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German Pages [217] Year 2018
Angelica Löwe Roman Lesmeister Daniel Krochmalnik (Hg.)
Gesetz und Begehren Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813881
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Angelica Löwe Roman Lesmeister Daniel Krochmalnik (Hg.) Gesetz und Begehren
VERLAG KARL ALBER
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Angelica Löwe Roman Lesmeister Daniel Krochmalnik (Hg.)
Gesetz und Begehren Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Angelica Löwe Roman Lesmeister Daniel Krochmalnik (Eds.) Law and Desire Theological, philosophical und psychoanalytic perspectives As a social and cultural subject man is caught in an inner conflict between law and desire. Limitations are placed on man’s desires, which despite in whatever context they are formulated, always raise questions on ethical issues. The texts in this book examine the relationship between law and desire in a series of fields of discourse which are closely related: theological Jewish and Christian aspects, (moral) philosophical and literary aspects as well as psychoanalytical aspects, with special emphasis placed on the psychoanalysis of Jacques Lacan.
The Editors: Angelica Löwe, trained as a Jungian Analyst in Vienna, she is now working as an independent practitioner. Responsible editor of the journal Analytische Psychologie (Analytical Psychology). Roman Lesmeister, Psychologist, Psychoanalyst and Psychological Psychotherapist. Lecturer and Training Analyst (DGAP / DGPT) at psychoanalytical training institutions. Daniel Krochmalnik is Professor for Jewish Religious Studies, Pedagogy and Didactics at the Heidelberg University for Jewish Studies, as well as Private Lecturer for Jewish Philosophy at Heidelberg University.
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Angelica Löwe Roman Lesmeister Daniel Krochmalnik (Hg.) Gesetz und Begehren Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven Als sozial und kulturell verfasstes Subjekt steht der Mensch in einem inneren Spannungsfeld zwischen Begehren und Gesetz. Seinen Wunschregungen sind Begrenzungen auferlegt, die, in welchem Kontext auch immer formuliert, stets Fragen der Ethik aufrufen. Die Beiträge des vorliegenden Buches untersuchen das Verhältnis von Gesetz und Begehren in einer Reihe von Diskursfeldern, die untereinander in enger Berührung stehen: dem theologischen jüdischer und christlicher Prägung, dem (moral-)philosophischen und literarischen, schließlich dem psychoanalytischen mit besonderer Gewichtung der Psychoanalyse Jacques Lacans.
Die Herausgeber: Angelica Löwe, Ausbildung zur Jung'schen Analytikerin in Wien, wo sie in freier Praxis tätig ist. Verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift Analytische Psychologie. Roman Lesmeister, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut. Dozent und Lehranalytiker (DGAP / DGPT) an psychoanalytischen Ausbildungsinstituten. Daniel Krochmalnik ist Professor für jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik an der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg sowie Privatdozent für jüdische Philosophie an der Universität Heidelberg.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48932-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81388-1
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Inhalt
Vorwort
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9
Mai Wegener Begehren, Gesetz und Genießen. Zu Lacans Interpretation des Abraham-Opfers . . . . . . . . .
17
Henry Abramovitch Akeda and the psychology of the spiritual revolutionary: A Jungian Reading based on Hebrew Text of Genesis 22 . . . .
41
Roman Lesmeister Jenseits des Gesetzes: Sublimierung, Todestrieb und Exzess
60
Daniel Krochmalnik Der Ursprung des Begehrens
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. . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Manfred Oeming Christentum als radikale Sublimierung? Biblischer Glaube im Spannungsfeld von Begehrensverbot und erfüllter Begierde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Horst Folkers Die schöne Seele in Goethes Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
Reiner Manstetten Vor der Türe ausharren, hinter der Türe nichts erwarten. Das Wesen des Gesetzes und das Warten des Mannes vom Lande in Kafkas Legende Vor dem Gesetz . . . . . . . . . . . .
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Autorinnen und Autoren
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Vorwort
Die Fragestellung nach Gesetz und Begehren, auf die sich die Beiträge dieses Bandes verschiedener Fachrichtungen auf je ganz eigene Weise beziehen, entstand im Rahmen eines im Sommer 2014 abgehaltenen psychoanalytischen Seminars zur Frage: Lacans Überlegungen zur Ethik der Psychoanalyse. Kant mit Sade, das sich Fragen der Ethik in Psychoanalyse und Philosophie widmete. Ein weiteres Seminar, das dem vorliegenden Band den Titel gab, fand im Winter 2015 als interdisziplinärer Austausch psychoanalytischer Theoriebildung mit jüdischer und christlicher Theologie an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg statt. Dieser nun seit vielen Jahren fruchtbar geführte Dialog begann 2001 mit der Gründung eines Arbeitskreises der Schule C. G. Jungs unter der Zielsetzung, nicht nur innerhalb der psychoanalytischen Schulrichtungen ins Gespräch zu kommen, sondern darüber hinaus sich theologischen und philosophischen Aspekten des verhältnismäßig jungen Theoriegebäudes, das die Psychoanalyse darstellt, vertiefend zu widmen. Nach einer Veröffentlichung zu Hiob (Hiob – Leiden und Schuld, Analytische Psychologie 176, 45. Jg., 2/2014) ist die vorliegende die zweite Publikation des Arbeitskreises. Erich Auerbach stellte in seiner Studie zur biblischen und homerischen Darstellungsweise die biblische Erzählung der Bindung Isaaks (Genesis 22) und eine Szene aus der Odyssee, in der Eurykleia den zurückgekehrten Odysseus an einer Narbe erkennt, nebeneinander (Auerbach, 1945, S. 7–30). In diesem ungewöhnlichen Vergleich charakterisiert Auerbach den alttestamentlichen Erzählstil als einen, der aus ›Lücken‹ bestehe, sich gewissermaßen um Leerstellen herum organisiere, wohingegen es die Eigenart des homerische Erzählstils ausmache, hingebungsvoll Details auszuformulieren und möglichst umfassende Begründungszusammenhänge zu liefern. 9 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
Zwei Interpretationen dieses ›Lückentextes par excellence‹, der Bindung Isaaks bzw. der Akeda, leiten die Reihe der Beiträge ein, worin ein Hauptanliegen der Herausgeber programmatisch zum Ausdruck kommt: die denkende Umkreisung einer im Grunde unfasslichen Leerstelle, die sich im Titel Gesetz und Begehren bereits klaffend auftut. Die Kluft, von der in diesen Texten die Rede ist, entstammt historisch nicht einholbaren Einschnitten: den Übergängen von Natur zu Kultur und Zivilisation, von sinnlich-triebhaftem Begehren zu nichtsinnlichem Erkenntnisdrang, von Amoral zu Sittlichkeit. Freud hat diesen Übergang als Sublimierung bezeichnet. Kulturschöpfung trägt immer die Wundmale der Gewalt. Sie sind die Spuren eines Prozesses der Befreiung von Natur. Der »Fortschritt in der Geistigkeit« (Freud, 1939, S. 219), wie Freud es nannte, ist nicht allein durch das Gesetz markiert, sondern ebenso durch ein Begehren, das wie das Gesetz von jener ihm zugrundeliegenden Gewalt her zu begreifen ist. Während die psychoanalytische Theoriebildung den Akzent auf den Aspekt der Gewalt angesichts von im Grunde nicht fassbaren, in uneinholbare Ferne gerückten Ereignissen legt und so den Begriff des Schnittes einführt, ist in den theologisch verfassten Texten von Glauben an Gott, Vertrauen in ihn die Rede. Dies erlaubt, wenn auch auf ganz andere Weise, die Umkreisung einer Nähe, die vom Unsagbaren durchdrungen ist. Literarische Textinterpretationen beschließen den Band und weisen auf eine spirituelle Öffnung hin, für die, so wenig Raum diskursives Denken dafür bieten mag, das dritte Ohr sich empfänglich zeigt. In der Psychoanalyse vom Gesetz zu sprechen heißt vom Vater sprechen. In zwei mythischen Erzählungen, einer frühen und einer späten, die letztere als Anschluss an die erste zu verstehen, stellt Freud den Vatermord in einen Begründungszusammenhang mit dem Moralgesetz. Totem und Tabu von 1912 ist ein mythopoetischer Beitrag zu den gewaltsamen Anfängen der Kultur, dargestellt im gnadenlosen Kampf der Brüderhorde mit dem Urvater, der in den Mord an diesem mündete. Der Mord ermöglicht allererst das Inzestverbot und das Verbot der Tötung des Vaters und lässt sich als Grundsteinlegung der symbolischen Ordnung betrachten. Erst spät – in seiner Schrift Der Mann Moses und die mono10 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
theistische Religion von 1939 – stellte Freud die Frage nach der Vatergestalt im biblischen Kontext, d. h. verknüpft mit dem monotheistischen Gott des Judentums. Moses wird – so Freud – von den Hebräern ermordet, weil sie die Strenge der monotheistischen Religion nicht ertragen wollten. Auch Moses kehrt in vergeistigter Gestalt wieder: in der Wirkmacht des prophetischen Wortes (vgl. Assmann, 2014, S. 119–134). Am Anfang ist der Schnitt, so könnte man Lacans psychoanalytische und kulturtheoretische Überlegungen zur Ursprungsgeschichte von Gesetz und Begehren zusammenfassen. Mai Wegener zeigt in ihrem Beitrag, wie Lacan am Beispiel der Akeda, der Bindung Isaaks, den sprechenden Gott, die Stimme Gottes ins Zentrum rückt, um von dieser her Überlegungen zur analytischen »Zerlegung« der Vaterfunktion anzustellen, deren bildliche Entsprechung Lacan in zwei Gemälden Caravaggios wiederfindet. Weder interessiert Lacan die Grausamkeit der Gottesforderung noch der Gehorsam Abrahams, ihn interessiert der Bruch mit der Opfertradition, markiert durch das Dazwischentreten des Engels. Der Schnitt, die Umlenkung des Messers vom Sohn hin zum Widder ist der Moment, auf den es ankommt, und aus ihm geht etwas hervor: ein Verlustprodukt, von wo her der Ort von Gesetz und Begehren gedacht werden kann. Der Schnitt, an dessen Linie sich Lacans Interpretation bewegt, rückt die Akeda in eine vorsprachliche, unvordenkliche Ferne, von der noch der Klang des Schofars, des »Gebrülls Gottes« zeugt. In Henry Abramovitchs von C. G. Jungs analytischer Psychologie geprägten Verständnis der Akeda rücken Gott und Abraham nah an uns heran: Dennoch verdankt sich auch seine Auslegung der Idee der Nachträglichkeit: Galt Lacans Absicht der Zerlegung der Vaterfunktion anhand einer biblischen Ereigniserzählung, deren gewaltförmige Aspekte gleichsam als hieroglyphische Ritzungen die Haut bebildern, von der wir kulturell überzogen sind, ist die Akeda für Abramovitch »eine kollektive Metapher für Fragen, die sich angesichts der Unfasslichkeit des Holocaust« stellen. Eine seiner zentralen Frage lautet daher: Was ist, wenn der Engel nicht kommt? Abramovitch entfaltet die Akeda vor unseren Augen als »göttliches Psychodrama«, basierend auf dem Vertrauensverhältnis zwischen Gott und Abraham, das durch ein Sprechen und Streiten der 11 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
