fragen« (Interview Jenninger 2006, S. 445).

In diesen Antworten findet sich weder ein Rückgriff auf die von Nolte, Hillgruber und Fest apodiktisch vorgetragene Relativierung des Judenmordes und der behaupteten Alleinschuld Hitlers noch ein Eingehen auf die Übersetzungshilfen, die von deren betont moderat auftretenden Sekundanten Stürmer, Hildebrandt und Möller angeboten wurden – »Man wird doch noch Fragen stellen und Forschungsthemen vorschlagen dürfen, oder?« Stattdessen folgte Jenninger den Argumenten von Christian Meier, die er schon ein halbes Jahr vor dem Skandal in Tel Aviv vorgetragen hatte. Dieser Beitrag wurde als nachträglicher Abdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Teil der Debatte. Da Meier als Althistoriker zur Geschichte der Antike, aber nie zum Thema Nationalsozialismus geforscht hatte, verstrickte er sich nicht in die Fachdebatten über das Dritte Reich und deren Details, sondern machte die Gegenwart und Zukunft des Erinnerns an die deutschen Verbrechen zum Zentrum seines Plädoyers. Dieser auf die Aktualität bezogene Standpunkt entsprach auch dem Ziel von Jenningers Rede und seinem Rollenverständnis als Politiker. Meiers Argumente waren daher für ihn besonders wertvoll, und sie hinterließen ihre Spur in seinem Redetext. Die Übereinstimmung betraf zentrale Positionen in Bezug auf die Geschichte des Dritten Reiches und der Erinnerung an dessen Verbrechen: Die »Faszination des 205 Das Gespräch mit Dr. Philipp Jenninger wurde vom Autor und Gerhard Fuchs am 03.03.2014 in Stuttgart geführt. Im Folgenden zitiert als »Interview Jenninger 2014«. 96 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Regimes« in den ersten Jahren (Meier 1986, S. 58; »Der Fall Jenninger«, S. 491), der Zusammenhang von Vernichtungskrieg und Holocaust (S. 57/495f.),206 die Schuld des ganzen Volkes durch Tun und Dulden (S. 56/499), die Unvergesslichkeit der deutschen Verbrechen (S. 51/499), die Ableugnung der eigenen Schuld als neue Schuld an den Opfern (S. 55/499), die Erinnerung an das Dritte Reich als Teil der deutschen Identität (S. 48/500), die Untauglichkeit des »Schlussstrichs« zur Beendigung des Erinnerns (S. 61/500), die Notwendigkeit des Verstehens der Eltern- und Großelterngeneration (S. 57/500). Dieser Konsens zwischen einem hochrangigen CDU-Politiker, dessen Partei gerade zur »Normalisierung« im Umgang mit der Nazizeit aufgerufen hatte, und Christian Meier, dem damaligen Pionier der deutscher Erinnerungskultur, verblüfft, erst recht, wenn man sich Jenningers Karriere-Stationen vergegenwärtigt. Der promovierte Jurist begann seine politische Laufbahn 1963 als Mitarbeiter im Verteidigungsministerium und wurde schon 1964 persönlicher Referent von Heinrich Krone, dem Bundesminister für die Koordinierung der deutschen Sicherheitspolitik. 1966 versah er dieselbe Vertrauensstelle an der Seite von Finanzminister Franz Josef Strauß und wurde, nach dem Ende der großen Koalition von CDU und SPD, 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1973 wurde er einer der Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, 1975 deren Erster Geschäftsführer, bis ihn Helmut Kohl nach seinem Wahlsieg 1982 zum Staatsminister des Kanzleramtes berief. Am 5. November 1984 folgte Jenninger Rainer Barzel als Präsident des Deutschen Bundestages (König 2011, S. 182). Auffällig an seiner politischen Vita ist, dass er seit dem Eintritt in die Bundespolitik Vertrauensstellungen bei einigen der wichtigsten Leitfiguren der CDU/CSU innehatte – bei Krone, der in der Weimarer Republik Führungsmitglied der Zentrums-Partei gewesen war und in der Ära Adenauer zu einem der engsten persönlichen Vertrauten des Kanzlers wurde,207 bei Strauß, der trotz der Spiegel-Affäre einer der prominentesten deutschen Politiker wurde und ihn förderte,208 schließlich bei Kohl, der am Anfang einer großen Karriere stand und sein Duz-Freund wurde (H. Kohl 2005, S. 784f.). Um in solchen Funktionen zu bestehen, bedurfte es Loyalität, Verschwiegenheit, Effizienz und als Grundeigenschaft – konservativen Kampfgeist. Es verwundert nicht, dass Jenninger bei der damals noch linksradikal- fundamentalistischen Fraktion der 206 Während Meier noch den Standpunkt Blüms von 1978 vertrat, wonach das Halten der Front durch die Wehrmacht die Fortsetzung des Judenmordes ermöglichte, hatte Jenninger schon den neuesten Forschungsstand des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes berücksichtigt, wonach mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 der Holocaust einsetzte – zunächst durch die mit der Wehrmacht vorrückenden Einsatzgruppen der SS, dann synchron mit den inzwischen in Gang gesetzten Vernichtungsstätten (vgl. Ueberschär/Wette 1984). 207 Hans-Otto Kleinmann (1995/2003): Heinrich Krone. Tagebücher 1945–1966, 2 Bde., Düsseldorf. 208 Deutscher Bundestag, Philipp Jenninger: Geschickter Koordinator, www://bundestag.de./ dokumente/textarchiv/2014/23499578_serie_praesidenten/3 (Stand: 15.04.2014). 97 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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GRÜNEN als halber Nazi (Siever 2001, S. 399f.), bei jüngeren SPD-Abgeordneten wie Renate Schmidt aber als ausgemachter Rechter und einer der Vollstrecker der von Helmut Kohl angekündigten patriotischen Mobilisierung und »Normalisierung« im Umgang mit dem Dritten Reich galt (König 2011, S. 162). Dieser Teil der SPD hatte nicht vergessen, dass Jenninger mit einem Trupp von jüngeren CDU-Parlamentariern am 30. März 1976 eine genehmigte Plakat-Ausstellung des SPD-Genossen Klaus Staeck in der vornehmen »Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft« in Bonn gestürmt und missliebige Plakate, darunter eines, das auf die Unterstützung der CDU für Pinochets Machtübernahme in Chile anspielte, zerrissen hatte. Die Ausstellung war am gleichen Tag geschlossen worden.209 Für die Mehrheit der SPD aber resultierte die Ablehnung aus der Sorge um die internationale Kritik wegen der Nichterwähnung der Opfer. Aber weder diejenigen Abgeordneten, die den Plenarsaal unter Protest verlassen hatten, noch die Fraktionen der GRÜNEN und der SPD entschieden über den Rücktritt Jenningers, entscheidend war dafür die Haltung der stärksten Fraktion – der CDU/CSU. Diese überließ die Bühne den Protestierern, weil sie Jenninger schon während seiner Rede wegen vielfachen Tabubruchs und ungeziemender Widerrede gegenüber dem prominenteren Parteifreund Weizsäcker verurteilt und fallengelassen hatte. Und der Kanzler, der sich gerade vorbereitete, nach New York zu fliegen, um durch eine Geburtstagsrede auf Simon Wiesenthal den Skandal seiner Israel-Reise, bei der er von der »Gnade der späten Geburt« geschwärmt hatte, vergessen zu machen, konnte keine weitere Skandalisierung gebrauchen: Er rührte keinen Finger, um seinen Freund zu retten (König 2011, S. 176, 185; Siever 2001, S. 400f.).210 Das Feindbild, das den Protesten der GRÜNEN und Teilen der SPD zugrunde lag, stimmte schon länger nicht mehr: Jenninger hatte sich verändert. Die Skandale, die Kohl bei seinem Aufenthalt in Israel 1984 und bei seinem Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg 1985 ausgelöst hatte, musste er – jetzt in der unabhängigeren Position des Bundestagspräsidenten – nicht mehr rechtfertigen. Er repräsentierte jetzt die Würde des Bundestags und das Wirken aller dort vertretenen Parteien. Entscheidend aber für diese Wandlung dürfte nach dem Urteil vieler Beobachter Jenningers »weit über das Normalmaß hinausgehendes Engagement für eine Aussöhnung mit Juden im 209 Rolf Michaelis: Hinter den Spiegel zu staecken. Die Zeit, 09.04.1976; Der Spiegel, 25/1976, S. 10. 210 Aleida Assmann verkennt diese aus dem politischen Tabubruch resultierende heftige Kritik an Jenninger und führt sie auf dessen Fehler in der »Grammatik des Gedenkens« zurück (A. Assmann 2006, S. 163–166, hier: S. 166); Christian Schneider sieht die Strafaktion gegen Jenninger in dessen »Fehlleistung« im Sinne Freuds begründet: Er habe es an der rhetorischen Distanz zu den »Täterstimmen« fehlen lassen und die durch den Einzug der GRÜNEN in den Bundestag dessen »generationelle Neuzusammensetzung« nicht beachtet. Sein politischer Tabubruch wird ebensowenig gewürdigt wie die Rolle der CDU/CSU, die Schneider schlicht vergisst (Schneider 2010, S. 158–162, hier S. 160f.). 98 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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allgemeinen und für ein partnerschaftliches Verhältnis zu Israel im speziellen« gewesen sein (König 2011, S. 182). Das hatte seinen Ursprung in dem »sehr engen und guten Kontakt« Jenningers mit Werner Nachmann (Interview Jenninger 2006, S. 439), der seit 1969 Vorsitzender des Zentralrats der Juden war. In der Begegnung und in den Gesprächen mit ihm und anderen deutschen Juden war offensichtlich ein neues, auch emotionales Verhältnis zum Holocaust und dessen Opfern entstanden. Zwei Reisen nach Israel – 1985 in offizieller Mission mit dem Bundestagspräsidium, 1986 halbprivat mit Nachmann (ebd., S. 442) – hatten diese Auseinandersetzung vertieft. Der Vorsitzende des Zentralrats war es auch gewesen, der ihm, wie oben berichtet, vorgeschlagen hatte, als »Vertreter der Täter« die Gedenkrede zum 9. November 1938 im Bundestag zu halten. Als Jenninger nachgefragt hatte, was dieser denn von solch einer Rede erwarte, hatte Nachmann geantwortet, er bekomme von jungen Leuten immer wieder zu hören, »daß sie keine Antworten auf die Frage bekämen, ›wie es eigentlich zu Hitler‹ gekommen sei. Sie bemängelten, daß […] dieses Thema immer ausgeklammert würde. Man entschuldige sich, aber niemand gebe Antwort auf die Frage, was denn damals nun alles falsch gelaufen sei. So bekämen sie keine Antwort auf die Frage: ›Warum haben meine Großeltern »Heil Hitler!« geschrien?‹ Viele hätten das nicht mehr direkt fragen können, weil ihre Großeltern bereits verstorben waren. Diese Fragen hätten ihn sehr bewegt, und wenn ich den Mut hätte, dazu einmal ein paar Worte zu sagen, wäre das großartig« (ebd., S. 439).

Jenninger hatte den Mut und nahm Nachmanns Anregung als Auftrag an. In dem Interview, das 2006 mit ihm geführt wurde, berichtete er, wie er in den folgenden Monaten jede bei Begegnungen mit Schülern und Studenten sich bietende Gelegenheit genutzt habe, um nachzufragen, was die Jüngeren denn z.B. über die sogenannte »Reichskristallnacht« wüssten. Die Antworten seien ernüchternd gewesen: »Ihr Politiker macht doch immer dieselben Sprüche: ›Wir entschuldigen uns‹, ›wir schämen uns‹ – das ist doch alles, was Ihr dazu zu sagen habt« (ebd.). Besonders beeindruckt zeigte er sich von einer Begegnung mit einer jungen Geschichtsstudentin, die das Problem ihrer Generation in Bezug auf die Geschichte des Dritten Reiches ganz privat so zugespitzt habe: »Mein Großvater, bei dem ich aufgewachsen bin, ist leider nach meinem 16. Geburtstag gestorben. Nach seinem Tode erfuhr ich, daß er Nazi war. Er war Landgerichtsdirektor und hatte 1938 Juden verurteilt. Aber ich habe ihn als großartigen, als frommen Menschen, als klugen und einfühlsamen Menschen kennengelernt. Jetzt sagen Sie mir mal – mir hat bis jetzt noch niemand eine Antwort darauf gegeben – Warum ist mein Großvater Nazi geworden? Was hat ihn dazu bewegt? Alle waren bisher zu feige, mir darauf eine Antwort zu geben« (ebd., S. 439f.). 99 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Diese Geschichte vom bösen Nazi, der zugleich ein wunderbarer Großvater gewesen war, hat Jenninger nicht mehr losgelassen: Diesen Zwiespalt aufzuklären, sei das »Hauptmotiv« seiner Rede gewesen. Er habe, dem Wunsch seiner jungen Gesprächspartner folgend, damit die Absicht verfolgt, »ein Zeichen zu setzen, mich mutig zu den Vorgängen zu äußern, nicht nur sich zu entschuldigen und sich zu schämen, sondern das Thema, wie es zu Hitler kam, einfach einmal anzupacken. […] Die nachfolgende Generation will einfach wissen, ob ihre Vorfahren damals alle unzurechnungsfähig waren […].«

Und dann zitierte er das ungelöste Rätsel, das die meisten seiner jungen Gesprächspartner ihm mitgegeben hatten: »Die Grundfrage war: ›Warum hat mein Vater damals »Heil Hitler« geschrien?‹« Und Jenninger fügte dem einen bemerkenswerten Satz hinzu: »Das hat auch mich damals bewegt« (ebd., S. 444). »Damals«, war das die Zeit im Dritten Reich, als er noch ein Halbwüchsiger gewesen war oder bezog sich das doch eher auf die Zeit unmittelbar nach dem Krieg? Oder auf noch später, als in den 60er Jahren mit dem Eichmann-Prozess und dem Frankfurter Auschwitzprozess die Frage nach den Tätern für die Deutschen erstmals in die Schlagzeilen geriet? Oder meinte »damals« vielleicht erst die Zeit, als das Fernsehen mit der Ausstrahlung der Holocaust-Serie das Thema der Schuld am Judenmord in die deutschen Wohnzimmer trug? Wie immer die Antwort ausfällt – der Satz belegt, dass die Fragen der Schüler und Studenten auch an Fragen gerührt hatten, die für den 1932 geborenen Jenninger bisher unbeantwortet geblieben waren. Seine Rede gab also auch Auskunft über sein eigenes Leben als Heranwachsender in der Nazizeit und darüber, was er als Erbe aus dieser Zeit mitgenommen, aber vielleicht noch gar nicht angenommen hatte. Um den Verdacht zu entkräften, seine Formulierung vom »Faszinosum« der Erfolge Hitlers für die Zeitgenossen entspräche seinem heutigen Verständnis, war von ihm schon in seiner Rücktrittserklärung im November 1988 auf die für ihn prägenden Erfahrungen seiner Eltern mit dem NS-Regime hingewiesen worden – »sie seien gegen die Diktatur eingestellt [gewesen] und [hätten] dafür Nachteile in Kauf« genommen.211 Aber umfassendere Auskunft über diese Zeit hat er erst in einem Gespräch im Februar 2014 gegeben. Befragt nach dem Elternhaus und dessen Verortung in den Jahren 1933 bis 1945 hat er geantwortet, seine Familie sei in politischer Hinsicht »gemischt« gewesen. Während der Vater, als Buchdruckermeister und Schriftsetzer in einem katholischen Verlag in Ellwangen angestellt, vor 1933 die katholische Zentrumspartei gewählt habe und »ein Gegner des Nationalsozialismus« gewesen sei, hätten seine Brüder »etwas anders gedacht« (Interview Jenninger 2014). Zwei davon, der eine Jahrgang 1919, der andere 1921 geboren, waren als Jugendliche 211 FR, 12.11.1988; Das Parlament, 25.11.1988. 100 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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in den Erfolgsjahren des Dritten Reiches aufgewachsen und hatten später als Major und als Hauptmann der Wehrmacht Karriere gemacht: »Wenn die nach Hause in Urlaub kamen, haben sie stolz von ihren Taten berichtet. Mein Vater hat dann immer gesagt: ›Hört doch auf, so vom Krieg zu reden. Was da passiert, das ist ein Elend für unser Volk‹. Die beiden haben dann nur geantwortet: ›Ach, Du hast doch keine Ahnung davon‹. Ich habe mich natürlich auf die Seite meiner Brüder gestellt. Das waren für mich Helden. Der Ältere hatte in Griechenland wegen der Eroberung einer Insel das Ritterkreuz bekommen, der Andere war bei Rommels Afrikakorps. Beide sind aber auch an der Ostfront im Einsatz gewesen« (ebd.).

Die beiden Offiziere repräsentierten für den neun- oder zehnjährigen Buben die Lichtseite seiner Jugend, auf die mit der distanzierenden Bemerkung des Vaters natürlich ein Schatten fiel. Der Schatten war größer geworden und hatte gegen Ende alle Heldentaten und Ehrenzeichen verschlungen: »Meine beiden anderen Brüder waren Jahrgang 1924 und 1927. Sie sind Ende 1944 innerhalb von 14 Tagen gefallen. Die Mitteilung über ihren Tod kam im Abstand von zwei Tagen. Der eine war 19, der andere 17 Jahre alt. Ich habe mit meinen Schwestern tagelang nur geheult.«

Den 17-Jährigen habe man in die SS einberufen, weil es in Ellwangen eine Kaserne der Waffen-SS gegeben habe, sich dort freiwillig zu melden. Aber das sei vom Vater abgelehnt worden, und der Bruder habe sich dann freiwillig zu den Fallschirmjägern gemeldet. In Italien sei er mit andern jungen Soldaten, als sie einen Munitionszug bewachten, bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen. Der andere Bruder sei in der Sowjetunion gefallen. Damals muss für den jungen Jenninger eine Welt zusammengebrochen sein. Inneren Halt gab ihm jemand, der aus der alten, für die meisten Deutschen längst untergegangenen Vor-Hitler-Welt kam – der Vater: »Als die Nachricht von dem Tod meiner jüngeren Brüder kam, waren wir Geschwister völlig verzweifelt. Ich habe am lautesten geheult, weil die beiden meine Lieblingsbrüder gewesen waren. Da kam mein Vater und hat zu mir gesagt: ›Junge, hör doch auf mit dem Heulen. Das nützt Deinen Brüdern nicht mehr. Aber wenn Du einmal mithelfen kannst, dass so ein blöder, irrsinniger Krieg nicht mehr stattfinden kann, dann werden sie sich im Himmel darüber freuen‹. Diese Worte haben mich damals sehr beeindruckt. […] Und durch diese ganzen Vorgänge bin ich für mein ganzes Leben geprägt worden« (ebd.).

Der Tod der beiden Lieblingsbrüder hatte natürlich nicht die Faszination, die von Adolf Hitler und dem neuen, nationalsozialistischen Deutschland ausging und die er 101 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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in seiner eigenen Familie, in Person seiner beiden älteren Brüder, wie in der Welt da draußen, in seinem Dorf Rindelbach und in der benachbarten Kleinstadt Ellwangen, erlebt hatte, ausgelöscht. Durch diese private Katastrophe war das Bild nur in einen dunklen Rahmen eingepasst worden. Das war die Spannung gewesen, die Jenninger wie Millionen andere seines Alters ein Leben lang verfolgt hatte – die Irritation, die von der Gleichzeitigkeit einer hellen und dunklen Seite des Nationalsozialismus ausging, Terror und Hoffnung (vgl. Beck et al. 1980). Die Frage, warum so viele Menschen damals Hitler gefolgt waren und das Ergebnis nur unzählige Verbrechen mit Hekatomben von Toten gewesen war. Wäre Philipp Jenninger wegen seiner Rede, die so viele Tabus gebrochen hatte, nicht damals schon binnen Stunden aus seinem Amt vertrieben worden, dann hätte er eine Debatte mit immens produktiven Folgen für den Umgang der Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit ausgelöst. Und dann wäre all das, was er in den beiden Interviews erst so spät erzählt hat, schon damals mitgeteilt worden. Das hätte für viele Menschen ein Anstoß sein können, über ihre eigene Geschichte zu reden. So kam das alles mit Verzögerung zehn Jahre später – als Sturm, den die Wehrmachtsausstellung, das Buch von Daniel J. Goldhagen, die Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin und, als Reaktion darauf, Martin Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche 1998 ausgelöst haben.

Die Wehrmachtsausstellung Wer die Geschichte des Erfolges wie des Scheiterns der Ausstellung verstehen will, muss die Art und Weise rekapitulieren, wie die Deutschen in der Bundesrepublik mit der Zeit des Nationalsozialismus umgegangen sind und welche Bedeutung dabei der Wehrmacht zukam. Schon 1945 hatten sechs führende deutsche Feldmarschälle und Generäle, darunter der ehemalige Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, und der fähigste der Armeeführer, Erich von Manstein, die Umrisse eines Bildes entworfen, das im öffentlichen Bewusstsein fast fünfzig Jahre Bestand haben sollte. In einer Denkschrift für den Nürnberger Prozess hatten sie festgestellt: ➣➣ dass das Verhältnis der Wehrmacht zur Partei wie zu Hitler stets kühl und distanziert gewesen sei; ➣➣ dass man vor dem Krieg die Judenverfolgung als der deutschen Nation unwürdig abgelehnt, im Krieg aber weder Einfluss auf das Tun der SS gehabt, noch davon erfahren habe; ➣➣ dass die Generalität den Krieg gegen die Sowjetunion als dem deutschen Volk aufgezwungenen Präventivkrieg akzeptiert habe; Hitlers Absicht aber, dort einen Rassen- und Vernichtungskrieg zu führen, sei man nicht gefolgt: der Feldzug 102 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sei ritterlich nach den Regeln des Völkerrechts geführt worden – weitestgehend auch gegen Stalins Partisanenbanden und ihren grausamen Terror.212 Telford Taylor, einer der amerikanischen Anklagevertreter im ersten Nürnberger Verfahren und Hauptankläger in den Folgeprozessen, erkannte in diesem Vorgang schon damals »die ersten Keime der Mythen und Legenden«, mit denen die geschlagenen Generäle ihre Spur zu verwischen suchten (Taylor, 1994, S. 613). Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass die Erinnerung »in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten« sei (Halbwachs 1967, S. 55, 31, 74). Obwohl jede Erinnerung zunächst nur als individuelle vorgestellt werden könne, sei sie doch von Beginn an geprägt durch ein »kollektives Gedächtnis«, durch das Aufwachsen in den Erinnerungsräumen und -bildern der Familie, durch das sie umgebende überpersönliche Geflecht von Kultur und Geschichte, vor allem aber durch die feste Zugehörigkeit zu Gruppen. Sie würden konstituiert durch vorgegebene Affinitäten – solche des Alters, des Berufs, der Erlebnisse, – aber am Leben gehalten durch ihr gemeinsames Gedächtnis. Es allein vermöge einer Gruppe zu zeigen, »daß sie dieselbe geblieben ist«, und ermögliche ihr deshalb, sich ihrer »Identität bewußt« zu werden (ebd., S. 31, 74). Im Beschweigen der allen bekannten Verbrechen und im Umdeuten der eigenen Geschichte hat das Kollektiv der Deutschen nach 1945 versucht, sich der Kontinuität zu versichern und sich zugleich eine Identität zu schaffen, die den Normen der Jetztzeit entsprach und ein positives Selbstbild garantierte. Dieser Prozess der Selbstverständigung der NS-Generation konnte zum Selbstbild, zur kollektiven Erinnerung eines ganzen Volkes werden, weil er durch die Filme und Illustrierten der 1950er Jahre, durch die Memoirenliteratur der Generäle oder Erlebnisberichte im Stile von Peter Bamm (Bamm 1952/1989), vor allem aber durch die »Vergangenheitspolitik« Adenauers und aller im Bundestag vertretenen Parteien massiv unterstützt und offiziell legitimiert wurde: durch die Amnestierung und Integration fast aller Funktionsträger des Naziregimes, durch die Beendigung der Entnazifizierung, durch die mit einer Kampagne erzwungene Freilassung der inhaftierten Kriegsverbrecher und schließlich durch die von US-Präsident Eisenhower – mit Hinweis auf die gewünschte deutsche Wiederbewaffnung – erpresste öffentliche Ehrenerklärung für die Wehrmacht (Frei 1996).213 Der Kalte Krieg und die Staatsdoktrin des Antikommunismus taten ein Übriges, den Verbrechen der Wehrmacht in Polen, in der Sowjetunion und auf dem Balkan im Nachhinein sogar den Anschein von Berechtigung zu verleihen. Insgesamt wurden die Spuren der Nazizeit und ihrer Verbrechen so gründlich verwischt und ausradiert, dass der 212 Staatsarchiv Nürnberg, PS–3798; vgl. Messerschmidt 1995. 213 Zum Problem der Kontinuität Wehrmacht/Bundeswehr vgl. Wette 2001 und Giordano 2000. 103 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Eindruck entstehen konnte, Nazis und Nationalsozialismus habe es in Deutschland nie gegeben. Nur für die Verbrechen an den Juden wurde von der Bundesrepublik – als Rechtsnachfolger des NS-Staates – eine Gesamthaftung übernommen: das »Unrecht«, das nach offizieller Lesart nur »in deutschem Namen« geschehen war, wurde mit Banküberweisungen an den Staat Israel »abgegolten«. Der einzelne Deutsche hatte mit dem einen wie mit dem anderen nichts zu tun. Dieses nationale Geschichtsbild wurde von der Studentenbewegung 1967/68 mit Vehemenz infrage gestellt und – unterstützt durch den Prozess gegen Eichmann in Jerusalem und den Frankfurter Auschwitz-Prozess – in seinem Kern zerstört. Hatten die Väter und Mütter der rebellierenden Studierenden ihre Nachkriegsidentität durch Auslöschung der Nazizeit und deren Ausschluss aus der Erinnerung gewonnen, so begründeten ihre Söhne und Töchter eine neue Identität, indem sie die Verbrechen des Dritten Reiches zum Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte erklärten und die Kritik daran zur unverzichtbaren Bedingung für das Entstehen einer demokratischen Kultur in Deutschland machten. Mit der Frage nach der Rolle der eigenen Familie in der Nazi-Zeit wurden die Normen einer universalistischen Moral zum gültigen Maßstab des eigenen Lebens gemacht und zugleich in die deutsche Geschichte zurückgeholt. Damit wurde die sogenannte zweite Generation fähig, »sich von der mentalen Erblast des Beschwiegenen zu befreien und sich zugleich von der Tätergeneration zu distanzieren« (Rüsen 2001, S. 293). Willy Brandt hat mit seinem Kniefall am Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes diese neue Haltung im Umgang mit der deutschen Vergangenheit ausdrucksstark bestätigt. Mit seiner neuen Ostpolitik, die »an die Wurzel des deutschen Unheils, das 1933 bei Hitler lag«, erinnerte und von der Prämisse ausging, »daß die Teilung Deutschlands das durch Deutsche selbstverschuldete […] Urteil der Geschichte darstellte«, wurde dem Selbstbild der Deutschen, die sich bisher vor allem als Opfer des Nationalsozialismus gesehen hatten, zumindest die Dimension einer Mittäterschaft hinzugefügt (Wolfrum 1999, S. 68f.). Während der Judenmord aufgrund der Kulturrevolution von 1968, der neuen Ostpolitik und der amerikanischen TV-Serie »Holocaust« endlich seinen Ort in der deutschen Geschichte fand und die Erinnerung daran zum fixen Bestandteil des Bildungswesens, zum Gegenstand der Literatur und zum Zentrum einer offiziellen Gedenkkultur wurde, blieb der Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht als zweites deutsches Jahrhundertverbrechen weiterhin tabuisiert. Nachdem über Jahrzehnte eine weitgehend apologetische, von den Memoiren der ehemaligen Generäle dominierte Literatur vorgeherrscht hatte, wurden – nach einem kritischen Anlauf Ende der sechziger Jahre (vgl. Jacobsen 1967; K.-J. Müller 1969; Messerschmidt 1969) – erst zehn Jahre später eine kritische Militärgeschichtsschreibung etabliert, die mit wegweisenden Studien die Umrisse des Vernichtungskrieges und der Rolle der Wehrmacht als dessen Motor deutlich herausarbeitete (vgl. Streit 1978; Krausnick 1981; Militärgeschicht104 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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liches Forschungsamt 1979, 1983, 1984, 1988, 1990; Ueberschär/Wette 1984).214 Aber diese Beiträge haben das in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrschende Bild von der »sauberen Wehrmacht« nicht verändert. Auch die sorgfältige von Reinhard Rürup und Peter Jahn konzipierte und 1991 in der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors gezeigte Dokumentation »Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945« (vgl. Rürup 1991) und wichtige populärwissenschaftliche Arbeiten bedeuteten keine Zäsur (vgl. Klee/Dreßen 1989; P. Kohl 1990). Erst die Wehrmachtsausstellung von 1995 hat, um ein Bild von Ute Frevert zu gebrauchen, »die Erinnerungslandschaft des Krieges von Grund auf [umgepflügt]« (A. Assmann/Frevert 1999, S. 281).215 Sie hat nicht nur das offizielle Geschichtsbild, das in den Taten der Wehrmacht immer noch einen Rest von Sinn und einen Ansatzpunkt für Tradition erblicken wollte, mit der Wahrheit konfrontiert, sie hat auch die individuelle Erinnerung der ehemaligen Soldaten und das kollektive Gedächtnis der gesamten NS-Generation infrage gestellt und gezeigt, dass ihre Artikulationen identitätsstiftende und identitätsschützende Lebenslügen waren. Angesichts dieser bedrohlichen Lage war es keine Überraschung, dass sich die betroffene Generation, zumeist Angehörige der im Ersten Weltkrieg geborenen Jahrgänge, mit Empörung zu Wort meldete. Nachdem die völlig unbekannten Sprecher oder Gutachter dubioser Soldaten- und Traditionsverbände der ehemaligen Deutschen Wehrmacht mit ihren Protesten nicht durchgedrungen waren (vgl. oben S. 39), übernahmen prominentere Vertreter die Verteidigung. Rüdiger Proske, Jahrgang 1916 und im Krieg als Offizier der Luftwaffe über England abgeschossen, hatte sich nach Krieg und Gefangenschaft als ehemaliger Chefredakteur des NDR-Fernsehens und Mitbegründer des Magazins »Panorama« große Verdienste erworben. Jetzt »entlarvte« er in einer vielfach aufgelegten Broschüre die Initiatoren und Autoren der Ausstellung als »Altkommunisten und Spät-68er«, die mit Unterstützung der »Roten Zelle des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes« die sich abzeichnende Rehabilitierung der Wehrmacht zu stoppen und damit auch die Bundeswehr als deren Nachfolgeorganisation zu diffamieren versuchten (Proske 1996). Wahrscheinlich, so legte er in einem Zeitungsinterview nach, habe die Ausstellung ja »ein Schüler von Goebbels« ersonnen: »Damals haben die rechten Radikalen die Juden verfolgt; und jetzt verfolgen die linken Radikalen die Wehrmacht.«216 Auch der ehemalige 214 In der DDR hatten seit Anfang der siebziger Jahre Dietrich Eichholtz, Klaus Geßner, Norbert Müller, Kurt Pätzold u. a. fundierte wehrmachtskritische Untersuchungen vorgelegt, die aber in der Bundesrepublik nicht wahrgenommen wurden. 215 Mit einem ähnlichen Bild hat Bernard-Henri Lévy die Auswirkungen der Ausstellung in einer großen Reportage in Le Monde beschrieben: »Ein stilles Erdbeben, das die Landschaft umgewandelt hat, den Wust weggeräumt hat an Mythen, Ungesagtem, mannigfachen Lügen, die das Gedächtnis Deutschlands verstopften« (Bernard-Henri Lévy, Le Monde, 07./08.02.1999). 216 Rüdiger Proske, Interview, Bremer Nachrichten, 20.11.1996. 105 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Bundeskanzler Helmut Schmidt, Jahrgang 1918 und wie Proske damals Offizier der Luftwaffe, erklärte die Ausstellung zum Werk der 68er-Generation: »Ich sehe die alle vor mir, die großen Widerstandskämpfer der Studenten von 1968, ich sehe sie alle mit ihrer großen persönlichen Tapferkeit vor mir«.217 Und um seine Position gegenüber den Vertretern dieser Generation und deren Anti-Wehrmachtsagitation deutlich zu machen, wurde er später, als die Ausstellung praktisch zu einer permanenten geworden war, auch persönlich: »Es gibt Leute, die einen gewissen autosuggestiven Masochismus gegenüber dem eigenen Land für ihre Aufgaben halten. Dazu gehört Hannes Heer, dazu gehört Jan Philipp Reemtsma.«218 Eine unüberhörbare Stimme war auch die von Alfred Dregger, Jahrgang 1920, ehemals Hauptmann in der Wehrmacht, jetzt prominenter Bundestagabgeordneter der CDU und Ehrenvorsitzender ihrer Fraktion: Für ihn war die Ausstellung, abgesehen davon, dass sie eine »negative Auswirkung auf unsere Bundeswehr« haben werde, »eine besonders heimtückische Schmähung, die unser Volk im Kern treffen soll und die Generationen gegeneinander aufhetzen will.«219 So irrwitzig die unterstellten Zielsetzungen der Ausstellung und deren Verantwortlichen waren, so richtig war die Beobachtung dieser ehemaligen Wehrmachtsoffiziere, dass die Initiatoren der Ausstellung – Jan Philipp Reemtsma, Bernd Greiner und Klaus Naumann – wie deren spätere Autoren Bernd Boll, Hannes Heer, Walter Manoschek und Hans Safrian alle zwischen 1941 und 1957 geboren waren und damit ebenso zur »zweiten Generation« gehörten wie vom Epochenumbruch der 1960er Jahre und dessen Folgen geprägt worden waren.220 Hannes Heer, der Leiter der Ausstellung, war allerdings der einzige, der in der Studentenbewegung seit 1965 als SDS-Gründer und -Vorsitzender an der Universität Bonn aktiv gewesen und nach seinem Staatsexamen 1968 mit Berufsverbot belegt worden war. Proske hatte übrigens auch Recht, als er das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Ausstellung erwähnte. Es handelte sich dabei allerdings nicht, wie er im Banne mannigfacher Verschwörungsfantasien behauptet hatte, um eine »Rote Zelle«, sondern um die vom wissenschaftlichen Leiter des Amtes, Professor Dr. Manfred Messerschmidt, angeführte Forschergruppe, die zwischen 1979 und 1990 die ersten fünf Bände ihres zehnbändigen Editionsprojektes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg publiziert hatte. Dieses Forschungsvorhaben war nicht nur die Geburtsstunde einer erstmals in der deutschen Geschichte kritischen Militärgeschichte, sondern erregte auch international allergrößtes Aufsehen. Abgesehen von Manfred Messerschmidt, der als Angehöriger des Jahrgangs 1926 noch Soldat gewesen war, gehörten die 217 218 219 220

Helmut Schmidt, Interview, Welt am Sonntag, 18.02.1996. Helmut Schmidt, Interview, SZ, 23.12.1998. Alfred Dregger, Fuldaer Zeitung, 02.07.1997. Heer Jg. 1941, Naumann 1949, Boll 1951, Greiner, Reemtsma und Safrian 1952, Manoschek 1957.

106 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Mitarbeiter, mit denen die Ausstellungsmacher kooperierten – Jürgen Förster, RolfDieter Müller, Gerhard Schreiber, Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette – alle zu deren Generation. Das galt auch für Christian Streit, der mit seiner 1978 publizierten Studie zum Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen die erste Untersuchung in der Bundesrepublik zu den Verbrechen der Wehrmacht vorgelegt hatte und in den Publikationen wie bei den Veranstaltungen zur Ausstellung vertreten war. Wenn eine zentrale Zielsetzung der 68er-Kulturrevolution der Aufstand gegen das Schweigen der Nazi-Generation und deren ungebrochene Macht in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien, Polizei und Bundeswehr gewesen war, dann könnte man die Ausstellung mit Fug und Recht das kollektive Produkt der nachgeborenen »zweiten« Generation nennen: Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, sich den Verbrechen der Nazi-Zeit zu stellen und die im Bereich der Wehrmacht dafür verantwortlichen Planer und Vollstrecker wissenschaftlich zu überführen. Die Ausstellung tat dies aber nicht als pauschale und rechthaberische Anklage gegen »die Wehrmacht«, sondern sie ließ auch diejenigen an prominenter Stelle zu Wort kommen, die damals eingezogen und als Soldaten eingesetzt worden waren – als Eröffnungsredner der Ausstellung an einer der 34 Stationen. Fast ein Drittel dieser Redner waren ehemalige Wehrmachtssoldaten der Jahrgänge 1910 bis 1926, darunter Offiziere wie Klaus von Bismarck, August Graf von Kageneck, Christian Krause, Iring Fetscher und Ludwig von Friedeburg oder einfache Dienstgrade wie Erich Kuby, Wolfgang Rohner-Radegast, Diether Posser, Erhard Eppler und Hans Jochen Vogel. Zwei weitere Redner – Winfried Vogel und Hubertus Trauttenberg – waren Generäle der Bundeswehr bzw. des österreichischen Bundesheeres und kannten die von der Großdeutschen Wehrmacht abgeleiteten Traditionen in diesen Institutionen. Ein weiteres Drittel der Eröffnungsredner repräsentierte die Gruppe der Opfer – Juden wie Johannes Mario Simmel, Imre Kertész, Ivan Nagel, Avi Primor, Andrei Markovits, Ignatz Bubis, Michel Friedman oder verfolgte Polen wie Wladislaw Bartoszewski, Andrzej Szczypiorski oder die Weißrussin Anna Krassnopjorka. Das letzte Drittel wurde von Rednern gestellt, die die Nazizeit als zwischen 1931 und 1938 geborene Heranwachsende erlebt hatten wie Johannes Rau, Jutta Limbach, Franz Vranitzky, Heinz Fischer, Friedrich Kahlenberg221. Alle diese Personen, gleich ob sie Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Generäle, Juristen oder etwas anderes geworden waren, sprachen von ihrem Leben und von dem, was sie um sich herum beobachtet und erfahren hatten – in der Vor-Hitler-Zeit und nach der Machtübernahme, in Krieg und Nachkrieg. Dadurch wurde schon während der Eröffnungsveranstaltungen ein Gespräch in Gang gesetzt zwischen den Generationen der Eltern und Kinder ebenso wie zwischen den Gruppen der Täter und Opfer. Das war etwas, was die 68er – trotz guter Absichten mit untauglichen Mitteln – nicht zustande gebracht hatten. Es war 221 Teile dieser Reden sind abgedruckt in: Hamburger Institut für Sozialforschung 1998. 107 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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jetzt möglich, weil der historiografische Tatsachenbefund der Ausstellung und die Zeitzeugenschaft mit ihren vielfältigen und subjektiven Perspektiven ein solches Gespräch förmlich verlangten. Die Ausstellung, einmal eröffnet, setzte diesen Dialog fort – in 34 Städten und ununterbrochen während vier Jahren. Sie hat das nicht mit Leichenbergen, medialen Effekten oder einer Kontinuitätsdebatte erreicht, sondern indem sie den Krieg gegen die Sowjetunion als die Stunde eins des Holocaust vorgeführt, die beteiligten Einheiten benannt und den Tätern ein Gesicht verliehen hat: mithilfe der Fotos, die diese selbst von ihren Taten hinterlassen haben. Sie hat – im Ausschnitt des Krieges – die Geschichte der Nazizeit als Familiengeschichte inszeniert und so ganz nahe gerückt. Der Besuch der Ausstellung glich dem Blättern in einem imaginären Fotoalbum. Und die Eintragungen in die ausliegenden Besucherbücher verwandelten diese in ein öffentliches Tagebuch.222 »Ich danke für die erschütternde Ausstellung. Selbst habe ich vieles mitgemacht u. gesehen u. erlebt. Mössner Rudolf, Neuköllnerstr. 17, 71229 Leonberg.« »Es stimmt alles. War vom ersten bis zum letzten Kriegstag dabei.« »Es war so! Ich war dabei!« »War selbst zwei Jahre an der Front in Rußland und kann die hier gezeigten Dokumente aus eigener Anschauung bestätigen.« »Leider, leider, es war so!« »Ich war leider dabei.« »Spät, aber bitter nötig.« »Recht so! Weiterhin Mut und Rückgrat zu Veröffentlichung und Diskussion. […] Heinz Schneider, ehem. 29. Pz. Gren. Div. Stalingrad/Italien.« »Danke den gefallenen Alliierten, die uns befreit haben. Wir können nicht vergessen. Bin Jahrgang 1926.« »Die Bilder wecken Erinnerung an die grausame Zeit, die ich als 17-jähriger Soldat erleben musste.«

222 Die folgenden Zitate stammen aus den Gästebüchern der Ausstellung; die Originale sind im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung einzusehen. 108 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Sätze brachen aus den alten Soldaten heraus, als ob etwas in ihrem Innern explodiert sei. Ausrufezeichen und Unterstreichung zeigten den Stärkegrad der Erregung. Die Angabe der Adresse, der Einheit und vor allem des Jahrgangs sollten die Aussage nachprüfbar, zur historischen Quelle machen. Bekundet wurde Dank – dass die Erinnerung endlich ihren Ausdruck gefunden hatte, dass die eigenen Alpträume auf den Tafeln der Ausstellung gebannt waren, dass die später Geborenen und die Nichtsoldaten verstanden, was man erlebt und jahrzehntelang mitgeschleppt hatte, dass man endlich die Bürde teilen konnte, dass der Krieg vielleicht jetzt zu seinem Ende kommen würde. Nur ganz wenige setzten sich dem Strudel dieser Erinnerung noch einmal aus und zeigten öffentlich vor, was er zutage förderte: »Ich habe mich erinnert an meine Soldatenzeit beim Krieg gegen die UdSSR 1941.22.6. Ich war Kradmelder eines Nachrichtenzuges im Stab einer Panzerjäger-Abt. in der 87. Inf. Division. In Bobruisk hatte ich von Kameraden gehört, daß die 4. Kompanie ein Waldgelände absperren mußte, weil dort, von SD u. SS, Menschen erschossen wurden. S. W. (87 J. alt)« »Ja, so war es. Teilweise war ich Zeitzeuge im Jugoslawienkrieg. Ich bin stark erregt von den Erinnerungen. Man wußte es! Es gab Absprachen zwischen Wehrmacht und braunen Mordkommandos, auch, wenn man sich nicht wohl fühlte dabei. Es ist auch wahr, daß Wehrmachtssoldaten bei Mordtaten Absperrungen vorgenommen haben – und vereinzelt mitmachten. Es war aber auch zu spüren, was bei den Zeugen an seelischen Schäden blieb. Heinrich Gellermann« »Mein furchtbarstes Erlebnis hatte ich etwa August 1942 im [ukrainischen] Mariupol: Um 18 h, von 24 Stund. Wache abgelöst, hörte ich, an diesem Tage seien im ehemal. Kasernengelände am anderen Stadtende 5–7.000 Juden von SS-Leuten ›liquidiert‹ d. h. ermordet worden. Konnte solch Verbrechen wahr sein? – Ich ging und stand dann vor den langen Massengräbern mit den grad dürftig zugeschaufelten Leichen. Im Soldatenheim aber grölten und soffen die Massenmörder Bier und Schnaps aus Wassereimern!! Ekel und Grauen erfaßten mich. Ich konnte nur noch sagen: ›Wenn dieses Blut über uns kommt, dann gnade uns Gott‹ – Dort gelobte ich alles zu tun, daß solche Verbrechen nicht mehr vorkommen dürfen. [unleserliche Unterschrift] 70839«

Solche Berichte sind Vermächtnisse – mit Unterschrift und Postleitzahl: Ich habe gesehen, und ich zeuge davon. Nicht alle Eintragungen wählten diese feierliche Form. Sie gaben Erlebtes zu Protokoll, sachlich und möglichst präzise, Fakten in Ergänzung zur Ausstellung. 109 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Und diese Männer machten sich den Prozess, in dem sie Ankläger und Richter zugleich waren: »Welche Schuld haben auch wir ehemaligen Wehrmachtssoldaten (I.R. 110) auf uns geladen. Mich überkommt Scham.« »Ich schäme mich. Wie können wir einem Russen nochmal in die Augen schauen.« »Für mich grenzt es an ein Wunder, daß angesichts der Verbrechen gegen Unschuldige heute wieder Juden mit uns reden und Freundschaften entstehen.« »Ich war als Soldat dabei. Ich hatte Glück, wurde nicht zu einem Verbrechen kommandiert. aber wir dienten alle einem verbrecherischen Regime.« »Als ehemaliger Adolf-Hitler-Schüler und Soldat der Waffen-SS ( Jahrgang 1927 – schwerkriegsbeschädigt) schäme ich mich für das, was geschehen ist.«

Dieses Bekenntnis der Schuld und die Bekundung von Scham konnte auch eine andere Form annehmen. Dann erschien die individuelle Gewissensregung transformiert in einen Akt kollektiver Katharsis: »Gut, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.« »Nur die ganze Wahrheit wird uns freimachen!«

Oder die subjektive Erfahrung der ehemaligen Soldaten expandierte zum generationenübergreifenden Appell: »Die Ausstellung ist eine historische Notwendigkeit für unsere Kinder und Enkel.« »Möge diese Ausstellung eine Abschreckung für die junge Generation sein.« »Kein Jugendlicher sollte diese Ausstellung versäumen.«

Was das Ziel einer solchen Beschäftigung mit der Vergangenheit sein könnte, darüber ließen die ehemaligen Soldaten keine Zweifel aufkommen: jede Form einer totalitären Herrschaft zu verhindern und den Schrecken Krieg aus der deutschen Geschichte ein für allemal zu verbannen. Alle diese Versuche, dem eigenen Scheitern und dem Erlebnis des Grauens nachträglich einen Sinn abzugewinnen, waren nur zu verständlich. Sie erfolgten, um die sperrigen Lebensteile aus einer vergangenen Zeit in das Selbstbild 110 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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von heute zu integrieren und eine Brücke zu schlagen zu den Kindern und Enkeln, denen man das nicht erzählt oder bestenfalls in Andeutungen gestanden hatte. So, wie es oft leichter fällt, Außenstehenden ein Familiengeheimnis anzuvertrauen, so erleichterte das öffentliche Tagebuch und die Anteilnahme wildfremder Besucher das Reden. Natürlich reagierten die wenigsten Besucher aus der älteren Generation in dieser Weise: Die meisten schwiegen, die anderen wehrten sich empört gegen die Fakten und verteidigten das geschönte Bild, leugneten, etwas gewusst zu haben oder gar beteiligt gewesen zu sein.223 Aber auch sie trugen mit ihrer öffentlich gezeigten Betroffenheit wie mit den lautstarken Einsprüchen dazu bei, das jahrzehntelange Schweigen endlich zu brechen. Für die Nachgeborenen wurde die Ausstellung deshalb zum Ereignis. »Vor allem die jüngere und mittlere Generation, die die Ausstellung besuchte, zeigte sich erschüttert. Ihre Erschütterung hing, läßt sich vermuten, nicht zuletzt damit zusammen, daß das Gesehene die unsichtbare, aber gleichwohl markante Grenze zwischen der öffentlichen und der privaten Erinnerung an das ›Dritte Reich‹ niederriß. Die Wehrmachts-Ausstellung rührte folglich, gerade auch wegen ihrer ›privaten‹ Exponate, an Gefühle, Solidaritäten und Generationenverträge, die von den Ausdrucksformen des kollektiven Gedächtnisses bislang teils gestützt, teils nicht tangiert worden waren. Gerade weil sie Gefühle hervorrief und persönliche Erinnerungen weckte, setzte sie, wie die Einträge in den Besucherbüchern zeigen, Reflexionen frei, die weit über das sonst übliche und bei offiziellen Gedenkanlässen beobachtbare Maß hinausgingen. Anders als bei den Debatten um das Holocaust-Mahnmal, die die Grenzen der professionellen Gedächtniswahrer kaum überschritten, erzwang sie noch einmal jene ›Intimisierung‹ der Auseinandersetzung mit dem NS, die erstmals im Anschluß an die TV-Serie ›Holocaust‹ 1978/79 stattgefunden hatte« (A. Assmann/Frevert 1999, S. 279f.).

»Vater, wo warst Du?«, wurde die am häufigsten wiederholte und immer wieder variierte Eintragung in den Besucherbüchern, die in der Ausstellung auslagen. Und die Antwort von wildfremden Vätern oder Großvätern folgte: als Bekenntnis der Schuld, als Bitte um Verständnis, als Verleugnung, als Angriff. Auf diese Weise wurde – wie verworren, wuterfüllt, tränenerstickt auch immer – etwas wieder in Gang gesetzt, was mit dem Ende der Nazizeit abgerissen und unterbrochen worden war: der Dialog der Generationen. Und weil die Soldaten unter den Galgen oder am Rand der Massengräber auf einmal vertraute Gesichter hatten, Namen, die Liebe und Respekt verdienten, wurde es in vielen Fällen möglich – in kritischer Distanz zu den Taten – 223 Ich habe eine erste Auswertung der bis Ende 1998 vorliegenden Gästebücher der Ausstellung vorgenommen (vgl. Heer 1999a, S.  180–221; Hamburger Institut für Sozialforschung 1998a; Beckermann 1996). 111 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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den »genealogischen Zusammenhang mit den Tätern« dennoch zu akzeptieren (Rüsen 2001, S. 295). Der Raum für einen solchen Prozess war durch andere, fast zeitgleich entstandene und stattfindende Debatten mit geschaffen worden (Wiegel 2001, S. 207–228). Den Anfang machte ein Film, mit dem Steven Spielberg 1993 die Weltöffentlichkeit überrascht hatte – Schindlers Liste. In Deutschland zerstörte die Geschichte des Hasardeurs Oskar Schindler gleich zwei Lügen: dass es für den normalen Deutschen im totalitären Zwangsstaat keinen Spielraum für anständiges und menschliches Verhalten gegeben hätte und, dass man unter Widerstand nur die große, heroische, meist unter dem Fallbeil geendete Tat, wie sie modellhaft am 20. Juli 1944 vorgeführt worden war, zu verstehen habe. Plötzlich wurden im Alltag der Barbarei Handlungsspielräume sichtbar und die ewige Litanei vom Befehlsnotstand wurde unterbrochen von der unüberhörbaren Stimme des Gewissens, die da fragte »Und was hast Du getan?« Es gab Tränen in den Lichtspielhäusern und eine Flut von Artikeln in den Feuilletons. Im gleichen Jahr erschien das Buch von Christopher Browning Ganz normale Männer. Der Autor zeigte am Beispiel einer Polizeieinheit die fast uneingeschränkte Bereitschaft »normaler« Polizeibeamter zum Massenmord an mindestens 70.000 Menschen. Zum Medienereignis wurden Daniel Goldhagens 1996 in Deutsch erschienenes Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust und die Reise des Autors durch die Fernsehstudios und Vortragssäle der Bundesrepublik.224 Brownings und Goldhagens Bücher erweiterten, ähnlich wie die Ausstellung, die bisher übliche Vorstellung vom Umfang und von den Motiven des Täterkollektivs. Verantwortlich für den Massenmord an den Juden waren nicht nur die wenige tausend Mann umfassenden und aus überzeugten Nazis rekrutierten Spezialkommandos der Einsatzgruppen der SS, sondern auch die Hunderttausenden »ganz gewöhnlichen« Polizeibeamten, die als stationäre Ordnungspolizei oder in den mobilen Polizeibataillonen den Hauptteil der »Vernichtungsarbeit« in den besetzten Gebieten leisteten. Sie taten es nicht widerwillig, unter dem Zwang von Gesetz und Befehl, sondern immer mit großer Einsatzfreude und oft sogar mit Lust (vgl. Goldhagen 1996). Und die Wachmannschaften in den zahllosen Arbeitslagern, die Volkssturmmänner und Hitlerjungen bei den Evakuierungsmärschen der KZs gegen Kriegsende erweiterten das »Normalitätsfeld« noch einmal: fast jeder der damals Lebenden, so schien es, war in irgendeiner Weise beteiligt oder hätte jederzeit zum Täter werden können (Rommelspacher 1999, S. 32). Die Tagebücher, die der jüdische Professor Victor Klemperer in Dresden von 1933 bis 1945 unter Todesgefahr verfasst hatte und die unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten 1995 zeitgleich mit der Eröffnung der Wehrmachtsausstellung veröffentlicht wurden, lieferten für diese These einen eindrück224 Vgl. Schoeps 1996; Vogt 1997; Scheit 2000; Frei 2003. 112 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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lichen Beleg. Sie zeigen nicht nur, wie das Regelwerk der antijüdischen Gesetze und seine Vollstrecker, die Peiniger der Gestapo, das alltägliche Leben zur Hölle machten, sondern sie präsentieren feige Universitätskollegen, mitleidlose Nachbarn, verhetzte Hitlerjungen, kurzum: die Volksgemeinschaft in Aktion (Klemperer 1995; Heer 1997). Warum scheiterte dann die Ausstellung und wurde zurückgezogen? Für das, was Steven Spielbergs Film, Daniel Goldhagens Studie und Victor Klemperers Tagebücher an belastendem Material vorgelegt hatten, wurde die Ausstellung zum visuellen Zeichen, aber auch zum greifbaren und angreifbaren Vertreter der genannten Aufklärer. Schlimmer: Was hier in einem einzigen historischen Moment – Mitte der 1990er Jahre – an Belegen für zwei Völkermorde und abermillionen Täter zusammengetragen worden war, erfüllte den Tatbestand der Kollektivschuld, jener ungeheuren Anklage, die nicht per Proklamation verkündet wurde, aber durch die faktische Politik der Alliierten im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit – durch die bedingungslose Kapitulation, die Internierung der greifbaren Nazis, die versuchte Entnazifizierung der gesamten Gesellschaft, die Nürnberger Prozesse – erhoben und verfolgt worden war. Nachdem der Kalte Krieg dieses Programm abrupt beendet hatte, drohte nun den Deutschen ein Wiederaufnahme-Verfahren – die Rückkehr der Medusa musste verhindert, ihr Haupt abgeschlagen werden. Dazu kam, dass die Ausstellung sich gerade anschickte, parallel zu den Stationen in Österreich und Deutschland, auch durch die prominenten Universitätsstädte der USA zu wandern. Die deutsche Schuld, über die schon niemand mehr sprach außer den Überlebenden und den Kindern der Opfer, würde plötzlich auch in der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Und das zu einer Zeit, als die Verhandlungen für die Entschädigungen der Zwangsarbeiter, der Häftlinge in den Ghettos wie anderer Opfergruppen anstanden und die Forderungen für einen finanziellen Ausgleich an den Opfern der deutschen Verbrechen unter der Zivilbevölkerung in Italien, Griechenland, Frankreich immer lauter wurden. Da spätestens verwandelte sich das Ausstellungsprojekt von einem die gesamte Nazizeit aufrufenden Erinnerungsfanal und einem öffentlich aufgestellten Beichtstuhl der Generationen zum brisantesten Politikum der 1990er Jahre. Bundeskanzler Gerhard Schröder, von Beginn an ein Gegner sowohl des Holocaust-Mahnmals als auch der Wehrmachtsausstellung – »Ich kann es nicht zulassen, daß man sagt, eine Armee habe in ihrer Mehrheit derartige Verbrechen begehen können« – musste handeln. Hier war nicht nur die von ihm propagierte »›entspannte‹ Beziehung zur Vergangenheit« gefährdet225, sondern es drohte auch die Wiederaufnahme aller seit Jahrzehnten erfolgreich vergrabenen Forderungen nach Wiedergutmachung – Deutschland am Pranger. Der Rückzug der Ausstellung durch den autonomen Denker und finanziell autarken Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma, zeigte, dass die Politik gehandelt hat. 225 Bernard-Henri Lévy, FAZ, 17.02.1999 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 627f.). 113 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Beim Scheitern der Ausstellung tauchte überraschender Weise plötzlich noch einmal das Verdikt auf, das zu Beginn ihres Triumphzuges Helmut Schmidt und Rüdiger Proske ihr entgegen geschleudert hatten – sie sei das zerstörerische Werk von Wiedergängern oder leibhaftigen Angehörigen der 68er-Revolte. Aber diesmal diente es nicht der Abwehr von drohenden Enthüllungen der Verwicklung in Verbrechen Nazideutschlands, sondern zur Charakterisierung einer bestimmten Geschichtspolitik. In den herrschenden Eliten hatte sich in den 1990er Jahren ein Konsens herausgebildet, jede Verbindung zur Generation von 1968 und zu dem, was man deren Geist und Erbe nennen könnte, zu kappen. Das war zum einen bedingt durch die im Zuge des politischen Einigungsprozesses 1989 neu geschriebene »gesamtdeutsche« Geschichte: Neben den beiden Revolutionen in der DDR – der von Panzern beendeten 1953 und der geglückten 1989 – gab es im Westen nur eine »Freiheitsbewegung« – die Gründung der Bundesrepublik und deren Bestätigung in der endlich erlangten Einheit Deutschlands. Die Kulturrevolution von 1968 kam in diesem Geschichtsbuch ebenso wenig vor wie der Antifaschismus, der sich mit dem Zusammenbruch der DDR als legitimes Handlungsmuster – von Millionen Ost-, aber auch Westdeutscher – erledigt hatte. Parallel dazu wurden angesichts der wachsenden politischen Bedeutung der GRÜNEN und deren möglicher Beteiligung an der Regierung die Stimmen in den konservativen Medien lauter, die einen klaren Trennungsstrich zu deren Vergangenheit verlangten. Symptomatisch war dafür die Debatte um die Aktivitäten des Außenministers Joschka Fischer und seines Kollegen im Umweltministerium, Jürgen Trittin, in den 1960er und 1970er Jahren. Beide unterzogen sich willig der geforderten Distanzierung und bestätigten »Jugendsünden«. Was wie ein politisches Drohmanöver aussah, basierte auf einem schon länger geführten politikwissenschaftlichen Diskurs. Was am Pranger stand, war prima vista der »Linksextremismus« der 68er, als dessen ideologischer und versteinerter Kern der »Antifaschismus« ausgemacht wurde. Damit war ein Politikverständnis gemeint, das von solchen, die sich eher dem rechten Lager zuordnen ließen, als Fortsetzung der antideutschen Propaganda des Zweiten Weltkrieges und des ReEducation-Programmes der Siegermächte, von ehemals linken Autoren als totalitär und antidemokratisch klassifiziert wurde (Wiegel 2001, S. 179ff.) Die letztere Lesart wurde, als die erste Ausstellung zurückgezogen und eine Neuproduktion angekündigt wurde, zur Vorlage für die Kommentare der wichtigsten Zeitungen. Deren Autoren waren meist Journalisten aus der Alterskohorte der 68er. Bestimmend für die meisten dieser Intellektuellen scheinen die Loyalität zu ihren Herkunftsfamilien oder die Konkurrenz zu ihren Generationsgenossen gewesen zu sein. So feierte Thomas Medicus in der Frankfurter Rundschau das überraschende Ausscheiden des Leiters der Ausstellung, des »anachronistischen Alt-68er-Aktivisten« und »altvorderen Ideologen Heer« als Absage an einen »geliehenen Antifaschismus« und begrüßte die Chance der angekündigten Neukonzeption, »die Erinne114 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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rungs- und Betroffenheitskultur der alten Bundesrepublik über Bord« zu werfen.226 Als deren Kern definierte er einen »vom Väterprotest« zehrenden Manichäismus und eine »Politik der Schuld«. Die Enkel der Täter seien »über die Politik moralischer Empörung hinaus gelangt.«227 Medicus, Jahrgang 1953, entstammte aus einer Familie, deren einer Großvater, ein General mit Ritterkreuz, von italienischen Partisanen erschossen worden war (Medicus 2004; vgl. Heer 2005b). Die Zeitenwende, die der Redakteur der linksliberalen Frankfurter Rundschau in den Turbulenzen um die Ausstellung zu erkennen glaubte, bestätigte die konservative Welt. Auch für ihren Redakteur Eckhard Fuhr, Jahrgang 1954, war die Schließung der ungeliebten Wehrmachtsaustellung das deutliche Anzeichen für einen »Gezeitenwechsel«. Die zurückgezogene Ausstellung habe sich in ihrer Argumentation wie in der Rezeption »noch ganz in das alte Muster der deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹« eingefügt: »Die ewig-gestrige Fixierung auf die deutschen Verbrechen traf auf die ewiggestrige Verdrängung dieser Verbrechen.« Bogdan Musial habe mit seiner kritischen Intervention und dem Hinweis auf die Verbrechen des Kommunismus »dieses tote Ritual durchbrochen« und den Blick erweitert auf die »Geschichte der Gewalt und der Destruktivität der Gewalt des Jahrhunderts«. Dadurch sei »die Distanz zum Geschehen vergrößert worden«.228 Reemtsma selbst, nach dem extrem jungen Team seiner zweiten Ausstellung befragt, bestritt zwar, dass diese Auswahl der Überlegung gefolgt sei, eine »neue Generation ran« zu lassen. Er bestätigte dieses Motiv dann aber doch: »Die jungen Mitarbeiter seien sehr archivtrainierte Historiker. Außerdem sind sie sicher von einer gewissen Generationenspannung entlastet.«229 Für den Spiegel-Redakteur Klaus Wiegrefe, Jahrgang 1965, war schon das Geburtsdatum der neuen Ausstellungsmacher – »fast alle zwischen 1960 und 1970 geboren« – Garant für Qualität. Es war seine eigene Generation, die hier an der Arbeit war.230 Was die einen als Gewinn buchten, beklagten die andern als Verlust. So begann mit dem Ende der ersten und der Präsentation der zweiten Ausstellung eine neue Debatte. Sie verlief jetzt innerhalb der 68-Generation oder zwischen den Kindern und Enkeln der Täter. Und es ging dabei nicht mehr, so schien es, um die Verbrechen der Wehrmacht, sondern wie man diese darstellte und in welchem Modus man erinnerte. Auch Stefan Reinecke hat in der Berliner taz diesen Paradigmenwechsel beschrieben: Während die erste Ausstellung »als Generalanklage gegen die Elterngeneration« und als »ein später und doch geglückter Anschlag auf ein deutsches 226 Thomas Medicus: Hannes Heer muß gehen. FR, 15.08.2000. 227 Thomas Medicus: Abschied von gestern. Was kann aus der »Wehrmachtsausstellung« werden. FR, 04.11.2000. 228 Eckhard Fuhr: Gezeitenwechsel. Die Welt, 16.09.2000. 229 Interview von Susanne Leinemann mit Jan Philipp Reemtsma: »Ich hatte zuviel Vertrauen, zuwenig Kontrolle«. Die Welt, 24.11.2000. 230 Klaus Wiegrefe: Abrechnung mit Hitlers Generälen. Der Spiegel, 48/2001. 115 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Familiengeheimnis« lesbar gewesen sei, habe die neukonzipierte zweite das Thema der verbrecherischen Wehrmacht »aus dem nationalen Text, aus Generations- und Identitätskämpfen herausgelöst«. Mit der betont sachlichen Analyse der bürokratischen Struktur der Verbrechen und dem Aufzeigen von Handlungsspielräumen sei als neue Botschaft »eine allgemeine, universelle Lehre, ein Appell an Zivilcourage und individuelle Gewissenstärke« formuliert worden. Reinecke bilanziert diese Historisierung des Geschehenen und die Verlagerung der Handlungsoptionen ins Universelle als Verlust: Die bundesrepublikanische »Zivilität« habe sich auch »dem Kampf der Generationen« verdankt, der erst das »eigensinnige, unberechenbare Interesse an der NS- Zeit« hervorgebracht habe. »Damit«, so schließt der Beitrag, »scheint es vorbei zu sein. Und das ist keine Befreiung, das ist ein Verlust – eines Maßstabs, eines Orientierungspunkts. Eine Republik, in der die NS-Zeit nur noch als universelle Metapher verstanden wird, ist ärmer.«231 Der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen hat in der 2012 erschienenen Biografie seiner intellektuellen Entwicklung erzählt, dass er die schweren »Bildsteine«, die Alain Resnais’ Auschwitz-Film Nacht und Nebel 1957 in seiner Brust versenkt hatte, Jahrzehnte lang »unerlöst« mit sich herumgetragen habe, offensichtlich, weil sich bestimmte Schockerfahrungen »gegen eine weitere Verarbeitung« gesperrt hätten: »Bis die Wehrmachtsaustellung 1995 – die größte nachgetragene Aufklärungsleistung der Studentenbewegung […] – Anlass war, mich zum ersten Mal wissenschaftlich mit den Steintafeln des Entsetzens zu befassen« (Lethen 2012, S. 55). Lethen wird das Ergebnis seiner wissenschaftlichen Studien – abgesehen von einem kurzen Kommentar (Lethen 2002) – nicht mehr in die Kontroverse um die beiden Ausstellungen zu den »Verbrechen der Wehrmacht« einbringen können, weil diese lange vorbei ist. Aber der Angehörige des Jahrgangs 1939 ist zumindest zum Zeitzeugen geworden für den kathartischen Prozess, der die Erinnerungskultur der Bundesrepublik fast umgestürzt und auf lange Zeit verändert hätte.

Martin Walser In Walsers Rede in der Paulskirche 1998 fanden sich gegen Ende einige Sätze, deren Sinn dunkel blieb: Er habe sich bei Verfertigung dieser Sonntagsrede ganz der Sprache ausgeliefert und ihr die Zügel überlassen, egal, wohin sie ihn führen würde. Dann korrigierte er sich: »Letzteres stimmt natürlich nicht. Ich falle ihr in die Zügel, wenn ich fürchten muß, sie verrate zuviel von mir, sie enthülle meine Unvorzeigbarkeit zu sehr. Da mobilisiere ich furcht- und bedeutsam sprachliche Verbergungsroutinen 231 Stefan Reinecke: Ende eines deutschen Dramas. Der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheitsbewältigung. taz, 03.12.2001. 116 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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jeder Art«.232 Dass dieses kein eigens für diese Rede eingebautes Bremssystem war, zeigte ein 2004 publizierter Text, der unter dem Titel Die menschliche Wärmelehre in sechs »Hauptsätzen« ein Vademecum der »Verbergungsroutinen« samt Rechtfertigungsargumenten lieferte. »Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen. Das ist der erste Hauptsatz der menschlichen Wärmelehre. […] Auf mich angewendet heißt das natürlich auch: Mit allem, was ich sage, verschweige ich etwas« (Walser 2004, S. 160).

Davon ausgehend, dass seine Hörer oder Leser natürlich mitbekämen, was er da verschweige, warnte er vor allzu schneller Verurteilung und wies daraufhin, dass sie Komplizen in einem Prozess seien: »Was Sie in dem von mir Gesagten als Verschwiegenes, Geheimgehaltenes entdecken, […] das hat immer soviel von Ihnen selbst wie von mir. Sie können nie ganz sicher sein, ob in dem, was Sie von mir entdecken, mehr Sie selbst vorkommen oder mehr ich. […] Ich sage das, was sich um mich dreht, öffentlich, weil ich dadurch erfahren will, ob es anderen auch so ergehe wie mir« (ebd., S. 161).

Und dann folgte das überraschende Bekenntnis: »Unser allerinnerstes Motiv oder Thema oder Interesse bedienen wir mit einem unerschöpflichen, unendlichen Verheimlichungsaufwand.[…] Jeder Mensch wird zum Dichter dadurch, daß er nicht sagen darf, was er sagen möchte« (ebd. S. 164). Dies war kein universelles ästhetisches System, sondern das von Martin Walser, und es resultierte aus der Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Henryk M. Broder, der scharfsinnigste Beiträger in der Debatte um die Frankfurter Rede, hat zum »Leiden« der Walsers, Dohnanyis usw. an der von den »Intellektuellen« und den Juden angeblich errichteten Gedächtnis-Diktatur angemerkt, dass das eine Verschiebung sei: »Denn das eigentliche Problem der guten Deutschen sind sie selbst. Die Geschichte hält sie im Schwitzkasten, das Haus, in dem sie es sich gemütlich eingerichtet haben, ist verhext, eine Geisterbahn, an der hinter jeder Kurve ein neues Gespenst lauert. Jeder Versuch, die Geister zu bannen, bringt neue hervor. ›Ich will nicht mehr hinsehen!‹ ruft Walser und zählt genau nach, wie oft er schon weggeschaut hat: mindestens zwanzigmal«.233 232 Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, 11.10.1998 (in: ebd., S. 7–17; hier: S. 17). 233 Henryk M. Broder: Halbzeit im Irrenhaus. Der Tagesspiegel, 24.11.1998 (in: ebd., S. 215). 117 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Dieses Bild der absoluten Erfolglosigkeit, die Leichen im Keller zu vergessen oder zu entsorgen, entspricht dem, was Martin Walser kurz vor seiner Rede im Gespräch mit seinem Freund Rudolf Augstein über die Endmoräne Nazizeit verraten hatte: »Als ich mich in den sechziger Jahren als Schriftsteller damit beschäftigt hatte, dachte ich – das war naiv damals, das weiß ich wohl – ich hätte das hinter mir. ›Das habe ich verarbeitet. Ich habe damit nichts mehr zu tun‹. […] Tätermäßig habe ich nie etwas damit zu tun gehabt. Aber dennoch bin ich, warum, weiß ich nicht, hineinverwirkt in diesen Dreck. Und ich merke nachträglich, nachdem alles zu spät ist, daß ich nicht herauskomme«.234

Das ehrliche Bekenntnis enthielt eine Lüge: Auch wenn Walser damals erst 17 Jahre alt war, hatte er »tätermäßig« doch etwas mit der Nazizeit zu tun gehabt: Er war in der HJ gewesen, dann Flak-Helfer, Arbeitsmann im Reichsarbeitsdienst und hatte sich als Offiziersbewerber freiwillig zu den Gebirgsjägern gemeldet, einer besonders hitlerhörigen Truppe (Magenau 2008, S. 42). Vorher, am 30. Januar 1944, hatte Walser einen Antrag auf Eintritt in die NSDAP gestellt, der am 27. Februar vollzogen wurde (Herwig 2013, S. 246f., 283). Da war seine Mutter schon lange eine verdiente Parteigenossin – seit 1. April 1932 (ebd., S. 262). Als Motiv hatte ihr Sohn immer ökonomische Gründe angegeben: Sie habe damit ihr Restaurant über Wasser halten können und die Familie so gerettet. Ihre Wirtschaft wurde danach zu einer Art Parteilokal.235 Und er hatte ihren Parteieintritt auf Weihnachten, kurz vor Hitlers Machtübernahme, vordatiert (Walser 2000, S. 89ff.). Seine eigene Parteizugehörigkeit hatte er immer bestritten.236 Als Walser seine Rede in der Paulskirche hielt, war seine NSDAP-Karteikarte noch nicht entdeckt. Das geschah erst 2007. Auch da bestritt er die Tatsache, und als sie nicht zu leugnen war, behauptete er, davon nichts gewusst zu haben.237 Malte Herwig hat dieser Generation der 1926/27 Geborenen ein genaues und nach Verständnis suchendes Buch mit dem Titel Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden gewidmet (Herwig 2013). Er zeigt, wie viele Prominente darunter waren – Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Horst Ehmcke, Erhard Eppler, Tankred Dorst, Hans Werner Henze, Dieter Wellershoff, Walter Jens, Hans-Dietrich Genscher, Niklas Luhmann, Hermann Lübbe – und wie sie alle, mit Ausnahme von Eppler, bei der Aufdeckung 234 Martin Walser, zit. nach: Erinnerung kann man nicht befehlen. Martin Walser und Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit. Der Spiegel 45/1998, 02.11.1998, 53. 235 Walser/Augstein (ebd.). 236 Der Abend, 09.07.1964, zit. nach Herwig 2013, S. 249. 237 Ebd., S. 246f., 278f. 118 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ihrer NSDAP-Mitgliedschaft wie Walser leugneten, davon gewusst zu haben (ebd., S. 16). »Als 17- oder 18-Jährige waren sie in Hitlers Partei eingetreten – zu jung um Täter zu werden, aber zu alt, um dem Schuldzusammenhang des ›Dritten Reiches‹ zu entkommen«. Als Jugendliche zu Opfern der Nazipropaganda geworden, hätten Diktatur, Krieg und Zusammenbruch bei dieser Generation für eine »existenzielle Verunsicherung« gesorgt, die sie »durch verdoppeltes Engagement« für die neue Demokratie zu verdrängen versuchten (ebd., S. 21). Dazu gehörte vor allem auch die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, so als ob gerade sie, die SchuldlosSchuldigen, etwas gut zu machen hätten. »Dieser Neuanfang allerdings hatte seinen Preis«, so Herwig. Um sich dem Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung widmen zu können, hätten sie »das sinnfälligste Stigma ihrer eigenen Verstrickung im Dritten Reich: Die Mitgliedschaft in Hitlers Partei« verborgen und verleugnet (ebd., S. 23). Hyperaktive Musterschüler beim Wiederaufbau, mit dem Makel eines gut gehüteten Geheimnisses. »Wir Geheimhalter«, beschrieb Walser in seinem Handbuch des Verbergens diesen Typ, »sind reizbare Leute. Und notwendigerweise rechthaberisch. […] Die Umwelt könnte draufkommen, warum wir so fleißig, zielsicher, energisch, mutig, aufrecht demokratisch, herzhaft republikanisch, universalistisch konsensverkündend, überstreng und unduldsam sind. Wir bemühen uns ein Leben lang, unsere Lieblingsmaske zu unserem Gesicht werden zu lassen« (Walser 2004, S. 165, 167).

Bei Walser lässt sich diese pausenlose Aktivität beziffern: 28 Romane, 15 Theaterstücke, 11 Aufsatzbände, Tagebücher und Gedichtsammlungen (vgl. Magenau 2008, S. 602ff.). Darunter befinden sich luzide Essays wie der 1965 publizierte Essay Unser Auschwitz. Walser hatte Verhandlungen des im Dezember 1963 eröffneten Frankfurter Auschwitz-Prozesses mehrmals im folgenden Jahr besucht. In seinem Text wandte er sich gegen den durch die Auswahl der Angeklagten, durch das der Prozessführung zugrundeliegende Individualstrafrecht und durch die Berichterstattung in den Medien entstandenen Eindruck, es gehe bei dem Verfahren um »Bestien« und »Teufel«, sodass man sicher war, »von 1933 bis 45 sozusagen in einem anderen Staat gelebt [zu haben] als die Angeklagten« (Walser 1965, S. 160, 166). Dieser Sichtweise zufolge wären mit der Verurteilung der Auschwitz-Täter auch deren Verbrechen gesühnt und der Rest der Gesellschaft könnte unter dem Signum der Gerechtigkeit »seine Ruhe haben« (ebd., S. 171). Dagegen stellte er die damals als Tabubruch geltende Frage nach dem kollektiven Zusammenhang dieser Taten: Dantes »Inferno« oder die christliche »Hölle« zu bemühen, lenke ab und verdunkele die Tatsachen: Auschwitz sei nichts Fantastisches gewesen, sondern, so schlussfolgerte Walser, 119 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»eine Anstalt, die der deutsche Staat mit großer Folgerichtigkeit entwickelte zur Ausbeutung und Vernichtung von Menschen. […] Wenn aber Volk und Staat überhaupt noch sinnvolle Bezeichnungen sind für ein Politisches, für ein Kollektiv also, das in der Geschichte auftritt, in dessen Namen Recht gesprochen oder gebrochen wird, dann ist alles, was geschieht, durch dieses Kollektiv bedingt, dann ist in diesem Kollektiv die Ursache für alles zu suchen. Dann ist keine Tat mehr bloß subjektiv. Dann ist Auschwitz eine großdeutsche Sache. Dann gehört jeder zu irgendeinem Teil zu der Ursache von Auschwitz. Dann wäre es eines jeden Sache, diesen Anteil aufzufinden. Es muß einer doch nicht in der SS gewesen sein« (ebd., S. 170).

Ausgelöst durch die Beschäftigung mit den Ende 1962 veröffentlichten Erinnerungen des Auschwitz-Überlebenden Eli Wiesel, zu denen Walser das Vorwort verfasst hatte, war er schon vorher auf die Suche nach seinem eigenen Auschwitz-Anteil gegangen. Während das Opfer Wiesel, so schrieb er in seinem einleitenden Text, um nach der Befreiung 1945 weiterleben zu können, »Auschwitz vergessen, […] Vater und Mutter […] und zuallererst sich selbst« vergessen musste (zit. nach Magenau 2008, S. 210), war es seine Aufgabe als Angehöriger des Täterkollektivs, eine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung zu machen – seinen Heimatort, seine Eltern und sich selbst als Teil Nazideutschlands zu entdecken und sich damit vertraut zu machen. Das legen die im Februar 1963 begonnenen Einträge in seinen Tagebüchern nahe, in denen er unter dem Titel Matrosenleben die Spuren der Verbrechen in der Welt, aus der er herkam, für einen künftigen Roman sammelte: »Mischung aus Tatsachen und Vermutungen. Fragmente aus dieser Zeit, zugegebene Lücken« (Walser 2007, S. 35f.). Einmal stand hinter einer Sequenz, als möglicherweise typische Angabe der Quellen: »Ich habe es nicht erlebt. Wie so vieles, was ich da erzählen werde. Es ist fast alles Überlieferung« (ebd.). Und das waren die wichtigsten Fragmente, die er festhielt: Der erste Auftritt des Parteiredners aus der Stadt in der Kneipe der Mutter; Überführung von 200 Französinnen aus dem Frauen-KZ Ravensbrück über Konstanz in die Schweiz; Karneval 1937: Messerattacke auf den Dorfpolizisten, Judenpuppen am Galgen, ebenfalls als Puppe der »Rote Tod von Versailles«; kein Abtransport der Juden, wohl aber Hass auf jüdische Händler und Enteignung von zwei Villen, Besuch zweier Rasse-Kommissionen von der Tübinger und Berliner Universität zur Vermessung der Dorfbevölkerung, der Großvater verweigerte sich, aber der Vater machte mit. Die schlimmsten Nazis: der Parteiredner, der Studienrat aus Lindau, der Polizist. Dagegen harmlos: der Ortsgruppenleiter. Exekution eines polnischen oder jugoslawischen Zwangsarbeiters wegen Rassenschande, schwarzgeschlachtet wurde nur in Abwesenheit des Vaters, damit die Mutter dafür haftete (ebd., S. 16f., 20f., 29, 35f.). Schon im April 1963 endete diese nachgeholte Heimatkunde aus dem Dritten Reich. Der Roman wurde nie geschrieben, stattdessen erschien 1965 Unser Auschwitz. Vierzehn Jahre später wurde es noch einmal Walsers Thema, diesmal aus Anlass einer 120 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ausstellung mit illegalen Zeichnungen von KZ-Häftlingen, zu der er einen Katalogbeitrag verfasst hatte. Aber schon der Titel Auschwitz und kein Ende zeigte, dass es diesmal nicht mehr darum ging, was Auschwitz war und wer daran die Schuld trug, sondern wie man mit dieser umging. Die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer, so der Autor, wollten Gerechtigkeit, die »Volksgemeinschaft der Täter« dagegen Entlastung: »Wir sind alle in Versuchung, uns gegen Auschwitz zu wehren. Wir schauen hin und gleich wieder weg. Leben kann man mit solchen Bildern nicht. […] Auschwitz ist nicht zu bewältigen« (Walser 1979a, S. 632f.). Der Grund für diese Unfähigkeit könnte darin bestehen, dass das gemeinschaftlich begangene Verbrechen nicht von einzelnen getragen werden kann. »Angesichts von Auschwitz erfahren wir, daß wir als Individuen schuldabweisend sind; alles, was über unsere zur Diamanthärte entwickelte Individualität hinausgeht, lehnen wir ab als obsolet, irrational […] Deutsche, was ist das? Ost? West? Deutsches Volk? Nie gehört. […] Das Individuum hat sich von der Nation emanzipiert. Das Individuum ist Gesellschaftsmitglied und läßt bewältigen« (ebd., S. 634).

Die Rückbesinnung auf die Nation, das Volk als Weg zum angemessenen Umgang mit Auschwitz? Genau das war die Antwort, die Walser in einem zeitgleich entstandenen Text gegeben hat, den Jürgen Habermas in seine berühmte Essaysammlung Stichworte »Zur geistigen Situation der Zeit« aufgenommen hatte. Der Titel des Textes lautete Händedruck mit Gespenstern und sollte das Risiko der Walser’schen Denkbewegung andeuten. Sie ging aus von einer Erfahrung: »Wer sind wir? Sobald man im Ausland ist, ist man ein Deutscher. […] Man erwartet von mir geradezu, daß ich mein Deutschsein mit einer Art Fassung trage, wie man ein Leiden erträgt, für das man nichts kann, das man aber auch nicht mehr loswerden kann. […] Auschwitz. Und damit hat sich’s. Verwirkt. Wenn wir Auschwitz bewältigen könnten, könnten wir uns wieder nationalen Aufgaben zuwenden« (Walser 1979b, S. 627).

Nur ginge das nicht in dieser wünschenswerten Reihenfolge, so sein Einwand, weil man in einer Gesellschaft wie der deutschen, »wo das Ich das höchste ist, […] Schuld nur verdrängen [kann]« (ebd.). Daher plädierte Walser dafür, den umgekehrten Weg einzuschlagen, den Handschlag mit den »Gespenstern« zu wagen und als erstes die nationale Frage zu lösen: »Warum akzeptieren wir eine Teilung wie ein Naturgesetz, obwohl wir einsehen können, daß sie aus ganz und gar zeitlichen Bedingungen entstand? […] In dieser Republik wird ein hektischer Aufwand betrieben zur Rechtfertigung des augenblicklichen Zustands. […] Ich habe ein Bedürfnis nach geschichtlicher Überwindung des Zustands Bundesrepublik« (ebd., S. 629f.). 121 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Was war der Grund dafür, dass Walser das Individuum für unfähig erklärte, eine Haltung zum Völkermord Nazideutschlands zu gewinnen, warum sollte es nicht möglich sein, einen kollektiven Erinnerungsprozess in der Gesellschaft und innerhalb der staatlichen Verfassung, in der er lebte, in Gang zu setzen? Warum machte er dafür die Wiedervereinigung Deutschlands zur Voraussetzung? Zwei Gründe sind dafür verantwortlich zu machen. Der erste lag in ihm selber, der zweite betraf seine damalige Situation in der Gesellschaft. Am Ende des Textes von Auschwitz und kein Ende hatte er die Wirkung der Häftlingszeichnungen aus Auschwitz auf sich beschrieben: »Die Gewalt, die in diesen Bildern erscheint, ging von Dir aus, jetzt kehrt sie zurück, zu Dir. Es genügt nicht, seine Eltern und Großeltern zu fragen: wie war das und das. Frag doch Dich, wie es ist«. Er hatte weder die Befragung in seiner Familie und bei seinen Freunden fortgesetzt, um Genaueres über die Nazi-Welt zu erfahren, in der er aufgewachsen war, noch hatte er geklärt, ob und wie er in der Öffentlichkeit eingestehen sollte, was sein Teil daran gewesen war. Stattdessen: »Ich möchte immer lieber wegschauen von diesen Bildern«. »Ich muß mich zwingen hinzuschauen. Und ich weiß, wie ich mich zwingen muß. Wenn ich mich eine Zeitlang nicht gezwungen habe, hinzuschauen, merke ich, wie ich verwildere. Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, merke ich, daß ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue« (Walser 1979a, S. 636).

Es dürfte nicht nur das Erschütternde dieser Häftlingsdokumente gewesen sein, das den unausweichlichen Zwang bewirkte, dem er sich beim Anschauen wie beim Wegsehen unterworfen fühlte. Es war auch das schlechte Gewissen, das diesen Druck geschaffen hatte und zugleich abschaffen wollte, um endlich Ruhe zu haben. Das andere Motiv für die Flucht in Volk und Nation hing mit dem Scheitern der politischen und kulturellen Revolte von 1968 zusammen. Er hatte an dieser Massenbewegung in seinem Wirkungsfeld als Künstler teilgenommen und war davon getragen worden – im Widerstand gegen den von der westdeutschen Politik wie von den Medien unterstützten Vietnamkrieg der USA und beim Versuch der gewerkschaftlichen Organisierung der Schriftsteller. Das hatte ihn in engen Kontakt zur 1969 neugegründeten Deutschen Kommunistischen Partei, der DKP, gebracht, deren engster und prominentester Bundesgenosse er wurde. Wie die Sozialdemokraten »ihren« Grass, so hatten jetzt auch die Kommunisten »ihren« Walser (vgl. Magenau 2008, S. 271–338). Diese Beziehung führte nicht nur zum Verlust vieler Freunde und Kollegen, sie belastete auch bis zum Zerreißen das Verhältnis zu seinem Verleger Siegfried Unseld und gefährdete damit seine ökonomische Basis. In dieser Zeit hatte ein Veriss seines Romans Jenseits der Liebe durch Marcel Reich-Ranicki wie ein gezielter »Vernichtungsversuch« auch Walsers künstlerischen Rang infrage gestellt und ihn zutiefst getroffen (ebd., S. 343ff.). Dazu kam, dass seine schon vorhandene 122 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Kritik an der DKP – ihre Abhängigkeit von den Zentralen in Ostberlin und Moskau – durch die Folgen der Guillaume-Affäre noch zugenommen hatte. Andererseits war die Massenbewegung von 1968 zerfallen – die Radikalen hatten sich in zahlreichen maoistischen Kleinstparteien zersplittert und dogmatisiert und die mit ihnen vorher sympathisierenden linksliberalen Intellektuellen waren ins Lager der sozial-liberalen Koalition unter Führung des charismatischen Willy Brandt zurückgekehrt. Walser stand zwischen allen Fronten. Und er wusste nicht mehr, wie es politisch weiterging. Dem sowjetischen Schriftsteller Juri Trifonow beschrieb er 1975 in einem Brief, nach einer deutlichen Kritik an der politischen Domestizierung der kommunistischen Parteien Europas durch Moskau, seine persönliche Situation so: »Ich brauche den Horizont. Überhaupt Geschichte […], die Einbettung in eine allgemeine Tendenz, das Mehr-als-bloß-Ich. In Wirklichkeit aber fühle ich mich isoliert« (Walser 1979c, S. 525, 529). In dieser Krise konnten charakterliche Eigenheiten, die seine Freunde kannten, ihre negative Wirkung kräftiger als sonst entfalten – seine Sehnsucht nach »Heimatgeborgenheit […], die ihn auch, ›süchtig nach Positivem‹, immer wieder in irgendeinen Harmoniedunst zieht«.238 Oder die Sucht nach dem »großen Erfolg«, was hieß – »nicht nur ein paar tausend, sondern hunderttausend Leser gewinnen« (Magenau 2008, S. 299f.). Er selbst hatte immer freimütig bekannt: »Mit dem, was ich sage, will ich mich beliebt machen« (Walser 2004, S. 161). Das alles waren zusätzliche Aggregate, die ihn zu neuen Ufern, ins Konservativ-Restaurative führen sollten. Dieser Prozess war 1988 abgeschlossen, als Walser unter dem Titel Über Deutschland reden eine spektakuläre Rede in den Münchner Kammerspielen hielt. Sie enthielt alles, was einen »deutschen Katechismus« auszeichnet und ein bisschen mehr: Gegen die Behauptung von Intellektuellen, Deutschland habe es nur zwischen 1871 und 1945 gegeben, hielt er fest, dass es die »Reichsidee« seit 1.000 Jahren gebe (Walser 1988, S. 899f.); die deutsche Teilung sei Ergebnis der »Strafaktion« der Alliierten auf den Konferenzen von Jalta und Teheran gewesen, auf denen die Zonengrenzen und die deutsche Ostgrenze vereinbart worden seien, eine »verdiente«, berechtigte Strafe, aber doch nicht auf immer; das Motiv der Fortsetzung der Teilung sei einzig »das Interesse des Auslands« im Westen wie im Osten. Das bisschen Mehr: darüber dürfe man aber nicht öffentlich reden, ein Beweis für die herrschende »Meinungsselektion« und deren Drohwirkung: Alle hielten sich daran, »vor lauter Angst, sonst für Nazis gehalten zu werden« (ebd., S. 901f.). Der Historikerstreit habe das Gute gehabt, statt der »paar Parolen« vorher eine »Vielfalt von Auffassungen« präsentiert zu haben, von denen man jetzt »Gebrauch machen« könne: »Habermas und Hillgruber« hätten bequem in ihm Platz (ebd., S. 904); vielleicht sei es ein Vorteil, dass es 1945 keinen Friedensschluss gegeben habe, auf einen Frieden »à la Versailles oder Jalta« 238 Reinhard Baumgart, Die Zeit, 10.12.1998 (in: »Walser-Bubis-Debatte«, S. 392). 123 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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könne man aber verzichten (ebd., S. 908f.); Das bisschen Mehr, das oben angesprochen wurde, meint Walsers offenen Revisionismus bezüglich der Ursachen wie der Folgen des Dritten Reiches: nach der Feststellung, Jalta sei eine »berechtigte« Strafaktion gewesen, widerrief er das wenig später und setzte diese dem Versailler Vertrag gleich, einem Pakt, durch den das deutsche Volk 1918 seiner Meinung nach »gedemütigt und ausgeplündert« worden sei und der Hitler die Gelegenheit geboten habe, »die Leiden des Volkes« für ein weiteres, schlimmeres Abenteuer auszunutzen. Er endete damit, die Absprachen der Anti-Hitler Koalition in Jalta über die Nachkriegsordnung in Deutschland als eine »Fehlweisung« zu bezeichnen (Walser 1979b, S. 626; Walser 1988, S. 914). Walser schloss mit dem Bekenntnis, die Nation sei nach Menschenmaß »das mächtigste geschichtliche Vorkommen«, das sich irgendwann einmal auflösen werde, aber nicht aufgrund von »Teilungen«, dafür spreche sein »Geschichtsgefühl« (ebd.). Zu diesem »Geschichtsgefühl« gehörte auch, dass Auschwitz in der Rede nicht mehr vorkam und die europäische Idee noch immer nicht. Den Rest seiner Deutschstunde holte Walser in den Romanen nach, die in den folgenden neun Jahren entstanden (vgl. Köhler 2001; Hundt 2001). Sie lieferten das fehlende grundierende Material für seine Frankfurter Rede. Die Verteidigung der Kindheit (1991) ist die unendliche Geschichte eines Verschwindens: Der Dresdner Alfred Dorn hat im Bombenhagel der Nacht vom 13./14. Februar 1945 seine Stadt und mit dem Mauerbau in Berlin am 12. August 1961 und der Flucht nach Westberlin auch seine Heimat verloren. In der neuen Heimat Wiesbaden arbeitet er im »Landesamt für Wiedergutmachung und verwaltete Vermögen«(Magenau 2008, S. 431). Abtragung alter Schuld. Dorn reagiert auf die Zerstörung aller Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit mit einer skurrilen Sammelwut und verwandelt sein Leben in einen Kampf gegen die Gegenwart, den er verliert. Was bleibt, ist ein Epitaph für einen, der ein Opfer der deutschen Geschichte wurde, ein Exemplum für deren Last, die in seinem Fall an keine Schuld gebunden war. Walser schrieb, ohne dass er diesen roten Faden zum Leitmotiv ausgebaut hatte, einen Prolog zu der später erfolgenden Verwandlung des deutschen Täterdiskurses in den der deutschen Opfer. Und er lieferte einen Roman, in dem sich »antisemitische Anspielungen« häuften (Hundt 2001, S. 210). Ohne einander (1993) spielt in der Welt der Medien. Ellen, Ressortleiterin einer Zeitschrift, soll einen philosemitischen Artikel über den Film Hitlerjunge Salomon schreiben, um dem Vorwurf des Antisemitismus wegen eines anderen Artikels im Blatt entgegenzuwirken. Diesen hatte der Literaturkritiker des Blattes positiv besprochen. Koltzsch ist ein Jude und Antifaschist, der in der Darstellung als unerbittlicher Zensor nach Walsers Feind Marcel Reich-Ranicki geraten, in seiner Gestalt dagegen den primitivsten antisemitischen Stereotypen nachgebildet ist. Als Ellen bei ihrer Besprechung scheitert, bietet Koltzsch sich an, ihr für anschließenden Sex bei der Abfassung des Artikels zu helfen. Jörg Magenau, sein dem Autor zugetaner und ihn meist beschüt124 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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zender Biograf, schrieb zu dem Roman: »Walser spielt ein riskantes Spiel. Wie ein Derwisch das Feuer, umtanzt er das Thema Antisemitismus und probiert, wie weit er gehen kann, ohne sich zu verbrennen« (Magenau 2008, S. 445). Lars Rensmann hat die Walser-Debatte zutreffend den »ersten Antisemitismusstreit der ›Berliner Republik‹« genannt (Rensmann 2004, S. 122). Walsers Produkt Ohne einander verdient in diesem Sinn als erster antisemitischer Roman dieser Periode tituliert zu werden. In Finks Krieg (1996) standen dagegen die Machenschaften der Politik im Zentrum: Der Ministerialbeamte in der hessischen Staatskanzlei verliert aufgrund von Günstlingswirtschaft seinen Posten und kämpft verbissen, Michael Kohlhaas nicht unähnlich, um seine Rehabilitierung. Dabei wird er von seinem Freund Franz Karl Moor, einem Linken, der seinen Nazi-Vater und jede Form von Rechtsextremismus hasst, tatkräftig unterstützt und schließlich verraten. Der Roman erhält eine aktuelle Bedeutung dadurch, dass er seinen Protagonisten als Sprachrohr seines Vaters, der Soldat in Russland war, dem hessischen Ministerpräsidenten ein Memorandum zuschicken lässt, in dem dieser die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht wie die Behandlung der ehemaligen Landser nach dem Krieg einer vernichtenden Kritik unterzieht: Der Vater sei in einen Krieg gegangen, »den er nicht gewollt hatte, aber er hatte ihn mitmachen müssen«, weil es den Nazis gelungen war, ihn zu einer »vaterländischen Pflichtsache zu machen« (Walser 1998, S. 293). Er sei Soldat gewesen wie ein Soldat jeder anderen Kriegspartei. »Aber als er verloren war, war man nicht nur Soldat einer Armee gewesen, die einen Krieg verloren hatte, sondern Mitglied einer Verbrecherbande und insofern auch ein Verbrecher« (ebd., S. 294). Man hätte zwar die Deutschen eingeladen, nach dem Krieg »ein besserer Mensch« zu werden, aber jetzt stelle sich heraus, dass dieser Friede ein fauler gewesen sei: »Er stinkt. Es genügen Scheußlichkeiten, wie sie heute überall passieren, und wir sind wieder im schrecklichen Verdacht« (ebd.). Dann folgte eine Schlusspassage, die das Bild Walsers vom Deutschen »als eine[m] Straftäter auf Bewährung, der andauernd seine Resozialisierung unter Beweis stellen muß« (ebd.) – ein Bild, das er beim gescheiterten Versöhnungsgespräch mit Bubis verwendete – vorwegnahm: »Das heißt, wir bleiben in der Scheiße. Prinzipiell. Die deutsche Geschichte ist aus der Hitlerscheiße nicht herausgekommen, sondern die Hitlerscheiße wird so am Kochen gehalten, daß wir jederzeit damit eingedeckt werden können. Rette sich, wer kann« (ebd., S. 294f.). Gegen diese immer wieder hochsteigende »Hitlerscheiße« hat er 2000 den Roman Ein springender Brunnen geschrieben. Und gegen eine »komplett erschlossene, durchleuchtete, gereinigte, genehmigte, total gegenwartsgeeignete Vergangenheit« (Walser 2000, S. 282). Es ist seine eigene Geschichte im Wasserburg des Dritten Reiches, aus der Sicht eines Kindes, eines Jugendlichen und eines zu früh zum Mann Gewordenen. Im völligen Gegensatz zu der nur fünf Jahre später einsetzenden Welle der »Familienromane« von Stefan Wackwitz, Uwe Timm, Wibke Bruhns, Dagmar Leupold, Martin Pollak und anderen, die nach den Verbrechen im Garten der Kind125 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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heit suchen und die Nazizeit als Familiengeschichte rekonstruieren (vgl. Heer 2005b, S. 196–236), wird Geschichte hier etwas Geträumtes – ein »Traumhausbau« (Walser 2000, S. 10) –, bestimmt »ein interesseloses Interesse an der Vergangenheit« das Erzählen (ebd., S. 283). Antisemitismus und Judenverfolgung, Zwangsarbeiter und deren Exekution, Lebensraum im Osten und Vernichtungskrieg, alle die Fragmente, die Walser unter dem Schock der Begegnung mit dem Ort Auschwitz gesammelt hatte, kommen hier nicht vor. Damals, am 9. April 1963, hatte er in seinem Tagebuch notiert: »Jede Erinnerung an damals ist Samstag-Süße, Reishaufen usw., aber jetzt weiß man, das war Mordzeit, also hat man keine Süße mehr. Das ist das Schlimmste Und doch siegt das Süße« (Walser 2007, S. 29f.). Jetzt, 35 Jahre später, hat Walser das Wissen getilgt und sich dem Sieg des Süßen hingegeben. Der fünfte Hauptsatz des Handbuchs der »Verbergungsroutinen« des prominenten Schriftstellers, zeitweiligen Musterdemokraten und ehemaligen NSDAP-Mitglieds Martin Walser lautet: »Das Vergessen, die ideale Form der Geheimhaltung« (Walser 2004, S. 165, 167). Dieses Plädoyer war die Botschaft der Rede gewesen, die er als Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat. Es gibt ein frühes Zeugnis über Martin Walser, das verdient, mitgeteilt zu werden, weil es eine bestimmte Konstante seines Verhaltens zeigt, die irritiert. Der Bericht stammt von Ruth Klüger, die als 11-Jährige zusammen mit ihrer Mutter 1942 aus Wien ins KZ Theresienstadt und dann 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. In ein Außenlager verlegt, konnten die beiden fliehen und überlebten mit falschen Papieren in Bayern. An der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg, an der sich Klüger im Sommersemester 1947 als Studentin eingeschrieben hatte, lernte sie einen älteren Kommilitonen kennen, mit dem sie sich anfreundete und auch später, als sie längst in die USA ausgereist war, in Verbindung blieb. Christoph, wie sie ihn in ihrer Autobiografie weiter leben. Eine Jugend nennt, war Walser und für sie, weil er seine Identität hatte, verwurzelt und beheimatet war, »der Inbegriff des Deutschen« (Klüger 1992, S. 212). Er besuchte mit ihr die Vorlesungen, diskutierte mit ihr, lieh ihr Bücher – Gedichte von Stefan George und die Erzählungen von Franz Kafka – und hinterließ in einem von ihnen ein selbstverfasstes Gedicht: »Sie kam wie die Sonne ihres Landes/Und schenkte meinem Dämmer einen Tag./Ich sah nicht nach dem Saum ihres Gewandes,/Auf dem von vielen Fahrten Fremdes lag« (ebd.). Nach ihren »vielen Fahrten« und nach dem »Fremden« zu fragen, was sie nach dieser im Stefan-George-Stil verfassten Werbung erwartet hatte, unterließ der Verfasser. Auch, als sie bei einem gemeinsamen Spaziergang am Wegrand ein weggeworfenes Parteiabzeichen entdeckten, kam kein Gespräch darüber zustande. Und als sie mit ihm über ein Thema aus der Geschichtsvorlesung – Luthers Antisemitismus – diskutieren wollte, erklärte er, das Thema sei »läppisch«. Er reagierte aber äußerst heftig, als sie ihm nach vielen abschlägigen Versuchen erklärte, dass auch in ihm »ein Antisemit« stecke. »Wir waren«, bilanziert Klüger, »alle beteiligt an der Verdrängung der Ver126 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gangenheit, die früheren Häftlinge freilich weniger als die Freigebliebenen, und die früheren Täter am meisten« (ebd., S. 213). Aber die Irritationen blieben, als sie beide längst ihre Karrieren begonnen hatten, er als Schriftsteller in der Bundesrepublik und sie als Literaturprofessorin in den USA. Als Walser 1965 seinen Text Unser Auschwitz verfasst hatte, und sie ihm vorwarf, sie nicht vorher über ihre Erinnerungen an diesen Ort ausgefragt zu haben, beteuerte er, er habe von ihrer Haft in Theresienstadt, nicht aber von der in Auschwitz gewusst. »Er sah eben nicht nach dem Saum meines Gewandes«, notierte Klüger verletzt (ebd., S. 215). Sie hatte bei ihren Deutschlandbesuchen immer wieder aus Gesprächen erfahren müssen, dass der Fremdenhass als urzeitliche Verhaltensanlage und Überlebensstrategie verteidigt wurde und musste feststellen, dass auch ihr Freund Walser so argumentierte: Auch der Judenhass »sei eben so ein Fremdenhaß gewesen, wie er allen Menschen natürlich sei«. Klüger versah diese Erinnerung in ihrer Autobiografie mit dem bitteren Kommentar: »Man will das Andersartige nicht um sich haben, wenn man es nicht anders gelernt hat« (ebd., S. 216). Auch seine Feststellung bei einem ihrer Besuche – »Du siehst schon jüdisch aus, das sieht man Dir an« – fand sie irritierend. Sie notierte: »Bin ich euch so unähnlich, daß nur eine hochgradige Bewußtmachung auch davon abhält, mich zu verfolgen« (ebd.). Auschwitz war allgegenwärtig in dieser Beziehung. Aber das Thema konnte nicht aufgelöst werden in ein gemeinsames Anschauen, sondern es wurde durch das, was da aus Walser sprach, mehr und mehr zu einem trennenden Graben. Als er ihre Fähigkeit anzweifelte, über die aktuellen Katastrophen ein »gemäßigtes Urteil« zu fällen, weil bei ihr alles »von Haus aus« katastrophal sei und sie »aus biographischen Gründen« das Prinzip Hoffnung nicht verstünde, schlug sie zurück: »Ich antwortete, daß vielleicht auch die Urteilsfähigkeit der früheren Hitlerjungen durch ihre Erziehung beeinträchtigt sei. Die Bemerkung hält er für unangebracht« (ebd., S. 217). Im Jahre 2002 brach Ruth Klüger die Beziehung zu Martin Walser ab. Als Reaktion auf Walsers Roman Tod eines Kritikers, das von Marcel Reich-Ranicki als auf ihn gemünzte antisemitische »Mordphantasie« bezeichnet wurde, eine Interpretation, der sich viele Kritiker anschlossen (Magenau 2008, S. 533ff.), ließ Klüger den Autor in einem »Offenen Brief« wissen, auch sie fühle sich »betroffen, gekränkt, beleidigt«, dass der Protagonist des Romans als »jüdisches Scheusal« geschildert werde. Dass es nicht tatsächlich zu dessen Ermordung komme, sondern sich alles nur als ein Phantasma erweist, sei der eigentliche Skandal: »Lieber Martin«, schloss Ruth Klüger ihren Protestbrief, »vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die sich nun einmal nicht ausklammern läßt, ist die komische Wiederkehr des nur scheinbar ermordeten Juden noch schlimmer, als ein handfester Krimi mit Leiche gewesen wäre.«239

239 Ruth Klüger: Siehe doch Deutschland. FR, 27.06.2002. 127 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Günter Grass Die Poetik-Vorlesung, die Grass am 13. Februar 1990 in der Frankfurter Universität unter dem Titel Schreiben nach Auschwitz hielt, endete mit dem für die Anwesenden kryptischen Satz »Etwas, das noch nicht zu Wort kam, muß gesagt werden. Eine alte Geschichte will ganz anders erzählt werden. Vielleicht gelingen noch die zwei Zeilen« (Grass 1991, S. 73). Was er vorher erzählt hatte, war ein Rechenschaftsbericht über sein Leben, und im Ich war immer auch ein Stück vom Schicksal seiner Generation enthalten. Er berichtete von dem 17-jährigen Gefangenen in einem amerikanischen Lager, der nur aufs Überleben aus war und von der trotzigen Verstocktheit, mit der er und seine Kameraden jetzt und später auf die Fotos von Leichenbergen in befreiten deutschen KZs oder auf die Haufen von Schuhen, Haaren, Brillen aus den unbekannten Orten Treblinka, Sobibor, Auschwitz reagiert hätten. Auf diese Belege für Verbrechen hätten sie, aufgewachsen in einer aus der Überhöhung alles Deutschen herrührenden »Dummheit«, einmütig und aus tiefster Überzeugung geantwortet: »Niemals würden Deutsche so etwas tun« (ebd., S. 43). »Vertrotztes Nicht-glauben-wollen«, diese Gewissheit sei bei ihm erst zerbrochen, als Baldur von Schirach, sein oberster HJ-Führer, vor dem Nürnberger Prozess diese Taten als von Deutschen begangene bestätigt hatte. Erst dann habe er langsam begonnen, die Realität wahrzunehmen und in Umrissen zu begreifen, dass er und die Anderen seines Jahrgangs »zwar nicht als Täter, doch im Lager der Täter zur Auschwitz-Generation gehörten« (ebd., S. 52). In der Rückblende auf die Zeit als Jugendlicher könne er sich an Lagerfeuer, Fahnenappelle, Kleinkaliberschießen, an Langeweile beim HJ-Dienst und Witzeleien über Parteibonzen, aber auch an »Bewunderung für militärische Helden und [an eine] durch nichts zu irritierende Gläubigkeit« erinnern (ebd., S. 56). In gehöriger Distanz zu Deutschland, in Paris, habe er dann vier Jahre lang Entwürfe und Fassungen zu schreiben begonnen und nach seiner Rückkehr ab 1960 in Berlin Die Blechtrommel, Katz und Maus und Hundejahre verfasst (ebd., S. 61). Er habe damals mit diesen Büchern in einer Zeit, als das Dritte Reich dämonisiert wurde, die Verbrechen dieser Jahre »hell ausleuchten, ans Tageslicht bringen« wollen (ebd., S. 62). Nach dieser Kraftanstrengung habe er voreilig geglaubt, »mich von etwas freigeschrieben zu haben, das nun hinter mir zu liegen hatte, zwar nicht abgetan, aber doch zu Ende gebracht« (ebd., S. 64). Zu Recht hat Grass diese Einschätzung, er sei mit Auschwitz fertig, voreilig genannt. Diese Danziger Trilogie sollte sein literarisches Meisterwerk bleiben und seinen Ruhm begründen, aber das »hell ausleuchten« und »ans Tageslicht bringen« der deutschen Schuld, das leisteten sie nicht. »Trommeln heißt Erinnern, ist daher einerseits Aufarbeiten, andererseits auch tröstendes Regredieren«, hat der Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke die Tätigkeit von Oskar Matzerath bezeichnet, »Trommeln heißt Schreiben, heißt Beten, heißt das Gewissen Erforschen, heißt Büßen, ermöglicht Weinen, heißt unausgesprochen, 128 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sich vor dem Ewigen Richter Rechtfertigen und sich das Himmelreich Erwerben« (Kurzke 2009, S. 89). Im »Scherbenlabyrinth dieses raffinierten Kunstwerks« habe sich ein junger Mensch, der Mitläufer der Nazis gewesen sei, »gut verstecken« können. Kurzke abschließend: »Der Roman wurde als Aufklärung über den Kleinbürgerfaschismus gelesen, nicht als Schuldbekenntnis seines Autors. Aber Oskar ist kein Aufklärer, sondern er ist das personifizierte schlechte Gewissen, das sich während der NS-Zeit hinter dem Kindsein versteckt und nach der NS-Zeit als Buckel übrigbleibt« (ebd., S. 90).

Also weder Aufklärung, noch Selbstklärung, aber ein inneres Bild von Grass und ein Blick auf das, was in den frühen 1960er Jahren möglich war. 1969, in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes, als der frühere Linkssozialist und Emigrant Willy Brandt gegen den Ex-Nazi Kurt Georg Kiesinger um das Amt des Bundeskanzlers kämpfte, hatten seine Kinder Grass zum ersten Mal gefragt, warum denn Brandt Deutschland habe verlassen müssen, was mit den Juden genau passiert sei und was er damals gemacht habe: Es sei ihm »relativ leicht« gefallen, die Biografie eines 17-jährigen Hitlerjungen, der »mit letztem Aufgebot noch Soldat wurde«, zu erzählen (Grass 2007a, S. 1062f.). Aber bei der Frage, was gewesen wäre, wenn er älter gewesen wäre, hätte ihn die Antwort Mühe gekostet: »Das fragwürdige Glück, dem ›richtigen Jahrgang‹ anzugehören«, notierte Grass über die Befragung, »äußerte sich in Stottersätzen, die hinter den Fragen der Kinder mein Tagebuch füllten« (ebd.). Und er wurde noch deutlicher, was die Konfrontation mit der tatsächlichen oder möglichen Schuld bei ihm auslöste: »Es war mir nicht möglich, mich […] von der Teilnahme an dem großen Verbrechen auszuschließen, zumal mich (mit wachsender zeitlicher Distanz immer häufiger) Angstträume belasteten, in denen ich mich versagend, schuldig erlebte« (ebd.). Im selben Jahr rückte ihm das im Stottern Verborgene und in den Angstträumen Sprechende so nah wie nie zuvor: Bei einer Lesung im Rahmen des Evangelischen Kirchentages in Stuttgart unterbrach ihn ein Mann, der in kaum verständlichen Sätzen ein Anliegen, bei dem es um »Treue« und »Ausverkauf« ging, vortrug, das erst deutlich wurde, als er mit dem Satz »Ich werde jetzt provokativ und grüße meine Kameraden von der SS!« aus einem Fläschchen einen Schluck Zyankali nahm und vor der Bühne zusammenbrach. Beim Transport ins Krankenhaus verstarb er. Grass hatte die Angehörigen anschließend besucht, aber die Angelegenheit in seinen Tagebüchern kunstvoll verschlüsselt (vgl. Herwig 2013, S. 217ff.). Der eine hatte in aller Öffentlichkeit seine Not gezeigt und beendet, der andere hatte einen Weg gefunden, durch künstlerischen Erfolg und Verweisen seiner Schuldgefühle in den Traum, eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Die Tochter des Selbstmörders, Ute Scheub, hat 30 Jahre später ihrem Vater unter dem Titel Das falsche Leben schonungslos ein Denkmal gesetzt (Scheub 2006). Ein 129 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Satz in diesem Buch lautet: »Die Folgen des Schweigens sind schlimmer als die der Wahrheit« (zit. nach Herwig 2013, S. 218). Aber die Folgen des Schweigens waren dieser Generation vertraut, weil sie Teil ihrer Erziehung waren – »Unsere Ehre heißt Treue«.240 Der Wahrheit hat keiner von ihnen über den Weg getraut. Auch das späte Geständnis von Grass war, weil es zu seinem Nutzen die Waffen-SS geschönt hatte, nur die halbe Wahrheit. Es hat ihm deshalb nicht die Erleichterung gebracht, die der oben zitierte Satz verheißt. Sein Modell hat lange funktioniert. Es wurde da brüchig, wo eine Wunde oder die Narbe einer Wunde geblieben war. »Ich bin mittlerweile fast achtzig und nenne mich immer noch ein Flüchtlingskind«, hat Grass in dem Interview gesagt, in dem er seine SS-Mitgliedschaft öffentlich gemacht hat.241 Auch in seinem Beitrag in der Reihe Reden über Deutschland in den Münchner Kammerspielen, die den Titel Rede vom Verlust trug, stand »der Verlust der Heimat« an der ersten Stelle. Obwohl er die Vertreibung als durch die »deutsche Schuld« begründet ansah und einsah, sei sie schmerzlich geblieben (vgl. Grass 2007b, S. 378). Dass Grass mit der Novelle Im Krebsgang sich dem Thema von Flucht und Vertreibung widmete, hing mit dieser Verlustgeschichte zusammen: Der Journalist Paul Pokriefke rekonstruiert die Geschichte der Wilhelm Gustloff, eines Luxusdampfers der Nazi-Urlaubs- und Freizeitorganisation Kraft durch Freude (KDF), der danach als Truppentransporter und zuletzt als Flüchtlingsschiff eingesetzt war. Die Gustloff ging in der Nacht vom 30. Januar 1945 mit 6.600 Passagieren, davon 5.000 Flüchtlingen und 1.600 Personen, die Wehrmachtsangehörige oder Bordpersonal waren, durch sowjetische Torpedos unter (Grass 2002, S. 104, 125ff.). Nur 200 Menschen überlebten, darunter der gerade geborene Pokriefke und seine Mutter Tulla (ebd., S. 141). Der Journalist hat seinen Auftrag von einem ehemaligen Dozenten bekommen, der darüber später einen Roman schreiben will. Bei der Recherche entdeckt er, dass sein Sohn Konrad Neonazi geworden ist und eine Internet-Plattform betreibt, die dem Gedenken an den Namensgeber des Schiffes gewidmet ist, einem mittleren Nazifunktionär, den ein junger Jude aus politischen Gründen 1936 in der Schweiz erschossen hatte. Konrad liefert sich im Internet heftigste Kämpfe mit einem gleichaltrigen Juden namens David, den er später bei einem Treffen an dem ehemaligen Gedenkstein für Wilhelm Gustloff erschießt. Nach dem Mord stellt sich heraus, dass David, mit dem Schicksal der Juden im Holocaust überidentifiziert, sich nur als Jude ausgegeben hatte. Der Auftraggeber, nur »der Alte« genannt, ist durch seine Herkunft aus Danzig und Nennung seines Buches Hundejahre eindeutig als Personifikation von Grass kenntlich gemacht. Aber das ist ein listiger Trick, der den Leser in die Irre führen soll: Pokriefke sagt von sich, er habe immer versucht, »politisch richtig zu liegen, nur nichts Falsches 240 »Meine Ehre heißt Treue« war der Wahlspruch der SS. 241 Interview mit Günter Grass, FAZ, 12.08.2006. 130 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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zu sagen, nach außen hin korrekt zu erscheinen. Selbstdisziplin nennt man das« (ebd., S. 210). Und er offenbart sich in seinen Selbstgesprächen als jemand, der mit allen Kräften, »schweißtreibend«, versucht, dass seine »Abgründe […] abgedeckelt« bleiben, dass der Sohn nicht »des Vaters verbotene, seit Jahren unter Hausarrest leidende Gedanken liest«, dass gegen seinen Willen »Gedanken […] aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, so daß ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken« (ebd., S. 75, 210, 200). Auf solche Sätze stützt sich Herwig bei seinem Verdacht, in der Person des Protagonisten Paul Pokriefke zeichne Grass sein eigenes Porträt, »das Seelenprotokoll eines Künstlers, der trotz aller Disziplin die Verdrängung nicht länger aufrechterhalten kann« (Herwig 2013, S. 228). Und auch in dem Satz »Nichts spricht uns frei. Man kann nicht alles auf Mutter oder die bornierte Paukermoral schieben«, der sich im Roman auf den Konflikt mit dem zum Rechtsradikalen gewordenen Sohn bezieht (Grass 2002, S. 184), will er Grass und »die Selbstauskunft seiner ganzen Generation« erkennen (Herwig 2013, S. 227). Für diese Deutung spricht auch, dass der Autor in der Person von Pokriefkes Sohn Konrad an die eigene Faszination für die Nazizeit samt ihrer Helden erinnert und im Urteil von dessen Vater auch Auskunft gibt über seine eigene, nach dem Krieg erfolgte Abrechnung mit diesem Wahn: »Ich jedoch bleibe dabei: fremd, nicht geheuer ist mir ein jeder, der nur ein einziges Ziel vor Augen hat, zum Beispiel mein Sohn …« (Grass 2002, S. 50, 69). Grass’ ausführlichen Reflexionen über die eigenen installierten Bremswerke waren, wie sich zeigen wird, ein Schritt in Richtung Preisgabe seines Geheimnisses, eine Auskunft über seine Teilhabe an der deutschen Schuld. Dieser Fortschritt wurde aber erkauft mit der abwegigen Konstruktion einer neuen Nachkriegsschuld: Die deutsche Linke, er selbst eingeschlossen, habe durch das Beschweigen der deutschen Opfer des Krieges bei Flucht und Vertreibung den Rechtsradikalen dieses Thema überlassen und zum Entstehen einer Neonazi-Bewegung beigetragen. »Der Alte« spricht von seinem »Versäumnis« und »Versagen«, diesen Stoff, »nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei«, nicht schon früher behandelt zu haben (ebd., S. 77, 99). Pokriefke weist darauf hin, das Thema Gustloff sei »jahrzehntelang tabu« gewesen, »gesamtdeutsch sozusagen«, und Tulla, seine Mutter, spitzt das zu auf die Anklage, »im Osten« habe man darüber nicht reden dürfen und »im Westen« sei, wenn überhaupt, »nur von and[e]re[n] schlimmen Sachen, Auschwitz und so was, die Rede gewesen« (ebd., S. 31, 50). Mit einer solchen Unterstellung, die darauf aus war, der deutschen kritischen Öffentlichkeit ein schlechtes Gewissen einzureden und damit die absolute Dringlichkeit zu verstärken, dieses Thema endlich anzupacken, wurde Grass zum Türöffner für eine wenig später einsetzende Debatte und mediale Stampede, in der es, ohne jede begriffliche Klärung und bei Außerachtlassung der Frage von historischer Ursache und 131 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Wirkung, nur noch deutsche Opfer – der alliierten Bomben, der Vergewaltigungen durch die Rote Armee, von Flucht und Vertreibung –, aber keine Täter mehr gab (vgl. Kettenacker 2003; Heer 2004). Und was die behauptete Mitverantwortung der BRD für das Erstarken des Rechtsradikalismus und das Entstehen neuer Nazistrukturen in der Bundesrepublik angeht, dürfte doch der wichtigste Grund dafür das hartnäckige Leugnen und Schweigen von Abermillionen Tätern und Tathelfern zu ihrem Anteil an der deutschen Schuld gewesen sein. Dadurch entstand erst jenes böse Geheimnis um diese Zeit und die Faszination, die von Hitler und dessen Aufstieg ausging. Grass und seine Generation waren daran beteiligt, dass allzu lange dieses trübe Dämmerlicht des Halbgewussten und Halbgeschehenen vorherrschte statt der hell ausgeleuchteten Fakten und des ehrlichen Umgangs damit. Grass ist sich in seiner Novelle Im Krebsgang über seine Rolle als Gefangener seines Geheimnisses und als Träger einer Lüge innegeworden. Die schließlich vier Jahre später erfolgte Aufdeckung seines Dienstes in der Waffen-SS wäre ohne eine solche innere »Lockerungsübung« gar nicht denkbar gewesen. Zugleich hat die erneute, jetzt autobiografische Reise zurück in die Danziger Jahre, die er mit der Novelle eingeleitet hatte, ihm erlaubt, über das Thema auch einen Roman zu wagen, der die Tatsache seiner Lüge literarisch verpackte und die moralische Empörung auf diese Weise abfederte. Aber mit diesem Häuten der Zwiebel war, wie sich zeigen wird, die Nazizeit nicht erledigt und die Schuldfrage nicht abgehakt. Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich hat darauf hingewiesen, dass die Realgeschichte beim zweiten Blick ein Ingredienz erkennen lässt, welches er »Faszinationsgeschichte« nennt: »In dem, was fasziniert durch die reale Geschichte hindurch, sind unerledigte Konflikte, nicht ausgetragene Spannungen, ist das nichtgelöste Problem jeweils präsent« (Heinrich 1995, S. 14f.). Diese These hat ihre Richtigkeit schon im Fall Martin Walser und seines Schwenks vom früheren »Kommunisten« zum späten Propheten von Volk und Nation unter Beweis gestellt. Auch bei Grass zeigt sie ihre Brauchbarkeit. Das Geständnis hat Grass mit Sicherheit erleichtert, aber es hat auch seine bisher so rigide durchgehaltene Kontrolle über das Territorium der eigenen Nazi-Vergangenheit gelockert. Und da die SS ja nur ein Punkt in dieser vulkanischen Landschaft war, musste damit gerechnet werden, was Paul Pokriefke im Krebsgang mit dem drastischen Bild von der Geschichte als einem verstopften Klo so beschrieben hat: »Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch« (Grass 2002, S. 116). Die Ähnlichkeit mit Walsers Formulierung von der »Hitlerscheiße« in Finks Krieg, aus der die Deutschen nicht herauskommen und die von den Siegern ständig als Mittel der Erpressung »am Kochen« gehalten werde, ist sicher nicht zufällig: Walsers Altersgenosse Grass hatte nur ein paar Jahre später zu dieser Sprache gefunden. Beim Interview mit Tom Segev aus Anlass des Erscheinens von Beim Häuten der Zwiebel hatte Grass die Zahl von 6 Millionen von der Roten Armee »liquidierter« deutscher Gefangener und eine weit übertriebene Zahl von Flüchtlingen, die sich verzweifelt 132 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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vor den sowjetischen Armeen nach Westen retten wollten, erfunden. Das war nicht nur Ausdruck eines aus der Zeit des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion stammenden ideologischen »Russenhasses« – Grass war damals in der nur noch paramilitärisch ausgerichteten HJ und im Flakeinsatz. Als SS-Mann war er 1945 auch selbst an der jetzt in Deutschland verlaufenden »Ostfront« eingesetzt und dürfte keine größere Angst gehabt haben, als kurz vor Kriegsende noch zum Gefangenen des »Iwan« zu werden. Das war, im Sinne von Heinrich, sein »nicht gelöstes Problem«. Auch der zweite Skandal nach der Selbstanzeige als SS-Mann ließ diesen Verlauf erkennen: Hier stand die angeblich einen Atomschlag mit ungeheuren Folgen planende israelische Regierung im Zentrum. Der »zweite Text« seines Gedichtes Was gesagt werden muss war aber ein darüber hinaus weisendes oder genauer: lange davor liegendes Thema. Aus der Zeit der Gefangenschaft in einem US-Lager hatte er eine Begegnung erinnert, bei der eine Gruppe von DPs und eine von deutschen Gefangenen, die beide im Bereich der Kantinen eingesetzt waren, aufeinander getroffen waren: Die überlebenden Juden hatten den Deutschen zugeschrien »Nazis, ihr Nazis!«, die Deutschen hatten zurück geschrien: »Haut bloß ab, nach Palästina!« (Grass 2006, S. 222) Auch das war eine Niederlage – die Endlösung war gescheitert, es waren noch ein paar Juden am Leben geblieben, und sie würden Zeugnis ablegen bei der Feststellung der noch größeren, der moralischen Kapitulation. Hinter dieser Katastrophe, das zeigt die Analyse des unterschwelligen »zweiten Textes« im Gedicht, offenbarte sich ein anderer »unerledigter Konflikt« aus der Lava der Faszinationsgeschichte: Ein »Stolz«, der sich immer noch weigerte, die deutsche Schuld anzuerkennen und der Grass zwang, an der Zahl der durch Nazideutschland ermordeter Juden, Russen, Polen usw. weiter herum zu rechnen, um sie gegen ein Äquivalent »deutscher« Opfer auszubalancieren.242 Grass hatte sich damit nicht als »Antisemit« im klassischen Sinne entlarvt, aber er verwies auf einen Typ, der, wie sein Kollege Walser gezeigt hat, unter »Hitlers jüngsten Parteimitgliedern« häufig anzutreffen war und bei dem sich alte, abgelagerte nazistische Sedimente mit neuen, aus der Existenz Israels herrührenden Geröllhalden, mischten.243 Mathias Döpfner, oberster Chef der Axel-Springer-Gruppe, hatte in der Bild-Zeitung seinen vernichtenden Kommentar zum Israel-Gedicht mit dem vielsagenden Satz abgeschlossen: »Interessant ist ab jetzt nicht, was Grass gesagt hat, sondern nur noch, wie die Deutschen darauf reagieren«.244 Sie reagierten verworren: Im kakophonischen Gewirr der Stimmen von Feuilletonredakteuren und Wissenschaftlern, Spitzenpolitikern und Schriftstellerkollegen, Akademie- und PEN-Präsidenten, Sprechern von Parteien und NGOs, engen Freunden und Feinden des Dichters gab es keine Stimme, 242 Hannes Heer, Interview Konkret 10/2011, 3. 243 Raphael Gross: Antisemitismus ohne Antisemiten. BZ, 07.04.2012. 244 Bild, 05.04.2012. 133 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die sich so vernehmbar gemacht hätte, dass ein zentrales, den Nerv der Gesellschaft berührendes Thema, sichtbar geworden wäre. Anders als im Historikerstreit oder beim Auftritt Walsers in der Paulskirche kam es auch nicht zum Protest einer Gruppe von prominenten Persönlichkeiten oder einer mutigen Einzelperson des öffentlichen Lebens, die eine solche Themenstellung kraft ihrer intellektuellen und moralischen Autorität durchgesetzt hätte. Es erfolgte kein Appell angesehener deutscher Künstler an Grass, seinen Nobelpreis zurückzugeben und es gab keinen Antrag in der SPD, den verdienten Parteigenossen auszuschließen. Mit einem Wort – der Skandal blieb aus. Stattdessen präsentierte die Zeitschrift Cicero die aktuelle Liste der »fünfhundert einflussreichsten deutschen Intellektuellen«: Platz 1 belegte Günter Grass.245

Das Ende der Skandale? Peter Sloterdijk hatte schon 2007 diagnostiziert, dass Deutschland, aus Gründen der Schuldkompensation früher ein »Standort der Hypermoral«, nach 60-jähriger »Arbeit der Deutschen an sich selbst« jetzt in einen neuen Aggregatzustand eingetreten sei, den man nur als »Normalisierung« bezeichnen könne (Sloterdijk 2008, S. 55f.). Skandale, wie sie sich im letzten Abschnitt dieser »Genesungsphase« an Walsers Frankfurter Rede oder am outing von Grass als SS-Mann entzündet habe, seien deshalb so heftig gewesen, weil dabei zwei Personen im Zentrum standen, die bisher »als die sichersten deutschen Integritätsgaranten« gegolten hatten. Sie würden die letzten sein (ebd.). Sloterdijks Loblied auf die Absenkung der Moral auf Normal-Null nach den »letzten« Skandalen suggeriert, dass damit die Bundesrepublik aus dem Schatten des Rechtsnachfolgers des Dritten Reichs wie aus der Rolle von dessen Schuldnachlassverwalters herausgetreten und endgültig auf dem Weg sei, sich zu einer normalen, demokratischen »Gesellschaft« zu entwickeln. Wenn sich der Philosoph da nicht irrt: Man könnte seine optimistische Zukunftsvision nämlich mit einer sehr viel skeptischeren Lagebeschreibung konterkarieren, die von einer »Erlahmung unserer eigenen moralischen Kräfte« spricht und vom Zweifel, »ob wir den in der Nachkriegszeit formulierten Idealen […] einer humanen Gesellschaft und der universellen Geltung von Menschen- und Bürgerrechten noch gerecht werden oder ihnen überhaupt noch anhängen« (Minkmar 2013, S. 207). Dieser Blick von Nils Minkmar, dem Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat zudem einen »Wertrelativismus« als neue Leitkultur (ebd., S. 208), und einen daraus resultierenden Verlust der Fähigkeit, 245 FAZ, 27.12.2012. Auf den Plätzen zwei bis fünf folgten Peter Handke, Martin Walser, Elfriede Jelinek und Alice Schwarzer. Die Auswahl ergab sich aufgrund der Nennung in 160 Zeitungen, Zitaten aus dem Internet, Treffer in der wissenschaftlichen Recherche von Google und Querverweisen im Munzinger Archiv. 134 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»wichtige Themen von unwichtigen zu unterscheiden« oder den Maßstab dafür, wer durch eine herausragende Leistung die öffentliche Würdigung verdient und wer nicht, entdeckt: stattdessen würden nur noch einfach »alle [verehrt], die berühmt sind, weil sie berühmt sind« (ebd., S. 211). Minkmar formuliert als Fazit: »Die parlamentarische Demokratie, der Rechtsstaat, die pluralistisch verfasste Medienlandschaft sind mindestens ebenso in Gefahr wie der Sozialstaat« (ebd., S. 213). Das hieße als Zukunftsprognose – eine Entwicklung hin zur Postdemokratie. Diesen »Wertrelativismus« und »Maßstabverlust« belegt auch der Umgang kritischer Autoren wie des Soziologen Heinz Bude oder des Literaturkritikers Malte Herwig mit den Dioskuren Walser und Grass: Bude feierte letzteren aus Anlass seiner späten Waffen-SS-Beichte als »echten Repräsentanten der Bundesrepublik« und »würdige[n] Nobelpreisträger aus Deutschland«.246 Er begründete dieses Adelsprädikat gerade mit dem, was das Skandalon gewesen war – dessen jahrzehntelanges Verschweigen. Dieser »Komplex der Verborgenheit«, so die schamanistisch anmutende Beschwörung, durchdringe nicht nur das Werk von Grass, sondern verleihe auch »seiner Person ihre spezifische historische Glaubwürdigkeit«.247 Das irritierende Lob der Täuschung gründet auf Budes berechtigtem Hinweis auf die Bedeutung der »Flakhelfer-Generation« für den Entwicklungsprozess einer demokratischen Bundesrepublik (Bude 1987), bedient sich aber in diesem Fall der völlig unberechtigten Zuordnung von Grass zu dieser Generation – Grass war kein Flakhelfer-Schüler wie die Jahrgänge 1928 bis 1930, sondern als 1927er Jahrgang ein normaler Soldat inklusive nachfolgender Gefangenschaft. Bude unterschlägt zudem die gravierende Tatsache, dass die Waffen-SS im Nürnberger-Prozess zur »verbrecherischen Organisation« erklärt worden war. Herwig hat nur am Ende seines genau recherchierten und mit einer feinen Haltung des Verstehens für unübersehbare Zeitumstände geschriebenen Buches die gebotene Distanz zum Thema aufgegeben. In einer versöhnlichen Bilanz und im Vertrauen auf die Richtigkeit von Budes Flakhelfer-Zuordnung hängt auch er Walser und Grass den Orden dieser Altersgruppe um und macht sie zu Verkörperungen für »den Wandel vom Schlechten zum Guten« (Herwig 2013, S. 293). Sie hätten sich wie die meisten Deutschen »im Graukittel einer kompromittierenden Wirklichkeit nach vorne getastet« und sich an dieser Erfahrung »im positiven Sinne« abgearbeitet (ebd., S. 294). Was aber war der »positive« Ertrag dieses Verhaltens im Falle von Walser und Grass –, dass sie trotz »denkbar ungünstiger Voraussetzungen« (ebd., S. 293) zu schreiben begonnen hatten und dabei nicht nur Literatur produziert, sondern diese auch als Medium der Tarnung und des Verwischens der Spuren entdeckt und perfektioniert hatten? 246 Heinz Bude: Die Überlegenheit des Schülersoldaten. Günter Grass zeigt, wo wir herkommen. SZ, 17.8.2006. 247 Ebd. 135 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Maxim Biller hat der deutschen Nachkriegsliteratur vorgeworfen, dass es darin keine einzige Romanpassage mit deutschen Soldaten als Tätern und Mördern gäbe und diesen Vorwurf mit der folgenden Beobachtung noch verschärft: »Ich habe bei keinem der Nachkriegs-Kriegs-Autoren das klare und unmißverständliche Eingeständnis gelesen: Ja, ich habe andere getötet, ja, ich habe geholfen, andere zu töten […]. Sie stehen immer mittendrin und dennoch ganz weit daneben, diese Krieger wider Willen«.248 Diese Kritik richtete sich vornehmlich gegen die älteren Mitglieder der Gruppe 47 – Hans Werner Richter, Heinrich Böll, Hermann Lenz und Wolfgang Borchert. Von der Soldatenexistenz von Walser und Grass war wegen deren Schweigen damals ja nichts bekannt, und sie waren auch keine Mörder gewesen. Aber als Grass dann 40 Jahre später in Beim Häuten der Zwiebel erzählte, er habe bei seinem Fronteinsatz in den Endkämpfen »keinen einzigen Schuss abgegeben« (Grass 2006, S. 164), dann entsprach das genau der Passage, die Biller von Eugen Rapp, der Hauptfigur eines dieser Romane, zitiert hatte: Dieser habe in allen Schlachten und Kämpfen »keinen einzigen Schuß« abgegeben, sodass bei der Gefangennahme durch die Amerikaner die Patronen in seinem Gurt mit Grünspan überzogen gewesen seien.249 Auch die Schilderung von Grass’ gesamtem Einsatz an der Front entsprach dem, was Biller als typisch für das »angebliche Unbeteiligt- und Unschuldigsein« (ebd.) der »Nachkriegs-Kriegs-Autoren« geschildert hatte, dass sie »immer mittendrin und dennoch ganz weit daneben« gestanden hätten: Auch Grass sprach von seiner Einheit als von einer »eher imaginären Division«, von »unbekannten Marschkompanien«, denen er zugeteilt worden sei und dass bei ihm, wann immer ein Einsatz anstand, regelmäßig »der Film« seiner Erinnerung gerissen sei und nur »Bildsalat« hinterlassen habe (Grass 2006, S. 135, 136, 138). Man muss Maxim Billers Schlussfolgerung nicht übernehmen, dass »mit dem Krieg […] die Lüge in unsere Literatur [kam]«.250 Aber man kann die Frage stellen, wie die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur verlaufen wäre, wenn mindestens Grass und Walser ihre Zeit in Wehrmacht bzw. Waffen-SS nicht verschwiegen oder diese eigenen Erfahrungen sogar zum Thema ihres Schreibens gemacht hätten – das wäre ein Abarbeiten »im positiven Sinne« gewesen. Die deutsche Literatur wäre dadurch nämlich ehrlicher und reicher und die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland eine völlig andere geworden. Der Verlust, der durch diese Unterlassung entstanden ist, wird deutlich, wenn man sich eine Geschichte aus dem Soldatenleben des Günter Grass vornimmt, die er zweimal erzählt hat. 1967 hatte er sich auf einer Israel-Reise bei Vorträgen in Jerusalem und Tel Aviv nicht nur als »das Zufallsprodukt eines halbwegs zu früh geborenen 248 Maxim Biller: Unschuld mit Grünspan. FAZ, 13.02.1998. 249 Ebd. 250 Ebd. 136 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und halbwegs zu spät infizierten Jahrgangs« vorgestellt, der »unbelastet« in die Nachkriegszeit hineingewachsen sei,251 sondern seinen Zuhörern auch eine unerhörte Begebenheit mitgeteilt: In einem US-Gefangenenlager in der Nähe des bayerischen Fürstenfeldbruck seien jüdische DPs und ehemalige Soldaten der Wehrmacht zur Arbeit eingesetzt worden. Ben war der Jude, der das KZ Theresienstadt, Dieter der Deutsche, der die Ardennenoffensive überlebt hat. Die beiden Gruppen hätten sich regelmäßig zum Vergnügen der Amerikaner verprügelt und dabei »ihr Lager- und Kasernen-Deutsch – ›Arsch aufreißen! Auf Vordermann bringen! Ihr Heinis!‹«– gesprochen. Nur als der US-Kulturoffizier, ein Princeton-Historiker und vormaliger Wiener Jude, dazwischen gegangen sei, um beide Gruppen im Sinne vernunftgesteuerter »education« über die Grundlagen ihrer Aggressivität – »Antisemitismus« und »Verbrechen« – aufzuklären, hätten sich die so Belehrten blitzartig verbündet und den »Rechthaber« mit einem Lied in Grund und Boden gesungen, das die einen im KZ, die andern auf einem Truppenübungsplatz zu singen gezwungen worden waren – O, du schöner Westerwald! 252 Das Aufheben aller grundsätzlichen Unterschiede zwischen Tätern und Opfern, das er an einer späteren Stelle seines Vortrags am Beispiel der freundschaftlichen Beziehung zwischen Adenauer und Ben Gurion ebenfalls durchspielte, diente dem durchsichtigen Zweck des Fraternisierens und einer auf »Gewöhnung« beruhenden Versöhnung. In seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel schilderte Grass 40 Jahre später das Aufeinandertreffen der beiden Gruppen im Gefangenenlager wahrheitsgemäßer: »Die überlebenden Juden hatten den Deutschen zugeschrien ›Nazis, ihr Nazis!‹, die Deutschen hatten zurückgeschrien: ›Haut bloß ab, nach Palästina!‹« (Grass 2006, S. 222). Was spricht da aus wem und zu welchem Zweck? Es ist eine Sprache der Geheimhaltung, die sich, genau wie bei Walser, ständig kontrolliert, um sich nicht zu verraten. Letzterer hat sogar zum Schutz seines Geheimnisses 2012 beim Hamburger Landgericht ein Urteil erwirkt hat, das jedem verbietet zu behaupten, er sei wissentlich NSDAP-Mitglied gewesen (Hartwig 2013, S. 279f.). Dass aus alledem, aus einer solchen längst zum Charakter gewordenen Grundhaltung, keine Literatur wirklicher Freiheit und umfassender Wahrheit entstehen konnte, liegt auf der Hand. Erschütternder ist, dass dieser Literatur, bei Grass wie bei Walser, tief vergraben, aber immer wieder zum Vorschein kommend, ein alter Hass auf die Juden implementiert war. Klaus Briegleb hat darauf schon vor Jahren in seiner Streitschrift zum Antisemitismus der Gruppe 47 aufmerksam gemacht (Briegleb 2003). »Unsere publizistischen Schaukämpfe um Symbole und Bauten, um Formen der Repräsentation und um Begriffe«, hat der Philosoph Horst Günther angemerkt, »sind ja nicht deshalb so heftig, weil immer neue und bessere Argumente kämen […]. Es sind Glaubenskämpfe, die ihren Nachschub verbissen aus schwärenden Wunden 251 Günter Grass: Rede von der Gewöhnung. FAZ, 20.03.1967. 252 Ebd. 137 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ziehen, die eine unverarbeitete Geschichte geschlagen hat«. Und er hat vorsorglich darauf hingewiesen, dass dieses nicht nur ein »Problem der älteren Generation und der Unbelehrbaren« sei, das sich mit deren Tod erledigen würde (Günther 1994, S. 39). Dafür, dass dieser Prozess weitergeht, hat die »generationelle Weitergabe« von Schuld und verweigerter Annahme gesorgt. Es werden also, anders als Sloterdijk prophezeit hat, die Skandale um Walser und Grass nicht »die letzten« gewesen sein. Was folgt, wird möglicherweise andere Verlaufs- und Ausdrucksformen annehmen. Aber es wird, da die zugrunde liegende deutsche Schuld eine kollektive war, auch weiter der Öffentlichkeit bedürfen, um sich zu artikulieren. Und man wird dabei auf immer wieder neu gezogene Mauern der Abwehr treffen, also immer wieder heftige Auseinandersetzungen auslösen. Der Historiker Dan Diner hat diese nach außen drängenden negativen Energien und deren gespensterhaften Kreislauf so beschrieben: »Weil das Verbrechen gegen ein anderes Kollektiv gerichtet war, zieht es gleichsam intuitiv eine kollektive Schuldvermutung nach sich. Mehr noch: Weil derartige Verbrechen angemessen gar nicht geahndet werden können, legt sich die nicht abgegoltene, nicht abgeltbare Schuld der in unterschiedlicher Weise in die Tat Verstrickten auf alle, die ihrem Gedächtnis nach dem Kollektiv zugehören, aus dem heraus die Täter handelten. So erzeugt jenes Kollektivverbrechen wie aus sich heraus ein vagabundierendes und generationell übergreifendes Schuldgefühl. Und ebenjenes Schuldgefühl mutiert zu einem zentralen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins der Deutschen« (Diner 1999, S. 65f.).

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Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Wolfgang Benz

Dem schweigenden Entsetzen nach dem Untergang des nationalsozialistischen Mordregimes folgten – teils parallel, teils zeitlich nacheinander – unterschiedliche Reaktionen auf die Katastrophe. Aus unbewusstem Schuld- und Leidensdruck entstand nach Auschwitz, und zwar wegen Auschwitz, ein neuer Antisemitismus, der sich in verschiedenen Spielarten – als Antizionismus, als Kritik an Israel, aber auch in den traditionellen Formen – artikuliert. Die Gegenströmung zur tradierten klandestinen Judenfeindschaft versteht sich, gefördert durch die Instanzen der Demokratisierung, ab 1945 als unreflektierter Philosemitismus, dessen Exponenten oft genug ebenso wenig Kenntnis haben von jüdischer Kultur und Identität, der sie sich annähern möchten, wie von den historischen Fakten, deren Schatten sie überspringen wollen. Beide Verhaltensweisen – der sekundäre Antisemitismus wie der emotionale Philosemitismus – bleiben zwar auf jeweils eine Minderheit beschränkt, prägen aber auch die Reaktionen der Mehrheit. Als späte Reaktion – entstanden aus der Kombination von philosemitischer Grundhaltung und Trauer über den kulturellen Substanzverlust durch die nationalsozialistische Rassenpolitik – wurde die Legende von der deutsch-jüdischen Symbiose wiederbelebt. Möglicherweise erfolgte dies auch in unbewusster Abwehr der massenhaften Emotion, denn die Beschwörung der Symbiose ist natürlich nur das Anliegen von Intellektuellen. Die Wirkung ist jedenfalls eindeutig, sie erlaubt – wenn man die Zerstörung des angeblich innigen Miteinanders von jüdischer und deutscher Kultur beklagt, einen Schritt aus dem Täterkreis hin zu den Opfern: In der Hoffnung, sich ein wenig den Opfern zu nähern, besteht der Gewinn von Distanz zu den Tätern und damit Erlösung vom Leidensdruck (vgl. Bodemann 1996). Lange vor Hitlers Machtantritt hatten die Juden hinlänglich Grund, physische und psychische Gewalt zu fürchten, auch wenn sie vor 1933 noch nicht alltäglich war. Danach aber fand sich bald nicht einmal mehr das Minimum an Solidarität, Rechtsbewusstsein und Anstand, das im sozialen Leben einer so kultivierten Nation wie der deutschen 147 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und angesichts des hohen Assimilierungsgrads der deutschen Juden selbstverständlich hätte sein müssen. 1943, zehn Jahre nach dem Machterhalt Hitlers, verkündeten die Nationalsozialisten, Deutschland sei »judenfrei«. Vor dem Beginn der nationalsozialistischen Judenverfolgung hatten in Deutschland etwas mehr als eine halbe Million Juden gelebt. Zwischen 1933 und 1945 konnten etwa 270.000 von ihnen auswandern, mehr als 200.000 wurden in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert. Etwa 165.000 sind dort ermordet worden, ungefähr 15.000 deutsche Juden überlebten außerhalb der Konzentrationslager, die meisten von ihnen als Partner in »Mischehen« mit Nichtjuden, einige hatten sich im Untergrund verbergen können (vgl. Friedländer 1998; Benz 1993). Die aus KZ und Vernichtungslagern befreiten Juden, die sich nach 1945 als »Displaced Persons« unter alliierter Obhut auf deutschem Boden aufhielten, warteten nur, bis sie zu Kräften gekommen und fähig zur Ausreise sein würden; bis die Formalitäten der Immigration in ein Land, das ihnen Heimat bieten wollte, erledigt wären. Das dauerte freilich Jahre. Die überlebenden Juden stammten zumeist aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen und anderen Ländern Osteuropas. Andere wanderten in den ersten Nachkriegsjahren nach Deutschland zu, als in Osteuropa neuer Antisemitismus manifest wurde und sich in Pogromen entlud. Auch diese Zuwanderer betrachteten Deutschland nur als Durchgangsstation (vgl. Königseder/Wetzel 1994; Königseder 1998). Unbeabsichtigt beeinflussten diese Juden aber den Wiederbeginn jüdischen Lebens in Deutschland. Sie sammelten sich in der amerikanischen Besatzungszone, wo die US-Army und die Hilfsorganisation »United Nations Relief and Rehabilitation Administration« (UNRRA) und ab Juli 1947 in deren Nachfolge die »International Refugee Organisation« (IRO) Lager einrichteten, vor allem in Bayern: in Deggendorf und Landsberg, in München-Freimann, Feldafing und – das bis 1957 am längsten existierende – unter dem Namen »Föhrenwald« im Landkreis Wolfratshausen. Insgesamt fast 200.000 jüdische Displaced Persons lebten zwischen 1945 und 1950 dort. Die Lager wurden Zentren jüdischer Kultur und jüdischer Religiosität in Deutschland. Aber die Synagogen und Schulen, Zeitungen und Theatergruppen setzten nur das Leben des Ghettos fort. Die überwiegend ostjüdischen Ghettobewohner hatten verständlicherweise kein Interesse an ihrer deutschen Umgebung, sie lehnten Kontakte und Zusammenarbeit meist strikt ab. Manchen gelang die illegale Einwanderung nach Palästina oder die legale Immigration im Rahmen der Quotenregelung in die Vereinigten Staaten, für die meisten brachte jedoch erst die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 die Erfüllung ihrer Wünsche. Ab 1950 leerten sich die Lager, übrig blieb ein Rest jüdischer Menschen, die zu alt und zu krank für die Auswanderung waren, deren Visa-Probleme unlösbar blieben oder die nach allen überstandenen Leiden nicht mehr fähig waren, sich irgendwo eingliedern zu lassen. Die Bevölkerungsbewegung hielt bis 1952 an, München war 148 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die Durchzugs- und Ausreisestation für etwa 12.000 Juden, bis die IRO 1952 die Betreuung der jüdischen Displaced Persons in Deutschland einstellte. Da zeigte sich, dass etwa 12.000 Juden in Deutschland bleiben wollten, und zwar nicht nur wegen Krankheit oder Erschöpfung. Manche hatten auch neue Existenzen gegründet oder sich verheiratet (Wetzel 1987). Bei den Deutschen stießen die überlebenden Juden in den Lagern auf Ressentiments und Abneigung – sie fühlten sich bedroht und vor allem an ihre verdrängte Schuld erinnert. Das äußerte sich immer wieder in antisemitischen Vorfällen, etwa bei der Razzia am 28. Mai 1952 im Lager Föhrenwald bei München. Mehrere hundert Mann des Zollfahndungsdienstes, der Kriminal- und der Landespolizei umzingelten das Lager und drangen in es ein; sie waren bewaffnet und führten Spürhunde mit sich und das alles nur, um Geschäfte und Kioske zu kontrollieren, in denen unverzollte Waren vermutet wurden. Die 2.000 Juden im Lager aber fühlten sich an die Mordaktionen der Nazis in den Ghettos und Konzentrationslagern erinnert. Die Ordnungshüter prügelten, stießen antisemitische und nazistische Parolen aus, drohten, die Krematorien und Gaskammern existierten noch, dies sei erst der Anfang.1 Heute leben wieder rund 100.000 Juden in Deutschland – nach der offiziellen Statistik, das heißt als registrierte Mitglieder einer jüdischen Gemeinde –, aber die wenigsten von ihnen sind Überlebende des früheren deutschen Judentums, also Rückkehrer aus den Konzentrationslagern oder deren Nachkommen. Die Juden in Deutschland machen kaum ein Promille der Bevölkerung aus, sie wohnen vor allem in Großstädten, durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat sich die Zahl seit 1989 mehr als verdoppelt. Diese Präsenz war auf jüdischer Seite nicht beabsichtigt, nicht erwünscht. Es galt den Juden in aller Welt als selbstverständlich, dass Deutschland nach dem Holocaust für sie ein gebanntes Land sein werde, ähnlich Spanien nach der Vertreibung der Juden im Jahre 1492. Anfang 1950 fasste der Jüdische Weltkongress in Frankfurt am Main eine Resolution, nach der jüdische Organisationen in Deutschland nur Interimscharakter haben sollten: Wenn sie dem letzten Juden aus Deutschland zur Ausreise verholfen hätten, würden sie sich auflösen. Doch schon zehn Tage später, am 19. Juli 1950, wurde der »Zentralrat der Juden in Deutschland« gegründet, als Signal, dass es doch noch Juden gab, die in Deutschland leben und sich hier behaupten wollten. Das war in vielerlei Hinsicht schwierig. Denn die Massenauswanderung nach Israel zwischen 1948 und 1953 beraubte die Lager der kulturellen und geistigen Substanz, die dort entstanden war. Das reiche religiöse Leben und die kulturelle Vielfalt der DP-Lager konnten mithin 1 Vgl. Eingabe Jüdisches Komitee Regierungslager Föhrenwald, 04.06.1952, an Staatssekretär Oberländer, YIVO Institute New York, DP.Collection Germany, Folder 1326 (Kopie im Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin). 149 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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nicht auf die neugegründeten jüdischen Gemeinden übergehen. In Süddeutschland stellten aber die aus Osteuropa Gekommenen den Löwenanteil unter den Juden, in München waren es Ende der 50er Jahre über 79 Prozent. Die Beziehungen waren gespannt: Die weitgehend assimilierten deutschen Juden hatten Probleme mit den Ostjuden, die jiddisch sprachen, die rituellen und religiösen Gesetze strenger beachteten und ihr Judentum auch äußerlich demonstrierten. Die deutschen Juden wiederum sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, lax im Glauben zu sein, kaum jüdische Geistigkeit auszustrahlen und sich allzu stark mit Nichtjüdischem verbunden zu haben, was sich zum Beispiel an der Zahl der Ehen mit Nichtjuden ablesen ließ. Die deutschjüdische Identität, häufig als deutschjüdische Symbiose missverstanden und von interessierten Nichtjuden auch nach dem Holocaust als vermeintliche Tatsache beschworen, stieß bei den Ostjuden auf Skepsis, Unverständnis und Ablehnung. Solche Probleme des Umgangs waren konstitutiv für die Gründungsgeschichte der neuen jüdischen Gemeinden in Deutschland, und sie wirken bis in die Gegenwart fort. Der Wiederbeginn jüdischen Lebens in Deutschland war von den Spannungen gekennzeichnet, die sich aus den sozialen, kulturellen und psychischen Problemen ergaben. In den 50er Jahren entstand die religiöse Rechtfertigung für den Verbleib von Juden in Deutschland, die ein prominenter Rabbiner so formulierte: Juden seien für deutsche Menschen ein Mahnmal, jüdische Existenz in Deutschland halte die Erinnerung wach, führe zum Nachdenken und zur Einkehr. Eine nicht geringe Zahl Deutscher suche den Weg zur Sühne: »Und in dieser Situation gewinnt das Vorhandensein eines Überrestes Israels in Deutschland eine ganz andere Perspektive und Bedeutung. Noch nie sah ich eine solche Aufgeschlossenheit für jüdische Gedanken, beinahe eine Sehnsucht nach jüdischen Werten im Kreise anderer Völker wie heute und hier. Inmitten dieser Entwicklung und umdroht von einem wieder aufsteigenden Antisemitismus – haben Juden in Deutschland ihre Aufgabe und damit die Möglichkeit einer Zukunft und Existenzberechtigung« (Levy nach Maór 1961, S. III).