beiden gekennzeichnet ist. Abraham, in gewissen Aspekten ein Mensch wie du und ich, ist dennoch ganz anders – und hier liegt der Akzent von Abramovitchs Ausführungen: er ist ein spiritueller Revolutionär. Diese Besonderheit prägt auch Abrahams Verhalten als Vater: Er übergibt Isaak der göttlichen Prüfung, einzig verstehbar als Auslieferung an die Stimme Gottes, mit der Abraham seit langem in Kontakt steht und der er vertraut. Isaaks traumatische Erfahrung der Todesnähe, so Abramovitch, verwandelte ihn in einen Überlebenden, und darin gleicht er fortan seinem Vater, der den »rauchenden Öfen Sodoms« entkam. Beide Entkommene, haben sie dennoch ein Gefühl dafür, hinter ihrer Rettung walte eine besondere Absicht. In diesem Sinn versteht Abramovitch die Akeda als »kreatives Trauma«, eine Initiation in das Wesen des Göttlichen. Jeder Neubeginn trägt die Spur der Zerstörung in sich, er ist quasi Schöpfung aus dem Nichts: Roman Lesmeister wendet sich dem Akt der Sublimierung zu; das unvollständig gebliebene Theoriegebäude Freuds wird einer gründlichen Inspektion unterzogen und anhand der Überlegungen Lacans weiterentwickelt. Es gilt, dem geheimnisvollen Verwandlungsprozess von sinnlicher bzw. sexueller Energie in Unsinnliches, Symbolisch-Geistiges, welches laut Freud »feiner«, »höher« ist (1930, S. 25) und kulturellen Zwecken dienen soll, auf die Spur zu kommen. Es ist – so Lesmeister – die Wirkmacht der Negativität, die zur Aufgabe des ursprünglichen Objekts zwingt, wofür eine reale oder symbolische Zerstörung stattfinden muss. Dieser dem Todestrieb entstammenden geistigen Kraft wendet der Autor sein interpretatorisches Interesse zu, ohne dabei aus dem Auge zu verlieren, dass sich beim Sublimierungsvorgang vom Eros geleitete Kräfte mit jenen der Destruktion wechselseitig durchdringen. Der Verlust des primordialen Objektes ist jedoch auch dafür verantwortlich zu machen, dass das den Sublimierungsleistungen zugrundeliegende Begehren immer wieder aus dem Gehege gesellschaftlich anerkannter Kulturleistungen ausbricht, sich zum Exzess steigert und zuletzt auch im Terror münden kann. Mythologien zu gewaltsamen Anfängen der Kultur finden, was den thematischen Zusammenhang von Schuld, Gesetz und Gewissen anlangt, eine frühe Entsprechung in der biblischen Erzählung von der Verführung durch die Schlange und der anschließenden Vertreibung 12 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
aus dem Paradies. An der Schnittstelle der Sündenfallepisode kündigt sich ein wesentlicher Übergang vom Naturzustand in Kulturverfasstheit an, nämlich das Inzesttabu bzw. Exogamie: »darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen«, heißt es in Gen 2, 24. Für Léon Wurmser stellt der Sündenfall die Geburtsstunde des Gewissens dar, die Einführung des Schamanteils des Über-Ich. Erst hiermit sei, so Wurmser, die Menschwerdung abgeschlossen (Wurmser, 1993, S. 91). Die dem 10. Gebot erahnbar zugrundeliegenden Elementarkräfte spiegeln sich in der Entschiedenheit, mit der jüdische und christliche Kommentatoren das sinnliche Begehren als Quelle der Unreinheit geißeln, in ihr gar die Hauptursache sehen, alle Gebote zu übertreten. So wird im sinnlichen Begehren die Urschuld des Menschen gesehen. Daniel Krochmalniks Überlegungen zum Sündenfall rekonstruieren die rabbinische Vorstellung vom Urzustand und Ursprung des Begehrens. Die Verführungsszene durch die Schlange, das Essen und Teilen des Apfels deutet er als Geschlechtsakt, als »Verlust der Unschuld« im wörtlichen und zugleich übertragenen Sinn. Dieser Akt sinnlichen Begehrens, so der Autor, beinhaltet gleichzeitig das Streben nach Erkenntnis oder: Der Geschlechtsakt ist Erkenntnisakt. In diesem Akt teilen Gott und die Schlange sich in ein gemeinsames, durch getrenntes Rollenspiel ermöglichtes Anliegen, das einen ›Entwicklungsschub‹ der Protagonisten ermöglicht: Gott, der besorgte Vater, »erzwingt das Glück seiner Kinder« durch eine Todesdrohung, während die Schlange für Erkenntnis sorgt. »Sie weist den Weg in die freie Welt.« Die Hervorhebung der entwicklungsdynamischen und emanzipatorischen Aspekte des Textes deutet weniger auf daseinsmindernde als vielmehr daseinssteigernde Potentiale hin, die Schuld erweist sich als felix culpa und der Sünder als felix peccator (Flasch, 2017, S. 102 ff.). Wie hält es das Christentum mit dem Begehren? Will es seine Auslöschung? Gibt es ein Entkommen aus der Verstrickung von Begehren und Verbot? Diese Fragen stellt Manfred Oeming, indem er Texte der Jesus- und Paulus-Traditionen als Aufruf zu radikaler Sublimierung liest. Unter Verweis auf Lacans VII. Seminar, der Ethik der Psycho13 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
analyse, merkt Oeming kritisch an, dass in einer konservativ-christlich geprägten Glaubenspraxis Begehren gerade darin bestehe, gegen das Gesetz aufzubegehren, und Überschreitungen des Gesetzes immer schon in der Dialektik von Gesetz und Begehren angelegt seien. Oeming setzt dieser Sichtweise eine andere Lesart des biblischen Befundes entgegen, um zu einer historisch-exegetisch begründeten »Psychologie des Glaubens« zu gelangen, die das Begehren des Menschen aus der unmittelbaren Nähe der Sünde rückt und so jene oben benannte Dialektik relativiert. Er folgt in seiner Argumentation dem Religionsphilosophen Philipp Stöllger, der in der Rehabilitation des Begehrens eine notwendige theologische Aufgabe sieht. Der Glaube, der Abraham auf den Berg Moriah leitete, hatte sein Fundament in einem unerschütterlichen Vertrauen zu Gott, das gleichwohl im streitenden Dialog mit ihm erprobt war. Gott war präsent als einer, der zuhörte, und als Stimme, von der sich Abraham führen ließ, die Forderungen an ihn stellte, ihm Prüfungen auferlegte. Was ist Glaube? Wie entsteht Beziehung zu Gott? sind die leitenden Fragen des Beitrags von Horst Folkers, dessen Textanalyse dem 6. Buch von Goethes Roman Wilhelm Meister gewidmet ist. Wir werden Zeuge eines subtil geschilderten religiösen Entwicklungsweges, einer Befragung des Selbst zur Beschaffenheit der Seele. Um diese kreist das Empfinden und Denken des adeligen Fräuleins in den Bekenntnissen der schönen Seele. Den seelischen Erfahrungen gilt ihr forschendes Interesse, von diesen Rechenschaft abzulegen ist ihr Hauptgeschäft. Wir erfahren, auf welche Weise die Seele Gottesbegegnung ermöglicht, wie sie um Glauben ringt und schließlich zu ihm findet. Zur theologischen Fundierung seiner Textinterpretation zieht Folkers das Lukasevangelium heran; hier untersucht er systematisch Kontext und Bedeutung des Wortes Psyche durch den Evangelisten. Die Umkreisung einer im Grunde unfasslichen Leerstelle, die den Ausgangspunkt unserer Überlegungen darstellte, gewinnt durch Kafkas sich Deutungen gegenüber spröde erweisende Legende Vor dem Gesetz eine weitere Tiefendimension: Reiner Manstetten spricht das messianische Moment der Legende an. Um was für ein Gesetz geht es in Kafkas Legende Vor dem Gesetz? Welchen Sinn hat das lebenslan14 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vorwort
ge Warten des Mannes vom Lande beim Tor zum Gesetz? Diese Fragen kontextualisiert der Autor mit Ideen von Hobbes, Kant und Nietzsche und zeigt dabei, was sich als blinder Fleck in deren theoretischen Ansätzen erweist. Anknüpfend an Gershom Scholems These, Kafka antworte auf eine Situation, in der das Gesetz zwar noch gelte, aber unvollziehbar werde, zeigt Manstetten, dass in Kafkas Text von einer Schwellensituation menschlicher Existenz die Rede ist. So lässt sich das Warten des Mannes an der Grenze zwischen Leben und Gesetz als ein Raum deuten, in den – angesichts einer Zeit fehlender Orientierungen –, wenn auch gebrochen, der Glanz der messianischen Ordnung strahlt. Angelica Löwe
Literatur: Assmann, J. (2014). Zwangsneurose oder Fortschritt in der Geistigkeit. Zu Freuds Religionskritik. In: Frick, H., Hamburger, A. (Hrsg.). Freud Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Stuttgart: Kohlhammer. Auerbach, E. (1946). Mimesis. Bern: Francke. Flasch, K. (2017). Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos. München: Beck. Freud, S. (1914/1963). Totem und Tabu. In: Gesammelte Werke, Bd. 9. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1917/1963). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. 11. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1930/1963). Das Unbehagen in der Kultur. In: Gesammelte Werke, Bd. 14 (S. 419–505). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1938/1963). Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Gesammelte Werke, Bd. 16 (S. 101–246). Frankfurt a. M.: Fischer. Hiob – Leiden und Schuld (2014). Analytische Psychologie 176, 45. Jg., 2/2014. Wurmser, L. (1993). Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten, Berlin: Springer-Verlag.
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Mai Wegener
Begehren, Gesetz und Genießen. Zu Lacans Interpretation des Abraham-Opfers
Auftakt 1 Lacan hat vor seiner Zuhörerschaft einmal ein rätselhaftes Bild ausgemalt, das er nicht zufällig im Seminar über die Angst seinen Hörern in Erinnerung ruft. Er schildert die unheimliche Begegnung mit folgenden Worten: »Ich selbst hatte mich, mit der Tiermaske bekleidet, mit der sich der Zauberer aus der sogenannten Grotte der Trois Frères bedeckt, vor Ihnen einem anderen Tier gegenüber stehend, einem echten dieses Mal, für den Fall als riesig unterstellten, nämlich einer Gottesanbeterin (mante religieuse), imaginiert. Da ich nicht wusste, was für eine Maske ich trug, können Sie sich leicht vorstellen, dass ich einigen Grund hatte, mich nicht sicher fühlen zu können, was den Fall anging, dass zufälligerweise diese Maske nicht ungeeignet gewesen wäre, meine Partnerin zu irgendeinem Irrtum über meine Identität zu verleiten. Die Sache wurde noch besonders durch meine Hinzufügung unterstrichen, dass ich in jenem rätselhaften Spiegel des Augenballs des Insekts nicht mein eigenes Bild sehen konnte.« (Lacan, 2010, S. 14 f. /Seminar X, 14. 11. 62)
Lacan stellt sich also vor, wie er vor diesem menschengroß gedachten Insekt steht, seiner Gottesanbeterin. Er selbst sei als eine Art Schamane oder Hexenmeister verkleidet. Die Caverne des Trois Frères ist eine der drei Höhlen des Volp in den französischen Pyrenäen. Sie ist für ihre Wandmalereien bekannt, auf denen sich zwei Halb-MenschHalb-Tier-Figuren finden, die in der Höhlenmalerei selten sind. Das eine Wesen, das gleichzeitig die Charakteristika eines Menschen und eines Bisons aufweist, wird »Hexenmeister mit Musikbogen« geAn dieser Stelle sei Eva Maria Jobst herzlich gedankt, ohne die ich schwerlich durch die Lacanlektüre gekommen wäre, die dem vorliegenden Text zugrunde liegt. Seit Jahren betreiben wir die Lektüregruppe des Psychoanalytischen Salons Berlin und haben dort auch Lacans Seminar über die Namen des Vaters gemeinsam gelesen.