Wenn Juden argwöhnisch sind und im Zweifelsfall Antisemitismus vermuten, fehlen auf der anderen Seite den Nichtjuden in Deutschland das Verständnis und die Bereitschaft, sich in die Situation deutscher Juden zu versetzen, etwa sich vorzustellen, dass sie, auch und gerade als Angehörige der zweiten und dritten Generation nach dem Holocaust, in einem »Angst- und Schuldghetto« (Rafael Seligmann) leben; dass Juden in Deutschland traumatisiert sind vom Gefühl, als dem Inferno Entronnene im Land ihrer Mörder zu leben. Was die Psychoanalytiker als Überlebenssyndrom beschrieben haben, ist für viele allgegenwärtige Realität (Schneider 1994; Brumlik et al. 1988; Brenner 1995). 150 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Der wachsende zeitliche Abstand zum Holocaust, der das Trauma auslöste, spielt für die Juden als Opfer keine Rolle. Von den Nichtjuden wird er dagegen als Hauptargument und als Postulat nach Normalität ins Treffen geführt. »Könnt ihr denn gar nicht vergessen, es ist doch schon so lange her«, lautet die Standardformel, und wenn Juden darauf mit »Nein« antworten, entsteht Verbitterung, wird die jüdische Haltung als »unversöhnlich« abgelehnt oder verurteilt, fühlt man sich im unterschwelligen Vorbehalt – im latenten Antisemitismus – bestätigt. Der Vorschlag, Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, zum Bundespräsidenten zu wählen, war journalistisches Feuerwerk, veranstaltet Anfang der 90er Jahre von einer Wochenzeitung im Bemühen, sich beim Publikum durchzusetzen. Leser gingen mit großem Ernst und beträchtlicher Wut darauf ein. Manche versuchten sich in Ironie (»Es war jedesmal mit hohen Unkosten und Zahlungen verbunden, wenn führende Bonner Politiker zur Einholung von Direktiven nach Jerusalem reisen mussten«). Andere machten sich mit Schmähungen Luft (»Ein Volk, das auftragsgemäß die Juden fast vernichtete, soll nun sein Glück durch einen fetten Geld-Juden finden«). Symptomatisch ist die Zuschrift, in der es heißt: »Er wird aber immer ein Fremder unter uns bleiben, und wenn Sie noch so wundersame Dinge über ihn erzählen, dass einem die Augen tränen« (Die Woche, 18.02.1993). In solch ausgrenzendem Vorurteil, das »den Juden« als »den Fremden« definieren will, kommt eine Grundeinstellung zum Ausdruck, die man als eine der letzten Propagandafrüchte des Nationalsozialismus verstehen kann – die Diskriminierung und Entrechtung begann ja mit der Definition, dass die deutschen Juden »Fremde« seien und deshalb mit einem minderen Rechtsstatus vorliebnehmen müssten –, die aber seit der Gründung des Staates Israel auch mit dem Hinweis auf das Heimatrecht aller Juden in diesem Land gerechtfertigt wird. Ignatz Bubis, seit seinem Amtsantritt als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland rasch als Sympathie stiftende Persönlichkeit anerkannt und beliebt, hat das selbst erfahren, als ihn in Rostock ein Stadtrat fragte, ob seine eigentliche Heimat nicht Israel sei. Der Vorfall, im offiziellen Raum in sensibilisierter Umgebung geschehen, sorgte für erhebliche Aufregung, die mit dem Amtsverzicht des plump-dreisten Fragers endete. Es war eine Bestätigung dafür, dass öffentlicher Antisemitismus in der Bundesrepublik nicht stattfinden darf, das gehört zu den Gesetzen der politischen Kultur in Deutschland nach Auschwitz. Wer dieses Tabu bricht, verliert Amt und Ansehen (vgl. Bergmann 1997). Die unbewusste Überzeugung, dass die Juden Fremde seien, ist jedoch weit verbreitet und kann auf denkbar unschuldige – auch philosemitische – Weise artikuliert werden, wie das Beispiel lehrt, als Ignatz Bubis nach der Rede des israelischen Staatsoberhaupts in Bonn beim Staatsbesuch 1997 zum Auftreten »seines« Präsidenten gratuliert wurde (vgl. Frankfurter Rundschau, 18.01.1996). Ohne Sanktionen bleibt es in der Regel, wenn antisemitische oder fremdenfeindliche Vorurteile in weniger spektakulärem Rahmen, vor kleinerer Öffentlichkeit 151 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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oder im Umfeld von Vereinen, am Stammtisch, beim alltäglichen sozialen Kontakt, artikuliert werden. Im Herbst 1992 hielt Pater Basilius Streithofen, ein weithin als wortgewaltig und streitbar bekannter Dominikaner aus dem Kloster Walberberg bei Bonn einen Vortrag, in dem er äußerte, Juden und Polen seien die größten Ausbeuter des deutschen Steuerzahlers. So und ähnlich hat sich gewiss schon seit Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl von Deutschen, die Wiedergutmachungs- und Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik kommentierend, vernehmen lassen. Gegen den Ordensgeistlichen wurde jedoch, weil die Äußerung öffentlich war, Anzeige erstattet wegen Volksverhetzung. Er rechtfertigte sich trotzig und erklärte, es müsse »einmal Schluss mit der Vergangenheitsbewältigung sein« und es müsse sichergestellt werden, dass »die Urenkel nicht mehr für die in der NS-Zeit begangene Schuld haftbar gemacht werden können«. Er stehe zu seiner Äußerung, »dass die Juden die Deutschen ausbeuten.« Der Fall ist ein Lehrstück und deshalb muss daran erinnert werden, auch wenn er juristisch (durch eine Geldbuße in zweiter Instanz) längst erledigt ist. Es geht um den demagogischen Einsatz von Vorurteilen ( Juden und Polen als »Ausbeuter« der Deutschen) in der Öffentlichkeit.2 Dass der antisemitische Skandal von einem katholischen Ordensgeistlichen verursacht wurde, war Zufall. Der Fall Streithofen hat auch mit den älteren Traditionen des christlichen Antijudaismus nichts zu tun. Wenn man dem medienpräsenten Pater Basilius nicht unterstellen will, dass er ein nationalistischer Populist ist (der das alte antisemitische Klischee vom nicht arbeitenden, andere ausbeutenden, also eine Schmarotzer-Existenz führenden Juden anwendet), dann kann die Erklärung für seinen Ausspruch nur lauten, dass ganz offensichtlich mit dem Stigma »Ausbeuter« ein vorhandener Schuld- und Leidensdruck gegenüber Juden und Polen gemildert werden soll. Der Leidensdruck hat sehr reale historische Gründe, das macht ihn so schwer erträglich. Aus dem gleichen Grund wurde ja auch seinerzeit die angebliche Kriegserklärung der Juden gegen die Deutschen erfunden; damit sollte Auschwitz vorsorglich als »Notwehr« gerechtfertigt werden. Die Mobilisierung traditioneller Feindbilder und Vorurteile hält den alltäglichen Antisemitismus am Leben. Die Tendenz, solches öffentlich zu machen, ist in den letzten Jahren steigend, obwohl gleichzeitig Antisemitismus als individuelle Einstellung, als politisches, kulturelles, soziales Grundmuster in Deutschland nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung rückläufig ist. Nach demoskopisch erforschten Trends ist Antisemitismus in Deutschland kein zentrales politisches Problem, judenfeindliche Tendenzen nehmen, langfristig gesehen, insgesamt ab, auch wenn die absoluten Zahlen (Emnid-Umfrage 1992) noch 16% der Bevölkerung in Westdeutschland und 4% in Ostdeutschland als Antisemiten benennen. Manifeste Judenfeindschaft ist darunter aber nicht in jedem Falle zu kon2 Prozessunterlagen und Pressedokumentation 1992–1994 im Archiv des Zentrums für Antisemitismusforschung, TU Berlin. 152 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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statieren; anders als beim plump und pauschal artikulierten älteren Antisemitismus ist das Problem vielschichtig und erfordert differenzierte Betrachtung (Bergmann/ Erb 1995, S. 47–63; Bergmann/Erb 1991). Antisemitismus äußert sich subtiler als früher, er ist daher schwerer zu bestimmen und zu beweisen. Wenn einer, der kein Jude ist, beteuert, er habe viele jüdische Freunde, dann ist Vorsicht geboten, denn das antisemitische Bekenntnis folgt meist unmittelbar. In der Regel ist es, dem Bildungsgrad entsprechend, in die Frageform gekleidet oder als Zweifel formuliert, als »berechtigter« Zweifel »um der Wahrheit Willen« (ob in Auschwitz wirklich so viele jüdische Menschen ermordet worden sind, wie behauptet wird, ob Zyklon B tatsächlich so wirkte wie Zeugen, Täter, Historiker bekundet haben, ob die Juden nicht vielleicht selbst am Holocaust schuld waren? usw.) und immer wird mit Stereotypen hantiert. Die traditionellen Versionen des Vorurteils haben den bei Juden schon immer vermuteten besonders ausgeprägten Geschäftssinn zum Gegenstand (die Stereotypen dazu lauten: Wucher und Schacher) oder eine angeblich alttestamentarische Rachsucht oder die Unterstellung einer konstitutionellen Abneigung gegen die Mühsal des Arbeitslebens (»Schmarotzer« oder »Parasiten«). Andere Diffamierungen unterstellen Ambitionen auf Weltherrschaft, symbolisiert im »Internationalen Finanzjudentum«, wenn nicht gar in der »jüdischen Weltverschwörung«. Das Absurde an diesen Konstrukten drückt sich in zwei völlig entgegengesetzten Klischees aus: Der Jude als Bolschewist, als Erfinder und Drahtzieher der kommunistischen Weltrevolutionsideologie und der Jude als Inkarnation des Kapitalismus in der Figur des Börsenspekulanten, Bankiers, Finanzmagnaten. Die beiden Bilder – Plutokrat und Bolschewist – wurden von Goebbels mit lange anhaltender Wirkung gepflegt, sie überlagern ältere, religiös motivierte Feindbilder und haben sie abgelöst, die der Juden als Ritualmörder, Hostienschänder, antichristlicher Frevler. Wie leicht solche Bilder, die sich aus dem Kreuzigungsvorwurf ableiten, wiederbelebt werden können, zeigt sich nach dem Zusammenbruch kommunistischer Herrschaft in Osteuropa, nicht zuletzt in Russland, wo alter Antisemitismus aus religiöser Wurzel wieder als irrationales Erklärungsmuster für alles Elend und jede Misere der Gegenwart bemüht wird (Bergmann/Erb 1990). Die Relikte von Antijudaismus aus christlicher Wurzel – theologisch begründet oder als Volksfrömmigkeit gelebt –, von denen man gelegentlich im Zusammenhang sektiererischer Wallfahrten, pejorativer Gnadenbilder in katholischen Kirchen oder antisemitischer Passionstexte hört, spielen im öffentlichen Diskurs gegenwärtig kaum noch eine Rolle. Das gleiche gilt vordergründig auch für den Rassenantisemitismus des 19. Jahrhunderts, der sich als Erkenntnis der Wissenschaft gerierte und auch deshalb im Bildungsbürgertum einen Nährboden fand. Der Völkermord machte diese Form des Ressentiments – den Rassenantisemitismus – zum Tabu im Nachkriegsdeutschland. Aber eben daraus entstanden neue Vorbehalte gegen die Minderheit. Nicht alle reagierten mit Scham und Trauer, Verdrängen oder Betroffenheit auf das Trauma des 153 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Judenmords. Das Entsetzen machte auch aggressiv und die offensive Reaktion auf den Holocaust entwickelte einen neuen Antisemitismus. Kristallisationspunkte waren in der Bundesrepublik die materiellen Leistungen zur »Wiedergutmachung« oder doch wenigstens Entschädigung, die an Juden – global und individuell – erbracht wurden. Das spektakuläre Beispiel für solchen – oft gedankenlosen – Alltags-Antisemitismus bot ein stumpfsinniger Kontrabassist der Deutschen Oper Berlin, der es für witzig hielt, beim Israel-Gastspiel die Rechnung an der Bar mit »Adolf Hitler« zu unterschreiben. Zur Begrenzung des Schadens distanzierten sich das Orchester und der Intendant schnell, eindeutig und wirkungsvoll (der Musiker wurde entlassen und musste unverzüglich die Heimreise antreten), aber die verbreitete Meinung lautete doch, die Deutschen sagten im alkoholisierten Zustand, was sie sonst nur heimlich dächten. Typisch am Eklat war auch, dass der Urheber nicht als Antisemit galt, noch nie einschlägig aufgefallen war, also offenbar unter Alkoholeinfluss aus dem Unbewussten agierte (vgl. Tagesspiegel, 04.06.1997; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.1997; Frankfurter Rundschau, 02.06.1997). Ein ebenso lehrreicher Fall kollektiver Aggression war im fränkischen Adelsdorf bei Erlangen zu beobachten. Dort hatten Holocaust-Überlebende, ehemalige Bürger der Gemeinde, bei einem Besuch 1996 festgestellt, dass eine Straße nach dem früheren NSDAP-Ortsgruppenleiter benannt war. Im Ort war dies offenbar nicht negativ aufgefallen. Jetzt kam eine Diskussion darüber in Gang. Eine Bürgerinitiative veranstaltete, um der Forderung nach Umbenennung Nachdruck zu verleihen, eine Lichterprozession, gegen die fünf Rentner mit dem Ruf »Juden raus« protestiert hatten. Sie wurden dafür im Sommer 1998 zu Geldstrafen verurteilt (Süddeutsche Zeitung, 17.07.1998). Zur politischen Kultur der Bundesrepublik gehört es seit ihrer Gründung, dass Juden – als Minderheit im eigenen Land, als Bürger Israels, als Individuen generell – Gegenstand pfleglicher Aufmerksamkeit und Zuwendung sind. Für die DDR galt solche Maxime nicht. Juden und ihr Verfolgungsschicksal im NS-Staat waren marginalisiert und tabuisiert. In der DDR und von der DDR gab es keine Entschädigungsleistung, keine besondere Zuwendung an jüdische Gemeinden, weniger Kenntnis über den Holocaust als im Westen, es gab aber auch, nach der Welle stalinistischer Judenfeindschaft Anfang der 50er Jahre im Ostblock, kaum noch jüdisches Leben in der DDR. Die wenigen jüdischen Gemeinden waren überschattet von der antizionistischen Staatsdoktrin und standen unter Anpassungsdruck (vgl. Mertens 1995, S. 89–100; Wittenberg et al. 1995, S. 88–106; Haury 1996, S. 148–171). Die DDR kultivierte besondere Formen des Ressentiments in Gestalt des politisch motivierten Antizionismus gegen Juden, die mit Erscheinungen des manifesten Antisemitismus im Westen nicht vergleichbar sind. Das ist auch bei Meinungsumfragen zu beachten, wenn man die Einstellung von Bürgern der ehemaligen DDR mit Bürgern der alten Bundesrepublik vergleicht. Konrad Weiss, der als Parlamentarier kurz vor dem Ende der DDR über die »Gemeinsame Erklärung« der Volkskammer das Be154 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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kenntnis der Schuld gegenüber den Juden initiierte und verfasste, meinte rückblickend, der Stalinismus in der DDR habe wirklichen Antifaschismus unmöglich gemacht. Das sei nirgendwo so deutlich geworden wie an der Feindschaft zu Israel. Deutsche hätten »nach Auschwitz wiederum Juden verfolgt und aus dem Land getrieben«, die DDR habe sich mit den Feinden Israels solidarisiert, sie mit Geld und Waffen unterstützt. 1967 begann mit dem Sechs-Tage-Krieg eine neue Kampagne: »Die SED erklärte Israel zum ›internationalen Rechtsbrecher‹ und ›Aggressorstaat‹. Die Medien beschmutzten und verleumdeten Israel, wo immer es ging« (Weiss 1995, 1996). In der DDR erfüllte die Formel vom Antizionismus den gleichen Zweck wie die linke Israelkritik westlich der Elbe: Mit scheinbar objektiven Argumenten waren Vorurteile gegen Juden auf eine andere Ebene verlagert, wo sie mit hinkenden Vergleichen und falschen historischen Parallelen ungestraft agiert wurden. Judenfeindschaft war als Antizionismus instrumentalisiert, äußerte sich in antiisraelischen Pamphleten und Solidaritätsbekundungen für Palästinenser. Politisch gegen die Bundesrepublik gerichtet, wurde Israel als reaktionärer nationalistischer rassistischer und imperialistischer Staat diffamiert und diese Art von Judenfeindschaft wirkt über den Untergang der DDR hinaus weiter. Die obszönste Form von neuem Antisemitismus besteht im Leugnen der Realität von Auschwitz, dem Relativieren des Holocaust, der Verharmlosung des millionenfachen Mordes unter deutscher Staatsräson. Auch diese Haltung ist vermutlich aus Scham geboren, sucht sie jedoch durch trotziges Auftrumpfen zu überwinden. Und sogar die Fahndung nach dem Sinn des Bösen kann bei der Suche nach den Motiven des Holocaust zu neuen Ressentiments und Ideologien führen (Bailer-Galanda et al. 1996). Aufgeregte Überreaktionen gegen verbale Entgleisungen, die meist unbeabsichtigte Offenbarungen sind, stiften oft Unheil, weil sie Anlass zu Denunziationen durch Pharisäer bieten, die der Mehrheit einreden wollen, es gebe unter dem Oktroi einer »political correctness« Denkverbote und Rituale, die den Deutschen als Bußübungen verordnet seien. Bei den meisten antisemitischen Verbalinjurien, die zum politischen Skandal werden, geht es aber ursprünglich nur um Fragen des Anstands, der schlichten bürgerlichen Moral. Vandalismus gegen Denkmäler und das Verwüsten des jüdischen Friedhofs ist wohl die schandbarste, da hinterhältig und anonym verübte, Artikulation von Antisemitismus. Die Irrationalität dieser Aggression macht erschreckend deutlich, wie tief im Unbewussten die Ressentiments verwurzelt sind, die auf diese Weise agiert werden. Auch das Schänden von Gräbern hat eine lange Tradition, aber die Wut gegen die Toten hat beängstigende Konjunktur. In den ersten fünf Jahren deutscher Einheit sind mehr jüdische Friedhöfe verwüstet worden als in der ganzen Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik. Ebenso wenig wie der Antisemitismus war Rechtsextremismus als politische Gesinnung und Handlungsbereitschaft mit dem Untergang des NS-Regimes erledigt. Das »Dritte Reich« mit seiner Ideologie war wegen seiner Verbrechen und wegen des angezet155 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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telten Zweiten Weltkriegs bei der Mehrheit der Deutschen wenn nicht geächtet, so doch äußerst unpopulär und Sympathien für den Nationalsozialismus waren verpönt. Aber trotz und wegen der Entnazifizierung und der von den Besatzungsmächten verordneten politischen Säuberungen und der Strafverfolgung von NS-Verbrechen gab es nicht wenige Menschen, deren Lebensentwürfe, Karrieren und Hoffnungen mit dem Nationalsozialismus zugrunde gegangen waren. Die Mehrzahl von ihnen fand – aus Opportunismus, aus gewandelter Überzeugung, aus Einsicht – den Weg zur Demokratie und zum Antifaschismus. Eine Minderheit blieb der alten Gesinnung treu und traf sich am Ende der Besatzungszeit in den Westzonen in Kameradschaften und Parteien wieder. Der große Schrecken kam am Weihnachtstag des Jahres 1959 über die Bundesrepublik. Die Kölner Synagoge war mit antisemitischen Parolen und Hakenkreuzen besudelt worden. Die beiden Täter, 23 und 25 Jahre alt, wurden schnell gefasst und bald verurteilt. Die Publizität, die das Ereignis fand, führte aber zu einer Welle von ähnlichen Schmierereien in der ganzen Republik und weit über deren Grenzen hinaus, die sich erst Ende Januar 1960 verlief, als die Angelegenheit für die Medien keine Nachricht mehr war. Bis zum 20. Januar hatten die Ereignisse Aktualitätswert gehabt, durch die Schlagzeilen der Weltpresse, die die Initialzündung der Weihnachtsnacht bis Ende Dezember ausgelöst hatte, durch den Beginn des Strafprozesses gegen die beiden Täter (05.01.1960), durch Gegendemonstrationen (08.01.1960), durch eine Ansprache des Bundeskanzlers im Fernsehen (15.01.1960) und durch eine Erklärung des Bundestagsvizepräsidenten (20.01.1960). Der allen Demoskopen geläufige Eskalationsprozess (Initialereignis – Publizität – vielfach verstärkte Nachahmung – allgemeine Aufregung), der sich auf allen nur denkbaren Ebenen immer wieder abspielt, bei Linksextremisten ebenso wie bei »Geisterfahrern« auf der Autobahn, war in Gang gekommen. Aber die Weihnachtsnacht 1959 und ihre Folgen hatten besondere Qualität, sie zogen entsprechende Wirkungen im Ausland und Reaktionen amtlicher Stellen nach sich: Prozessbeginn gegen die Täter innerhalb von 14 Tagen nach der Tat, kultusministerielle Erlasse zur systematischen Belehrung in allen Schulen (ab 13. Januar 1960) und politische Erklärungsversuche in Gestalt eines »Weißbuchs«, das die Bundesregierung im Frühjahr 1960 veröffentlichte. In diesem Weißbuch wurde auch der Verdacht kultiviert, die Hintermänner der antisemitischen und neonazistischen Umtriebe säßen in der DDR. Die Untersuchung der Tatmotive von 234 Urhebern antisemitischer und nazistischer Vorfälle ergab 48% »unpolitische Rowdy- und Rauschtaten« (113 Täter), 24% »Affekt- und Rauschtaten aus unterschwellig antisemitischen, nazistischen und antidemokratischen Motiven« (56 Täter), 15% »Kinderkritzeleien« (35 Täter), 5% »pathologische Motive« (13 Täter) und 8% Täter (17 Personen) mit »rechts- oder linksextremistischer Gesinnung« (Bundesregierung 1960). Die unterschwelligen politischen Beweggründe – NS-Vergangenheit, Missgunst gegen Empfänger von Wiedergutmachungsleistungen, antidemokratisches Unbehagen 156 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik

usw. – waren ebenso leicht nachweisbar und durch Beispiele zu belegen wie die rechtsextreme Gesinnung von 17 Tätern, denen vielfach entsprechende organisatorische Bindungen (wie den beiden Kölner Initialtätern, die der Deutschen Reichspartei angehörten) nachgewiesen werden konnten. Wie aber bewies die Bundesregierung den inhaltsschweren Weißbuch-Satz: »Einige der Taten dieser Gruppe wurden durch kommunistische Täter begangen«? Mit nicht weniger als drei Beispielen, und zwar folgenden: Zwei von drei Männern, die am 19. Januar 1960 in Lehrte Hakenkreuze, SS-Runen und die Parole »Juden raus« geschmiert hatten, waren einmal Mitglieder der FDJ gewesen und hatten 1951 (!) die kommunistischen Weltjugendfestspiele in Berlin besucht. Der dritte »Kommunist«, ein 27-Jähriger, der am 19. Januar 1960 in einer Wirtschaft in Ahlen antisemitische Äußerungen getan hatte, war vor seiner Flucht aus der DDR Volkspolizist und Funktionär der FDJ gewesen (ebd.; Bergmann 1990, S. 253–275). Auf sieben Seiten wurde dann der allgemeine Nachweis kommunistischer Hintergründe der Vorfälle versucht. Als Hauptargumente dienten einzelne Propagandatorheiten der DDR-Publizistik, etwa des Kalibers, dass die antisemitischen Ausschreitungen vom Bonner »Amt für Psychologische Kriegführung« im Rahmen einer verordneten »nationalen Welle« verübt worden seien. Konkrete Anhaltspunkte, die über die Beweiskraft der Tatsache, dass auch die beiden Kölner Initialtäter Vergnügungsreisen nach Ost-Berlin und Leipzig unternommen hatten, hinausgingen, konnten nicht angeboten werden. Die Reaktion der Bonner Regierung zeigt nicht nur, wie verkrampft auf Manifestationen des Judenhasses reagiert wurde, sie zeigt auch die Dominanz des Kalten Krieges. Mit der Totalitarismustheorie im Hintergrund wurde auch der antisemitische Kölner Vorfall in den Ost-West-Gegensatz und den Systemkonflikt zwischen Bundesrepublik und DDR eingeordnet. Trotz oder wegen der »Entnazifizierung«, der von den Besatzungsmächten angeordneten politischen Säuberung in Deutschland, blieben nicht wenige Nationalsozialisten ihrer Gesinnung treu. Bis zur Gründung der Bundesrepublik konnte das nur im Verborgenen geschehen (im antifaschistischen Staat DDR war es bis zu ihrem Untergang öffentlich nicht möglich), dann organisierten sie sich wieder in Zirkeln, Bünden und Parteien. Die lautstärkste Gruppierung war die neonazistische »Sozialistische Reichspartei«, die 1952 als verfassungsfeindlich verboten wurde. Die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) fing ab Herbst 1964 das Potenzial »alter Rechter« auf, das ehedem in der »Deutschen Reichspartei« organisiert war, und formierte es neu. Die DRP ihrerseits, im Januar 1950 gegründet, war die Nachfolgerin der »Deutschen Rechts-Partei« und einiger Splitterparteien gewesen und hatte überdies nach dem Verbot der neonazistischen »Sozialistischen Reichspartei« 1952 einen Teil derer Mitglieder aufgefangen. Nach der faktischen Selbstauflösung der DRP im Juni 1964 begann der Aufschwung der NPD (Hansen 2007; Backes/Steglich 2007). Die deutschnational-populistische Partei »Die Republikaner« erfüllte in den 1980er Jahren eine ganze Reihe der Anforderungen, die man 157 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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an eine rechtsradikale Vereinigung stellt, auch wenn die Verfassungsschutzbehörden zögerten, die ausländerfeindliche und blindwütig-patriotische Bruderschaft des Franz Xaver Schönhuber der rechtsextremen Szene zuzuordnen. Im Programm der Partei, in der Schönhuber bald nach der Gründung 1983 die Macht allein übernahm, finden sich neben unzähligen Gemeinplätzen, die bei unzufriedenen Kleinbürgern, bei Mittelstandsunternehmern wie bei Polizeibeamten freudige Zustimmung auslösen (so wollen die Republikaner zu »Tugend und rechtschaffenem Denken und Handeln erziehen«, den schulentlassenen Mädchen ein »Pflichtjahr« bescheren und mit ähnlichen Rezepten eine heile Welt herbeizaubern), auch handfeste Formulierungen und – vor allem – Vorwürfe an die Etablierten. Auch die CDU-Regierung tue nichts, »um mit der Entkriminalisierung deutscher Kultur, Geschichte und ihrer Menschen zu beginnen. Die Kriegspropaganda der Siegermächte ist in unsere Geschichtsbücher eingegangen, und ihre Übertreibungen und Fälschungen müssen von der Jugend weiter geglaubt werden, da eine objektive Geschichtsschreibung immer noch nicht in vollem Umfang ermöglicht wird« (Guggemos 2000).

Die Verantwortlichen wissen gut, dass diese Behauptungen dumm und falsch sind, des beifälligen Getöses am Stammtisch und im Bierzelt wegen wurden solche Spekulationen auf die trotzige Larmoyanz der Spießer zur Blütezeit der Partei jedoch unermüdlich wiederholt. Medienschelte und die Forderung »zeitgeschichtliche und historische Darstellungen in den Massenmedien müssen sich an den Fakten orientieren und nicht an nachträglichen Interpretationen aus heutiger Sicht« gehören ebenso in das Spektrum wie das banale Postulat »die Forschungen von Historikern dürfen weder durch Medien noch durch den Staat reglementiert werden«. Auch für die billige Drohung, »zum Schutze des von Einschüchterung und Verschmutzung der geistigen Umwelt bedrohten Freiheitsraumes des Bürgers« durch Kontrollorgane zu sorgen, findet sicher Zustimmung bei denen, die das Heil in einer komplexen und unübersichtlichen Welt in der Rückkehr zu autoritären Formeln zu finden hoffen, die Angst vor nicht begreifbaren Strukturen und Bedrohungen der politischen und sozialen Realität haben, die eine emotionale Gegenwelt suchen oder ganz einfach gegen die jeweiligen Zustände protestieren wollen. Das brachte den Republikanern vorübergehend Erfolge, die Ende der 1980er Jahre vorbei waren. Die größte rechtsextremistische Organisation war lange Zeit die »Deutsche Volksunion« (DVU), die den organisatorischen Kern der »nationalfreiheitlichen Aktionsgemeinschaften« bildete. Chef dieser Gruppierung war der Münchner Verleger Dr. Gerhard Frey. Als Rückgrat seiner Unternehmungen diente die »Deutsche National-Zeitung«, das immer noch auflagenstärkste rechte Wochenblatt in der Bundesrepublik. Die Postille war – vor der Ära des geschäftstüchtigen Verlegers Frey – mit Mitteln der Bundesregierung und finanzieller Unterstützung der Amerikaner 158 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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1951 als »Deutsche Soldaten-Zeitung« entstanden. Das ziemlich bedeutungslose Blättchen, das als Traditions- und Interessenorgan den Wehrgedanken in der jungen Republik fördern und stärken sollte (daher der Name, daher die Finanzspritzen), hatte Ende der 1950er Jahre abgewirtschaftet, der Verlag stand vor der Pleite. Doktor Frey übernahm Ende 1958 das Blatt, gründete einen neuen Verlag und änderte schließlich den Namen in »Deutsche National-Zeitung«. Das Blatt (»freiheitlich, unabhängig, überparteilich«) diente zu Zeiten ihrer Konjunktur der Deutschen Volksunion (»Vereinigung der verfassungstreuen Rechten und freiheitlichen Mitte«) und ihren »Aktionsgemeinschaften« als Hausorgan. Die »Aktionsgemeinschaften« hießen »Ehrenbund Rudel« (»Gemeinschaft zum Schutz der Frontsoldaten«) und »Volksbewegung für Generalamnestie (VOGA)« (sie kämpfte »für ein Ende der Kriegsverbrecherprozesse gegen Besiegte des II. Weltkrieges«). Für die Wiedervereinigung Gesamtdeutschlands setzte sich laut Eigenwerbung die »Aktion deutsche Einheit« ein, dann gab es die »Aktion Deutsches Radio und Fernsehen«, die »die Interessen des deutschen Volkes bei diesen Medien durchsetzen wollte, und die ›Initiative für Ausländerbegrenzung‹, welche ›den deutschen Charakter Deutschlands‹ zu verteidigen trachtete; schließlich den ›Deutschen Schutzbund für Volk und Kultur‹« (Linke 1994). Die National-Zeitung kämpft immer noch gegen die »Umerziehung«, das »Joch der Kollektivschuld«, gegen »Kriegsschuld- und Gräuelpropaganda«, gegen den Staat Israel, sie schönt das Bild Hitlers und des Dritten Reiches, sie fordert »den überfälligen Schlussstrich durch Generalamnestie für jedwedes behauptete oder tatsächliche Unrecht im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg«. 2009 verabredeten die konkurrierenden Parteien NPD und DVU die Fusion. Sie wurde zum 1. Januar 2011 verkündet, von Gerichten aber für ungültig erklärt. Sektiererei und Chaos bezeichnen seither die Szene des organisierten Rechtsextremismus, zugleich erfolgte aber auch eine Gewichtsverschiebung hin zur gewaltbereiten Neonazi-Szene, der sich die NPD immer mehr angenähert hatte. Innerhalb der organisierten Anhänger des Rechtsextremismus bilden NeonaziAktivisten den dritten Sektor. Untereinander sind die einzelnen Zirkel und Gruppen oft personell verflochten, und sie arbeiten zusammen. Mit steigender Tendenz sind die neonazistischen Kreise in der Bundesrepublik aktiv. Ende 1977 kam es zu den ersten terroristischen Gewaltakten, die sich in der Folgezeit fortsetzten. Zehn Jahre später, im Berichtsjahr 1987, registrierte der Verfassungsschutz fast 1.500 Gewaltaktionen und sonstige Delikte, darunter Brand- und Sprengstoffanschläge auf Asylantenunterkünfte, US-Kasernen, Parteibüros, Körperverletzungen gegen Ausländer, Sachbeschädigungen gegen jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten, Androhung von Gewalt in zahlreichen Fällen, meist begleitet von Beleidigungen und Verunglimpfungen. Die Zahl der in rechtsextremen Gruppierungen organisierten Personen und ideologisch festgelegten Rechtsextremisten ist tendenziell rückläufig. Der Verfassungsschutzbericht 2011 nennt 159 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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22.400 Personen gegenüber 25.000 im Jahr zuvor. Aber die Bereitschaft zur Gewalt und die Militanz der Neonazis nimmt zu. Ein Radikalisierungsschub ist zu konstatieren, deutliches Indiz dafür ist die Ende 2011 bekannt gewordene rechtsterroristische Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)«, der neun Morde in den Jahren 2000 bis 2006 zur Last fallen. Das eklatante Versagen der zuständigen Behörden auf allen Ebenen sorgte für mediale Aufmerksamkeit, aber auch die Tatsache, dass die meisten Opfer einen Migrationshintergrund hatten, deutete auf eine neue Qualität von Fremdenfeindlichkeit. Die Neonazi-Szene ist charakterisiert durch ideologische Radikalität in der Verherrlichung des Nationalsozialismus, durch Aktionismus und durch eine geringe Organisationsstruktur. Letzteres ist die Konsequenz aus den Verboten von Organisationen in den 1990er Jahren. Als »Freie Kräfte« agieren Kameradschaften auf lokaler und regionaler Ebene, suchen bürgerliche Akzeptanz durch soziales und ökologisches Engagement, beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben und propagieren antikapitalistische, globalisierungsfeindliche, rassistische und nationalsozialistische Ideologeme. Die »Freien Kameradschaften« gewannen Einfluss auf rechtsextreme Subkulturen z.B. der Musikszene, sie sind gut vernetzt und haben die Wahrnehmung des Phänomens Neonazismus nachhaltig geprägt. Gegenüber neuen Aktionsformen, wie sie z.B. »Die Unsterblichen« durch unangemeldete meist nächtliche Aufmärsche mit großer Internetpräsenz praktizieren, hat sich die Wirkung der »Autonomen Nationalisten« abgeschwächt. Ihre Aktivitäten, durch hohe Gewaltbereitschaft anziehend für junge Rechtsextremisten und öffentlichkeitswirksam in der Gesamtgesellschaft, sind signifikant für das aktuelle Erscheinungsbild der Neonazi-Szene. Für alle Neonazi-Gruppen gilt, dass sie Provokationen und Aktionen einer argumentativen Auseinandersetzung vorziehen; für Publizität sind sie in jedem Fall dankbar, ob sie in den Medien negativ oder positiv beurteilt werden, ist dabei ziemlich egal. Das ideologische Rüstzeug, insgesamt ein Konglomerat aus rassistischen, antisemitischen, völkisch-kollektivistischen, demokratie- und parteienfeindlichen, totalitären Sprüchen und Parolen, kann ohne intellektuelle Anstrengung erworben und nachvollzogen werden. Die emotionalisierten Ideologie-Schablonen erleichtern sowohl die Verständigung zwischen den »Führern« und ihrer »Gefolgschaft« als auch die politische Artikulation nach außen. Die Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen ist auf neonazistischem Feld unverhältnismäßig stark vertreten (Benz 2001). Die Neonazi-Szene ist organisatorisch alles andere als geschlossen. 157 Gruppen waren nach Einschätzung des Verfassungsschutzes 2011 aktiv, mit insgesamt 6.000 Personen. Es gibt eine starke Fluktuation innerhalb der Organisationen, und die Mitglieder verbotener Vereinigungen wie einst der »Wehrsportgruppe Hoffmann« oder einige Zeit später der »Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands/Partei der Arbeit« finden sich in anderen Zirkeln wieder. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus spielt im kollektiven Gedächtnis – 160 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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wenngleich mit abnehmender Tendenz, der jedoch die mediale Präsenz des Themas entgegenwirkt – eine erhebliche Rolle. Die Beteuerung, dass man von den Verbrechen des Regimes, insbesondere vom Judenmord, nichts gewusst habe, war die Lebenslüge einer Generation. Ob das »Dritte Reich« nicht auch positive Seiten gehabt hätte, lautet die Frage, die zunächst die Mitlebenden stellten, um ihr seinerzeitiges Engagement zu rechtfertigen, dann die Nachfahren, denen der prägnante Buchtitel Opa war kein Nazi die Richtung wies (Dörner 2007; Longerich 2006; Welzer et al. 2002). An zwei inzwischen historischen Beispielen kann erläutert werden, wie Denkstrukturen aus dem »Dritten Reich« fortlebten. Am Biertisch in einer kleinen Stadt im Badischen waren zwei Männer ins Gespräch und dann in Streit geraten. Der eine, Studienrat und honoriges Mitglied lokaler Vereine, hatte lautstark seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass »zu wenig Juden vergast worden seien«, er hatte die Schändung jüdischer Friedhöfe gutgeheißen und noch reichlich weitere Proben seiner Gesinnung geliefert. Der Adressat dieser Äußerungen, ein Kaufmann, war aufgrund seiner jüdischen Abstammung im Konzentrationslager gewesen. Als er dies zu erkennen gab, bedauerte der Studienrat nicht etwa seine Auslassungen, sondern den Umstand, dass man seinen Gesprächspartner damals nicht mit ausgerottet habe. Der Antisemit wurde ein halbes Jahr später verhaftet, dann zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt (Billigung von Verbrechen, Beleidigung, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener). Bemerkenswert an dem Fall war, dass zunächst einmal ziemlich viele ehrbare Bürger, darunter seine Vorgesetzten bis hinauf ins Kultusministerium, sich abmühten, die Geschichte unter den Teppich zu kehren. Erst als die Sache immer wieder auch im Ausland Schlagzeilen machte, wurde die kriminelle und politische Dimension der Angelegenheit gewürdigt. So richtig zur Sensation wurde die Geschichte, als sich der Studienrat durch Flucht seinem Haftbefehl entzog und in Ägypten, Libyen und Afghanistan herumgeisterte, bis er nach jahrelanger Odyssee schließlich doch im bundesrepublikanischen Gefängnis landete. Die Daten zum »Fall Zind«: Der Streit am Biertisch war im April 1957 gewesen, verurteilt wurde Zind im April 1958, die Flucht nach Ägypten fand im Dezember 1958 statt, im August 1960 wurde er in Neapel verhaftet, im April 1961 verweigerte Italien endgültig seine Auslieferung, im Juli 1970 wurde der heimwehkrank Gewordene auf dem Düsseldorfer Flughafen verhaftet.3 Das zweite Exempel ereignete sich zwanzig Jahre später. Ein honoriger Bürger, der kurz zuvor sein 25-jähriges Jubiläum als Kommunalpolitiker begangen hatte, wird im Juli 1978 unter Anklage gestellt, an der Deportation französischer Juden zwischen 1942 und 1944 mitgewirkt zu haben (Der spätere Bürgermeister und Rechtsanwalt will nach eigener Darstellung als SS-Mann im »Judenreferat« der Sicherheitspolizei 3 Der Offenburger Studienrat Ludwig Zind wurde im April 1958 wegen Beleidigung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. 161 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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in Paris seinerzeit nur Autotüren zugemacht und Akten getragen haben). Die Parallele der beiden Fälle liegt natürlich nicht im Vergleich der Äußerungen des unbelehrbaren Antisemiten zwölf Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, der an der Vernichtung der Juden sicherlich nicht aktiv beteiligt war, mit der Tätigkeit eines Handlangers der Vernichtung, der vielleicht gar kein bösartiger Antisemit war, von dem jedenfalls aus der Zeit nach 1945 keine entsprechende Äußerung, ja überhaupt nichts Negatives bekannt wurde. Die Parallele liegt im Verhalten der Mitbürger, Kollegen, Nachbarn, die sich in beiden Fällen schützend vor den Beschuldigten stellten. Er sei ein braver Mann gewesen, der Bürgermeister Heinrichsohn, hochangesehen, honorig. Für seine Umgebung war es – natürlich – unfassbar, dass er (ab Oktober 1979) als Angeklagter im Kölner Lischka-Prozess sich wegen schwer vorstellbarer Untaten (und sei es »nur« die technische Vorbereitung derselben) verantworten musste. Man distanziert sich keineswegs von ihm. (Die Bürger seiner Gemeinde hielten es genauso wenig wie er selbst für notwendig, dass er wenigstens bis zum Ende des Prozesses sein Bürgermeisteramt ruhen ließ, erst als er am 11. Februar 1980 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, trennte er sich notgedrungen von seinem Amt als Bürgermeister.) Man distanzierte sich dafür umso schärfer von dem französischen Ehepaar Klarsfeld, das auch in dieser Angelegenheit die öffentliche Meinung bewegen und zum Ingangkommen des Prozesses beitragen musste.4 Der ganze Mechanismus kleinbürgerlicher Selbstbehauptung in der Stunde der Gefahr – in diesem Fall wurde er eindrucksvoll bundesweit auch vor der Fernsehkamera demonstriert: Die Stammtischrunde nimmt den Bürgermeister in Schutz; er habe viel für die Gemeinde getan, und was vor 1945 geschehen ist, gehöre nicht mehr zur Sache. Der lokale CSU-Vorsitzende wiederholt vor der Reporterin dreimal, dass er der beste Mann für das Amt des Bürgermeisters war und immer noch ist, dass seine SS-Vergangenheit keine Rolle spiele. Der Kollege von der SPD hatte keine Zeit, die Dokumentationen zu den Vorwürfen zu studieren und er merkte an, der spätere Bürgermeister sei ja »erst 1944« in die SS gegangen. Auch sein Fazit: Nichts Schlimmes ist an diesem Menschen. Der Pfarrer ist informierter, aus erster Hand, der Bürgermeister hat ihn (ein bisschen?) über seine Vergangenheit aufgeklärt. Der Pfarrer ist damit zufrieden und findet nur Gutes an ihm. Die Dokumentationen des Ehepaars Klarsfeld, die den Stein ins Rollen brachten, hat er nicht zur Kenntnis genommen, denn die Klarsfelds interessieren ihn nicht. Das Verhalten der Mitbürger ist typisch für die irrationale Abwehr der Vergangenheit – die Einwohner von Bürgstadt sind keineswegs besonders provinziell und spießig, sie repräsentieren eher die politische Normalität schlechthin. Man 4 Ernst Heinrichsohn war Bürgermeister in Bürgstadt, als er im Juli 1978 im Kölner Lischka-Prozess wegen Beteiligung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen angeklagt und im Februar 1980 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde. 162 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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kann einen ganzen Katalog von Abwehrreaktionen zusammenstellen und die Stimmigkeit der Liste tagtäglich am Arbeitsplatz, in den Medien, am Stammtisch, in den Parlamenten, überprüfen. In diesen Katalog deutscher Urängste gehört der psychologisch leicht erklärliche Versuch, durch »Vergessen« und Nichterwähnen Probleme aus der Welt zu schaffen. Die Furcht, sich zu erinnern, wird scheinbar rationalisiert durch den Kernsatz, dass man das eigene Nest nicht beschmutzen dürfe. Den solcherart auf Reinlichkeit Bedachten unterläuft dabei nur der ständige Denkfehler, dass das längst beschmutzte Nest nicht dadurch sauber wird, dass man den Unrat vergisst oder zudeckt. Die banale Verwechslung von »Kollektivschuld« und gemeinsamer historischer Verantwortung führte zu einer weiteren Reaktion, einer der ärgerlichsten und gefährlichsten: dem Aufrechnen. Der von alliierten Bombengeschwadern bewirkte Untergang Dresdens löscht aber die Verbrechen des NS-Regimes ebenso wenig aus wie die millionenfache Drangsalierung und Vertreibung Deutscher aus ihrer Heimat am Ende des Krieges. Dass mehr als drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern umgekommen, d. h. ermordet worden sind, lässt sich weder ungeschehen machen noch durch Beweise deutscher Leiden beschönigen. Zur Abwehr des Leidensdrucks dient auch die Verharmlosung von Realitäten; Beispiel dafür ist die der Selbstberuhigung dienende Vermutung, die Konzentrationslager seien (zwar strenge, aber immerhin doch nur) Besserungsanstalten gewesen, in denen vorwiegend kriminelle Elemente ihren wohlverdienten Aufenthalt gehabt hätten. (In der Tat saßen in den Konzentrationslagern auch Kriminelle; die dort gelegentlich als Kalfaktoren der SS Hilfsdienste bei der Misshandlung der Mehrzahl der Insassen leisten durften.) Notfalls, unter dem Eindruck aufklärender Bemühungen etwa, wird alles, was im deutschen Namen an Unrecht verübt wurde, mit der Generalbehauptung »Es war halt Krieg« vom Tisch gefegt. Ohne das Erbe der zwölf Jahre des Dritten Reiches wäre Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik wie auch in anderen Staaten in erster Linie eine statistische Größe des politischen Lebens und vermutlich eine eher harmlose Randerscheinung oder bei entsprechender Größenordnung, bei kriminellem, terroristischem Ausmaß also, ein Problem der inneren Sicherheit. Die historische Hypothek macht aber in Deutschland jede Art von rechtem Extremismus, auch in per se zunächst harmloser Erscheinungsform, zum politischen Problem von unvergleichbarer und einzigartiger Dimension. Wie wenig die historische Dimension des Rechtsextremismus im allgemeinen Bewusstsein in Deutschland nach 1945 präsent war, zeigte sich anlässlich der HolocaustSerie, die im Januar 1979 zum ersten Mal vom Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Nach anfänglichem Bangen erwies sich die Sendereihe als das Medienereignis schlechthin. Die Serie löste eine Lawine der Betroffenheit aus. 30.000 Telefonanrufe wurden in den Rundfunkanstalten registriert, unzählige Briefe kündeten vom Aufgewühltsein der Nation. Die Reduzierung der NS-Vernichtungspolitik auf eine Familie, 163 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die Privatisierung, die die Identifikation mit dem Schicksal einer jüdischen Familie erlaubte, hatte nicht nur einen hohen Grad emotionaler Bewegung bewirkt, sondern auch eine in dieser Breite einmalige Konfrontation mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte ( Jordan 2008; Knilli/Zielinski 1983). Bei der Einmaligkeit blieb es aber auch. Der nachfolgende Aufklärungsboom auf dem Buchmarkt, in Zeitschriften, in Diskussionsforen verebbte wieder. Unter anderen Vorzeichen wurde der Trend im Zweiten Deutschen Fernsehen dann wieder aufgenommen. In opulenten Serien wird das Dritte Reich medial am Leben gehalten. Die Präferenzen liegen beim Unterhaltungswert, auch wenn der Wille zur Aufklärung stets betont wird, wenn es um das Faszinosum Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg geht. Es gibt viele Ursachen für das über Jahrzehnte abweisende Verhältnis zur neueren Geschichte im privaten wie im öffentlichen Bewusstsein. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch im Frühjahr 1945 wurden Apathie und Schrecken bald durch den Widerwillen gegenüber den Besatzungsmächten abgelöst. Nahm man in der französischen und sowjetischen Besatzungszone vor allem die Reparations- und Demontagepolitik übel, so richtete sich die Abneigung womöglich noch stärker gegen die als »Umerziehung« bis zum heutigen Tag geschmähten Demokratisierungsabsichten der Amerikaner und Briten. Der gerade von diesen beiden Besatzungsmächten auch bald forcierte Wiederaufbau schien für die nötige Trauerarbeit keine Zeit zu lassen. Oder die Aufbauleistung wurde als Sühne missverstanden. Ansätze zur Trauer wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche (»Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden«) hatte es gegeben, sie waren aber entweder schnell vergessen oder denaturierten zum Alibi, auf das man später verweisen konnte. In der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR war Antifaschismus als politisches Konzept verordnet worden, das darüber hinaus als Instrument für die grundlegende Veränderung gesellschaftlicher und politischer Strukturen diente. Dadurch geriet in Westdeutschland schon der Begriff Antifaschismus in Misskredit (Agethen et al. 2002; Leo/Reif-Spirek 2001). Antifaschistisches Bewusstsein allein war aber auch, ganz abgesehen davon, dass es im gesamten Deutschland nicht den politischen Mehrheits-Konsens bestimmte (die Nationalsozialisten hätten, wenn das der Fall gewesen wäre, nicht bis zum bitteren Ende durchhalten können), keine tragfähige Konzeption für einen staatlichen Neubau nach dem Krieg. Neben den rund 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern wurden die Sympathisanten, die Nutznießer, die Anpassungswilligen zum materiellen Wiederaufbau ebenso gebraucht wie die Unbelasteten und die Gegner des NS-Regimes. Die Entnazifizierung, als große Säuberungsaktion mit dem Minimalziel des Elitenaustauschs geplant und eingeleitet, kam schnell ins Stocken und wurde schließlich eingestellt, nicht zuletzt auf Veranlassung der Initiatoren. Betroffen waren ohnehin oft genug die Falschen: Die Minderbelasteten, die mehr oder weniger harmlosen Oppor164 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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tunisten, und die zwar belasteten, aber unentbehrlichen Experten und Technokraten (Vollnhals 1991; Niethammer 1982). Gerade solche fanden sich sogar bald wieder auf Staatssekretär- und Ministersesseln, sie wurden wahrscheinlich so sehr gebraucht, dass die darin liegende Diskreditierung der neuen Ordnung einfach in Kauf genommen werden musste. Bei Bedarf wurden sie dann vom jeweiligen politischen Gegner in monatelangen Verfahren, bei hartnäckigem Anklammern des Stürzenden an seine Position, das in einen allmählichen freien Fall überging, bei mäßigem Interesse des Publikums von der politischen Bühne entfernt. Der nichtvollzogene Selbstreinigungsprozess, für den die Vergesslichkeit einiger Politiker ihrer eigenen Vergangenheit gegenüber nur ein Symptom ist, tradierte das rechtsradikale Restpotenzial in der nunmehr demokratischen Gesellschaft. Bei gegebenen Anlässen, wirtschaftlicher Rezession, Inflation oder Arbeitslosigkeit etwa, kann es rasch aufgefüllt werden. Dazu kommen die Wirkungen der latenten Abwehr der historischen Erfahrung, die sich darin manifestieren, dass der Rechtsextremismus in seinen heutigen Erscheinungsformen isoliert vom damaligen, aber auch isoliert von seinen Wurzeln, betrachtet wird und vor allem unter zwei Aspekten als interessant gilt: wegen der Reaktion des Auslands und als Sicherheitsrisiko, wenn er offen ins Terroristische ausufert. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich die rechtsextreme Szene und insbesondere die NPD in den letzten Jahren auch hinsichtlich des von ihr propagierten Antisemitismus radikalisiert hat. Amalgamiert mit Antiamerikanismus dient aggressive Israelfeindschaft als Ventil zur Artikulation atavistischer antisemitischer Emotionen: Parallel dazu wird der sekundäre Antisemitismus – also die Judenfeindschaft, die sich aus der Abwehr der Erinnerung an den Holocaust speist – in Verbindung mit der provokativen Verweigerung gegenüber der Erinnerungskultur instrumentalisiert. Von einem »neuen Antisemitismus« kann man nicht sprechen, weil neue Inhalte ebenso wie neue Methoden nicht erkennbar sind, wohl aber von einer Judenfeindschaft, die sich traditioneller Stereotypen bedient, sie aber offener und offensiver propagiert, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Literatur Agethen, M.; Jesse, E. & Neubert, E. (Hg.) (2002): Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken. Freiburg (Herder). Backes, U. & Steglich, H. (Hg.) (2007): Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei. Baden-Baden (Nomos). Bailer-Galanda, B.; Benz, W. & Neugebauer, W. (Hg.) (1996): Die Auschwitzleugner. »Revisionistische« Geschichtslüge und historische Wahrheit. Berlin (Elefanten Press). Benz, W. (Hg.) (1993): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München (C. H. Beck). 165 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»Morden für das vierte Reich«1 Transgenerationalität und Rechtsextremismus Jan Lohl

Am 25. November 1990 wird Amadeu Antonio von einem neonazistischen Mob verfolgt und so schwer verprügelt, dass er an den Folgen stirbt. Am 4. Juni 1991 wird der Obdachlose Helmut Leja von einem 17-jährigen Skinhead als Abschaum bezeichnet und erstochen. Am 24. April 1992 wird Nguyễn Van Tu von einem 21-jährigen DVU-Sympathisanten mit einem Messerstich in die Lunge getötet. Am 29. Mai 1993 verüben neonazistische Jugendliche einen Brandanschlag auf das von der Familie Gen bewohnte Haus in Solingen – fünf Menschen sterben. In der Nacht vom 5. auf den 6. April 1994 wird der Obdachlose Eberhart Tennstedt von einer rechten Clique mit Schüssen aus einer Gaspistole in einen Fluss getrieben und ertrinkt. Der Homosexuelle Klaus-Peter Beer ertrinkt in der Nacht zum 7. September 1995 ebenfalls in einem Fluss, in den er von Skinheads geworfen wurde. Am 15. März 1996 wird der Neonazi-Aussteiger Martin Kemming von einem Neonazi erschossen. Phan Van Toau wird am 31. Januar 1997 an einem Bahnhof von einem deutschen Rassisten hochgehoben und mit dem Kopf nach unten auf den Betonboden geworfen. An den Folgen stirbt er. Nuno Lourenco wird im Juli 1998 in Leipzig von acht jungen Männern niedergeschlagen, die »Ausländer hacken« wollen; er stirbt an den Folgen. Farid Guendoul wird in der Nacht zum 13. Februar 1999 von einer Gruppe junger Rechtsextremisten gejagt. In seiner Panik tritt er in die Glastür eines Plattenbaus und zieht sich tödliche Schnittverletzungen zu. Der Punk Falko Lüdtke wird am 31. Mai 2000 in Eberswalde von einem Angehörigen der rechten Szene vor ein Taxi gestoßen und überfahren (vgl. Erkol/Winter 2012). Diese Nennung von zehn Menschen, die von Neonazis ermordet wurden, ließe sich fortsetzen. Die Aktion »Mut gegen rechte Gewalt« nennt für die Jahre 1990 bis 2011 182 Todesopfer rechter Gewalt und veröffentlichte die Umstände ihrer 1 Der folgende Text enthält überarbeitete Auszüge aus Lohl 2010 und stellt in Teilen eine überarbeitete Fassung von Lohl 2011 und Lohl 2012 dar. 169 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ermordung. Bekannt ist, dass die Täter meist junge Männer sind, die der NeonaziSzene entstammen oder ihr nahe stehen. In zahlreichen Publikationen wird vor der extremen Gewaltbereitschaft dieser Szene gewarnt. Es gibt mindestens seit Mitte der 1990er Jahre viele Belege dafür, dass Neonazis sich jenseits des Parteienspektrums in »Freien Kameradschaften« organisieren, bewaffnen und zum Terror bereit sind. Zwischen 1999 und 2004 hat es insgesamt 178 Funde von Spreng- und Brandsätzen, von Granaten und Raketenteilen, Pistolen und Panzerfäusten gegeben, ohne dass es nennenswerte öffentliche Reaktionen gab (vgl. Röpke 2004, S. 43). Man wusste also, dass Neonazis Menschen ermorden. Man wusste, dass sie sich in »freien Kameradschaften« vernetzen und Gewalttaten planen. Man wusste, dass Neonazis über Waffen und Sprengstoff verfügen. Trotz all dieses Wissens wurden Schlussfolgerungen, was Neonazis mit diesen Waffen eigentlich machen wollen, öffentlich nicht diskutiert. Viel eher gab es, wie der Journalist Daniel Schulz selbstkritisch anmerkt, zwischen »Sicherheitsbehörden und Journalisten […] den Konsens, dass eine braune RAF nicht existiert« (Schulz 2011). Auch Röpke schreibt, dass zwischen 2001 und 2004 öffentlich der Anschein erweckt wurde, »dass es fast keine gut organisierte Neonazi-Szene [gibt], die auch militant handeln würde« (Röpke 2004, S. 43). Eine gefährliche Fehleinschätzung, wie sich im Herbst 2011 gezeigt hat. Seitdem ist öffentlich von einer »Braune[n] Armee Fraktion«, von »Rechtsterrorismus« und einer »Zwickauer Terrorzelle« die Rede. Gemeint ist damit eine Gruppe, die sich selbst »Nationalsozialistischer Untergrund« genannt hat. Diese Gruppe bestand im Kern aus zwei Männern, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, und einer Frau, Beate Zschäpe, und hat zwischen 2000 und 2006 die Ermordung von zehn Menschen systematisch geplant und durchgeführt: Ermordet wurden eine Polizistin sowie neun weitere Menschen, die von den Tätern als »Ausländer« typisiert wurden. Alle Morde wurden mit ein und derselben Waffe begangen. Die Gruppe hat an den Tatorten keine Bekennerschreiben hinterlassen, was – das kann man nicht deutlich genug sagen – typisch für rechte Gewaltanschläge der vergangenen Jahre ist. Die im Herbst 2011 in einigen Medien aufgegriffene Frage, ob aufgrund der fehlenden Bekennerschreiben überhaupt von Terror gesprochen werden könne, übersieht das Spezifische neonazistischer Gewalt. Richtig ist, dass ein primäres Ziel von Terror die spektakuläre Besetzung des öffentlichen Raumes ist. Diese wird vor allem durch die Bekanntheit der Terrorist_innen – also z.B. durch Bekennerschreiben – zu einem Ort der Angst. Rechte Gewalttäter_innen haben jedoch erstens nicht das Ziel gehabt, den öffentlichen Raum bzw. die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.2 Ganz im Gegenteil wollen sie die Öffentlichkeit für sich einnehmen 2 Durch die Entstehung »Autonomer Nationalisten« scheint sich dies zu ändern (vgl. Schedler/ Häusler 2011). 170 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und das »deutsche Volk« hinter sich bringen. Zweitens hat die Gruppe natürlich Angst und Schrecken verbreitet, nämlich unter den Menschen, die von Neonazis als soziale Repräsentant_innen ihrer Feindbilder erlebt werden. Von ihnen haben Einzelne – vor allem Angehörende der Opfer – schon früh vermutet, dass es sich bei den Mörder_innen um Neonazis handeln könnte. Die ermittelnden Behörden haben diese Vermutung nicht beachtet. Aufgrund der fehlenden Bekennerschreiben mutmaßten sie, dass die Morde auf das Konto einer türkischen Mafia gingen und mit Schutzgelderpressung zu tun hätten. Der Journalist Arno Widmann hat nach Bekanntwerden der Gruppe zusammen mit einer Archivarin der Frankfurter Rundschau geprüft, ob in deutschen Medien nicht doch auch andere Vermutungen über den Hintergrund der Mordserie angestellt wurden (Widmann 2011). Es fand sich nicht ein einziger Artikel, der die Erklärungen der Behörden infrage stellte. Es fand sich kein Kommentar, kein Leitartikel, der sich auch nur fragte, ob die Mordserie möglicherweise von gewaltbereiten Neonazis verübt worden sein könnte. Außer den Angehörenden der Opfer, die, wie gesagt, schon früh den Verdacht hegten, dass hinter den Morden eine rechte Gesinnung stecken könnte, scheint keine offizielle Stelle und kein_e Journalist_in dies ernsthaft in Erwägung gezogen zu haben. Wie lässt es sich eigentlich verstehen, dass angesichts des Wissens über das Gewaltpotenzial von Neonazis kein_e Journalist_innen, kein_e Politiker_innen und niemand in den ermittelnden Behörden auf die Idee kommt, dass hinter den Morden Neonazis als Täter_innen stecken könnten? Vielleicht kommt man einer Antwort auf diese Frage näher, wenn man ein Phänomen berücksichtigt, auf das Ilka Quindeau (2007) und Wolfram Stender (2011) aufmerksam gemacht haben: In der deutschen Gesellschaft hat sich spätestens seit Anfang der 1990er Jahre die Vorstellung entwickelt, dass eine vorbildliche Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Massenmord an Millionen Menschen gelungen ist. Möglicherweise hat das Selbstbild der »normalen«, von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Rassismus für immer befreiten deutschen Nation dazu geführt, dass deutsche Politiker_innen und die deutsche Öffentlichkeit dann, wenn in Deutschland eine Mordserie an sogenannten »Migrant_innen« stattfindet, nicht an Neonazis als Täter_innen denken. Noch der Begriff der »Braune Armee Fraktion«, der sich zeitweise eingebürgert hatte, um diesen Serienmord zu bezeichnen, ist Teil dieser Selbststilisierung. Denn er öffnet Assoziationsräume in eine falsche Richtung. Wer denkt bei dem Begriff »Braune Armee Fraktion« eigentlich nicht zu allererst an den linken Terrorismus der 70er Jahre? Mit dem Begriff verbindet man in erster Linie nicht die nationalsozialistische Verfolgungsund Ermordungspraxis und auch nicht die rechten Terroranschlägen, die es in der Bundesrepublik immer wieder gab. Die Selbststilisierung zu einer Nation, die ihre Geschichte vorbildlich aufgearbeitet hat, hatte schon immer Risse. Durch den neonazistischen Serienmord ist 171 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sie aufs Schwerste erschüttert worden. In jenem Land, das Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung zu sein meint, im Land von Lena, Partypatriotismus und Fußballsommermärchen gab und gibt es eben doch einen »Nationalsozialistischen Untergrund«. Damit bin ich bei dem Thema dieses Artikels angekommen. Im Folgenden möchte ich über das Verhältnis von historischem Nationalsozialismus und aktuellem Neonazismus nachdenken, und zwar aus einer transgenerationalen Perspektive. Hierbei werde ich in einem ersten Schritt nach dem psychischen Erbe des Nationalsozialismus bei Kindern und Enkel_innen von »NS-Volksgenossen« fragen. In einem zweiten Schritt werde ich mich dann dem aktuellen Neonazismus zuwenden und die Bedeutung dieses psychischen Erbes für die Entwicklung von neonazistischen Orientierungen thematisieren.

»Der Schoß ist fruchtbar noch« oder: Das Herrenmenschen-Selbst in der Krypta In seinem bereits im Dezember 1945 fertig gestellten Buch »Der SS-Staat« skizziert Eugen Kogon ein klares Bild der Mitverantwortung der deutschen Gesellschaft für die NS-Verbrechen: »Kein Deutscher, der nicht gewusst hätte, dass es Konzentrationslager gab. Kein Deutscher, der sie für Sanatorien gehalten hätte. Wenige Deutsche, die nicht einen Verwandten oder Bekannten im Lager gehabt oder zumindest gewusst hätten, dass der und jener in einem Lager war. Alle Deutschen, die Zeugen der vielfältigen antisemitischen Barbarei geworden, Millionen, die vor brennenden Synagogen und in den Straßenkot gedemütigten jüdischen Männern und Frauen gleichgültig, neugierig, empört oder schadenfroh gegenüber gestanden haben. Viele Deutsche, die durch den ausländischen Rundfunk einiges über die KL erfahren haben. Mancher Deutsche, der mit den Konzentrationären durch Außenkommandos in Berührung kam. Nicht wenige Deutsche, die auf Straßen und Bahnhöfen Elendszügen von Gefangenen begegnet sind. […] Kaum ein Deutscher, dem nicht bekannt gewesen wäre, dass die Gefängnisse überfüllt waren und dass im Land unentwegt hingerichtet wurde. Tausende von Richtern und Polizeibeamten, Rechtsanwälten, Geistlichen und Fürsorgepersonen, die eine allgemeine Ahnung davon hatten, dass der Umfang der Dinge schlimm war. Viele Geschäftsleute, die mit der Lager-SS in Lieferbeziehungen standen, Industrielle, die vom SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt KL-Sklaven für ihre Werke anforderten, Angestellte von Arbeitsämtern, die wussten, dass die Karteikarten der Gemeldeten Vermerke über die politische Zuverlässigkeit trugen und dass große Unternehmen SS-Sklaven arbeiten ließen. Nicht wenige Zivilisten, die am Rande von Konzentrationslagern oder in ihnen selbst tätig waren. Medizinprofessoren, 172 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

»Morden für das vierte Reich«

die mit Himmlers Versuchsstationen, Kreis- und Anstaltsärzte, die mit professionellen Mördern zusammenarbeiteten. Eine erhebliche Anzahl von Luftwaffenangehörigen, die zur SS kommandiert worden sind und etwas von den konkreten Zusammenhängen erfahren haben. Zahlreiche höhere Wehrmachtsoffiziere, die über die Massenliquidierungen russischer Kriegsgefangener in den KL, außerordentlich viele deutsche Soldaten und Feldgendarmen, die über die entsetzlichen Greueltaten in Lagern, Ghettos, Städten und Dörfern des Ostens Bescheid gewusst haben« (Kogon 1988 S. 413f.).

Von dieser Integration der deutschen Gesellschaft in das NS-Regime wollte nach 1945 niemand mehr etwas wissen. Die Entnazifizierung war eigentlich schon beendet, noch ehe der erste Panzer mit alliierten Soldaten durch die Straßen fuhr. Niemand – so stellt es Hannah Arendt (1950) bei ihrem Besuch in Deutschland fest – war ein Nazi gewesen. Sie beschreibt einen Gefühlsmangel im Umgang mit der unmittelbar zurückliegenden Nazi-Zeit, den sie als Ausdruck einer »Weigerung« interpretiert, sich mit ihr auseinanderzusetzen und das, was geschehen war, anzuerkennen. So wurden in den 1950er Jahren Berichte aus den Konzentrationslagern, Romane, Filme und Dokumentationen, die sich mit der NS-Vergangenheit beschäftigten, in vielen Fällen kaum intellektuell, geschweige denn emotional registriert. »In Weimar haben NSV-Schwestern Buchenwalder KL-Gefangenen, die nach einem Luftangriff im Februar 1945 Verschüttete ausgruben und Aufräumarbeiten leisteten, selbst einen Schluck Wasser verweigert. Das städtische Krankenhaus lehnte es ab, schwerverwundete Häftlinge aus den dortigen Gustloff-Werken zur ersten Hilfe aufzunehmen. […] Noch im Spätherbst 1945 hörte ein Bekannter von mir in der Bahn eine deutsche Rotkreuz-Schwester, die in Weimar tätig gewesen war, erzählen, wie sie veranlasst werden sollte, einige Zeit nach der Befreiung des Lagers Buchenwald sich dort kranken Gefangenen zu widmen. ›Wie komme ich dazu‹, meinte sie, ›tuberkulöse Verbrecher zu pflegen!‹« (Kogon 1988, S. 418).

Der psychische Mechanismus, der diesen Gefühlsmangel im Umgang mit der eigenen Geschichte hervor treibt, war die Derealisierung der Vergangenheit (vgl. A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967; Dahmer 1990; Lohl 2010). Wer einen Teil seiner Lebensgeschichte derealisiert, sie also für unwirklich erklärt, der behandelt sie so wie einen bösen Traum nach dem Aufwachen. Die Kategorie Derealisierung der NSVergangenheit bezeichnet den psychischen Prozess, durch den das »Nacherleben« der Vergangenheit »nicht mit unserer Identität verknüpft« wird (A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967, S. 29). Die Nazi-Zeit wird so zu etwas Fremdem, das scheinbar nur Andere – Jüd_innen und vor allem prominente Nazis – etwas anzugehen scheint, nicht aber die eigene Person. Die Derealisierung lässt vielen Deutschen die Nazi-Zeit als eine überpersönliche Geschichte erscheinen, die sie selbst mit ihrer speziellen Le173 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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bensgeschichte nicht spürbar betrifft. Genau besehen richtet sich die Derealisierung gegen die Wahrnehmung solcher Repräsentationen der Vergangenheit (Berichte aus den Konzentrationslagern etc.), die die Rezipient_innen in Form von unlustvollen Emotionen wie Schuld und Scham, Trauer und Angst auf ihr eigenes Fühlen, Handeln und Denken »unter dem Hakenkreuz« hinweisen könnten. Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) stellen auf der Basis von Alltagsbeobachtungen, klinischen Einzelfallstudien sowie anhand von 4.000 Patient_innenakten der psychosomatischen Klinik Heidelberg irritiert Folgendes fest: Der Zusammenbruch und die Niederlage führten bei den meisten Deutschen nicht zu Anzeichen seelischer Krisen. Dabei wäre eine bestimmte psychische Krise zu erwarten gewesen. Aufgrund des Verlustes von Hitler als libidinös hochbesetztem Massenführer, aufgrund der Zerstörung der deutschen »Volksgemeinschaft« und ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg bestanden nach den Mitscherlichs die Voraussetzungen für eine besondere Form von Trauer: eine Melancholie. Trauer und Melancholie sind psychische Reaktionen, die regelmäßig auf den Verlust eines geliebten Menschen oder eines emotional bedeutsamen Ideals erfolgen (vgl. Freud 1916–17g; Torok 1968). Eine Melancholie drückt im Unterschied zur Trauer eine narzisstische Krise aus, die aus dem Verlust eines solchen Liebesobjektes resultiert, welches bislang narzisstisch stabilisierend und gratifizierend wirkte. Mit dem Ende der NS-Herrschaft ging in dieser Hinsicht für viele Deutsche etwas verloren, was vorher eine bedeutende psychische Rolle spielte: »die grandiose Erfahrung von eingeborener ›arischer‹ Überlegenheit inklusive der Erlaubnis zur Degradierung des als minderwertig oder unwert Definierten« (Brockhaus 2012, S. 104). Daher wäre nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und dem Untergang des »Dritten Reichs«, so Brockhaus an anderer Stelle, »zu erwarten gewesen, dass die Deutschen um den Verlust ihres Herrenmenschen-Selbst getrauert hätten, um die in der NS-Zeit gelebten Größenfantasien, um die Partizipation an expansiver und destruktiver Gewalt« (Brockhaus 2008, S. 31f.). Das Herrenmenschen-Selbst lässt sich verstehen als eine narzisstische Selbstrepräsentanz, die viele Einzelne in der durch Hitler integrierten und als omnipotent imaginierten Masse der deutschen »Volksgemeinschaft« ausbildeten (Adorno 1951; Freud 1921c; A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967; Pohl 2012). Dies geht einher mit Gefühlen von kollektiver Macht und unermesslicher narzisstischer Befriedigung, die Adorno (1959) auf den Begriff des »kollektiven Narzissmus« bringt: Hitler als sinnlicher Repräsentant der »Volksgemeinschaft« hatte »es der deutschen Öffentlichkeit in Stadt und Land mit verschwindenden Ausnahmen möglich gemacht, an die Realisierbarkeit ihrer infantilen Omnipotenzphantasien glauben zu dürfen« (A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967, S. 36). Alle eigenen Vorstellungen und Gefühle, die diesen grandiosen kollektiven Narzissmus bedrohen oder verunreinigen (Gefühle von Kleinheit und Ohnmacht, Schwäche und Schuld, Zweifel, verpönte sexuelle Impulse, …), werden vom Herrenmenschen-Selbst abgespalten. Sie wurden in den vom NS-Regime vorformulierten Feindbildern projektiv identifiziert und in der Verfolgung 174 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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von deren sozialen Repräsentant_innen bekämpft. Nur wer sich wie ein Herrenmensch fühlt, kann auch als solcher agieren: So stellt die Entwicklung eines HerrenmenschenSelbst eine Bedingung der Realisierung einer schrecklich alltäglichen – und oftmals mörderischen – Macht dar, mit der viele Deutsche bis in die letzten Kriegstage hinein gegenüber den zum Feind erklärten Menschen und sogenannten »Untermenschen« auch wie Herrenmenschen auftraten. Viele Deutsche wehrten nun nach 1945 den durch die Niederlage der deutschen »Volksgemeinschaft« und durch den Tod Hitlers sich anbahnenden melancholischen Konflikt ab. Sie wichen der drohenden libidinösen Ablösung von Hitler und dem Phantasma der »Volksgemeinschaft« ebenso aus wie dem Verlust des eigenen Herrenmenschen-Selbst. Indem sie bestimmte Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte derealisierten, bannten sie die Melancholie: Insbesondere die Bildung von Erinnerungen, »die mit der Begeisterung am Dritten Reich, mit der Idealisierung des Führers und seiner Lehre und natürlich mit direkt kriminellen Akten zu tun haben«, wurden abgewehrt. Warum aber findet diese Abwehr statt? Aus der Perspektive der Erweiterung des psychoanalytischen Konzeptes der Melancholie, die Nicholas Abraham und Maria Torok vorgelegt haben, lässt sich die Bedingung der Abwehr einer Melancholie nicht nur im unlustvollen Charakter einer narzisstischen Krise sehen (Abraham/Torok 1975, Torok 1968; vgl. zur Differenzierung des Folgenden: Brunner 2011a und b; Lohl 2010, S. 130–149). Torok und Abraham sprechen zunächst von einer Krypta bzw. der Kryptisierung des verlorenen Objektes an einem »abgeschlossenen Ort inmitten des Ichs« (Abraham/Torok 1975, S. 63). Bei einer Kryptisierung wird das verlorene narzisstische Objekt inkorporiert, abgespalten und schwelt als unassimiliertes Introjekt im Ich fort. Kryptisiert wird jedoch nicht nur das Objekt, sondern eben auch die »Erinnerung an eine Idylle, wie sie mit einem bevorzugten Objekt gelebt wurde und die […] als uneingestehbar verborgen wurde; eine Erinnerung, die fortan an einem sicheren Ort verwahrt bleibt, in Erwartung ihrer Auferstehung« (ebd., S. 62). Vermieden wird durch eine Kryptisierung also nicht nur das Leid und die unlustvollen Empfindungen, die mit dem Verlust des Objektes verbunden sind, sondern auch der Verlust der mit ihm verbundenen (narzisstischen) Lust: »Alles verschweigen und tief in sich verschließen, Lust und Leid gleichermaßen« (Abraham/Torok, 1975, S. 75). Die Kryptisierung des »verlorenen Paradieses«, der »goldenen Vergangenheit« sucht dieses Leid zu vermeiden und die Lust in Form eines Hoffnung auf ihre reale Wiederholung unbewusst zu bewahren (vgl. Torok 1968, S. 504f.). Die Kryptisierung ermöglicht somit nicht nur eine imaginäre Bindung an das Objekt, sondern erhält auch jene Selbstrepräsentanzen, die sich in der Beziehung zum Objekt konstituierten.3 3 In ihrer kritischen Rezension meiner Studie »Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus« (Lohl 2010) wirft Annette Vieth (2013) mir vor, dass ich einen traumatheoretischen Zugang ausklammere, was 175 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Bezogen auf den Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen lässt sich annehmen, dass das von vielen idealisierte »Selbstbildnis der privilegierten Rasse« (A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967, S. 26) und das Gefühl der Herrlichkeit, »ein Volk der Auserwählten zu sein« (ebd., S. 29) kryptisiert wurde. Das bedeutet, dass das Herrenmenschen-Selbst und der kollektive Narzissmus trotz der Niederlage und des Zusammenbruchs psychisch weiter wirken. Metaphorisch gesprochen wurde das Herrenmenschen-Selbst in der Hoffnung lebendig vergraben, es eines Tages wieder ich hier aufgreifen möchte. Vieth differenziert nicht genügend zwischen einer Tradierung von traumatischen Gewalterfahrungen und der Tradierung von den Täterschaft und Schuld zugrundliegenden psychischen Bedingungen. Es ist irreführend, wenn sie betont, dass ich die Arbeiten Radebolds nicht erwähne, der sich eben mit dem Thema Kriegskindheiten beschäftigt. Ebenso irreführend ist, dass Vieth betont, Alexander und Margarete Mitscherlich würden in Die Unfähigkeit zu trauern von einer »traumatischen Wirkung des NS-Erbes sprechen« (Vieth 2013, S.  285) – eine Formulierung, die sich nicht in der Studie findet. Der Ausdruck »Trauma« taucht in dieser Arbeit an sehr wenigen einzelnen Stellen auf und wird nicht systematisch verwendet. Vieth bezieht sich hier zudem nicht auf die Studie der Mitscherlichs selbst, was bei einer in ihrem Urteil derart dezidierten Rezension verwundern muss, sondern auf eine Arbeit Angela Kühners (2008), die sich mit den Mitscherlichs beschäftigt. Bemerkenswert ist, dass Vieth die Mitscherlichs nach Kühner zitiert, aber dabei vollkommen übersieht, dass Kühner sehr genau zeigt, dass die Mitscherlichs dort, wo sie Trauma sagen, eigentlich narzisstische Kränkung meinen – beide Phänomene also von den Mitscherlichs verwechselt werden (Kühner 2008, S. 156). Warum soll man, um den Gedanken Vieths dennoch aufzugreifen, sich mit Kriegskindheiten und gewaltinduzierten Traumata beschäftigen, wenn man nach Täterschaft und Schuld fragt? Vieth selbst liefert als Begründung einen Hinweis auf den common sense in der scientific community – der Begriff Trauma soll verwendet werden, weil andere ihn verwenden (ebd.) – eine inhaltliche Begründung bleibt Vieth schuldig. Dies hinterlässt ebenso einen faden Nachgeschmack, wie ihr Vorwurf, ich hätte das Verhältnis von Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus nicht systematisch untersucht, was von Vieth ebenfalls weder ausgeführt noch begründet wird (ebd., S. 286). Vieth geht hinsichtlich der hier besprochenen Punkte apodiktisch vor, statt Begründungen zu liefern und urteilt von einer vermeintlich höheren Warte her. Hierbei bezieht sie sich quer durch ihre Rezension immer wieder auf verschiedene Arbeiten Angela Morés und versucht eine Frontstellung aufzumachen, was irritieren muss. Was aber lässt sich bezogen auf den Traumabegriff und vor allem zum Verhältnis von Trauma und Krypta inhaltliches sagen (vgl. dazu Lohl 2010, S. 137)? Matthias Hirsch (1993) zeigt in einem lesenswerten Artikel, dass Kryptisierungen und Traumatisierungen zu ähnlichen psychischen Erscheinungen führen, die jedoch auf grundsätzlich unterschiedlichen Bedingungen fußen – auf Gewalterfahrungen einerseits und einer gelebten Lust andererseits: Die Wiederholungen des Traumas in Form von Flashbacks sind hochgradig unlustvoll, die Öffnung der Krypta hat prinzipiell lustvollen Charakter: »Während beim Trauma ein überwältigendes Erleben als Unübersetzbares abgeschottet werden muss, spaltet die Krypta etwas schon Symbolisiertes ab, einen benannten Wunsch, gar eine gelebte Lust, die aber als Geheimnis nicht ausgesprochen werden darf und deshalb isoliert werden muss. Während das Loch des Traumas ein ›Jenseits des Lustprinzips‹ darstellt, gehorcht die Inkorporation gerade diesem Lustprinzip, indem es die Lust konserviert und in der Krypta das Versprechen auf ihre Wiederkehr festhält. Dieses Wiederkehren zeigt sich denn auch nicht in Form von konkretistischen, unmittelbar überwältigenden Flashbacks, sondern in Form von Irritationen: […] ausgefallenen Handlungen und unerwarteten Empfindungen« (Brunner 2011, S. 54). Aus dieser Perspektive ist der Traumabegriff – auch für den vorliegenden Text – nicht zwingend. 176 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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aus seiner Krypta auferstehen zu lassen. Viele Deutsche haben deshalb die schuld- und schamvollen Szenen ihrer Lebensgeschichte derealisiert, um das HerrenmenschenSelbst emotional zu bewahren und eine emotionale Ablösung von ihm zu vermeiden. Anders formuliert: Jede Berührung der eigenen Lebensgeschichte, die Gefühle der Schuld, Scham und Trauer mobilisiert, wird vermieden, um das im Unbewussten lebendig vergrabene Herrenmenschen-Selbst zu schützen. So erinnern sich viele Deutsche folgendermaßen an ihre Lebensgeschichte »unter dem Hakenkreuz«: Man ist kein Mittäter, sondern »hat viele Opfer gebracht, hat den Krieg erlitten, ist danach lange diskriminiert gewesen, obwohl man unschuldig war, weil man ja zu alledem, was einem jetzt vorgeworfen wird, befohlen worden war. Das verstärkt die innere Auffassung, man sei das Opfer böser Mächte: zuerst der bösen Juden, dann der bösen Nazis, schließlich der bösen Russen. In jedem Fall ist das Böse externalisiert; es wird draußen gesucht und trifft einen von außen« (A. Mitscherlich/M. Mitscherlich 1967, S. 61).

Das Phantom des Herrenmenschen-Selbst: Aufwachsen in einer familiären Aura des Kindesmordes Diese Abwehrformation wird in den Familien vieler Nationalsozialist_innen inszeniert. Denn die Beziehung zu den eigenen Kindern bot die Möglichkeit, genau diesen Umgang mit der Geschichte zu stabilisieren. Kinder stellen in vielen Familien von Täter_innen, Mitläufer_innen und Zuschauer_innen einen Raum für als negativ empfundene Eigenanteile der Eltern dar. Indem die Eltern in ihren Kindern verleugnete Selbstanteile wie Schuld- und Schamgefühle, Schwäche und Zweifel an der eigenen Lebensgeschichte projektiv identifizieren, entlasten sie sich: Die Kinder »wurden benötigt und mißbraucht, um die alten Ideale und Anschauungen aufrechthalten zu können und nicht einer Entwertung und Depression anheim zu fallen« (Bohleber 1994, S. 78). Während ihres Aufwachsens benutzen die Eltern sie einerseits zur narzisstischen Regulation, d.h. zur Bannung der Melancholie und zur Stabilisierung der Krypta. Andererseits erleben die Eltern aufgrund der projektiven Identifizierung entwertender, schuldvoller und bedrohlicher Selbstanteile ihre Kinder als eine Gefahr: Sie werden unbewusst als Ungeheuer wahrgenommen, die die Stabilität der Krypta und damit die Hoffnung auf eine Wiederholung der vermeintlichen Idylle der »Volksgemeinschaft« und des Herrenmenschen-Selbst gefährden.4 Bestimmte 4 In der wissenschaftlichen Literatur zu den generationenübergreifenden Folgewirkungen des Nationalsozialismus wird wiederholt bemerkt, dass die Nachgeborenen von Täter_innen, Mitläufer_innen und Zuschauer_innen sich aufgrund der elterlichen Projektion »selbst als die ›Juden‹ ihrer Eltern, als Verfolgte und Gejagte« erleben (Hardtmann 1995, S.  242). Kestenberg spricht 177 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Verhaltensweisen des Kindes – insbesondere Fragen nach der NS-Vergangenheit – erinnern die Eltern unbewusst an Schuld und drohende narzisstische Entwertung. Das Kind ist daher für die Eltern »zugleich unentbehrlich und ein Gegenstand des äußersten Mißtrauens« (Hardtmann 1992, S. 42). Erziehung wird vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz zum unbewussten Bemühen darum, in den Kindern die projizierten Eigenanteile zu kontrollieren, die die Eltern nicht als Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte wahrnehmen wollen. Auf das Verhängnisvolle der Gleichzeitigkeit von elterlicher Projektion und dem Versuch, das Projizierte im Kind durch Erziehung zu kontrollieren, hat Richter (1960) in anderem Zusammenhang hingewiesen: Es besteht darin, dass Eltern ihre Kinder fortlaufend vor einem bestimmten Verhalten, einem bestimmten Fühlen, Wünschen, Handeln und Denken warnen, aber dies gleichzeitig »in einer Art und Weise tun, daß sie das Feuer erst richtig« schürt (ebd., S. 75; vgl. ders. 1963, S. 155): Die Kinder sollen Richter zufolge die verpönten Eigenanteile der Eltern übernehmen und diese tief in sich verwahren, aber auf gar keinen Fall ans Tageslicht kommen lassen. So werden sie zu Träger_innen eines Geheimnisses, das der Lebensgeschichte der Eltern entstammt, von dem sie aber nichts Genaues wissen (siehe unten). Die Versuche, das Projizierte im Kind zu kontrollieren, werden durch die NSErziehungsideologie erleichtert. Diese hatte die Bemächtigung der Kinder und Härte gegenüber ihren Anliegen und Bedürfnissen gefordert (vgl. Koch-Wagner 2001, S. 61–73; dies. 2003).5 Auch nach dem Ende der NS-Herrschaft wirkte diese weit verbreitete Auffassung fort und zielte auf die Zurichtung eines Kindes, das davon, dass, wie »während der NS-Zeit auf die Juden, so wurden jetzt die negativen Anteile auf die Kinder projiziert, diese als Angreifer und das personifizierte Böse erlebt und entsprechend verfolgt. In ihren Träumen erlebten sich deshalb mitunter die Kinder als ›die Juden ihrer Eltern‹« (Kestenberg 1989, S.  238). Natürlich wurden die Kindern nicht so wie im Nationalsozialismus die Jüd_innen verfolgt; die staatliche und ideologische Konstruktion von Feind_innen fehlte ebenso wie die systematische Organisation von Verfolgung und Vernichtung. Einerseits gilt es jedoch, die Einsicht in die projektive Identifizierung negativer Anteile in die Kinder festzuhalten. Andererseits verschleiert die Formulierung »Kinder von ›Volksgenossen‹ als ›Juden‹ ihrer Eltern« die Loyalitätsbindung an die eigenen Eltern und so möglicherweise eine Identifizierung mit der elterlichen Projektions-, Gewaltund Vernichtungsbereitschaft. 5 Nach den NS-Erziehungsauffassungen, so wie sie Koch-Wagner (2001, 2003) darlegt, sollte insbesondere eine emotionale Beziehungsaufnahme zum Kind vermieden und der Körperkontakt zum Kind auf die Pflege beschränkt werden. Die Mutter sollte sich nicht auf das Kind, seine Interessen und Bedürfnisse einlassen, um die Entwicklung von Eigensinn und einem eigenen Willen vorzubeugen, sondern durch die Unterbindung emotionaler Kontakte und einer rigiden Sauberkeitserziehung die entscheidenden Vorbedingungen zur gewünschten Hörigkeit gegenüber äußeren Autoritäten schaffen: »Mit dieser unbedingten Folgsamkeit gegenüber den mütterlichen Geboten wurde die Hingabe an das Ideal des gestählten und funktionstüchtigen Körpers in der Gemeinschaft der arischen Elite vorbereitet. Stolz nach außen und Unterwerfung nach innen bedingen sich. Ein selbstbestimmtes Ausscheren sollte ausgeschlossen werden« (Koch-Wagner 2003, S. 256). 178 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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durch die Unterdrückung von Schwäche und Eigenwille gehorsam und folgsam sein sollte. Eine elterliche Orientierung an der NS-Erziehungsideologie erleichterte es, das Kind als Träger entwertender, schuld- und schamvoller Eigenanteile zu sehen, zu behandeln und zu züchtigen. So war die familiäre Situation, in der Kinder von Tätern, Mitläufern und Zuschauern aufwuchsen, nach Kestenberg oftmals »von der Aura des Kindesmordes erfüllt« (Kestenberg 1989, S. 175).6 Diese Kinder bekamen in ihren Familien vielfach jenen Hass und jene Kälte ihrer Eltern zu spüren, die in der nationalsozialistischen Gesellschaft destruktiv agiert oder im Wegsehen artikuliert worden waren: So schildert Bohleber das Fallbeispiel eines Patienten, dessen Vater in der Familie »[h]andgreiflich und mit Gewalt« klar machte, »wer jetzt zu Hause des Sagen hatte. Der Wille des Kindes musste gebrochen werden. Für den Jungen oft ohne Grund, wurden Strafen mit der Peitsche richtiggehend exekutiert« (Bohleber 1990, S. 81). Rosenthal gibt folgendes Beispiel der elterlichen Gewalt gegenüber ihren Kindern: »So hatte z. B. die Tochter eines Euthanasiearztes miterleben müssen, wie der Vater den jüngeren Bruder als Baby in den Swimmingpool warf, um dessen von ihm angezweifelte ›Reinrassigkeit‹ zu testen« (Rosenthal 1997, S. 20). Die mit dieser Aura des Kindesmordes verknüpfte Angst der Kinder vor zum Infantizid bereiten Eltern stellt, wie im Folgenden deutlich wird, den vielleicht wichtigsten Aspekt einer NS-Gefühlserbschaft bei Nachkommen von NS-»Volksgenossen« dar. Denn um dieser Angst zu begegnen, um die elterlichen Aggressionen vom eigenen Ich fern zu halten, um vielmehr die Liebe und die Zuneigung der Eltern zu gewinnen, entwickelten viele Kinder »einen ›inneren Sinn‹ für die elterlichen Abwehrformationen« (Buchholz 1998, S. 330). Wenn sie auch oftmals nicht wissen, wie ihre Eltern in der NS-Zeit gefühlt, gehandelt und gedacht haben, so spüren sie doch sehr genau, wie sie sich im Umgang mit der Vergangenheit verhalten müssen, um die Eltern nicht zu provozieren, um familiäre Konflikte und Aggressionen zu vermeiden. Auf diesem Weg identifizieren sie sich mit der Logik der Derealisierung der Vergangenheit, die so tradiert wird: »What is transmitted is […] a narcissistic way of solving the conflicts. This means the parents transmit to their child the narcissistic functioning they used to solve their intrapsychic conflicts« (Faimberg 1993, S. 50). Ein Effekt dieser Identifizierung mit dem von Abwehr geprägten Umgang mit der Familiengeschichte ist, dass die Kinder die Tabus ihrer Eltern von klein auf verinnerlichen. Sie spüren z.B., welche Fragen nach der Lebensgeschichte der Eltern sie stellen können und welche nicht. Weichen die Kinder von ihrem emotionalen Gespür für den Umgang mit der Familiengeschichte ab, dann fühlen sie sich schuldig und schämen sich. Es entwickeln sich also eigene emotionale und moralische Konflikte der Kinder, die eigentlich der Geschichte 6 »Unvollkommenheit eines Kindes und Schwäche waren derart schändlich, daß körperlich und geistig behinderte Kinder [im Nationalsozialismus; J. L.] durch Euthanasie aus der deutschen Rasse eliminiert worden waren« (Bohleber 1990, S. 78). 179 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Eltern entstammen. Auf diese Weise entwickeln sich einerseits Familiengeheimnisse; die Eltern werden nicht als mögliche Täter_innen und Mitläufer_innen des Nationalsozialismus wahrgenommen, sondern vorwiegend als unschuldige Opfer von Krieg und Zerstörung.7 Indem viele Kinder von NS-»Volksgenoss_innen« sich mit den Abwehrformationen ihrer Eltern identifizieren, arbeiten sie psychisch – jenseits einer konkreten Kenntnis der elterlichen Lebensgeschichte – an der Stabilisierung der Krypta und dem Schutz des Herrenmenschen-Selbst mit. Abraham (1978) hat sich nun nicht nur mit Kryptisierungsprozessen beschäftigt, sondern auch mit der Frage, welche generationenübergreifenden Effekte eine Krypta hervorbringen, wie sich also die Geheimnisse von Eltern in ihre Kinder einschreiben. Ihm zufolge führt die Krypta der Eltern regelmäßig im Unbewussten der Kinder zur Bildung eines sogenannten Phantoms: Das Phantom ist eine Erfindung der Nachgeborenen, die »wenn auch auf halluzinatorische Weise, individuell und kollektiv, die Lücke vergegenständlichen muss, die die Verdunkelung eines Abschnitts im Leben eines Liebesobjekts [eines Elternteils; J. L.] in uns erzeugt hat« (Abraham 1978, S. 691f.). Die Geheimnisse, die die Eltern ihren Kindern nicht bzw. nonverbal in Form der projektiven Identifizierung von z. B. Schuldund Schamgefühlen mitteilen, werden – so ist Abraham zu verstehen – durch die Kinder sukzessive unbewusst ausfantasiert. Im Entwicklungsverlauf bilden die Kinder nach und nach unbewusste geschichtsbezogene Fantasien über die Eltern aus. Das Phantom ist somit »eine Bildung des Unbewussten [des Kindes; J. L.], deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie niemals bewusst geworden ist, und zwar ist sie hervorgegangen aus dem […] Übergang aus dem Unbewussten eines Elternteils in das Unbewusste eines Kindes« (ebd., S. 694). Das Phantom ist daher weit mehr als ein Hirngespinst des Kindes, denn es bildet die Krypta der Eltern im Unbewussten des Kindes ab: Jene »Geschichte«, die von den Eltern aufgrund ihrer narzisstisch-katastrophischen Qualität verschwiegen wird und deswegen den Nachkommen »völlig unbekannt ist« (ebd., S. 697). Unbewusst ahnen die Kinder also sehr genau, was die Eltern aus ihrer Lebensgeschichte nicht preisgeben, welche Geschichten aus der NS-Zeit sie nicht erzählen (vgl. Rosenthal 1997, S. 23). Bohleber kann anhand seiner klinischen Fallanalysen zeigen, dass bei vielen Kindern von NS-Volksgenossen unbewusst ein »einigermaßen einheitliches Bild« vorherrscht, welches sich auf die von den Eltern verschwiegenen Anteile bezieht, »die aus nationalsozialistischer Gewalt, Vernichtung und Ideologie und aus Kriegsfolgen stammen« (Bohleber 1990, S. 82). Im Unbewussten der Nachkommen ist eine Vorstellung verborgen, welche die Eltern gerade nicht als Opfer, sondern ihre abgespaltene »schmutzige und beschämende andere Seite« zeigt (Hardtmann 1989, S. 294). Die unbewussten Fantasien zeigen einen »schlimmen 7 Dieses Phänomen hält bis in die Gegenwart an (vgl. Welzer et al. 2002). 180 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und verbrecherischen Vater, mit dem man nichts zu tun haben will« (Bohleber 1997, S. 978). Auf der emotionalen Ebene sind die unbewussten Fantasien über die Geschichte der eigenen Vorfahren durchtränkt von Aggressionen und Gewalt. Die eigenen Eltern werden in ihnen »mit […] vernichtenden Aggressionen in Zusammenhang gebracht« (Rommelspacher 1995, S. 90). Viele Kinder von Täter_innen, Mitläufer_innen und Zuschauer_innen bilden somit unbewusste Fantasien über eine mögliche Täterschaft und Schuld, Macht und Gewalt der Eltern aus. In diesen unbewussten Fantasien richten sie das Herrenmenschen-Selbst ihrer Eltern wieder auf. Es wirkt als Phantom, als Wiedergänger aus der totgesagten Geschichte ihrer Eltern im Unbewussten der Kinder weiter und agiert oftmals gegen das Selbst des Kindes. Es bewacht – so könnte man sagen – in den Kindern auf eine aggressive Weise die Derealisierung der elterlichen Geschichte und repräsentiert in ihnen die oben erwähnte familiäre »Aura des Kindesmordes«: Viele Kinder von Täter_innen und Mitläufer_innen verspüren »die Befürchtung, bei Aufdeckung der familiären Vergangenheit von den Eltern […] ermordet zu werden« (Rosenthal 1997, S. 20). Solche Fantasien tauchen zum Beispiel in Träumen auf. So hat der Sohn eines NS-Täters einen wiederkehrenden Albtraum: Er wird von »unbekannten Männern, die sich lautlos von hinten an ihn heranschleichen, erwürgt«. Erst als erwachsener Mann gelingt es ihm, Folgendes in Erfahrung zu bringen: Sein Vater hatte als Wehrmachtssoldat »immer einen Draht dabei […], um den Feind, wie z. B. Wachposten, von hinten geräuschlos zu erdrosseln« (ebd., S. 21). In seinen Träumen, so ist Rosenthal zu verstehen, reinszenierte der Sohn einen Aspekt der Vergangenheit seines Vaters, über den dieser niemals gesprochen hatte.

Unbewusster Auftrag an die Enkel8 Werden die Kinder von Nationalsozialist_innen selbst Eltern, lösen sich familiäre Loyalitäten nicht automatisch auf: Ganz im Gegenteil beschreibt Hardtmann, dass sich die Beziehung zu den eigenen Kindern (Enkelgeneration) »verknüpft […] mit paranoiden Ängsten, dass irgendetwas Unbestimmtes und nicht näher zu Bestimmendes, ein Täteranteil, in der Familie« auftaucht (1992, S. 43). Hardtmanns These ist, dass die Eltern aus der mittleren Generation fürchten, dass ihre Kinder einen solchen Umgang mit der Familiengeschichte entwickeln, in dem Täterschaft und Schuld, eine mit dem Nationalsozialismus verbundene Macht und Gewalt, kurz: das Herrenmenschen-Selbst der Großeltern zum Thema werden könnte. Gefürchtet wird dies deshalb, weil es die familiäre Loyalität im Umgang mit der Geschichte 8 Vgl. zur Bedeutung von Transgenerationalität für die Protestbewegung der 1960er Jahre: Brunner/Lohl 2011. 181 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Großeltern gefährdet, was, wie gesagt, Autoaggressionen, Ängste, Schuld- und Schamgefühle mobilisiert. Um diese Emotionen zu vermeiden, beäugen die Eltern den Umgang ihrer Kinder mit den Großeltern und deren Vergangenheit sehr genau. Hierbei entwickeln sie »von der ›jungen Generation‹ ein Ichideal […], dass sie von ihren Schuldgefühlen und dem negativen narzisstischen Selbstbild sowie von der strengen Moral befreien soll. Die Eltern können die damit verbundene Orientierungslosigkeit, Angst und Destruktion nicht bei sich behalten und geben sie an die nächste Generation weiter. Zugleich überfordern sie […] die Jugend mit der Erwartung, für die Elterngeneration das Gute und Lebendige zu verkörpern und ihr dadurch eine Art moralische Orientierung vorzugeben« (Ebrecht 2003, S. 182).

Ewers zeigt anhand einer Analyse verschiedener Familien- und Generationenromane etwas Ähnliches auf. Die von ihm untersuchten Romane zeigen eine »fragwürdige Idealisierung der dritten Generation. Man gewinnt den Eindruck, als machten hier Angehörige der zweiten Generation Vertreter der Kindergeneration [gemeint sind die Enkel der Täter_innen, Mitläufer_innen und Zuschauer_innen, J.L.] zu Trägern des eigenen besseren Selbst« (Ewers 2008, S. 138). Auffällig sei hinsichtlich des Verhältnisses der Enkel zu ihren Großeltern die »durchgehende Zeichnung einer überaus positiven emotionalen Beziehung« (ebd.). Ewers interpretiert dies als Effekt eines Begehrens von Angehörigen der mittleren Generation nach einer ambivalenzfreien positiven Beziehung zu den eigenen Eltern (den Großeltern in der Familie), das sie an ihre eigenen Kinder (die Enkel in der Familie) tradieren. Unbewusst, so scheint es, fordern viele Eltern von ihren Kindern einen solchen Umgang mit der Vergangenheit der Großeltern, der ihre paranoide Angst vor Täterschaft und Schuld, vor dem in ihren unbewussten Fantasien abgebildeten Herrenmenschen-Selbst nicht zu einem spürbaren Thema macht. Ganz im Gegenteil beauftragen sie ihre Kinder unbewusst, zu ihren Großeltern und deren Vergangenheit eine konfliktfreiere, von kommunikativer Rationalität, Liebe und positiven emotionalen Bindungen geprägte Beziehung auszubilden. Viele Kinder und Jugendliche aus der jüngeren Generation verinnerlichen diese Forderung und versuchen sie zu realisieren. Sie entwickeln ein emotionales Gespür dafür, wie sie mit der Familiengeschichte umgehen müssen. So konstruieren auch viele Enkel_innen Familienmythen, indem sie die Großeltern aus jeder möglichen Nähe zu Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung herauslösen. Keinesfalls erleben die Enkel_innen ihre Großeltern als überzeugte Nationalsozialist_innen, mordende Wehrmachtssoldaten oder Antisemit_innen. Die Großeltern werden von ihren Enkel_innen überwiegend als Opfer des Krieges oder eines übermächtigen Systems gesehen. Zudem nutzen die Enkel_innen jeden noch so entlegenen Hinweis darauf, wie Welzer, Moller und Tschugnall (2002) zeigen, dass die Großeltern etwas »Gutes« getan haben bzw. niemals etwas Böses tun würden. 182 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Viele Enkel_innen wollen keine Erzählungen über die Beteiligung ihrer Großeltern an oder ihr Wissen von den NS-Verbrechen hören. Sie sind primär an einer positiven emotionalen Kontinuität zwischen den Generationen der Großeltern, der Eltern und ihrer eigenen interessiert, um dem unbewussten Auftrag ihrer Eltern gerecht zu werden. Dass allerdings zu der Familiengeschichte auch etwas gehört, nach dem sie besser nicht fragen und über das sie in der Familie besser nicht sprechen sollten, spüren sie sehr genau. Auch die Enkel_innen bilden in der Interaktion mit ihren Eltern unbewusste Fantasien aus, die die Großeltern in die Nähe von Täterschaft und Schuld rückt und auch deren Herrenmenschen-Selbst phantomhaft abbildet. Denn gerade der Versuch der Eltern, das in ihrem Unbewussten als Phantom spukende Herrenmenschen-Selbst der Großeltern auszutreiben, indem sie die Enkel unbewusst beauftragen, nicht daran zu rühren, führen dazu, dass der Phantomeffekt sich im Laufe der Generationen nicht abschwächt (vgl. Abraham 1978, S. 698). So weist Rosenthal darauf hin, dass auch die »dritte Generation – häufig unbewusst – sehr detaillierte Phantasien über die nichterzählten Geschichten und Familiengeheimnisse ausbildet. […] Die Kinder und Enkel von Nazi-Tätern […] sind mit Phantasien aus der Perspektive der Täter, mit Vorstellungen über deren Taten beschäftigt. Dabei versuchen sie […] sich immer wieder damit zu beschwichtigen, dass diese Phantasien keinen Realitätsgehalt haben« (Rosenthal 1997, S. 23).

Dieses Bemühen, den Realitätsgehalt des Phantoms nicht zu prüfen, sondern ihn zum Verschwinden zu bringen, greift der Vergangenheitsdiskurs in neonazistischen Gruppen auf.

Hitlers Enkel? Wenn ich im Folgenden nach dem Verhältnis der beschriebenen intergenerationellen Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu aktuellem Neonazismus frage, muss ich zwei Bemerkungen voranstellen: 1. Die bisher beschriebenen Nachwirkungen des Nationalsozialismus finden sich nicht nur bei denjenigen, die sich neonazistischen Gruppierungen anschließen. Das heißt auch, dass aus den Nachwirkungen des Nationalsozialismus nicht kausal abgeleitet werden kann, ob jemand Mitglied einer solchen Gruppe wird. Ich thematisiere im Folgenden also lediglich einen Faktor des Neonazismus. Hierbei möchte ich zeigen, wie sich die Zugehörigkeit zu einer neonazistischen Gruppe entwickelt und welche Bedeutung hierbei ein psychisches Erbe des Nationalsozialismus hat. 2. Ebenso wenig, wie sich die Nachwirkungen des Nationalsozialismus nur bei Neonazis finden, finden sich auch rechtsextreme Einstellungen nicht ausschließlich bei ihnen. Rechtsextreme Einstellungen werden quer durch die deutsche Gesellschaft 183 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gleichermaßen hoch vertreten und stellen daher kein Randproblem dar, sondern ein politisches Problem in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Das kann man nicht ausdrücklich genug betonen: ➣➣ So stimmen in einer repräsentativen Studie der Aussage »Die Bunderepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« 35,6% der Befragten überwiegend oder voll und ganz zu (Decker et al. 2010, S. 74). ➣➣ Die Aussage »Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben« bewerten 37,6% der Befragten überwiegend oder voll und ganz positiv (ebd., S. 73). ➣➣ Der Aussage »Es gibt wertvolles und unwertes Leben« stimmen immerhin 10,8% zu (ebd., S. 74). In den bekannten Studien von Wilhelm Heitmeyer erreichen bestimmte Formen des Antisemitismus eine schwindelerregend hohe Zustimmung: ➣➣ Unter der Rubrik Israel-bezogener Antisemitismus stimmen der Aussage »Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat« 44,4% der Befragten voll oder teilweise zu (Heyder et al. 2005, S. 151). ➣➣ Diese Zustimmung ist vergleichsweise moderat, wenn man sich die Zustimmung zu sekundär-antisemitischen Items anschaut. So stimmen 68,3% der Aussage »Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden« teilweise oder ganz zu (ebd.). Ich nenne diese Zahlen auch, um deutlich zu machen, dass die Einstellungen, die hinter der Mordserie des »NSU« stecken, ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung teilt. Wer sich über den »NSU« erschreckt, darf auch über Folgendes nicht schweigen: ➣➣ Der Aussage »Ich würde selbst nie körperliche Gewalt anwenden, finde es aber gut, wenn es Leute gibt, die auf diese Weise für Ordnung sorgen« teilen 24 Prozent der Befragten in der erwähnten Studie von Decker und Brähler (2006, S. 69) zu. ➣➣ Dem Item »Selber würde ich nie Gewalt anwenden. Aber es ist gut, dass es Leute gibt, die mal die Fäuste sprechen lassen …« stimmen 22% der Befragten zu (ebd.). Auch, wenn es einen Unterschied zwischen Fäusten, körperlicher Gewalt und einem Mord gibt, sollte man darüber nachdenken, dass möglicherweise ein Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung den Morden des »NSU« nicht konsequent ablehnend gegenüber steht. Ich möchte nun danach fragen, welche Bedeutungen die intergenerationellen Nachwirkungen des Nationalsozialismus für die Sozialisation in neonazistischen 184 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Gruppen haben. Der Kontakt eines Jugendlichen zu einer solchen Gruppe wird primär im vorpolitischen Bereich hergestellt. Von Interesse scheint vor allem ein »spannendes Kameradschaftsleben« zu sein, über das junge Menschen für die »nationale Bewegung« gewonnen werden – zusammen Biertrinken, Konzerte rechter Bands besuchen, an neonazistischen Veranstaltungen teilnehmen. »Die jungen Leute«, so schildert Speit die Neonazi-Szene, »wollen nicht mit langweiligem Parteileben genervt werden, sondern ungebunden nette Partys feiern, spannende Aktionen und klare selbstbewusste politische Bekenntnisse erleben« (Speit 2005, S. 19). Ein entscheidender Schritt zum Neonazi-Werden besteht also in diesem Kontakt zu einer neonazistischen Gruppe – zu einer rechten Freundschaftsclique, einer freien Kameradschaft oder einer Gruppe autonomer Nationalisten. Sind junge Menschen Teil einer solchen Gruppe, kommt regelmäßig ein sich stetig intensivierender Gruppenprozess in Gang, der von Inowlocki folgendermaßen beschrieben wird: Im Verlauf der Mitgliedschaft bildet sich zunächst eine »Position gegenüber einer gegnerischen Außenwelt [heraus]; in der Folge werden die Gegner immer stärker profiliert, ebenso wie die eigene Position, die aus einer Opferrolle aktiv eine Änderung anstrebt« (Inowlocki 1992, S. 62). Wichtig für die Entwicklung von Zugehörigkeitsgefühlen zu einer neonazistischen Gruppe ist eine Veränderung des emotionalen Erlebens hin zu einer paranoiden Abwehr-Kampf-Haltung (Pohl 2003, S. 162). Durch diese Veränderung werden die sozialen Repräsentanten von neonazistischen Feindbildern als immer bedrohlicher und feindlicher erlebt. Gleichzeitig entwickeln die Gruppenmitglieder ein Selbstbild, das sie als wehrhafte Opfer beschreibt, die sich und die deutsche »Volksgemeinschaft« gegen die projektiv erzeugten Feinde verteidigen. In einer Studie von Rommelspacher schildert ein junger Neonazi seinen Einstieg in die Szene in den 1990er Jahren folgendermaßen: »Schließt man sich den Nazis an, heißt das, sich nicht nur wie sie zu kleiden, man unterwirft sich ihren Riten, Kulten und Gepflogenheiten. Das bedeutet auch, wie sie zu denken, sich wie sie zu artikulieren. Man wird Teil von ihnen, über kurz oder lang geht man in der Bewegung auf, verschmilzt mit ihr. Da gehört die Leugnung des Holocaust ebenso dazu wie der Glaube an die Überlegenheit des eigenen Ichs« (Rommelspacher 2006, S. 30).

An einer anderen Stelle sagt derselbe Jugendliche über seinen Einstieg: »Es war, als wäre eine Droge injiziert worden, es gab nichts mehr, wofür ich mich hätte begeistern können. Der Nationalsozialismus war meine Religion, Adolf Hitler mein Gott […]. Für die tägliche Dröhnung an Politik sorgte nicht nur ich selbst, sondern auch das soziale Umfeld […] selbst langjährige Freundschaften ließ ich im Sande verlaufen […] schnell verlor man da den Bezug zur Gesellschaft, zu ganz normalen Leuten« (ebd.). 185 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Abgesehen von dem rauschhaften Moment des Mitgliedschaftsprozesses und der Abschottung nach außen, tauchen sofort Bezüge zum historischen Nationalsozialismus auf. Für die Entwicklung der Zugehörigkeit zu einer neonazistischen Gruppe ist, das zeigen diese Beispiele, der Bezug auf die NS-Geschichte von besonderer Bedeutung. Es sind primär diese neonazistischen Geschichtsbezüge, die »den Jugendlichen als Gründe dafür gelten, mit der Gruppe zu agieren« (Inowlocki 2000, S. 313). Ich möchte daher zunächst die rechtsextremen Geschichtsbezüge genauer beschreiben und dann auf ihr Verhältnis zu der skizzierten transgenerationalen Weitergabe eingehen.

Neonazistischer Geschichtsdiskurs: »Deutschland gegen den Rest der Welt« Bemühungen, ein wohlwollendes bis rechtfertigendes Geschichtsbild des Nationalsozialismus zu konstruieren, sind, so stellt es der Verfassungsschutzbericht 2009 fest, nach wie vor ein »verbindendes Element der gesamten rechtsextremen Szene« (Bundesministerium des Inneren 2009, S. 130). Hierbei werden deutsche Schuld und der verbrecherische Charakter des Dritten Reiches verleugnet. So sagte der Vorsitzende der inzwischen verbotenen ›Deutschen nationalen Partei‹ auf einer Veranstaltung Folgendes: »In Auschwitz [wurde] niemand vergast […]. Leider.« Der AuschwitzLeugner entlarvte sich allerdings sofort selbst als Lügner und potenzieller Mörder, indem er die Hände hob und gröhlte: »Diese Hände werden das Gas wieder aufdrehen« (Rommelspacher 2006, S. 83). Ein Merkmal des neonazistischen Geschichtsdiskurses ist, im Umgang mit der Vergangenheit eine moralische Dimension »überhaupt für irrelevant zu erklären« (Inowlocki 1992, S. 64). In rechtsextremen Gruppen werden jene kulturellen Werte und sozialen Normen außer Kraft gesetzt, die es erst ermöglichen, die NS-Taten als Schuld und Verbrechen zu bezeichnen. Psychoanalytisch betrachtet, geht es hierbei nicht um die Abwehr von Schuldgefühlen, sondern um die Abwehr der strafenden Anteile des Über-Ichs, die die Bedingung von Schuldgefühlen darstellen.9 Durch diese projektive »Neutralisierung« des Gewissens wird die Schulddimension ausgeblendet, sodass im Umgang mit der NS-Vergangenheit auch keine Schuld mehr abgewehrt werden muss. Ein erster Aspekt des neonazistischen Umgangs mit der Geschichte ist, dass Deutsche als schuldige Verbrecher_innen und Täter_innen nicht mehr vorkommen, sondern als »Held_innen« beschrieben werden (vgl. unten). 9 Ernst Simmel hat dieses Phänomen als psychodynamisches Strukturprinzip des Antisemitismus beschrieben (vgl. Simmel 1944, S. 73f.). 186 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ein zweiter Aspekt des neonazistischen Umgangs mit der Geschichte besteht in einer Täter_innen-OpferUmkehr. In Wirklichkeit sei alles ganz anders gewesen, nur scheinbar seien »die Opfer« Opfer und »die Täter_innen« Täter_innen. Eigentlich seien »die Täter_innen« einer ungeheuren Bedrohung ausgesetzt gewesen, die von »den Opfern« angeführt wurde. Die Anderen: die Jüd_innen, die Kommunist_ innen, die Alliierten hätten das deutsche Volk angegriffen und/oder bedroht – die deutsche »Volksgemeinschaft« habe sich ja nur gewehrt. Der Nationalsozialismus wird so umgedeutet zu einem heldenhaften Kampf, bei dem sich die »deutsche Volksgemeinschaft« mit Leib und Seele verteidigen musste. »Das«, so zitiert Rommelspacher einen jungen Neonazi, »hat Abb. 1: Ich bin ein dummer Esel, Fotografie 2004 mich ja total fasziniert. Un- (zit. nach Speit 2005, S. 27) ser kleines Deutschland gegen den Rest der Welt« (Rommelspacher 2006, S. 35). Drittens wird diese Täter_innen-Opfer-Umkehr bis in die Gegenwart hinein verlängert: Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen erleben sich als Opfer einer »immer noch aufrechterhaltenen Anklage gegen angebliche Verbrechen« (Inowlocki 2000, S. 350; Herv. J. L.), wie man diesem Foto von 2004 entnehmen kann. Diese vermeintliche Anklage wird einem antisemitischen Judenbild zugeschrieben: Jüd_innen werden von Neonazis als lebender Vorwurf konstruiert, die den Deutschen die NS-Verbrechen permanent vor Augen halten, um Kapital daraus zu schlagen. Stattdessen wird herausgestellt, dass im Zweiten Weltkrieg von Deutschen »Taten vollbracht worden seien, auf die man stolz sein könne« (Inowlocki 2000, S. 314). 187 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Rechtsextreme Geschichtsbilder, so kann man festhalten, beschreiben deutsche Geschichte als einen andauernden Abwehrkampf des »deutschen Volkes«, das angeblich während und nach der NS-Zeit bis in die Gegenwart hinein von Feind_innen – allen voran von Jüd_innen verleumdet, bedroht und angegriffen wurde. Diese Bilder werden in neonazistischen Gruppen diskursiv konstruiert und an die einzelnen Mitglieder herangetragen.

»Opi weiß, wie’s wirklich war« – zur Tradierung neonazistischer Geschichtsbilder Von besonderer Bedeutung für die Vermittlung rechtsextremer Geschichtsbezüge an Neonazis der jüngeren Generation sind Erzählungen von Wahlgroßeltern über ihre Erlebnisse als Wehrmachtssoldat, SS-Mann, NS-Funktionär, Hitlerjunge …, die nach wie vor während neonazistischer Veranstaltungen zum Besten gegeben werden. So hält zum Beispiel am 24. Februar 2007 während einer Veranstaltung in Hildesheim ein 83-jähriger ehemaliger Wehrmachtsoffizier nationalsozialistische Propaganda-Reden und erzählt von der besten Zeit seines Lebens unterm Hakenkreuz (Hannoversche Allgemeine, 26.02.2007). Ein anderes Beispiel ist eine Veranstaltung mit dem Titel »Opi weiß, wie’s wirklich war«, die Neonazis im Braunen Haus in Jena am 26. Juli 2008 veranstalteten und dazu einen betagten Kampfflieger und Hitlerverehrer einluden, der lang und breit seine historisch verfälschenden Sichtweisen zum Besten geben konnte. Auch finden sich Nacherzählungen von Erlebnissen der älteren Generation. So berichtet Speit, wie ein einflussreicher deutscher Neonazi-Anführer bei einer Veranstaltung in Halbe kriegsverherrlichende Berichte vorträgt und »›vom heldenhaften Kampf‹ der deutschen Soldaten auf dem ›heiligem Boden‹« spricht. Beeindruckt lauschen die anwesenden Neonazis den Erzählungen über vermeintlich »heroische Taten der SS-Divisionen, die gekämpft hätten, um ›Zivilisten, Frauen und Kinder‹ vor der ›russischen Soldateska‹ zu schützen. ›Nur der Tapferkeit einzelner Männer und Frauen war es zu verdanken‹«, weiß der Neonazi über eine konkrete Schlachtsituation bei Halbe zu berichten, »›dass der Kessel nicht gleich zusammenbrach‹« (Speit 2005, S. 17). Solche persönlichen Berichte und mündlichen Überlieferungen sind wichtig für die Entwicklung einer neonazistischen Orientierung. Sie ermöglichen es Neonazis, die abstrakte Vorstellung des vermeintlichen deutschen Abwehrkampfes an konkrete Personen aus Fleisch und Blut zu binden und sinnlich erfahrbar zu machen. Genau diese sinnlichen Erfahrungen haben eine enorme Bedeutung: So erzählt ein junger Neonazi, den Rommelspacher erwähnt, begeistert folgendes: »Es gibt, was ich vorher auch nicht wusste, ältere Leute, die zu dieser Zeit eben halt noch jung waren. Man mag’s kaum glauben, einige Leute haben noch irgendwo gute 188 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Erinnerungen an diese Zeit. Auch während des Krieges. Und die haben praktisch eine nationalistisch-patriotische Meinung auf jeden Fall. Gibt’s immer noch heute und – da hab ich nicht schlecht geguckt! Und das war für mich so’n Ansporn, na wenn’s den alten Leuten irgendwo gefallen hat, dann kann’s doch nicht so schlecht gewesen sein« (Rommelspacher 2006, S. 44).

Die personifizierten Vorstellungen vom angeblichen deutschen Abwehrkampf zeigen die Wahlgroßeltern als kämpferische »Held_innen für Deutschland, die die vermeintlichen Feind_innen der »Volksgemeinschaft« mutig bekämpft haben. Dies wird in Neonazigruppen diskursiv als Vorbild für die Gruppenmitglieder herausgestellt. Zusammenfassend kann man sagen, dass in rechten Gruppen den Nationalsozialismus verherrlichende Erzählungen und Bilder auf eine sinnlich-konkrete und nahe Weise vermittelt werden. Was machen Jugendliche aus der Enkelgeneration in neonazistischen Gruppen nun mit diesen Vorstellungen und Erzählungen? Welche psychische Bedeutung bekommen hierbei die intergenerationellen Nachwirkungen des NS?

»Hitler wäre stolz auf mich!« Die Aneignung dieser Vorstellung von NS-Held_innen findet nach Inowlocki »in einer dramatischen Situation des ›Wiedererkennens‹ statt, der eigenen Identifizierung mit dem von der Gruppe angedeuteten Referenzsystem. Identifizierung heißt dabei, dass sie sich in etwas wieder erkennen, dem sie gleich sein möchten« (Inowlocki 2000, S. 331). Die rechtsextremen Jugendlichen erkennen nun nicht einfach sich selbst in der Vorstellung von NS-Held_innen wieder oder identifizieren sich mit den Wahlgroßeltern. Diese Vorstellung verhilft ihnen jedoch dazu, etwas »›in‹ ihnen zum Ausdruck« zu bringen. Mit den sinnlichen, von Menschen aus Fleisch und Blut erzählten Geschichten von NS-Held_innen im deutschen Abwehrkampf wird nicht »etwas Gleiches, Identisches […] erkannt, sondern eine ideale Ausdrucksform […] für bis dahin eher unbestimmte Vorstellungen und Empfindungen« (ebd., S. 330). Was heißt das? Die Krieg und Nationalsozialismus verherrlichenden Erzählungen, die sinnliche Vorstellung von NS-Held_innen im nationalen Abwehrkampf bieten eine Form, etwas auszudrücken, das sich bislang nicht ausdrücken ließ. Durch diese Erzählungen finden Neonazis Worte, Gesten, Bilder, um sich solche Dinge vorzustellen, solche Gefühle zu erleben und zur Sprache zu bringen, die bislang vor- oder unbewusst waren. Meine These ist, dass es sich bei den unbewussten Vorstellungen und Empfindungen um das Phantom des Herrenmenschen-Selbst handelt: Die Ergebnisse einer Studie von Michaela Köttig (2004) weisen in diese Richtung. Köttig zeigt, dass der neonazistische Geschichtsdiskurs und Konstruktionen, wie die der NS189 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Held_innen im deutschen Abwehrkampf, für Angehörige der Enkel_innen- und wohl auch der Urenkel_innengeneration psychisch attraktiv werden, weil die familiären Darstellungen der Geschichte »fragmentarisch sind und somit genug Spielraum lassen, sie mit eigenen Phantasien ›wie es gewesen sein könnte‹ und damit einhergehenden Interpretationen zu füllen« (ebd., S. 318). Dieser Spielraum wird in neonazistischen Gruppen durch die Vorstellung von NS-Held_innen im nationalen Abwehrkampf besetzt, wobei es zu einem »Sichtbarwerden unbewusster Bereiche der Familienvergangenheit« kommt (ebd., S. 328; Herv. i. O.). Die verherrlichenden Erzählungen von Krieg und Nationalsozialismus ermöglichen es, die geschichtsbezogenen Fantasien über die eigenen Großeltern als Täter_innen, überzeugte Nationalsozialist_innen und begeisterte »Volksgenoss_innen« zu benennen und in der Gruppe zu thematisieren. Hierbei werden diese Fantasien in der neonazistischen Gruppe in ihrer emotionalen Bedeutung umgeschrieben: Die Fantasien über die eigenen Großeltern werden in Neonazi-Gruppen nicht wie in vielen deutschen Familien als Bilder schuldiger Täter und als Bedrohung des eigenen Selbst gefürchtet, sondern als unschuldige, aber kämpferische Held_innen idealisiert. So sagt ein Neonazi über seinen Großvater: »Opa war bei einem Granatangriff im Russlandfeldzug schwer verletzt worden […] Die ganzen Bilder in Soldatenuniform, die Orden und Erzählungen, das machte Eindruck auf mich, für mich war er ein Held. Ein lebendiger, keiner aus dem Fernsehen oder irgendeinem Comic-Heftchen« (Rommelspacher 2006, S. 29). Indem Neonazis sich mit ihren Großeltern als kämpferischen Helden für Deutschland identifizieren, eignen sie sich die unbewussten geschichtsbezogenen Fantasien an und integrieren diese in ihr Selbst. Damit aber reinszenieren sie das als Phantom tradierte (kryptisierte) Herrenmenschen-Selbst ihrer Großeltern. In Neonazi-Gruppen herrscht ein solcher Umgang mit der Geschichte vor, der es jungen Menschen aus der Enkel_innengeneration ermöglicht, sich selbst mit dem phantomhaften Herrenmenschen-Selbst ihrer Großeltern zu identifizieren und es so wieder lebendig werden zu lassen. Mit diesem Wiederauferstehen des Herrenmenschen-Selbst in neonazistischen Gruppen scheinen auch die psychosozialen Bedingungen wieder lebendig zu werden, unter denen es die Großeltern in der NS-Zeit ausbildeten. Dazu gehört in erster Linie eine libidinöse Bindung an Hitler als charismatischem Massenführer. So sagte ein junger Neonazi: »[Hitler] wurde im Laufe der Zeit zu einer Art Gott für mich. Er stand über allem und jedem […] Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, schaute ich dieses Bild an und schwor, getreu dem Motto ›Ein Volk, ein Reich, ein Führer‹ zu leben, das heißt, bei allem, was ich mache zu überlegen, ob es dem Führer gefallen würde […] Ich habe immer wieder so Gedanken gehabt, wie es wohl wäre, wenn der ›Führer‹ noch leben würde. Der wäre stolz auf mich« (Rommelspacher 2004, S. 48). 190 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Beobachten lässt sich ein wechselseitiger Prozess: Auf der einen Seite werden Neonazis in ihren Gruppen durch den spezifischen Vergangenheitsdiskurs als NS-Helden im nationalen Abwehrkampf angerufen, d. h. durch den Gruppendiskurs in dieser Subjektposition platziert (vgl. zu den Begriffen »Anrufung« und »Subjektposition« Althusser 1977). Diese Subjektposition nutzen sie wie einen Container, um das Phantom des Herrenmenschen-Selbst ihrer Großeltern auszudrücken und bewusst zu erleben, was in der Familie tabuisiert ist. Über die Identifizierung mit der auf diesem Weg hergestellten Vorstellung von den eigenen Großeltern bilden sie selbst eine Identität als NS-Held_innen oder Soldat_innen im nationalen Abwehrkampf aus. »Als Gruppenmitglied wird man nicht zu einem Anderen, vielmehr wird [nachträglich; J.L.] erkannt, dass man immer schon eine genau definierte und abgegrenzte Identität hatte (als nationaler Deutscher, Nationalsozialist, Antisemit, Rassist), die einem nur verborgen gewesen war. Darauf bezieht sich das beschriebene ›Wiedererkennen‹« (Inowlocki 2000, S. 308).

Während dieser Identitätsbildung eignen sie sich die vernichtenden Aggressionen an, die mit dem Phantom des Herrenmenschen-Selbst verbunden sind und nun nicht mehr als Bedrohung des eigenen Selbst gefürchtet, sondern in dieses integriert und kämpferisch gegen soziale Repräsentanten neonazistischer Feindbilder gerichtet werden. Unter diesen Feindbildern stechen antisemitische Argumentationen hervor, die »auch weiterhin in allen Bereichen der rechtsextremen Szene« zu finden sind (Bundesministerium des Inneren 2009, S. 121). Gerade in antisemitischen Feindbildern identifizieren Neonazis jene strafenden und anklagenden Anteile des ÜberIchs, deren Wirkungsmacht in den Familien emotional reguliert, sich die eigenen Großeltern nicht als aggressiven Herrenmenschen vorzustellen: Das Resultat dieser Projektion »ist ein Bild von Juden und Jüdinnen, die ständig damit befasst sind, die Schuld der Deutschen aufzudecken. Die Juden werden verdächtigt, […] rachsüchtig zu sein« und so in der Wahrnehmung rechtsextremer Jugendlicher zum verfolgenden und anklagenden äußeren Objekt (Rommelspacher 1995, S. 47). Produziert bereits das Benennen der Großeltern als NS-Held_innen »Gefühle der Macht und Überlegenheit bei den Gruppenmitgliedern« (Inowlocki 2000, S. 310), so entwickeln Neonazis die Größenvorstellung, sie selbst seien Kämpfer_innen nach dem imaginären Vorbild der Großeltern. Neonazis setzen sich über ihre Identifizierung mit dem tradierten Herrenmenschen-Selbst an ihre Position. Die damit einhergehende immense narzisstische Befriedigung speist sich aus der Fantasie, selbst am nationalen Abwehrkampf der Großeltern teil zu haben. Eben dies weist Bohleber anhand der Fallgeschichte eines rechtsextremen Jugendlichen nach: »In seinen adoleszenten Heldenphantasien griff er zurück auf die Welt des Großvaters, der als Soldat im zweiten [sic!] Weltkrieg gekämpft hatte. Deutschlands Stärke 191 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und Größe sollte sich erweisen. Er sah viele Kriegsfilme und in seinen Tagträumen bog er die Schlachten des zweiten Weltkrieges um und phantasierte sie zu deutschen Siegen« (Bohleber 1994, S. 76).

In Neonazi-Gruppen entwickelt sich die Überzeugung, Teil eben jenes nationalen Abwehrkampfes zu sein, in dem schon die eigenen Ahnen fochten. So verschwindet für Neonazis in ihren abgeschotteten Gruppen zunehmend die zeitliche Differenz zu dem vergangenen Leben der Großeltern. Mit Kestenberg (1989) lässt sich dies als Transposition, als imaginäres Zurückversetzen des eigenen Selbst in die Geschichte der Großeltern verstehen. Dies bedeutet, dass die Generationen trotz unterschiedlicher historischer Erfahrungsräume psychisch in einer imaginären gemeinsamen Vergangenheit leben. So kommt es erschreckender Weise in Neonazi-Gruppen zu einer vollständigen »›Verwechslung‹ von Vergangenheit und Gegenwart« (Inowlocki 1988, S. 55). Neonazis aus der Enkelgeneration handeln so, als ob das Dritte Reich niemals untergegangen wäre, sie übertragen die Gegenwart der Bundesrepublik in die Vergangenheit des Dritten Reiches, die erneut zum Ideal einer Zukunft erhoben wird. Dies galt auch für die Mörder des Nationalsozialistischen Untergrundes, was als einziger der Politikwissenschaftler Hajo Funke klar benannt hat: »Die Täter […] kämpften für einen neuen Nationalsozialismus. Sie haben gemordet für das vierte Reich« (Funke 2011).

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Emil Behr – Briefzeugenschaft vor | aus | nach Auschwitz Zum Szenischen Erinnern der Shoah1 Kurt Grünberg & Friedrich Markert

Als uns Monique Behr und Jesko Bender als Kuratoren der Ausstellung »Emil Behr – Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz, 1938–1959« im Frankfurter Museum Judengasse baten, unser Konzept des szenischen Erinnerns der Shoah (vgl. Grünberg 2012; Grünberg/Markert 2012; Grünberg/Markert 2013) auf die dort zu präsentierenden Briefzeugnisse und weitere historische Dokumente anzuwenden, statt wie üblich auf soziale oder therapeutische Beziehungen, reagierten wir zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung. Dann jedoch ließen wir uns auf die Briefe, die Emil Behr vor seiner Deportation, während der KZ-Haft und in den darauffolgenden Jahren verfasst hatte, sowie auf ein Vernehmungsprotokoll im Zusammenhang mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess ein. Wir untersuchten die Wirkung dieser Dokumente auf uns als Psychoanalytiker. Das Leben von Juden im post-nationalsozialistischen Deutschland unterscheidet sich wesentlich vom Leben derjenigen Überlebenden, die in andere Länder emigrieren konnten. In Deutschland geht es nicht nur darum, wie Menschen nach ihrer Befreiung mit den extrem traumatischen Erfahrungen leben und was sie an ihre Nachkommen vermitteln, sondern auch um das deutsch-jüdische Verhältnis, das tiefgreifend von der Shoah geprägt ist. Die Beteiligung oder Verstrickung in die Verfolgung aufseiten der Nazi-Täter, Mitläufer und Zuschauer steht in diesem Land auf spezifische Weise den Erfahrungen der Opfer gegenüber und prägt damit das gegenseitige Verhältnis wie auch die jeweils unterschiedlichen Tradierungslinien. Dan Diner zufolge »müssen alle Versuche, das Leben nach und trotz Auschwitz zu normalisieren, aus dem Schatten dieses monströsen Ereignisses zu treten, notwendig scheitern« (Diner 1986, S. 15; vgl. auch Diner 1988). Seit Auschwitz könne 1 Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der in dem von Monique Behr und Jesko Bender herausgegebenen Ausstellungskatalog Emil Behr: Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz 1938–1959 im Jahr 2012 erschienen ist. Wir danken dem Wallstein Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. 197 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»tatsächlich von einer ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ gesprochen werden – freilich einer negativen: für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht. […] Solch negative Symbiose […] wird auf Generationen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen« (Diner 1986, S. 9).

Vor diesem Hintergrund betrachten wir im Folgenden die Biografie eines Mannes, die uns auf zweierlei Weise nahegebracht wurde, nämlich über die bereits erwähnten schriftlichen Dokumente sowie über persönliche Gespräche mit seiner Enkelin, Monique Behr, die uns persönliche Eindrücke aus ihrem Familienleben vermitteln konnte. Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist das Konzept des szenischen Erinnerns der Shoah, mit dem wir in einem Forschungsprojekt am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt die transgenerationale Tradierung des extremen Traumas in Deutschland erforschen2. In dieser Untersuchung geht es nicht nur um die verbale, sondern vor allem um die unbewusst-szenische, non-verbale Vermittlung von Verfolgungserfahrungen einer Generation an die nächsten. Während es in dem Forschungsprojekt zuvor wesentlich darum gegangen war, mit Überlebenden bzw. deren Nachkommen in eine persönliche Begegnung zu treten, geht es in diesem Falle also zunächst einmal um Begegnung und »Dialog« mit schriftlichen Dokumenten. So wird im Folgenden deren Wirkung psychoanalytisch untersucht, vor allem, welche Mitteilungen sie über traumatische Erfahrungen enthalten. Zugleich geht es um Trauma-Tradierungen im Sinne des szenischen Erinnerns der Shoah, wie sie in persönlichen Begegnungen mit Behrs Enkelin offenbar wurden.

Emil Behr Emil Behr, Jahrgang 1900 und von Beruf Maschinenschlosser, wurde im Jahr 1917 als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen. Im Gegensatz zur späteren Nazi-Propaganda gehörte er damit zu den zahlreichen Juden, die sich der deutschen Nation zugehörig fühlten und dies mit ihrem Kriegseinsatz »für das deutsche Vaterland« dokumentierten. Im Jahr 1920 wurde Sohn Werner geboren. Erst sieben Jahre später heirateten Emil und Hedwig Behr, weil sowohl Hedwigs katholische Familie als auch Emils jüdische Herkunftsfamilie Einwände gegen diese Eheschließung gehabt hatten. Bis zum Beginn 2 Das Forschungsprojekt wird finanziell gefördert von der Crespo-Foundation, der Köhler-Stiftung sowie der Stiftung Polytechnische Gesellschaft. 198 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Emil Behr – Briefzeugenschaft vor | aus | nach Auschwitz

der nationalsozialistischen Herrschaft arbeitete Emil Behr als Monteur in einem Elektrizitätswerk, bis er bereits im Jahr 1933 aus »rassischen« Gründen entlassen wurde. In den nachfolgenden fünf Jahren war er arbeitslos und erhielt im Januar 1938 eine Anstellung als Hausverwalter eines Jüdischen Altenheims in Neustadt/Pfalz. Im Zuge der sogenannten »Reichskristallnacht« kam er in das Konzentrationslager Dachau, in dem er bis Ende desselben Jahres inhaftiert blieb. Da das Neustädter Altenheim im Novemberpogrom in Brand gesteckt worden war, erhielt Behr zu Beginn des darauffolgenden Jahres eine Stelle im Jüdischen Altenheim der Stadt Mannheim. Da Emil Behr gegen das Nichtauszahlen seines Gehalts durch die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland3 Anklage erhoben hatte, wurde er gemäß Vernehmungsprotokoll vom 21. März 1959, das in der Vorbereitung zum Frankfurter Auschwitz-Prozess erstellt wurde, Ende Februar 1944 »plötzlich von der Gestapo Mannheim verhaftet« und im dortigen Landesgefängnis in »Schutzhaft« genommen. In seinem Brief vom 8. Mai 1944 benennt Emil Behr die folgenden Gründe dafür: »Er gefährdet nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Feststellungen durch sein Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und des Staates, indem er […] entgegen der ihm erteilten Unterweisung Klage gegen die R.V. angestrengt hat und damit zu erkennen gibt, dass er nicht gewillt ist, behördliche Anordnungen zu befolgen und sich den für die Juden bestehenden Verhältnisse einzuordnen.«

Seine panische Angst wird offenbar, als er fortfährt: »Meine Lieben, was hat das zu bedeuten, ich bin vollständig fertig, ist das der Befehl zum K. Z. Erkundigt Euch sofort was für ein Verwandniss er hat […]. Lb. Hedwig ich muss dich sprechen, wenn es so weit ist, ich muss mich doch von Euch verabschieden, bitte doch darum dass du mich sprechen kannst. […] Ich weis nicht mehr was ich schreibe. […] Schreibt gleich Es küst euch innig Euer unglücklicher Vater«4

Dieser Brief Emil Behrs, den er kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz geschrieben hat, ist ein Hilfeschrei eines Mannes, der sich bis zu seiner Verhaftung noch als 3 Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, deren institutionelle Vorläufer als jüdische Interessenvertretung betrachtet werden können, wurde im September 1939 unter die Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes beziehungsweise der Gestapo gestellt. Es handelte sich dann nicht mehr um eine »jüdische« Einrichtung, sondern ein NS-Organ, dem Jüdinnen und Juden zwangsweise angehörten. Während die Aufgabe der Reichsvereinigung zunächst darin bestand, Juden bis zum Ausreiseverbot am 23.10.1941 bei der Ausreise aus NS-Deutschland zu unterstützen, wurde sie später zur organisatorischen Mithilfe bei den Deportationen gezwungen. 4 Fehlende Satzzeichen und orthografische Fehler sind aus dem Original beibehalten worden, weil wir sie für höchst bedeutsam halten. 199 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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deutscher Staatsbürger gesehen hatte und nun wahrnehmen muss, dass er sich in keiner Weise mehr auf sein bis dahin vorhandenes Weltvertrauen verlassen kann. Es gelang ihm und seiner Familie nicht, die nachfolgende Deportation nach Auschwitz zu verhindern. Sein Transport bestand aus Männern, von denen lediglich »die Arbeitsfähigen« die Selektion überstanden. In Auschwitz gelang es ihm, in die vergleichsweise »privilegierte« Position eines Elektrikers zu gelangen. Im Gegensatz zu fast allen anderen KZ-Insassen war es ihm als Funktionshäftling gestattet, Pakete und Briefe zu erhalten bzw. zu schreiben. – Wem hätten die Anderen auch schreiben sollen? Wer wäre auf die Idee gekommen, Juden Pakete nach Auschwitz zu schicken?

Briefe aus Auschwitz Aus Auschwitz schreibt Emil Behr neun jeweils ein- oder zweiseitige Briefe an seine Familie, die streng festgelegten und auf den Briefen vermerkten Bedingungen »aus der Lagerordnung« unterworfen sind. In dieser heißt es: »Folgende Anordnungen sind beim Schriftverkehr mit Häftlingen zu beachten: 1.

2.

3. 4. 5. 6.

Jeder Schutzhäftling darf im Monat zwei Briefe oder zwei Karten von seinen Angehörigen empfangen und an sie absenden. Briefe an die Häftlinge müssen lesbar mit Tinte, einseitig und in deutscher Sprache geschrieben sein. Gestattet sind nur Briefbogen in normaler Größe. Briefumschläge ungefüttert. Einem Briefe dürfen nur 5 Briefmarken à 12 Pf. der Deutschen Reichspost beigelegt werden. Alles andere ist verboten und unterliegt der Beschlagnahme. Lichtbilder dürfen als Postkarten nicht verwendet werden. Geldsendungen sind nur durch Postanweisungen gestattet. Es ist darauf zu achten, daß bei Geld- oder Postsendungen die genaue Anschrift, bestehend aus Name, Geburtsdatum und Nr. angegeben ist. Bei fehlerhaften Anschriften geht die Post an den Absender zurück oder wird vernichtet. Zeitungen sind gestattet, dürfen aber nur durch die Poststelle des K.L. Auschwitz bestellt werden. Die Häftlinge dürfen Lebensmittelpakete empfangen, Flüssigkeiten und Medikamente sind jedoch nicht gestattet. Gesuche an die Lagerleitung zwecks Entlassung aus der Schutzhaft sind zwecklos. Sprecherlaubnis und Besuche von Häftlingen im Lager sind grundsätzlich nicht gestattet.

Der Lagerkommandant.«

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Alle Briefe tragen den Stempel »geprüft […] K.L. Auschwitz«. Auch Emil Behr erhält Briefe sowie Pakete von Zuhause. Da die Briefe der Zensur unterliegen, spricht er über Alltägliches. Offensichtlich versucht er seine Frau Hedwig und seinen Sohn Werner zu beruhigen und zu trösten. Zwar darf er über das Eigentliche, das in Auschwitz geschieht, nicht sprechen. Doch immerhin bezeugt er mit seinen Briefen immer wieder, dass er noch am Leben ist. Und zugleich ahnt man das Schreckliche und möchte sich entziehen. Denn die Briefe haben etwas schwer Erträgliches, obwohl oder vielleicht auch weil sie »an der Oberfläche« bleiben. Wenn Emil Behr vor allem von Wäsche, Brot, Marmelade, Kuchen, Birnen usw. schreibt, von Tabak sowie von Gebrauchsgegenständen, könnte beim Lesen sogar ein Gefühl von Langeweile entstehen oder der Gedanke, »das war ja gar nicht so schlimm«. Er versucht sich an der Hoffnung festzuhalten, dass er wieder entlassen wird: »Liebe Hedwig du darfst die Trennung nicht so schwer nehmen, wir bitten den lb. Gott dass er uns Gesund erhält, und hoffen dass meine Schutzhaft bald beendet ist, denn sie ist ja befristet«. Seine Briefe enthalten seine immer wiederkehrende Bitte, sich »in Berlin« für ihn zu erkundigen und einzusetzen. Uns überkommt beim Lesen dieser Briefe ein Gefühl hoffnungsloser Schwere, weil zu spüren ist, was Emil Behr – schon aus Gründen der Zensur – nicht sagen darf und vermutlich auch nicht sagen kann und will, um seine Angehörigen zu schonen. Doch auch ohne Zensur wäre zu fragen: Welche Worte in »Briefen aus Auschwitz« hätten Auschwitz beschreiben können? Sein Schweigen vermittelt uns nonverbal das, was er mit seinen geschriebenen Worten nicht zum Ausdruck bringen kann. In Emil Behrs Schweigen »entfaltet« sich erst der Horror des erlittenen Traumas. Auch Dori Laub (2000) arbeitet die spezifische Bedeutung dieses Schweigens der Überlebenden heraus: »Es ist nicht nur ihre Sprache, sondern auch das Schweigen, das ihre Aussage umgibt« (ebd., S. 74f.). Hier geht es nicht allein um die »Furcht vor der Wiederkehr« (ebd., S. 76) des Schreckens, die, wenn das Erlittene in der Erzählung nochmals durchlebt wird, eine retraumatisierende Wirkung entfalten kann. Der Unterschied zum Ver-Schweigen der wesentlichen NS-Erfahrungen durch die Nazi-Täter und –Mitläufer wird offenbar (vgl. Grünberg 1997). Dori Laub führt aus, was in der Begegnung und psychotherapeutischen Arbeit mit Shoah-Überlebenden (sowie deren Nachkommen) von grundlegender Bedeutung ist: »[Der Zuhörer] muß wissen, daß diejenigen, die vom Trauma sprechen, es vorziehen würden, zu schweigen, weil sie sich davor, daß ihnen zugehört wird und daß sie sich selbst zuhören, schützen müssen. Er muß sich bewußt sein, daß die Erzählenden sich oft ins Schweigen flüchten und sich dessen Schutz anvertrauen, auch wenn Schweigen für sie eine Niederlage bedeutet. Schweigen ist für die Überlebenden des Traumas oft wie ein vom Schicksal verhängtes Exil, aber auch wie ein Zuhause. […] Die Person, die zuhört, muß all dies und mehr wissen. Sie muß diesem Schweigen zuhören und vernehmen, 201 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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wie es wortlos sowohl durch Schweigen und durch Sprechen, sowohl von jenseits des Sprechens wie auch aus dem Sprechen heraus spricht. Sie muß diese Stille wahrnehmen, anerkennen und sie ansprechen, auch wenn das eine gewisse Toleranz erfordert – man muß warten können. Wer der Erzählung des Traumas zuhört, muß all dies wissen, um die Überlebenden beim Vordringen in ein unbekanntes Gebiet zu begleiten und zu führen. Dieses Gebiet können sie auf sich allein gestellt nicht durchqueren und, sich selbst überlassen, daraus auch nicht zurückkehren« (Laub 2000, S. 69f.).

Vernehmungsprotokoll Aus dem bereits erwähnten Vernehmungsprotokoll der Sonderkommission des Landeskriminalamts Baden-Württemberg zum Frankfurter Auschwitz-Prozess vom 21. März 1959 geht hervor, dass Behr einer Vorladung in das Polizeipräsidium Karlsruhe gefolgt war und dort »zur Wahrheit ermahnt« wurde. Eine mehr als sechs Stunden dauernde Vernehmung wurde in einem siebenseitigen Protokoll zusammengefasst und von ihm »genehmigt und unterschrieben«. Was mag Emil Behr empfunden und erlebt haben, als er auf dem Weg zu seiner Vernehmung war? Wir können lediglich feststellen, dass Behr in nüchterner, fast sachlich-distanzierter Weise den »Alltag« des Horrors der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie zu beschreiben versucht, die erlittenen Demütigungen, furchtbare Schläge, Misshandlungen und miterlebte Hinrichtungen nach missglückten Fluchtversuchen, die Tätowierungen, die »medizinischen« Kälteversuche an Häftlingen, das Vergasen, den Geruch der Krematorien … Im Protokoll ist zu lesen: »Es geschah im Lager so viel und man sah so viel Tote – jeden Morgen wurden Hunderte aus den verschiedenen Blocks herausgetragen –, daß man schließlich abgestumpft wurde und auf Einzelfälle nicht mehr achtete. Bei den geringsten Kleinigkeiten wurde man geprügelt und mit Füßen getreten. Mir selbst ist es mehr als einmal passiert, daß mich irgendein SS-Mann zu sich gerufen hat, um mir grundlos einen Fußtritt zu geben.«

Was geschieht mit uns, wenn wir dieses Vernehmungsprotokoll lesen, wenn wir etwas aus einem Gesprächsprotokoll erfahren, das der Vernommene so gesagt haben soll? Wir wissen zwar, dass Emil Behr das Protokoll mit seiner Unterschrift bestätigt hat. Aber sein ursprüngliches Erleben damals sowie seine Erinnerungen, Bilder und Gefühle, die während der Vernehmung in ihm aufstiegen, können wir nur ansatzweise erahnen. Im Vernehmungsprotokoll wird das Unaushaltbare, der Schrecken von Auschwitz, versachlicht und verkürzt. Überlebenden geht es darum, eine solche Vernehmung zu 202 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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überstehen und als Folge der eigenen Erinnerungen nicht zusammenzubrechen – auf der »Gegen-Seite« mag es um die unbewusste Angst gehen, von dem extremen Trauma berührt und/oder »angesteckt« zu werden. Ein Vernehmungsbeamter dürfte größte Schwierigkeiten gehabt haben, sich empathisch in das Leiden des Verfolgten einzufühlen. Er wird vielmehr versucht haben, sich von dem traumatischen »Gift« nicht »infizieren« zu lassen, von etwas, das er dann nicht mehr »loszuwerden« in der Lage wäre. Uns stellen sich viele Fragen: Was mag in Emil Behr während der sechsstündigen »Vernehmung« vorgegangen sein? Wofür konnte er Worte finden, wofür nicht? Was von dem, wofür er Worte fand, konnte er aussprechen? Was empfand und wie verhielt sich der deutsche Vernehmungsbeamte während der Vernehmung? Hatte Emil Behr Angst, dass durch uneinfühlsame Fragen oder Reaktionen in ihm unerträgliche Erinnerungen lebendig würden? Hat er den Vernehmungsbeamten als einen Menschen erfahren, der wie dessen »Kollegen« in früherer Zeit ihren »Dienst« taten? Dori Laub führt hierzu aus: »Wenn jemand […] über sein Trauma spricht, ohne daß eine andere Person die Erzählung vernimmt oder ihr wirklich zuhört, kann die Erzählung als Wiederkehr des Traumas erlebt werden – als Wiederholung der Erfahrung des ursprünglichen Ereignisses. Die Abwesenheit eines empathischen Zuhörers oder […] die Abwesenheit eines ansprechbaren Gegenübers, eines Anderen, der die Qual der Erinnerungen wahrnehmen kann und sie so als wirklich bestätigt und erkennt, zerstört die Erzählung. Mit der Vernichtung der Erzählung, die keinen Zuhörer und keinen Zeugen findet, wiederholt sich die Vernichtung des Überlebenden« (Laub 2000, S. 76f.).

In diesem Protokoll geht es um eine Realität der Verfolgung, die sich Zuhörer, Leser und alle, die nicht mit Emil Behr »dort« waren, kaum vorstellen können.

Die Räumung der Wohnung nach der NS-Zeit Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus haben die alliierten Siegermächte Wohnungen konfisziert. Auch die Wohnung von Emil Behr wurde vom US-amerikanischen Militär in Besitz genommen. Besonders tragisch ist es allerdings, wenn ein KZ-Überlebender zum Opfer einer solchen Maßnahme wird. Für Emil Behr, der Deportation und Verfolgung hatte erdulden müssen, stellte die erzwungene Räumung seiner Wohnung im Jahr 1946 eine Retraumatisierung dar. Ermutigt durch eine Pressekonferenz des US-amerikanischen Generals Lucius D. Clay in Frankfurt am Main, in der sich dieser offenbar kritisch zu »antisemitischen Bemerkungen« geäußert hatte, richtet Behr einige Tage später, am 21. Februar 1949, 203 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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einen Protestbrief an Clay, mit dem er um dessen Unterstützung bittet. Emil Behr beschreibt die genaueren Umstände der Beschlagnahme seiner Wohnung und der Möbel und schließt mit der Bitte zu prüfen, »ob nicht gewisse antisemitische Kräfte wirksam waren«. In seinem Brief hebt Behr hervor, »daß ich wohl der einzigste Mensch in Baden sei, der die Vergasungsnummer auf dem Arm trüge, und daß man mit mir nicht so verfahren könne«. Wir wissen nicht, ob Behr eine Antwort auf seinen Brief erhalten hat, noch haben wir eine Kenntnis darüber, ob ihm die erbetene Unterstützung zuteil wurde und ob er eine Entschädigung für seinen Verlust bekam. Wir können aber mit Sicherheit annehmen, dass es für ihn sehr schlimm war, abermals von zuhause »weg zu müssen«, seine Wohnung und seine Möbel zu verlieren, auf kein Verständnis zu treffen. Vor allem aber handelt es sich um eine Reaktivierung des extremen Traumas der NS-Verfolgung. Der Psychoanalytiker Hans Keilson (1979) hat zur Einteilung und Abgrenzung der verschiedenen Phasen der Traumatisierung bei jüdischen Kindern, die die Shoah überlebt hatten, den Begriff der »traumatischen Sequenz« eingeführt. Er unterscheidet drei traumatische Sequenzen (ebd., S. 427), als erste den beginnenden Terror gegen die jüdische Minderheit, die Angriffe auf ihre soziale und psychische Integrität; als zweite Sequenz die direkte Verfolgung durch Trennungen, Deportation, Versteck, Konzentrationslagerhaft und als dritte Sequenz die Nachkriegsperiode. Keilson betont, dass auch die Phase nach der erlittenen Verfolgung, nämlich wie eine Gesellschaft mit der Verfolgung und den Traumatisierten umgeht, wesentlich dafür sei, welche langfristigen Folgen sich aufseiten der Überlebenden ergeben. Auch im Falle von Emil Behr ist zu erkennen, welche Traumatisierungen ihm in der Zeit vor der Deportation, während seiner Inhaftierung in Auschwitz und auch in den Jahren nach dem Überleben des Konzentrationslagers zugefügt wurden.

Mit dem Erinnern des extremen Traumas leben In ihrem literarischen Werk versuchen Paul Celan und Elie Wiesel jeweils in Sprache zu bringen, mit welchen seelischen Folgen die Überlebenden der Shoah in ihrem Leben »danach« weiterleben müssen. Psychoanalytiker haben es offensichtlich schwer, eine Sprache oder Begriffe für diese massiven Erfahrungen des extremen Traumas zu finden. Es war abermals Hans Keilson (1984, 1998), der für diesen Zusammenhang die Formulierung fand: »Wohin die Sprache nicht reicht«. Wie erinnern Überlebende die Erfahrungen der Vernichtung? Sie befinden sich in einem nicht lösbaren Dilemma: Es ist ihnen weder möglich, zu vergessen, noch ist es »aushaltbar«, sich zu vergegenwärtigen, was ihnen und ihren Nächsten angetan wurde. Verfolgungserlebnisse können vermutlich bereits im Moment des Geschehens 204 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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nicht als Ganzes und im Zusammenhang gespeichert werden, sondern müssen in Teile zerlegt und in tiefere Schichten der Seele »vergraben« und zum Teil auch abgekapselt bzw. dissoziiert werden (vgl. Abraham/Torok 1972; Grünberg 2004; Leuschner 2004). So entsteht ein existenzieller und höchst labiler Zustand, eine ständige Angstbereitschaft vor einer drohenden Katastrophe, weil jederzeit die Gefahr der Wiederkehr bereitliegender oder vorbewusster Erinnerungen, aber auch ein Wiederbewusstwerden des »Vergrabenen« und des Aufbrechens der Einkapselungen besteht. Diese Einkapselungen sind als ein Schutz gegen die Vernichtungsangst zu verstehen, die mit dem absoluten Verlust guter Beziehungserfahrungen einhergeht (Hopper 1991). Das Schreckliche, das nicht der Vergangenheit angehören und somit nicht betrauert werden kann, droht dann in das bewusste Erleben einzubrechen. Die fragmentierten, dissoziierten und nicht verarbeitbaren Erinnerungen der Überlebenden, die sich in den Beziehungen zu ihren Familienangehörigen wie zu anderen Menschen in ihrer Umgebung manifestieren, betrachten wir als szenisches Erinnern des Nicht-in-Worte-Fassbaren.

Erinnern des extremen Traumas in den nachfolgenden Generationen Das Erleiden extrem-traumatischer Erfahrungen hat nicht nur Auswirkungen auf die Überlebenden selbst, sondern auch auf die nachfolgenden Generationen, also auf Menschen, die die Nazi-Verfolgung nicht selbst erlebten. Wie werden die Erfahrungen der Shoah an die Nachkommen der Überlebenden tradiert? Die traumatischen Verfolgungserfahrungen werden der Zweiten Generation nur zum Teil über Erzählungen ihrer Eltern oder über deren direkte Berichte vermittelt. Die transgenerationale Trauma-Tradierung erfolgt wesentlich über Szenen, die Überlebende unbewusst mit ihren Nachkommen gestalten. Dieses szenische Erinnern der Shoah vollzieht sich vornehmlich über unbewusstes Verhalten und Handeln, also über non-verbales Gestalten von Lebenssituationen. In unserem Gespräch mit Monique Behr erfahren wir, dass ihr Großvater eine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielte: »Er war sehr liebevoll und meine Autoritätsperson«. Ihr Großvater sei ein »kommunikativer, charmanter Mensch« gewesen, vor allem aber »das Zentrum unserer Familie«, in der allerdings viel geschwiegen wurde, insbesondere über die Zeit des Nationalsozialismus. Als der Film Holocaust im Fernsehen lief, schickte man Monique aus dem Wohnzimmer. Das vermeintliche Schweigen in der Familie habe sie »ganz schön umgetrieben, es war Unruhe in mir«. Mit dem Schweigen wurde jedoch szenisch sehr Bedeutsames zum Ausdruck gebracht. Monique erzählt zum Beispiel von einem Erlebnis, das sie als Neunjährige hatte, als sie ihren Großvater fragte, was es eigentlich mit der 205 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Nummer auf seinem Arm auf sich habe. Dieser antwortete, es handele sich lediglich um seine Telefonnummer, die er sich schlecht merken könne. In diesem Augenblick fiel Monique auf, dass sich ihr Großvater und ihr Vater anlächelten: »Da habe ich gestutzt, und mir war klar, da ist was schräg«. Über dieses Lächeln erfuhr Monique, dass die beiden über etwas Wesentliches verbunden und einig schienen. Sie teilten ihr szenisch mit, wofür ihnen Worte fehlten und worüber nicht gesprochen werden sollte. »Sonst« habe sie nämlich viel gefragt: »Ich wollte immer alles wissen.« In dieser Situation allerdings sei sie »stumm geblieben«. Emil Behr, der im Vernehmungsprotokoll eine treffendere Beschreibung gewählt hatte, als er von seiner »Vergasungsnummer« sprach, erklärt diese Nummer in dieser Szene zur Telefon-Nummer, die er sich nicht merken könne. Das Lächeln hat also etwas Paradoxes, über eine »Vergasungsnummer« lächelt man nicht. Sein Lächeln und dasjenige seines Sohnes stellen den Versuch dar, dem Morden und der Vernichtung Lebensbejahung entgegen zu stellen und die Tochter bzw. Enkelin von dem In-Berührung-Kommen mit dem Grauenhaften zu verschonen. Und doch ahnt Monique, was die eigentliche Bedeutung der Nummer auf dem Arm ihres Großvaters ist. Später habe sie ihren Vater mit Fragen nach der Familiengeschichte »terrorisiert«. Es ließ ihr keine Ruhe. Sie spürte, dass ihrem Großvater etwas Schreckliches widerfahren war. Dieses Schreckliche war stets präsent. Die »Telefonnummer« zusammen mit der Szene des Lächelns stellen symbolisch das erlittene Extremtrauma dar, das wie ein beständig vorhandener, »unassimilierter seelischer Fremdkörper« (Hopper 1991, S. 610) wirkt und nicht aus der Welt geschafft werden kann. Emil Behr – wie auch seine Nachkommen – mussten bzw. müssen damit leben. Das Lächeln erscheint wie ein Einverständnis dieses Zusammenhangs, dessen Bedeutung Monique erst im Sinne des szenischen Erinnerns der Shoah verstehen kann. Im Alter von acht Jahren war Monique mit ihrem Vater und Großvater im früheren Konzentrationslager Mauthausen: »Ich erinnere mich noch, welchen Mantel und welche Mütze mein Großvater anhatte. Es wurde nicht viel geredet – außer: Da war Opa länger.« Eine Erinnerung habe sie auch an die dortige »Todestreppe«. Der Großvater habe geschwiegen. Sie erinnert jedoch vor allem eines, eine kleine Körperbewegung, die sich als Erinnerungsspur tief in das Gedächtnis Moniques eingeschrieben hat: Sein Zucken mit den Achseln. Nach einem Moment des Schweigens sagt Monique Behr: »Ich trage etwas vom Trauma in mir.« Im Sinne des szenischen Erinnerns der Shoah hat sie »mit dem Achselzucken und dem Lächeln« mehr erfahren als Worte mitteilen können. Sie ist zur Zeugin des Extremtraumas ihres Großvaters geworden. Eine Ausstellung »Emil Behr. Briefzeugenschaft vor | aus | nach Auschwitz« zu erarbeiten, stellte eine Möglichkeit dar, dem tradierten Trauma auf kreative Weise zu begegnen. 206 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Emil Behr – Briefzeugenschaft vor | aus | nach Auschwitz

Literatur Abraham, Nicolas & Torok, Maria (1972): Mourning or melancholia. Introjection versus incorporation. In: Abraham, Nicolas & Torok, Maria: The shell and the kernel. Renewals of psychoanalysis. Chicago, London (The University of Chicago Press), 1994, S. 125–138. Diner, Dan (1986): Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1), 9–20. Diner, Dan (Hg.) (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a.M. (Fischer). Grünberg, Kurt (1997): Schweigen und Ver-Schweigen. NS-Vergangenheit in Familien von Opfern und von Tätern oder Mitläufern. psychosozial 20(68), 9–22. Grünberg, Kurt (2004): Erinnerung und Rekonstruktion. Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung und Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Trumah. Zeitschrift der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 14, 37–54. Grünberg, Kurt (2012): Szenisches Erinnern der Shoah. Über transgenerationale Tradierungen extremen Traumas. In: Kaufhold, Roland & Nitzschke, Bernd (Hg.), Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung 28, 47–63. Grünberg, Kurt & Markert, Friedrich (2012): A psychoanalytic grave walk – scenic memory of the Shoah. On the transgenerational transmission of extreme trauma in Germany. The American Journal of Psychoanalysis 72, 207–222. Grünberg, Kurt & Markert, Friedrich (2013): Todesmarsch und Grabeswanderung. Szenisches Erinnern der Shoah. Ein Beitrag zur transgenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland. Psyche – Z Psychoanal 67, 1071–1099. Hopper, Earl (1991): Encapsulation as a defence against the fear of annihilation. International Journal of Psycho-Analysis 72, 607–624. Keilson, Hans (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden. Stuttgart (Enke). Keilson, Hans (1984): Wohin die Sprache nicht reicht. Psyche – Z Psychoanal 38, 915–926. Keilson, Hans (1998): Wohin die Sprache nicht reicht. Vorträge und Essays aus den Jahren 1936– 1996. Gießen (Ricker’sche Universitätsbuchhandlung). Laub, Dori (2000): Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens. In: Baer, Ulrich (Hg.): »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), S. 68–83. Leuschner, Wolfgang (2004): Dissoziation, Traum, Reassoziation. In: Eckhardt-Henn, Annegret & Hoffmann, Sven Olaf (Hg.): Dissoziative Bewusstseinsstörungen. Theorie, Symptomatik, Therapie. Stuttgart, New York (Schattauer), S. 60–73.