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Mai Wegener
nannt. Das andere Wesen wird entweder als tanzender Schamane gedeutet oder als Hexenmeister, der einen magischen Ritus praktiziert, oder auch als eine Art gehörnter Tiergott. Eine dieser Masken also trägt Lacan. Offen, zu welchem Ziel er das Rendezvous mit der Gottesanbeterin verabredet hat, zweifelsohne lockt, beschwört er ihr Begehren hervor. Geht es um eine Liebesbegegnung oder um eine analytische? Lacan lässt das offen. Sein Kostüm entnimmt er vorgeschichtlicher Zeit, Freud hätte gesagt: den Wilden. Es ist die Inszenierung einer prähistorischen, mythischen, surrealen Begegnung. Warum hat Lacan nun diese »Fabel« (ebd.) ersonnen? Was umkreist er hier in der fabelhaften Verkleidung? Die Gottesanbeterin – als Insekt sehr fremd, fremder als andere Tiere, so fleischlos wie es ist – hat durch irgendetwas das Begehren Lacans geweckt, er wendet sich ihr zu. Und um das Begehren der Begehrten zu wecken, hat er sich eingekleidet, maskiert. Als Maskerade oder Parade kennzeichnet die Lacan’sche Psychoanalyse zwei Formen, das Begehren zu zeigen, wobei die Maskerade der weiblichen Weise, es zu präsentieren entspricht (vgl. Lacan, 1958/1991, S. 130 ff.). Entscheidend ist hier, dass Lacan nicht nur das Begehren seines Gegenübers nicht kennt, sondern ebenso wenig seinen eigenen Umhang, seine Maskerade. Er weiß nicht, als wer oder was er seiner Auserwählten gegenübertritt. Weder weiß ich, wie mein Begehren dem Anderen erscheint, noch verfüge ich irgendwie direkt über es – stelle es aber gleichwohl aus in einer Maske, unbewusst. Lacan unterstreicht diese Unzugänglichkeit, indem er in der Szene die Ausschaltung der Spiegelrelation hervorhebt, die uns üblicherweise in Sicherheit wiegt und täuscht: Die Augen der Gottesanbeterin bieten keinen Spiegel, der mich glauben lassen könnte, ich befände mich in vertrautem Raum, im Raum der Ähnlichkeit. Die Fabel akzentuiert das Moment der Angst in der Begegnung meines Begehrens mit dem Begehren des Anderen: »Che vuoi? […] Was will er (von) mir?« (Lacan, 2010, S. 15 /Seminar X, 14. 11. 62). Dieses Moment der Angst signalisiert die Berührung mit der Andersheit als solcher, als realer. Jacques Lacan hat es also mit der Gottesanbeterin. Hier kommt tatsächlich vieles zusammen, Theoretisches wie Biographisches. Der Name des Tieres – französisch la mante religieuse – bildet den Anfang und den Kern. Er hatte es auch Roger Caillois angetan, der 1934 in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure, in der auch Lacan pu18 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Begehren, Gesetz und Genießen
blizierte, einen ebenso faszinierten wie erhellenden, skurrile Details aus Biologie und Mythologie wiedergebenden, Aufsatz über die Gottesanbeterin veröffentlicht hat (vgl. Caillois, 2007). Caillois hebt auf die Haltung des Tiers ab und auf die Eigenheiten seines Verhaltens, die die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich gezogen und sich in dem bemerkenswerten Namen niedergeschlagen haben. Der Name Gottesanbeterin / mante religieuse rührt von der Haltung des Tieres her, das seine vorne sitzenden großen Fangbeine wie in betender Haltung aneinanderlegt. Im Französischen wird diese Bezeichnung auch für eine Frau gebraucht, die im Deutschen als »männermordender Vamp« gälte. Diese Verwendung rührt aus einer Eigenheit im Verhalten dieses Insekts her, dessen weibliche Exemplare während oder nach der Begattung bisweilen das Männchen verspeisen. Caillois deutet, es gehe hier um die Angst vor der weiblichen Sexualität und besonders um die Angst, von der Frau verschlungen zu werden. Von solcher Angst ist schon bei Freud die Rede, sie findet auch bei Lacan Aufnahme, besonders in Bezug auf die Mutter (Lacan, 1991, S. 129 /Seminar XVII, 11. 3. 1970). Es lässt sich jedoch noch ein anderer Aspekt der Weiblichkeit an der Gottesanbeterin festmachen, der von Lacan formuliert worden ist und der bei Caillois nicht vorkommt. Im Seminar encore bringt Lacan das Genießen der Frau in ein Verhältnis mit Gott. Insofern die weibliche Begehrensposition vom phallischen Begehren unabhängiger sei, trage sie das Begehren auf ein anderes Feld, auf die »Seite des Anderen, die Seite Gott« (Lacan, 1986, S. 83 /Seminar XX, 20. 2. 1973). Das weibliche Genießen resultiere so aus einer Bewegung, die sich nicht ganz dem Phallischen zuwendet, sondern zu einem gewissen Teil Gott. Lacan führt hier die Mystikerinnen an. Es ließe sich auch auf Alkmene verweisen, denn, den alten Mythos gegen den Strich gelesen, ist es Alkmenes Begehren, das, wenn sie mit ihrem Gatten Amphitryon zusammenliegt, sich zugleich, und insgeheim ihren Gatten betrügend, dem unsterblichen Zeus zuwendet (vgl. Lacan 1980, S. 330 /Seminar II, 8. 6. 1955). Wir kommen so zum Feld der Religion auf merkwürdigen, ja anstößigen Wegen – das Sexuelle und die Religion verknüpfend. Ich sehe keinen anderen Weg für die Psychoanalyse, dorthin zu gelangen. Es wird daher im Folgenden zunächst vom Begehren die Rede sein. Ich möchte einiges Grundsätzliche zur Einführung in die Lacan’sche Psychoanalyse vorbringen und insbesondere zum Konzept des Begehrens. Erst von dort her wird der spezifische Gegenstand in den
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Mai Wegener
Vordergrund treten, dem dieser Beitrag gewidmet ist: Lacans Interpretation des Abraham-Opfers.
Das Begehren ist das Begehren des Anderen In der Psychoanalyse Lacans geht es um das Begehren, wie in der Freuds um den unbewussten Wunsch. Es geht darum, einen Raum zu öffnen, in dem sich ein Begehren Stimme geben kann. Das Wort Begehren ist die deutsche Rückübersetzung für das französische désir, mit dem Lacan den Freud’schen unbewussten Wunsch übertragen hat. Das Wort Begehren hebt dabei das Sexuelle hervor: »Ich begehre Dich« ist deutlich, und es ist bereits seiner grammatischen Form nach auf einen anderen gerichtet. Man würde nicht sagen: »Ich wünsche Dich«, wohl aber: »Ich begehre Dich«. »Das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen«, so lautet die berühmte Sentenz Lacans. Entscheidend ist hier zu hören: Das, worauf das Begehren zielt, ist ein Begehren. Diesen Gedanken konnte Lacan bereits bei Hegel finden oder genauer bei Alexandre Kojève, der in Frankreich für eine ganze Generation Hegel kommentiert hat: »Die Begierde (frz. désir) [richtet] sich auf eine andere als Begierde erfaßte Begierde«, heißt es bei ihm, und auch: »Die menschliche Geschichte ist die Geschichte begehrter Begierden« (Kojève, 1975, S. 22 u. 23) 2. Sofern das Begehren auf ein Begehren zielt, hat es ein eigenartiges Objekt: das Begehren selbst, das Begehren des Anderen. Damit unterscheidet es sich grundsätzlich vom Bedürfnis, dessen Objekt oder Ziel jener Gegenstand (z. B. Nahrung) oder Umstand (z. B. Wärme) wäre, der dieses Bedürfnis befriedigte. Das Begehren konstituiert sich über eine völlig andere Bewegung und ein Objekt, das nicht aus der Sphäre der Güter stammt. Lacan nennt es Objekt a oder Objekt Ursache des Begehrens. Das Begehren erfährt seine Prägung nicht durch die Güter, die zuhandenen Gegenstände. Es entsteht allererst durch die Begegnung mit dem Anderen und ist durch diese Begegnung vermittelt. Das gesamte Feld der Bedürfnisse (besoin) ist beim Menschen über den Anspruch (demande) vermittelt, über eine Liebesansprache, im doppelten Sinne, wie man sagen kann: als AnDer Satz lautet vollständig: »Die menschliche Geschichte ist die Geschichte begehrter Begierden. Aber – abgesehen von diesem wesentlichen Unterschied – ist die menschliche Begierde der tierischen analog«. (23)
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Begehren, Gesetz und Genießen
spruch auf Liebe und als Ansprache oder Appell an den Anderen. Was in dieser Wendung an den Anderen keine Befriedigung findet, insistiert als Begehren. Begehren ist das Verlustprodukt aus dieser Begegnung. Das, was nicht aufgeht in ihr, ihren Rest, markiert Lacan durch das Objekt a, das verlorene Objekt. Als die vier Formen dieses Objekts benennt er: Brust und Kot (die schon Freud beschrieb) sowie Blick und Stimme. Freilich ist an dieser Stelle der Bezug zu Hegel längst verlassen. In der Psychoanalyse geht es nicht um »Selbstbewusstseine«, sondern um Subjekte, die vom Unbewussten getragen sind, oder unterhöhlt, könnte man auch sagen. Das Begehren ist unbewusst in seinem Kern und richtet sich an den Anderen in seinem Begehren, das ebenso unbewusst ist: »Der Andere betrifft mein Begehren, gemäß dem, was ihm fehlt und was er nicht weiß.« (Lacan, 2010, S. 36 /Seminar X, 21. 11. 