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NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen Angela Moré

Geschichte in uns: Psychogramme aus dem Alltag – so lautet der Titel eines Buches von Jürgen Müller-Hohagen aus dem Jahr 1994. Der Psychotherapeut Müller-Hohagen, der seit vielen Jahren auch am »Dachau Institut Psychologie und Pädagogik« aktiv ist, fragt nach den blinden Flecken in der Psyche der Nachkommen von Tätern und Täterinnen, den Täterbezügen und -tendenzen und mit nachdrücklicher Offenheit auch nach den eigenen familialen Verstrickungen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich vor nun bereits zwanzig Jahren auf ein tabuisiertes Thema, das auch unbewusste Dimensionen beinhaltet: die Tradierung von Täteranteilen zwischen den Generationen. Die »Geschichte in uns« ist nach seiner Erfahrung die von »Täterhaftigkeit«, wie er es nennt (ebd., S. 12). Diese Geschichte bzw. die Konstrukte von plausiblen Biografien entstehen nicht durch das häufig problematisierte Schweigen der Eltern, sondern durch das, was sie mitteilten. Dies waren zunächst ihre eigenen Leidensgeschichten, hinter welchen das aktive Zufügen von Leid Anderen gegenüber verschwand und verschwiegen wurde. Von ihren Kindern wollten sie als Opfer gesehen und bedauert werden. Trotz dieser einseitigen und dadurch die Realität verzerrenden Darstellungen und den damit verbundenen Forderungen nach Mitgefühl und Loyalität bekamen viele Kinder von Täter/innen mit, dass etwas nicht stimmte und vor ihnen verborgen wurde. Sie spürten, dass die Eltern gelegentlich in Andeutungen und Rätseln sprachen, in bestimmten Situationen – bei Begegnungen mit Bekannten und Verwandten oder bei bestimmten Radiosendungen etc. – auflebten, glänzende Augen bekamen und entweder verschämt oder auch offen ihre Freude zeigten, wenn sie an ihre Jahre unter dem Nationalsozialismus erinnert wurden, die alten Lieder und Reden hörten oder Fackelumzüge, Aufmärsche usw. im Fernsehen sahen. Auf direkte Fragen der Kinder hin reagierten sie entweder mit beschönigenden und verharmlosenden Geschichten oder aber mit eisigem Schweigen und Gefühlskälte, wenn nicht gar mit Ärger und zornigen Zurückweisungen, als werde ihnen Unrecht getan. Mit Aussagen wie »das versteht ihr sowieso nicht«, »es war damals alles ganz anders, als ihr denkt«, »ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das 209 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Angela Moré

damals wirklich war« etc. wurde die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Sprechen über die eigene Beteiligung an diesem in der Regel verweigert. Verbale Botschaften bestanden meistens in solchen Formen der Selbstverteidigung oder aber in beschönigenden, glorifizierenden Mitteilungen. Und nicht selten äußerten (ehemalige) Anhänger/innen des NS-Regimes in konflikthaften Situationen auch sehr ungehemmt ihre fortbestehenden Ressentiments und Facetten ihrer oft ungebrochenen ideologischen Einstellungen. Feindselige und entwertende Äußerungen gegenüber Menschen anderer Kulturen und Ethnien bzw. gegenüber den ab Mitte der sechziger Jahre in die Bundesrepublik kommenden sogenannten »Gastarbeitern« gehörten zur Tagesordnung. Nicht selten wurden soziale Konflikte kommentiert mit Aussagen wie »Das hätte es unter Adolf nicht gegeben«, und die gegenüber Kritikern und politisch Andersdenkenden vehement geäußerten Verbannungswünsche (»Geh doch nach drüben«) waren nur die Abmilderung von gröberen Wünschen wie Arbeitslager für »arbeitsscheues Gesindel« – bis hin zur Forderung von Todesstrafen. Dies alles sind Erfahrungen und Eindrücke, die während meiner eigenen Kindheit und Jugend immer wieder vorkamen, Alltagsphänomene darstellten und erst mit dem Aussterben der Tätergeneration seit Anfang der 90er Jahre abnahmen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands nahmen mit dem dadurch verstärkten Rechtsextremismus solche Äußerungen jedoch wieder zu, sind aber nicht mehr mit der direkten Bezugnahme auf den NS-Alltag verbunden, sondern äußern sich als Idealisierungen dieser von den heutigen Anhängern größtenteils nicht mehr miterlebten Zeit und deren herrenrassistischen Größenfantasien (vgl. Lohl in diesem Band). Neben diesem offen geäußerten nationalsozialistischen Gedankengut, das in manchen Familien noch partiell selbstverständlich war, in anderen unter der Oberfläche gehalten wurde, übermittelten sich in indirekten Formen vor allem die Beteiligungen an Verbrechen oder die passive Unterstützung derselben bzw. das Mitwissen davon. Denn diese Verstrickungen versuchten die meisten (Groß-)Eltern nach dem Ende des Nationalsozialismus vor ihren Kindern und Enkeln zu verbergen. Über die Formen und Wege, über die sich solche Botschaften indirekt an die Nachkommen übertragen und sich in der Gefühlswelt der Kinder oder Enkel als rätselhafte und widersprüchliche Eindrücke ablagern, wurde in den letzten Jahren viel geforscht (vgl. Überblick bei Moré 2013). Es sind primär körpersprachliche Botschaften mit hohem affektivem Gehalt, die den Kindern signalisieren, wo sie Tabus berühren und die Identität ihrer Eltern bedrohen. Die Antworten der Eltern darauf waren entweder Abwendung und Rückzug, die von Emotionen wie Ärger oder Trauer begleitet wurden oder aber Vorwürfe, undankbar zu sein. Sie reagierten mit trotziger Abwehr oder der Androhung von Strafen und Liebesentzug bis hin zur Verstoßung der eigenen Kinder (vgl. Heer 1988). Die Gründe dieser als heftig empfundenen Reaktionen blieben unbenannt und für die Kinder unaufklärbar. In solchen Konstellationen der Schuldverleugnung und -verschiebung sind es häufig die Nachkommen der Täter/innen, die das Gefühl haben, 210 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen

etwas Unrechtes getan zu haben, aggressiv und böse zu sein, sich schuldig gemacht zu haben. Auf diese Weise deponieren die Eltern ihre unintegrierten und abgewehrten eigenen Selbstzweifel und Schuldanteile in ihren Nachkommen und behandeln diese als Verfolger, sehen sich selbst nun (»nach dem, was sie doch alles schon durchgemacht hätten«) erneut als »Opfer«. In Gesprächen mit heute erwachsenen Kindern von überzeugten Nationalsozialist/innen taucht immer wieder das Argument auf, man dürfe nicht nach Schuld suchen, sondern nur nach der Verantwortung dieser Eltern. Denn schon dann, wenn sie daran denken, nach dem Schuldanteil der eigenen Eltern (oder anderer naher Verwandter) zu fragen, entsteht das Gefühl, diesen Unrecht zu tun, sich illoyal und undankbar zu verhalten. Dass es sich bei diesen Schuldgefühlen um eine Verschiebung der von den Eltern abgewehrten Schuldempfindungen handelt, wird ihnen in der Regel nicht bewusst. Freud zufolge handelt es sich bei der Weitergabe von unbewusst gewordenen oder bewusst verborgenen und verleugneten Erfahrungen einer Generation an die nächste um eine Gefühls-Erbschaft (Freud 1912/13a, S. 191). Für die Kinder oder Enkel bedeutet dies, wenn wir den Begriff einmal wörtlich nehmen, Gefühle in sich auf- und wahrzunehmen, die nicht durch eigene Erfahrungen erworben wurden, sondern vermittelt durch nahe Bezugspersonen. Dadurch, dass diesen indirekt und unbewusst übermittelten Gefühlen keine ihnen zugehörigen Erfahrungen korrespondieren, diese vielmehr infolge der Reaktionen der Älteren auf bestimmte Ereignisse spürbar und erahnbar und in den Interaktionen mit den Nachkommen reinszeniert werden (z.B. durch die oben erwähnte Herstellung einer umgekehrten Täter-OpferBeziehung), erleben die Nachkommen diese Reaktionen als unverständlich und irritierend, häufig auch als unbegreifliche Ungerechtigkeiten und Zumutungen und erleben in sich Gefühle von Scham und Wut, von rätselhafter Angst oder Trauer, die sie nicht als zu sich gehörig empfinden, aber auch nicht als in sie verschobene Gefühle der Eltern(generation) wiedererkennen. Diese als fremdartig wahrgenommenen »eigenen« Gefühle erzeugen unklare, diffuse innere Bilder und Fantasien über die Vergangenheit der Eltern und über vage angedeutete Ereignisse und Zusammenhänge, mit welchen die Rätsel zu lösen versucht werden (vgl. auch Lohl 2010, insbes. Kap. 4). Nicht selten haben die Nachkommen von Täter/innen und überzeugten Nationalsozialist/innen das Gefühl, mit ihnen stimme etwas nicht, sie seien nicht ganz in Ordnung. Sie fühlen sich fremd und andersartig und haben das dumpfe Empfinden, kein Recht auf ein eigenes, unabhängiges und unbeschwertes Dasein zu haben. Täternachkommen beschreiben dies als Gefühle von Orientierungslosigkeit – wie »durch Nebel gehen«, betäubt sein, sich isoliert und zugleich bedroht fühlen durch die eigenen Eltern, als hätten sie diesen Unrecht getan. Anne Barth (2012, S. 173ff.) hat für die Generation der sog. Kriegsenkel, deren Großeltern im NS erwachsen waren, eine lange Liste von Merkmalen aufgestellt, die sich als häufige oder typische Empfindungen und Symptome zeigen. Sie betont das Schweigen der eigenen Eltern, 211 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die als Kriegskinder zum Teil belastenden traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren, aber auch die Empathielosigkeit und Gefühlskälte ihrer Eltern. Oft erfuhren die Eltern der Kriegsenkel Unverständnis und emotionale Kälte in Verbindung mit Härte und Demütigungen von ihren eigenen Eltern, wenn sie deren überfordernden Ansprüchen nicht genügten. Dabei handelt es sich um Haltungen und Einstellungen, die bereits vor dem Nationalsozialismus in deutschen Familien weit verbreitet waren und beispielhaft in Michael Hanekes Film Das weiße Band (2009) veranschaulicht werden, aber auch in realen deutschen Familiengeschichten belegt sind (vgl. z. B. Althaus 2006). Die zahlreichen (auto)biografischen Texte von Täterkindern wie auch historische Studien zur deutschen Pädagogik und Erziehungsgeschichte geben für die weitverbreitete Ablehnung, Gleichgültigkeit und den Hass von deutschen Eltern gegenüber ihren Kindern eine Vielzahl von Belegen für eine schon lange vor dem Nationalsozialismus verbreitete »schwarze Pädagogik« (vgl. z. B. Hardach-Pinke/Hardach 1992). Zwar gab es Kinderarbeit, Ausbeutung und kinderfeindliche Erziehungsformen auch in anderen europäischen Ländern mit ebenfalls brutalisierenden Tendenzen für die psychische Entwicklung mehrerer Generationen. Es spricht jedoch vieles dafür, dass sich diese Tendenzen in Deutschland in Verbindung mit unverarbeiteten sozialhistorischen Katastrophen wie dem Dreißigjährigen Krieg und der Dezimierung der deutschen Bevölkerung durch Hungerkatastrophen und (Pest)Epidemien besonders zuspitzte. Im Nationalsozialismus offenbarte sich die Feindseligkeit gegenüber Kindern nicht zuletzt in den Säuglingspflege- und Erziehungsbüchern der Ärztin Johanna Haarer Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934), das in der Zeit des Nationalsozialismus allen erstgebärenden Müttern überreicht wurde und nach einer Bereinigung von den offen nationalsozialistischen Aussagen 1945 wieder erschien unter dem verkürzten Titel Die Mutter und ihr erstes Kind (vgl. auch Ahlheim 2012). Von perfekter Hygiene und Reinlichkeit ist in diesem viel die Rede, während ein Eingehen auf die Wünsche des Kindes und Empathie als Verzärtelungen geradezu verpönt sind. Statt durch körperliche Nähe das Kind zu verzärteln und zu verweichlichen und es für die ihm bevorstehenden Schlachten des zukünftigen Lebens unbrauchbar zu machen, wird den Müttern geraten, früh den Willen des Kindes zu brechen, damit es nicht tyrannisch, sondern gut lenkbar werde. Dabei hatte es in den Jahren zwischen den Weltkriegen zahlreiche, nicht zuletzt von der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, aber auch anderen Strömungen angeregte reformpädagogische Bestrebungen gegeben. In ihren Analysen der von Haarer geäußerten Empfehlungen an junge Mütter für den Umgang mit dem Baby weisen Sigrid Chamberlain (1998) und Gesa Koch-Wagner (2001) nach, dass diese Anweisungen zu nichts besserem geeignet waren als massive Bindungsstörungen und Erfahrungen von Deprivation und Gefühlskälte bei den Säuglingen hervorzurufen – mit entsprechenden Folgen für die spätere psychische Entwicklung. Die hohe Verbreitung von Depressionen, mangelndem Selbstwertgefühl 212 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den Nachkommen

und Versagensängsten bei der Generation der im Nationalsozialismus Geborenen und Aufgewachsenen hat neben anderen Gründen (wie Kriegstraumatisierungen) auch solche frühen Beziehungsstörungen als Ursache. Eine systematische Erforschung der Zusammenhänge zwischen Familien- und Sozialisationsformen mit Unterwerfungs- und Grausamkeitsbereitschaft waren schon ab den 30er Jahren das Ziel der beiden umfassenden empirischen Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erst nach Frankreich, dann in die USA emigrierte (Horkheimer 1936; Adorno et al. 1950). Das erwähnte fremdartige Gefühlserleben führt immer wieder zu Formen eines unbewussten Agierens, in welchem Kinder oder Jugendliche bestimmte Verhaltensweisen und Muster wiederholen und dadurch unbewusst eine Erklärung für diese dumpf empfundenen Wahrnehmungen zu finden hoffen. Dies kann unter Umständen auch ein Element in der Entwicklung von rechtsradikalen Einstellungen sein (vgl. die Beiträge von Benz und Lohl in diesem Band), ist aber für sich genommen noch kein hinreichender Grund für eine rechtsextreme Entwicklung. Stattdessen kann es auch zu Reaktionsbildungen kommen: zu Versuchen, auf die diffusen Gefühle von Angst, Scham oder Schuld mit kompensierenden Handlungen zu reagieren. Solche Nachkommen sind eventuell sehr aktiv an Wiedergutmachungsprogrammen, Friedensaktionen etc. beteiligt oder wenden sich in sozialen Berufen den im NS gedemütigten, verfolgten sowie getöteten Minderheitengruppen oder den von Deutschen überfallenen Nationen zu, ohne die sie hintergründig bewegenden, halb- oder unbewussten Motive ihres Handelns zu erkennen (vgl. dazu den Beitrag von Ruth Waldeck in diesem Band). Häufig reinszenieren Nachkommen von Tätern Aspekte der Geschichte ihrer Eltern, ohne diese je erfahren zu haben, da die Eltern sie ihnen bewusst verschwiegen. Deren nonverbale Botschaften lassen in ihren Kindern jedoch Bilder entstehen, die – wie diffus auch immer – aufgeladen sind mit den elterlichen Affekten und Abwehrmustern, deren Ursprung die Kinder zu erraten versuchen, unter anderem dadurch, dass sie die unklaren inneren Bilder in Szene setzen. Dieser Zusammenhang offenbarte sich in zahlreichen psychoanalytischen Behandlungsverläufen (vgl. z.B. den Fall Volker in Jokl 1997, S. 25ff.; Buchholz 1990, S. 338ff.). Dass es sich bei diesen Aktivitäten häufig um Reinszenierungen handelt, wird allerdings erst sichtbar, wenn die Traumen und Schuldverstrickungen der früheren Generationen aufgedeckt und mit den eigenen Handlungsweisen und Gefühlsimpulsen in Verbindung gebracht werden können. Dies gelingt möglicherweise im Verlauf einer psychoanalytischen Therapie, wenn aufseiten des Analytikers oder der Analytikerin eine Offenheit und Sensibilität gegenüber diesen transgenerationalen Verschiebungen besteht. In den psychoanalytischen Ausbildungen und Behandlungen setzte eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit diesen Fragen erst in den späten 80er Jahren ein. In dieser Zeit musste sich die Psychoanalyse in den neuen Bundesländern überhaupt erst wieder etablieren, ist dafür aber aufgrund der Notwendigkeit, auch 213 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Angela Moré

die DDR-Diktatur aufzuarbeiten, von Anfang an stärker mit dem historischen Erbe konfrontiert. In ihrer Dissertation untersucht die Analytikerin Schlesinger-Kipp (2012) die Auswirkungen von Kindheit und Erziehung im Nationalsozialismus und Krieg auf das Leben und die Berufswahl von Psychoanalytiker/innen in Deutschland und stellt fest, dass »das subjektive Erleben als Kind in Nationalsozialismus und Krieg überschattet von der nicht fassbaren Schuld, die nachträglich auch auf der Kindheit dieser Generation ruhte, […] hingegen so gut wie nie Thema gewesen« war in den eigenen Analysen (ebd., S. 15). In den intensiver geführten Interviews mit zehn Analytikerinnen und Analytikern im Anschluss an die Befragung von 200 Personen dieser Berufsgruppe in Deutschland stellt sie fest, dass diese trotz der eigenen (Lehr) Analyse und der häufigen Konfrontation mit entsprechenden Erfahrungen bei etwa gleichaltrigen oder wenig jüngeren Patient/innen und trotz der Eingeübtheit in eine »professionelle Reflexionsfähigkeit« (ebd., S. 21) sehr bewegt und aufgewühlt werden bei dem intensiven Austausch über ihre eigenen Erinnerungen an ihre Kriegskindheit. Sie verweist darauf, dass dies nicht nur subjektiv von Bedeutung ist. Mit Bezug auf die Theorie von Maurice Halbwachs zum langfristig angelegten kollektiven Gedächtnis betont sie, dass sich eine Gruppe oder Institution durch memoriale Zeichen, Symbole und Bilder dieses kollektive Gedächtnis mit den in ihm zugelassenen wie abgewehrten Erinnerungsspuren konstruiere. Jan Assmann (1999) spricht stattdessen vom kulturellen Gedächtnis, das aus dem identitätsstiftenden symbolisierten Wissen einer Gruppe bestehe. Nach seiner Auffassung hat Auschwitz als nationale Katastrophe das kulturelle Gedächtnis gesprengt, aber auch das kommunikative Gedächtnis beschädigt (vgl. Schlesinger-Kipp 2012, S. 19). Nach Schlesinger-Kipp wirkt sich dies auch auf den Verlauf von Behandlungsprozessen mit Therapeut/innen, die Kriegskinder waren, aus: »Des Weiteren wird auch die Analytiker-Patient-Beziehung und die Beziehung zwischen Lehranalytiker und Lehranalysand entscheidend von der Person des Analytikers geprägt, sodass die Weitergabe des speziellen Erbes dieser Generation auch in den Psychoanalysen der nachfolgenden Generation von Bedeutung sein könnte« (ebd., S. 21).

Dass sich auch die in die nächsten Generationen verschobenen Gefühlsanteile und Konflikte in Therapieverläufen mit jenen Analytiker/innen auswirken, die selbst Kinder oder Enkel von Kriegskindern sind – sofern sie diese unbewussten Gefühlserbschaften nicht aufarbeiten konnten –, liegt auf der Hand. Ein wesentlicher Aspekt der ungewollten Gefühlserbschaften ist die Introjizierung des elterlichen Hasses und der von den Eltern ausgehenden Destruktivität. Im Falle des von Jokl als Volker bezeichneten Patienten zeigte sich dieser Hass in einem antisemitischen Ausbruch bei dem sonst sehr feinfühlig-reflektierten Patienten gegen seine jüdische Analytikerin. Dieser Ausbruch erschütterte das Selbstbild dieses Patienten zutiefst, da er sich innerlich weit vom abgelehnten Vater entfernt geglaubt 214 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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hatte. Es bedurfte der einfühlsamen Geduld und Überzeugungskraft der Analytikerin, um – über ihre eigenen Erinnerungen an erlittenes Leid hinweg – mit dem Patienten gemeinsam zu erkennen, dass es sich hier um den Versuch des Tätersohnes gehandelt hatte, die als Fremdkörper in ihm empfundenen aggressiven Introjekte des Vaters gewissermaßen »auszuspucken«, was sich jedoch zugleich als eine Reinszenierung der aggressiven antisemitischen Haltung des Vaters äußerte (vgl. Jokl 1997, S. 25–48). Bei Kindern der Täter/innen dient die Externalisierung von verinnerlichten Hassimpulsen auch der Abwehr des Empfindens von Bedrohung, die von diesen Eltern ausging. Kinder von überzeugten Nationalsozialist/innen erfuhren, dass ihr Existenzrecht vor allem darin besteht, sich aufzuopfern für heroische Ziele und Ideale, dass ihr Heldentod sie wertvoller machen würde als ihr Überleben in einem unheroischen Frieden. Und sie erlebten, dass die Eltern sie nicht nur für ihre Ideale, für »Führer, Volk und Vaterland« zu opfern bereit waren, sondern nach dem Zusammenbruch des Reiches, dem Verlust ihrer Ideale und damit der Bedrohung ihres narzisstisch überhöhten Selbstwertgefühls auch vielfach bereit zu sein schienen, Hand an das Leben ihrer Kinder zu legen, wie es nicht nur im erweiterten Selbstmord des Ehepaares Göbbels geschah, das zunächst seine eigenen Kinder und danach sich tötete (vgl. Schulz-Hageleit 1997; Jokl 1997, S. 29). Judith Kestenberg untersuchte die Geschichte und Vorgeschichte sowie die unbewusste Dynamik dieses darin erkennbaren intensiven Selbsthasses, der sich nach außen als Hass und Zerstörungsbereitschaft gegen Andere richtete, aber letztlich auf Selbstzerstörung hinauslief. Sie verweist auf eine unveröffentlichte Studie von Hauer aus dem Jahr 1992, der zufolge es in deutschen Familien zwischen Eltern und Kindern kaum eine wirkliche Kommunikation gebe. Ihm fiel auf, dass die Jugendlichen zu ihren Eltern wie durch einen Schleier hindurch sprechen (vgl. Kestenberg 1995, S. 14). Aus Sicht Kestenbergs handelt es sich bei dem in Deutschland in zugespitzter Form existierenden Antisemitismus um eine Verschiebung des unbewussten Selbsthasses auf die Juden. Im Sinne einer projektiven Identifikation brachten die Deutschen in den Juden ihre abgelehnten Selbstanteile unter, um sie an diesen zu bekämpfen und zu zerstören. Dabei habe auch der Neid auf die freizügigere Sozialisation, die jüdische Kinder in der Regel erfuhren, eine Rolle gespielt. In Anlehnung an Robert Jay Lifton (1986), der die Doppelung als den zentralen Abwehrmechanismus bei deutschen Täterfamilien sieht, betont sie, dass die Grausamkeiten ebenso wie die Verluste in den eigenen Familien komplett abgespalten und nicht gefühlsmäßig wahrgenommen worden seien. Dies vergrößerte noch die emotionale Entleerung, aber auch den Hass auf die eigenen Kinder, da diese die Abwehrstrukturen der Erwachsenen bedrohten. In den Nachkommen finden sich Eindrücke und Spuren unbewusster oder halbbewusster Mitteilungen der Täter/innen: deren Verleugnungen, Tendenzen zu Verharmlosungen, Selbstrechtfertigungen, gemischt mit heimlichen Sehnsüchten nach dem nun offiziell Entwerteten und real oder ideell Verlorenen. Die Kinder nahmen 215 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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heimlichen Stolz auf einstige Erfolge oder gelegentlich durchbrechende Größenfantasien bei den Eltern wahr, die an deren vergangene Ideale und erlebten Machtgefühle anknüpften und die später auch der Kompensation von Entwertungserfahrungen dienten. Bei einigen Tätern und Mitläufern zeigte sich Scham, sich an ein vermeintlich gutes Objekt (den Führer, die NS-Ideologie) gebunden zu haben, die nun entwertet waren. Diese Täter fühlten sich getäuscht und betrogen und vermittelten ihren Kindern daher die Botschaft, misstrauisch zu sein, nichts zu glauben, sich nicht zu engagieren, insbesondere nicht politisch. Sie verleugneten und ignorierten das Leid, welches Anderen durch ihr eigenes aktives Tun oder ihre mehr oder weniger aktive oder passive Unterstützung des NS-Regimes angetan worden war. In der Konsequenz wurden sie unfähig zu empathischen Haltungen und Mitgefühl – auch ihren eigenen Kindern und zum Teil sich selbst gegenüber (vgl. z. B. Raffeiner 2011). In den Kindern der Täter kam dies oft als ambivalente Botschaft an, die sich in folgende Aussagen zusammenfassen ließe: »Es war doch damals alles ganz toll, aber wir dürfen es nicht mehr zugeben«; »Wir sind ja die Besseren, Stärkeren etc., aber wir dürfen es nicht mehr zeigen«; »Schuld sind die Opfer doch selbst, aber das darf man heute ja nicht mehr sagen« usw. Anstelle einer Einsicht in reale Schuld entwickelte sich eine opportunistische Haltung gegenüber einer wiederum nach außen verlegten Autorität – derjenigen der Besatzer, der neuen Rechtsordnung, der öffentlichen Meinung –, der gegenüber die Täter sich, um nicht bestraft zu werden, bedeckt und opportun verhielten. Die bislang idealisierten Werte und Idole wurden somit nicht aufgegeben, sondern heimlich an einem inneren Ort verborgen und weiter verehrt. Dies lässt sich mit dem Konzept der Kryptisierung nach Abraham und Torok erklären (vgl. den Beitrag von Jan Lohl in diesem Band). In dieser Haltung setzt sich das autoritative Grundmuster der NS-Zeit fort. Wurden während des Nationalsozialismus vor allem Wünsche nach Idealisierung und der Partizipation an Größen- und Allmachtsfantasien befriedigt, wie sie Freud bereits 1921 in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c) beschrieb, so folgten jetzt Ängste vor Beschämung und Bestrafung aus demselben archaischen, mehr an äußeren Instanzen denn an inneren Werten orientierten Überich. Dementsprechend ging die Auseinandersetzung mit der (eigenen) nationalsozialistischen Vergangenheit nicht mit einer Gewissensbildung und Integration durch Trauerprozesse, nicht mit der Entwicklung von Empathie, Reue und Verantwortungsübernahme einher. Leugnungen, Verkehrungen ins Gegenteil, bewusste Lügen und Verdrehungen, aber auch subtile oder offene Bedrohungen waren die Antworten, die die Kinder der Täter auf ihre Nachfragen erhielten. Dieses Gefühl, daß etwas nicht stimmte ist der Titel, unter welchem Ilka von Zeppelin (2005) ihre Kindheitsjahre zwischen 1940 und 1948 beschreibt und über deren zweideutige Botschaften sie nachträglich reflektiert. Dabei bleibt dieses »Etwas« lange diffus und unbenennbar, weil die Erwachsenen nicht ehrlich sind, sondern in sich 216 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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widersprüchlich, doppeldeutig und auch brüchig, wie z.B. ihr den Nationalsozialisten gegenüber reservierter Großvater, der die »Nazibrut« aus dem zerbombten Berlin, mit der er seine Enkelkinder bezeichnet, zunächst nicht auf seiner fränkischen Burg aufnehmen will und ihnen schließlich einen alten Stall überlässt, aber das Essen von seinen Apfelbäumen verbietet. Intensiver noch geht die in Basel lebende Psychoanalytikerin Ute Althaus (2006) den Lügen in ihrer Herkunftsfamilie systematisch auf den Grund anhand aufgefundener Briefe der Eltern und von Prozessakten.Ihr Vater, der wenige Tage vor Kriegsende einen jungen Mann in Ansbach eigenhändig wegen sogenannter Sabotage lynchte, behauptete später, nie NS-Offizier und auch kein überzeugter Nazi gewesen zu sein. In diesem wie in vielen anderen Fällen ging es um aufgetischte Lebenslügen, die aufzudecken viel Kraft und Energie kostete und die den Kindern von Tätern das Gefühl gaben, missachtet und belogen zu werden und sie zwangen, ihre eigenen Gefühle von Verunsicherung, Misstrauen, Zweifel und Enttäuschung zu verbergen. Die Entwicklung eines falschen Selbst, wie es der englische Kinderanalytiker Donald Winnicott (1964) beschreibt, hängt eng zusammen mit der Wahrnehmung eines »So tun als ob«, einer »as-if-personality« im Sinne Helene Deutschs (1942). Wenn Ute Scheub (2006) ihr Buch über ihre Vatersuche mit Das falsche Leben betitelt, ist nicht nur dasjenige des Vaters gemeint, jenes Mannes, der auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart 1969 während einer Lesung von Günter Grass öffentlich Selbstmord beging. Nachdem er wirr über die einstige Größe Deutschlands gesprochen und die heutige Brandmarkung der deutschen Soldaten als Verbrecher beklagt hatte, grüßte er seine alten Kameraden von der SS – zu welchen, wie wir heute wissen, auch Grass selbst gehörte (vgl. ebd., S. 7). Auch Ute Scheub begegnet in ihrer Erforschung der Vergangenheit und Erinnerungen den eigenen Vater-Introjekten, aufgrund derer die gewünschte und doch auch beängstigende Abgrenzung ihr nicht gelingen will: »Ekel. Scham. Schuldgefühl. Ekel. Scham. Schuldgefühl. Wenn ich mich gerade nicht ekelte, dann schämte ich mich, und wenn ich mich nicht schämte, fühlte ich mich schuldig. Ich schämte mich für einen unmöglichen Vater und seine braunen Kameraden und vor allem für mich selbst. Wie konnte ich mich bloß so freuen über seinen Tod? Ich war ein Tochterschwein, eine Schweinetochter. Bald würde mir ein rosa Ringelschwanz wachsen« (ebd., S. 26).

In Verbindung mit den Hassgefühlen auf den Vater verstärkt sich die Angst, selbst so zu sein wie dieser abgelehnte Vater. Daher richten sich ihre Gefühle von Hass und Verachtung nicht nur gegen diesen Vater, sondern werden zugleich zu etwas Verbindendem mit ihm und werden als introjizierte Objektanteile zu nicht assimilierbaren Vateranteilen in ihr. Sowohl in der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie wie in der Selbstpsy217 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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chologie finden sich Erklärungen für die Übernahme und Introjektion von Objektanteilen. So macht Daniel Stern in seinem bereits zum Klassiker gewordenen Werk über Die Lebenserfahrung des Säuglings (1992) deutlich, wie eng die sich entwickelnden verschiedenen Phasen von Selbsterleben verflochten sind mit der Erfahrung der Bezogenheit zu einem bedeutsamen anderen Menschen, einer Bezugsperson, die dieses Selbst in seinem Sich-Erfahren prägt durch die Art und Qualität der gemeinsam hergestellten Interaktionen. Seine Betonung der Tatsache, es gebe nur ein self with other, entspricht Winnicotts Bonmot There is no such thing as a baby. Melanie Klein (1946) hingegen macht deutlich, dass sich die Trennung nie zwischen dem psychischen Erleben des Kindes und der Mutter vollzieht, sondern sich in den frühen Spaltungsoperationen der paranoid-schizoiden Position eine Trennung herstellt zwischen der Verbindung von gutem Selbst mit gutem Objekt, das vor der als zerstörend erlebten Einheit von bösem Selbst mit bösem Objekt geschützt werden müsse. Zu einer Integration der getrennten Objektanteile kommt es in der depressiven Position. Aber es gibt Bedingungen, die ein (vollständiges) Erreichen derselben verhindern. Monika Göth, die Tochter des Lagerkommandanten Amon Göth, ist mit dem verinnerlichten Gebot aufgewachsen, den Vater, den sie selbst nicht mehr kennen gelernt hat, doch auf jeden Fall lieben zu müssen, eben schlicht darum, weil er ihr Vater war (vgl. Kessler 2002). Von der Mutter und Großmutter hatte sie verharmlosende Lügengeschichten über das Arbeitslager erzählt bekommen und diese ebenso geglaubt wie die Aussage, er sei unschuldig hingerichtet worden. Mit 25 Jahren begegnet sie jedoch einem Gastwirt in einem Schwabinger Lokal und insistiert darauf, von ihm zu erfahren, in welchem Lager er war, als sie zufällig die eintätowierte Nummer auf seinem Arm entdeckt. Und als er mitteilt, er sei im Lager Plaszow gewesen, fragt sie ihn nach ihrem Vater: dem Kommandanten des Lagers, den müsse er doch gekannt haben. Danach bricht das Lügengebäude in sich zusammen und sie mit demselben. Denn nun erfährt sie, dass er ein brutaler Mörder war, der die Tötung von Gefangenen geradezu genoss (vgl. ebd., S. 165ff.). Zugleich dokumentieren die mit Matthias Kessler geführten Gespräche, was für eine emotionale Unreife und Kälte, Selbstbezogenheit und Verklärung des Vaters von der Mutter ausgingen, die mit ihrem Mann, dem Lagerkommandanten, eine Villa oberhalb des bei Krakau gelegenen Arbeitslagers bewohnte. Auf demselben Balkon, von dem aus Göth willkürlich Häftlinge mit Hilfe eines Zielfernrohrs an seinem Gewehr erschoss, sonnte sich die Mutter im Liegestuhl. Ähnliche, die inneren Objektbilder und damit die eigene Identität und Selbstgewissheit erschütternde Entdeckungen machten zahlreiche andere Nachkommen von Tätern und Täterinnen. Oft, wie auch bei Monika Göth, scheinen diese Entdeckungen sich fast zufällig zu ergeben und weisen doch zugleich Anhaltspunkte für ein latent präsentes Zweifeln, Suchen und Sich-Gewissheit-Verschaffen-Wollen auf, in welchen die Spuren der Irritationen, doppelten Botschaften, Zweideutigkeiten 218 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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und empfundenen Verlogenheiten nachgezogen werden. Dem Gefühl, »dass etwas nicht stimmte« (von Zeppelin 2005), das sich hinter dem präsentierten Bild ein anderes, viel dunkleres verberge, gehen viele Kinder und Enkel der Täter/innen mit der unbewussten beständigen Zielgerichtetheit nach, die der eines blinden Sehers gleicht (vgl. auch Niemann 2008). Die für ihre Nachkommen so fatale Verleugnung von Schuld und Verantwortung aufseiten der Täter/innen verdankt sich primär drei Motiven: der Vermeidung von damit verbundener Scham bzw. Angst vor Beschämung durch Andere, ferner der Furcht vor sozialer Ausgrenzung und Ächtung bzw. vor Bestrafung und schließlich der Blockierung von Selbstreflexion und Mitgefühl, um das Eingeständnis von Mängeln und Schwächen zu vermeiden zugunsten der Aufrechterhaltung grandioser Selbstvorstellungen. Die Folgen dieser Haltung lassen sich aus der Sicht des Mentalisierungsansatzes (Fonagy/Target 2003) als Mentalisierungsstörung und Unfähigkeit zu reflexiver Kompetenz beschreiben. Es geht hierbei um eine primär narzisstisch motivierte Abwehr. Im Sinne der kleinianischen Psychoanalyse könnte man auch von einem Verharren in der paranoid-schizoiden Position sprechen, der keine depressive Phase der Integration von guten und schlechten Selbst- und Objektanteilen folgt (vgl. Hinshelwood 1993, S. 199–243). Erst infolge dieser Integration entsteht nach Klein der Wunsch nach Wiedergutmachung. Dem entspräche eine echte (also nicht instrumentell eingesetzte) Reue, die mit Selbstvorwürfen, Gewissensqualen und dem Wunsch, die Tat ungeschehen machen zu können, verbunden wäre und zur Folge hätte, dass eine Auseinandersetzung mit dem schuldhaften Tun oder mit schuldhaftem Unterlassen möglich wird. Der Anerkennung der Schuld folgen oft Handlungen, die der Wiedergutmachung dienen sollen, auch wenn die Taten nicht ungeschehen gemacht werden können. Solche Schuldverarbeitung bewirkt, dass die nachfolgenden Generationen von ihr wissen können, sich diese jedoch nicht selbst aufbürden müssen. Nicht anerkannte reale Schuld – sei es durch ein Handeln oder durch ein Unterlassen – hat hingegen fatale Folgen für die Kinder von Täter/innen, wie Mathias Hirsch (1997) darlegt: »Die uneingestandene Schuld der Eltern bildet im Selbst des Kindes ein Introjekt, von dem Schuldgefühle ausgehen – nicht nur die Opfer haben die Schuldgefühle und empfinden die Scham, die die Täter nicht haben können oder wollen, auch deren Kindern wird das Unausgesprochene implantiert […], so daß diese eher Schuld und Scham empfinden als die Eltern, die der Tätergeneration angehören« (ebd., S. 307).

Andererseits finden sich in jenen Kindern aber auch identifizierende Anteile mit jenen Seiten der Eltern, die von diesen bewusst verleugnet werden, in denen die Kinder ihre Eltern jedoch als stolz, zufrieden, evtl. sogar glücklich erlebten: dem Singen von 219 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Liedern aus deren eigener Kindheit und Jugend, dem Anknüpfen an Bilder von Stärke, Macht und Überlegenheit, die selbstwertstützend waren, dem Festhalten an nationalsozialistischen Überzeugungen und Ideologiefragmenten oder auch dem begeisterten Erzählen von vereinzelten Erlebnissen der Stärke, Größe, Heldenhaftigkeit etc. (vgl. Waldeck in diesem Band). Dadurch fühlen sich die Kinder der Täter häufig ebenfalls innerlich gespalten, aber auch doppelt gefangen in Schuld- und Loyalitätsverstrickungen. Dies äußert sich in Anklagen oder Verteidigungen der Eltern, in Sühnehandlungen oder Reinszenierungen. Nachkommen der Täter/innen übernehmen partiell Überich-Funktionen ihren Eltern gegenüber. Andererseits reinszenieren sie projektive und aggressiv-destruktive Triebanteile der Eltern oder richten diese gegen sich selbst und übernehmen andererseits unbewusst deren libidinöse Fantasien (z. B. von grenzenloser Freiheit und Ungebundenheit, von Elitedenken etc.). Die Wiedergutmachungsbemühungen richten sich bei den Nachkommen sowohl an die Verfolgten und Überlebenden wie auch auf die eigenen (Groß-)Eltern, die sie – der eigenen Enttäuschung zum Trotz – zu vervollständigen, zu trösten, zu erleichtern und zu heilen versuchen (vgl. ebd.). Denn schon Kinder geben sich, wenn sie sich abgelehnt, ausgegrenzt oder in der Beziehung zu den Bindungsobjekten nicht wahrgenommen fühlen, selbst die Schuld. Angesichts fortbestehender Lieblosigkeit, der sie begegnen, nehmen sie nicht die Eltern als unzulänglich wahr, sondern sich selbst. Das intuitiv bestehende Wissen um die transgenerationale Weitergabe existierte schon vor den Anfängen der Psychoanalyse. So schreibt Friedrich Nietzsche 1883: »Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden, und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblößtes Geheimnis« (zit. n. Heimannsberg/Schmidt 1992, S. 11).

Allerdings erfolgt eine unbewusste transgenerationale Weitergabe nicht nur zwischen Vater und Sohn, sondern ebenso in der Mutter-Tochter-Beziehung sowie zwischen Müttern und Söhnen bzw. zwischen Vätern und Töchtern, wie einige der letztgenannten Quellen (z.B. Scheub, Althaus, Niemann) belegen. Unterschiedlich sind zu einem gewissen Teil jedoch die Umsetzungen der Gefühlserbschaften entsprechend bestimmten geschlechtsspezifischen Möglichkeiten, Rollen- und Merkmalszuschreibungen oder Beschränkungen, Identifikationen und Gegenidentifikationen sowie fantasierten und realen Erwartungen. Kinder der Täter wuchsen, wie Kestenberg (1995) schreibt, in einer Welt von Lügen, Tabus und Verschweigen auf. Die therapeutische Arbeit mit Kindern von Tätern zeigt, dass ihnen die Abgrenzung von den Eltern nicht wirklich gelingt, sondern mit 220 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Wahrnehmung von als ichfremd empfundenen Selbstaspekten einher geht, die sich im therapeutischen Prozess der Selbsterfahrung und -integration als Täterintrojekte erweisen, als Splitter von Täterhaftigkeit im eigenen Selbst, wie sie sich z. B. in der oben erwähnten Behandlung eines Tätersohnes (Volker) durch die jüdische Psychoanalytikerin Anna Maria Jokl offenbarten ( Jokl 1997, S. 36ff.). Die Nachkommen der Täter/innen können jedoch auch – ebenso wie ihre (Groß-) Eltern – darum bemüht sein, die Scham zu vermeiden und die Spuren zu den Taten zu verwischen. Die Verleugnung des Unerträglichen wird dann ungebrochen fortgesetzt – zumindest in bewusstseinsnahen Selbstrepräsentationen. In diesem Fall mögen Interviews mit den nachfolgenden Generationen vordergründig als ungebrochen übernommene Narrative erscheinen (vgl. Welzer et al. 2002). Tatsächlich liegen ihnen aber immense Anstrengungen zugrunde, um die mit der (An-)Erkennung der Wahrheit notwendig verbundenen Enttäuschungen und Trauergefühle zu vermeiden und die Verleugnung von Schuld aufrecht erhalten zu können, die vor allem auch das Ziel der Schamabwehr verfolgt. Dies geht mit Reaktionsbildungen einher, um sich die (groß-)elterlichen Liebesobjekte und Ich-Ideale zu bewahren. Diese Konflikte bleiben in vielen Anteilen unbewusst und führen bei den Kindern und Enkeln von Täter/ innen teilweise zu massiven Beschädigungen des Selbstwertgefühls, des Vertrauens in Andere und in die eigene psychische Integrität. Bei den ererbten Gefühlen handelt es sich um intuitiv Aufgespürtes, um die verlorene Identität und/oder verlorene Integrität der (Groß-)Eltern, die wieder herzustellen sich die Nachkommen zur unbewussten Lebensaufgabe machen. Dies ist verbunden mit dem Versuch, ein Gefühl von Sinnhaftigkeit für die Eltern und sich selbst herzustellen und existenzielle oder traumatische Lücken zu schließen. Oder aber es findet eine Verleugnung der Beschädigtheit dieser Bezugsobjekte, eine Fortsetzung der Abwehr statt – und damit eine Verschiebung der inneren Konflikte in die nächste(n) Generation(en). In manchen Fällen bleibt den Kindern oder Enkeln nichts anderes übrig, als das Unfassbare, Dunkle der elterlichen Vergangenheit unbewusst nachvollziehend zu agieren oder aber in psychischen oder psychosomatischen Störungen zu re-konstruieren. Was nicht verstanden und angeeignet werden kann, muss in der Wiederholung erfahren, reinszeniert und rematerialisiert werden (vgl. die Beispiele in Rosenthal 1997, S. 345–405). Im Gegensatz zu vielen Überlebenden der Shoah suchten die Täter/innen keine Therapien auf, obgleich auch bei ihnen schwere Belastungen durch Kriegstraumatisierungen, Flucht, Vertreibung, Gefangenschaft und Vergewaltigungen bestanden. Aber auch die ideellen Verluste blieben unbetrauert: die verlorenen Wertmaßstäbe, die Führerfigur(en), die geglaubten materiellen Versprechungen sowie die daran geknüpften Selbstbilder. Die Kriegsniederlage, die Entwertung der fast religiös verherrlichten Ideologie, die auch eine Selbstidealisierung als Herrenmenschen erlaubt hatte, die Umkehrung dieser Position in die der Verlierer und Mitschuldigen an einem 221 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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verbrecherischen System kann als schwere kollektive narzisstische Kränkung aufgefasst werden. Sie machte es den – einst und zum Teil immer noch – vom Nationalsozialismus Überzeugten und den Mitläufer/innen schwer, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sie waren dadurch unfähig, wie die Mitscherlichs (1967) feststellten, das Verlorene zu betrauern. Zugleich wirkte die in der NS-Zeit betriebene systematische ideologische Entwertung von Gefühlen als »Gefühlsduselei« und »Verweichlichung«, von Sensibilität als »Schwäche«, von köperlicher und psychischer Krankheit als »Degeneriertheit« weit in die Nachkriegsjahrzehnte hinein nach und verhinderte die therapeutische Hilfe und Aufarbeitung. Stattdessen wurde das Vergangene aufgrund der vielfachen Beschämung abgeschnitten und innerpsychisch abgespalten, was bis heute im Sprechen von einer »Stunde Null« zum Ausdruck kommt, die für den Wunsch nach einem Neuanfang ohne Rückbezug auf das Vergangene steht. Dieser Wunsch danach, nicht von der eigenen Vergangenheit behelligt zu werden, die schuldhaften Verstrickungen in die Geschehnisse nicht beleuchten zu müssen, verdunkelte auch die innerpsychischen Räume der im und nach dem Krieg Geborenen. Als die Nachkommen der Täter/innen und Mitläufer/innen zunehmend therapeutische Hilfe beanspruchten, wurde immer deutlicher, dass die von den Kindern und Enkeln entwickelten Symptome auch Ausdruck ihrer psychischen Verwicklungen mit den Eltern bzw. Großeltern, deren Geschichten, Schicksalen und verleugneten Schuld waren und sind (vgl. Moré 2011, 2012). Auch Kinder der Verfolgten sind durch die extremen Traumatisierungen, durch das Schweigen ihrer Eltern sowie durch das bruchstückhafte Mitteilen ihrer sie überwältigenden Eindrücke, durch die ungewollten und häufig unbewussten körpersprachlichen Botschaften und interaktiven Reinszenierungen in die Vergangenheit der Eltern verstrickt, auch sie erleben Schamgefühle und vielfältige Irritationen, unbewusste Identifizierungen und Wiederholungen der Schicksale ihrer Eltern. Aber sie erleben dabei etwas anderes: die Wiederholung des Gefühls der existenziellen Bedrohtheit, der Entwürdigung und Negation, der hilflosen Wut oder auch des Hasses und der oft übernommenen Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit angesichts der unvorstellbaren Leiden (vgl. Bergmann et al. 1995; Rosenthal 1997, S. 35–283; Fonagy 2003). Die Kinder der Täter/innen jedoch sind die Erben einer tatenlos erworbenen Schuld von unfassbarem, Sinn zerstörendem Ausmaß.

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Spuren des Grauens Über Kriegserlebnisse der Väter und ihre Schatten auf die Nachkriegsgeneration Ruth Waldeck

In der »Schweigezone des Privaten« Endlich ist er wieder da! Familie und Freunde richten deshalb ein Fest aus, im sommerlichen Garten wird der Grill angeworfen. Plötzlich stürzt der Heimgekehrte davon und übergibt sich in die Blumenrabatten. Mit solchen und ähnlichen Szenen versuchen Fernsehfilme uns heute verständlich zu machen, was eine Kriegstraumatisierung ist: Der Geruch des Grillfleisches hatte in dem jungen Soldaten die Erinnerung an den verbrennenden Leib seines Freundes und Kameraden aufflammen lassen, der bei einem Bombenanschlag in Afghanistan ums Leben gekommen war. Die Verstörung des jungen Mannes in diesem ARD-Film (Willkommen zu Hause, SWR 2009) wird immer offensichtlicher und für seine Angehörigen unerträglicher, sodass er eine stationäre Traumabehandlung erhält, die ihm ermöglichen soll, das Erlebte zu verarbeiten. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg standen in Deutschland den heimgekehrten Soldaten für ihre seelischen Belastungen solche psychotherapeutischen Angebote nicht zur Verfügung. Auch das Konzept des Traumas fand zu jener Zeit keine Anwendung. Öffentliche Angebote, über die Schuld als Teilnehmer an einem verbrecherischen Krieg und an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu sprechen, wie auch über die grauenvollen Bilder, die das Kriegen und Morden ihnen eingebrannt hatte, gab es praktisch nicht. »Die Kriegsgeschichten blieben vorerst in der Schweigezone des Privaten unserer Väter«, schreibt Lethen (2010, S. 176) über die Nachkriegszeit. Dennoch trugen diese Männer das Grauen in sich und mussten auf jeweils eigene Weise damit umgehen. Als Väter versuchten sie es meist vor ihren Angehörigen, Frauen und Kindern, zu verbergen. »Junge, wer viel vom Krieg erzählt, hat wenig erlebt. Wer wirklich Schlimmes erlebt hat, hält den Mund« – so zitiert ein Bundeswehrsoldat seinen Großonkel (Schindler 2010, S. 105). Das Grauen des Zweiten Weltkriegs scheint bis heute kaum thematisierbar. Die Entwicklung des Begriffs von der »vaterlosen Gesellschaft« hin zu einem Schlagwort könnte auch ein 225 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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kollektiver Versuch gewesen sein, die Allgegenwart des Grauens in den Nachkriegsjahrzehnten zu beschwichtigen. Denn ganz gleich, ob die Väter gar nicht aus dem Krieg zurückkehrten oder ob sie zwar physisch wieder anwesend waren, psychisch aber nicht mehr präsent sein konnten, für die Nachkriegsgeneration war mit ihren Vätern, toten und lebenden, ungesagt und ungreifbar auch das Grauen des Krieges in der Familie anwesend und prägte in verschiedener Weise die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Sexualität und Generativität, vom Selbstverständnis in der Welt insgesamt. Und je weniger die Kriegserfahrungen bewusst werden konnten, desto mehr wurden sie unbewusst agiert. In den letzten Jahren war ich aus verschiedenen Anlässen mit den Spuren des Kriegserlebens der Vätergeneration befasst. Zum einen wurde mein Vater gebrechlich, und es ging für mich darum, sein Vermächtnis zu sichern und letzte Fragen zu klären. Zum anderen erkrankte ein guter Freund an Krebs und starb schließlich daran. Er war in den letzten Lebensjahren ebenfalls intensiv mit der Geschichte seines Vaters und deren Auswirkungen auf ihn befasst. Den Dialog über unsere Vatererfahrungen, den ich mit ihm nicht mehr führen konnte, versuche ich hier aufzunehmen. Denn in unser beider Leben ist, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, die Kriegserfahrung unserer Väter eingeschrieben. Unsere Väter und Vater-Beziehungen sind zwar denkbar verschieden, dennoch sehe ich Überschneidungen, und diese beziehen sich auf das, was sie im Krieg erlebt haben und was ihnen unsagbar war, sodass wir als Kinder, auch als längst erwachsene, viel mit dem Bemühen befasst waren, das Unsagbare aufzuspüren und zu begreifen. Da es bei dem Unsagbaren auch um Grauenhaftes geht, kann und will ich dies nicht nur in wissenschaftlich distanzierter Sprache abhandeln. Es geht mir nicht darum, »Wissen über Gefühle« auszubreiten, ich möchte deutlich machen, was »gefühltes Wissen« bewirken kann (Powers 2006, S. 158). Es reicht also nicht, über das Grauen zu sprechen, es ist mir wichtig, das Grauen zum Sprechen zu bringen. Also erzähle ich zunächst einfach davon. Und ich erzähle sehr Persönliches. Denn anders als ganz privat ist dem Grauen, eben weil es als »nur« persönlich und scham- und schuldbehaftet empfunden wurde, nicht näherzukommen. Ich gehe also weiter von der alten These aus, dass das Private politisch ist. Oder genauer: dass politisch Brisantes oft als angeblich Privates zum Schweigen gebracht wird.

Eine Frage an meinen Vater Eine Frage möchte ich meinem Vater noch stellen. Aber ich habe Angst vor der Antwort. Das wird mir bewusst, als ich im März 2007 im Zug sitze und bei der vierstündigen Bahnfahrt Zeit zum Nachdenken habe. Wieder mal ist mein Vater wegen akuter Beschwerden ins Krankenhaus gekommen. Er ist 88 Jahre alt, krebskrank seit Längerem. Ich weiß also nicht, ob ich ihn noch lebend antreffe. 226 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Spuren des Grauens

Die Frage betrifft ein Ereignis aus seiner Kriegszeit. Mein Vater hat immer wieder über seine Erlebnisse während des Krieges gesprochen, im Alter auch zunehmend offener und ehrlicher. In Bezug auf eine dieser Geschichten bin ich mir aber immer noch nicht sicher, ob ich die ganze Wahrheit kenne. Und zwar war mein Vater 1944 als Rekrutenausbilder in Epinal stationiert. Da sei es zweimal vorgekommen, dass Franzosen als Partisanen gefangengenommen wurden und am nächsten Morgen erschossen wurden. Die Erschießung sollte mein Vater mit seinen Rekruten ausführen. Aber beide Male sei zufällig irgendein höherer Militär zu Besuch erschienen, der sich gern die Ehre antragen ließ, die Erschießung zu befehligen. Mein Vater, ein frommer Mann, beschloss die Erzählung darüber dann immer wieder mit einem Lob auf die Gnade Gottes, die ihn davor bewahrt habe, töten zu müssen. Jetzt, auf der Zugfahrt zu meinem sterbenskranken Vater, frage ich mich, ob das die ganze Wahrheit ist. Hat er wirklich zweimal solches Glück gehabt? Hat er nicht zumindest daneben stehen müssen, ist er nicht Zeuge der Erschießungen gewesen? Und wie ist er wohl danach mit seinen Rekruten umgegangen, mit jungen Menschen, die gerade zum ersten Mal jemanden getötet hatten? Ein Gespräch dazu ist mir schon gar nicht mehr denkbar. Die Frage wäre also: »Hast Du damals in Epinal wirklich nie eine Erschießung befehligt?« Vielleicht, denke ich, wäre es für ihn eine Erleichterung, eine bisher immer geleugnete Schuld und eine zugleich verstörende Erfahrung noch benennen zu können, die er sein Leben lang allein mit sich herumgetragen hat. Und ich würde auch gern eine Antwort haben, weil ich mir soviel Klarheit wie möglich wünsche in Bezug auf den Menschen, der mein Vater ist und von dem ich mich nun verabschieden muss. Meine Zweifel, ob ich die ganze Wahrheit kenne, begründen sich in anderen Geschichten, die mein Vater erzählt hatte und deren zurückgehaltene, grausamere Wahrheiten erst allmählich zu Tage kamen, je mehr ich mich bereit zeigte, seine Erlebnisse anzuhören und auszuhalten. Das betraf vor allem seine Zeit in Lettland, von der ich ihn schon als Kind erzählen hörte. Mein Vater war 1942 als Rekrutenausbilder nach Libau gekommen. Wie überall, wo er stationiert war, hatte er gleich nach einem christlichen Jugendkreis gesucht, in dem er sich zugehörig fühlen konnte. An seinen freien Sonntagen radelte er also in ein Dorf außerhalb Libaus, nahm an den Andachten und Geselligkeiten der Gruppe teil. Er hatte, damals 24-jährig, vielleicht auch ganz zart mit einer von drei Apothekerstöchtern angebändelt. Darüber sprach er nie konkret. Es gibt aber Fotos, die ihn, stolz auf seine schmucke Marineuniform, im fröhlichen Kreis dieser lettischen Gemeinde zeigen. Wenn er dann die Rückkehr von diesen Ausflügen beschrieb, stockte ihm jedesmal die Stimme unter Tränen: Von dem Dorf hinab zur Kaserne im Kriegshafen von Libau kam ihm der Wind vom Meer entgegen, und dieser Wind trug den Verwesungsgeruch aus dem Massengrab mit sich, das in den Dünen nördlich der Kasernen lag. Manchmal erzählte er auch, dass die Rekruten, die er dort übernahm, berichtet hätten, sie seien von den vorherigen 227 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ausbildern bei ihren Übungen über dies Massengrab gescheucht worden – und es habe sich angefühlt, wie über Matratzen zu laufen. Auch wenn mein Vater davon sprach, kamen ihm die Tränen. Während ich diese Geschichten schon als Kind gehört hatte, erzählte er später noch Grausameres: Ein Pfarrer, der schon während der Ermordung der Libauer Juden als Soldat dort stationiert war, hatte meinem Vater von der Nacht nach dem Pogrom erzählt. Als der Pfarrer nachts Wachdienst hatte, sei am Zaun der Kaserne ein nacktes, blutverschmiertes Mädchen aufgetaucht … Nein, darüber, was die Soldaten mit dem Mädchen gemacht hätten, wisse er nichts, der Pfarrer habe ihm nur dieses Bild beschrieben. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bat mein Vater mich, ihn auf eine Reise nach Lettland zu begleiten. Er hatte all die Jahre brieflichen Kontakt zu einer der Apothekerstöchter gehalten und wollte nun einige der alten Freunde noch einmal besuchen. Ich ging erstmal in die Bibliothek, um zu recherchieren, wann die Libauer Juden ermordet worden waren. Das Massaker hatte 1941 stattgefunden. Gleich nach der Besetzung hatten die deutschen Truppen dort dreitausend Juden ermordet und in jenem Massengrab in den Dünen verscharrt. Wie beiläufig fragte ich dann meinen Vater nochmals, wann genau er nach Libau versetzt worden war. 1942 sei das gewesen. Ich wollte sicher gehen, dass ich, wenn ich mit ihm nach Libau führe, dort nicht mit Eingeständnissen konfrontiert würde, die ich selbst so schnell nicht verkraften könnte. Denn dass mein Vater bei seinen Erzählungen nicht immer gleich alles gesagt hatte, war mir einige Jahre zuvor an der Geschichte mit Ravensbrück schon deutlich geworden. Auch von Ravensbrück hatte er früher immer wieder erzählt: Ende April 1945 war er mit dem Rest seiner schon in Auflösung geratenen Truppe in Brandenburg unterwegs, als sie in einem Lager einquartiert wurden, dessen Bedeutung er nicht kannte. Er meinte, es sei wohl irgendein Ausbildungslager einer nationalsozialistischen Frauenorganisation gewesen, die Stuben waren reinlich, die Betten ordentlich gemacht und auf dem Tisch stand noch ein üppiges Essen. Das Lager war demnach fluchtartig verlassen worden. Am anderen Morgen sei auch mein Vater mit seinen Kameraden weiter nach Westen gezogen. Was Ravensbrück für ein Lager war, habe er erst später begriffen, damals hätte er nichts davon gesehen, dass es ein Konzentrations- und Vernichtungslager war. Soweit hatte ich die Geschichte des Öfteren gehört. An einem Frühlingstag 1990 war mein Vater zu einer Konferenz in Frankfurt angereist, wir trafen uns in meiner Mittagspause kurz im Bahnhofsrestaurant und plauderten ein wenig. Als die Zeit drängte, musste er doch noch etwas ansprechen: Heute sei ja der 45. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück. Da sei er an seinen Aufenthalt dort erinnert. Wieder hob er hervor, dass er nur in dem Bereich gewesen sei, in dem das Lagerpersonal gewohnt hatte, vom KZ selbst habe er nichts gesehen. Allerdings seien einige seiner Kameraden wohl im Gelände 228 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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unterwegs gewesen. Einer sei völlig erschüttert zu meinem Vater gekommen und habe ihm erzählt, dass er in einer Baracke einen Tabaksbeutel gesehen habe – aus einer Frauenbrust gefertigt. Ich bugsierte meinen alten, das Großstadtgewühl nicht mehr gewöhnten Vater zu seinem Zug. Er sagte gegen den Lärm an: »Davon habe ich Mutti nie was erzählt, aber Du sollst es wissen, Du kannst es vielleicht für Deine Wissenschaft gebrauchen …« Kurz darauf saß ich in der U-Bahn, zitternd und aufgelöst. Bis sich eine Erinnerung klar und deutlich einstellte: Ich war 14 und hatte gerade meinen ersten BH bekommen. Mein Vater kam von einer Dienstreise zurück, ich wartete irgendwie, dass mein Vater die Neuerung bemerkte und vielleicht einen anerkennenden Blick spendieren würde. Nichts dergleichen, er war sogar in der nächsten Zeit derart kalt mir gegenüber, dass ich das klagend und verstört meinem Tagebuch anvertraute. Jetzt, 1990, verstand ich schlagartig, was in meinem Vater gegenüber seiner pubertierenden Tochter vorgegangen war. Er hatte meine körperliche Entwicklung durchaus wahrgenommen, aber gerade das hatte an seine grauenvollen Erinnerungen gerührt und ihn, wohl ohne dass es ihm bewusst war, zu seinem kühlen Verhalten bewegt. Und ich musste an eine Bemerkung des Psychoanalytikers Sammy Speier denken: Dass die Kinder der Täter Fragen an die Eltern vermieden hätten, nicht aus Angst, »die Tür zum Elternschlafzimmer zu öffnen, deren ›Urszene‹ ansichtig zu werden, sondern eher die Angst davor, die Tür zu den Gaskammern zu öffnen« (Speier 1988, S. 19). In meiner Dissertation hatte ich diesen Gedanken aufgegriffen und vermutet, dass für meine Generation eine Tür zu beiden elterlichen Geheimnissen gleichzeitig führt, weil Sexuelles und Politisches verschmolzen sind (Waldeck 1992, S. 162). Wie konkret diese Verschmelzung sein konnte, hatte ich beim Schreiben der Dissertation nur ahnen können. Jetzt hatte ich in diesem Tabaksbeutel ein Bild dafür: Wie mag ein Mann, der das Bild eines Tabaksbeutels, aus einer Frauenbrust gefertigt, in sich trug, der als verliebter junger Mann Verwesung roch und sich die nackten Leiber im Massengrab vorstellen konnte, die körperliche Liebe mit seiner Frau erlebt haben? Es mag sein, dass mein Vater, der meine Dissertation gelesen hatte, durch meine fragendahnenden Überlegungen ermutigt wurde, mir von seinem Erleben in Ravensbrück zu erzählen und damit die Tür zu sprachlos übermittelten Erfahrungen ein wenig zu öffnen. Ich war also auf einiges gefasst, als ich zu Pfingsten 1993 mit meinem Vater nach Lettland fuhr. Zugleich war ich ihm aber auch dankbar, dass er mich an seiner Geschichte und, soweit ihm das möglich war, auch deren Aufarbeitung teilhaben lassen wollte. Ich war also auch neugierig auf diese Reise. Marta, eine der Apothekerstöchter, hatte uns eingeladen, bei ihr und ihrem Mann Ilmars zu wohnen. Marta sprach gut deutsch, Ilmars gar nicht, aber er nahm geduldig an allem teil. Mein Vater ging ganz in seinen Erinnerungen auf, er redete eifrig vom »Kriech« und vom »Kriechshafen«, auf dessen Besichtigung er sich besonders freute. Mir wurde sein Eifer immer 229 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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unangenehmer, ich empfand Widerwillen gegen meinen Vater und fragte mich im Stillen, wie unsere Gastgeber einen Deutschen empfinden, der plötzlich so ergriffen und unreflektiert an die Vergangenheit rührt. Auf Wunsch meines Vaters fuhren wir hinaus zu den Dünen, in denen das Massengrab lag. Unsere lettischen Gastgeber waren nie dort gewesen, ihnen war unbehaglich. Sie wussten, dass unten am Strand Menschen unter Plastikplanen hausten, Menschen, die darauf warteten, dass das Meer das Massengrab ausspülte, sodass sie nach Zahngold suchen konnten. Wir liefen nur ein Stück Weges an einem Kiefernwäldchen entlang. Mein Vater war betroffen, dass dort keinerlei Hinweis oder Gedenkstein zu finden war. Dann ging es zum Kriegshafen, den die russischen Truppen erst einige Monate zuvor verlassen hatten. Mein Vater suchte und fand die Kasernen, in denen er als Marinesoldat »gelegen« hatte. Für ihn war die Zeit in dieser Kaserne – ich mag es kaum sagen, weil es den Gräueln umher so entgegensteht – mit sehr bereichernden und sein Leben verändernden Erfahrungen verbunden. Mein Vater hatte nach acht Jahren Volksschule eine Lehre als Schriftsetzer absolviert und bis zu seiner Einberufung 1939 in diesem Beruf gearbeitet. Nun lernte er jenen Pfarrer kennen, der ihm neue Horizonte eröffnete, indem er ihm die Philosophie nahebrachte, ihm ReclamAusgaben von Nietzsches Zarathustra, Platon und Sokrates überließ, die mein Vater mit vielen Anstreichungen versah und sorgsam verwahrt hat. Mein Vater lief also die kopfsteingepflasterte Straße zwischen den Kasernen entlang, war völlig in die Vergangenheit eingetaucht. Ilmars und unser Chauffeur begleiteten ihn ein paar Schritte zurück. Ich war mit Marta im Auto sitzen geblieben, mir war mein Vater in diesem Moment zu abstoßend. Ich fragte Marta, wie sie es empfindet, wenn ein ehemaliger deutscher Soldat derart massiv mit der Vergangenheit hereinbricht. Marta sagte, sie könne das schon verstehen, aber – sie nahm meine Hand – sie wolle mir etwas sagen, was ich nie meinem Vater erzählen dürfe. Ich versprach es ihr. Sie erzählte daraufhin, dass Ilmars als 18-Jähriger miterlebt hatte, wie sein Vater beim Überfall der deutschen Truppen von SS-Männern auf seinem Hof erschossen worden war. Beim Abendbrot schwelgte mein Vater weiter in der »Kriechszeit«, es war mir unerträglich, und ich war froh, als die Reise zu Ende ging. Als wir nach den anstrengenden Tagen wieder im Warteraum des Rigaer Flughafens saßen, begann mein Vater unvermittelt über »Zigeuner« zu reden, dieses »Gesindel«, das hier eigentlich nicht hingehöre. Ich machte mir klar, dass eben am Flughafen einige bettelnde Roma um uns waren. Und erschrak darüber, dass bei meinem Vater, kaum dass er erschöpft war, der Firnis der Toleranz abblätterte und vorurteilsgeladener Abscheu gegen Fremde zum Vorschein kam. Ich war nahe dran, ihn damit aufzurütteln, dass er gerade bei einem Mann zu Gast war, dessen Vater von Deutschen erschossen wurde, der aber dennoch nicht alle Deutschen hasst. Ich habe mich zusammengenommen und Marta gegenüber Wort gehalten. Mein Vater hat Ilmars’ Geschichte nie erfahren. 230 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Meinem Vater hatte der fehlende Gedenkstein keine Ruhe gelassen, er nahm Briefkontakt mit einer jüdischen Gedenkstätte in Riga auf. Während eines Besuchs bei meinen Eltern zeigte mein Vater mir einen Brief: Der Leiter der Gedenkstätte hatte ihm geantwortet, dass es doch einen kleinen Gedenkstein gebe, der aber tiefer im Kiefernwald liege. Und wieder fing mein Vater an, von den Rekruten zu erzählen, die über das Massengrab laufen mussten, wieder kamen ihm die Tränen. Da begriff ich, was ihn quälte. Ich sah an ihm vorbei und fragte: »Bist Du auch darüber gelaufen?« Auch er sah mich nicht an, aber aus den Augenwinkeln sah ich ihn nicken. Und im selben Moment wusste ich, dass ich eine andere Frage gar nicht mehr stellen musste: Von dem Tabaksbeutel hatte er nicht nur reden gehört, er hatte ihn selbst in der Hand gehalten. All diese Erlebnisse mit meinem Vater gehen mir durch den Kopf, während ich im Zug sitze, um ihn im Krankenhaus aufzusuchen. Was wäre, wenn er auch wegen der Erschießungen der Franzosen in Epinal bisher nicht die Wahrheit gesagt hätte? Würde es ihn als Sterbenskranken erleichtern, die ganze Wahrheit aussprechen zu können? Und wollte ich das wirklich wissen? Will ich in die Situation kommen, einen unter Tränen zusammenbrechenden Vater halten und trösten zu müssen, der mir gerade gestanden hat, doch selbst Menschen getötet zu haben? Reicht mir nicht die Ahnung, wie so eine Erschießung vor sich geht? Die Vorstellung, dass mein Vater vielleicht Augenzeuge war, wie Menschen erschossen wurden, dass er danach womöglich mit seinen Rekruten, die gerade getötet hatten, wortlos zur Tagesordnung überging? Nach drei Tagen im Krankenhaus hat mein Vater sich etwas erholt. Er sitzt auf der Bettkante, die Beine baumeln in den Thrombosestrümpfen herab, er isst, sogar mit Appetit, sein Abendbrot. Wir haben einen schweren Tag hinter uns, sind Absatz für Absatz die Patientenverfügung durchgegangen, er hat sie endlich unterschreiben können. Dann hatte er sich erschöpft zurückgelegt und geseufzt: »Ach, Sterben ist doch schwer!« Nun ist es ruhig, der Bettnachbar ist auf den Flur gegangen. Ich fasse all meinen Mut zusammen und frage: »Gibt es noch irgendetwas, was Du mir sagen möchtest, was Dich noch bedrückt?« Er schüttelt langsam den Kopf, lauschend, als warte er auf eine weitere Frage. Ich sage also: »Damals in Epinal, das wüsste ich noch gern, war es wirklich so, dass Du nie eine Erschießung befehlen musstest?« Er schüttelt wieder den Kopf, aber heftiger, fast unwillig. Es kann bedeuten: Darüber will ich auch jetzt nicht sprechen! Viel eher aber fühlt es sich so an, als wolle er sagen: Du suchst an der falschen Stelle! Das ist nicht die richtige Frage! Die Krankenschwester kommt, räumt das Tablett ab und möchte meinen Vater zur Nacht zurechtmachen. Der Bettnachbar schaltet die Nachrichten ein. Vier Wochen später, im April 2007, ist mein Vater gestorben. Meine Schwester und ich sitzen mit seiner Gemeindepfarrerin zusammen und sprechen über sein Leben, auch über dessen dunkle Momente. Die Pfarrerin erwähnt, dass mein Vater schon vor einigen Jahren eine Art Lebensbeichte abgelegt habe. Es steht mir nicht zu, sie zu fragen, was er als Schuld bekannt hat, nicht einmal, ob es mit seiner Kriegszeit zu 231 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Ruth Waldeck

tun hat. Im Nachlass finden wir die Militärpässe seines Großvaters – von 1870/71 – und seines Vaters – von 1914/18. Von unserm Vater nur die Entlassungspapiere aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft vom Mai 1945 und den Entnazifizierungsbeleg. Aus seiner Militärzeit hat er sämtliche Unterlagen vernichtet, die seine Einsatzorte und seine Aufgaben nachvollziehbar machen könnten. Nur einen Brief eines reformierten Pfarrers aus Epinal hat er aufgehoben, den er dort damals wohl des Öfteren aufgesucht hatte und dem er 1946 ein Lebenszeichen geschickt hatte. Der Pfarrer dankt dafür, auch er und seine Familie hätten überlebt. Nun sei er, schreibt der Pfarrer weiter, als Seelsorger auch für deutsche Kriegsgefangene zuständig, die sich eifrig bekehren, selbst Angehörige der SS seien darunter. Und damit begann dann die Nachkriegszeit: Allenthalben wurden, so gut es ging, die Spuren verwischt.

Hanjos Vatersuche Es ist Januar 2007. Hanjo liegt im Krankenhaus, er hat plötzlich Krebs bekommen und ist operiert worden. Als ich ihn besuche, ist er schon wieder lebhaft wie gewohnt und hat viel zu erzählen. Wir hatten uns monatelang nicht gesprochen, er war wieder lange in Umbrien gewesen, wo er ein Haus hat und immer wieder auch arbeitet. Anfang der 80er Jahre hatte Hanjo sich dieses Leben in Italien gewählt. Wie viele Andere aus der Frankfurter Sponti-Szene auch, suchte er nach neuen Möglichkeiten. Ich hatte ihn in den 70ern in einer Wohngemeinschaft kennengelernt, seitdem sahen wir uns hin und wieder. Mich verband mit ihm, dass er aus einer öden Ecke Ostwestfalens kam, in der auch ich einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte. Eine Zeit lang nahmen wir auch beide an einer ethnopsychoanalytischen Arbeitsgruppe teil. In seinem Haus in Umbrien besuchte ich ihn dann gern in den Sommerferien. Oft waren viele Gäste dort und es gab lebhafte Diskussionen über Politik, Kultur und Geschichte. Im Winter war sein Leben einsamer, er schrieb von den Katzen und den erfrorenen Olivenbäumen, dann wieder von der Mandelblüte und dem kommenden Frühling. Einmal erzählte er in einem Brief, dass er einen Dachdecker gebraucht hatte, mit dem er, wie in Italien üblich, nach der Arbeit noch ein Gläschen getrunken hatte. Dabei seien sie auf den Krieg zu sprechen gekommen. Der Dachdecker sei als 18-Jähriger »irgendwo zwischen Bologna und Ravenna eingegraben gewesen, auf der Seite der Deutschen. Irgendwo in (Nord-!?)Italien steckte zu der Zeit auch mein Vater. Booh!« (06.03.1985) Es scheint, dass Hanjo damals bewusst wurde, dass er mit seinem Leben in Italien auf die Spuren seines Vaters geraten war. Das war nicht ungewöhnlich, es gab viele in unserer Generation, die immer nach Griechenland in Urlaub fuhren, andere, die in Frankreich ein Häuschen ausbauten oder noch andere, die für Wüstentouren im VW-Bus schwärmten, und denen irgendwann bewusst wurde, dass ihre Väter genau dort im Krieg gewesen waren. 232 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Spuren des Grauens

Hanjo hatte seinen Vater kaum gekannt, denn der hatte die Familie, Frau und zwei Kinder, in den 50er Jahren verlassen und anderswo eine neue Familie gegründet. Erst nach der Wende, Anfang der 90er Jahre, taten sich überraschend neue Spuren seines Vaters auf. Hanjo bekam einen Anruf aus Ostdeutschland: Hier sei Hanjo, er sei ein Halbbruder und er sei nur drei Monate älter. Hanjo war ziemlich verstört durch diese Eröffnung: Sein Vater hatte also kurz nach Kriegsende in Ostdeutschland mit einer Frau ein Kind gezeugt und dieser Frau noch klargemacht, dass das Kind – wenn es ein Sohn würde – Hanjo heißen solle. Dann war er zu seiner Ehefrau zurückgekehrt und hatte auch mit ihr ein Kind gezeugt, das Hanjo getauft wurde. Zu erfahren, dass der Vater nicht erst nach der Trennung von der Familie, sondern schon während der Ehe untreu war, ist schon eine Erschütterung, auch noch für einen längst erwachsenen Mann. Hinzu kam aber noch die Namensgleichheit, und Hanjo konnte es nicht ertragen, der zweite zu sein, gewissermaßen eine Kopie des ersten Hanjo. Es dauerte dann auch Jahre, ehe Hanjo sich wieder auf Spurensuche machen konnte. Als er im Krankenhaus lag, erzählte er mir, was er in den Monaten vor seiner Krebserkrankung herausgefunden hatte. Von irgend jemandem aus der Verwandtschaft hatte er gehört, dass der Vater im Krieg einen guten Freund hatte, der aber in Italien umgekommen sei – und dieser Freund habe Hans-Joachim geheißen. Hans-Joachim, der Taufname Hanjos und der Taufname seines Halbbruders in Ostdeutschland. Hanjo erzählte das alles lebhaft gestikulierend wie immer, die Schläuche und Kanülen hinderten ihn nicht daran: »Verstehst Du, was das heißt?!? Da hat mein Vater einen Freund verloren und produziert gleich danach zwei Sicherheitskopien?!?« Hanjo wollte die Geschichte aufschreiben. Er kam nicht mehr dazu, der Krebs hat ihn nicht mehr losgelassen. Im Nachlass finden wir ganze Aktenordner mit kopierten Materialien aus der Zeit und den Regionen, wo der Vater und sein Freund im Einsatz waren. Wehrmachtsberichte, veröffentlichte Kriegstagebücher deutscher und amerikanischer Soldaten, Sachbuchauszüge über den Krieg in Italien und Dokumente über Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Was hat Hanjo in diesen Kriegsdokumenten gesucht, die er nach seiner Krebsoperation wie besessen durchgeackert haben muss? Wollte er herausfinden, ob sein Vater an Kriegsverbrechen beteiligt war? Dazu hat er keine Hinweise gefunden. Wollte er nachvollziehen können, wo und wie sein Namensgeber starb? David Grossmann schildert in seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht (2009, S. 640) eine solche Szene, in der ein sterbender Soldat seinen Freund bittet, sein Kind nach ihm zu benennen. Hanjo kannte den Nachnamen des Freundes nicht, aber er hat sich ganze Listen von gefallenen »Hans-Joachims« von der Kriegsgräberfürsorge schicken lassen. Suchte er nach Belegen für die enge Freundschaft des Vaters mit jenem Hanjo? Wollte er vielleicht nur begreifen können, dass der Vater – wie Hanjo einmal andeutete – im Grunde nur einen Menschen geliebt hatte: Seinen Freund und Kriegskameraden? 233 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die Anstreichungen in den Kopien sind kaum mit Anmerkungen versehen, die Exzerpte sind durchgängig sachlich. Ab und zu tauchen dicke Rufzeichen auf, wenn die Einheit seines Vaters in der Nähe des umbrischen Ortes stationiert war, wo Hanjo lebte. Die Spuren, die er schon Anfang der 80er geahnt hatte, konkretisierten sich also. Sein akribischer Abgleich der Front- und Kampfverläufe mit den Einsatzorten der Wehrmachtseinheit seines Vaters und dem Sterbedatum eines Hans-Joachim, in dem er den Freund vermutete, führt schließlich zu einer kurzen persönlichen Bemerkung: »Das heißt, dass der Hanjo am 26. ›nur‹ bei einem Scharmützel, Kleinkampf gefallen wäre!?« Hanjo war sicher nicht darauf aus, seinen Namensgeber als Gefallenen einer »großen« Schlacht würdigen zu können. Es klingt eher so, als sei ihm die Sinnlosigkeit des Krieges umso bewusster geworden. Was mag Hanjo gedacht und empfunden haben, wenn er sich den Vater angesichts des Todes seines Freundes vorstellte? Über seine Gedanken und Gefühle beim Durcharbeiten der Unmengen von Kriegsschilderungen hat er keine Notizen hinterlassen.

Die weiße Katze Hanjos Geschichte mit seinem Vater ist eine völlig andere als meine mit meinem Vater. Hanjos Vater hat seinen Sohn gänzlich allein damit gelassen, Spuren aufzudecken, während mein Vater, wofür ich ihm dankbar bin, bereit war, mir manches selbst zu entdecken. Und doch denke ich, dass es einen verborgenen Schnittpunkt beider Geschichten gibt: Ein Erlebnis, das Hanjo und ich teilten und das vom Grauen handelt. Einmal war ich wieder im Sommer in seinem Haus in Umbrien, 1987 könnte es gewesen sein. Es waren sonst keine Gäste da, wir arbeiteten in Ruhe an unseren Dissertationen. Es war immer sehr schön, im Schatten der Weinlaube mit dem weiten Blick ins Tal an einem Tischchen zu sitzen und die Gedanken fliegen zu lassen, bis sie sich ordneten und aufzuschreiben waren. Da kam ein Auto zum Haus gefahren, ein junger Italiener stieg mit einem etwas unangenehmen Grinsen aus und holte ein Gewehr aus dem Kofferraum. Ach, sagte Hanjo, da sei ja der Jäger, den habe er bestellt, weil die Katzen überhand nähmen. Das gefiel mir gar nicht, aber, so dachte ich, das Landleben ist nun einmal hart. Und es stimmte, dass zu viele Katzen ums Haus waren. Hanjo hatte wohl die Gelegenheit verpasst, die neugeborenen Katzen gleich zu ertränken. Mir wurde dabei klar, was eben auch zu den Aufgaben meines Gastgebers gehört und was wir ihm als Gäste zumuten, die sich natürlich über ein paar nette Kätzchen immer freuen. Ich hätte keine Katzen töten können, nahm es aber als selbstverständlich, dass er es tun musste. Nun also kam der Jäger. Ich drehte den Männern den Rücken zu, sie verschwanden im Gelände, hin und wieder fiel ein Schuss, Hanjo holte den Spaten. Schließlich kamen sie zurück, Hanjo reinigte den 234 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Spuren des Grauens

Spaten, dann tranken sie noch ein Gläschen, schwatzten und bedauerten nebenbei, dass ihnen die weiße Katze, die zugegeben keine Schönheit war, entwischt sei. Am nächsten Tag fuhr Hanjo für ein paar Tage weg. Ich genoss die Ruhe, war ganz vertieft in meine Arbeit. Eines Mittags plötzlich zischen zwei Katzen am Haus entlang, verschreckt, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen. Ich schaue auf und sehe die weiße Katze den Weg heraufkommen, sie schleppt sich näher, mit ihrem Gesicht – allmählich fange ich an es zu begreifen – stimmt etwas nicht: Links ist keine Schnauze mehr, nur ein schwarzes Loch! Ich bin starr vor Grauen, wende mich ab. Es dauert, bis ich mich soweit gefasst habe, dass ich mich zögerlich umschauen kann, ob sie noch da ist. Ja: Sie ist vor den Futternäpfen niedergesunken. Es ist Mittag, es ist heiß, die Näpfe sind leer. Es dauert wieder, bis ich mit zitternden Knien in die Küche gehe, Milch und Wasser anrühre und, innerlich flehend, dass die Katze nicht aufschauen möge, das Gemisch in den Napf gieße. Sie schaut auch nicht hoch, sie reckt nur den Kopf über den Napf. Die Milch schwimmt sofort voller Maden. Den Rest des Tages verbringe ich, unfähig zu einem klaren Gedanken, mit angezogenen Beinen auf der Gartenbank, immer in Angst, die weiße Katze könnte mir plötzlich um die Beine streichen. Abends sehe ich dann aus den Augenwinkeln, wie sie in ein Kellerfenster springt. Das löst mich aus meiner Erstarrung. Sofort renne ich wie besessen los, sammle irgendwelche Bretter und verbarrikadiere das Fenster, als könne ich damit den Teufel bannen. Am nächsten Tag kommt Hanjo zurück. Ich verlange, dass er sofort den Jäger noch einmal bestellt, damit der seine Arbeit zu Ende bringen kann. Der Jäger ist auch bald da, im Keller fällt ein Schuss. Als der Jäger abgefahren ist und Hanjo den Spaten zurückstellt, sagt er: Es sei eigentlich schon gar nicht mehr nötig gewesen. In seinem Gesicht sehe ich, dass er das Grauen mit mir teilt. Wir haben nie miteinander über diese Katzengeschichte gesprochen. Ich habe auch keine Arbeitswochen mehr dort im Haus verbracht. Warum war es uns nicht möglich, über dieses Erlebnis miteinander zu reden? Das Sprechen darüber hätte uns doch einiges bewusst machen können zu dem, was uns jeweils beschäftigte. Hanjo sammelte damals Geschichten der Bauern um ihn herum, auch über die Kriegszeit (Diekmann 1991, S. 94 u. S. 244ff.), und hat sich vielleicht auch gefragt, ob dieser oder jener Deutsche, den die Bauern erwähnten, sein Vater gewesen sein könnte. Ich schrieb an meiner Dissertation über das Erbe, das meine Generation von den Müttern übernommen hat, war auf der Suche nach Gefühlen und Vorstellungen, die sich aus ihrem Erleben in Nationalsozialismus und Krieg an uns Töchter tradiert hatten. Hanjo und ich waren also auf Spurensuche. Aber das Grauen, das uns durch die weiße Katze angefallen hatte, überforderte wohl unser beider Fassungsvermögen, also unsere zum Schutz entwickelte Abwehr. Wir blieben starr und stumm und verloren den Kontakt. Es hat bei uns beiden noch eine Zeit gedauert und uns Mühe und Überwindung gekostet, den Spuren nachzugehen und die Einsichten zu verkraften, die sie ermöglichten. Für mich begann die Annäherung an die grauenhaften Erbschaften meines Vaters mit 235 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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seiner Erzählung über Ravensbrück. Es war nicht leicht, aber letztlich doch befreiend, zu begreifen, dass und wie die eigene Leiblichkeit mit dem Grauen behaftet war, das mein Vater erlebt hat. Für Hanjo muss es furchtbar gewesen sein, mit fast 60 Jahren zu entdecken, dass er auch – in Hanjos Sicht vielleicht sogar: nur – deshalb in der Welt ist, weil in ihm ein toter Freund des Vaters weiterleben sollte. Hanjo war in Italien zwar auch auf den Spuren des neugierigen, weltoffenen und – vielleicht einst dem Freund gegenüber – liebesfähigen Vaters, aber etwas von den guten Seiten zu entdecken war nur um den Preis möglich, auch Grauen und Schuld wiederzubeleben. Das Bewusstsein dessen, dass der idyllische Ort, den Hanjo sich ausgesucht hatte, vom Grauen des Krieges unterlegt war, muss sich langsam eingeschlichen haben, begonnen hatte es vielleicht bei dem Gespräch mit dem Dachdecker, der an den Krieg erinnerte. Auch sein Vater hat die Schönheit der Landschaft und den kulturellen Reichtum Italiens sicher wahrgenommen. Wie für viele Soldaten, so auch für meinen Vater, dürfte der Kriegseinsatz die erste Begegnung mit anderen Ländern gewesen sein, die erste weite »Reise«. Diese Entdeckung neuer Horizonte, die die Kriegsteilnahme für viele junge Soldaten auch bedeutete, war aber gebrochen durch die Schrecken und Gräuel, die sie Anderen antaten und selbst erlebten. Und dieses Grauen, das den Vätern unsagbar war, das sie aber als Bilder in sich trugen, das könnte uns eben doch in der weißen Katze aufgeschienen sein: Das Grauen zerfetzter Leiber und zerschossener Köpfe. In einem der Romane, die Hanjo zum Krieg in Italien gelesen hat, finden sich so lebhafte Anstreichungen wie nirgends sonst. Es ist der Bericht eines englischen Soldaten, der 20-jährig in die Kämpfe gerät und recht nüchtern, aber dennoch berührend sein Erleben schildert. »Plötzlich schrie einer auf – ein Schrei der Todesnot, Verlassenheit und Verzweiflung. Ein kurzer, gellender Schrei, so unirdisch in seinem Klang, dass ich ihn für eine Halluzination hielt […]. Ein zweiter Aufschrei folgte, langgezogener diesmal, und ein dritter, der allmählich in ein Schluchzen überging, und schließlich deutlich erkennbar: ›Darling, darling, oh darling, darling, darling …‹ jedesmal leiser, bis es zuletzt im Krachen einer neuen Gewehrgranate unterging« (Trevelyan 1959, S. 61f.).

»Todesschreie« hat Hanjo am Rand markiert. Einige Tage später sah der Erzähler einen Deutschen, »der gerade vor mir sorglos an einem ausgebrannten Fahrzeug lehnte. Meine nächsten Handlungen vollzogen sich ganz mechanisch. Ohne Zögern hob ich mein Gewehr, zielte und drückte ab. Offenbar hatte ich getroffen, denn der Mann sackte in die Knie und lag dann als gekrümmtes Häufchen regungslos da. Mein Tun befriedigte mich sehr; während des Zielens spürte ich lediglich pochende Erregung und Freude. Genaugenommen empfand ich ein ähnliches Gefühl wie daheim in Hart Wood, wenn ich mich an die schlafenden Tauben in den Rüstern am Waldrand anpirschte« (ebd., S. 77). 236 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Spuren des Grauens

»Töten« steht am Rand, sonst nichts. Einmal gerät der Soldat mit Kameraden auf eine Mine: »Sein Gesicht schien größtenteils weggerissen. Es gab keinen Zweifel, er war tot. Ich berührte den zweiten, der jetzt keinen Laut mehr von sich gab. […] Die ganze untere Körperhälfte war weg. Ich hielt den Kopf in meinen Händen, in dem es noch ein bisschen gurgelte […]« (ebd., S. 95).

Und ein paar Absätze weiter heißt es: »Ich habe solche Sehnsucht nach der Mutter. Ich habe sie noch nie so nötig gehabt« (ebd.). Der Erzähler zitiert aus dem Brief einer Freundin: »Ich weiß nicht, wie du mit all dem fertig wirst, Lieber. Du bist so behütet aufgewachsen« (ebd., S. 79). Und er reflektiert seine Veränderung im Krieg: »Ich durfte mir nicht erlauben, weich zu werden. Ich musste so gefühlsroh sein. Das einzige Reuegefühl verursachte mir, als alles vorüber war, die Erkenntnis, dass es mir sehr leicht fiel, gefühlsroh zu sein. In diesen letzten Tagen war etwas in mir vorgegangen und hatte mein Denken getrübt. Ich konnte so gleichgültig töten wie ein Roboter. Nur dass ein Roboter am Töten keine Freude hätte […]« (ebd.).

Wie Hanjo mit dieser Lektüre fertig wurde, weiß ich nicht, auch nicht, ob er mit Freunden darüber sprechen konnte. Vielleicht war er ganz allein damit, bis er starb und uns diese Wucht an Material hinterließ. Unsere, bei Hanjos Tod fast zwanzig Jahre zurückliegende Erfahrung mit der Katze zeigt jedenfalls, wie ein Erlebnis des Grauens uns verstummen ließ und zur Vermeidung des Kontakts führte. Wir haben damit etwas wiederholt, was in ganz anderem Ausmaß und mit ganz anderem Hintergrund auch das Verhalten unserer Eltern nach dem Krieg und dem Ende des Nationalsozialismus kennzeichnete.

»Wie du mit all dem fertig wirst …« – zum kollektiven Schweigen über Kriegserleben Im Deutschland der Nachkriegszeit war eine so differenzierte und introspektive, die eigenen Gefühle reflektierende Beschäftigung mit dem Grauen des Krieges kaum möglich, wie sie der englische Autor erkennen lässt. Die Historikerin Svenja Goltermann zeigt in ihrer 2009 erschienenen Studie Die Gesellschaft der Überlebenden, dass im Nachkriegsalltag die psychischen Verletzungen der ehemaligen Wehrmachtssoldaten kaum öffentlich artikuliert und wahrgenommen wurden, während die physischen Verletzungen in Gestalt der Kriegsversehrten und Gefangenschaftsheimkehrer doch 237 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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allgegenwärtig waren. Weder gab es öffentliche Angebote, die seelische Verwundung zu thematisieren, noch fanden die Betroffenen im privaten Bereich Worte dafür. Als Gründe dafür führt Goltermann zunächst die Angst vor Bestrafung und die Scham- und Schuldgefühle auf, die in der Bevölkerung seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und dem Offenbarwerden der Verbrechen virulent waren. Dann zeigt sie anhand ausführlicher Untersuchungen psychiatrischer Krankenakten ehemaliger Wehrmachtssoldaten und der psychiatrischen Diskurse der Nachkriegszeit, dass die Medizin wie schon nach dem Ersten Weltkrieg davon ausging, dass der Mensch Leid und Grauen schnell verarbeiten könne. Die psychiatrische Wissenschaft hielt lange an der Annahme fest, »dass psychische Leiden infolge extremer Gewalterfahrungen in der Regel auf eine anlagebedingte Schwäche und nicht auf das Erleben selbst zurückzuführen sei« (Goltermann 2009 , S. 346; vgl. auch Radebold 2009, S. 61). Wer also sein Leid nicht zügig allein bewältigen konnte, galt als Neurotiker, als jemand, der von der Konstitution her schwächlich war. Und da niemand als Schwächling gelten wollte, war diese verbreitete Ansicht ein weiterer Grund dafür, es schamhaft zu verbergen, wenn man mit den Kriegserlebnissen nicht fertig wurde. Die psychiatrische Lehrmeinung beeinflusste also nicht nur die Sozial- und Begutachtungspolitik der Nachkriegszeit, sondern auch »die öffentlichen Sagbarkeitsregeln über Gewalterfahrungen« (Goltermann 2009, S. 443). Als Historikerin sieht Goltermann bewusst »von einer Verwendung von TraumaKonzeptionen als Beschreibungs- und Analyseinstrument historischer Ereignisse« ab (ebd. , S. 20). Sie möchte die von ihr untersuchten Kriegsheimkehrer »in ihrer eigenen zeitgenösssischen Wahrnehmung und Deutungsweise der Ereignisse« begreifen (ebd.). Durch die Beschränkung auf damalige diagnostische und therapeutische Mittel wird die Sprachlosigkeit in Bezug auf Grauen und Gewalterfahrungen umso deutlicher spürbar. Psychiater und Patienten sitzen sich in dieser qualvollen Sprach- und Hilflosigkeit gegenüber, denn beide sind von den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges gleichermaßen betroffen, ohne sie verbalisieren zu können. In den 60er Jahren war die deutsche psychiatrische Wissenschaft gefordert, sich mit jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zu befassen und begann deshalb auch Trauma-Konzepte aufzugreifen. Die Anerkennung dessen, dass Verfolgung und Konzentrationslager bei den jüdischen Opfern lang anhaltendes seelisches Leiden verursacht hatte, bewirkte aber zunächst nicht, dass auch Kriegserlebnisse bei Soldaten und Zivilbevölkerung in Psychiatrie und Psychoanalyse unter traumatheoretischen Gesichtspunkten behandelt wurden. So stellte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung in ihrer Katamnesestudie aus dem Jahr 2000 fest, dass bei »unerwartet vielen ehemaligen Patienten […] ihre Lebens- und Leidensgeschichte in engem Zusammenhang mit den Traumatisierungen während des Zweiten Weltkriegs standen« (Leuzinger-Bohleber 2003, zit. n. Radebold 2009, S. 205). Das heißt, dass in der Behandlungszeit die historischen Hintergründe der Patienten nicht ausreichend 238 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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berücksichtigt wurden, weil sich die Psychoanalyse bis in die 90er Jahre vor allem mit der innerpsychischen Welt und kaum mit der zeitgeschichtlichen Erfahrung ihrer Patienten befasst hatte (Radebold, S. 205ff.). Noch im Jahr 2000 war deshalb die Erkenntnis, dass die realen Erlebnisse der Kriegszeit Spuren hinterlassen hatten, für die institutionalisierte deutsche Psychoanalyse »unerwartet« und überraschend. Goltermann folgert aus ihren Recherchen in Krankenakten, dass der »Anspruch, einen Ort für die Anerkennung der eigenen Schreckenserfahrungen während dieses Krieges zu finden« (Goltermann 2009, S. 161), in den Nachkriegsjahren unerfüllt blieb. Wie im öffentlichen und psychiatrischen Bereich, so war auch in den Familien kein Gespräch darüber möglich. Die traditionellen Geschlechtsrollenmuster stützten das Schweigen ebenfalls. Für die Frauen, die einige Jahre zuvor ihre Männer als erhoffte Helden in den Krieg verabschiedet hatten, waren gebrochene, weinende und klagende Männer kaum erträglich: »Es ist entsetzlich, wenn graubärtige Männer weinen. Wenn sie nicht aufhören können zu weinen«, notiert eine Frau hilflos-betroffen 1945 in ihrem Tagebuch (Andreas-Friedrich 2000, S. 376, zit. nach Goltermann 2009, S. 127). Goltermann meint: »In diesem Verstummen beziehungsweise in den unzulänglichen Sprechversuchen drückt sich nicht unbedingt eine Furcht vor dem Grauen des Krieges oder aus der Schuld an den Verbrechen aus; vielmehr manifestiert sich darin eine durch den Krieg entstandene Fremdheit sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den Generationen« (ebd., S. 429).

Wahrscheinlich gilt aber auch, dass die Ahnung darüber, etwas Ähnliches erlebt zu haben, das aber als unsagbar empfunden wurde, dadurch abgewehrt werden konnte, dass man sich vom Anderen distanzierte, ihn als fremd ansah. So jedenfalls haben Hanjo und ich reagiert, nachdem wir im Blick des Anderen das Grauen gespiegelt sahen: Wir entfremdeten uns.

Stille Botschaften der Elterngeneration Trotz dieses gesellschaftlich und familiär gestützten Schweigens nach 1945 erkennt Goltermann in den Patientendokumenten aber auch einen schwierigen und schmerzhaften »Suchprozess« (ebd., S. 161), um das erlebte Grauen und das eigene Leid, aber auch die eigene Mitverantwortung zu thematisieren. Allenfalls in Träumen, von denen manche Patienten berichteten, haben diese Erfahrungen sich Verarbeitungsmöglichkeiten zu eröffnen gesucht. Viele Nachkriegskinder erinnern, dass ihre Väter nachts im Schlaf geschrien haben. Nicht wenige Väter – für Hanjos Vater könnte das auch zutreffen – versuchten, ihren Erinnerungen zu entkommen, indem sie sprichwörtlich 239 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die Betten wechselten, sich in immer neue Beziehungen flüchteten. Und vielleicht sollte dieses Flüchten auch dem Versuch dienen, die Menschen, die man liebte, mit dem Grauen und der Schuld, die diese Väter in sich spürten, nicht zu infizieren. So könnte man auch die Vermeidung des Blickkontakts seitens meines Vaters in der Pubertätsszene erklären. Freud stellte am Ende seiner Arbeit Totem und Tabu fest, »dass keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen« (Freud 1912–13a, S. 191). Auch wenn die ältere Generation noch so sehr um Entstellung und Vertuschung ihres Erlebens bemüht ist, spüren die Jüngeren diese unbewusst übermittelte »Gefühlserbschaft« (ebd.) und werden davon beeinflusst oder gar geprägt. Gerade wenn man bedenkt, dass, wie eben angesprochen, die Eltern selbst nicht miteinander ins Gespräch kamen, setzten sie unbewusst wohl ihre Hoffnung darauf , in ihren Kindern Entlastung oder auch Verständnis zu finden. Die jüngere Generation brauchte allerdings ihre Zeit, ehe sie imstande war, diese Gefühlserbschaften zu entziffern, wenn es denn überhaupt gelang. Die Übermittlung dessen, was unsagbar ist und verborgen werden soll, geschieht »in Bildern und Metaphern, Gesten, Andeutungen, Inszenierungen und in nicht der aktuellen Realität entsprechenden emotionalen Reaktionen« (Moré 2011, S. 28). Hanjo wurde nicht nur durch seinen Namen auf eine geheime Spur verwiesen, auch seine Kenntnis darüber, dass der Vater während des Krieges in Italien war, beeinflusste seinen Lebensweg und überlagerte seinen Aufbruch nach Italien mit den Schatten von Nationalsozialismus und Krieg. Hanjo hat als Kind seinen Vater sicher von der Schönheit Italiens schwärmen gehört und diese Schilderungen mögen zu seiner Entscheidung, nach Italien zu ziehen, beigetragen haben. Dort angekommen, wurde ihm dann aber bald bewusst, dass sein Vater hier auch im Krieg war. Sein Brief über das Gespräch mit dem Dachdecker lässt erkennen, dass er von dieser Entdeckung betroffen war. Seitdem mischte sich beim Blick in die liebliche Landschaft das Wissen um das Grauen des Krieges hinein. Es könnte sein, dass Hanjo von der Erkenntnis, dass hier einst Krieg und Gemetzel stattfanden, ebenso schockiert war wie sein Vater einst vom Schock getroffen wurde, als er hier in Kämpfe verwickelt wurde. Ein Foto seines Vaters mit fröhlichen Kameraden in Italien kommentierte Hanjo auf der Rückseite: »Kann ja so ein idyllischer Moment nicht gewesen sein!« In dem Erlebnis mit der weißen Katze holte uns dann beide gemeinsam das Grauen in der idyllischen Landschaft ein. Mein Erlebnis als 14-jähriges Mädchen zeigt ebenfalls, wie durch unverständliche Gesten Gefühlserbschaften entstehen. Ich hatte, stolz auf den ersten BH, wohl etwas über das Frauenbild und die Sexualität meines Vaters erfahren wollen, als ich auf seinen anerkennenden Blick lauerte. Etwa zur gleichen Zeit hatte ich mir ein Kostüm aus dunkelblauem Cordstoff genäht, mit zwei Reihen goldener Knöpfe. Ich wollte mich damit sicher auf die Marinezeit meines Vaters beziehen: »Lustig ist das Matrosenleben …«. Denn er hatte über die Zeit als Matrose zuweilen auch heitere, von leiser 240 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Begeisterung durchzogene Geschichten erzählt. Aber bei meinem Vater lösten meine pubertär-ödipalen Strebungen gerade nicht die Erinnerung an lustige Zeiten aus. Was seine kalte Reaktion bedeutete, war mir damals unbegreiflich. Meine pubertäre Unbeschwertheit wurde durch die Kühle meines Vaters mit Traurigkeit überschattet, so wie er einst traurig wurde, wenn seine jugendlichen Aufbruchsgefühle in Lettland vom Geruch des Massengrabs überlagert wurden. Einen ähnlichen Einbruch des Grauens in vermeintlich unbeschwertes Pubertätserleben der Nachkriegsgeneration hat z.B. auch Bernhard Schlink in seinem Roman Der Vorleser (1995) geschildert. Ich war mit meinem Matrosenkostüm einer »doppelten Botschaft« (Moré 2009, S. 154) aufgesessen, die viele Eltern der Tätergeneration ihren Kindern übermittelten: Einerseits möchten sie als Leidende und Opfer des Krieges, als Verführte des Nationalsozialismus angesehen werden, andererseits sind sie insgeheim noch den idealisierten Werten jener Zeit verbunden. »Die Kinder der Täter fühlen sich durch solche doppelten Botschaften, der Verleugnung von insgeheim idealisierten Werten, häufig innerlich gespalten und gefangen« (ebd.). Wenn die im Verborgenen weitergegebenen Botschaften unbewusst bleiben, wirken die zugrunde liegenden Erfahrungen auf unbegriffene Weise weiter und entfalten sich als Verstörungen in den Nachgeborenen, die sich in verschiedener Weise äußern können. Selbstwertzweifel, Beziehungsstörungen, Ängste, selbst eine Familie zu gründen und Nachkommen zu haben, sind bei Kindern der Täter- und Mitläufergeneration häufig zu finden (vgl. ebd., S. 155). All dies wären auch Themen gewesen, über die Hanjo und ich uns gut hätten austauschen können, wenn wir denn ins Gespräch gekommen wären. Für mich haben die Eröffnungen meines Vaters eine Bewusstwerdung ermöglicht. Als er von Ravensbrück erzählte, verstand ich, dass er damals, als er seinen Blick abwandte, eine solche Spur zu einer verborgenen Botschaft gelegt hatte. In der Pubertät hinterließ seine »Kälte« in mir nur eine Wunde, ein Gefühl des Verstoßenwerdens und der Kränkung. Sicher war diese Szene später auch Thema in meiner Psychoanalyse. Aber zu Beginn der 80er Jahre und ohne eine Ahnung davon, dass das Verhalten meines Vaters auf Kriegserlebnisse zurückgehen könnte, musste die Deutung dieser Szene auf das Muster pubertär-ödipaler Konkurrenz mit meiner Mutter beschränkt bleiben und als gewöhnliche Erfahrung einer Niederlage gesehen werden. Als ich dann, gut zehn Jahre nach meiner Analyse, die Hintergründe dieser Szene entschlüsseln konnte, war dies allerdings auch kein später ödipaler Triumph in dem Sinne, dass mein Vater nun mit mir ein Geheimnis teilte. Denn das Geheimnis bestand gerade nicht in der Anerkennung meiner Weiblichkeit, er sprach mich weniger als Tochter oder Partnerin an, sondern eher schon als Vertraute im Sinne eines frühen inneren Objekts. Was Radebold (2009, S. 132) für professionelle Dialoge mit der Kriegsgeneration anmerkt, gilt auch im familiären Gespräch: Die Älteren suchen unbewusst nach »Eltern-Ersatzbildern«, bei denen sie »Schutz, Hilfe, Geborgenheit und Verständnis« erhoffen. Indem ich diese Parentifizierung aushielt, konnte 241 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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mein Vater das Grauen mit mir teilen. Durch dieses Mitteilen konnte sich meine alte Wunde schließen. Noch eine andere Geschichte aus meiner Kindheit kam mir dazu in den Sinn. Meine Mutter hatte Probleme mit dem Stillen, sodass ich mit drei Monaten eher ab- als zugenommen hatte. Sie hat dazu später erzählt, dass sie, wenn sie mit mir auf Reisen war, den Zugschaffner bat, im Gepäckwagen sitzen zu dürfen, weil sie sich dort beim Stillen nicht den Blicken fremder Männer ausgesetzt fühlte. Nun sind wir in meinen ersten Lebensmonaten sicher nicht viel gereist. Es könnte sein, dass meine Mutter damit einen Hinweis, eine verborgene Botschaft vermitteln wollte: dass sie sich auch unbehaglich fühlte, wenn mein Vater uns beim Stillen zuschaute. Sein Blick auf ihre Brust, das wäre mir einleuchtend, konnte wohl keine ungebrochene Freude über das Glück zeigen, weil er die gerade fünf Jahre zurückliegenden grauenhaften Eindrücke in sich trug. Mir macht diese Assoziation zu meiner Frühgeschichte deutlich, in wie vielen zunächst harmlosen Momenten einer Nachkriegskindheit das Grauen aufgeschienen sein kann und Entwicklungen beeinträchtigt haben mag. Es ist allerdings oft kaum zu erfassen, weil nur ein sehr genaues Hinhören auf das, was die Elterngeneration erzählt, Spuren erschließen lässt. Ein Beispiel dafür, wie Verwirrung und Unverständnis zwischen den Generationen fortdauern, wenn keine Bewusstwerdung möglich ist, macht eine Passage in Goltermanns Studie (2009) deutlich. Sie zitiert dort aus der Krankenakte eines ehemaligen Soldaten, der 1948 auf Anraten seiner Angehörigen in die Psychiatrie aufgenommen wurde. Er sei, notiert der Arzt, »durch den Kriegsverlauf sehr niedergeschlagen« und habe ständig Angst, andere wollten ihm Schaden zufügen (ebd., S. 84). Dem Arzt gegenüber habe er diese Angst zu erklären versucht: »ich bin früher völkisch gewesen, wir hatten früher oft sehr schön für den Feldherrn das Schaufenster dekoriert. Nach dem Zusammenbruch glaubte ich, werde man den Spieß umdrehen, und ich wäre dran« (ebd.). Für Goltermann ist es bemerkenswert, dass sogar »die Erinnerung an die kleinen Unterstützungsleistungen für die nationalsozialistischen Machthaber« (ebd., S. 83) so verstörende Wirkung haben konnten. Sie hat zwar offenbar keine weiteren biografischen Angaben zu diesem Patienten, weiß wohl nichts über seinen Beruf, nimmt die Äußerung über das »Dekorieren des Schaufensters« aber wörtlich. Als ich die Formulierung »dem Feldherrn das Schaufenster dekoriert« las, hörte ich innerlich sofort das dröhnende Lachen einer Männerrunde. Ob ich es selbst erlebt oder in einem Film gesehen habe, weiß ich nicht, aber aus irgendwelchen Tiefen der Erinnerung heraus kenne ich die Metapher: Sie bedeutet, dass man Verbrechen begangen hat, Dörfer »judenrein« gemacht oder Widerständler erschossen hat. Durch solche Gräueltaten wurde »dem Führer das Schaufenster dekoriert«, falls er vorbeischauen würde. Und wenn im Nachkriegsdeutschland diese Formulierung benutzt wurde, wussten die Männer, was gemeint war – und brachen in grölendes Gelächter aus, das mir schmerzhaft in den Ohren klingt. Goltermann, Jahrgang 1965, 242 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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kann die Metapher nicht entschlüsseln und deshalb nicht verstehen, wieso der Patient fürchtete, dass »der Spieß umgedreht« werden könnte. Für sie zeigt dieser Patient einen »Verfolgungswahn« (ebd., S. 106), denn seine Vergeltungsangst gehe ja nicht darauf zurück, dass er selbst etwas Verbrecherisches getan habe. Der Patient erscheint ihr lediglich als einst eifriger Parteigänger und als harmloser Soldat. Ähnlich wie Goltermann mag es vielen Angehörigen der jüngeren Generation gehen, die den Erzählungen ihrer Großeltern eher Heldentaten und Verharmlosungen entnehmen. Manchmal müssen sie erst selbst wieder in einen Krieg geraten, ehe sie die Darstellung der Großeltern hinterfragen können. So wird bei Bundeswehrsoldaten beobachtet, dass sie nach Auslandseinsätzen oft beginnen, »sich neu mit der Großelterngeneration auseinanderzusetzen, die Gewalt und Angst im Zweiten Weltkrieg erfahren hat« (Verlagsanmerkung in Werner 2010, S. 22). Die Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit der Jüngeren, die doppelten Botschaften zu entschlüsseln und das Grauenhafte in den Narrativen überhaupt noch zu erkennen, macht es umso dringlicher, die Aufmerksamkeit dafür zu schärfen, was uns die an Nationalsozialismus und Krieg beteiligte Generation noch erzählen kann und wie sie erzählen kann.

Voraussetzungen für den Dialog mit der Kriegsgeneration Die 68er Generation hatte bereits Versuche unternommen, die Darstellungen ihrer Eltern, also der Kriegsgeneration, zu hinterfragen. Damals aber waren die Fragen der Jüngeren meist voller Vorwürfe und Anklagen, sodass die Eltern sich oft wie während der Entnazifizierung unter Rechtfertigungsdruck gefühlt haben mögen und das Gespräch umso mehr verweigerten. Außerdem waren die Fragen meiner Generation damals sicher auch sehr angstbehaftet, denn hätte ich mit Anfang 20 wirklich wissen wollen und ertragen können, dass mein Vater womöglich Menschen getötet hat? Hätte ich damals erfahren wollen, dass meine Mutter womöglich ohne Mitgefühl, gar mit Genugtuung, die Deportation jüdischer Nachbarn mit angesehen hat? Unsere Fragen waren latent wohl auch von einem Flehen unterlegt, die eigenen Eltern mögen doch nichts Schlimmes getan haben, vielleicht sogar irgendetwas Widerständiges zu berichten haben. Der Bruch mit dem jeweiligen Individualmythos über die eigenen Eltern wäre noch schwer zu verkraften gewesen für uns als junge, noch ungefestigte Menschen, die am Beginn des eigenen Lebensweges doch auch noch auf Idealisierungen angewiesen waren. Hinzu kommt, dass in den 1970er Jahren auch an der Universität nur Weniges angeboten wurde, das meiner Generation eine Auseinandersetzung mit der Elterngeneration ermöglicht hätte. Die prägenden Professoren – tatsächlich waren es fast nur Männer – waren während des Nationalsozialismus Kinder gewesen, allenfalls noch als Flakhelfer eingesetzt. In meinen Fächern wie auch in Hanjos Studium war 243 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Nationalsozialismus damals noch kein Thema, auch weil die Professoren zur schweigenden Generation gehörten. Den Anstoß zu meiner Dissertation gewann ich dann auch nicht im Studium, sondern durch eine außeruniversitäre Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema »Frauen und Nationalsozialismus« befasste. Als wir Anfang der 90er Jahre einmal in kleinem Kreis einen damals schon emeritierten Professor darauf ansprachen, warum er Nationalsozialismus und Krieg nie thematisiert habe, schwieg er in sich gekehrt und sagte dann, den Blick hebend: »Es gibt Dinge, über die man besser gar nicht mehr spricht!« In seinen Augen war Erschrecken, vielleicht ein Grauen angesichts der unvermittelt reaktivierten Erinnerungen zu sehen. Die Zeitgleichheit von Hanjos verzweifelten Versuchen, sich ein Bild von seinem verschwundenen Vater zu machen, und meinen Erfahrungen mit einem Vater, der sein Kriegserleben zu vermitteln versuchte, hat mir deutlich gemacht, wie alt wir Kinder der Nachkriegszeit werden mussten, ehe wir uns der Geschichte der Kriegsväter stellen konnten und einer bewussten Auseinandersetzung damit gewachsen waren. Denn geprägt hat uns ihre Geschichte von klein auf, auch wenn uns das nicht bewusst war. Aber es ist nicht nur die Milde des eigenen Alters, die dreißig oder vierzig Jahre später ein anderes, geduldiges und ambivalenzfähiges Fragen und Zuhören ermöglicht. Es ist auch nicht nur die Nähe des eigenen Todes, die die ältere Generation nun eher willens macht, noch über die bisher beschwiegenen Erfahrungen zu sprechen, um sich zu entlasten und endlich mit ihrem Leid verstanden zu werden. Inzwischen hat sich auch die gesellschaftliche Sicht auf die Kriegsgeneration verändert. Wurde diese Generation im Gefolge der 68er Debatten in ihrer Eigenschaft als Täter gesehen und anklagend befragt, ist heute auch ein verstehender Blick auf ihre Leidenserfahrungen möglich. Dabei beinhaltet die Anerkennung dessen, dass die deutsche Bevölkerung wie die Soldaten unter dem Kriegsgeschehen auch gelitten haben, eine heikle Problematik. Denn die Rede davon, dass die Deutschen »auch Opfer« waren, dient bis heute vielfach als Abwehr dagegen, sich mit dem Grauen und mit den eigenen Scham- und Schuldgefühlen angesichts der deutschen Verbrechen zu befassen. Einfach nur den gesellschaftlich zwar präsenten Begriff des »Opfers« auf die Generation der Täter und Mitläufer anzuwenden, würde also ein Gespräch zwischen den Generationen nicht fördern, weil damit nur neuerlich die Abwehr bestärkt würde. Einen differenzierten Zugang ermöglichen die Überlegungen José Brunners (2004). Er befasst sich mit dem Zusammenhang von Politik und Trauma-Diskursen und zeigt, dass es eine Frage der Politik ist, ob und wie die »Traumatisierbarkeit oder die psychische Verwundbarkeit« (ebd., S. 8) in der Gesellschaft Anerkennung findet. Ist es z. B. politischer Konsens und Wille eines Staates, dass seine Angehörigen als stark und unbeugsam angesehen werden sollen, wird weder den Soldaten noch der Zivilbevölkerung zugestanden, unter Kriegshandlungen oder Terror zu leiden. Dieses Dogma der Stärke zeigen die deutschen psychiatrischen Diskurse in und nach den beiden Weltkriegen. Gesteht ein Gemeinwesen dagegen seinen Angehörigen zu, dass 244 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sie auch schwach und seelisch verwundbar sein können, dann steht dieses Gemeinwesen auch in der Verantwortung, sich um mögliche Opfer zu kümmern und weiteren Schaden abzuwenden, also: eine andere, umsichtige Politik zu machen. »Die medizinischen Auseinandersetzungen […] sind somit immer auch Diskussionen über das Ausmaß und die Art, in denen Menschen durch politische Ereignisse und Erfahrungen verwundbar sind, über die sozialen und psychologischen Voraussetzungen und Möglichkeiten, die diese Verwundbarkeit erhöhen oder verringern können, sowie über die Verantwortung der Gesellschaft und die Verpflichtung des modernen Staates gegenüber verletzlichen Individuen« (ebd., S. 15).

Traumatologie ist damit also »immanent gesellschaftskritisch« (Brunner 2005, S. 92). Brunner zeigt an der Geschichte der Holocaust-Überlebenden, wie langwierig und mühsam es für sie war, sich gesellschaftlich Gehör zu verschaffen, in der Bundesrepublik, aber auch – aus ganz anderen Gründen – in Israel. In der Bundesrepublik erzwangen die Auschwitz-Prozesse, den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik Gehör zu schenken, wodurch erstmals auch im medizinischen Diskurs anerkannt werden musste, dass traumatische Ereignisse langfristige Folgen haben können. Und der öffentliche Druck der Vietnam-Veteranen in den USA bewirkte schließlich die Aufnahme des Posttraumatischen Belastungssyndroms in das psychiatrische Diagnose-Manual. Aber, wie Brunner (2004, S. 19) anmerkt, habe man sich um die Traumatisierung der Vietnamesen nicht gekümmert. Ebenso gilt für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, dass die Thematisierung des eigenen Leids noch längst nicht dazu führte, auch das Leid anderer Opfer anzuerkennen und sich einfühlen zu können. Dennoch ist die gesellschaftliche Toleranz gegenüber der Einsicht, dass Menschen seelisch verwundbar sind, die Grundvoraussetzung dafür, dass Betroffene ihr Leid zur Sprache bringen können. Nur ein »auf das Leid zentrierter Zugang« (Radebold 2009, S. 128) macht den Älteren das Sprechen über ihr Erleben möglich und eröffnet damit die Chance zu seelischen Lösungen aus der traumatischen Erstarrung. Dann erst sind neue Einsichten möglich, zunächst für das betroffene Individuum selbst, dann auch für seine Zuhörer/innen. Eine traumatische Situation bewirkt, dass kein »Du« mehr existiert, kein ansprechbares, vertrauenswürdiges Gegenüber. Deshalb ist es nötig, diesen vertrauensvollen Rahmen zu bieten, der Moralisieren und Vorwürfe ausschließt. Das beinhaltet auch, es auszuhalten, wenn die Betroffenen von eigenen Verbrechen und vom Töten sprechen wollen. Denn wie Brunner anmerkt, schließt die PTBS-Definition auch den Typus des »selbst-traumatisierenden Täters« ein, also auch »Soldaten, die durch ihre eigenen außerordentlichen Gewalttaten traumatisiert waren und in der Folge unter moralischen und psychologischen Konflikten litten« (Brunner 2004, S. 19). Wie schwer erträglich die Möglichkeit ist, vom eigenen Vater vielleicht zu erfahren, dass er getötet hat und an Verbrechen beteiligt war, hat mir 245 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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mein langes Zögern, ihm diesbezüglich Fragen zu stellen, bewusst gemacht. Für mich als interessiert Fragende der Nachkriegsgeneration lösten sich damit zwar nicht alle Zweifel und Fantasien auf, aber in Bezug auf manche belastenden Erlebnisse erfuhr ich Aufklärung, sodass ich nun besser zu trennen vermochte zwischen der Geschichte meines Vaters und meiner eigenen. Ein solches auf das Leid zentrierte Fragen und Sprechen ist nicht nur für die Fragenden konfliktreich, sondern viel mehr noch für das traumatisierte oder beschädigte Individuum selbst, denn es muss dazu bereit sein, sich seine seelische Verwundbarkeit einzugestehen. Das bedeutet, vom Phantasma der eigenen Stärke Abschied zu nehmen, was mit Beschämung und Ohnmachtsempfinden einhergeht. Und es bedeutet, wie Brunner zeigt, dass die Auslöser und Verursacher der Beschädigung zu benennen sind. Das heißt in diesem Zusammenhang, den Staat als Täter zu benennen, in dessen rassistische Machtpolitik sich die Soldaten einspannen ließen. Vom Leiden unter einer seelischen Traumatisierung oder Beschädigung lässt sich für deutsche Kriegsteilnehmer und die Zivilbevölkerung also nur dann lösend sprechen, wenn sie bereit sind, auch die eigene Verstrickung in die nationalsozialistische Politik bewusst werden zu lassen. Durch die Zentrierung auf die eigene Verletzlichkeit entsteht – für viele ehemalige Soldaten erstmals – bewusst ein Mitgefühl mit sich selbst. Dies wiederum wäre die Voraussetzung dafür, allmählich auch Mitgefühl für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Krieges zu empfinden und ein Schuldbewusstsein zu entwickeln. In diesem Konflikt zwischen dem Wunsch, sich Belastendes von der Seele zu reden, und der Angst vor den dann möglichen Einsichten, vor Scham- und Schuldgefühlen, befindet sich die am Nationalsozialismus beteiligte Generation.

Das Tabu der Verletzlichkeit Wenn ich auf die Gespräche mit meinem Vater zurückblicke, vermag ich nicht zu sagen, wie weit er in diesem Konflikt vorangekommen ist. Er konnte zwar noch belastende Erlebnisse mit mir teilen und dadurch vielleicht leichter sterben. Aber wieweit eine bewusste Auseinandersetzung mit den einstigen Idealen der Stärke, also Aspekten der nationalsozialistischen Ideologie, die er geteilt haben mag, stattgefunden hat, ist mir nicht klar geworden. Er liebte den Spruch »Gelobt sei, was stark macht!«, aber er konnte auch um sich selbst weinen. Dass aber sein Mitgefühl nur bedingt auch das Leid Anderer erfasste, habe ich mit Bedauern beobachten müssen. Wenn ich an den nicht stattgefundenen Dialog mit Hanjo denke, dann wäre auch hier das Loslösen aus unserer Erstarrung angesichts der Geschichte mit der weißen Katze nur möglich geworden, wenn wir uns unsere eigene Verletzlichkeit eingestanden hätten, unseren Schock, unser Entsetzen. Für mich wäre es dann möglich gewesen, darüber nachzudenken, wie schnell ein erbarmungswürdiges Wesen zum 246 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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»Verfolger« werden kann, dessen Tod ich herbeisehnte, um mich vor der erneuten Konfrontation mit dem grauenhaften Anblick sicher zu wissen. Solche Einblicke in die eigene Seelendynamik wären beschämend gewesen. Wir hätten dann aber vielleicht auch über das Töten reden können, das wir beide in Bezug auf die Katzen jeweils wortlos hingenommen haben. Uns wäre dann bewusst geworden, dass diese geschlechtsspezifische »Arbeitsteilung« beim Tötungshandwerk Männer mit der Verantwortung überlastet und Frauen scheinbar aus der Verantwortung nimmt. Das gilt auch für das Kriegführen. Und so wäre vielleicht ein Gespräch möglich geworden über die Suchbewegungen, die wir damals jeweils persönlich und wissenschaftlich betrieben haben: Über die Frage danach, was uns je individuell von den Eltern als Gefühlserbschaft auferlegt war. Durch den Austausch darüber hätte Persönliches politisch werden können. Wenn ich abschließend auf die eingangs geschilderte Filmszene zurückkomme, lässt sich nun erkennen, welche Tabus hier einer Lösung im Wege stehen. Das Schweigen über Gewalterfahrung und erlebtes Grauen hält das Belastende in der Schweigezone des Privaten gefangen. Soldaten der heutigen Bundeswehr könnten eigentlich offensiver darüber sprechen, denn sie befinden sich auf »Friedensmissionen«, in einem moralisch akzeptableren Krieg als die Generation des Nationalsozialismus. Dennoch nehmen auch sie oft keine Gesprächsangebote wahr, weil offenbar immer noch eine starke Tendenz, auch seitens der militärischen Führung, besteht, sich als seelisch stark und unverwundbar zu sehen. Viele Soldaten der Bundeswehr scheuen davor zurück, sich medizinisch und psychotherapeutisch behandeln zu lassen, weil sie fürchten, dann als »Weichei« zu gelten. Auch wenn es heute mehr öffentliche Angebote gibt, Angst und Verstörung als Folge von kriegerischer Gewalterfahrungen anzuerkennen, wie es jener ARD-Film nahelegte, so ist die Bundeswehr doch weiterhin eher restriktiv. Als Ute Susanne Werner (2010) Interviews mit »Kriegsheimkehrern der Bundeswehr« geführt hatte und das Buch kurz vor der Veröffentlichung stand, zogen zwei der Interviewten ihre Berichte zurück, offenbar auf Druck des Militärs. Auch das Interview, das dem Buch den Titel »Ich krieg mich nicht mehr unter Kontrolle« gab, fiel dem Schweigegebot zum Opfer. Die Tabuisierung der seelischen Verwundbarkeit hält das Leiden der Betroffenen im Bereich des Individuellen und Schambesetzen. Stellen wir uns also vor, dass der eingangs erwähnte junge Soldat aus dem Spielfilm, der in Afghanistan Grauenvolles erlebt hat, sagen würde: »Stellt sofort den Grill aus, räumt das Bier weg, setzt euch her und hört mir zu, was mich bedrückt. Erst wenn ich das Erlebte mit euch teilen kann, wird es mir vielleicht möglich sein, mit euch zu feiern und auch an euren Freuden und Leiden wieder teilzuhaben«.

Wollten wir dann zuhören? Und wäre es nicht viel eher noch die Aufgabe der Daheimgebliebenen, einem Kriegsrückkehrer das Angebot zu machen, zu erzählen, was 247 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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immer er ansprechen möchte? Würden wir es wissen wollen? Wenn diese Bereitschaft da ist, könnte ein Gespräch entstehen, über den Sinn von Kampfeinsätzen, über den Preis, den sie für die Soldaten und ihre Familien haben, über die Frage, warum Frauen Männern das Töten überlassen. Und das hieße: Das Private würde politisch.

Literatur Andreas-Friedrich, Ruth (2000): Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen, 1938–1948. Frankfurt a.M. (Suhrkamp). Brunner, José (2004): Politik der Traumatisierung. Zur Geschichte des verletzbaren Individuums. WestEND. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1(1), 7–24. Brunner, José (2005): Zur Politik der Verletzbarkeit in der israelischen Fachliteratur. Psyche – Z Psychoanal 59 (Beiheft), 91–105. Diekmann, Hanjo (1991): Tramontana und Scirocco. Zum Kulturwandel in Mittelitalien zwischen Faschismus und europäischem Markt. Frankfurt a.M. (Brandes & Apsel). Goltermann, Svenja (2009): Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrung im Zweiten Weltkrieg. München (Deutsche Verlags-Anstalt). Grossmann, David (2009): Eine Frau flieht vor einer Nachricht. München (Hanser). Lethen, Helmut (2010): Im Schatten des »erloschenen Vaterbilds«. In: Thomä, Dieter (Hg.): Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), S. 160–176. Leuzinger-Bohleber, Marianne (2003): Die langen Schatten von Krieg und Verfolgung: Kriegskinder in Psychoanalysen. Beobachtungen und Berichte aus der DPV-Katamnesestudie. Psyche – Z Psychoanal 57, 982–1016. Moré, Angela (2009): Grenzenlosigkeit – Wut – Resignation. Reinszenierung und Abwehr bei den Nachkommen von Tätern. Gruppenanalyse 19(2), 147–159. Powers, Richard (2006): Das Echo der Erinnerung. Frankfurt a. M. (S. Fischer). Radebold, Hartmut (2009): Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Stuttgart (Klett-Cotta), 3. Aufl. Schindler, Andreas (2010): Ich habe einen Freund verloren. In: Werner, Ute Susanne (Hg.): »Ich krieg mich nicht mehr unter Kontrolle«. Kriegsheimkehrer der Bundeswehr. Köln (Fackelträger), S. 105–116. Schlink, Bernhard (1995): Der Vorleser. Zürich (Diogenes). Speier, Sammy (1988): Der ges(ch)ichtslose Psychoanalytiker – die ges(ch)ichtslose Psychoanalyse. In: Heimannsberg, Barbara & Schmidt, Christoph J. (Hg.): Das kollektive Schweigen. Nazivergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Heidelberg (Asanger), S. 13–24. Trevelyan, Raleigh (1959): Die Festung. Der Brückenkopf von Anzio. München (Winkler). Waldeck, Ruth (1992): Heikel bis heute: Frauen und Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel). Werner, Ute Susanne (Hg.) (2010): »Ich krieg mich nicht mehr unter Kontrolle«. Kriegsheimkehrer der Bundeswehr. Köln (Fackelträger Verlag). Darin: Anmerkung des Verlages S. 17–24.

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Was tun mit dem transgenerationalen Erbe? Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog1 Elke Horn

Der Nationalsozialismus und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in seinem Namen begangen wurden, sind ein Erbe, das wir nicht ausschlagen können. Als Deutsche kommen wir nicht umhin, uns in irgendeiner Weise dazu zu verhalten, uns mit dem Stigma, das er für uns in der politischen Weltöffentlichkeit bedeutet und den Folgen, die in unseren Familien auch heute noch wirksam sind, auseinander zu setzen. Was bedeutet es nach 1945, Deutsche/r zu sein? Was geben wir an die nächste Generation weiter? Wie können wir mit der Vergangenheit umgehen, um unseren Nachkommen eine friedliche, von Sinn erfüllte Zukunft zu ermöglichen? Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Deutschland ausgehenden Kriege und Gewalttaten haben sich auf unser persönliches und kollektives Identitätsempfinden ausgewirkt. Identität des Einzelnen und der Gruppe verstehe ich als ineinander verwobene und sich wechselseitig stetig beeinflussende Aspekte einer Gestalt, die sich vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und gegenwärtiger Interaktionen bildet, also in stetigem Wandel begriffen ist.2 Unsere Selbstwahrnehmung steht in enger Verbindung mit der Fremdwahrnehmung: Wir sehen uns immer auch im Blick des Anderen. Deshalb wird es im zweiten Teil dieses Textes auch um unsere Beziehung zu den von der Gewalt betroffenen Anderen, besonders den Juden, gehen.3 1 Die vorliegenden Gedanken sind im Arbeitsprozess der »Werkstatt« des Arbeitskreises für intergenerationelle Folgen des Holocaust (ehemals PAKH e.V.) entstanden. PAKH ist ein Verein, der den Dialog zwischen Nachfahren von Überlebenden des Holocaust und nicht jüdischen Deutschen pflegt und sich die Aufarbeitung der transgenerationalen Folgen des Holocaust zur Aufgabe gemacht hat. Beata Hammerich, Monika Koster-Naumann, Rita Krull-Wittkopf, Johannes Pfäfflin, Erda Siebert und Peter Pogany-Wnendt aus der »Werkstatt«-Gruppe danke ich für ihre kritischen und persönlichen Anmerkungen, ebenso René Bertrams und Hilde Belardi. 2 Zum Identitätsbegriff s. Erikson (1966); bei Volkan (1999) findet sich die Ausweitung der sozialpsychologischen Fassung des Identitätsbegriffs zum Großgruppenkonzept; für das an Elias und Foulkes anschließende Konzept der Großgruppenmatrix s. Wilke (2000). 3 Hier sind selbstverständlich deutsche Juden mit gemeint. Der Autorin ist bewusst, dass die 249 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ich beschäftige mich mit diesen Fragen als deutsche Psychoanalytikerin, genauer: als deutsche Psychoanalytikerin der zweiten Generation4 nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Standortbestimmung scheint mir wichtig, denn sie bedingt einen spezifischen Blickwinkel auf die Geschichte. Als Psychoanalytikerin nehme ich eine Haltung des Verstehens ein, und zwar des Verstehens unter dem Aspekt der Unterscheidung von dem, was unserer Wahrnehmung zugänglich, also bewusst ist, und dem, was in der Latenz bleibt, aber deswegen nicht weniger wirksam ist. Als Angehörige der zweiten Generation habe ich einen gewissen Abstand zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Ich gehöre zu der Generation, die in verstärktem Maße die Last der Aufarbeitung der Geschichte übernommen hat, zu der die Elterngeneration zum großen Teil nicht in der Lage war. Beschrieben werden in diesem Zusammenhang in der Nachkriegszeit herrschende Schweigegebote und Denktabus, die selbst in psychoanalytische Behandlungen hineinreichten, sowie die Folgen kriegsbedingter Traumatisierungen (vgl. Leuzinger-Bohleber 2003). Als Deutsche und Kind von Kriegskindern fühle ich mich involviert in einen generationenübergreifenden Prozess der Identitätssuche nach der politischen und psychischen Katastrophe. Meine Erfahrungen stammen aus den Psychoanalysen mit meinen Patient/innen, der Arbeit mit PAKH e. V. (s. Anm. 1), aus der Mediationsarbeit, Gesprächen mit Kolleg/innen und Freund/innen aus der Generation der Kriegskinder5 und der persönlichen Begegnung mit Juden und Jüdinnen, die inzwischen zu Freunden geworden sind. Ich beginne mit einer persönlichen Erfahrung: Annemarie Sandler, eine jüdische Psychoanalytikerin, die 1938 aus der Schweiz nach London emigrierte, war als Hauptrednerin zu einer Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft eingeladen. Bevor sie mit ihrem Eröffnungsvortrag begann, schilderte sie, wie schwierig es für sie gewesen sei, die Einladung anzunehmen. Jahrelang sei es ihr nicht möglich gewesen, deutschen Boden zu betreten. Jetzt, in hohem Alter, habe sie sich überwunden – und sie sei froh darüber und erstaunt über die Freundlichkeit des Empfangs. Diese kurze persönliche Vorrede löste in mir völlig unerwartet ein starkes Gefühl der Scham aus. In meiner ihre Worte begleitenden inneren Vorstellung sah ich den »deutschen Boden« vor mir, kontaminiert, unbetretbar. Ich spürte sofort, dass dies nicht nur meine persönliche Scham war – ich hatte nichts getan, wofür ich mich schämen musste Gegenüberstellung von »Deutschen« und »Juden« problematisch ist, da es sich um durch Selbst- und Fremdzuschreibung entstehende, also sozial konstruierte Zuordnungen handelt. Es geht in diesem Text um den Versuch, das Phänomen einer Polarisierung zu beschreiben, die im gesellschaftlichen Kontext entstehen kann, wenn das Erleben kollektiver Identität aktiviert wird. Beispiele dafür finden sich im zweiten Teil des Textes. 4 Der Generationenbegriff beschreibt eine zu große Zeitspanne, um dem unterschiedlichen Einfluss des Genozids auf die folgenden Jahrgänge gerecht zu werden. Ich verwende ihn hier lediglich der Einfachheit halber und zur groben Orientierung. 5 Herrn Prof. Dr. Günter Heisterkamp danke ich für seine konstruktiven und anregenden Rückmeldungen, die in den Text eingeflossen sind. 250 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Was tun mit dem transgenerationalen Erbe?

– und doch war das Gefühl so mächtig, dass ich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Es war meine Scham als Deutsche, eine kollektive Scham, die auch meine war, weil dies mein Land ist. Viele Jahre hatte mich dieses Gefühl unbenannt als ein dumpfes unangenehmes Gefühl begleitet, das mich vor allem im Ausland befiel. Oft hatte ich es vermieden, als Deutsche aufzufallen oder erkannt zu werden, weil ich Verachtung und Kontaktabbruch erwartete – und als junger Mensch entsprechende Erfahrungen auch gemacht hatte. Jetzt konnte ich dieses Gefühl fassen. Das Gefühl meiner Scham, Deutsche zu sein, war erträglich geworden, weil Frau Sandler trotz allem dieses Land betreten hatte – und froh darüber war. Sie erkannte damit an, dass wir heute nicht mehr die Deutschen sind, die das unmenschliche System des NS hervorgebracht hatten – dass es hier auch etwas Gutes gibt, das sie erstaunt und froh entgegennahm. Ich glaube, dass ihr Eintreten in den Dialog überhaupt und diese Anerkennung für mich wesentlich waren und mir den Zugang zu dem inneren Gefängnis öffneten, in dem meine Scham, deutsch zu sein, bis dahin eingesperrt saß. Mein Eindruck ist, dass viele Deutsche meiner Generation und der der Kriegskinder dieses Gefühl teilen. Das Gefühl der tiefsitzenden Beschämung aufgrund der mit den Verbrechen des NS-Regimes verbundenen Dehumanisierung ist eine reale Scham aufgrund der Zugehörigkeit zu unserer Großgruppe, gleichzeitig aber auch ein psychisch ererbtes, transgenerational vermitteltes Gefühl, das schwer thematisierbar ist. Der Schulddiskurs wurde immer wieder auch in der Öffentlichkeit geführt – die dazugehörige Scham blieb dabei verdeckt. Deshalb werde ich in meinen Ausführungen einen Fokus auf das Schamgefühl legen. Scham geht tiefer als Schuld. Sie erfasst uns im Kern. Schuld bezieht sich auf das Handeln. Wir können uns ent-schuldigen. Scham bezieht sich auf das Sein. Wir erröten vor Scham, möchten vor Scham in den Boden versinken. Scham heißt: den Anderen, aber vor allem sich selbst nicht mehr in die Augen sehen zu können. Schuld führt in die Öffentlichkeit: wir können angeklagt werden, eine Strafe erhalten und darüber wieder Teil der Gemeinschaft werden. Scham führt in den Rückzug, die Einsamkeit, im Extremfall: den Suizid. Wir sind in unserem Selbstwertgefühl getroffen. Das Schamproblem scheint mir der Kern der deutschen Identitätskrise zu sein.6

Historischer Exkurs Der Hybris und dem Anspruch der Deutschen auf eine Vormachtstellung in Europa war nach dem verlorenen ersten Weltkrieg die Scham über die Niederlage gefolgt, die ihre Gestalt projektiv im Gefühl der Demütigung durch den »Vertrag von Ver6 Zu verschiedenen Formen und Funktionen der Scham s. Bohleber (2008), Wurmser (2011), Hilgers (2012) und Tiedemann (2011). 251 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sailles« (1919) fand. Mit projektiv meine ich: Deutschland schämte sich nicht, weil es den Krieg über Europa gebracht hatte, sondern fühlte sich gedemütigt durch die Folgen. Diese Emotion wehrte die existentiellen Schamgefühle ab und verhinderte ein Lernen (vgl. Schivelbusch 2007). Hitler machte den Deutschen ein Angebot der Schamabwehr durch die Steigerung der Hybris ins Grenzenlose und ein ProjektionsAngebot eigener Unwert-Gefühle: die Aufteilung der Gesellschaft in sogenannte »Herrenmenschen« und solche, die aus rassischen Gründen für unwert erachtet und der Verfolgung und Vernichtung preisgegeben wurden. Diese massive Negativprojektion fiel spätestens nach dem verlorenen Krieg auf die Deutschen zurück. Der gestürzte »Herrenmensch« fällt auf die andere, die verachtete Seite. Brockhaus (2008) belegt am Beispiel der Mütter im NS, dass in einem System, das so stark von Spaltung und Projektion geprägt ist, wie es der Nationalsozialismus war, eine latente Angst vorhanden ist, selbst potenziell zu den »Wertlosen« zu gehören. Die Zurücknahme der Negativprojektion musste den Scham-Affekt nun mit erneuter Macht aufbrechen lassen, jetzt verschärft durch die Tatsache der begangenen Verbrechen und der damit verbundenen Dehumanisierung und Schuld. Psychisch bedeutete dies eine ungeheure Selbstwert- und Identitätskrise, die von einer Generation nicht zu bewältigen war. Im Folgenden möchte ich zunächst aufzeigen, wie diese Krise in der BRD verarbeitet wurde. Dazu verwende ich das Konstrukt der Spaltungsmechanismen, um im zweiten Teil der Frage nachzugehen, wie Spaltungen überwunden werden können.

1.

Spaltung als vorübergehend hilfreicher, aber gefährlicher Bewältigungsversuch

Das nicht Vorstellbare, das nicht in unsere Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion Integrierbare, das, was uns verrückt werden ließe, wenn wir es uns ganz vorstellen würden, bewältigen wir durch Spaltung. Spaltung heißt: Der Zugang zu unerträglichen Gefühlen wird versperrt. Gleichzeitig werden diese durch Projektion im Gegenüber untergebracht, d.h. dort wahrgenommen und bekämpft. Spaltung ist ein Abwehrmechanismus, über den das Seelenleben mit dem Sozialen verknüpft ist. Der Mechanismus ist einfach und weit verbreitet, er stabilisiert unsere Psyche schnell und effizient, allerdings auf Kosten unserer Realitätswahrnehmung und unserer sozialen Beziehungen. Deshalb ist er auch gefährlich.

1.1 Gesellschaftliche Spaltungsprozesse nach 1945 Die Teilung Deutschlands führte auf der kollektiven Ebene zu einer ersten Spaltung: Die BRD trat die Nachfolge des »Dritten Reiches« an und übernahm in moralischer 252 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Hinsicht dessen gesamte »Konkursmasse« (vgl. Brecher 2012), während die DDR sich als Nachfolgerin des antifaschistischen Widerstands und der Opfer des NS verstand. Daraus resultierten gegensätzliche Narrative und Konstruktionen kollektiver Identität: das Narrativ von der »Tätergesellschaft« in der BRD und die Erzählung vom antifaschistischen Staat in der DDR. Wir haben nach dieser Sichtweise also zunächst »böse Deutsche« im Westen und »gute Deutsche« im Osten. Die aus DDR-Sicht »bösen West-Deutschen« fühlten sich zwar eher schuldig, gleichzeitig aber auch als »gute Deutsche«, weil sie im politischen Diskurs die Last des NS sowohl materiell als auch moralisch auf sich nahmen. Gleichzeitig bot die Integration der BRD ins Westbündnis erneut die Möglichkeit, das unverarbeitete »Böse« projektiv beim sowjetischen Feind unterzubringen. Der »Kalte Krieg«, selbst das Ergebnis eines globalen Spaltungsphänomens, erlaubte es den Deutschen, Spaltungen weiter fortzusetzen. Innerhalb der BRD lassen sich Spaltungsprozesse vermutlich in allen gesellschaftlichen Bereichen auffinden. Als Beispiel will ich meine eigene Profession benennen, in der zunächst die Psychiater als die Nachfolger des NS galten, während die Psychotherapeut/innen in der Nachfolge der jüdischen Psychoanalytischen Wissenschaft sich auf der guten Seite wähnen konnten.7 Die Tatsache, dass auch die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG), um ihren Bestand zu retten, sich mit dem NS-System gemein gemacht und jüdische Kolleg/innen ausgeschlossen und damit zum Teil der Vernichtung preisgegeben hatte, führte dann zu einer neuen Spaltung unter den Psychoanalytikern: Es gründete sich eine neue Gesellschaft, die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV), die nun die Rolle der »Guten« übernahm, während die DPG zur alleinigen Erbin der Scham über die Kollaboration mit den Mächtigen wurde. Die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet Carl MüllerBraunschweig, der während der Zeit des Nationalsozialismus Propagandaschriften zugunsten des Regimes verfasst hatte und 1949 erster Vorsitzender der DPG geworden war, nun zum ersten Vorsitzenden der neuen DPV wurde (vgl. Fallend/Nitzschke 2002, S.18f.).

1.2 Auswirkungen der Spaltungen auf die persönliche und kollektive Identität in Deutschland Wie alle Spaltungen hatten auch diese ihren Preis: den der Wahrnehmungsverzerrung und der Verschiebung des unterschwellig Zerstörerischen in die sozialen Beziehun7 Frommer (2007) beschreibt Spaltungsprozesse zwischen Psychosomatik und Psychiatrie und vertritt ebenfalls die These, dass die »Erbarmungslosigkeit der berufspolitischen Fehden« in der BRD »mit dem Scheitern von Vergangenheitsbewältigung durch Spaltung« zu tun hat (ebd., S. 76). 253 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gen. Norbert Elias (1989) beschreibt für das Deutschland der 70er Jahre eine große Feindseligkeit der Gruppen untereinander, deren Hintergrund vermutlich die hohe Spaltungs- und Projektionstätigkeit war. Wenn Scham- und Schuldgefühle wie ein heißes Eisen durch die Gesellschaft weitergereicht und jeweils möglichst schnell beim Anderen deponiert werden, löst dies Aggression und Feindseligkeit aus. Aus heutiger Sicht führte die einseitige Fremd- und Selbstwahrnehmung der BRD als »Täterkollektiv« auch dazu, dass das Leid von Deutschen öffentlich kaum wahrgenommen und anerkannt werden konnte. Die Thematisierung eigener Leiderfahrung fiel unter den Generalverdacht, Täterschaft leugnen und einer Täter-OpferUmkehr das Wort reden zu wollen, da es sich dabei um ein Verhalten handelt, das zu den klassischen Abwehrstrategien von Tätern gehört. Auch heute noch wird in der Kriegskinderdebatte »eine Tendenz der Enthistorisierung zugunsten einer Anthropologisierung von Leid« befürchtet, in der »die Fokussierung auf die bloße Leiderfahrung des Menschen als Menschen« die das Leid bedingenden historischen Umstände ausblendet (so z.B. Dan Diner zit. n. Frommer 2011). Diese Befürchtung ist berechtigt, denn es liegt in der Natur des Leidens, den Menschen ganz und gar einzunehmen und seinen Blick einzuengen. Leid, das traumatische Qualität erreicht, kann den Menschen überfluten, ihn seinem Kontext entreißen und das Zeiterleben zerstören. Erst, wenn das Leid eine Verarbeitung gefunden hat, einen Ort, an dem es verstanden und aufgehoben ist, kann der Blick sich wieder weiten, können »die es bedingenden historischen Umstände« und auch die eigene Beteiligung daran reflektiert werden. Diesen Ort gab es aus politischen Gründen in der BRD nicht.8 Die kollektive Zuschreibung von Täterschaft deckte nur einen Teil des persönlichen Erlebens und blendete den Anderen aus. Beide Aspekte, Täterschaft und Opferschaft der Deutschen, teilweise in ein und derselben Person, konnten im öffentlichen Diskurs schwer nebeneinander ertragen werden. Ereignisse wie Ausbombung, Hunger, Verluste von Angehörigen, Vergewaltigung, Vertreibung und Kriegsbeschädigungen wurden individuell als Leid erlebt, das resonanzlos blieb. Die Traumatisierung der Deutschen blieb verkapselt in den Individuen oder wurde Thema im Familiendiskurs, der damit eklatant vom öffentlichen Schulddiskurs abwich. Brecher (2012) beschreibt dies als »Kluft zwischen kollektiven Erinnerungsmaximen und privaten Identitätskonstruktionen«. Wer keine Empathie erfährt, hat es schwer, empathisch mit sich selbst oder mit Anderen zu sein. Der Zugang zum eigenen lebendigen Selbst bleibt verschlossen. Insofern muss es nicht verwundern, dass auch die Auseinandersetzung der Deutschen mit den Opfern des Holocaust vielfach unecht wirkte. Falsche Trauer und ein »unglaubwürdiger 8 Eine Zeit lang wurde nach 1945 die Empathielosigkeit gegenüber deutschen Erwachsenen politisch forciert durch das Konzept der Non-fraternization. Es kam zu Grausamkeiten und Demütigungen durch die Besatzer (pers. Mitteilung durch Gerhard Siebert, der als Kind Zeuge solcher Vorfälle wurde). 254 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ultramoralischer Diskurs der Selbstbezichtigung« (vgl. Dan Diner zit. nach Frommer 2011) können ebenso Resultate der Selbstentfremdung sein wie ein ritualisiertes stereotypes oder sentimentales Reden über das eigene Leid, das jedoch emotional nicht wahrgenommen werden kann. Die Abspaltung dieser Emotionen, einer Mischung aus nicht benannter und anerkannter Leiderfahrung mit Gefühlen von Schuld und Scham aufgrund der persönlichen oder kollektiven Involvierung in das NS-System ist die Essenz dessen, was transgenerational weitergegeben wurde und als tiefgreifender Generationenkonflikt in unserer Gesellschaft immer noch wirksam ist. Im Rückblick können wir beobachten, wie das latente aggressive Material zum Teil nach außen agiert, zum Teil in destruktiver Weise gegen das eigene Selbst gerichtet wurde. Die Nachkommen der Kriegsgeneration griffen zu Recht in den 68er Jahren die Verlogenheit und Schamlosigkeit der Eliten an, wurden aber selbst Teil der Spaltungsdynamik (vgl. Lohl 2009). Die kollektive Zuschreibung von Täterschaft wurde von ihnen angenommen, aber als nur für die Elterngeneration gültig erklärt, während sie selbst sich zunächst mit dem Kommunismus, später mit den jüdischen Opfern identifizierten. Nach Jureit und Schneider (2010) nahm dies nicht selten die Form einer Über-Identifikation mit den Opfern des Holocaust an, die der Abwehr der eigenen Verstrickung in die Täteranteile der Vorfahren diente. Der eigene Kampf auf der Seite der »Guten« sollte sie vom Stigma des Nationalsozialismus, das uns alle betrifft, befreien. Sie verleugneten, dass sie die Kinder ihrer Eltern sind, d. h. ungewollt, aber notwendigerweise Aspekte des Zerstörerischen, z. B. von Hybris und Gewaltbereitschaft, in sich tragen. Auch war es ihnen damals kaum möglich, das Leid ihrer Eltern anzuerkennen. Als Kinder ihrer Eltern wurde diese Generation ein Container für unverarbeitete Scham- und Schuldgefühle. Übernommene Scham- und Schuldgefühle erzeugen jedoch eine erhöhte Anfälligkeit für negative Zuschreibungen und dadurch wieder entsprechenden Spaltungs- und Projektionsbedarf. Solche Spaltungsprozesse schützten einerseits die Familien, indem die Anklage sich vor allem nach außen richtete (insbesondere durch Verschiebung vom Privaten ins Politische). Sie entfremdeten die Akteure aber auch von den eigenen problematischen Wurzeln und führten so zu einem unüberbrückbaren Graben zu den eigenen Eltern. Identität bleibt unter solchen Umständen prekär: Sie ist immer wieder vom Durchbrechen entlehnter Schuld- und Schamgefühle bedroht, die dann bei Anderen deponiert werden müssen. Der ständige Kampf gegen das »Böse« im Anderen kann zu einer nicht enden wollenden Sisyphusarbeit werden, mit der die Spaltung aufrecht erhalten wird (vgl. z.B. Horn 2011). Von den Eltern übernommene Scham- und Schuldgefühle können aber auch zu einer Aggressionshemmung nach außen führen. Das zerstörerische Potenzial richtet sich dann gegen das eigene Selbst mit der Folge von Selbsthass und Selbstwert-Problemen, großer innerer Einsamkeit und häufig auch psychosomatischen Erkrankungen. Die innere Annahme der von den Eltern deponierten Schuld- und Schamgefühle hat schwerwiegende 255 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Folgen für die seelische Entwicklung, wie ich es häufig in meiner Praxis sehe: Sie wird bezahlt mit dem Gefühl, wirklich böse zu sein und mit der Entfremdung von den eigenen guten und kreativen Wurzeln. Bei einer Vielzahl meiner Patient/innen, deren Eltern Kriegskinder und deren Großeltern Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer waren, beobachte ich Selbstwertstörungen bis hin zu chronischer Suizidalität und Selbstbehinderungen im Leben: Sie dürfen nicht erfolgreich und gut sein, was gelingen könnte, wird wieder zerstört. Sie sehen bei ihren Eltern eher das Leid und nehmen sie auf Kosten des eigenen lebendigen Selbst in Schutz. Gleichzeitig spüren sie unterschwellig auch die Täteraspekte der Eltern und bleiben diesen deshalb fremd. Es entsteht eine Loyalität in der Entfremdung, in der beide Seiten einsam bleiben (vgl. z.B. Horn 2009). Die Spaltungslinie läuft im ersten Fall entlang der Vorstellung »böse Eltern/gute Kinder« mit Verleugnung von Opferschaft der Eltern und der eigenen Verbundenheit mit ihnen, im zweiten entlang der Vorstellung »gute Eltern/böse Kinder« mit der Verleugnung der Täterschaft von Eltern und Opferung eigener Lebensperspektiven. Dies geschieht bei den Kindern der Täter/innen in der Regel unbewusst und wird von der nächsten Generation wiederum unbewusst wahrgenommen und aufgegriffen. Durch die beschriebenen Spaltungen und Projektionen wird das Aggressive unbewusst weitergereicht, aber nicht verarbeitet. Sie wirken in unsere Institutionen und in die Familien hinein und beeinflussen unsere Ich- und Großgruppen-Identität. Sie können zu Ressentimentbildungen führen und dadurch chronisch und langfristig gefährlich werden (vgl. Pfäfflin 2009). Die historische Erfahrung zeigt, dass solche Ressentiments, wenn sie im Unbewussten schlummern, auch nach vielen Generationen wiederbelebt werden können (vgl. Volkan 1999). Allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind generalisierte Spaltungsprozesse vorausgegangen. Wir haben also allen Grund, nicht nur um unserer selbst willen, sondern auch im Hinblick auf die Zukunft darüber nachzudenken, wie wir Spaltungsprozesse überwinden und das Zerstörerische in uns und der Gesellschaft entgiften und integrieren können. Im folgenden zweiten Teil werde ich schwierige Interaktionen in kleinen Gruppen von Nachkommen jüdischer Überlebender und nicht-jüdischer Deutscher analysieren, um daran Erkenntnisse über die Auswirkungen des transgenerationalen Erbes auf die Identitätsbildung dieser Generation zu gewinnen. Dabei muss derzeit offen bleiben, in wieweit durch die Analyse verbaler Gewalt in kleinen Gruppen auch Erkenntnisse über destruktive Dynamiken auf der Makroebene gewonnen werden können.

2.

Von der Abwehr durch Spaltung zum Dialog: Das Ringen der zweiten Generation um ihre Identität

Der Dialog von nicht-jüdischen Deutschen mit den Nachfahren von HolocaustÜberlebenden ist eine große Herausforderung. In dieser Begegnung werden indi256 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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viduelle und kollektive Erfahrungen wiederbelebt, die wir von unseren Eltern und Großeltern zum großen Teil unbewusst übernommen haben. Das transgenerationale Erbe überlagert, explizit oder implizit, die Begegnung. Der Dialog kann explosiv werden und scheitern, wenn traumatisches Erleben angesprochen wird oder wir uns in unserer kollektiven oder personalen Identität angegriffen fühlen und die Selbststabilisierung durch Spaltung und Projektion oft geradezu reflexhaft wieder einsetzt.9 Intrapsychisch besteht die Herausforderung darin, das jeweils Abgespaltene und Projizierte wieder in die eigene Person zurückzunehmen, um es in unsere Vorstellungen von uns selbst und unserer Gruppe wieder einzubinden. Wenn wir Spaltung als unbewussten Abwehrmechanismus der Psyche und in ihrer stabilisierenden Funktion ernst nehmen, ist klar: Dies ist eine Zumutung und nicht ohne weiteres möglich. Was also ist möglich? Wo liegen Fallstricke und Gefährdungen im Dialog? Unter welchen Voraussetzungen kann er eine heilsame Wirkung entfalten? Im Folgenden werden zunächst vier Beispiele, die dem deutsch-jüdischen Dialog entnommen sind, vorgestellt und anschließend im Hinblick auf die Fragestellung interpretiert.

2.1 Beispiele 2.1.1 Die Macht der kollektiven Identität – oder: »Ich spucke vor Euch aus« Bei einer Begegnung zwischen Deutschen und jüdischen Israelis, die sich durch den gemeinsamen Dialog auf die Arbeit in einem Friedensprojekt vorbereiten – ich selbst war in der Rolle einer Ko-Vermittlerin –, kommt es zu folgender Szene: Rahel10, eine junge Israelin, schildert am zweiten Tag des Encounters in der Kleingruppe ihre Gefühle bei der ersten Ankunft in Deutschland. Hinter jedem Baum habe sie Heckenschützen gesehen, sie habe Angst gehabt, deutschen Boden zu betreten. Ihre Schilderung entgleist ihr emotional und endet mit dem Ausruf: In meinem Kopf schreit etwas »you fucking Germans!« Betretenes Schweigen folgt. Später in derselben Sitzung erzählt eine deutsche Teilnehmerin, Carla, einen Traum, den sie in der Nacht davor geträumt hatte: Sie war unterwegs, da trat ihr eine Frau schweigend gegenüber und spuckte vor ihr aus. Sie fühlte Wut, Scham, Trauer und Schmerz. Da wehrte sich etwas in ihr, und sie sagte: Du hast 9 Bar-On (2007) beschreibt im jüdisch-palästinensischen Dialog »genügend gute«, »genügend schlechte« und »explosive« intergruppale Interaktionen. Die beiden letzteren führen zum Scheitern, entweder durch die Unterwerfung einer Gruppe unter die andere oder durch wechselseitige destruktive Attacken. Trotz der Unterschiede in der politischen Situation können ähnliche Phänomene in den hier zur Diskussion stehenden Dialogen gefunden werden. 10 Name geändert, ebenso bei allen anderen Protagonist/innen. 257 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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kein Recht, vor mir auszuspucken. Der Traum endet damit, dass beide Frauen sich in die Augen schauen und sich umarmen.11 Ich finde diese Szene bemerkenswert. Sie zeigt, wie beide Frauen zu Trägerinnen kollektiv vermittelter Emotionen wurden. Die Israelin wurde zum Sprachrohr der jüdischen Angst vor Verfolgung und daraus resultierender Aggression, die Deutsche zu dem der deutschen Scham aufgrund der NS-Verbrechen und der Angst, als »Nachkomme von Tätern« verachtet zu werden. Durch die Begegnung wurden die latente jüdische Angst und die deutsche Scham aktiviert. Carlas Traum verdeutlicht bildhaft die Szene in der Gruppe – es war, als hätte Rahel allen Deutschen vor die Füße gespuckt, und diese schwiegen. Rahel fühlte, dass die Beschimpfung in gewisser Weise ungerecht war, denn die anwesenden Deutschen hatten sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie mochte sie und hatte den Impuls, sich für ihren Ausbruch zu entschuldigen. Die Beschimpfung resultierte aus einer vom Vater übernommenen Angst: Vor der Abreise hatte ihr Vater sie noch gewarnt, hatte ihren Wunsch, sich in der Friedensarbeit zu engagieren, als naiv bezeichnet und gesagt: »Don’t forget, as a Jew, you cannot trust anyone« (Vergiss nicht, dass Du Jüdin bist und niemandem trauen kannst).12 Auch Carla spürte im Traum, dass ihre Scham auch eine übernommene Scham war, von der sie sich befreien wollte. Sie wehrte sich gegen die verächtliche Geste des Ausspuckens und brachte eine Sehnsucht nach Verstehen und Versöhnung zum Ausdruck. Die beiden Frauen schauten sich in die Augen – ein Symbol für die tiefe Begegnung und die Überwindung von Verachtung und Scham. 2.1.2 Orte des Verbrechens als Auslöser für transgenerational vermittelte Traumareaktionen – oder: »Ihr wollt uns in eine Falle locken« Eine Gruppe von deutschen Kriegskindern und englischen child-survivors13, die sich bei einem professionellen Austausch kennengelernt hatten, beschlossen, diesen fortzusetzen und sich gemeinsam der Friedens- und Dialogarbeit zu widmen. Sie trafen sich zumindest ein Mal im Jahr und besuchten dabei regelmäßig eine Stätte nationalsozialistischer Verbrechen, aber auch Orte jüdischen Lebens in Deutschland und England. Im zehnten Jahr ereignete 11 Zu erwähnen ist, dass Carlas Traum auf eine real erlebte Situation in Israel zurückging. Eine Frau hatte ihre Reisegruppe als Deutsche erkannt und verächtlich vor ihr ausgespuckt. Die Gruppe war kommentarlos und beschämt weitergegangen, ohne den Vorgang zu thematisieren. Im Traum wurde diese Erinnerung aktiviert. 12 Tony Hamburger hat mich darauf hingewiesen, dass das Bild der Heckenschützen nicht nur auf eine transgenerational vermittelte Angst der jungen friedensbewegten Israelin, sondern auch auf eine – nach außen projizierte – Scham aufgrund der gegenwärtigen israelischen Politik verweisen könnte. 13 Dem interessanten Aspekt, dass mehrere Teilnehmer sowohl deutsche als auch jüdische Wurzeln hatten, kann ich an dieser Stelle nicht weiter nachgehen. 258 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sich ein explosiver Konflikt, worauf der Kontakt der beiden Gruppen für drei Jahre abbrach. Schließlich fragte mich ein Mitglied der deutschen Gruppe, ob ich mir vorstellen könnte, eine Mediation zu übernehmen. Zusammen mit einem jüdischen Kollegen übernahm ich diese Aufgabe. Die folgende Szene hatte drei Jahre zuvor den Kontaktabbruch ausgelöst: Sie besuchten gemeinsam einen prominenten Ort nationalsozialistischer Verbrechen, an dem es zu einem Eklat kam: Aufgrund unglücklicher Umstände war ein Teil der Gruppe so spät angekommen, dass das Mittagessen ausfallen musste, wollte man das Besuchsprogramm noch absolvieren. Eine jüdische Teilnehmerin geriet in dieser Situation vorübergehend in einen Zustand, in dem sie die Realität verkannte. Sie glaubte, die Situation sei absichtlich herbeigeführt worden, um sie zu schädigen, ja, sie unterstellte der deutschen Gruppe, sie habe die jüdischen Teilnehmer in eine Falle gelockt, um sie verhungern zu lassen. Der ungeheuerliche Vorwurf, der eine Gruppe von Menschen traf, die große Teile ihrer Freizeit der Beschäftigung mit dem jüdischen Schicksal und der Verarbeitung der Vergangenheit widmen, führte zum Zerfall der Gruppe bereits vor Ort, man schlich zunächst in kleinen Grüppchen davon und sprach nicht über das Ereignis. In der Mediation konnte Vieles besprochen und die auslösende Situation als ein In-SzeneSetzen des Holocaust-Erlebens verstanden werden. Von den verschiedenen Gründen, die dazu führten, dass die zugrunde liegenden Ressentiments dennoch nicht ganz aufgearbeitet werden konnten, möchte ich einen herausgreifen: Es kam zu einer Personalisierung des Gruppenkonflikts, der sich nun als Konflikt zwischen zwei Frauen darstellte. Die Gruppe konnte nicht akzeptieren, dass die beiden Frauen ein Grundproblem der Gruppe repräsentierten, das sie quasi als Protagonistinnen in Szene setzten. Dadurch verlor sie vorübergehend ihre haltgebende Funktion. Statt die schwierige Konstellation gemeinsam durchzuarbeiten, beschloss die Gruppe, »in die Zukunft zu schauen« und die Organisation einer gemeinsamen Tagung zu besprechen, die dann auch erfolgreich stattfand. Die Spannungen in der Gruppe bestanden jedoch weiterhin. Meine Hypothese ist, dass die Diskrepanz zwischen dem ungeheuerlichen Vorwurf und dem Selbstideal der engagierten Deutschen für diese so verletzend war, dass dies externalisiert und personalisiert werden musste. Es war offenbar unerträglich, so massiv in die Nähe von Täterschaft gerückt worden zu sein – an dieser Stelle war kein innerer Spielraum mehr da. 2.1.3 Die Zuspitzung alltäglicher Konflikte durch Überlagerung mit transgenerational vermittelten Affekten – oder: »Die KZ-Wärterin« In meiner Zeit als Stationsärztin in einer psychosomatischen Klinik war ich einer jüdischen Kollegin gegenüber in medizinischen Fragen weisungsbefugt. Sie traf ohne Rücksprache mit mir eine Entscheidung, die ich nicht mittragen wollte und deshalb revidierte: Sie hatte einem fraglich suizidalen Patienten 259 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ausgang gewährt. Durch meine Intervention fühlte sie sich massiv angegriffen und gedemütigt, und in der folgenden Auseinandersetzung beschimpfte sie mich als KZ-Wärterin. Nun fühlte ich mich meinerseits zu Unrecht angegriffen und dachte, meine Kollegin sei »verrückt« geworden. Gleichzeitig fühlte ich mich diffus verunsichert, beklommen und schuldig, was mich schweigen ließ. Vermutlich wäre dies das Ende unserer Beziehung gewesen, hätte unsere Arbeit in einem Team uns nicht den täglichen Dialog abverlangt. An einem der folgenden Tage erzählte sie mir in der Kaffeepause einen Traum, den sie in der Nacht nach unserer Auseinandersetzung hatte: Sie sah mich darin als KZ-Wärterin, ich verfolgte sie und trieb sie in einen mit schreckenerregenden Masken bemalten Tunnel, aus dem es kein Entrinnen gab. Schweißgebadet und voller Angst war sie erwacht. Hier begann unser Dialog. Ihr Vater war ein Überlebender von Auschwitz, der alle Angehörigen dort verloren hatte. Wir verstanden, dass der Schmerz und die Angst ihres Vaters noch in ihr lebendig und durch meine von ihr als autoritär, ja vernichtend erlebte Entscheidung wiederbelebt worden waren. Ihre Gefühle, die ich zunächst für »verrückt« gehalten hatte, waren verständlich, wenn ich sie in den Kontext von Auschwitz stellte, wo ärztliche Entscheidungen den Tod bedeuten konnten. Auch wurde deutlich, dass meine diffusen Gefühle von Beklommenheit und Schuld mit dem kollektiven Erbe zu tun hatten, das ich als Psychiaterin in Deutschland angetreten hatte. Wir verstanden, dass unser Konflikt eine überpersonale Dimension hatte, weil das Verbrechen der Vergangenheit zwischen uns stand und in jedem von uns einen Niederschlag hinterlassen hatte: in ihr eine vom Vater herstammende Vernichtungsangst, in mir ein aus der Verstrickung der deutschen Ärzteschaft in die Vernichtung stammendes übernommenes Scham- und Schuldgefühl. 2.1.4 Dynamik in einem supervidierten Workshop: »Vertreibung« oder »Ein typisch deutsches Gesicht« Bella, eine jüdische Teilnehmerin, kam von einer Wohnungsbesichtigung zu spät und aufgelöst zu unserer Sitzung. Unvermittelt erzählte sie davon, dass ihr die Wohnung gekündigt wurde, in der sie mehr als zwanzig Jahre gelebt hatte und die zu ihrem Zuhause geworden war. Sie erlebte die Kündigung wie die Vertreibung aus einem Nest und brach in Tränen aus. Sie war sehr verzweifelt und sprach vom Verlust der Heimat – ihre Familie war aus einem Land des ehemaligen Ostblocks ausgewandert. Anna, ein deutsches Kriegskind, fühlte sich dadurch sehr angesprochen und erzählte zum ersten Mal von den Verlusten von Menschen, Heimat, Hab und Gut, die ihre Familie durch Enteignung und 260 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Vertreibung erlebt hatte. Ein anderer Teilnehmer wandte aufgebracht ein: »Solche Sachen kann man doch nicht vergleichen, die Geschichten von Deutschen und von Juden.« Bella erzählte dann vom historischen Schicksal der Juden und stellte ihre Kündigung in den Kontext der jüdischen Vertreibungsgeschichte. Sie folgerte, dass sich eben nichts geändert hätte und in Deutschland nach wie vor Juden vertrieben würden, so wie sie jetzt aus ihrer Wohnung. Neben mir saß Clara, ebenfalls Kriegskind, die nur mit Glück die Bombardierung und Feuersbrunst in einer deutschen Stadt überlebt hatte und deren Familie 1945 hatte fliehen müssen. Ich spürte, wie bewegt sie innerlich war und wie sie äußerlich erstarrte. Später sagte Clara, dass sie angesichts der Erzählung von Anna Hoffnung geschöpft hatte, endlich auch in ihrem Leid gehört und verstanden zu werden, dass aber Bellas Erzählung sie zutiefst beschämt und zum Schweigen gebracht habe. Sie habe ihr eigenes Leid plötzlich unwichtig gefunden und sich schuldig gefühlt, dass sie es überhaupt hatte erwähnen wollen. Auch Anna schwieg beschämt. Bella hatte mit ihrer Erzählung an deutsche Täterschaft erinnert. Clara, die Tochter eines SS-Mannes, von entlehnten Schuld- und Schamgefühlen gepeinigt, war besonders empfänglich für diese Zuschreibung, sie erstarrte und verstummte. Diese Erstarrung wurde in der Gruppe wahrgenommen und von einem jüdischen Überlebenden als Härte und Kälte interpretiert. Er sah bei Clara ein »typisch deutsches Gesicht« vor sich und unterstellte ihr, sie habe keine Einfühlung für Bellas Schicksal.