62) Bereits Freud hatte hervorgehoben, dass es im Feld des Unbewussten um das Sexuelle geht. Der Freud’sche unbewusste Wunsch ist wie das Lacan’sche unbewusste Begehren vom Trieb angespornt. Dieser Trieb erscheint in Form von Partialtrieben, uneinheitlich und unzweckmäßig, Lust und Genießen verfolgend, wobei Genießen als ein Terminus Lacans das Spektrum der körperlichen Erregungen bezeichnet, das jenseits des Lustprinzips liegt, also nicht mehr unbedingt als Lust erlebt wird. Das Genießen überschreitet das Maß der Lust in den Schmerz hinein. In der Verfolgung eines Triebziels, eines Genießens, kann ein Mensch sein Leben aufs Spiel setzen; nicht nur der Tod des Gegenübers, auch der eigene Tod kann ein Einsatz in der Triebbefriedigung sein. Deutlicher als bei Freud ist das Sexuelle bei Lacan aus dem Feld des Natürlichen herausgerissen. »Vergessen Sie nicht«, vermerkte allerdings schon Freud, »wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorgangs« (Freud, 1917/1963, Bd. XI, S. 331). Bereits Freud arbeitete ohne Rückgriff auf eine, etwa wissenschaftlich bestimmte, Natur des Sexuellen. Lacan radikalisierte diese Position, indem er von der Unmöglichkeit einer irgendwie natürlichen Regelung des sexuellen Feldes beim Menschen ausging. Hier tritt von Anfang an die Kultur dazwischen, das heißt das Sprechen und die Sprache, die Tatsache, dass der Mensch »Sprechwesen /parlêtre« ist, wie Lacan (1974/2006, S. 77) es formulierte. Die Sprache – von Lacan als Signifikantenordnung aufgefasst und daher weit mehr umfassend als Worte – bildet die Struktur, in der sich das Menschenwesen in einer Bewegung von Entfremdung subjektiviert. Vom ersten Schrei an 21 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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nimmt diese Subjektivierungsbewegung ihren Lauf, erfahren Begehren und Abwehr ihre Bahnung. Es ist die Präsenz des Anderen, die sie in Gang hält und ausformt. Denn Bedeutung entsteht allererst im Feld des Anderen, konkret etwa in der Antwort der Eltern, wenn diese den Lautierungen des Kindes Bedeutung zusprechen. Sprache ist ein Dazwischen, sie überschreitet die Einzelnen, und eben darin gründet die psychoanalytische Konzeption des Anderen. Der/die/das Andere (l’Autre) ist das, woraus wir sprechen; es ist der Ort, an dem wir sprechen. Für die Lacan’sche Psychoanalyse bildet die Tatsache, dass es Sprache gibt und somit diesen Ort des Anderen, einen Primat – Sprache durchaus, warum nicht, als Transzendenz. Aber eine Transzendenz, von der wir – unsere Körper, unsere Intimität – durchquert sind. Dies ist die Feststellung der Psychoanalyse: Die Struktur der Sprache durchquert den Körper. Die Sprache und das Sprechen haben körperliche Wirkungen, sie treffen den Körper in seiner fleischlichen, erregbaren Substanz. Das Subjekt ist daher von Anfang an und bis in seine intimsten Erregungen, bis in seine sexuelle Ausrichtung hinein, auf den Anderen verwiesen. An dieser Stelle sei eine Bemerkung Lacans über den Schrei festgehalten. Im Seminar über die Angst gibt es eine bemerkenswerte Stelle, an der Lacan den ersten Schrei des Kindes nach der Geburt in engstem Zusammenhang mit diesem Anderen interpretiert. Es ist die schockartige Durchdringung des kindlichen Organismus mit Luft, die dann die vitale Funktion der Atmung in Gang setzen wird, die den Säugling diesen Schrei ausstoßen lässt. Dieses »Einatmen an sich eines zutiefst anderen Milieus« (Lacan, 2010, S. 413 /Seminar X, 3. 7. 1963) rückt Lacan hier ins Zentrum. Damit setzt er die Luft konkret und mythisch zugleich in die Position des ersten Anderen oder genauer Proto-Anderen, des Fremden, von dem das Kind überwältigt wird und den es in sich aufzunehmen hat, um leben zu können. Nachträglich wird der Schrei, den das Kind ausstößt, allererste Bahnung zum Sprechen gewesen sein, so hält es Freud im Entwurf in einer ebenfalls bemerkenswerten Passage über den Schrei fest (vgl. Freud, [1895]/1987, S. 457). Die Sprachbahn wird durch die ebenso lebensnotwendige wie traumatische Begegnung mit etwas ausgehoben, das die Lacan’sche Psychoanalyse den/die/das Andere/n nennt. Mit diesem Anderen hat das Begehren zu tun. Es ist nichts Natürliches, »weder elementar, noch animalisch«; Lacan nennt es »eine Resultante, eine Komposition« (Lacan 1960/2006, S. 17) und betont: »Der entscheidende Charakter des Begehrens ist nicht nur, dass es 22 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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voller Sinn ist, sondern dass es kein Archetypus ist« (ebd.). Es ist ›voller Sinn‹, also überdeterminiert im Sinne der unabschließbaren Vieldeutigkeit der Signifikanten, das heißt, seine Bedeutung ist in keiner ursprünglichen, archaischen oder ›eigentlichen‹ Form verwurzelt. Es ist von der Sprache ausgehoben, von der Tatsache, dass wir Sprechwesen sind, und daher auf die grundlegende Negation bezogen, die die Sprache in sich trägt. Das Objekt a entsteht als ein Verlustprodukt – herausgefallen, abgetrennt in den einschneidenden Begegnungen des Kindes mit seinen Anderen. Dieser Verlust – psychoanalytisch: Kastration – ist Bedingung des Begehrens, das unterhalten wird von der Erwartung eines uneingelösten Genießens. Es ist eine Bewegung des Wiederfindens und Verfehlens und des erneuten Wiederfindens und erneuten Verfehlens – in einer Ökonomie des Mangels und der Schuld. Lacan spricht vom »paradoxen, abweichenden, erratischen, exzentrischen, ja sogar skandalösen Charakter des Begehrens« (Lacan, 1958/1991, S. 126). Diesen Charakter hat es von der Triebseite her, sofern es sich aus dem Trieb speist und dessen Maßlosigkeit und Desintegriertheit ausgeliefert ist, wie auch von der Gesetzesseite her, da seine Regelung dem Signifikanten anheim gegeben ist, das heißt, vom Anderen als »Hort des Signifikanten« (Lacan, 1960/1991, S. 182) dirigiert. Nicht allein die Seite des Triebs, das ist festzuhalten, trägt zum skandalösen Charakter des Begehrens bei, sondern nicht weniger die Seite des Signifikantengesetzes, welches vom Platz des Anderen aus ergeht. Dieses Gesetz, das »in der Frustration eines Genießens besteht, [ist] selbst offensichtlich gierig/avide« (Lacan 1960/2006, S. 27, Übers. verändert MW). Es ist entstanden aus einem gewaltsamen Schnitt und trägt alle Spuren davon. Um diesen Schnitt wird es in Lacans Interpretation des Abraham-Opfers gehen.
Die Zerlegung der Vaterfunktion Die folgenden Ausführungen nehmen die Frage der Entstehung auf: Wo liegt der Ursprung von Gesetz und Begehren? Wenn Gesetz und Begehren nicht aus der Natur kommen, nicht aus ihr ableitbar sind, woher kommen sie dann? Lässt sich ein Moment in der Begründung des Begehrens festmachen, das vor der Formulierung des Gesetzes liegt? Und wer oder was vermittelt eine Relation zum Feld des Anderen? Sofern es sich bei diesen Fragen um Ursprungsfragen handelt, ist 23 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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mit ihnen das Feld des Mythos betreten, das heißt das Feld der innersprachlichen Wahrheiten. 3 Denn das Problem ist: Wie in der Sprache den Anfang, den Anker dieser Ordnung der Sprache, sagen? Bevor wir aber diesen Fragen, die die Grundlagen der Kultur berühren, nachgehen, sei zunächst die Figur benannt, die nach Freud an dieser Stelle und Schwelle steht: Es ist der Vater. Warum die Vermittlung des Gesetzes bei Freud mit dem Vater in Beziehung gebracht wird, bildet eine nicht abreißende Frage innerhalb der Psychoanalyse und an sie. Begnügen wir uns für den Moment mit einer strukturalen Antwort: Es ist der Vater, weil die Mutter diesen Platz des Anderen vor ihm gleichsam ohne Abstand und ohne Grenze, ja ohne Geschlecht besetzt. Der Vaterplatz tritt erst sekundär hinzu, er beruht auf Schlussfolgerung und Zweifel. Daher taucht erst hier, mit ihm, Begrenzung auf. Die Plätze bekommen ihre Kontur erst in Relation zueinander. Der Vater, bzw. der, der auf seinem Platz steht, trägt und verantwortet die Einführung der Differenz, den Ausschluss, in der psychoanalytischen Terminologie: die Kastration. Vater ist ein relationaler Term im strengen Sinne, erst der Bezug auf ein Kind und dessen Mutter macht jemanden zum Vater – ein Bezug, der nicht biologisch gegeben ist. Als ein solcher Bezugspunkt reicht er das Gesetz weiter, er fällt nicht mit ihm zusammen. Ein Vater, der sich mit dem Gesetz identifiziert, hat verheerende Folgen für das Kind, so betonte Lacan in seiner Relektüre Freuds (vgl. Lacan, 1958b/1991, S. 112 f.). Dieser Abstand ist entscheidend in der Lacan’schen Konzeption des Vaters. Lacan übernimmt von Freud die hervorgehobene Bedeutung des Vaterplatzes, zerlegt diesen aber gemäß seiner Differenzierung des Symbolischen, Imaginären und Realen, so dass er drei Vaterfunktionen unterscheiden kann (vgl. dazu auch Julien, 1992; Moij, 1987): Der Vater, den Lacan den realen Vater nennt, ist »Agent der Kastration« (Lacan, 1991, S. 145 /Seminar XVII, 18. 3. 1970). Als ein solcher Agent handelt er nicht im eigenen Auftrag, sondern gibt die Kastration von anderswoher weiter. Er vermittelt jene Grenze, jene Beschneidung, die Ausgangspunkt und Bedingung des Begehrens ist und in der Psychoanalyse Kastration heißt: den Einschnitt des GesetLacans Alternative zum Mythos war die Mathematik, sofern auch sie explizit innersprachliche Wahrheiten formuliert, im Unterschied zum Mythos in einer hochformalisierten Sprache. Neben den Begriff des Mythems, den Claude Lévi-Strauss prägte, setzte Lacan daher seinen Neologismus des Mathems.
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zes, das Inzestverbot, das Verbot, mit dem Ursprung, der Mutter, zu verschmelzen. Der imaginäre Vater ist der erschreckende, gottgleiche. Er ist in der Vorstellung des Kindes mit allen Insignien der Macht ausgestattet. Als guter wäre er Garant, als böser Bedrohung des Genießens, aber eben diese Doppelseitigkeit lässt sich nicht zugunsten einer Seite auflösen, die Ambivalenz ist irreduzibel. Es ist der Vater der ödipalen Rivalität, der hat, was das Kind nicht hat – das uneingelöste Genießen. Der symbolische Vater zuletzt wäre der, der die Dimension der entscheidenden Andersheit trägt, von der oben die Rede war. Diese Dimension kann allerdings nur indirekt auftauchen, die Position des symbolischen Vaters kann unmöglich eingenommen werden, sie existiert nur als Verweis, als »ewiges Alibi« (Lacan 2011, S. 248 /Seminar IV, 6. 3. 1957). Diese Position könnte allein halten, wer sagen könnte: »Ich bin, der ich bin«, heißt es bei Lacan, der damit auf Moses’ Begegnung mit dem brennenden Dornbusch anspielt, aus dem heraus, bzw. genauer als der Gott mit Moses spricht. Moses fragt Gott in dieser Szene nach seinem Namen, denn er braucht diesen als Stütze seines Sprechens, seiner Botschaft. Er muss dem Volk sagen können, in wessen Namen er spricht. »Der einzige, der der Position des Vaters, insofern er der symbolische Vater ist, absolut entsprechen (répondre) könnte, ist derjenige, der wie der Gott des Monotheismus sagen könnte – Ich bin der ich bin. Dieser Satz jedoch, auf den wir im heiligen Text stoßen, kann buchstäblich von niemandem ausgesprochen werden.« (ebd.)