2.2 Die emotionale Wiederherstellung der Opfer-Täterkonstellation in der zweiten Generation als Grundproblem des Dialogs In allen Beispielen kommt es auf der jüdischen Seite zu einer Art traumatisch erlebter Situation, obwohl das Trauma die Eltern-oder Großelterngeneration betroffen hatte. Wir sind konfrontiert mit einem transgenerational vermittelten Trauma, das die jüdischen Gesprächspartner/innen jeweils emotional in eine Opfersituation katapultiert, die an den Geschehnissen der Jetzt-Zeit gemessen als irrational erscheint. Auf der nicht-jüdischen deutschen Seite löst dies zumindest Irritation, meist aber schwer auszuhaltende gemischte Gefühle aus: Durch das Verletzt-Sein auf der jüdischen Seite gerät der Dialogpartner vorübergehend in den Einfluss einer unangemessen Täterzuschreibung, gegen die er sich als Deutscher nur schwer abgrenzen kann. Er wird, sei es durch Selbst-, sei es durch Fremdzuschreibung, zum »Bösen«, den der Vorwurf trifft, dem Anderen Leid zugefügt zu haben. Dies kann mit der erlebten Situation und dem eigenen Selbstbild nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Es resultiert das Gefühl, ungerecht angeklagt zu sein, nicht verstanden und 261 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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im eigenen Bemühen um den Anderen übersehen zu werden. Gleichzeitig aktiviert die Zuschreibung von Täterschaft die transgenerational übernommenen Schuld- und Schamgefühle. 2.2.1 Die Zuschreibung von Opferschaft an die zweite Generation jüdischer Nachkommen 2.2.1.1 Transgenerational vermitteltes Trauma: Affektüberflutung und Ausblenden korrigierender Aspekte Es fällt auf, dass es bei jüdischen Nachkommen aufgrund kleiner alltäglicher Konflikte zur Entstehung von Ausnahmezuständen kommen kann, in denen transgenerational vermittelte überflutende Angstgefühle zu Aggressionen führen. Die Situation kann zunächst nicht mehr differenziert betrachtet werden, korrigierende Aspekte werden ausgeblendet. Dies zeigt sich in Beispiel 2 (»In eine Falle locken«) darin, dass das Planungsmissgeschick nicht nur Juden, sondern auch Teile der nichtjüdischen deutschen Gruppe betraf, in Beispiel 3 (»KZ-Wärterin«) anhand der Tatsache, dass meine Kollegin eigenmächtig gehandelt und mich übergangen hatte, indem sie eine Entscheidung traf, die in meinen Verantwortungsbereich fiel. In Beispiel 4 (»Vertreibung«) wird dies darin erkennbar, dass die Kündigung rechtens war, der Mieterin auch genügend Zeit für die Suche einer neuen Wohnung zur Verfügung gestanden, sie aber die Kündigung aus ihrer eigenen Dynamik heraus ignoriert und dadurch eine Art Vertreibungssituation selbst hergestellt hatte. 2.2.1.2 Generalisierung, Loyalität und Suche nach Schutz in der kollektiven Opfer-Identität Gleichzeitig kommt es zu einer Generalisierung: Was mir geschieht, geschieht nicht nur mir, sondern es reiht sich ein in jüdische Erfahrung und jüdisches Schicksal. Kollektive Identität dient jetzt der Stützung des persönlichen negativen Erlebens. In einer als Gefahr erlebten Situation suchen Menschen häufig Schutz in ihrer Gruppe, hier in der kollektiven Opfer-Identität der jüdischen Großgruppe. Durch die Loyalitätsforderungen jüdischer Überlebender kann dies noch verstärkt werden. Im PAKH haben wir die Erfahrung gemacht, dass die positive Verständigung zwischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen der zweiten Generation bei Überlebenden des Holocaust zu Ängsten führen kann. Diese äußerten sich z. B. so, dass ein Überlebender in Situationen, in denen sich emotionale Nähe unter den Nachkommen entwickeln wollte, regelmäßig anfing, über die Neonazis zu sprechen oder eine Geschichte zu erzählen, die die Deutschen als Kollektiv schlecht dastehen ließ. Es 262 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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war seine Art, eine Angst auszudrücken,14 die man vielleicht so charakterisieren könnte: »Wenn ihr, die Nachkommen des jüdischen Volkes, anfangt, euch mit den Kindern der Täter gut zu stellen – und die Differenz zwischen den Kindern der Täter und den Tätern ist doch unscharf15 –, dann ist alles verloren. Ihr seid doch das einzig Gute, das wir haben; wenn ihr mit diesen gemeinsame Sache macht, sind wir verraten«. Hier wird der legitime Wunsch nach der Loyalität der Nachkommen sichtbar und die Angst, diese zu verlieren im Prozess der Annäherung an die Deutschen. Für die jüdischen Nachkommen bedeutet dies eine schwierige Aufgabe im Dialog: sich loyal zu ihren Eltern und Vorfahren zu verhalten und doch deutlich zu machen, dass Loyalität nicht unbedingt heißt, die Ängste zu teilen, denen Überlebende vielfach unterworfen sind, dass man sich von diesen auch abgrenzen darf. Ich fasse zusammen: Die Selbst-und Fremdzuschreibung von Opferschaft in der zweiten Generation von Nachkommen der Überlebenden des Holocaust ist bedingt durch die transgenerational vermittelten Folgen des Traumas in der zweiten Generation, die Loyalitätsverpflichtung gegenüber den Eltern und durch die kollektive, durch geschichtliche Erfahrung bedingte Opferidentität, die auch in die persönliche Identität einfärben kann. 2.2.2 Die Zuschreibung von Täterschaft an die zweite Generation von Deutschen Die Zuschreibung von Täterschaft, manchmal explizit, manchmal implizit, trifft Deutsche aufgrund ihrer Geschichte dann besonders stark, wenn sie direkte Nachkommen von Täter/innen sind, wie im vierten Beispiel (2.1.4) deutlich wird. 2.2.2.1 Täterzuschreibung wird als Angriff auf das Ich-Ideal erlebt In unserer Arbeit im PAKH (Siebert/Horn 2010) haben wir immer wieder erfahren, dass dem Wunsch, sich mit der Dynamik von Tätern und ihren Nachkommen auseinanderzusetzen, gleichzeitig eine sehr starke, meist unbewusste Angst gegenübersteht. Es ist die Angst der Kinder, den Tätereltern ähnlich zu sein. Täterkinder befürchten, Destruktives in sich zu tragen, dass dies entlarvt werden könnte und sie dann verstoßen würden. Täternachkommen müssen sich deshalb besonders stark vom Verdacht möglicher Täterschaft abgrenzen. Sie haben häufig ein überstark ausgeprägtes 14 Angesichts des aktuellen Rechtsradikalismus in Deutschland, wie er sich in den NeonaziMorden gezeigt hat, haben diese Ängste einen realen Aspekt; sie vermischen sich aber mit den unbewussten, von der Traumatisierung herrührenden Vernichtungsängsten und werden dadurch übergroß. 15 Die Grenze ist unscharf, wenn man im Rahmen der kollektiven Identität denkt – kollektive Zuschreibungen ändern sich nicht in einer Generation (vgl. Elias 1989). 263 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Ich-Ideal und fantasieren, etwas Besonderes zu sein und Andere retten und erlösen zu müssen. Dadurch sollen die von den Eltern oder Großeltern beschädigten Ideale von Menschlichkeit im Sinne einer Wiedergutmachung repariert werden. Gleichzeitig soll bewiesen werden, dass die Kinder den »schlechten Samen« (Dan Bar-On 1993) nicht in sich tragen. Das Ich-Ideal ist also auch eine Abwehrformation gegen das tiefe innere Gefühl, böse oder wertlos zu sein, und die Scham darüber (vgl. Horn 2011). Täternachkommen brauchen die Vorstellung, gute Menschen zu sein, als einen inneren Ort, an dem sie vor Kontamination mit dem »Bösen« sicher sind. Durch Täterzuschreibungen wird diese Tabu-Zone verletzt und das Ich-Ideal infrage gestellt. Dadurch rutschen Täternachkommen innerlich in die Nähe von schwer erträglicher Täterschaft. Es scheint hier wenig Spielraum zu geben, weil durch die drohende innere Verschmelzung mit Tätereltern die persönliche Identität bedroht wird. 2.2.2.2 Gespaltene Loyalität oder Loyalität in der Entfremdung Diese Angst vor einer Identitätsdiffusion durch Verschmelzung mit den Tätereltern verweist auf eine unbewusste Loyalität mit diesen, die fortbesteht, auch wenn die Kinder sich bewusst abgrenzen. Sie verurteilen die Taten der Vorfahren und missbilligen deren Wertvorstellungen, die ihnen aber dennoch, sozusagen mit der Muttermilch, vermittelt wurden. In Psychoanalysen werden diese abgespaltenen Loyalitäten in Träumen sichtbar oder in schwer zu ertragenden Gegenübertragungsgefühlen des Analytikers, wie Einschüchterung, Faszination an der Gewalt und Gefühlen von Komplizenschaft (vgl. Halberstadt-Freud 2011, Horn 2011). In Beispiel 2 (»Orte des Verbrechens«) versuchte die Gruppe, ihren Konflikt und die damit verbundenen unangenehmen Gefühle durch die gemeinsame Planung einer Tagung zu überwinden und vermied die Biografie-Arbeit. Man könnte sagen, sie versuchte ihrem Ich-Ideal zu folgen und wich der Erforschung der abgespaltenen Loyalitätsbindungen aus. In Beispiel 4 (»Vertreibung«) verweisen die massiven Schamgefühle Claras auf die tiefe abgespaltene Loyalitätsbindung zu ihrem Tätervater. Ihre heimliche Liebe zu diesem abwesenden Vater, den sie idealisierte, machte sie besonders empfänglich für Täterzuschreibungen. 2.2.2.3 Das Schamgefühl als Signal des Angriffs auf die Identität In allen Beispielen spielt bei den Nachkommen der Täter das Schamgefühl eine große Rolle. Im ersten Beispiel (»Ich spucke vor Euch aus«) löste die erlebte Verachtung durch den Anderen den Affekt der Scham aus. Die Unversöhnlichkeit im zweiten Beispiel (»Orte der Vernichtung«) resultierte vermutlich aus einer Beschämung, die nicht wieder gut zu machen war. Auch ich fühlte, im dritten Beispiel, eine diffuse, irrationale Scham gegenüber meiner Kollegin, die ich zunächst abwehrte mit der Vorstellung, »sie ist verrückt«. Und im letzten Beispiel bestand die Scham darin, sich 264 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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überhaupt Gehör für das eigene Leiden erhofft zu haben. Ihr eigener Wunsch nach Mitgefühl wurde von Clara aufgrund der Täterschaft ihres Vaters als ungerechtfertigt, ja »schamlos« und inhuman gegenüber den Opfern und Überlebenden des Holocaust erlebt, und die Scham ließ sie – zunächst – erstarren. 2.2.2.4 Das Schweigen der zweiten Generation aus entlehntem Schuld- und Schamgefühl Infolge der Scham kam es in allen Beispielen zunächst zu einem Dialog-Abbruch und Rückzug ins Schweigen. Der Rückzug kann aufgrund des gleichzeitigen Gefühls, ungerecht behandelt zu werden, feindselig getönt sein, wie in Beispiel 2 (»In eine Falle locken«). Hier führte der Eklat zum schweigenden Auseinanderschleichen der Gruppenteilnehmer/innen. Vermutlich kam es zum Abbruch des Dialogs aufgrund von Gefühlen, die keinen Ausdruck finden konnten: übernommene Scham- und Schuldgefühle, Gefühle des ungerecht behandelt Werdens, der Empörung und der Auflehnung gegen die Täterzuschreibung. Es kam später durch die Personalisierung des Konflikts zu einem »Sündenbock-Phänomen«, das eine Kaskade von weiteren Spaltungsprozessen nach sich zog. Auch meine erste Reaktion auf die Vorwürfe der Kollegin im 3. Beispiel (»KZWärterin«) war Schweigen und Empörung. Erst durch ihr Traum-Angebot, mit dem sie den Vorwurf als Aspekt ihres Erlebens thematisierte, war das Gespräch wieder möglich. Die Empörung und Auflehnung ist im vierten Beispiel (»Vertreibung«) nicht zu spüren: Dort richtete Clara, das Kind eines Täters, die Aggression ganz gegen sich selbst. Sie identifizierte sich in selbstzerstörerischer Weise mit den Schuld- und Schamgefühlen, die der Tätervater hätte haben müssen, und verurteilte sich selbst zu Einsamkeit und zum Schweigen. Schweigen aus Schuld-und Schamgefühl kann zur stillschweigenden Unterwerfung führen, womit der Dialog scheitert (vgl. Bar-On 2007). Ich fasse zusammen: Die Zuschreibung von Täterschaft an die zweite Generation von Deutschen, die im Dialog regelmäßig aufbricht, ist eine große Herausforderung, weil sie latente transgenerational übernommene Scham- und Schuldgefühle aktiviert, das Ich-Ideal der Nachkommen von Täter/innen infrage stellt und das Identitätsgefühl angreift. Dadurch entsteht auch Aggression. Diese kann, wird sie nicht aufgelöst und verstanden, destruktiv gegen das eigene Selbst gerichtet, aggressiv nach außen agiert oder in Ressentimentbildung verwandelt werden und dadurch den Dialog gefährden.

2.3 Wie kann der Dialog gelingen und seine integrative Wirkung entfalten? Im Dialog der zweiten Generation kommt es durch psychologische und soziale, transgenerational vermittelte Prozesse zu Selbst- und Fremdzuschreibungen, durch die die 265 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Polarisierung in Opferschaft und Täterschaft emotional wiederhergestellt wird. Es entstehen schwierige, manchmal explosive Situationen, die intrapsychisch mit Affektüberflutungen einhergehen können. Das Beschäftigtsein mit dem transgenerational vermittelten Trauma oder den übernommenen Schuld- und Schamgefühlen engt den empathischen Spielraum ein oder lässt ihn kollabieren. Dadurch wird die Fähigkeit zur Mentalisierung vorübergehend eingeschränkt oder geht gänzlich verloren (zum Begriff der Mentalisierung vgl. Fonagy et al. 2011). Das Gegenüber kann dann nur noch als Feind wahrgenommen werden, es kommt zum verbalen Schlagabtausch oder zum Dialogabbruch und Rückzug in ressentimentgeladenes Schweigen. In einigen Fällen konnten die explosiven Momente jedoch im Verlauf wieder zu dialogischen Momenten werden, und zwar durch Interventionen aus einer dritten Position (Vermittler) oder durch Einführung einer dritten Perspektive (Traum, Biografisches) durch die Teilnehmer/innen selbst. Dieses »Dritte« ist jedoch nicht nur konkret zu denken, sondern auch als ein Prinzip, das es uns ermöglichen kann, unseren inneren Raum wieder zu öffnen und mehrere Perspektiven nebeneinander zuzulassen. Es ist sowohl gruppal als auch intrapsychisch wahrnehmbar. In der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie steht das »Konzept der Triangulierung« für eine solche entwicklungsfördernde Rolle des Dritten. »Am Anfang steht […] die Drei, besser: die Zwei in der grundlegenden triangulären symbolischen Ordnung […]« (Müller-Pozzi 2012, S. 70). Dabei ist das Dritte nicht als ein Additives zu verstehen, sondern als eine Struktur, die dem Dialog vorausgeht und in ihm immer wieder hergestellt wird. Die interrelationale Psychoanalyse hat mit dem Konzept der Intersubjektivität versucht, dieses Dritte klarer zu fassen.16 In gruppenanalytischen Konzepten steht an dieser Stelle der Begriff der Gruppenmatrix (Foulkes 1973; Wilke 2000). Moré (2013) spricht im Kontext transgenerational vermittelter Prozesse von der »transgenerational erweiterten Matrix«. 2.3.1 Die potenziell heilsame Wirkung der Gruppe Wie Gruppen ein heilsames Potenzial entwickeln können, möchte ich zunächst an Beispiel 4 (»Vertreibung« oder »Ein typisch deutsches Gesicht«) erläutern. Es handelte sich um eine supervidierte Gruppensituation, das heißt, es stand ein von allen respektierter Leiter zur Verfügung. Dennoch kam es mehrfach zu schwierigen Momenten, von denen einer beschrieben wurde. In diesem Beispiel hatten sich die nicht-jüdischen deutschen Protagonisten zunächst beschämt aus dem Kontakt zurückgezogen – sie waren nicht in der Lage gewesen, der ihnen zugemuteten Täterzuschreibung etwas 16 Für eine Übersicht siehe Kunzke (2011); zur Kritik an einem verdinglichten Verständnis von Intersubjektivität siehe Pohlmann (2013); zur Konvergenz intersubjektiv-relationaler und gruppenanalytischer Konzepte siehe Potthoff (2012). 266 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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entgegen zu setzen. Diese Situation konnte jedoch im weiteren Verlauf von der Gruppe gemeinsam verstanden werden. Solche schwierigen Momente lassen sich oft nicht vermeiden, aber man kann aus ihnen lernen, wenn die Gruppe die Bereitschaft dazu entwickelt. In Beispiel 4 fand Bella Verständnis für ihre Familiengeschichte, aber auch Korrektur und Hilfe, die gegenwärtige Situation differenzierter zu betrachten und ihre Realitätswahrnehmung zu korrigieren. Die Gruppenteilnehmer/innen fanden den Mut, die äußere Realität (»eine ganz normale Kündigung«) zu benennen, d.h. sie waren nicht mehr durch Schuld- und Schamgefühle auf deutscher Seite oder Loyalitäten auf jüdischer Seite gehemmt und konnten konstruktiv Aggressives zulassen. Bella konnte die Generalisierung zurücknehmen und war bereit, sich von der kollektiven Opferidentität in diesem Punkt zu lösen. Kognitiv war ihr, wie sie später sagte, auch während ihres emotionalen Ausbruchs klar gewesen, dass ihr kein Unrecht wiederfuhr; die Gefühle der Verletzung, des Vertrieben- und Verloren-Seins waren aber übermächtig gewesen. Auch Clara konnte über sich sprechen, weil ihr Berührt-Sein und ihr Leid in der Gruppe wahrgenommen und angenommen wurden. Dadurch konnte ihre harte Ausstrahlung als Folge ihrer Scham und als Ausdruck ihres Selbstschutzes neu eingeordnet werden. Durch dieses Verständnis war sie in der Lage, über ihre kindliche Liebe zu ihrem SS-Vater zu sprechen. Damit wurde ein Teil ihres Erlebens integriert, der vorher mit großer Scham behaftet war und als unzumutbar abgespalten werden musste. 2.3.2 Den inneren Raum wiederherstellen im Dialog Ein Dialog zwischen Nachkommen von Überlebenden und von Täter/innen, der gelingen soll, muss mit dem Kollaps des inneren Raumes rechnen und ihn akzeptieren. In der Folge von Massenverbrechen sind die nachfolgenden Generationen in ihrer Identität verunsichert und verletzt. In der Begegnung kommt es aufgrund der beschriebenen transgenerationalen Verstrickungen häufig zu überstarken, den Dialog gefährdenden negativen Affekten. Affekte sind jedoch, solange sie noch nicht zu Ressentiments geronnen sind, vorübergehender Natur. Sie können durch das Verständnis und die Anerkennung der eigenen Verletzung durch andere Teilnehmer/ innen aufgefangen und beruhigt werden. In den beschriebenen Beispielen fanden die Beteiligten verschiedene Möglichkeiten, durch die gemeinsame Wiederherstellung des »Dritten« ihren inneren Raum zu öffnen. In Beispiel 1 (»Ich spucke vor Euch aus«) distanzierte sich Rahel von der Beschimpfung »you fucking Germans«, indem sie diese als etwas in sich erlebte, mit dem sie nicht ganz identisch war (»etwas schreit in meinem Kopf«), das sie aber aus ihrer Biografie herleiten konnte. Claras Ängste und Wünsche im selben Beispiel fanden ihren Ausdruck in einem Traum, der einen »als-ob-Raum« in der Gruppe herstellte: Es war, »als ob« Rahel den Deutschen vor die Füße gespuckt hätte. Durch ihren Traum hatte die Erzählerin einen Übergangs267 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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raum geschaffen, in dem Verachtung, Scham und ihre Auflösung als verschiedene Realitäten nebeneinander stehen und weiter besprochen werden konnten. Innere und äußere Realität wurden dadurch wieder deutlicher voneinander getrennt. Auch im 3. Beispiel (»KZ-Wärterin«) nahm meine Kollegin durch die Traumerzählung den Vorwurf quasi in ihre Innenwelt zurück. Dadurch entstand ein neuer Spielraum für Verstehen, das im Dialog weiter vertieft werden konnte durch das Einbeziehen der eigenen Biografie (vgl. dazu Bar-On 2004). Das biografische Verstehen kann als ein »Drittes« wirken, das den inneren Raum auf verschiedenen Achsen wieder aufspannt: im Hinblick auf die Zeit (was war früher, was ist jetzt), im Hinblick auf die Generationengrenze (was gehört zu meinen Eltern, was zu mir) und im Hinblick auf Innenwelt und Außenwelt (was spielt sich in mir ab, was ist außen). Durch Biografie-Arbeit werden sich die Dialogpartner/innen ihrer eigenen Verletzungen und derjenigen der Anderen bewusst. Sie lernen ihre inneren Verflechtungen mit den Eltern und Großeltern kennen und können sich in einem manchmal schmerzlichen Prozess von transgenerational vermittelten destruktiven Loyalitäten trennen. Sie können die Fähigkeit entwickeln, nicht jede »Einladung«, sich als »Opfer« oder »Täter« zu fühlen, anzunehmen und sich gegen solche Zuschreibungen abzugrenzen. Wo ein Sich-bedroht-Fühlen in der eigenen Identität aufkommt, kann die Gruppe den fehlenden inneren Spielraum vorübergehend ersetzen und einen Übergangsraum herstellen, in dem die verschiedenen Aspekte des Erlebens nebeneinander stehen und Gehör finden können. Dialogarbeit geht also weit über das Erzählen hinaus und umfasst sehr komplexe innere Prozesse sowohl beim Erzählenden als auch bei den aktiv Zuhörenden. Im Dialog erleben wir uns im Blick des Anderen. Das innerlich beteiligte, von Empathie getragene, aktive Zuhören verändert nicht nur den Erzählenden, sondern auch den Zuhörenden, der seine inneren Bilder von sich selbst und dem Anderen dabei bestätigt oder infrage gestellt sieht.17 Dialog ist so gesehen eine ständige Arbeit an der eigenen Identität. Wenn er gelingt, erleben die Teilnehmer/innen dabei auch die eigene Wirkmächtigkeit in der Begegnung mit dem Anderen.

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Es »kostet« uns also etwas, uns auf Dialog einzulassen; vgl. dazu Krondorfer (2012).

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Lügen – Wünsche – Wirklichkeiten Über die Folgen der Verleugnung der NS-Geschichte der Eltern und Großeltern für die Nachkommen und die Notwendigkeit, diese Geschichten aufzuarbeiten Ute Althaus

»In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte«, sagte der Historiker Raul Hilberg (zit. n. Welzer 2005a). »Die Täter waren nicht irgendwelche ›anderen‹, sondern oft genug die eigenen Angehörigen. Diese aber verschwanden nach dem Krieg bis in unsere heutigen Tage in den Familien. Untersuchungen zeigen, dass ein Großteil der Jugendlichen, trotz zum Teil guter Kenntnisse der Geschichte des Nationalsozialismus, die Mitläufer- bzw. Mittäterschaft in der eigenen Familie ausblenden« (Welzer et al. 2002).

Wo es keine Täter gibt, kann es auch keine Opfer geben, oder umgekehrt: Will man der Opfer gedenken, um ihnen heute den Respekt zukommen zu lassen, der ihnen im Nazideutschland verweigert wurde, müssen die Täter, die den Opfern dieses unbeschreibliche Leid antaten, mit benannt werden, auch wenn, oder vielleicht gerade weil sie Mitglieder der eigenen Familie sind. Sonst läuft ein solches Gedenken Gefahr, unglaubhaft zu werden. Ruth Klüger, in Kalifornien lebende Wienerin und Überlebende von Auschwitz und anderen Lagern, drückt das sehr deutlich aus: Man beklage heute zwar die Opfer, gestehe sich aber nicht ein, »dass man sie geopfert hatte«. Solches Mitgefühl mit den Opfern bei gleichzeitiger Ausblendung der Täter sei nur »Pseudovergangenheitsbewältigung« und eigentlich »sentimentale Flucht vor der Realität« (Reck 2008, S. 1). In den letzten zwanzig Jahren kommen in der Öffentlichkeit vermehrt Täter/innen als Familienangehörige in den Blick durch Ausstellungen, Bücher und Filme, in denen nach der Familiengeschichte aus der NS-Zeit gefragt wird und Familienmitglieder als tatsächliche oder mögliche Täter/innen und Mitläufer/innen des Nationalsozialismus benannt werden. Die Reaktionen auf solche Veröffentlichungen fallen oft sehr heftig aus. Ein eindrückliches Beispiel für Reaktionen innerhalb der Familie zeigt der Film Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß von Malte Ludin (2005). Jenes Familien271 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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mitglied, das die Wirklichkeit der Familiengeschichte in der NS-Zeit thematisiert und den Vater als NS-Täter entlarvt, wird entwertet und als Nestbeschmutzer bekämpft. Dabei sind Vorwürfe, er wäre damals noch sehr klein gewesen und habe deshalb heute kein Recht, sich ein Bild der damaligen Zeit zu machen und die Eltern zu kritisieren, noch die harmlosesten. Trotz gegenteiliger Dokumente halten die Schwestern von Malte Ludin krampfhaft an der Unschuld und dem Nicht-Wissen des Vaters fest, als wäre dies das Fundament des eigenen Seins. In der Öffentlichkeit sind die Reaktionen nicht weniger heftig, wenn nicht mehr anonymisierend von »den Nazis« – gemeint waren damit immer »die Anderen« – gesprochen wird, sondern die Täter der NSVerbrechen und ihre Taten zum Beispiel als Mitglieder der Wehrmacht durch Fotos, die sie selbst geschossen haben, und durch Tagebuchaufzeichnungen ein Gesicht bekommen, wie dies in der ersten, von Hannes Heer gestalteten Version der Wehrmachtsaustellung der Fall war. Die Täter und Mitläufer rückten näher an die eigene Familie heran, was zu heftigen, zum Teil eskalierenden Demonstrationen gegen die Ausstellung führte. Der Vorwurf, die Ausstellung sei polemisch und mindestens 90% der Bildlegenden falsch, erwies sich als weit überzogen; Eine Historikerkommission, die die Ausstellung prüfte, bilanzierte, dass von den 1433 Fotografien weniger als 20 nicht in eine Ausstellung über die Wehrmacht gehörten (vgl. Heer 2006, S. 23). Im Folgenden möchte ich, von meiner eigenen Geschichte ausgehend, diese emotionalen Abwehrreaktionen genauer betrachten und mich der Frage nähern, warum es notwendig ist, den Holocaust auch als Familiengeschichte aufzuarbeiten. Ich werde zuerst meine Lebensgeschichte kurz darstellen und dann auf meine Motivation und meine Schwierigkeiten eingehen, diese Geschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen (Althaus 2006). Ich, Jahrgang 1943, bin mit Familiengeheimnissen aufgewachsen. In meiner Kindheit gab es etwas, das ich nicht wissen sollte – und doch sollte ich genau wissen, worüber ich nicht sprechen und worüber ich keine Fragen stellen durfte. Mein Vater saß nach dem Krieg im Zuchthaus, das wusste ich. Weshalb, das wusste ich nicht: Das gehörte zum Familiengeheimnis. Obwohl mir gesagt wurde, dass meine Mutter den Vater im »Zuchthaus« besuchte, durfte ich das Wort »Zuchthaus« nicht aussprechen. Es war verwirrend. Wenn ich von Bekannten gefragt würde, wo mein Vati wäre, sollte ich antworten: in der Gefangenschaft. Das waren einige Väter meiner Klassenkamerad/innen auch, deren Mütter konnten die Väter aber nicht besuchen, meine Mutter fuhr zwei Mal pro Jahr nach Kaisheim in Bayern und erzählte anschließend ausführlich von der Begegnung mit meinem Vater, den ich nicht kannte. Neugierige Fragen von Nachbarn, ob denn jetzt auch mein »Vati« käme, wenn wieder ein neuer Transport von Kriegsgefangenen in der Zeitung angekündigt war, machten mich rat- und wortlos. Nichts passte zusammen, es war verwirrend, düster, bedrohlich. Das Gebot, nichts nach außen zu tragen, machte die Familie zu einer verschworenen Gemeinschaft, in sich abgeschlossen, in der doch jeder alleine ist: Das Familiengeheimnis 272 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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verwehrte nicht nur die Öffnung nach Außen, sondern vereinzelt auch innerhalb der Familie. So schrieb meine Mutter an meinen Vater in der Haft: »Vor Ute muss man sich in acht nehmen, die hört bei allen zu und erzählt es dann in R. [der Stadt in der ich aufwuchs; UA] herum« (Brief vom 17.08.1948). Solange mein Vater inhaftiert war – ich war neun Jahre, als er Weihnachten 1952 vorzeitig entlassen wurde – baute ich mir meinen idealen Patchworkvater, den ich mit allen guten Eigenschaften, die ich bei Vätern meiner Freundinnen gesehen hatte, oder die ich mir wünschte, ausstaffierte. Von einem ihrer Besuche brachte meine Mutter ein kleines Stück Stoff, das mein Vater gewebt hatte, mit; mein Vater arbeitete in der Weberei des Zuchthauses. Ich versteckte dieses Stückchen Stoff zusammen mit einer Fotografie von ihm in einer Schublade und wenn ich allein war, holte ich es heraus und streichelte es. Dieser raue, blau-weiß karierte Stoff wurde zum Faustpfand seiner Existenz. Das Bild des Sehnsuchtsvaters, der mir in meinen frühen Jahren immer wieder Zuflucht war, zerbrach, als mein Vater entlassen wurde. Ein unzugänglicher Mann, vor dem ich Angst hatte und für den ich mich schämte, wenn er im Kleppermantel und mit einem alten Militärrucksack gebeugt, ohne jemanden zu grüßen, durch die Stadt lief. Darüber und auch über diese abrupte, tiefe Enttäuschung konnte in der Familie nicht gesprochen werden: Die Kinder hatten zu gehorchen und zu funktionieren, Gefühle waren dabei eher störend und wurden häufig mit einem »Ach Quatsch« abgetan. Die Mauer des Schweigens wurde zum Bestand meiner eigenen Seelenlandschaft und verstärkte sich nach der Entlassung meines Vaters noch mehr. Dahinter verschwanden nicht nur das Familiengeheimnis, sondern auch die eigenen Empfindungen, die in der Familie auf keinen Widerhall stießen, sondern im Gegenteil entwertet wurden. Das Familiengeheimnis war für mich als Kind unantastbar. Im Alter von Ende 20 begann ich das Familiengeheimnis langsam zu lüften, es war mir aber erst nach dem Tod meines Vaters möglich, das Tabu ganz zu brechen und in Archiven nach seiner militärischen Laufbahn und nach den Prozessakten zu suchen. 1993 starb mein Vater im Alter von 97,5 Jahren. Als ich sein Zimmer im Altersheim ausräumte, fand ich in seinem Wäscheschrank den Briefwechsel zwischen ihm und meiner Mutter aus der Zeit, in der er seine Zuchthausstrafe von 1947 bis 1952 in Kaisheim absaß, sowie seine im Zuchthaus verfasste Vita. Bei Haushaltsauflösungen weiterer Verwandter tauchten Briefe und Tagebücher meines Vaters aus dem ersten Weltkrieg, der Zeit zwischen den Kriegen und aus dem zweiten Weltkrieg auf. Ich bekam dadurch Material in die Hände, um den Fragen nachzugehen, die ich meinen Eltern nie stellen konnte oder auf die ich, wenn ich sie stellte, keine befriedigenden Antworten bekommen hatte. Beide Eltern behaupteten nach dem Krieg, nie Nazis gewesen zu sein: Meine Mutter: »Mit dem Quatsch hätte sie nie etwas zu tun gehabt«; mein Vater: »NS-Offizier war ich nicht«. Die Briefe aber zeigten etwas ganz anderes: Beide Eltern waren begeisterte Anhänger von Hitler und entsprechend Antisemiten. Über das Verbrechen an dem jungen Robert Limpert aus Ansbach in Bayern erfuhr 273 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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ich in der ganzen Tragweite erst 1998 durch die Akteneinsicht der Prozessakten im Staatsarchiv in Nürnberg. Vorher hatte mir mein Vater auf meine diesbezüglichen Fragen Lügengeschichten erzählt, die ich dann in verschiedenen Variationen in den Briefen und in seiner Biografie wiederfand. Mein Vater, Offizier der Luftwaffe, hatte als Kampfkommandant in Ansbach in den letzten Kriegstagen 1945 wenige Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner einen jungen Mann, Robert Limpert, der durch nächtliche Plakataktionen die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Nazis aufrief, persönlich gehängt. Die Amerikaner standen zu diesem Zeitpunkt vor den Toren der Stadt und drohten die Stadt zu bombardieren, wenn sie nicht freiwillig übergeben würde. Mein Vater lehnte das ab und beschwor noch einmal seine Treue zu Hitler. Laut Aussage eines Zeugen sagte er: »Die Stadt Ansbach wird mit allen Kräften verteidigt, wir haben unserem Führer den Eid geschworen, den werden wir unverbrüchlich halten!« Darauf hob er seine rechte Hand zum Hitlergruß und rief dabei: »Heil Hitler!« und ging dann weiter. Als niemand von den anwesenden Leuten auf den Hitlergruß reagierte, drehte sich, so der Zeuge, Oberst Meyer nochmals nach ihnen um und rief ihnen zu: »Ihr lernt in diesem Krieg noch ›Heil Hitler‹ sagen!« Dann ging er stadteinwärts weg (Althaus 2006, S. 112). Robert Limpert versuchte daraufhin, die militärische Kommandozentrale zu stören und schnitt am helllichten Tag eine Telefonleitung durch, er wurde von zwei Hitlerjungen beobachtet, denunziert, von der Polizei festgenommen und meinem Vater ausgeliefert. Dieser stellte ein Standgericht zusammen und verurteilte den jungen Mann zum Tod durch den Strang. In diesem nur wenige Minuten dauernden Verfahren übernahm mein Vater die Rolle des Anklägers und des Richters und anschließend auch noch die des Henkers, da kein Anderer bereit war, das Todesurteil zu vollstrecken. Dann ließ er die Flugblätter und einen Zettel mit der Aufschrift »Ich bin der Verfasser« an die Kleider des Toten heften. Auf die Frage, wie lange die Leiche dort hängen bleiben solle, meinte mein Vater im Weggehen: »Mindestens drei Tage, bis sie stinkt.« Danach nahm er sich ein Fahrrad, kaufte sich, laut Zeugenaussagen, ein Wurstbrötchen in einer Metzgerei und verließ die Stadt. Diese Tat wurde im amerikanischen Heeresbericht (Bayern in der NS-Zeit, Band 6) als Beispiel, wie die Nazis mit der eigenen Bevölkerung umgingen, veröffentlicht. Mein Vater kam nach Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft, wurde dort als der Täter von Ansbach identifiziert – er prahlte mit dieser Tat – und von den Amerikanern dem dortigen Amtsgericht übergeben. Dieses klagte ihn wegen Mordes an und verurteilte ihn am 14.12.1946 wegen Totschlags zu einer Haftstrafe von zehn Jahren Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte. 1952 wurde er vorzeitig entlassen und erhielt die Ehrenrechte wieder zurück. Die Zuchthausjahre wurden ihm als Jahre der Gefangenschaft anerkannt und zählten für seine Pension, die er bis zu seinem Lebensende erhielt. Opfer des Nationalsozialismus, wie zum Beispiel 274 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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die Zwangsarbeiter, müssen dagegen zum Teil bis heute um ihre Anerkennung und Entschädigung kämpfen. Die Mauer des Schweigens war in meiner Familie und in mir selbst zwar dick, hatte aber auch schon in meiner Kindheit kleine Risse, die ich als Kind nicht zu einer Klärung nutzen konnte, da in der Familie alle Angriffe auf das Schweigegebot bekämpft und dem Angreifer solche »Ungehorsamkeiten« als persönlicher Makel ausgelegt wurden. Dazu zwei Beispiele: Beide Eltern stellten sich als moralisch anständig dar: Unwahrheiten zu sagen, wäre ihnen fremd. Als Garant für diese charakterliche Stärke führten sowohl mein Vater als auch meine Mutter ihre Herkunft aus gebildeten Gesellschaftskreisen an, die Mutter war Pfarrerstochter, der Vater Sohn eines Professors. In einer Ecke meiner Seelenlandschaft muss ich dennoch um die Ver-Rücktheit, dieses Nicht-Zusammenpassen verschiedener Fakten, kurz die Verlogenheit in dieser Familie gewusst haben, die ich als Kind nicht als Verrücktheit meiner Familie, sondern als eigene geistige Störung bewertete. Es gab immer wieder Zeiten, in denen meine Ängste, verrückt zu sein, quälend wurden. Eine gut gelöste Mathematikarbeit konnte diese Ängste besänftigen, sie diente mir als Beweis dafür, meinen Verstand noch nicht verloren zu haben. So konnten Sommerferien mir manchmal sehr lange erscheinen, weil diese sichtbaren Rückmeldungen ausblieben. Auch diese Ängste konnte ich nicht teilen, nicht mitteilen; ich schämte mich dafür. Ein anderes Beispiel für Risse in dieser Mauer des Schweigens ist meine Legasthenie als Kind. In den 80er Jahren nahm ich an einem Gestalttherapie-Kurs mit dem Thema Krieg, Flucht und Vertreibung teil. Als erste Aufgabe bekamen wir ein großes Blatt Papier und Farben, wir sollten uns selbst zeichnen. Ich war blockiert und erst am Ende der uns vorgegebenen Zeit malte ich mit schwarzer Kreide und heftigen Strichen ein stilisiertes Gesicht und quer darüber einen dicken Balken, der ein Auge ganz und das andere teilweise verdeckte. Auf die Frage, wie sich dieser Balken auf mein Leben ausgewirkt hätte, antwortete ich sehr spontan: »Ich wurde Legasthenikerin.« Ich lernte als Kind schwer Lesen und Schreiben, konnte Worte nicht als Ganzes überblicken und sie nicht mit Sinn füllen. Entsprechend schwierig war es dann auch, den Sinn eines Satzes oder eines ganzen Textes zu begreifen. Als ich nach dem Tod meines Vaters die Familiengeschichte anhand der Zeitdokumente bearbeitete und dadurch die Eltern in ihrer Wirklichkeit deutlicher sah, wurde mir bewusst, wie sinnvoll diese vermeintliche Störung war. Das Bild, das die Eltern nach dem Krieg von sich zeichneten als ehrliche, rechtschaffene, hohen moralischen Ansprüchen verpflichtete Nicht-Nazis, stimmte keineswegs mit dem überein, was ich in den Briefen und Archivdokumenten fand. Wir Kinder der Nazis sind in einer verlogenen Umwelt aufgewachsen und diese wurde uns zur Normalität. Worte bedeuteten nicht das, was sie zu bedeuten vorgaben. Lügen wurden uns als Wahrheiten verkauft, Verdrehungen 275 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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als Geradlinigkeit, Verbrechen als moralische Pflichterfüllung, Unterwerfung und Gehorsam als Liebe zu den Eltern (Althaus 2006, S. 20). Die Wirklichkeit unserer Eltern durften wir nicht sehen, noch durften wir uns anmerken lassen, was sie uns antaten. »Auf unverschämte Antworten gibt es mitleidlos nur trocken Brot […]. Bitte versündige Dich nicht mit dieser verwünschten Milde. Deine Mutterliebe darf nicht zur Affenliebe entarten«, schrieb mein Vater an meine Mutter am 03.04.1949. Mit Härte bekämpften die Eltern all das, was nicht ihrem Bild vom gehorsamen Kind entsprach. Den Anderen als Anderen anerkennen konnten sie kaum. Als Kinder waren wir auf unsere Eltern angewiesen und lernten unser eigenes Erleben, unsere seelischen Kräfte, die auf Unabhängigkeit und eigenständige Wahrnehmung zielten und nicht in das Universum unserer Eltern passten, tief in uns zu vergraben und die dennoch sichtbaren Sedimente im Gleichklang mit ihnen als »Störungen und persönlichen Makel« zu entwerten. Für das Kind folgt daraus eine tiefe innere Verwirrung, Selbstentwertung, Scham, Angst und Schuldgefühle. Ich lebte wie mit einem Balken über den Augen, der Blick auf die Wirklichkeit, auf meine eigene und die der Eltern, wurde dadurch ausgeblendet, ich lernte als Kind wegzuschauen. Ein weiterer Riss, um aus dieser Familienburg aussteigen zu können, tauchte ebenfalls als gegen mich selbst gerichtete Schädigung auf, die ich nicht mehr durch Verschweigen und mich Verschließen bewältigen konnte. Nach der Geburt meines ersten Kindes im Alter von 25 Jahren litt ich, aus meiner heutigen Sicht, an einer psychosomatische Erkrankung. Nach einer langen Odyssee durch verschiedene Arztpraxen mit verschiedenen Diagnosen und entsprechenden Therapien, ohne Linderungen zu erreichen, gelangte ich an eine Ärztin, die den Stapel mit Untersuchungsergebnissen beiseite legte, mich nach meiner Geschichte fragte und in eine Psychotherapie überwies. Damit begann mithilfe einer Therapeutin meine bewusste Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte. Später folgte noch eine weitere Psychotherapie; für beide bin ich sehr dankbar. Da die Motivation, mich aus diesem Familiengespinst herauszuarbeiten, mir in meinen jungen Jahren bewusst nicht verfügbar war, ich im Gegenteil diesen Drang als beschämendes Defizit empfand, brauchte ich ein Gegenüber, das nicht zu diesem Familienfilz gehörte und mir die Fragen stellen konnte, die in mir gar nicht mehr auftauchten. Dieses Gegenüber fand ich in wohlwollenden Menschen, die meinen Prozess und mein Leben begleiteten. Ich erinnere die Not, Scham und Angst, als mich die Psychotherapeutin – ich war damals Ende 20 – nach meinem Vater und dem Grund seiner Verurteilung fragte. Außerhalb der Familie darüber zu sprechen, brachte mich auf verbotenes, vermintes Gelände und führte zu Ängsten, Scham und Schuldgefühlen, die ich bearbeiten musste, um den Blick auf die Wirklichkeit meiner Familie zu schärfen. Ein schmerzhafter Prozess, denn die Loyalität mit den Eltern, die wir als Kinder zu unserem Überleben benötigten, sitzt tief und vernebelt immer wieder den Blick. Wie tief und existenziell solche Loyalitäten in mir verankert waren, 276 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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wurde mir erst bei der Veröffentlichung des Buches über meine Familiengeschichte bewusst. Ich werde weiter unten darauf zurückkommen. Auch die Dokumente aus der Familie, die mir zur Klärung halfen, waren mir ein wichtiger »Blicköffner«. Ich hatte die Verlogenheit meiner Familie schwarz auf weiß vor mir. Ich las Ungeheuerliches. Jetzt wollte ich genau wissen, was mein Vater in Ansbach in den letzten Kriegstagen verbrochen hatte und wofür er verurteilt worden war. Daraus ergaben sich weitere Fragestellungen: Was waren die Eltern für Menschen, die nach dem Krieg ihre eigene Geschichte so selbst überzeugt veränderten ohne die geringsten Anzeichen einer Irritation über das eigene Handeln – von Schuld und Scham sei hier noch nicht einmal die Rede. Und wie waren sie zu denen geworden, die sie waren? Erst in dieser Phase begann ich meine Geschichte aufzuschreiben und komme damit zu den Schwierigkeiten, mit denen ich mich beim Schreiben über die Familie konfrontiert sah. Über die eigene Familie zu schreiben, ist ein entsprechend schwieriges und unmögliches Unternehmen, wie eine Aussage über sich selbst zu machen. Eine Aussage braucht eine gewisse Distanz zu dem, was man betrachten will, und gleichzeitig ist man selbst Objekt der Betrachtung. Dies ist ein eigentlich paradoxer und doch so notwendiger Prozess, da die Selbstwahrnehmung das Erleben beeinflusst und umgekehrt. Dieser Prozess würde im Sand verlaufen, gäbe es nicht eine Außenwelt, die auf uns reagiert, uns spiegelt, Fragen stellt und wichtige, neue Impulse für unsere Selbstwahrnehmung gibt. Ein Kind hat in solchen, durch ein Familiengeheimnis abgeschlossenen Familien, oft nur die Eltern und Geschwister als Gegenüber und damit wenig Möglichkeiten, über den Familienrahmen hinauszuwachsen. Die Eltern und ihre Haltung bleiben in der Seelenlandschaft des Kindes zentral. Ein Reifen und Erwachsen-Werden ist in solchen Bollwerken schlecht möglich, die Loslösung von den Eltern erschwert. Als ich meine Eltern und besonders meinen Vater in den Briefen und Tagebüchern als begeisterte Nazis erkannte, wollte ich genau hinschauen und gleichzeitig aus Loyalität mit ihnen und Angst, die Familiennormen zu durchbrechen, auch nicht hinschauen: Ich vergaß das Gelesene. Durch das immer wieder erneute Lesen, Vergessen und Durcharbeiten der Briefe setzte ich mich mit meinem inneren Konflikt zwischen sehen wollen und nicht sehen wollen, weil es zu schmerzhaft ist, auseinander. Unterstützung bei diesem Prozess fand ich nicht nur bei Menschen, die mich begleiteten, sondern auch bei der Lektüre von Widerstandskämpfern und Opfern des Nationalsozialismus. Ein sehr wichtiges Buch war und ist für mich das von Ruth AndersFriedrich Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen von 1938–1948. Sie gehörte der Widerstandsgruppe »Onkel Emil« an, die untergetauchten Juden und Deserteuren, den so genannten »U-Booten«, in Berlin durch Versorgung mit Essen und Unterkünften durch den Krieg half. Mutig leisteten sie Widerstand gegen das NS-System. Nächtliche 277 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Plakataktionen in den letzten Kriegswochen, um die Berliner Bevölkerung zur Sabotage gegen NS-Befehle aufzurufen, Beschaffung von Essensmarken, Anstehen, wo es etwas zu kaufen gab, die Untergetauchten besuchen, sie versorgen und immer wieder dort Mut zuzusprechen, wo Angst und Verzweiflung zu groß wurden, all dies nahmen sie auf sich. Situationen, in denen die Gruppe durch Bomben oder Verfolgungen durch die Gestapo bedroht war, beschreibt die Autorin sachlich, spricht ihre Gefühle an, ohne das eigene Leid ins Zentrum zu stellen, die Sorge um die Untergetauchten und die anderen Mitglieder der Gruppe standen an oberster Stelle. Eine solche Haltung fand ich in den Dokumenten meiner Eltern kaum, bei ihnen dominierten Selbstdarstellung und das Bedürfnis, sich in ein gutes Licht zu setzen. Dieses Verhalten der Eltern war Teil der Normalität, in der ich aufwuchs, die zu hinterfragen, mir nicht in den Sinn kam. Die Lektüre von Büchern wie Der Schattenmann half mir, verfestigte Bilder meiner Kindheit aufzuweichen und die Eltern in ihrer Wirklichkeit klarer zu sehen. Ein wichtiges Buch von Opfern des NS ist für mich Martin Doerrys Mein verwundetes Herz, weil es, wie meine Unterlagen, großenteils aus Briefdokumenten aus der damaligen Zeit besteht. Ich las Briefe einer mitfühlenden Mutter, die als Jüdin ins Konzentrationslager transportiert wurde und mit ihren Kindern durch Briefe, die sie aus dem Lager schmuggeln konnte, in liebevollem Kontakt blieb. Diese Briefe hatten einen anderen Ton als die in meiner Familie. Erst auf diesem Hintergrund konnte ich die selbstmitleidige Haltung meiner Eltern in der Nachkriegszeit erkennen. Beide Eltern stellten sich nach dem Krieg nur als Opfer dar: Opfer des Krieges, Opfer der Alliierten, Opfer von Hitler. »Wir wissen, dass man uns irgendwie kaputt macht, so oder so« (meine Mutter am 01.09.1948). Die tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus wurden an keiner Stelle in den Briefen erwähnt, noch habe ich als Kind davon gehört. Ich negiere nicht, dass meine Eltern, besonders die Mutter, sehr Leidvolles durchgemacht haben. Wird die Opferhaltung aber selbstmitleidig generalisiert, dient sie eher dazu, Andere zu manipulieren und eigenes Verschulden zu negieren, als das Erlittene mitzuteilen. Als Kind lernte ich die Eltern, besonders die Mutter, zu bedauern, statt mich zu empören, geschweige denn Gefühle von Empörung zu äußern. Auf die Mutter durfte man nicht wütend sein, sie habe so viel durchgemacht und uns Kinder heil durch den Krieg gebracht. Meine Eltern waren in ihrer Opferhaltung und der Verweigerung, eigene Schuld in Betracht zu ziehen, nach dem Krieg keine Einzelfälle. Im Haus der Geschichte in Bonn ist das Tagebuch eines jüdischen KZ-Überlebenden ausgestellt, in dem er folgende kleine Episode beschreibt. Der Autor trifft wenige Tage nach Kriegsende einen Deutschen, der, auf die Ruinen zeigend, die Alliierten anklagt, das hätten diese verbrochen. Der KZ-Überlebende zeigt auf seine Häftlingskleidung und bekommt keine Reaktion vom Gegenüber. Mit einem »Ihr wart nicht mutig genug, gegen die wirklichen Feinde zu kämpfen« verlässt er den Deutschen. 278 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Für mich war nicht nur das Schreiben, sondern auch die Veröffentlichung des Buches wichtig, denn nur durch diesen Schritt konnte ich die Mauer des Schweigens und das Familiengebot, nicht über den Vater und seine Verurteilung in der Öffentlichkeit zu sprechen, weiter einreißen. Neben der Freude, diesen Schritt jetzt zu wagen, tauchten in der Zeit des Lektorats und kurz vor der Veröffentlichung des Buches noch einmal ganz andere Gefühle auf. Obwohl meine Eltern schon lange gestorben waren und ich, als damals 63-jährige Frau von ihnen nicht mehr abhängig war, rief dieser »Ungehorsam gegen das elterliche Verbot« große Ängste hervor: Ängste, durch die Veröffentlichung des Buches und das Sichtbar-Machen meines Herkommens sozial geächtet zu werden, Ängste aber auch, diesen Schritt nicht zu überstehen. Es traten damals Körpersymptome auf, durch die ich mich sehr bedroht fühlte. Kurz, ich hatte Angst, die Veröffentlichung sozial und existenziell nicht überleben zu können. Es zeigte mir, auf welch tiefer Ebene einem Kind ein solches Gebot, zu schweigen und zu gehorchen, eingepflanzt wird und dass das Überschreiten solcher Gebote Gefühle existenzieller Bedrohung und Vernichtungsängste hervorrufen kann. Dadurch, dass ich mich diesen kindlichen Ängsten noch einmal stellen konnte, sie heute als Erwachsene aushielt und für das damalige Kind als adäquate Reaktion anerkannte, konnte ich mich weiter aus dieser Familienfestung herausarbeiten. Ein Traum wurde mir bei meiner Auseinandersetzung mit dieser Familiengeschichte zum hilfreichen Begleiter, besonders in Zeiten, wenn mich Zweifel, Schuld und Schamgefühle blockierten: Ich bin in einer Burg gefangen, kann mich aber durch ein kleines Loch in der dicken Mauer nach Außen durchzwängen. Ich komme in eine offene, weite, sonnenbeschienene Landschaft. Am Himmel kreisen zwei Schiffe wie in einer Flugschau nebeneinander. Assoziationen zu diesem Traum brachten mich bei den beiden Schiffflugzeugen zu meinem Vater, dem Offizier der Luftwaffe und begeisterten Flieger und meiner Mutter mit ihrem Schiffsbauch. Beide Eltern waren in ihrer Selbstdarstellung gefangen; in diesem Traum war es mir möglich, es zu sehen. Ich muss heute mein Herkommen nicht mehr verstecken und fühle mich nicht mehr verantwortlich und schuldig für die Verbrechen meines Vaters und die Verstrickungen meiner Familie mit dem Nationalsozialismus. Ich bin verantwortlich, wie ich mit der Geschichte meiner Eltern umgehe und was ich daraus lerne, nicht aber für die Geschichte selbst. Was ich vor der Veröffentlichung ahnte, wurde mir durch diesen Schritt immer mehr zu einer inneren Gewissheit. Ohne die Bearbeitung meiner Familiengeschichte hätte ich Wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust ansammeln können, es wäre aber durchtränkt gewesen mit den Denkverboten, die ein solches Schweigegebot und die Loyalität zu den Eltern auferlegt. Ein ausschließlich persönlicher Grund rechtfertigt jedoch eine solche Veröffentlichung nicht, die Familiengeschichte und der Umgang mit dieser müssen teilweise von allgemeinerem Interesse sein. Einzelne Aspekte für ein solches allgemeineres Interesse möchte ich hier genauer anschauen. 279 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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1. Meine Eltern sind keine Einzelfälle. Saul Padower, (zit. nach Welzer, et al. 2002, S. 206) ein amerikanischer Psychologe, traf bei seinen Befragungen von deutschen Soldaten ab 1944 kaum noch Nazis. Wenn sie ihre Parteizughörigkeit zugegeben hätten, dann mit dem Nachsatz, in der Gesinnung nie Nazis gewesen und nur der Partei beigetreten zu sein, weil sie aus beruflichen oder sonstigen Gründen dazu »gezwungen« worden seien. Auffällig, so Padower, sei die Verweigerung jeglichen Schuldgefühls, die Verweigerung, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Mitgefühl mit den Opfern des Nationalsozialismus gäbe es kaum. Die interviewten Soldaten stilisierten sich selbst zum Opfer, Opfer »von Hitler und seiner Bande«, wie mein Vater es nach dem Krieg nannte. Entsprechendes las ich in den Briefen meiner Eltern. 2. Mein Vater schloss sich nach der Wahl von 1930 begeistert den Nazis an. Er traf dort auf Menschen, die seiner Mentalität entsprachen. In den Briefen vor 1930 fand ich bei meinem Vater eine ausgeprägte Autoritätsgläubigkeit, die er für sich nicht als solche erkannte, sondern stattdessen in eine Selbstidealisierung auswich. Ich fand keine sich selbst hinterfragenden Aussagen in seinen Briefen. Menschen, die anders waren oder etwas anders machten, als es seinen Vorstellungen entsprach, wurden entwertet oder hasserfüllt bekämpft. Schuld, wenn ihm etwas nicht gelang, waren die Anderen. Entsprechende Haltungen boten ihm auch die Nationalsozialisten. Man stilisierte sich gemeinsam zur »arischen Rasse«, zum auserwählten Volk, das seinem Führer folgte, und all das, was nicht in dieses idealisierte Bild passte, wurde nach außen projiziert und kulminierte in der Wahnvorstellung, »die Juden sind unser Unglück«. Man bewunderte sich und den Führer gemeinsam und man hasste gemeinsam. Mein Vater war in diesem Sinne bereits Nazi, bevor er zu den Nazis kam; er fand dort seine Heimat und traf auf Menschen, die seine Sprache sprachen. Als die Alliierten die Nazis besiegt hatten, verleugnete mein Vater seine Begeisterung für den Führer, »NS-Offizier war ich nicht«, behauptete er. Auch hier war er wieder gehorsam und schloss sich der Ächtung der Alliierten für die Nazis an. Für seine Taten übernahm er keine Verantwortung, er habe auf Befehl gehandelt und sei zu Unrecht verurteilt worden. Er agierte so, wie er immer schon agiert hatte, stellte sich selbst als unbescholten dar, »Hitler und seine Bande« hätten all die Verbrechen begangen. Mein Vater blieb in diesem Sinne Nazi, nachdem er sein Parteibuch abgelegt hatte. Weil die überzeugten Nazis aufgrund ihrer Mentalität Nazis waren, war für sie die Verleugnung ihres Nazitums nach dem Krieg so selbstverständlich und mühelos. Nicht der Nationalsozialismus erschuf die Nationalsozialisten, sondern diejenigen, denen die Haltung der Nationalsozialisten entsprach, schlossen sich dieser Bewegung, wie auch mein Vater, mit Begeisterung an. Widerstandskämpfer erkannten zum Teil das mörderische System und widersetzten sich auf vielfältige Weise. Sie waren von ihrem Mitgefühl für die Mitbürger, die die nationalsozialistische Propaganda zu Untermenschen erklärt hatte, nicht so abgeschnitten wie die Nazis, die diese Propaganda kritiklos zu ihrer Eigenen machten. Ein heutiges nivellierendes »Die Eltern konnten 280 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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sich damals doch nicht anders verhalten« gehört mit in das Entschuldungssystem, das die Nazis nach dem Krieg für sich in Anspruch nahmen und das wir Kinder der Nazis gehorsam übernehmen mussten. Weil es während des Nationalsozialismus legitim war, lebte mein Vater tragischerweise, und mit ihm viele der Nazis in dieser Zeit, seinen mörderischen Hass auf all die, die nicht im Gleichschritt mitmarschierten, aus. Die Geschichte meines Vater und meiner Familie ist auch in diesem Sinn kein Einzelfall, sondern ein individuelles Beispiel für viele. Wenn mein Buch andere Menschen dazu ermuntert, die Vergangenheit der eigenen Familie zu recherchieren und bisher nicht gestellte Fragen zu stellen, dann hat die Veröffentlichung dieses Buches eine Berechtigung. 3. Raul Hilberg vertrat, wie bereits erwähnt, die Ansicht, »In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte« (zit. n. Welzer 2005a). Forschung über den Nationalsozialismus und die Erforschung eigener Familiengeschichten sollten demnach gleichziehen. Das war nicht der Fall. Es ist erschütternd zu sehen, wie sehr die Verleugnung und Entschuldung der Täter- und Mitläuferschaft in den Familien auch in die Täterforschung eingeflossen ist. Pohl (2011) unterteilt die Entwicklung der Täterforschung in drei Phasen. Bis in die 60er Jahre wurden die Täter auf Hitler und den Kreis seiner nächsten Mitarbeiter beschränkt. Ihre Mitglieder wurden dämonisiert und es wurde so getan, als hätten sie allein die Verbrechen begangen. Damit waren die übrigen Deutschen als »unschuldig« freigesprochen. Mein Vater machte es nicht anders: Nur 200 bis 300 Menschen seien für die Verbrechen verantwortlich und diese wären von der alliierten Justiz verurteilt worden, sofern sie noch lebten. Die Deutschen seien »viel zu anständig, um überhaupt an solche Verbrechen denken zu können« (vgl. Althaus 2006, S. 184). Eine nächste Phase in der Täterforschung wurde durch den Prozess gegen Eichmann (1961) und die Auschwitzprozesse (ab 1963 bis in die 70er Jahre) eingeläutet. In dieser Phase war der Blick der Forschung eher auf Funktion und Struktur des NS-Staates gerichtet. Es ist von Tötungsfabriken und Optimierungsverfahren die Rede und der einzelne Täter wird zum Befehlsausführenden, ein Rädchen im System des Mordens. »Ein neuer Vermeidungsdiskurs folgte, der die Entpersonalisierung und Abstrahierung des Geschehenen zum Inhalt hatte. Der pathologische Mörder machte dem interesselosen bürokratischen Vollstrecker Platz. Der kalt-distanzierte Verwaltungs- und Systemtäter folgte dem blutrünstigen Exzeß- und Gewaltkriminellen« (Paul 2002, S. 20, zit. n. Pohl 2011, S. 15f.). Der Befehlsnotstand wird geltend gemacht und die eigene Verantwortlichkeit der Täter negiert. In einer dritten Phase nach der Wende, d.h. ab 1990, stand die »Normalität der Täter« im Zentrum. Harald Welzer (2005b) betont in seinem Buch über die Täter deren Normalität. Weil im Nationalsozialismus die Juden als Volkszersetzer und damit als Bedrohung der arischen Rasse galten, hätten die »normalen Menschen« ihren Moralbegriff sukzessive modifiziert, sodass das Ermorden der Juden zur Normalität wurde, weil es sozial anerkannt war. Diese »Binnenperspektive der Täter zum Be281 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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zugsrahmen« (Perels 2011, S. 56) entschuldigt die Täter und führt zu einem immer wieder, auch im Familienkreis gehörten, »die konnten ja nicht anders«. Nur in einem Abschnitt auf den letzten Seiten seiner Ausführungen fragt Welzer nach denjenigen, die sich den Tötungsaktionen widersetzt haben. So eine Entscheidung brauche ein hohes Maß an Autonomie, denn die soziale Umwelt habe nicht dieser Haltung entsprochen. Bei Welzer findet man jedoch kein Entsetzen und die Frage danach, was in der Gesellschaft gelaufen ist, dass so viele zu gehorsamen Pflichterfüllern, die das Leiden der Opfer negierten, heranwuchsen, sondern eine Erklärung über die Bedeutung des Sozialen. Zunächst zitiert Welzer Popitz: »der andere [wird] gar nicht mehr in den Kategorien des Fühlens, Denkens, Handelns gesehen, die wir auf uns selbst anwenden. Das Leiden, der Tod des Opfers wird bedeutungslos […]« (S. 262) und führt dann weiter aus, dass eine solche Abspaltung notwendig für das Funktionieren der Tötungsfabriken gewesen sei (ebd.). Die Herstellung der Tötungsbereitschaft sei kein individualpsychologisches Phänomen, auch wenn sie von individuellen Tätern exekutiert werde. Damit sind die Täter entschuldet und die Opfer anonymisiert. Diese Empathieverweigerung den Juden und Nicht-Ariern gegenüber ist nicht das Resultat einer verschobenen Moralvorstellung, sondern die Basis der nationalsozialistischen Ideologie. Mein Vater schrieb 1930 in einem Brief an seinen Onkel Paul voller Begeisterung über die Nationalsozialisten: »Ein Kapitel für sich sind die Juden. Sie werden schlechte Zeiten bekommen. Schon heute sind sie sehr nervös. Die Kapitalflucht, die unmittelbar nach der Wahl einsetzte, ist darauf zurückzuführen, dass die Juden ihre Mittel rasch in Sicherheit brachten. Hitler sagte, dass er einen wahren Volksstaat aufbauen will, in dem die Rassenmerkmale des Blutes die treibende Kraft sein sollen. Die Juden sind wesensfremd, Semiten, und fliegen daher raus. Sie erhalten kein Stimmrecht, werden nach dem sozialistischen Programm vielleicht auch enteignet werden« (Althaus 2006, S. 81).

Der Antisemitismus war Teil des Parteiprogramms der NSDAP und alle, die in den Wahlen von 1930 und 1933 die NSDAP wählten und damit die Machtergreifung von Hitler ermöglichten, wussten von der »Ausgrenzung« der Juden. Aus einer solchen Ausgrenzung und dem Ehrgeiz, oft auch vorauseilendem Gehorsam, judenfreie Räume zu schaffen, entwickelte sich dann schrittweise, wie Raul Hilberg nachweist, der Holocaust (vgl. Hilberg 2006). Welzer argumentiert, dass die Täter neben der Judenvernichtung ein ganz »normales« Leben führten mit »normalen« Familien, ohne näher zu betrachten, was in diesen »normalen« Familien vor sich ging. Dort praktizierten die begeisterten Nazis die Erziehungsideale der NS-Ideologie, die Johanna Haarer in ihren Erziehungsanleitungen den Müttern in der NS-Zeit ans Herz legte: Gehorsam, Ordnung und Ablegen von »Verweichlichtem« (vgl. Haarer 1934). Mitgefühl mit den Kindern wurde als »Affenliebe« entwertet. Empathieverweigerung bezog sich 282 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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nicht nur auf das ausgegrenzte Segment der Judenvernichtung, sondern wurde auch in den Familien gelebt, sodass bei den Tätern eher von einer Empathieunfähigkeit ausgegangen werden kann. Diese Unfähigkeit wurde von den Nazis zu ihrer Stärke umgedeutet: Himmler sagte in seiner Rede am 6. Oktober 1943 vor den Gauleitern: »Für die Organisation, die den Auftrag [zur Judenvernichtung; UA] durchführen musste, war er der schwerste, den wir bisher hatten. Er ist durchgeführt worden – wie ich glaube sagen zu können – ohne dass unsere Männer und Führer einen Schaden an Geist und Seele erlitten hätten« (Himmler 1943, zit. n. Hilberg 2006).

Zusammenfassung Loyalität mit den Tätern geht mit einer Empathieverweigerung mit den Opfern einher. Eine Täterforschung, die die Menschen des Widerstands und das Leiden der Opfer nicht mit einbezieht, führt eher zu entschuldigenden und den Tätern gegenüber loyalen Ergebnissen. Ich bezweifle, ob eine Forschung ohne Bearbeitung der eigenen Ausblendungen und blinden Flecken, die wir Kinder der Nazis uns in unserem Aufwachsen in diesen NS-Familien als Überlebensstrategien aneignen mussten, überhaupt möglich ist. Werden die Menschen aus dem Widerstand mit in die Täterforschung einbezogen, dann tauchen Fragen nach dem sozialen Kontext und den Beziehungserfahrungen auf, die z.B. Menschen wie Hans Scholl (vgl. I. Scholl 1993, S. 15) befähigten, sich aus der Hitlerjugend, an der er zuerst begeistert teilnahm, zurückzuziehen, weil er dort ihm geliebte Lieder entwerten sollte, nur weil sie von nicht-arischen Dichtern oder Komponisten stammten. Während dessen ordneten sich andere nolens volens schweigend den Erwartungen unter, bis hin zur Haltung derjenigen, die sich den NS-Wahlspruch »Wer auf die Fahne des Führers geschwört, hat nichts mehr, was ihm selber gehört« (zit. n. Stierlin 2012, S. 46) ganz zu eigen machten. Eine solchermaßen differenzierende Forschung ermöglicht ein Lernen für die Zukunft. Abschließend möchte ich noch einmal auf die zu Beginn beschriebenen heftigen Abwehrreaktionen, NS-Täter/innen und Mitläufer/innen des Nationalsozialismus in der eigenen Familie zu erkennen, zurückkommen. Dazu ein Beispiel aus meiner psychotherapeutischen Praxis. Als eine deutsche Patientin, ca. 55 Jahre alt, zu Beginn der Therapie zum wiederholten Male über die harten Erziehungsmaßnahmen ihrer Eltern gesprochen hatte, fragte ich sie nach der Haltung der Eltern zum Nationalsozialismus und Krieg, weil mich diese Erziehungsmaßnahmen sehr an die von Johanna Haarer, der Erziehungsratgeberin im Nationalsozialismus, proklamierten Praktiken erinnerten. Die Patientin 283 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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erschrak über diese Frage und meinte spontan: »Das will ich nicht wissen, wer wäre ich denn dann, wenn die Eltern überzeugte Nazis gewesen wären«? Diese spontane Antwort zeigt, wie wenig sich die Patientin bisher von den Eltern separieren konnte und durfte. Die eigene Identität, das eigene Selbstwertgefühl ist in solchen unabgelösten Bindungen eng mit dem Bild der Eltern verschweißt und basiert weniger auf eigenem Erleben als vielmehr auf den Zuschreibungen, die die Eltern dem Kind gaben. Die Patientin war zum »lieben Mädchen« erzogen worden. Der Blick auf die mögliche Wirklichkeit der Eltern war ihr verwehrt. José Saramago beschreibt in seinem Buch Die Stadt der Blinden (2011), wie allmählich alle Bürger einer ganze Stadt, bis auf eine Frau, an der »weißen Blindheit« erkranken. Er lässt einen alten Blinden sagen: »Wir waren schon blind in dem Augenblick, in dem wir erblindet sind. Die Angst hat uns blind gemacht, und wird uns auch weiter blind sein lassen« (ebd., S. 162). Wenn wir die Wirklichkeit unserer Eltern ausblenden und – in Loyalität mit ihnen – ihre Unbescholtenheit propagieren, dann steckt dahinter die tiefe Angst, sich ihnen zu widersetzen. Ein gegenteiliges Agieren und eine besonders kritische Haltung den Eltern gegenüber, wie wir sie bei der 68-Generation erlebten, bedeutet nicht unbedingt, dass es diese Ängste nicht gibt, im Gegenteil, es kann ein wirkungsvolles Versteck gerade für solche Ängste sein. Theweleit (1998) zitiert Reimut Reiche über seine Erfahrungen als Achtundsechziger: Die Verurteilung der eigenen an der Vernichtung der Juden beteiligten oder sie duldenden Eltern sei, bei den meisten von ihnen, nur vordergründig gewesen. In Wahrheit hätten wir es psychisch nicht über uns gebracht, den notwendigen »Elternmord« zu vollziehen. Dieser wäre aber die nötige Vorraussetzung einer wirklichen Auseinandersetzung mit den Eltern und die Voraussetzung einer wirklichen Trauer über das geschehene Morden gewesen (vgl. Theweleit 1998, S. 127). Aus Angst vor einer solchen Auseinandersetzung wird eher gegen diejenigen gekämpft, die die Unbescholtenheit der Eltern infrage stellen und ihre mögliche Täter- und Mitläuferschaft im Nationalsozialismus benennen (nach dem Motto, »der Überbringer schlechter Nachrichten wird geköpft«) als gegen die eigene Blindheit.

Literatur Althaus, Ute (2006): »NS-Offizier war ich nicht«. Die Tochter forscht nach. Gießen (PsychosozialVerlag). Andreas-Friedrich, Ruth (2000): Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1948. Frankfurt a.M. (Suhrkamp). Doerry, Martin (2002): »Mein verwundetes Herz«. Das Leben der Lilli Jahn 1900–1944. München (Pantheon). Haarer, J. (1934): Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München (Lehmanns). 284 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Lügen – Wünsche – Wirklichkeiten Heer, Hannes (2006): Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin (Aufbau Verlag), 2. Aufl. Hilberg, Raul (2002): Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Frankfurt a.M. (S. Fischer). Hilberg, Raul (2006): Rückblick auf die Holocaust-Forschung. Vortrag am 11.12.2006 bei der internationalen Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin zum Thema »Der Holocaust im transnationalen Gedächtnis«. URL: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/39629/video-interview-raul-hilberg (Stand: 27.12.2012). Ludin, Malte (2005): Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß. Dokumentarfilm. 85 Min. arte Edition u. absolut Medien. Paul, Gerhard (2002): Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen. In: ders. (Hg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen (Wallstein), S. 13–90. Perels, Joachim (2011): Der Teufel weint nicht. Zur Entwicklung von NS-Tätern. In: Pohl, Rolf & Perels, Joachim (Hg.): Normalität der NS-Täter? Eine kritische Auseinandersetzung. Hannover (Offizin Verlag), S. 47–62. Pohl, Rolf (2011): »Normal« oder »pathologisch«? Eine Kritik an der Ausrichtung der neueren NSTäterforschung. In: Pohl, Rolf & Perels, Joachim (Hg.): Normalität der NS-Täter? Eine kritische Auseinandersetzung. Hannover (Offizin Verlag), S. 9–45. Reck, Norbert (2012): Ja sagen und nein sagen. Stimmen der Zeit – online exklusiv. Herder Verlag 2008. URL: http://www.stimmen-der-zeit.de/zeitschrift/online_exklusiv/detaills (Stand: 27.12.2012). Reinecke, Stefan & Feddersen, Jan (2005): »Das ist unser Familienerbe«. Interview mit Aleida Assmann und Harald Welzer. taz, 22.01.2005. URL: http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2005/01/22/ a0308, S. 10 (Stand: 27.12.2012). Saramago, José (2011): Die Stadt der Blinden. Reinbek (Rowohlt), 22. Aufl. Scholl, Inge (1993): Die weiße Rose. Frankfurt a. M. (S. Fischer). Stierlin, Helm (2012): Vom Verstummen der Stimmen zur Nazizeit – weiterhin eine Altlast? Familiendynamik 37/1, 42–49. Theweleit, Klaus (1998): Ghosts. Frankfurt a.M. (Stroemfeld). Welzer, Harald (2005a): Das ist unser Familienerbe. Interview in taz, 22. 01. 2005. Welzer, Harald (2005b): Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt a.M. (S. Fischer). Welzer, Harald; Moller, Sabine & Tschugnall, Karoline (2002): Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. (S. Fischer).

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Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus und Geschlecht Katharina Rothe & Oliver Decker

»Auf uns Frauen wartet als unaufschiebbar dringlichste die eine uralte und ewig neue Pflicht: Der Familie, dem Volk, der Rasse Kinder zu schenken« (Haarer 1934, S. 8, zit. n. Treu 2003, S. 146). In ihrem auch nach dem Krieg erfolgreichen Erziehungsratgeber Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind formulierte Johanna Haarer nicht nur das nationalsozialistische Erziehungsideal – auch die Geschlechterrolle in NaziDeutschland wurde klar umrissen. In seinen »Reden an die deutsche Frau« heroisierte Hitler die »Heldenmutter« als komplementär zum männlichen Kriegshelden: »Was der Mann einsetzt an Heldenmut auf dem Schlachtfeld, setzt die Frau ein in ewig geduldiger Hingabe, in ewig geduldigem Leiden und Ertragen. Jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für Sein oder Nichtsein ihres Volkes« (Szepansky 1986, S. 14, zit. n. Treu 2003, S. 146).

Die Frau/Mutter sei »Soldatin im Kampf gegen den Volkstod, als Teilnehmerin an der sogenannten Geburtenschlacht oder dem Geburtenkrieg« (Chamberlain 1997, S. 15). Diese Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie zeigen die aufeinander bezogene und dennoch dichotome Konstruktion der Geschlechter als männlicher Kriegsheld auf der einen und Mutter des Helden auf der anderen Seite. Die nationalsozialistische Erziehung in den Jugendorganisationen war auf diese Dichotomie ausgerichtet. Manifest wurden Jungen in der Schule, im »Jungvolk« und in der »Hitlerjugend« auf Krieg und Heldentod vorbereitet, Mädchen bei den Jungmädeln und im »Bund Deutscher Mädel« als Unterstützerinnen des Krieges und auf ihre Mutterrolle. In diesem Aufsatz ziehen wir zunächst Material einer Gruppendiskussion heran (Rothe 2009), das zeigt, wie noch heute in einer Männergruppe der Geburtsjahrgänge 1929 bis 1932 die ca. 75-Jährigen Begeisterung über ihre damaligen Erfahrungen im »Jungvolk« zum Ausdruck bringen. Dies tun sie intergenerationell, indem sie sich u. a. an die Moderatorin in der dritten Generation 287 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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nach dem Nationalsozialismus wenden. Als weiteres Beispiel einer intergenerationellen Weitergabe nationalsozialistischer Ideologie soll ein Dialog von Mann zu Mann dienen, den wir im Kontext unserer Studie zur Genese rechtsextremer Einstellungen analysiert haben. Daraufhin ziehen wir die Gruppendiskussion einer multigenerationellen Frauengruppe heran, welche im Rahmen der »Mitte«-Studien zur rechtsextremen Einstellung durchgeführt wurde (Decker et al. 2008). In dieser Diskussion tritt die Verleugnung von Täterinnen- oder Mitläuferinnenschaft zutage sowie eine gemeinsame Geschichtsaneignung, in der Differenzen zwischen Regierungsformen und Diktaturen, zwischen historischen Zeiten sowie zwischen Tätern und Opfern zum Verschwinden gebracht werden. Dies verweist, wie wir zeigen wollen, auf ein »Phantasma der [deutschen KR & OD] Nation« (Bohleber 1997), dessen Kern die Vorstellung einer homogenen Gemeinschaft ist, auf deren phantasmatischer Ebene keine (Geschlechter-)Differenz erfasst werden kann. Die Entstehungsbedingungen des Phantasmas der Nation unterscheidet sich deutlich von der Annahme eines Autoritären Charakters. Beide Formulierungen beziehen sich auf ein innerpsychisches Korrelat von antidemokratischer und vorurteilsgebundener Einstellung und versuchen die Entstehung und Funktion derselben über dieses Seelenende der Gesellschaft zu verstehen. Während der autoritäre Charakter im Sinne der Berkeley-Gruppe allerdings Vorurteile als Ergebnis eines ödipalen Konflikts an die Unterwerfung unter den Vater bindet – und damit an die gewaltvolle Regelung sexuellen Begehrens –, ist das Phantasma der Nation durch archaische Abspaltungstendenzen gekennzeichnet. Es handelt sich also um Spaltungen, bei denen die Geschlechterdifferenz keine genetische Bedingung darstellt. In diesem Sinne wäre der autoritäre Charakter ein Sozialisationstypus alter Prägung, dessen Veralten vor allem durch neue Bedeutungen der »homogenen Nation« sichtbar wird. Dies wollen wir entlang einer weiteren Diskussion zeigen, in der Angehörige der dritten Generation nicht-jüdischer Deutscher nach dem Nationalsozialismus einen Ursprung ersehnen, der auf das Phantasma der (deutschen) Nation als verlorenes Paradies verweist. Diese Ursprungsfantasie ist ein immer schon verlorenes Paradies, in dem es – wie im Mutterleib – noch keine Differenz gibt. Um uns Wurzeln eines in Teilen intergenerationell tradierten Phantasmas zu nähern, wenden wir uns abschließend erneut dem Material aus der Gruppendiskussion mit jenen Erwachsenen zu, die ihre Kindheit wesentlich in Nazideutschland verbrachten, in der das Phantasma der »Herrenrasse« entworfen wird. Unsere These ist, dass (Geschlechter-)Differenz auf der latenten Ebene der Fantasie der Volksgemeinschaft und dem Phantasma der deutschen Nation keine Bedeutung hat. Auf dieser Ebene einer Verschmelzungsfantasie gibt es keine Differenz(en); vielmehr wird in einer dichotomen Spaltungsstruktur alles »Andere« abgespalten und projiziert auf »die Juden«. Gerade deshalb, so unsere These, wurde/wird auf der manifesten Ebene Geschlechterdifferenz umso stärker betont. 288 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Zugang Das dem Aufsatz zugrundeliegende Datenmaterial stammt zum einen aus einer Studie aus dem Jahr 2008. Im Rahmen der »Mitte«-Studien zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland wurden insgesamt zwölf Gruppendiskussionen durchgeführt (Decker et al. 2008). Ausgangsfrage bei der Durchführung der Diskussionen war, die Bedingungsfaktoren des Zustandekommens einer politischen Einstellung bei den bereits in einer fragebogengestützten Repräsentativerhebung interviewten Teilnehmenden zu verstehen. Hierfür wurden bundesweit in verschiedenen Städten und Gemeinden Teilnehmende gewonnen, welche ausgehend von unserer Eingangsfrage »Wie ist es, hier in der Stadt/Gemeinde X zu wohnen?« miteinander ins Gespräch kamen. Die Teilnehmenden kannten sich vor den Gruppendiskussionen in der Regel nicht. Für die hier interessierende Ausgangsfrage wurden Gruppendiskussionen ausgewählt, welche mit Blick auf die Geschlechterdynamik relevante Zugänge gestatten. Zum anderen wird eine themenzentrierte Gruppendiskussion herangezogen, die im Rahmen eines Forschungsprojekts zu psychischen Weiterwirkungen der nationalsozialistischen Judenvernichtung bei nicht-jüdischen Deutschen erhoben wurde (Rothe 2009). Wir präsentieren Auszüge aus einer Diskussion mit Männern aus den Geburtsjahrgängen 1928 bis 1930, die als im Schnitt Elfjährige Zeugen einer Deportation der Jüdinnen und Juden aus ihrer Stadt wurden, die an einer damaligen Jungenschule ihren Ausgang nahm. Die Teilnehmenden wurden eingeladen, um über ihre Erinnerungen an diese Deportation zu sprechen. Die Gruppendiskussionen aus beiden Studien wurden transkribiert und anschließend psychoanalytisch ausgewertet.