Tatsächlich kommt Lacan an unzähligen Stellen auf die Antwort, die Gott hier gibt, zu sprechen. Es ist der Satz des symbolischen Vaters. Lacan liest das ehyeh ăšer ehyeh, das man sehr verschieden übersetzt hat 4, nicht als Ausdruck einer Metaphysik des Seins, die Gott als Sein par excellence setzt. 5 Er folgt vielmehr jener Tradition, die diesen Satz Um nur drei deutsche Übersetzungen zu nennen: Ich werde dasein, als der ich dasein werde (Buber/Rosenzweig), Ich bin der »Ich-bin-da« (Einheitsübersetzung), Ich werde sein, der ich sein werde (Luther). 5 Im Seminar III und dem oben zitierten Seminar IV hatte Lacan noch die Augustinische Übersetzung (ego sum qui sum) in der französischen Wendung Je suis celui qui suis (Ich bin der ich bin. Übers. M. W.) übernommen, die dieser Metaphysik folgt. Ab dem Seminar V gebraucht Lacan dann die Übersetzung Je suis ce que je suis (Ich bin was ich bin. Übers. M. W.), um im Seminar VII zur Ethik der Psychoanalyse die Abgrenzung deutlich zu betonen: »Es ist in der Tat angebracht, den Text nicht in die Richtung der griechischen Metaphysik zu zwingen, indem man der ist [celui qui est], gar der ich bin [celui qui suis] übersetzt. I am that I am, die englische Übersetzung, 4
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als Verweigerung einer Antwort liest, als Verweigerung des Namens. Für sie steht im deutschsprachigen Raum besonders Karl Barth. »Ihm zufolge verweigere Gott es, seinen Namen zu sagen und dadurch seine Identität auszuliefern, aber indem er das tut, enthülle er sein Geheimnis. Die Weigerung bedeute, dass er ein Gott des Wortes sei« (Porge, 1997, S. 163, Übers.: MW). Der französische Psychoanalytiker Erik Porge, der den Wendungen dieses Satzes bei Lacan nachgegangen ist, hält fest: »Es ist eine Antwort der Verweigerung, zugleich eine Verweigerung der Antwort und eine Verweigerung, dass die Antwort von jemandem, von einer Person sei. Sie ist unaussprechbar durch ein Subjekt – den symbolischen Vater – was eine Form der Inexistenz des Anderen enthüllt, die Lacan A barré schreibt« (ebd., S. 168, Übers.: MW). Für Lacan ist dieses ehyeh ăšer ehyeh ein Name, der eine Namensverweigerung darstellt und so als Kennzeichnung der unmöglichen Position des symbolischen Vaters fungiert – als »Loch im Symbolischen« (Lacan, Seminar XXII, Sitzung vom 15. 4. 1975).
kommt nach der Auskunft von Hebraisten der Bedeutung dessen, was der Vers artikuliert, am nächsten. Vielleicht täusche ich mich, aber ich beziehe mich, da ich selbst nicht Hebräisch kann und auf zusätzliche Informationen warte, auf die besten Autoritäten, ich glaube, sie sind unzweideutig« (Lacan, 1996, S. 101, Übers.: N. Haas). Da in den deutschen Publikationen die Übersetzung dieser Wendung höchst uneinheitlich ist und das Verständnis durch Übersetzungsfehler gestört wird, nehme ich die Gelegenheit zu einem kurzen Übersetzungskommentar wahr: Das ›Augustinische‹ Je suis celui qui suis wird in Seminar III zur Psychose besonders ausführlich kommentiert und mit seinen Homophonien entfaltet. Hier ist es übersetzt mit: Ich bin jener, der ich bin (Lacan, 1997, S. 339 f., Übers.: M. Turnheim), im Seminar IV mit: Ich bin, der ich bin (Lacan, 2011, S. 248, Übers.: H.-D. Gondeck). Leider übersetzt Gondeck die veränderte Form, die Lacan ab dem Seminar V bevorzugt: Je suis ce que je suis ebenso mit: Ich bin der ich bin (Lacan 2006, S. 81), so dass die Differenz verloren geht. Im Seminar zur Einführung in die Namen-des-Vaters von 1963, in dem Lacan seine im Ethik-Seminar vorgebrachte Interpretation bekräftigt, verhindert ein Übersetzungsfehler Gondecks das Verständnis. Ich gebe daher hier eine korrigierte Übersetzung: »Genau dieser Augustinus, der die Sache gegen jede intellektuelle Pietät formulieren kann, wird nichtsdestotrotz schwach bis dahin, dass er ehyeh ăšer ehyeh – das ich Sie seit langem lesen gelernt habe – übersetzt durch Ego sum qui sum, Ich bin der ich bin [Je suis celui qui suis], wodurch Gott sich mit dem Sein identisch behauptet« (vgl. Lacan 1963/2006, S. 74 f. /frz. 1963/2005, S. 77, Übers.: MW). Irritierenderweise variiert Gondecks Übersetzung des Je suis celui qui suis sogar innerhalb dieses Textes. Während er an dieser Stelle übersetzt: Ich bin derjenige, der bin, steht weiter unten für dieselbe Wendung: Ich bin, der ich bin (ebd. S. 89).
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Freud und Lacan zur Religion Unversehens hat hier die Referenz auf eine Passage der Heiligen Schrift großen Raum bekommen. Solche Bezugnahmen sind bei Lacan, ganz anders als bei Freud, nicht unüblich. Es sind daher einige grundsätzliche Bemerkungen über Lacans Verhältnis zur Religion angebracht und besonders über dessen Differenz zu Freud. Der Terminus des Namens des Vaters, den Lacan in die Psychoanalyse eingeführt hat, ist dem religiösen Feld entnommen. Eine solche Entlehnung wäre bei Freud undenkbar. Freud hat die Religion in seiner Schrift Zukunft einer Illusion direkt angegriffen und immer wieder auf ihre zwangsneurotische Struktur verwiesen. Erst spät, in seiner 1938 beendeten Arbeit Der Mann Moses und die monotheistische Religion, hat er sich auf eine Auseinandersetzung mit einem biblischen Text eingelassen. Freud hatte an der Stelle, an der Lacan seinen Terminus des Namens des Vaters einführen wird, seinen eigenen Mythos geschaffen. Totem und Tabu ist Freuds Antwort auf die Entstehung des Gesetzes, seine Version der gewaltsamen Anfänge der Kultur. Seine These sei hier kurz in Erinnerung gerufen. Freuds Konstruktion erzählt davon, dass in vorgeschichtlicher, vorsprachlicher Zeit ein Urvater über die sogenannte Brüderhorde geherrscht habe, der willkürlich und allmächtig alle Genüsse – und das heißt bei Freud insbesondere: alle Frauen – für sich in Anspruch genommen habe. Vor allem aber erzählt sie davon, dass die entscheidende Tat der Mord an diesem Urvater war, den alle Brüder (und auch die Schwestern, vgl. Seifert 1987, S. 16 f.), aus Hass auf diesen, alle Privilegien für sich in Anspruch nehmenden übermächtigen Vater, gemeinsam begangen haben. Denn diese Tat war es, die Freuds Mythos zufolge nach einer Zeit der Latenz die Horde dazu brachte, unter sich die ersten Gesetze der Kultur zu errichten: das Inzestverbot und das Tötungsverbot. Aus der Mordtat entstanden so Gesetz und symbolische Ordnung, und sofern das Inzestverbot der grundlegendste Einschnitt ins Triebleben ist, aus dem sich das Begehren erhebt, eben auch das Begehren, der unbewusste Wunsch. Auch die erste Vorform der Religion, als welche er den Totemismus ansieht (vgl. dagegen Levi-Strauss 1965), leitet Freud aus dieser Tat ab. Die Söhne und Töchter errichten aus Reue und Schuldgefühl dem Vater ein Denkmal – das Totem –, das den Toten idealisiert und sie zur Einhaltung der Gesetze mahnt. Gewissermaßen zugespitzt kann man sagen – und Lacan macht diese Zuspitzung –, dass der Vater für Freud dieses 27 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Totem ist (vgl. Lacan, 1963/2006, S. 84). Von Anfang an wirkt der Vater in der Kultur als getöteter, die Tötung ist Bedingung für seine Wiederaufrichtung und Wirkkraft. Der diesem vorgängige, lebendige Vater, der mythische, vorkulturelle, vorsprachliche Vater, ist genau genommen ein Tier (ebd., S. 83 f. 6). Das Zirkuläre dieser Konstruktion – dass es bereits ein Gesetz braucht, um eine Tötung einen Mord zu nennen – hat Freud ebenso wenig wie der Einspruch der Ethnologen von ihr abrücken lassen. Und er hat damit vielleicht einen letzten modernen Mythos geschaffen (vgl. Lüdemann, 1992). Lacan ist anders vorgegangen. Er hat nicht konstruiert, keinen neuen Mythos geschaffen, sondern mit dem gearbeitet, was er vorfand: mit den Mythen bzw. der Sammlung von Mythen, auf denen die Kultur aufbaut, die man die moderne westliche nennt, ihren heiligen Texten. Es gibt zwei, des Öfteren explizit oder implizit unterstellte, Positionierungen Lacans und Freuds zur Religion, die höchst fraglich sind, denn sie beruhen auf vorzeitigen Schlüssen. Die erste ist die Zuordnung der Freud’schen Psychoanalyse zum Judentum – eine gegen Freuds erklärten Willen behauptete Zugehörigkeit – und der Lacan’schen Psychoanalyse zum Katholizismus – die ebenfalls gegen Lacans Erklärung erfolgt. Das wäre die biographische Zuordnung, die Freuds jüdische Herkunft zur Grundlage ihrer Interpretation der Psychoanalyse macht wie Lacans katholische Erziehung in Schule und Elternhaus, auf deren Hintergrund sein Bruder Benediktinermönch wurde. Die zweite Zuordnung ist die Freuds zum Atheismus – auf dessen Seite er sich ausdrücklich gestellt hat, sich selbst einen »gottlosen Juden« (Freud/Pfister, 1963, S. 64) nennend, der gegenüber von Lacan behauptet wird, er sei der Religion treu geblieben bzw. ihr nicht entkommen – je nach Bewertung der so unterstellten Haltung. Dies wird daraus geschlossen, dass Lacan deutlich öfter religiöse Texte und Debatten in seinen Seminaren kommentiert hat als Freud. Das wäre das von der Präsenz des Sujets irregeleitete Vorurteil, das vorschnell auf Lacans Position zu diesem Material schließt. Es bleibt unverzichtbar, sich genauer mit den Texten zu befassen, wenn man die Positionen Freuds und Lacans zur Religion sowie spezieller zur Religion ihrer Väter erschließen will. Die Passage lautet: »Mythisch kann der Vater nur ein Tier sein. Der primordiale Vater ist der Vater von vor dem Inzestverbot, von vor dem Erscheinen des Gesetzes (Loi), der Ordnung der Allianz- und Verwandschaftsstrukturen, in einem Wort, von vor dem Erscheinen der Kultur.«
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Die Frage steht also im Raum, in welcher Weise Lacan, um den es hier ja im Wesentlichen gehen soll, die biblischen Texte oder theologischen Dispute, auf die er sich bezieht, aufnahm. Hören wir ihn selbst: »Für uns Psychoanalytiker […] gibt es nicht den geringsten Bedarf, den religiösen Wahrheiten Zutritt zu geben, welcher Art sie auch sein mögen und wie vielfältig sie in der Ordnung dessen, was man den Glauben nennt, auch sein können, um uns für das zu interessieren, was sich in den Begriffen artikuliert hat, die der religiösen Erfahrung eigen sind […]. Es reicht nicht, daß bestimmte Themen nur bei Leuten häufig vorkommen, die zu glauben glauben – was wissen wir schon darüber! –, auf daß dieser Bereich allein für sie reserviert wäre. Für sie, und nehmen wir an, sie glauben wirklich daran, sind es nicht Glaubenssätze, sondern Wahrheiten. Woran immer sie glauben, ob sie nun glauben, daß sie daran glauben oder nicht daran glauben – nichts ist mehrdeutiger als der Glaube – eine Sache ist gewiß, nämlich, daß sie es zu wissen glauben. Das ist dann ein Wissen wie jedes andere und fällt ins Feld der Prüfung, wie wir sie jedem Wissen zugestehen müssen in eben dem Maße, als wir, als Analytiker, denken, daß es kein Wissen gibt, das sich nicht aufgrund von Unwissenheit erhebt. Genau das ermöglicht uns, eine gute Anzahl von anderen Wissen als das wissenschaftlich begründete gelten zu lassen.« (Lacan, 1996, S. 207 f. /Seminar VII, 16. 3. 1960, vgl. auch Lacan 1960/2006, S. 24)