Szenisches Verstehen und psychoanalytische Theorie Die Methode der Gruppendiskussion geht zurück auf die Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1950/51. Im Vordergrund standen seinerzeit die Erfassung der öffentlichen Meinung und der Bedingungen ihres Zustandekommens (Pollock 1955, S. 34). Im Anschluss betrachtete Mangold das Setting als eines, in dem die Einstellungen der Teilnehmenden, wie auch der gesellschaftliche Hintergrund aktualisiert werden (Mangold 1960). Bohnsack schloss an diese frühen Arbeiten zur Gruppendiskussion in den letzten Jahrzehnten an und reformulierte das Modell zur Erfassung »kollektiver Orientierungsmuster« und »konjunktiver Erfahrungsräume« (Bohnsack 1997, S. 495). Auch unsere Untersuchung zielte auf ›kollektive‹, d.h. überindividuell bedeutsame, Bedingungen für die Genese rechtsextremer Einstellungen, allerdings folgten wir dem Verfahren der »themenzentrierten Gruppendiskussion« (Leithäuser/Volmerg 1988) und orientierten die Auswertung an einer psychoanaly289 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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tischen Sozialforschung. Der psychoanalytisch orientierte Zugang überschreitet mit dem »szenischen Verstehen« (Lorenzer 1973) die beiden Ebenen des logischen und des psychologischen Verstehens. Mit dem szenischen Verstehen stoßen wir neben der manifesten Rede, dem, was bewusst gesagt wird, auf eine weitere, latente Ebene. Es befasst sich mit den »Vorstellungen des Subjektes und zwar so, dass es die Vorstellung als Realisierung von Beziehungen, als Inszenierung der Interaktionsmuster ansieht« (ebd., S. 142). In der psychoanalytischen Behandlung ist die Übertragungsbeziehung »Mittel« zum Verständnis der konflikthaften Beziehungsmuster des/der Patient/in, durch die der/die Analytiker/in die Möglichkeit besitzt, an der jeweiligen »Lebenspraxis« (Lorenzer 1973, S. 197) teilzunehmen. Das Phänomen der Übertragung/Gegenübertragung lässt sich ebenfalls als Werkzeug zur Analyse individueller Bedeutungen anwenden. In Anlehnung an Devereux (1967), der die Analyse der Gegenübertragung für die psychoanalytische Forschung fruchtbar machte, arbeiten wir mit diesem Phänomen, um die Beziehungen in der Erhebungssituation zu fassen. So lässt sich auch eine Erhebungssituation wie die Gruppendiskussion als Ensemble von Szenen begreifen, in die sich die Teilnehmenden gemeinsam mit den Forschenden involvieren. Diese Szenen sind immer auch von lebensgeschichtlich bedeutsamen Beziehungserfahrungen motiviert, die in der aktuellen Situation mobilisiert werden und sich (re)inszenieren. Der Gedanke des unbewussten Wiederholens, Agierens von Konflikthaftem geht auf Freud (1914g) zurück und bezeichnet nach Löchel eine »Wiederholung unbewusster Beziehungsmuster in sozialen Räumen« (Löchel 1998, S. 2). Einen Zugang zu den (unbewussten) Konflikt- und Abwehrformen, die sich während der Erhebungssituation (re)inszenieren, erhält man über Irritationen in Bezug auf das Erhebungsmaterial über die eigenen Affekte und Assoziationen. Der Orientierung dienen dabei Brüche und Widersprüche im (Transkript-)Text der Gruppendiskussionen. Denn, so Löchel: »Alles intentionale Sprechen knüpft […] auch an nichtintendierte primärprozesshafte sprachliche Verdichtungen und Verschiebungen an, in denen sich Triebkonflikte und Verdrängtes auch unter der Kontrolle des Bewusstseins und der Zensur in Vorstellungen Ausdruck zu verschaffen suchen. Die situative Manifestation unbewusster Konfliktkonfigurationen lässt sich als Produkt unbewusster Anspielungs-, Verdichtungs- und Verschiebungsprozesse betrachten, die beim Sprechen sich mitteilen, vermitteln. Eine Interpretation, die der Dynamik des Gesagten folgt […], folgt den Verdichtungen und Verschiebungen im Sprechen. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass sich jegliches Sprechen immer auch am sozialen Interaktionspartner vorbei an einen imaginären Anderen wendet« (Löchel 1997, S. 50).

Die Psychoanalyse zielt mit ihrem Gegenstand des Unbewussten auf etwas, das sich permanent entzieht und sich doch unablässig Ausdruck verschafft, der nur vermittelt 290 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus und Geschlecht

über die Beziehungsgestaltung und das Sprechen dingfest zu machen ist. So setzt die Interpretation an den Textstellen an, deren Sinn sich (zunächst) nicht erschließt. Es gilt also, bei der psychoanalytischen Interpretation in einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung intensive Textarbeit zu leisten über die Assoziationen zum Gesagten und die Orientierung an Irritationen, Brüchen und Widersprüchen. Um sich auch dem zu nähern, was zunächst scheinbar irrational ist, setzt die psychoanalytische Methode dabei auch auf die Analyse der (eigenen) Affekte, die in der Auseinandersetzung mit dem Material aufkommen. Schließlich gilt es, die Interpretationen immer wieder auf die Forschungsfrage rückzubeziehen. In der Darstellung unserer Interpretationen folgen wir dem analytischen Vorgehen, indem wir uns in der Analyse von der manifesten Ebene zu latenten Bedeutungen vortasten (zur ausführlichen Darstellung der Methode vgl. Lorenzer 1973; Leithäuser/Volmerg 1988; Löchel 1997; Decker et al. 2008; Rothe 2009). Wir rekurrieren auf psychoanalytische Theorie, um uns dem zu nähern, was vormals sprachlos ist und wir tun dies im Hinblick auf das psychohistorische Erbe der NS-Zeit wegen des Zeitverständnisses, das im Hinblick auf psychisches Erleben das Konzept der Linearität überschreitet. So führte Freud (1915b) den Gedanken der Regression ein; das heißt, dass wir immer wieder auf lebensgeschichtlich frühere Formen des Erlebens und Verhaltens zurückfallen, bzw. dass wir diese stets in uns tragen. Die »primitiven Zustände können immer wieder hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich« (ebd., S. 45). Was bedeutet dieser Gedanke im Hinblick auf die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus? Er bereitet ein Verständnis vor, nach welchem wir je nach kontextuellem, psychosozialem, historischem oder interpersonellem Bezug auf verschiedenen psychischen Niveaus funktionieren. Das impliziert auch, dass wir je nach thematischem Kontext – der nicht zuletzt im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Erhebung evoziert werden kann – auf verschiedene Modi der Fantasieebenen sowie der Konflikt- und Abwehrformationen zurückgreifen bzw. diese in uns aktiviert werden. Nach unserem Verständnis sind diese darüber hinaus sowohl individuell-lebensgeschichtlich bestimmt wie auch kollektivgesellschaftlich (s.o.) oder überindividuell bedeutsam.

Jungenspezifische Sozialisation und Betonung der Geschlechterdifferenz Lassen wir zunächst die Männer aus den Jahrgängen 1928 bis 1932 zu Wort kommen, wie sie sich u. a. gegenüber der Moderatorin in der dritten Generation nach dem Nationalsozialismus äußern. 291 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Herr Heidmann18: Also, (--)19 wir sind ja alle im Jungvolk gewesen. Und die meisten von uns waren auch Jungvolkführer. Und waren das auch alle mit Begeisterung. Und äh waren in dieser Jugend… äh …organisation eben auch aufgewachsen von 1940 an. 1940 sind wir da eingetreten und äh haben dann in der Folge der fünf Jahre äh da mitgewirkt. Und äh, wir haben das zunächst natürlich nur mit äh Geländespielen und mit, mit äh Turnen und äh Marschieren auch, Singen, so etwas zugebracht, bis dann eben die Kriegswirren größer wurden und wir neue Aufgaben kriegten, die äh ganz anderer Art waren (Z.20 119–24). Herr Melzer: Jungvolkdienst war jeden Mittwoch, jeden Sonnabend. Wie Du gesagt hast, vor allem und wurde angetreten und gesungen, das(?). Wir fanden das alle ganz prima. Ich habe auch persönliche Erlebnisse. Ich war beim so genannten Schnellkommando. […] Da mussten wir oben im Dach sein und mussten also jede dritte(?) Nacht antreten und mussten ne, wenn also feindliche Angriffe kamen und Brandbomben geworfen wurden, mussten wir zum Löschen ausziehen und mussten die, die äh Brandbomben löschen. Wir freuen uns an sich über diesen Dienst, weil wir immer an jedem dritten Tag die erste Stunde morgens nicht zur Schule brauchten [Gruppe lacht] (Z. 213–20). Herr Holler: Wir sind also äh am Führergeburtstag, äh 20. April 1940, ins Jungvolk aufgenommen worden. Wir sind dann im März, glaube ich, äh 1941 zum großen Teil zumindest (…)ins KLV21-Lager gekommen (Z. 364–68). Äh. Wir sind dann in einem KLV-Lager gewesen, das nach meiner Meinung äh zu den schönsten Erlebnissen (…) gehört, die wir überhaupt je gehabt haben. (…) Wenn man das überlegt in also, von der Gegend haben wir ja nicht viel äh Schönes(?) erlebt. Aber wir sind in einem Lager gewesen. Wir hatten Kontakte zu Lehrern(?). Wir haben unheimlich viele Wanderungen gemacht. Wir haben viel gelernt. Wir hatten zum Beispiel Unterricht im Skat. (…) Gehörte zum Unterricht, der äh Pflicht war (Z. 384–89). Herr Wöhler: Das muss man ganz offen sagen, obwohl wir ja – das möchte ich also auch als Ergänzung sagen – wie gesagt, ich war ja auch beim Jungvolk äh, bin aber nicht mehr zur HJ gekommen, ich war auf verschiedenen Ausbildungslager in Dresden, bin ich gewaltig geschliffen worden, also, ich hab’n bisschen was mit erlebt in dieser Richtung. Aber ich muss immer wieder sagen, irgendeine Hetze gegen Juden, eine(?), dass sie Untermenschen und all das, kann ich, daran kann ich mich nicht erinnern. Muss ich ganz ehrlich, ich müsste jetzt lügen (Z. 592–97). 18 Alle Namen sind Aliasnamen. 19 Eine Erläuterung der verwendeten Transkriptionszeichen befindet sich am Ende dieses Beitrages. 20 Z. bezeichnet die jeweiligen Zeilennummern im Transkript. 21 KLV: Kinderlandverschickung; im Rahmen der KLV wurden Kinder aufgrund der Bombenangriffe auf deutsche Städte auf dem Lande untergebracht. 292 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Die bei der Diskussion im Schnitt 75-jährigen Männer schildern eindrücklich, wie sie begeistert in der NS-Jugendorganisation und bei den ›jungenspezifischen‹ Aktivitäten mitmachten. Herr Heidmanns Formulierung, die damaligen Jungen seien darin »aufgewachsen«, unterstreicht sowohl die persönliche Bedeutsamkeit als auch die Unausweichlichkeit der »NS-Sozialisation« für damalige Kinder, die nichts anderes kennenlernen konnten. Die Begeisterung knüpft sich an die gemeinschaftlichen ›WirErlebnisse‹, wobei kindliches Spiel, Sport und Singen direkt verknüpft sind mit Struktur, Organisation, Zwang und zugleich lustvoller Unterwerfung: »Geländespielen«, »Turnen«, »Marschieren«, »Singen«, »antreten«, »zum Löschen ausziehen«, »Dienst«, »bin ich gewaltig geschliffen worden«. Der damalige Sprachgebrauch kommt unvermittelt zum Ausdruck, die NS-Begriffe erscheinen wie selbstverständlich im Sprechen, die damit verbundene Bedeutung ist nach wie vor präsent: »Führergeburtstag«, »KLV-Lager« und schließlich nur noch »Lager«. Die damaligen nicht-jüdischen Kinder waren in einem »Lager« und für Herrn Holler gehört diese Erfahrung zu den »schönsten Erlebnissen […] überhaupt je«. Betrifft das in der Gruppendiskussion erzeugte »Wir« zunächst die Gruppe der damaligen Jungen, Pimpfe und Jungvolkführer, so klingt im zuletzt zitierten Beitrag von Herrn Wöhler in der Verneinung »der Juden« als »Untermenschen« zugleich an, dass diesem »Wir« »die Juden« diametral entgegengesetzt werden. Wir werden im Verlauf unserer Interpretationen der latenten Ebene auf die Bedeutung dieses »Wir« als »geschlechtslosem« Phantasma der deutschen Nation der Deutschen gegenüber den Juden als den Anderen eingehen. Bereits hier sei auf die von Bohleber herausgearbeitete Dynamik des Nationalismus hingewiesen (Bohleber 1992). Insbesondere für die Generation derjenigen, welche in Nazi-Deutschland sozialisiert worden sind, werden die ödipale Ambivalenz gegenüber einer idealisierten Vaterfigur und die Verschmelzungswünsche in der (gleichgeschlechtlichen) Gruppe ineinander greifen. Einer Fragmentierung der eigenen Identität22 wird mit der Identifikation mit einer homogenen, nicht zuletzt geschlechtshomogenen Gruppe begegnet. Im »gewaltigen Schliff« des männlichen Körpers wird dessen Abgegrenztheit nicht nur gegenüber »Fremden«, sondern auch gegenüber bedrohlicher »Weiblichkeit« erfahren (Theweleit 1977). Nicht nur die eingangs mit Verweis auf Haarer zitierten Erziehungsideale der Härte haben sich seitdem verändert (Decker et al. 2012), auch das Männlichkeits- und Weiblichkeitsbild erfuhr einen grundlegenden Wechsel. Trotzdem oder auch gerade deswegen stellt sich die Frage, welches Erbe des nationalsozialistischen Geschlechter22 Wir benutzen den Begriff der Fragmentierung in dem Sinne, dass eine kohärente Ich-/Selbst-/ oder Identitätsentwicklung immer eine prekäre ist, die Errichtung eines vollkommen integrierten Selbst oder einer vollkommen integrierten Identität eine ideale Errungenschaft darstellt, die nicht erreicht werden kann. Im Laufe des Beitrags wird deutlicher werden, dass eine vollständige Integration von konfligierenden Identifizierungen mit verschiedenen Objekten letztlich unmöglich ist. 293 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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bildes sich in der Gegenwart wiederfinden lässt. Dass sich entsprechende Stereotype bis in die politische Diskussionen um die frühkindliche Betreuung wiederfinden lassen, darf als gesichert gelten (Richter 2010; Schütze 2010). Interessant ist aber auch, auf welchen Wegen dieses Erbe angetreten wird, wie die intergenerationelle Weitergabe funktioniert. Eine geschlechter-dichotome Ideologie und Praxis vermittelt sich auch intergenerationell in interpersonellen und Gruppendynamiken zwischen Männern auf der einen und zwischen Frauen auf der anderen Seite. Besonders deutlich kommt dies in zwei Szenen im Feld von Gruppendiskussionen zum Ausdruck, die wir im Rahmen unserer Studie zur Genese rechtsextremer Einstellungen deutschlandweit führten (Decker et al. 2008).

Heldenerzählung und intergenerationelle Präsenz des autoritären Vaters: Vom »Großvater« zum »Enkel« Der 80-jährige Herr Stramer erzählt im Vorfeld der Diskussion, zu der noch zwei Frauen erwartet werden, dem Moderator (der vom Alter her bereits sein Enkel sein könnte) am Telefon und direkt vor Beginn der Diskussion von seinen Kriegserlebnissen. Dies sind Erfahrungen, die er im Gespräch mit den Teilnehmerinnen sowie der Moderatorin nicht erwähnt. Der Moderator hielt im Telefonprotokoll fest, Herr Stramer habe sich sogleich sehr offen für die Teilnahme gezeigt und begonnen, aus seinem Leben zu erzählen. Über die Bemerkung, dass er viel gereist sei, auch während seiner früheren beruflichen Tätigkeit im Maschinenbau, kommt Herr Stramer auf seine Beförderung zum Leutnant im Zweiten Weltkrieg zu sprechen – ein Umstand, auf den er noch heute sehr stolz zu sein scheint, betont er doch, dass er befördert wurde, obwohl sein damaliges Alter noch unter der Altersgrenze für diesen Dienstrang lag. Insgesamt ist ihm dieser Lebensabschnitt offenbar sehr gegenwärtig und bedeutsam. So berichtet er weiter, dass er zur Verteidigung Berlins zuletzt mit einer Kalaschnikow gekämpft habe, da es keinen Munitionsnachschub für die Wehrmachtswaffen mehr gegeben habe. Im Bericht über die Abwehrschlacht gegen die auf Berlin vorrückenden »Russen« betont er die militärische Tüchtigkeit der deutschen Truppen: »Den Russen« hätten sie damals zurückgedrängt, wenn »der Amerikaner« jenem nicht beständig Waffen geliefert hätte. Am Kampfeswillen habe es nicht gelegen, dass sie am Ende keine Chance gehabt hätten. Während des Telefonats berichtet Herr Stramer ebenfalls schon von der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone, in der er bei der kasernierten Volkspolizei tätig gewesen sei, bis er in den 1950er Jahren die DDR verlassen habe. Es sei immer deutlicher geworden, dass er mit den Zielen und den politischen Grundlagen der DDR nicht übereinstimmte. Diese Schilderung einer (seinerzeit typisch) männlichen (Kriegs- und Karriere-) Biografie setzt Herr Stramer nun im Vorfeld der Diskussion vor Ort fort. Herr Stramer 294 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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erscheint etwa zehn Minuten vor Beginn und richtet sich unmittelbar an den männlichen Moderator, obwohl die zweite Moderatorin bereits zugegen ist und ihm auch vorgestellt wird. Er nimmt direkt den Gesprächsfaden aus dem Telefonat wieder auf und berichtet von seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft und richtet sich an den Interviewer, in dem er einen männlichen Vertreter der Enkelgeneration sieht, an den er im Sinne einer Erinnerungstradierung seine Erlebnisse weitergibt. Eindrücklich berichtet er von der »Heimkehr«, der Einfahrt in den ersten deutschen Bahnhof und davon, dass ihm ein dort diensthabender Polizist oder Reichsbahnangestellter empfahl, den von ihm getragenen Uniformrock der SS möglichst sofort zu entsorgen. Auch wenn Herr Stramer gleichzeitig betont, dass er bei der regulären Wehrmacht war und aus den Berichten der Kriegsgefangenen bekannt ist, dass sie sich mit Kleidungsstücken egal welcher Herkunft versorgten, bleibt doch eine Irritation beim Moderator zurück. In jedem Fall habe diese Episode Herrn Stramer nicht geschadet. So sei er nach der Kriegsgefangenschaft Polizeioffizier in der DDR geworden, bevor er die DDR verlassen habe. Es folgen noch einige andere, persönlich biografische Informationen, bis das Zweiergespräch mit Herrn Stramer vom Moderator abgebrochen werden muss, da die anderen Teilnehmerinnen erscheinen und die Gruppendiskussion beginnen soll. Interessant ist einmal, dass diese Erzählungen – der Bericht über die Beförderungen, also über Erfolg und Karriere im Krieg und über die Karriere danach in einer anderen Uniform – offenbar von höchster persönlicher Bedeutung für den Teilnehmer sind. Doch sind dies Schilderungen, die Herr Stramer lediglich an den männlichen Moderator richtet, was wir als Fortwirkung männlicher Dominanzüberzeugung deuten. Die Szene mit Herrn Stramer mag als Beispiel für einen ungebrochen positiven Bezug zum Nationalsozialismus und zum Krieg dienen, der von »Mann zu Mann« weitergetragen wird: »Junge, so wie wir damals waren, mit großem Kampfeswillen, so sei auch du. Erkenne an, was für ein toller Kerl ich war und nimm es dir als Beispiel«, so interpretieren wir die paraverbale Botschaft von Herrn Stramer. In der Gruppendiskussion – und das heißt auch im Beisein der ausschließlich weiblichen weiteren Teilnehmenden und der Moderatorin – werden dann Nationalsozialismus und Krieg nur noch indirekt und in idealisierender Weise erwähnt. Das Nationalsozialistische findet aber auch in der Kriegserzählung keine Erwähnung; vielmehr wird verherrlichend und scheinbar ohne politischen Kontext vom Krieg erzählt. Lediglich im Kontrast zur DDR, die Herr Stramer aufgrund politischer Differenzen verließ, wird ein positiver Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus deutlich. Auch wenn Herr Stramer in der Diskussion hervorhebt, in der BRD und der DDR seien »derselbe […] Dreck« (Z. 821–823) passiert, wird deutlich, welche Zeit als positiver Bezugspunkt übrigbleibt: die Zeit der idealisierten Kindheit und Jugend, die großenteils in die NS-Zeit fiel. Die Differenz, die Herr Stramer gegenüber weiblichen und männlichen Gesprächspartnern macht, steht auch im Einklang mit seinen Vorstellungen einer klaren Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. So hat die Frau in erster Linie Mutter zu sein und den »Mit295 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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telpunkt des Heimes« (Z. 1622) zu verkörpern, mit Mahlzeiten zu versorgen und, wie seine Mutter, zur Ordnung zu erziehen: »Die hat mir Ordnung beigebracht. (-) Aber ganz anständige Ordnung« (Z. 1268). Der Vater wird ebenso idealisiert als traditionelles Oberhaupt der Familie, der Unterwerfung fordert: »Was er sagte, das war Gesetz für mich« (Z. 1234–1239). Er ist die oberste Autorität, die sich auch in einem Konkurrenzkampf um die Erziehungsgewalt gegen die Lehrerin durchsetzt und so zum Ideal von Herrn Stramer wird, der sich mit dem siegreichen Vater identifiziert. Um sich für den Sohn einzusetzen hat der »Vater […] die Lehrerin, hat er die zur Brust genommen. (-) Aber die hat sich nie wieder je…« (Z. 1242–1244). Der Vater hat nicht nur die oberste Autorität, die er gegenüber der Lehrerin durchsetzt, er sorgt nicht nur für Ordnung, er sorgt vielmehr für Recht. Er gewinnt den Autoritätskonflikt mit der Lehrerin, einer gleichsam »bösen Mutterfigur«, womit er zum Retter für den Sohn wird. Damit korrespondiert diese Erziehungsepisode mit dem klassischen Modell der (klein)bürgerlichen Familie, deren Vater als Repräsentant der Außenwelt galt und der dem Sohn dazu verhilft, sich in der Identifizierung mit ihm von der (frühkindlichen Ohnmacht vor der) Mutter zu befreien. Die Identifizierung mit dem (hier idealisierten autoritären) Vater geht also nicht nur mit Unterwerfung einher. Vielmehr zeigt das Beispiel eine lustvolle Wendung, stellt diese für den Jungen gewissermaßen in Aussicht: So zu werden wie der machtvolle Vater bedeutet im klassisch autoritären Modell auch die Verheißung, später ebenfalls Macht gegen Andere wenden zu können, die dann »Angst« (Z. 1238) haben. Und dies gestattet es dem kleinen Jungen, die Angst gegenüber den mächtigen Mutterfiguren in der Identifikation mit der überlegenen Vaterfigur zu binden. In der Gruppendiskussion berichtet Herr Stramer dann, wie er diese Rolle selbst versucht hat, gegenüber den Referendaren an der Schule seiner Söhne einzunehmen (Z. 471–484): Herr Stramer: ° Ja (-) das weiß ich. ° Ich habe (-) mit meinen Söhnen besonders zu kämpfen gehabt, dass der von der antiautoritären Erziehung wegkommt. Der war bei Studienräten oder bei Assessoren auf ’m Gymnasium gewesen. Die waren hier von Adorno, ich weiß nicht, ob ihnen das ein Begriff ist, Adorno, geprägt worden, die hätten bei Adorno studiert und machten nun natürlich ihre Thesen eben den Gymnasiasten da nun wieder klar. Na da hatte ich mal einen Kampf am Sonntag, (-) um den Jungen wieder gerade zu biegen. Im Unterschied zu seinem Vater bleibt Herr Stramer nur noch die Wendung nach innen, in die Familie. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Position des patriarchalen Vaters bereits soweit geschwächt, dass er nur noch in der Familie selbst seine Gewalt ausüben konnte. Vor diesem Hintergrund und mit dem Wissen der bereits zu Beginn des Jahrhunderts, spätestens aber in der Weimarer Republik geschwächten 296 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Position des Vaters, erscheint die restaurative Rekonstruktion der Geschlechterrollen in Nazi-Deutschland ebenfalls idealisiert. In diesen Kontext fällt auch das Bedauern von Herrn Stramer, dass die »Ohrfeigen« an Schulen nicht mehr gestattet sind. Er rechtfertigt zwar diese Entwicklung damit, dass zu häufig von Lehrern der »häusliche Ärger an den Jungen« (Z. 513) ausgelassen wurde, aber hält die Entwicklung trotzdem für ungünstig. Seiner Befürchtung gibt er durch eine fantasierte Szene Ausdruck (Z. 514–520): Herr Stramer: Ob’s gut ist, weiß ich nicht. Wenn sich hier ne Lehrerin sagen muss, (-) äh ein junge Lehrerin sagen muss von einem Schüler; was willst du überhaupt da vorne? Geh nach Hause. Lass dich von deinem Alten (-). Na, das ist doch wohl zu viel, was. Und da soll, da soll ich auch noch still sein und soll runterschlucken. Na, wenn der das zu mir gesagt hätte, [stottert] der wär nicht wieder heil raus gekommen. In der fantasierten Szene von Herrn Stramer soll die sexualisierte Abwertung der »Lehrerin« die Gewalt gegenüber den Schülern als Erziehungsmethode rechtfertigen, aber die fantasierte Szene scheint selbst ambivalent zu sein. Sie erscheint eher als Bearbeitung eines inneren Konflikts, in dem sich das Ringen um den Erhalt der eigenen Autorität mit der Sorge verbindet, selbst etwas »runterschlucken« zu müssen, in sich aufnehmen zu müssen und die Körpergrenze nicht kontrollieren zu können.

Vom Aufheben von Differenz(en) in einer Frauengruppe Im Vergleich möchten wir nun eine intergenerationelle Szene zwischen Frauen betrachten. Beiden ist gemeinsam, dass das Nationalsozialistische selbst nicht thematisiert wird und vor allem die NS-Verbrechen, der Zivilisationsbruch des Holocaust, keine Erwähnung finden. Ist allerdings in der Szene zwischen Herrn Stramer und dem Moderator eine explizite Verherrlichung des Kriegs und implizit des Nationalsozialismus auszumachen, so dominiert in der Szene zwischen den Frauen in erster Linie eine Bagatellisierung und Verharmlosung. Dies deckt sich mit Untersuchungsergebnissen, die beschreiben, wie »Frausein als Entlastungsargument für die biografische Verstrickung in den Nationalsozialismus« verwendet wird (Grote/Rosenthal 1992).

»Heut ham wir … auch nicht die Zuckerlecke« In der Sequenz, die wir bereits im Kontext der Verharmlosung des Nationalsozialismus analysiert haben (Decker et al. 2008), diskutieren insgesamt sechs Frauen in der Alters297 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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spanne zwischen 43 (Frau Brost) und 89 Jahren (Frau Rief ). Die 89-Jährige dominiert über weite Teile die Diskussion, doch wird ihr von den jüngeren Frauen an einigen Stellen widersprochen – nicht jedoch in der Passage, in der es um die Zeit des Nationalsozialismus geht. Frau Rief gehörte damals zur Generation der jungen Erwachsenen, derjenigen, die den Nationalsozialismus bestimmend mittrugen (oder aber, wie in den wenigsten Fällen, passiv oder aktiv Widerstand leisteten). Im Narrativ von Frau Rief ist diese Zeitspanne lediglich eine unter vielen verschiedenen, deren Differenzen sie relativiert und die schließlich – im intergenerationellen Konsens – aufgehoben werden. Frau Rief: Ja so dann kam, (-) dann kam die die Nachkriegszeit, nicht, und dann kam Adolf, dann waren se sowieso all und dann kam der Krieg. Also ich bin durch [klopft mehrmals auf den Tisch] (---) alle möglichen Instanzen gelaufen. […] und dann war ich mal in Dresden waren wir mal nen Viertel Jahr und dann, nee zwei, zwei Jahre, und dann waren wir wieder in Berlin, und denn kam, dann kam Adolf, und dann kam der Adolf weg, dann kam der Krieg L und ne Krise hab ich auch nen Tick. Frau Osbeck: L ° in Dresden auch schön ° Frau Kaufmann: L☺Kam Adolf weg☺ Frau Rief: durchgemacht. Frau Osbeck: Adolf ☺(ging) wieder weg☺ Frau Kaufmann: ☺(---)☺ Frau Rief: Mhm? Frau Osbeck: ☺Ging Adolf wieder weg☺ Frau Berg: Der Arsch, ja [Frau Kaufmann und Frau Osbeck lachen], der verschwand wieder, der ging in die Teppiche. Frau Rief: Na also ich hab schon so viele Sachen gehört, jetzt weil da das das das das. So Schlimmes, genauso wie bei bei bei bein Ihnen da mit der DDR, nich. Also (-) da isses auch nicht so ganz so (--) Man muss auch ne bisschen auch was abstreichen. Frau Brost: LAch man lernt auch damit umzugehen ne irgendwie. Frau Rief: LWie in jeder Regierung. Frau Rief: Oben der eine macht so was und am andern is das. Das das das kla… is, so is das hier, heut ham wir heute auch nicht die Zuckerlecke (Z. 2269–2315). Die Frauen Kaufmann und Osbeck reagieren zunächst amüsiert auf die saloppe Äußerung, der »Adolf kam und dann kam der Adolf weg«. Das gemeinsame Lachen und die Wiederholungen der Äußerungen deuten auf etwas Lustvolles in dieser ›Geschichtsaneignung‹ hin, in der »der Arsch« kam und dann »in die Teppiche« verschwand. Wir vermuten, dass sich in der Wendung, Adolf Hitler sei »in die Teppiche« gegangen, zwei Topoi verbinden; zum einen die Überlieferung, er habe einmal vor 298 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Wut in den Teppich gebissen (Rauschning 1940), zum anderen die Redewendung, etwas unter den Teppich zu kehren. Um in diesem Bild zu bleiben, kann die gesamte Sequenz als ein erfolgreiches Unter-den-Teppich-Kehren verstanden werden, sofern die Bedeutung des Nationalsozialismus mitsamt »Adolf« dort verschwindet. Haben wir in der Studie 2008 auf das intergenerationelle Einverständnis fokussiert, so möchten wir nun auf weitere Bedeutungen des Aufhebens jeglicher Differenz(en) eingehen, wenn die phantasmatische Ebene des Nationalsozialismus evoziert wird. Wie bereits erwähnt, so dominiert Frau Rief in großen Teilen die Diskussion – allerdings nicht, ohne dass ihr die jüngeren Frauen an einigen Stellen widersprechen. Hier jedoch stellt sich ein lustvolles Einverständnis zwischen den Generationen in der Interaktion her, das sich im gemeinsamen Lachen Ausdruck verschafft. Es werden also Differenzen zwischen den Frauen aufgehoben, sowohl zwischen den Generationen, als auch im Hinblick auf Politik, Wohnorte und historische Zeiten. Frau Rief wird in dieser Passage die unangefochtene Autorität zugesprochen; als Zeitzeugin, die die Zeit des Nationalsozialismus miterlebte, wird sie zur Expertin, die wie die anderen »Schlimmes« gehört habe, doch aufgrund ihres Status als Zeitzeugin entscheiden kann, dass man »Abstriche« machen müsse, ebenso wie im Hinblick auf die DDRErfahrung von Frau Brost. Wenngleich mit dem Schlimmen die nationalsozialistischen Verbrechen evoziert werden, so werden diese im nächsten Halbsatz nicht nur relativiert, sondern Zeitzeugen werden zu potenziellen Opfern, die jedoch lernen »damit umzugehen«, »wie in jeder Regierung«: ob NS, DDR oder BRD. Die Homogenisierungen der Generationen und von Staatsformen verweisen bereits auf ein Phantasma der Nation, das mit der konkreten Regierungsform nichts zu tun hat. Es ist ein Phantasma, das insbesondere mobilisiert wird, wenn Teilnehmende unserer Untersuchungen über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen. So sei an dieser Stelle das Beispiel einer weiteren Gruppendiskussion herangezogen, in der, wie in den bereits betrachteten Diskussionen, selbstläufig die Zeit des Nationalsozialismus ins Gespräch kommt, ohne als solche benannt zu werden. Vielmehr wird vom Krieg und von dessen Folgen gesprochen. Eine Teilnehmerin in der dritten Generation nach dem Nationalsozialismus erzählt eine nicht direkt familiär, sondern über die Schwiegereltern tradierte Vertreibungsgeschichte aus den »Ostgebiete[n]« [Z. 717]. Dabei spricht sie von den »Ur-Deutsche[n]« (Z.  1395), mit denen sie sich – die Generationen verwischend – identifiziert.

Fremde Heimat oder das Phantasma der (deutschen) Nation: »Man wurde einfach nur verjagt« In der Gruppendiskussion mit fünf Teilnehmenden in einer Altersspanne von 33 bis 80 Jahren konstituiert sich die Gruppe über geteilte Fremdheitserfahrungen aufgrund von 299 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Wohnortwechseln. Frau Lück formuliert, obwohl sie nun schon seit elf Jahren mit Frau Kreuz in Gießen lebe, dort kein »Urgefühl« (Z. 58) zu empfinden, das sie offenbar vermisst. Auch Frau Kreuz beschreibt eine Sehnsucht, »in den Ursprung« (Z. 280) zurückzukehren, die sich vor allem am Kontrast zwischen dem »Norddeutsche[n]« (Z. 95) und dem »Süddeutschen« (Z. 96) festmacht. Doch ist diese Ur-Sehnsucht nicht zu erfüllen, was auch daran deutlich wird, dass Frau Kreuz im Konkreten eine Rückkehr zum eigenen Elternhaus oder in die Heimatstadt vermeidet, weil sie dies als zu eng empfände (Z. 145–153). Die verlassene »Heimat« wird ersehnt, ist aber zugleich »fremd« geworden (Z. 151–153). Die nicht erfüllbare Sehnsucht wird mit Ursprungsfantasien verknüpft, die sich vor allem an die Bedeutung der deutschen Sprache heften, die trotz der Dialekte von allen Deutschen geteilt werde. Schließlich formuliert Frau Kreuz, dass die Menschen auch in anderen Ländern Deutsch sprächen: »Zum Beispiel, ich sag’s jetzt mal für die Ostgebiete sowieso, alles, was Sudetenland, Polen angeht« (Z. 717). »Und auch die Polen selbst, also was in Oberschlesien alles so ist, was so ursprünglich ist, ist die sprechen alle lieber Deutsch« (Z. 722). Frau Kreuz nennt die »Ostgebiete« (Z. 717) zunächst vorsichtig, danach tastend, wie die Anderen in der Gruppe reagieren. Diese bestätigen Frau Kreuz an dieser Stelle paraverbal (zit. aus Gedächtnisprotokoll). Frau Kreuz konstatiert im damaligen Sprachgebrauch, in den im Nationalsozialismus von Deutschen besetzten Gebieten werde am liebsten deutsch gesprochen und ihr wird nicht widersprochen. Die Teilnehmenden scheinen sowohl den Wunsch nach Kollektivierung als auch die Sehnsucht nach einem verlorenen Ursprung zu teilen. Der fantasierte gemeinschaftliche Verlust der ehemals deutschen »Ostgebiete« wird rückgängig gemacht und wieder einverleibt. Hier kommt Frau Lück auf ihre Familiengeschichte zu sprechen und erzählt von der Herkunft ihrer Eltern »aus Schlesien« (Z. 984). Herr Brenner vervollständigt die Gemeinschaftsbildung der Gruppe, indem er ergänzt, seine Frau stamme »auch aus Schlesien« (Z. 987). Frau Kreuz greift das Thema später auf und berichtet von einer Reise mit ihren Schwiegereltern an den Ort, an dem sie vor ihrer Vertreibung lebten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die persönliche Betroffenheit keine familiär früh tradierte ist; vielmehr erzählt Frau Kreuz von übermittelten Erfahrungen von Flucht und Vertreibung der Schwiegereltern. Frau Kreuz: Da warn (-), die ham uns alles erklärt wie’s war, weil die sind ja geflüchtet und mussten über Nacht sogar flüchten und eine Tante musste sogar n Treck führn noch mit wie alt war se 14? Oder 16. Ganz alleine. […] Wenn mir die dann so erzählen, Häuser auf Bildern und da liegen nur noch Ruinen. Oder da is noch dieses Herrenhaus, was wirklich wunderschön aussah und man geht da rein, weil die Leute den Schlüssel dafür ham und die erklären einem, wo was wie 300 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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gewesen ist. Das hat mich (-) sehr ja sehr mit… äh also so so hmm ja eigentlich äh mitgenommen, in der Form, dass man sagt die hatten alles was sie brauchten. Man wurde einfach nur verjagt. Ja, also die wurden einfach alles genommen um irgendwo wieder hinzugehen wieder was Neues zu suchen, da wo sie eigentlich gelebt haben wo sie aufgebaut haben, wo sie ihre Leute hatten, wo sie aus diesen Sachen rausgetrieben wurden (-). Und ähm ja man dann noch Leute trifft, die Ur-Deutsche sind, die da ja auch vorm Krieg oder na zum Krieg waren, die dann die Russen dann einkassiert haben und die ham uns das dann mal so erzählt was da alles so nachträglich noch so passiert is, dass das kann einem kann man sich kaum selbst nicht vorstellen, wenn man das selbst nich erlebt hat oder das mal einfach mitbekommen hat. (Z. 1374–1397). Die Identifikation mit den Schwiegereltern wird in dieser Erzählung sehr deutlich, insbesondere wenn Frau Kreuz in die erste Person im einschließenden »Man« fällt: »Man wurde einfach nur verjagt.« Die deutschen Flüchtlinge erscheinen ausschließlich als Opfer, die grund- und schuldlos aus ihrer Heimat vertrieben werden. Die »Ostgebiete« bereiteten das Verständnis von Schlesien als eine Heimat vor, die Frau Kreuz als »ur-deutsche« bezeichnet. In Rechnung gestellt, dass die eigene familiäre Verbindung eine solche Heimat nicht tradiert haben kann, scheint hier eine phantasmatische Aufladung der »Ostgebiete« vorzuliegen. Es scheint die Sehnsucht auf, einen verlorenen Ursprung, eine Heimat wiederzufinden, die sich um eine idealisierte Vorstellung »des Deutschen« rankt. Die Passage weist auf eine intergenerationelle Vermittlung des Verlusts nationalsozialistischen Größenwahns 1945 und der damit einhergehenden narzisstischen Kränkung. Bis heute scheint eine idealisierte nationale Ursprungsfantasie zur Abwehr der narzisstischen Kränkung ob des Verlusts geeignet bzw. sie erhält ihre Bedeutung aus der NichtAnerkennung des Verlusts. So möchten wir uns im letzten Schritt Wurzeln dieses Phantasmas nähern, die wir im Material der Gruppendiskussion mit den NS-Kindern artikuliert sehen, wenn das Phantasma der ›Herrenrasse‹ entworfen wird. Dies bedeutet selbstverständlich keine Gleichsetzung dieses Elements nationalsozialistischer Ideologie mit dem Bild einer idealisierten verlorenen Heimat, doch lässt sich unseres Erachtens die Spur einer Abwehrformation auf den ›kollektiven‹ Verlust einer größenwahnsinnigen Vorstellung der deutschen Nation nach dem Nationalsozialismus ausmachen.

»Herrenrasse« und Mutterimago Ein Teilnehmer erzählt von seinen Erinnerungen an eine »Gebietsführerschule«, die er als Jugendlicher und Jungvolkführer besuchte: 301 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Herr Melzer: Drei Wochen lang wurden wir also gebimst [r] […] Und zwar gebimst auch theoretisch, denn wir sollten ja die ganz großen Führer werden. (?: Ja, ja.) Das war damals die Rede davon – das haben die uns allen Ernstes erzählt – dass nur noch Hitlerjugendführer an Universitäten nach’m Kriege zugelassen werden sollen nach dem so genannten Endsieg. Das haben sie uns verkauft. (?: [Räuspern]) Und da gab es auch eine äh, ne […] da gab’s so ein, ein, ein, eine Unterrichts- äh -bereich, der nannte sich »Volk und Rasse«. Da trug also irgendein Führer theoretische Überlegungen – nationalsozialistische Überlegungen – über Volk und Rasse vor. Da war von Juden kaum die Rede. Da hieß immer nur »die nordische Rasse.« Herr Schneider: Ja. Klar. Herr Melzer: Die nordische Rasse. Wir nordische Menschen. Herr Schneider: Ja. Herr Melzer: Wir sind die geborenen Herren. Wir werden alles beherrschen. Und wir werden die ganze Welt unseren – von Juden war überhaupt gar nicht die Rede. Ich hab die Aus-, Aufzeichnungen hier in der Tasche. Ich könnte’s Ihnen zitieren daraus. Ich hab sie noch behalten. (…) Also, das muss man auch mal realisieren, dass das – (Z. 865–79). An anderer Stelle (Rothe 2009) hat eine der Autorinnen eine Bewegung zwischen zwei Polen nachgezeichnet, zwischen rückblickender Distanz zu den Inhalten nationalsozialistischer Erziehung zu einem unvermittelten Ausdruck der damit verbundenen Lust und narzisstischen Gratifikation. Hier möchten wir die oben entwickelte männlich konnotierte Dominanzvorstellung aufgreifen, die in der Vorstellung der ›Herrenrasse‹ kulminiert. Bereits der erste Ausdruck, die Teilnehmer der »Gebietsführerschule« seien »gebimst« worden, vermittelt in Verknüpfung mit dem Lachen eine Lust an der Unterwerfung unter den Zwang der NS-Organisationen. Die Macht, die in der Figur des »Führers« personifiziert ist, und die Teilhabe an der Macht als »kleiner Führer« (»Jungvolkführer«) vermitteln (noch heute) narzisstische Gratifikation, die sich über die Passage hinweg immer stärkeren Ausdruck verschafft. Die Lust an der Unterwerfung ist verknüpft mit »männlicher« Macht im Begriff der »geborenen Herren« und der »nordischen Rasse«, der »Herrenrasse«. Dies korrespondiert auf den ersten Blick mit der Freud’schen und Kritischen Theorie zum Verständnis von (nationalsozialistischer) Massenbildung, in der die Figur des »Führers« als »Vaterimago« betrachtet wird. Autoren und Autorinnen nach Freud, u.a. Chasseguet-Smirgel (1986), Bohleber (1992, 1997) und Grunberger und Dessuant (2000) analysieren die in der »Volksgemeinschaft« virulente Fantasie als die einer »archaischen Mutterimago«. Was hat es mit der männlichen versus der weiblichen Konnotation auf sich? In der Freud’schen Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (Freud 1921c) ist die Führerfigur eine Vaterimago nach dem Idealtypus des Patriarchen der traditionell bürger302 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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lichen Familie (Fromm 1936). Die Individuen in der Masse identifizieren sich miteinander und ersetzen ihr Ich-Ideal mit der Führerimago oder der Idee, die der Massenführer verkörpert (Freud 1921c, S. 108). Nach Autoren der Kritischen Theorie funktioniert die nationalsozialistische Masse triebtheoretisch auf dem Niveau des Analen (Adorno et al. 1950). Metaphorisch und salopp ausgedrückt werden wir alle zur braunen Masse, wenn wir uns einer traditionell strafenden und machtvollen Vaterfigur unterwerfen.23 Unter höchst rigiden Bedingungen und einem Milieu, das geprägt ist durch die Forderung, sich den Eltern zu unterwerfen, besteht der Ausweg in der Identifikation mit dem Aggressor. Die folgende Dynamik des »autoritären Charakters« ist wohl ausreichend bekannt (Adorno et al. 1950). Vollzieht sich die Anerkennung der Autorität als gewaltvolle Unterwerfung, können nicht nur die eigenen Wünsche nicht mit den Verboten vermittelt werden, sondern es entstehen Aggressionen. Die Suche nach einem Ventil für die nicht zulässigen Wünsche bzw. auch für nicht gelungene Autonomiebestrebungen führen dann als autoritäre Aggression zu denjenigen, die schwächer sind oder zu Schwächeren gemacht werden. Im letzteren Fall kann der Lust am Verbotenen dann zumindest verdeckt nachgegangen werden. Die Kritischen Theoretiker prägten den Begriff des Autoritarismus und Fromm sprach von der »Autorität als Prothesen-Sicherheit« (Fromm 1936, S. 179) Die Gratifikation funktioniert als »narzisstische Ersatzbefriedigung« (ebd.). In der Masse derjenigen, die eine Autorität anhimmeln, kann das Ich, verflüssigt durch die kollektive Identifikation, »die Wünsche nach Größe und Macht in der Realität befriedigen« (ebd.). Zudem ist die Unterwerfung unter die Autorität lustvoll – es ist eine sadomasochistische Lust, die den autoritären Charakter umtreibt: »Muss man den Hass gegen den Stärkeren verdrängen, so kann man doch die Grausamkeit gegen den Schwächeren genießen« (ebd., S. 173). Wenn »Frauen, Kinder und Tiere« hierfür nicht ausreichen, dann werden die »Objekte des Sadismus gleichsam artifiziell geschaffen« (ebd., S. 174), wie das Bild »des Juden« im modernen Antisemitismus. Auf dem Niveau des Analen bestehen Konflikte zwischen Kontrolle und Ausstoßen, inszeniert in der Homogenisierung der Braunhemden (wie sie nicht nur die SA, sondern auch die HJ trug). Lebensgeschichtlich gilt die sogenannte anale Phase als die, die in der Geschlechterdifferenz manifest bedeutsam wird (Mertens 1996). Was bedeutet das im Hinblick auf die Qualität der Wahrnehmung von Differenz? Wenn wir auf diesem Niveau qua Regression funktionieren, bedeutet dies die Inszenierung von kategorialer Differenz auf einem Niveau, auf dem Differenzen innerhalb von »homogenen« Gruppen – also »der« weiblichen versus »der« männlichen – nicht mehr wahrnehmbar werden. 23 Der Begriff des Analen geht zurück auf die Freud’sche Frage, wie sich bestimmte Charakterzüge (Ordnung, Sparsamkeit, übertriebene Reinlichkeit und Eigensinn) frühkindlich entwickeln (Freud 1908b), die ihn auf die Bedeutung der (frühkindlichen) Analität und ihrer Funktion von »Zurückhalten versus Ausstoßen« bei der Herausbildung dieser Charakterstrukturen stößt. 303 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Doch betrachten wir weiter die Passage im Hinblick auf das geschlechtlich konnotierte Phantasma der Herrenrasse. Auf den distanzierten Rückblick folgend – »das haben die uns allen Ernstes erzählt« – lebt das Phantasma wieder auf, indem sich Herr Melzer gleichsam hineinredet. Spricht er zunächst noch in der dritten Person (»die nordische Rasse«), so fällt er daraufhin in die erste Person (»wir nordische Menschen«) und bleibt dabei. Gleichzeitig verlässt er die Vergangenheitsform und fällt ins Präsens: »Wir sind die geborenen Herren.« Schließlich wird die Fantasie der Großartigkeit immer größer. Ging es zunächst noch um die Zulassung an Universitäten, so schließlich um die Weltherrschaft: »Wir werden alles beherrschen. Und wir werden die ganze Welt unseren – […].« Das Phantasma ist das der Herrenrasse und entgegengesetzt werden dieser diametral »die Juden«. Hier geht es nicht mehr um die Unterwerfung unter eine männlich konnotierte Führerfigur und den Zwang der NS-Strukturen. Wir argumentieren, dass hier ein Phantasma der deutschen Nation zum Ausdruck kommt, das sich nicht mehr nur mit der Freud’schen Massenpsychologie begreifen lässt. Die entgegengesetzten Pole von fantasierter Allmacht versus Vernichtung verweisen vielmehr auf eine dichotome Spaltungsstruktur, in der »nur gut« »nur böse« gegenübersteht.24 Seit Melanie Klein (1927, 1946) haben diese lebensgeschichtlich frühen Spaltungsprozesse in der Psychoanalyse Konjunktur. Genaugenommen ist eine solche Struktur lebensgeschichtlich nicht das Resultat einer Spaltung, denn der Begriff setzt eine vorhergehende Integration voraus. Vielmehr geht er auf die Annahme zurück, dass für den Säugling zunächst keine Integration von lustvollen versus schmerzhaften Erfahrungen möglich ist. So betrachten wir abschließend Überlegungen, die die im Nationalsozialismus virulenten Fantasien und insbesondere das Phantasma der (deutschen) Nation als an ›archaische‹ Verschmelzungsfantasien angelehnt verstehen, die lebensgeschichtlich auf früheste Erfahrungen zurückgehen. In der deutschen Geschichte, die zum Nationalsozialismus führte, gründete die Idee der Nation auf der Vorstellung einer »mystifizierten Gemeinschaft der Deutschen gleichen Blutes« (Bohleber 1997, S. 580), das die deutschen Jüdinnen und Juden aus der »Volksgemeinschaft« ausschloss. Da »ethnisiert und […] als natürlicher Verband dargestellt« (Bohleber 1992, S. 705) verknüpfe sich ein solches »Phantasma der Nation« »elementar mit der 24 Als Weiterentwicklung von Freud’scher Massenpsychologie lässt sich der Beitrag zum (nationalsozialistischen) Antisemitismus von Ernst Simmel (1946) lesen, der von einer »Massenpsychose« (ebd., S. 64) im Unterschied zur Neurose spricht und damit ebenfalls die Regression auf lebensgeschichtlich früheste Prozesse im Blick hat: »Die Masse und der Psychotiker denken und handeln irrational, weil ihre Ich-Systeme regressiv desintegriert sind. […] Der antisemitische Massenmensch [kann] […] [d]urch Teilhabe am Kollektiv-Ich der Masse […] die verinnerlichte elterliche Gewalt in zwei Teile spalten: in den Führer, den er liebt, und in den Juden, den er hasst« (Simmel 1946, S. 73). 304 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Beziehungswelt der Primärfamilie« (ebd.) und hefte sich somit nachträglich auch an unbewusste Fantasien, die aus der frühesten Kindheit stammen. Bohleber (1997) geht von ubiquitären unbewussten Fantasien aus, die aus Erfahrungen mit einer als ›allmächtig‹ erlebten Mutter stammen, an die sich dieses Phantasma retrograd ›heftet‹. Die allmächtige ›Mutterimago‹ ist entweder nur gut, das heißt versorgend, warm, haltend, sie ist die, die den Säugling am Leben erhält – oder nur böse, das heißt versagend, abwesend, bedrohlich, aggressiv. Auf dem Niveau dessen, was Klein paranoidschizoid nennt, identifiziert sich das Subjekt mit der ›nur guten‹ Allmacht und projiziert deren ›nur böse‹ Kehrseite, sodass eine Idealisierung einer vernichtenden Abwertung gegenübersteht (Bohleber 1997). Chasseguet-Smirgel (1986) macht noch »unterhalb« dieses Phantasmas den Wunsch aus, in den »Mutterleib« – in eine fantasierte pränatale Welt ohne Hindernisse und Konflikte – zurückzukehren (ebd., S. 92). Anhand von Fallvignetten arbeitet sie die unbewusste und »archaische« Fantasie eines »glatten Mutterleibs« heraus, der von allen Hindernissen der konflikthaften Realität befreit ist und bezieht diese ebenfalls auf die im Nationalsozialismus »kollektiv« wirksamen Fantasien (ebd., S. 69). Hier sehen wir die Brücke zur Ursprungsfantasie im Hinblick auf die »urdeutsche« Heimat von Frau Kreuz. Denn mit Türcke (2006) lässt sich das, was wir als Heimat erleben, schon als phantasmatische zweite begreifen, als Surrogat der verlorenen, ursprünglichen – dem Mutterleib. Das Problem mit einigen der zitierten Ansätze ist, dass sie setzen, was erklärungsbedürftig ist. Bei Chasseguet-Smirgel werden z.B. aus der Analyse von individuellen und kollektiven Imagines festschreibend Begriffe der Theoriebildung, die nicht zuletzt geschlechtliche Implikationen haben. So spricht Chasseguet-Smirgel (1986) schließlich eindeutig vom »Mütterlichen« und vom »Väterlichen«, als handelte es sich dabei um nicht wandelbare Kategorien, als sei ›die‹ Differenz ahistorisch und überhaupt ein für allemal festschreibbar. Letztlich sieht Chasseguet-Smirgel auf der unbewussten phantasmatischen Ebene im Nationalsozialismus eine »Befreiung des Unbewussten«, einen Sieg der Primärvorgänge über die Sekundärvorgänge. »[D]iese Befreiung [werde, KR & OD] von einer Vereinigung mit der Mutter und einer Ausrottung der Welt des Vaters begleitet« (ebd., S. 169). Mit anderen Worten geht dies einher mit einer Abwehr des Ödipalen, verstanden als reife Triangulierung25, welche verknüpft sei mit der »Anerkennung der Geschlechter- und Generationengrenzen« (ebd.). Für Chasseguet-Smirgel sind diese ein für allemal bestimmbar; die Anerkennung dieser klaren Grenzen setzt sie gleich mit der Anerkennung des Realitätsprinzips. Jedoch, wenn starr die Differenz betont wird, heißt es auch immer, dass innerhalb 25 »Der Begriff Triangulierung entstammt dem Kontext der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie […]. Als Entwicklungskonzept bezeichnet er idealtypisch die allmähliche Entstehung und Verinnerlichung von drei ganzen, d.h. ambivalenten Objektbeziehungen im Verlaufe der ersten Lebensjahre« (Lothar Schon 2002, zit. nach Mertens/Waldvogel 2002, S. 732). 305 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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der Kategorien homogenisiert wird. Das Verwenden von geschlechtlich konnotierten Imagines ist zwar alles andere als willkürlich oder einfach zu dekonstruieren. Jedoch sind diese Imagines immer schon gesellschaftlich vermittelt sowie historisch spezifisch. So ist die erste Versorgende und den Säugling am Leben Haltende – und damit meinen wir durchaus nicht nur körperlich versorgend – nach wie vor zumeist die Mutter. Und selbst in einer Zeit, in der sich in einigen Milieus die Rollenverteilung der frühen Kinderversorgung zu ändern beginnen (vgl. Liebsch/Sommerkorn 2002; Bereswill et al. 2006), sind die »Durchgängigkeit der Geschlechterpolarisierung« und vor allem die »kulturelle Repräsentation« (Benjamin 1993, S. 61) nicht zu unterschätzen. Das heißt, alles andere als zufällig ist es nach wie vor gerechtfertigt, von Mutterimagines zu sprechen, wenn es um frühe Verschmelzungsfantasien geht. Doch sind die Ansätze, die auf archaische Prozesse im frühen Erleben fokussieren, gerade brauchbar, um eine Ebene zu fassen, auf der Differenz erst beginnt, sich zu konstituieren. Dies impliziert auch die Annahme, dass wir in unseren frühesten Erfahrungen noch nicht mit ganzen Objekten, geschweige denn mit Personen/Subjekten interagieren, sondern sich das Ich überhaupt erst konstituiert, indem zunächst alle lustvollen, sättigenden, stillenden, befriedigenden Erfahrungen einverleibt, inkorporiert 26 werden, alle schmerzhaften, frustrierenden, angstvollen exkorporiert, wie Freud dies anschaulich beschrieb: »Das ursprüngliche Lust-Ich will […] alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen« (Freud 1925h, S. 374). »In der Sprache der ältesten, oralen Triebregungen ausgedrückt: das will ich essen oder will es ausspucken, und in weitergehender Übertragung: das will ich in mich einführen und das aus mir ausschließen« (ebd.). Folgen wir diesem Gedanken, so ist der Prozess, in dem sich Differenz konstituiert (vgl. Löchel 2009), untrennbar von einer phantasmatischen Ebene, auf der wir uns das Gute einverleiben und das Schlechte ausstoßen wollen. Was bedeutet dies im Hinblick auf die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus? Zunächst einmal stellen diese Überlegungen grundlegende Festschreibungen der Kategorien weiblich und männlich im Hinblick auf die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus infrage. Beispielsweise wird die Größenfantasie der Herrenrasse als Chiffre für eine phantasmatische Ebene der Verschmelzung mit einer Mutterimago erkennbar. Dies wiederum ist eine Ebene psychischen Niveaus, auf der es keine (Geschlechter-)Differenz gibt. Die Fantasie ist Ausdruck des Wunsches nach narzisstischer Vollkommenheit, dessen Wurzeln vor Geschlechterdifferenzierungen liegen. Was auf dieser Ebene abgespalten 26 Laplanche und Pontalis (1973) fassen die ›Inkorporation‹ als »körperliches Vorbild der Introjektion (ebd., S. 127). Die Autoren differenzieren beide Begriffe, um deutlich zu machen, dass die Introjektion bereits weiter gefasst ist und sich nicht nur auf die Körpergrenze beziehen könne, sondern auch auf bereits bestehende psychische Strukturen (wie einem rudimentären Ich) (ebd., S. 236). 306 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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wird, geht lebensgeschichtlich weiter zurück, aber Aspekte hiervon werden nachträglich rückprojiziert auf die Geschlechterdichotomie. Im Zusammenhang mit den Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus bedeutet dies nicht, dass Geschlechterdifferenz bloß verleugnet wird, sondern dass die Regression auf ein Niveau fällt, auf dem sie noch nicht erfasst werden kann. Im Nationalsozialismus diente das Wahnbild »der Juden« als Projektionsfläche für die unverbalisierbaren bedrohlichen Aspekte frühester lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Aspekte dessen werden nachträglich sowohl vereinheitlicht als Muttererfahrungen als auch gespalten in das Bild der »nur bösen« versus der »nur guten« Mutter. Die Verschmelzung mit einer nur guten Mutter steht dann für die Fantasie der absoluten narzisstischen Vollkommenheit, und in Bohlebers Worten heften sich (deutsche) nationale Ursprungsfantasien eben an diese Fantasie. Gleichzeitig werden hierbei kollektive Fantasien bedrohlicher allmächtiger Weiblichkeit ins Leben gerufen, die wiederum Abwehr mobilisieren und die Kanalisierung in »männliche« Dominanzvorstellung aktivieren: wie im Extrem der Fantasie der »Herrenrasse« im Nationalsozialismus. Der Verlust des nationalsozialistischen Größenwahns 1945 und die damit einhergehende narzisstische Kränkung wurden und werden intergenerationell vermittelt. Bis heute – und das zeigt das Material – eignet sich eine idealisierte nationale Ursprungsfantasie zur Abwehr der narzisstischen Kränkung infolge des Verlusts bzw. erhält ihre Bedeutung aus der Nicht-Anerkennung des Verlusts.

Fazit Wir haben anhand von Gruppendiskussionen einige geschlechtlich konnotierte Aspekte der Tradierung von im Nationalsozialismus bedeutsamen Inhalten betrachtet. Dabei haben wir zum einen eine manifeste geschlechterdichotome Entwicklungslinie betrachtet, bei der es um Geschlechterrollen und Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit geht. (Unser Material ließ vor allem einen Blick auf männlich konnotierte Dominanz-, Härte- und Heldenvorstellungen zu, deren Tradierungsimpuls vor allem von der NS-Generation ausging und die sich in jüngeren Generationen unbestreitbar verändert haben). Manifest können wir von der Tradierung, aber zunehmenden Auflösung von starren Geschlechterrollen, wie sie im Nationalsozialismus im Extrem idealisiert wurden, sprechen. Auf einer latenten Ebene zeigen sich Geschlechterdynamiken und Bedeutungen weitaus komplexer. Diese Ebenen werden unseres Erachtens vor allem mobilisiert, wenn wir als (nicht-jüdische) Deutsche nach dem Nationalsozialismus angesprochen werden oder wenn die Zeit des Nationalsozialismus thematisch aufkommt. So vermitteln sich u. a. Bruchstücke einer phantasmatisch aufgeladenen und idealisierten 307 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

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Vorstellung ›des Deutschen‹, wie im zitierten Beispiel von einer Teilnehmerin der dritten Generation nach dem Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht. Das heißt, wir haben es mit gleichzeitig und quer zueinander verlaufenden Tradierungsebenen zu tun, auch, was die Dynamiken der im Nationalsozialismus wirksamen psychosozialen Prozesse auf verschiedenen psychischen Niveaus betrifft: mit dem Analen und Sadomasochistischen, womit sich bestimmte Aspekte greifen lassen und darüber hinaus mit archaischeren Prozessen. Wir hoffen gezeigt zu haben, dass (Geschlechter-)Differenz auf der latenten Ebene der Fantasie der Volksgemeinschaft und dem Phantasma der deutschen Nation keine Bedeutung hat. Auf dieser Ebene einer Verschmelzungsfantasie gibt es keine Differenz(en); vielmehr wird in einer dichotomen Spaltungsstruktur alles »Andere« abgespalten und auf »die Juden« projiziert. Gerade deshalb, so unsere These, wurde auf der manifesten Ebene Geschlechterdifferenz umso stärker betont. Heute kann die Destruktivität und Bedrohlichkeit der mit dem Thema des Nationalsozialismus evozierten Fantasien wiederum dazu beitragen, im Denken über diese Prozesse die Spaltungsstruktur auf die Geschlechter im Sinne einer Dichotomie zurückzuprojizieren. Erläuterung der verwendeten Transkriptionszeichen (--) (…) (?) ° L

r Jugend… äh …organisation

Pausenzeichen; die Anzahl der Striche steht für die Sekundendauer unverständliche Einwürfe eines Teilnehmers unverständlich gesprochen leise gesprochen überlappend gesprochen Lachen Unterbrechung/Abbruch im Wort

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310 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Autorinnen und Autoren

Ute Althaus, geb. 1943, studierte Mathematik und Physik. Nach zehn Jahren Lehrtätigkeit am Gymnasium begann sie ein Zweitstudium in Psychologie und eine Psychotherapieausbildung. Heute arbeitet die verheiratete Mutter dreier Kinder und Großmutter von sechs Enkelkindern als Psychotherapeutin in eigener Praxis. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Traumatologie und die Weitergabe von Traumata zwischen den Generationen. 2006 erschien im Psychosozial-Verlag ihr Buch »NSOffizier war ich nicht«. Die Tochter forscht nach. Wolfgang Benz, geb. 1941, studierte Geschichte, Politische Wissenschaft und Kunstgeschichte und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte an der Technischen Universität Berlin. Von 1990 bis 2011 war er Leiter des zur TU Berlin gehörenden Zentrums für Antisemitismusforschung. Er erhielt mehrere Auszeichnungen für sein umfassendes wissenschaftliches Werk. Jüngste Monografien: Antisemitismus und Islamkritik (Berlin 2011); Deutsche Juden im 20. Jahrhundert (München 2011); Auftrag Demokratie (Berlin 2009). Oliver Decker, PD Dr. phil., Dipl.-Psych., studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie. Von 1997 bis 2010 war er wissenschaftlicher Angestellter an der Medizinischen Fakultät Leipzig. Im Jahr 2010 arbeitete er als Vertretungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Siegen. Seit 2012 ist er Honorary Fellow an der School of Social Science der University of London. Neben zahlreichen sozialpsychologischen Schriften arbeitet er an einer mehrjährigen Forschung zu Rechtsextremismus in Deutschland mit (Ein Blick in die Mitte 2008; Die Mitte in der Krise 2010; Die Mitte im Umbruch 2012). Kurt Grünberg, Dr. phil., Dipl.-Psych., Dipl.-Päd., ist Psychologischer Psychotherapeut sowie Psychoanalytiker (DPV, IPA) in eigener Praxis. Seit 1990 arbeitet 311 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Autorinnen und Autoren

er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut und ist seit 2002 als Psychoanalytiker im »Treffpunkt für Überlebende der Shoah« in Frankfurt am Main tätig. Von 2002 bis 2010 war er wissenschaftlicher Leiter des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums Frankfurt am Main für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Frankfurt. Ausgewählte Veröffentlichungen: Liebe nach Auschwitz. Die Zweite Generation. Tübingen: Edition discord 2000; Contaminated Generativity. Holocaust Survivors and their Children in Germany. The American Journal of Psychoanalysis 2007(67), 82–96. Hannes Heer, geb. 1941, Historiker und Publizist. Staatsexamen in Literaturund Geschichtswissenschaft. Arbeitete als Lehrbeauftragter und in Projekten an Universitäten, als Theaterdramaturg, Filmregisseur und als Ausstellungsmacher. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung leitete er die Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Seit 2006 kuratiert er die Wanderausstellung Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der »Juden« aus der Oper 1933 bis 1945. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung, zuletzt: Vom Verschwinden der Täter (Berlin 2004); Hitler war’s (Berlin 2005); Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der »Juden« aus der Oper 1933 bis 1945, Kataloge zu: Berlin 2008, Stuttgart 2008, Darmstadt 2009, Dresden 2011 und Bayreuth 2012 (Berlin 2008–2012). Elke Horn, Dr. med., ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin (DGPT, DPG), Gruppenanalytikerin (D3G) und Systemische Familientherapeutin (IGST) in eigener Praxis. Sie ist Dozentin, Lehranalytikerin und Supervisorin am Institut für Psychoanalyse Düsseldorf (IPD) und leitet die Düsseldorfer Arbeitsgruppe der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). Seit 2008 ist sie aktives Mitglied im Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust, ehem. PAKH e.V. (www.pakh.de). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Psychohistorie der NS-Zeit und Transgenerationalität. Jan Lohl, Dr. phil., ist Sozialwissenschaftler, Supervisor und Coach. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Psychoanalyse, Psychoanalytische Sozialpsychologie und qualitative Sozialforschung sowie generationenübergreifende Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu diesen Themen zählt u. a.: Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine soziologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag 2010. Friedrich Markert, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie psychosomatische Medizin an der Universitätsklinik Frankfurt am Main. Seit 1981 312 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Autorinnen und Autoren

arbeitet er in Frankfurt als Psychiater, Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker (SGAZ). Seit 2008 bildet er am Mental Health Center in Shanghai chinesische Psychiater und Psychologen in analytischer Gruppentherapie aus. Gegenwärtig leitet er mit Kurt Grünberg das Forschungsprojekt »Szenisches Erinnern der Shoah. Zur intergenerationalen Tradierung extremen Traumas in Deutschland« am SigmundFreud-Institut Frankfurt am Main. Angela Moré, Dr. phil. habil., ist Sozialpsychologin und Gruppenanalytikerin (SGAZ, D3G), Mitbegründerin des gruppenanalytischen Instituts GIGOS sowie außerplanmäßige Professorin an der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. transgenerationale Übertragungsprozesse, Genderforschung, frühe Sozialisation und Entwicklungspsychologie sowie Gruppenanalyse. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen, u.a. 2001 im Psychosozial-Verlag: Psyche zwischen Chaos und Kosmos. Die psychoanalytische Theorie Janine Chasseguet-Smirgels. Eine kritische Rekonstruktion. Heike Radeck, geb. 1963 in Heilbronn, Dr. theol., ist Pfarrerin. Von 2001 bis 2012 war sie Studienleiterin für das Ressort »Kultur und Spiritualität« an der Evangelischen Akademie Hofgeismar und von 2005 bis 2012 war sie ebendort stellvertretende Direktorin. In den Jahren 2009 bis 2012 absolvierte sie eine Weiterbildung zur systemischen Therapeutin und Beraterin (SG) am Niedersächsischen Institut für Systemische Beratung und Therapie (NIS) Hannover. Katharina Rothe, Dr. phil., Dipl.-Psych., befindet sich zurzeit in Ausbildung zur Psychoanalytikerin in New York. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinischen Fakultät Leipzig (Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie). Gemeinsam mit Oliver Decker führte sie Forschungsstudien zur Genese von rechtsextremen und demokratischen Einstellungen durch. Von 2008 bis 2011 forschte sie im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung im BMBF-geförderten Verbundprojekt zu Karriereverläufen von Ärztinnen und Ärzten. Ihre Dissertation erschien 2009 im Psychosozial-Verlag unter dem Titel: Das (Nicht-)Sprechen über die Judenvernichtung. Ruth Waldeck, Dr. phil., Pädagogin und Psychologin, arbeitet als niedergelassene Psychotherapeutin und Supervisorin in Frankfurt am Main. In ihren Publikationen beschäftigt sie sich mit der weiblichen Adoleszenz sowie mit dem Generationenkonflikt unter Frauen. Bereits 1992 erschien ihre Dissertation »Heikel bis heute«: Frauen und Nationalsozialismus. Der Opfermythos in Christa Wolfs »Kindheitsmuster« bei Brandes & Apsel. 313 https://doi.org/10.30820/9783837966237 Generiert durch Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, am 09.08.2021, 13:45:26.

Angela Moré

Psyche zwischen Chaos und Kosmos Die psychoanalytische Theorie Janine Chasseguet-Smirgels. Eine kritische Rekonstruktion

2001 · 443 Seiten · Broschur ISBN 978-3-89806-060-8 Die erste, umfassende Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Chasseguet-Smirgels wird der bisherigen Rezeption ihrer Theorie in der Psychoanalyse wie in der feministischen Theorie eine kritische Wendung geben!

Das »Psychoanalytische Universum Janine Chasseguet-Smirgels«, wie es die Autorin einleitend nennt, ist Gegenstand dieses umfassenden theoretisch-ideengeschichtlichen Werkes. Dabei beleuchtet Angela Moré die fünf zentralen Themenbereiche der französischen Psychoanalytikerin, aus denen sich ihr theoretischer Ansatz speist. Von zentraler Bedeutung sind dabei neben ihren Ausführungen zur weiblichen Sexualität und zur »archaischen Matrix des Ödipuskomplexes« ihre Arbeiten zu Paranoia und Perversion sowie die Interpretationen zu Kunst, Literatur und Politik. Für Chasseguet-Smirgel – die sich grundsätzlich als Vertreterin der Freud’schen Psychoanalyse versteht und u. a. die Ansätze Melanie Kleins, Ferenczis und ihres Mannes Béla Grunberger in ihre Theorie integriert – bewegt sich die Entwicklung des Menschen zwischen der archaisch-mütterlichen Welt der Verschmelzungen und der reifen väterlichen Welt der Unterschiede und des Gesetzes. Angela Moré gelingt es, aus der historischen und ganzheitlichen Interpretation des Werkes von Chasseguet-Smirgel die Verflechtung mit anderen Ansätzen sowie die stringente Spaltung aller psychischen und gesellschaftlich-kulturellen Phänomene erkennbar zu machen.

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Jan Lohl

Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus

2010 · 488 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2059-8

Der Autor untersucht in der vorliegenden Studie die intergenerationellen Folgen des Nationalsozialismus auf der »Täterseite« und ihre politische Handlungsrelevanz: Ausgehend von einer konzeptuellen Erweiterung der »Unfähigkeit zu trauern« (Alexander & Margarete Mitscherlich), werden die Spuren einer affektiven Integration in die NS-Volksgemeinschaft über drei Generationen hinweg systematisch nachgezeichnet. Auf dieser Basis gelingt der Nachweis, dass NS-Gefühlserbschaften in der Enkelgeneration eine Andockstelle für jene paranoiden Ideologien darstellen, die in rechtsextremen Gruppen vermittelt werden. Das intergenerationelle Verhältnis von aktuellem Rechtsextremismus und Nationalsozialismus ist nicht nur zu erklären, sondern ist selbst ein Erklärungsfaktor für die Entwicklung nationalistischer und antisemitischer Handlungsmuster.

Wer wissen will, wie sich die psychosozialen Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf der Täterseite über drei Generationen hinweg darstellen, kommt an diesem Buch nicht vorbei! Prof. Dr. Wolfram Stender auf www.socialnet.de Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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Marie-Luise Kindler, Luise Krebs, Iris Wachsmuth, Silke Birgitta Gahleitner (Hg.)

»Das ist einfach unsere Geschichte« Lebenswege der zweiten Generation nach dem Nationalsozialismus

2013 · 202 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2225-7 Die Generation der nach 1945 Geborenen kommt langsam ins Rentenalter. In diesem Lebensabschnitt wird die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verstärkt zum Thema. Damit stellen sich aber auch Fragen wie: Inwiefern verspüren die Angehörigen dieser Gene-

ration das Bedürfnis, ihre Geschichte und die ihrer Eltern aufzuarbeiten, zu verstehen? Werden überhaupt Verknüpfungen zur kollektiven Geschichte hergestellt? Die vorliegende Studie der Alice Salomon Hochschule Berlin gibt einen fundierten Einblick in die komplexe Verkettung der Folgen des Naziregimes und der daraus resultierenden familialen Tradierungen. Gezielt wurden nicht nur die Söhne und Töchter von Opfern und TäterInnen befragt, sondern auch Nachkommen von Eltern, die die Zeit der Naziherrschaft als Angehörige der nationalsozialistischen Mehrheits- und MitläuferInnengesellschaft oder auf andere Weise überlebt und gestaltet haben. Dabei zeigt sich, dass die stets neu variierenden Aspekte des Umgangs unsere Aufmerksamkeit verlangen, um Möglichkeiten der Aufklärung und Auseinandersetzung zu bieten. Zugleich fördern die Ergebnisse der Untersuchung die Einsicht, dass Verstehen niemals lückenlos möglich sein wird.

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Helga Gotschlich

Das Bild in mir Ein Kriegskind folgt den Spuren seines Vaters

2012 · 439 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2177-9 Als wäre es gestern gewesen, erinnert sich Helga Gotschlich an die Situation im Luftschutzkeller während des Bombenangriffs auf Dresden und an die Bilder der Menschen, die ums nackte Überleben kämpften. Die Historikerin gehört selbst zur Generation der »Kriegskinder« und erzählt im vorliegenden Werk ihre eigene

Geschichte. Im Mittelpunkt der Reise zurück in die Zeit des Krieges steht die Frage nach dem verlorenen Vater, genannt »Papa Paul«. Nachdem er 1945 ein letztes Mal als Panzerfahrer nach Berlin einrücken musste, kehrte er nicht mehr nach Hause zurück. Doch was geschah mit ihm? Durch den Verlust des Vaters veränderte sich die Situation in der Familie drastisch. Für die damals heranwachsende Tochter bedeutete dies ein Verlust von Geborgenheit und ein abruptes Ende ihrer Kindheit. Lange weigert sie sich, die neue Lebenssituation anzuerkennen und die üblichen Erklärungen für vermisste Soldaten zu akzeptieren. Jahrzehnte nach dem Verschwinden des Vaters ist sie bereit, das Geheimnis um »Papa Paul« zu lüften, und begibt sich mithilfe der akribischen Mittel einer Historikerin auf die Suche nach seinen Spuren. Mit ihrer zeitgeschichtlichen Rückblende lüftet die Autorin nun ein Familiengeheimnis um den Verschollenen und hinterfragt dabei sowohl das Wesen und die Persönlichkeit des Vaters als auch Leerstellen in der eigenen Biografie. Gleichzeitig zeichnet ihre Geschichte ein Bild der Kriegs- und Nachkriegsjahre und reflektiert die psychischen, physischen und zwischenmenschlichen Auswirkungen und Verwerfungen der beiden Weltkriege.

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Sonja Grabowsky

»Meine Identität ist die Zerrissenheit« »Halbjüdinnen« und »Halbjuden« im Nationalsozialismus

2012 · 266 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2203-5

Fremdzuschreibungen auf Menschen prägen das Selbstbild und die Identität der Betroffenen und sind nachhaltig wirkmächtig. Die Verfolgerinnen und Verfolger der in der NS-Zeit als »halbjüdisch« klassifizierten Personen sprachen ihnen eine vollwertige Zugehörigkeit zur »deutschen Volksgemeinschaft« ab. Sie wurden aufgrund der rassistischen Klassifizierung, die sehr reale Auswirkungen auf ihr tägliches Leben hatte, in einen Zustand zwischen gesellschaftlicher Exklusion und Inklusion gebracht. Ihr Dasein »dazwischen« war auch nach 1945 keineswegs beendet und hat noch immer enorme Auswirkungen auf die Stigmatisierten. Die vorliegende Studie untersucht diese Erfahrungen des Hin- und Hergerissenseins ehemaliger »Halbjüdinnen« und »Halbjuden« und ihre individuellen Ambivalenzen, die sie bis heute prägen.

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Gertraud Schlesinger-Kipp

Kindheit im Krieg und Nationalsozialismus PsychoanalytikerInnen erinnern sich

2012 · 376 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2200-4

Als Teil der interdisziplinären Erforschung des kulturellen Gedächtnisses untersucht die Autorin Erinnerungsprozesse von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden. Mithilfe von Fragebögen sammelt sie die Erinnerungen von 200 »Kriegskindern« an ihr Aufwachsen im Nationalsozialismus. Ein unerwartetes Ergebnis ihrer Studie ist, dass 60 Prozent der Befragten traumatische Erlebnisse angeben. Es gibt signifikante Alters- und Geschlechtsunterschiede und die eigene Psychoanalyse war bei der Verarbeitung dieser Kindheit unterschiedlich nützlich. Mit zehn Personen dieser Gruppe führt Schlesinger-Kipp anschließend vertiefende Interviews, um der »narrativen Wahrheit« näher zu kommen. Ausgehend von dem Konzept der »Nachträglichkeit« untersucht sie den Einfluss des späteren Bewusstwerdens der kollektiven deutschen Schuld sowie die Auswirkungen der nationalsozialistischen Erziehungsideale auf die individuellen Erinnerungen an die Kindheit.

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Andreas Peglau

Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Verfolgt, verboten, verbrannt? Eine revidierte Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus.

2013 · 635 Seiten · Gebunden ISBN 978-3-8379-2097-0

Von der Krankenbehandlung ausgehend, entwickelte sich Freuds Lehre zu einer Möglichkeit, sich selbst und die Welt zu erkennen – und zu verändern. Dieser gesellschaftskritische Anspruch wurde während des Nationalsozialismus weitestgehend in den Hintergrund gedrängt. Die nachhaltigsten Weichenstellungen zu einer »unpolitischen« Psychoanalyse erfolgten in den 1930er Jahren und waren eng verbunden mit dem Versuch, Konfrontationen mit dem NS-Regime zu vermeiden. Dass die Alternative einer aufklärerischen Psychoanalyse weiter bestand, zeigt das Wirken Wilhelm Reichs, der 1933/34 aus den analytischen Organisationen ausgeschlossen wurde. Anhand von teils erstmalig veröffentlichtem Archivmaterial geht der Autor Reichs Schicksal nach und folgt den Entwicklungen im analytischen Hauptstrom während der NS-Zeit. Dabei beantwortet er auch die Frage, ob die Psychoanalyse jemals eine unpolitische Wissenschaft war.

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Die sozialgeschichtlichen Folgewirkungen des Nationalsozialismus auf der Täterseite gehören zu den am besten gehüteten Geheimnissen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die von der Tätergeneration abgelehnte Verantwortung für ihre (Mit-) Schuld an den Verbrechen und Grausamkeiten des Regimes hat in den Seelen ihrer Nachkommen tiefe Spuren hinterlassen: Identitätsstörungen, diffuse Schuld- und Trauergefühle, Wiedergutmachungswünsche und Schamgefühle, deren Ursache sie nicht kennen. Neuere Forschungen zeigen, dass die unbewusste Weitergabe unverarbeiteter Konflikte auch zu rechtsextremen Orientierungen und Identifikationen beitragen kann. Die Beiträger/innen nähern sich

auf unterschiedliche Weise den Nachwirkungen des Nationalsozialismus an: empirisch, theoretisch, basierend auf der gruppenanalytischen und therapeutischen Praxis oder der eigenen Biografie. Aufgrund dieser Perspektivenvielfalt richtet sich der Band nicht nur an die wissenschaftliche Fachwelt, sondern auch an ein Publikum, das aus einem (selbst-)reflexiven Interesse heraus die Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus begreifen möchte. Mit Beiträgen von Ute Althaus, Wolfgang Benz, Oliver Decker, Kurt Grünberg, Hannes Heer, Elke Horn, Jan Lohl, Friedrich Markert, Angela Moré, Heike Radeck, Katharina Rothe und Ruth Waldeck

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