Lacan nimmt die religiösen Überlieferungen als ein Wissen auf und wendet sich ihnen zu, weil hier Probleme artikuliert wurden, die Aufmerksamkeit verdienen. Vor allem findet Lacan in diesem Material die am weitesten ausgearbeitete Theorie zu Platz und Funktion des Vaters in unserer Kultur. Den Glaubensappell oder Wahrheitsanspruch lässt er, der Teilung von Wahrheit und Wissen (vgl. Lacan 1966/1991) folgend, in der Schwebe. In seinem Bezug zu Freud nimmt Lacan für sich in Anspruch, die Analyse, und das heißt die Zerlegung der Religion, weiter getrieben zu haben als dieser: »Freud glaubt nicht an Gott. Weil er in seiner Linie operiert«, sagt Lacan (Seminar XXII, 17. 12. 1974), und er wirft Freud vor, »indem er den Ursprung der Funktion des Vaters auf seine Tötung gründet, schützt Freud den Vater« (Lacan 1987, S. 65 /Seminar XI, 12. 2. 1964). Sein Mythos ist ein Schutz vor der Kastrationsdrohung (ebd., S. 33, 22. 1. 1964). Auf diese Bemerkungen wird noch zurückzukommen sein. Im Seminar von 1970 heißt es: »Die Pointe der Psychoanalyse ist schlicht der Atheismus unter der Bedingung, daß man diesem Begriff einem anderen Sinn gibt als den des Gott ist
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tot, an dem alles darauf hinweist, daß er mitnichten in Frage stellt, worum es geht, nämlich das Gesetz, sofern er es viel eher konsolidiert.« (Lacan, 1991, S. 139 /Seminar XVII, 18. 3. 1970)
Lacans Interpretation des Abraham-Opfers Lacan unternimmt seine Lektüre des Abraham-Opfers in einem Seminar, das unter besonderen Umständen stattfand. Ursprünglich hatte er für 1963/64 ein ganzes Seminar über die Namen des Vaters geplant. In der Nacht vor der Eröffnung des Seminars erfuhr er allerdings, dass die 10-jährigen Affiliationsverhandlungen der Société française de Psychanalyse, deren Mitglied er war, mit der IPA darin endeten, dass man ihm seine Lehrerlaubnis und seine Stellung als Lehranalytiker am Institut aberkannte. Lacan hielt daraufhin nur diese einzige Sitzung, um die es im Folgenden gehen wird, und nahm das Seminarthema auch später nicht wieder auf, obwohl er 1964 seine Lehrtätigkeit, jetzt vor einer breiteren Öffentlichkeit, fortsetzte und auch seine eigene Schule gründete. 7 Lacan nannte seinen Ausschluss aus der IPA im Übrigen eine exkommunicatio maior (Lacan, 1987, S. 10 /Seminar XI, 15. 1. 1964) und gebrauchte damit einen Terminus, der einen Ausschluss aus der religiösen Gemeinde bezeichnet, explizit bezog er sich auch auf den Bann (Cherem) gegen Spinoza 1656. Lacans Interpretation des Abraham-Opfers wird bereits in einigen Sitzungen des vorangehenden Seminars über die Angst vorbereitet, in dem Lacan vom Schofar spricht oder genauer von Theodor Reiks Deutung des Schofarblasens als Stimme bzw. Gebrüll Gottes (vgl. Reik 1919). Der Schofar, traditionell aus einem Widderhorn hergestellt, wird als Teil des jüdischen Ritus geblasen, und dieses Schofarblasen stellt eine Erneuerung des Bundes dar – nicht, wie Lacan hervorhebt, indem die Gebote wiederholt werden, sondern als ein Moment vor der Artikulation des Gesetzes. Das »Gebrüll Gottes« erklingen zu lassen sei eine Wiederholung der »durch den Ort des Anderen geführten Befragung«, heißt es bei Lacan (2010, S. 313/Seminar X, 22. 5. 1963): Es ist Gott, der sich durch diesen Klang erinnern Man kann allerdings das Seminar XXI mit dem Titel Les non-dupes errent (dtsch: Die Nicht Düpierten irren, homonym zu Les noms du père: Die Namen des Vaters) als eine verschobene Wiederaufnahme ansehen.
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soll. An was? Lacan geht verschiedenen Momenten des Schofarblasens nach, um schließlich besonders einen herauszustellen: Der Schofar wird (an Rosch ha-Schana) nach der Erzählung der Akedat Yitzhak geblasen. Seine Deutung der Akedat Yitzhak resp. des Abraham-Opfers entwickelt Lacan um diese Stimme Gottes herum: als eine mythische Umkreisung der Hervorbringung der Stimme am Ort des Anderen. Lacan sagt von der Stimme, sie sei der »einziger Zeuge, dass der Ort des Anderen keine Täuschung ist« (Lacan, 1963/2006, S. 80). Daher ihre große Bedeutung unter den Objekten a. Man mag an Freuds Bemerkung zum Schrei des Säuglings als Anbahnung der Sprache (vgl. Freud, [1895]/1987, S. 457) denken. Nur geht es hier um den Schrei Gottes. Es geht um die Hervorbringung eines Gottes, der spricht. Diesen Anfang eines sprechenden Gottes erzählt nicht die Dornbuschszene, in der Gott zu Moses bereits in ganzen Sätzen spricht, und noch weniger die Schöpfungserzählung (»Und Gott sprach …« 1. Mo 1,3), in der sich vielmehr die Wirkung seiner Worte manifestiert. Unzweifelhaft brauchte es die Begegnung von Gott und Mensch, um den sprechenden Gott hervorzubringen. Man hat sich gefasst zu machen auf eine höchst ungewohnte Deutung des Abraham-Opfers, in der die Nähe von Lacans Interpretation zur jüdischen Tradierung gleichwohl überraschend stark ist. Am Eingang seiner Interpretation legt Lacan großen Wert darauf, seinen Hörern zu erklären, dass El Schaddai – so der Name, mit dem Gott hier wiederholt genannt wird – nicht mit »der Allmächtige« übersetzt werden darf: »El Schaddai ist nicht die Allmacht, sie fällt an der Grenze seines Territoriums seines Volkes. Wenn ein anderer Elohim von Moab her seinen Untertanen das richtige Zeug gibt, um die Angreifer zurückzuschlagen, so funktioniert das, und El Schaddai macht sich mit den Stämmen, die ihn beim Angriff mit sich geführt haben, aus dem Staub. El Schaddai ist derjenige, der erwählt, derjenige, der verheißt, und der durch seinen Namen einen bestimmten Bund entstehen lässt, der auf eine einzige Weise übertragbar ist, durch die väterliche Baraka. Er ist auch derjenige, der eine Frau bis zum Alter von neunzig Jahren einen Sohn erwarten lässt, und […] noch manches andere«. (Lacan, 1963/2006, S. 96)
Der Monotheismus, der sich hier formuliert, kennt noch gut die Vielheit der Götter, aus deren Feld er sich erhebt. El Schaddai ist nicht der Allmächtige, aber er hat Anteil an der Zeugung Isaaks. Sarah mit ihren 90 Jahren lacht, als ihr verkündet wird, dass sie einen Sohn 31 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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gebären soll, und sagt: »Ich bin verwelkt« (1. Mo 18,12). Aber Gott macht sie fruchtbar in diesem hohen Alter und lässt sie ein Kind erwarten: »Er bedachte Sarah nach seinem Spruch. Er tat an Sarah nach seiner Rede« (1. Mo 21,1). Abraham war damals 100 Jahre. Er teilt sich die Vaterschaft, so kann man sagen, mit El Schaddai, auf dessen Spruch und Eingriff hin Sarah empfing. Gott fordert nun von Abraham, diesen Sohn zu opfern – das Kostbarste, jenen Sohn, den Sarah ihm geschenkt hat wie durch ein Wunder. Es ist eine ungeheuerliche Herausforderung, eine Prüfung Gottes. Die Geschichte wird in der Regel von hier aufgenommen. Lacans Ansatz liegt jedoch gerade nicht hier, er hebt nicht auf die Grausamkeit der Gottesforderung ab, und er erörtert auch nicht den Gehorsam Abrahams. 8 Lacan nimmt vielmehr eine Interpretation auf, die der jüdischen Exegese angehört und die in der Akedat Yitzhak das Ende des heidnischen Menschenopfers markiert sieht. Daher auch die Bezeichnung Akeda, also Bindung oder Fesselung Isaaks, in der das Wort Opfer nicht vorkommt. Denn das Opfer wird von Elohim gefordert, einem Elohim, muss man präzisieren, denn Elohim ist die plurale Bezeichnung für Gott, wie sie im Pentateuch unspezifisch für alle Götter gebraucht wird. Lacan entdramatisiert in dieser Linie die Opferforderung, er betont, dass Isaak nicht der einzige Sohn Abrahams ist, dass es Ismael, den von Hagar geborenen ersten Sohn gibt, und, mit überraschendem Bezug auf die Realgeschichte, bemerkt er, es sei »gängige Sache« gewesen, »dem Elohim des jeweiligen Landstrichs seinen kleinen Knaben zu opfern« (Lacan, 1963/2006, S. 94). Lacans Augenmerk liegt weder auf der Glaubensprüfung noch auf dem Pathos des Glaubensleidens, von dem Kierkegaard in Furcht und Zittern spricht, auf das er kurz eingeht. Lacan fokussiert den Bruch, der in diesem Mythos umkreist wird und der sich als Bruch in der Opfertradition darstellt. Für diese Perspektive ist die Intervention des Engels zentral, der im Namen des neuen Gottes erscheint, im Namen Jahwes, wie er erst an dieser Stelle genannt wird. Alles Gewicht liegt auf dem Dazwischentreten des Engels, der die Opferhandlung im Namen Gottes unterbricht und umlenkt und so eine neue Tradition eröffnet. Lacan nennt ihn den »Engel des Namens« (ebd. S. 94) und spricht von der »Anwesenheit desjenigen, dessen Name nicht ausgesprochen wird« (ebd. S. 91). Man erkennt die Akzentuierung des Namens bei Lacan wieder, des Namens Dies war der Fokus der Ausstellung Gehorsam! von Peter Greenaway und Saskia Boddeke im Jüdischen Museum Berlin 2015.
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Begehren, Gesetz und Genießen
des Vaters. Lacan zieht hier einen Mishna-Kommentar des berühmten Raschi heran, der die Erschütterung Abrahams nicht auf die Opferforderung bezieht, sondern im Gegenteil im Moment der Verzichtsforderung erscheinen lässt. Raschi lässt Abraham, als der Engel ihm Einhalt gebietet, das Opfer an seinem Sohn zu vollziehen, sagen: »dann wäre ich umsonst hierhergekommen, so will ich ihn wenigstens ritzen und etwas Blut aus ihm herauskommen lassen« (Raschi 1922/1994, S. 66, vgl. Lacan 1963/2006, S. 96 f.). Der Kommentar unterstreicht durch die Irritation, die die Intervention des Engels bei Abraham auslöst, diese als den entscheidenden Wendepunkt. Lacans Interpretation verbindet eine große und genaue Treue zu ausgewählten Schriften der jüdischen Exegese mit einem völlig anderen, externen Blick. Er liest die Szene, wie noch deutlich werden wird, als Ereignis eines Schnittes. Und er lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass aus diesem Schnitt etwas hervorgeht, ein Verlustprodukt: der Schrei Gottes. Lacan hebt nicht auf einen Ablauf oder eine Entwicklung ab, sondern auf den wahrhaft einschneidenden Moment. Daher interessiert er sich für die Gemälde, die Caravaggio 1596 und 1601/2 von der Opferung des Isaak geschaffen hat.
Caravaggio: Opferung Isaaks, 1603
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Beide Bilder zeigen Isaak, um ihn herum Abraham, den Engel und den Widder, eine Versammlung von drei Vaterfiguren, beziehungsweise genauer, von Aspekten der Vaterschaft. Tatsächlich lässt sich hier die oben beschriebene Zerlegung der Vaterfunktion wiederfinden: Der Engel kommt als Botschafter, er kommt als Vertreter des symbolischen Vaters, dessen unmögliche Position Lacan wiederholt hervorgehoben hat. Der Engel deckt und stützt das Loch im Symbolischen. Man könnte sagen, er ist eine Art Verkörperung des Namens des Vaters – eine eigenartige, unmögliche Verkörperung, denn wer weiß schon etwas über die Körper der Engel, mythische Wesen ohne Geschlecht. Diese Unfasslichkeit passt hier freilich gut. Abraham als Ausführender des Schnitts ist in der Position dessen, den Lacan den realen Vater genannt hat. Er ist, wie es hieß, Agent der Kastration (Lacan, 1991, S. 145 /Seminar XVII, 18. 3. 1970). Sein Arm wird geführt, das heißt gestoppt, von eben diesem Engel, um dann den Schnitt umzulenken. Abraham ist ganz und gar zentral, er ist unverzichtbar, ohne ihn geschieht gar nichts, kein Schnitt. Aber er ist zugleich in dieser Szene wie ohne Intention, tritt nicht als ein Ich mit eigenem Willen in Erscheinung. Er ist nicht Herr im Haus, hat sich in diesem Moment vom Anderen ergreifen lassen. Der Ichverlust gehört zu ihm als realem Vater. Der dritte Aspekt, der imaginäre Vater, muss folglich im Widder zu finden sein, und so ist es auch. Der Widder tritt, was hier zu beachten ist, von Anfang an als zu Tötender bzw. zu Opfernder in die Szene ein, und seine imaginäre Größe entfaltet er tatsächlich erst als Toter. Lacan sagt, man könne in Caravaggios Gemälde die »Vatermetapher« (Lacan 1963/2006, S. 91) wiederfinden: Metapher, wörtlich genommen, als Substitution, und tatsächlich geschieht hier ja eine konkrete Ersetzung. Der Mythos beschreibt nicht die Beendigung der Opferhandlung, sondern die Ersetzung des Opfers. Lacan wendet sich dem neuen Opfer zu, das in der Szene an der Stelle von Isaak geopfert wird: dem Widder, der in Caravaggios erstem Gemälde besonders im Vordergrund festgehalten ist und bereits nah am Opferplatz geweidet hatte. Was ist dieser Widder? Ein Tier. Was aber hat es mit diesem Tier auf sich? Es ist der Vater als Tier, lautet Lacans Antwort. Der Widder ist nach Lacan der ursprüngliche Vater. Er stützt sich hier erneut auf Mischna-Kommentare, auch Raschi ist wieder darunter (vgl. Raschi 1922/1994, S. 67, vgl. Lacan 1963/2006, S. 98), denen zu entnehmen ist, dass dieser Widder der Urwidder ist, dass er von Anfang an, seit den Schöpfungstagen, da war und den Status eines Gottes hat, eines Elohim. Dieser Widder 34 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Begehren, Gesetz und Genießen
ist genauer der Urahn des Abrahamitischen Geschlechts, der Stammvater des Geschlechts von Sem, der Semiten. »Dieser Widder«, der sich Abraham zur Opferung darbietet, so stellt Lacan fest, »ist sein eponymischer Vorfahr, der Gott seines Geschlechts« (Lacan 1963/ 2006, S. 99). Dieser ist es, der hier geopfert wird. Es ist eine Abtrennung des tierischen Ursprungs, der bis dato Gott zugehörig war. Aus dem Horn dieses Widders wird der Schofar gemacht (vgl. Rabbi Elizer, 2009, S. 91, vgl. Lacan 1963/2006, S. 97). Und so kommen wir an Lacans Ausgangspunkt zurück, um ihn wieder aufzunehmen und die Präzisierung einzutragen: Der Schofar lässt das Brüllen Gottes bei dieser Opferung hören. Es ist der Schrei, der Gott bei diesem Schnitt entfährt, ein Schnitt, der durch ihn selbst geht. Gott hat sich von einem Teil seiner selbst getrennt. Aber es war der Mensch, Abraham, der den Akt durchführen musste. Er führte das Messer, mit dem Gott sich von seiner tierischen, genießenden Seite trennte – was freilich nicht ohne Schmerz, und das heißt: nicht ohne Genießen, vor sich ging im Akt des Opferns selbst, wovon das Brüllen zeugt. Das ist das Drama Gottes, das hier in dieser Szene festgehalten wird. »Hier trägt sich das Schneidende des Messers zwischen dem Genießen Gottes und dem, was sich in dieser Tradition als sein Begehren vergegenwärtigt, ein. Das, dessen Fall es hervorzurufen gilt, ist der biologische Ursprung. Darin liegt der Schlüssel zu dem Geheimnis, aus dem die Aversion der jüdischen Tradition gegenüber dem, was überall anderswo existiert, ablesen lässt. Das Hebräische hasst die Praxis der metaphysisch-sexuellen Riten, die im Fest die Gemeinschaft mit dem Genießen Gottes vereinen. Es macht ganz im Gegenteil die Kluft geltend, die das Begehren vom Genießen trennt.« (Lacan 1963/2006, S. 99)
An diesen Schnitt gemahnt, neben dem Schofarblasen, außerdem die Beschneidung. Auch deswegen war Lacan vom Raschi-Kommentar (»so will ich ihn wenigstens ritzen«) angetan, weil er einen Bezug zu diesem Ritus herstellt. Das kleine Stück Vorhaut, das dem Jungen bei der Beschneidung genommen wird, ist so, neben dem Schrei, der Gott entfährt, das zweite Rest-Objekt, das, jetzt auf Seiten des Menschen, an diese gewaltsame Urszene des neuen Gottes gemahnt und den Bund mit ihm erneuert. Es ist das verlorene Objekt, dessen Abtrennung das Begehren Gottes ins Fleisch des Menschen (bzw. des Mannes, wie hier bemerkt zu werden verdient) ritzt. An eben dieses Begehren Gottes erinnert der Klang des Schofar. In gemäßigter, geführter Form ruft er die Trennung an, die hier vollzogen worden 35 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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ist und die den Ursprungspunkt des sprechenden, begehrenden Gottes bildet: das erste Erscheinen seiner Stimme, deren Hervorbringung als Objekt a im Feld des Anderen Lacan hier umkreist hat.
Schluss Rückblickend, zehn Jahre später, hält Lacan fest: »Die Tradition, aus der gleichwohl, man muß es sagen, die Psychoanalyse auftaucht: die jüdische Tradition. In der jüdischen Tradition, wie ich in dem Jahr sagen konnte, in dem ich nicht mehr machen konnte und wollte als mein erstes Seminar über die Namen des Vaters, habe ich gleichwohl die Zeit gehabt zu akzentuieren, daß in Abrahams Opfer das, was geopfert wird, wirklich der Vater ist, der nichts anderes ist als ein Widder.« (Lacan, Séminaire XIX, 1. 6. 1972)
Der Vater als Widder, als Tier, ist – man erinnere sich an die Ausführungen Lacans (1963/2006, S. 83) weiter oben – der Vater der Zeit vor dem Gesetz, es ist der ungeteilte, mythische, vorkulturelle Vater. Es ist jener Vater, von dem Lacan sagt, dass Freud ihn mit seinem Vatermordmythos stützt, weil er die Errichtung des Gesetzes an seine Ermordung knüpft. Bei Freud wird das Gesetz durch den toten Vater gestützt, währenddessen bei Lacan die Aspekte auseinandertreten: Gesetz und getöteter Vater fallen nicht auf dieselbe Seite. Auch bei Lacan wird der Vater getötet, vielleicht ist er deutlicher als bei Freud ein Tier. Doch stimmt das ebenso für Freud und tritt nur hinter der Rede vom Urvater zurück. In seiner Anlehnung an Darwin konzipiert auch Freud diesen Vater als Tier, als »stärkste[s] Männchen« (Freud 1914, Bd. 9, S. 152). Hier liegt nicht die Differenz. Sie liegt darin, dass bei Lacan das Genießen dieses Tiers – des Widders, der im Opfer den verlorenen Genuss substituiert – völlig offen bleibt. Bei Lacan ist keine Rede davon, dass er in einem unbegrenzten, über alle Frauen verfügenden Genuss geschwelgt hätte. Noch grundlegender liegt die Differenz aber in der Tatsache, dass Lacan diese Tötung einen Schnitt nennt. Er findet in dem Mythos, innerhalb dessen seine Interpretation diesen Schnitt umkreist, eine andere Struktur, welche das Gesetz an die Kastration knüpft, und zwar genauer an die Kastration des Anderen und damit an das Begehren Gottes, denn es ist Gott, der hier den Platz des Anderen besetzt. Dieser Andere ist nicht der Vater. Der Vater ist vielmehr dem Schnitt zum 36 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Begehren, Gesetz und Genießen
Opfer gefallen – er ist seither nur durch die andauernde Konfusion zwischen Vater und Anderem gestützt und wird außerdem durch seine Wiederauferstehung im Imaginären zu einer imposanten Figur. Lacan anerkennt die jüdische Tradition als eine, die einen Mythos hervorzubringen vermochte, der die Kastration auf dem Feld des Anderen artikuliert. Man könnte das vielleicht einen areligiösen Kern inmitten der monotheistischen Religion nennen. Ein Kern, oder man müsste besser sagen: eine Kluft, die tradiert wird, ohne dass die Religion als solche von ihr wissen will. Dieser Kern hat es ermöglicht, dass hieraus auch ganz andere, der Religion nicht zugehörige Diskurse entstehen konnten, wie etwa die moderne Wissenschaft, die Lacan, anders als Freud, nicht als Entgegensetzung zur Religion denkt. Sie steht in ihrem Erbe. Die Formulierung des Monotheismus bildet eine der Bedingungen für die Herausbildung der modernen Wissenschaften, wie sie im 17. Jahrhundert in Europa entstanden sind (vgl. Lacan, 1991, S. 155 ff. /Seminar XVII, 13. 5. 1970). Lacan schildert keinen universalen Kulturanfang, sondern wendet sich einer lokalen und begrenzten Tradition zu. Es gibt auch andere. Er erschafft nicht wie Freud einen eigenen neuen Mythos, sondern nimmt einen Text auf, der vorliegt. Man muss an diesen Mythos nicht glauben, um in seiner Tradition zu stehen, die längst hineingewirkt ist in unsere Kultur. Dieser Anfang ist offen für Vieles, aber nicht für Alles. Vorgezeichnet sind in ihm ein heftiges Maß an Gewalt und Gewaltandrohung; außerdem die Randständigkeit der Frauen, die nach dem Abschied von der in Unkenntnis gelassenen Sarah nicht mehr in der Szene erscheinen, sowie zentral das Ersatzopfer, das gleichwohl ein vollzogenes Opfer ist, Opfer des Genießens, dessen Wiederholung diese Tradition nur schwer entgeht. Das Genießen hat in ihr grundlegend den Status des Verworfenen, Überschüssigen. Dieses Geschehen einen Schnitt zu nennen und als Kastration des Anderen zu interpretieren, ist, wie jetzt noch einmal in anderer Weise lesbar wird, wirklich die Pointe der Lacan’schen Interpretation. Sie ist der Akzent, den Lacan hier einträgt. Er schafft damit eine Distanz zum Opfer – welches das Kennzeichen der Religion ist. Denn das Opfer zielt auf die Präsenz des Anderen, es ruft ihn an und nährt sein Begehren. Es ist da, um das Begehren Gottes einzufangen. Das Opfer bestätigt die Existenz des Anderen – während in der Psychoanalyse dieser Platz leer bleibt. Lacans Analyse legt die Fundamente einer Tradition frei, die auch dort tragend sind, wo sie nicht in Form des religiösen Ritus 37 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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wiederkehren. Auch die Psychoanalyse ist aus dieser Tradition aufgetaucht. Sie steht auf demselben Boden, und so berührt Lacans Analyse auch ihre eigenen Fundamente. Die Psychoanalyse teilt den Zug der Trennung vom Genießen. Freud sprach vom »Fortschritt in der Geistigkeit« (Freud 1938/1963, Bd. 16, S. 219 f.) und hat diesen hoch schätzt. Und auch die Lacansche Ethik setzt ja durchaus aufs Begehren. Die Psychoanalyse anerkennt den Schnitt, die Kastration. Aber ihre Wendung ist eine neue. Sie interessiert sich für das, was bei diesem Schnitt verloren geht. Sie wendet sich den ausgestoßenen, abgeschnittenen Resten zu: dem Schrei, den Körperresten, das heißt den verschiedenen Erscheinungsweisen des Objekt a. Sie nimmt das Randständige und das Verworfene in den Fokus und verfolgt das Schicksal, das das Objekt a – das »Mehrgenießen/ plus-de jouir«, wie Lacan (1991, ab S. 19 /Seminar XVII, 26. 11. 1969) es auch genannt hat – den Subjekten bereitet. Von daher – um zuletzt die anfangs geschilderte Fabel noch einmal aufzunehmen – ist es bedeutsam, wenn Lacan sich hier als jemand vorstellt, der ein Tierkostüm übergeworfen hat. Er stellt sich damit durchaus als Analytiker vor, denn als ein solcher sucht er im Sprechen seines Gegenübers den fleischlichen, tierischen Rest herauszulocken, um dessen Verlust sein/ihr Begehrensschicksal kreist. Er bietet sich als Tierfigur an (ohne sich mit dieser Maske zu verwechseln), um an das Moment der Urverdrängung zu rühren, aus dem das Sprechen allererst hervorging.
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Henry Abramovitch
Akeda and the Psychology of the Spiritual Revolutionary: A Jungian Reading Based on a Hebrew Text of Genesis 22 I want to begin with an active imagination: Imagine that you are a child again, playing happily. Suddenly, the door opens and your father appears. He says you are going on a journey together. Walking for a long time in silence together, you wonder where you are going. Finally, you ask, »Where are we going?« Your father replies: »We will know when we get there.« You continue climbing together up the hillside. When you reach the top, father pushes you down against a rock, pulls out a dagger and raises his arm … You wake up from this nightmare. This nightmare is inspired by a terrible story of the binding of Isaac (Genesis 22:1–19), known in Hebrew as the akeda. Abraham, who has yearned for a son, is told to offer his son up as a sacrifice. He takes him on a journey to Moriah, traditionally identified as the Temple Mount of Jerusalem, where he binds him and raises his dagger. He is stopped only at the last minute by an angel-messenger, who actually has to call out twice. When first considering the akeda, a father deliberately planning to murder his son, it seems like the act of a madman. Abraham is a psychiatric case: a psychotic, psychopathic, senex personality, suffering from command hallucinations possessed by a grandiose »God complex«. It is a horrible, religious perversion. Yet Jewish, Christian and Moslem 1 traditions all herald it as a supreme moment of faith.
Qu’ran does not specify the name of the sacrificed son, but the majority of Islamic traditions identify him as Ishmael who is a willing victim (Sura 37:100–110): »… he said: ›O my son! I see in a vision that I offer thee in sacrifice: now see what is thy view!‹ (The son) said: ›O my father! do as thou art commanded: thou will find me if Allah so wills, one practicing Patience and Constancy!‹ So when they had both submitted their wills (to Allah) and He had laid Him prostrate on his forehead (for sacrifice). We called out to him ›O Abraham! Thou hast already fulfilled the vision!‹«
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Henry Abramovitch
Abraham 2 is most often understood as the Knight of Faith and the Prince of Obedience. God the Father tells Abraham, to kill the thing he loves most and Abraham obeys with fear and trembling. The Supreme Divine Authority demands obedience, or in Jungian terms, an all-powerful Self dictates to an overpowered, submissive ego. Most interpretations of the akeda, from Kierkegaard to Bob Dylan, are based on this view, well illustrated in the opening lyrics of Dylan’s title song, Highway 61 Revisited: 3 Oh God said to Abraham, »Kill me a son« Abe says, »Man, you must be puttin’ me on« God say, »No.« Abe say, »What?« God say, »You can do what you want Abe, but The next time you see me comin’ you better run« Well Abe says, »Where do you want this killin’ done?« God says, »Out on Highway 61.«
But this interpretation has a serious flaw. It is based on a mistranslation of the Biblical Hebrew. In most English translations, God says to Abraham, »Take your son.« But the Hebrew does not say »Take.« The Hebrew phrase is: »kakh na«. »Take« would involve »kakh« alone; so what is »na« doing there? »na« is an untranslatable term indicating a polite request. The Hebrew might be better translated as »Please take.« or »Will you take?« but certainly not the command, »Take!« In Genesis alone, there are 25 examples of »na.« Each one is a request, sometimes an unusual request as when Abram asks his wife to pretend to be his sister; or when God asks Abraham to look up toward the night sky and count the stars. Whatever akeda is, it is not about an Abraham possessed by an authoritarian great father complex demanding submission. Rather, Abraham is asked to make a choice. To choose between two things that he loves best. I am a passionate Jew, but when I read the akeda, I wish I were a Christian. For a Christian believer, the »sacrifice of Isaac« as Christians usually refer to the akeda, makes sense. It is the clearest prefiguration of the sacrifice of a Son by another Father; like Isaac, Jesus is His Father’s beloved son; like Isaac, Jesus travels to receive his fate in Jerusalem; like Isaac, Jesus carries wood on his back up a mountainAbraham is known as »Abram« until his name is changed to Abraham at age 99 in Genesis 17:5; but for simplicity sake I shall refer him as Abraham throughout my paper. I discuss the meaning of his names below. 3 Dylan’s father was named Abraham, giving the song a further personal dimension. 2
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Akeda and the Psychology of the Spiritual Revolutionary
side; like Isaac, Jesus, asks one poignant question of his Father. There is, however, one crucial difference, between the Old Testament and the New. Isaac is saved at the very last minute, while Jesus, the archetypal abandoned son, dies alone on the cross, crying out: »Father, Father, why have you abandoned me?« (Matthew 27:46; Mark 15:34, quoting Psalm 22:1). The prophet of Love encounters thanatos; while Isaac returns from his near death experience with a born again Eros and a new ability to love. For Jesus, death is a prelude to resurrection, for Isaac, it is the beginning of his initiation as a man who has experienced a Divine Presence. Jung taught that people are often unconsciously trapped in a myth. Understanding the myth may set the psyche free. From this mythological perspective, Abraham is enmeshed in a »Laius complex«. Laius was Oedipus’ father and one of the worst parents in human history. Laius heard an oracle predicting that his own son was destined to murder him. In fear of his unborn competitors, Laius refused to be fruitful and multiply. His wife, Jocasta, following the example of Abraham’s nieces (Genesis 19), made him drunk and stole his semen. Soon she was pregnant. When the child was born, Laius demanded that the terrifyingly, threatening baby should be murdered. A rod was rammed through his child’s foot and this is the origin of his name, Oedi-pus, meaning »swollen foot«. It was his mother, Jocasta, who actually turned over her baby to die slowly of starvation on a Theban hillside – a fact that Freud, who had a highly idealized view of mother-son relationships, ignored. As a result, Freud »misread« the Oedipal story, as a story starting with seduction rather than child abuse. Had Freud paid attention to the beginning of the Oedipus myth, he might have seen that parents’ impulse to kill their child is a universal, archetypal situation, that we can all recognize when a father or mother exclaims, »If you do that, I’ll kill you.« The Laius complex, an archetypal aspect of the Negative Great Father, is well illustrated in the first generations of Greek mythology. Cronus envied the power of his father, Uranus, the ruler of the universe. With the help of his mother, Gaia, Cronus attacked his father, cutting off his genitals with a sickle, and casting the severed phallus into the sea. From the phallus, Aphrodite later emerged. At first, Cronus’ rule was a Golden Age. Later, Cronus, like Laius, learned from his parents, Gaia and Uranus, that his own son would overcome him, as he had overthrown his father. As a result, when Cronus sired the familiar, classic Greek Gods, (Hestia, Demeter, Hera, Hades, and 43 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Poseidon), he devoured them as soon as they were born, as terrifyingly portrayed in Goya’s famous painting. A similar Laius situation is found in the opening of the Book of Exodus, when the Pharaoh demands the midwives to kill all Hebrew male babies at birth. Herod’s massacre of the innocents recorded in the Gospels (Matthew 2:16–18) is another example of a Great Father possessed by a Laius complex. These Laius dictators want to defeat time and live forever; they are self-absorbed, narcissists who know nothing of generativity and generosity. To allow your son to live is to accept that one day you will die and your son will continue after you. That is the hidden link of sex and death. The first task of a son is to survive his father’s murderous envy. Collectively, the Laius complex expresses a cultural complex involving the psychological power struggle between the generations. Laius, now an old man »unconsciously« meets his son on a narrow bridge. Neither one is willing to give way and let the other pass. The older generation, blocking the way of the younger, acts out a murderous envy of the younger generation’s vitality and youthfulness by not letting it pass. Political revolutionaries often develop a Laius complex once they are in power. They often become an aging senex never relinquishing their position of power and so see younger comrades as traitors coming to displace them. Think of Stalin and his purges, Mao and his Cultural Revolution, or the once revolutionary Cuba or Vietnam, where the average age of the leadership is 80. Genesis places the akeda narrative within a frame: »Now after these events. God tested Abraham«. The first phrase, »After these things,« I believe, holds the key to the meaning of the akeda. It demands that akeda should be viewed, not as an isolated act, but within its context or developmental sequence. Every time this phrase, »Now after these events« appears in Scripture, it refers to some preceding event, often in the previous chapter. The previous chapter, however, provides little hint of a context. Abraham reaches a pinnacle of paternity, status and success. The miracle child Isaac, whose name means »Laughter/Laughing,« is born. The local king comes to make a treaty of everlasting friendship, saying, »God is with you in all things«; Abraham calls out »the name of the Lord, the everlasting God.« These events describe what my mentor Daniel Levinson, author of The Season’s of a Man’s Life, called a »stable period.« Stable periods are times of consolidation and mature achievement, unlike periods of turmoil and transition like a mid-life crisis. There is, however, one traumatic 44 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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event that puts akeda into a father-son perspective, and it concerns his relation to his firstborn son, Ishmael, whose name means »God will Hear/Hears.« Shortly after the miracle child Isaac is weaned, Abraham’s wife, Sarah, demands that Abraham expel their adopted, surrogate son, saying, »Drive out this slave woman and her son for the son of this slave woman shall not share inheritance with my son, with Isaac!« The text says clearly: »The matter was exceedingly bad in Abraham’s eyes because of his son.« (21:11). Abraham is in a moral quandary, torn between his loyalty to his wife and his duty as a father. A contemporary parallel might be a blended family in which the second wife demands her husband to send her adopted step-son off to a military academy to »make a man out of him,« but really to get him out of the way and leave the inheritance clear for her own biological child. The moral conflict that Abraham undergoes is not elaborated, but its silent impact is strong. Only when a divine prophecy urges him to follow Sarah in all things, does he send Ishmael and his mother off into the desert to an almost certain death. Why does Abraham, who has exquisite moral sensibilities, do what he knows to be wrong? In this case, he does it because God tells him to. Here, Abraham is obeying his Inner Voice. Yet a Divine Presence suggests that this unfatherly act involves a conscious, spiritually-minded sacrifice. Not all commentators are so generous. Alice Miller, author of The Drama of the Gifted Child, calls Abraham the archetypal child abuser (Miller, 1990). The language of the revelation, »Follow Sarah in all things she says!« (21:12) may, nevertheless, indicate a powerful need to honor the feminine voice. In the Rabbinic tradition Sarah is considered to be an even greater prophet than Abraham himself. The fate of Ishmael and Isaac are linked: Like Isaac, Abraham sends his first, beloved son off to the most bitter of fates. Like Isaac, Ishmael sets out in the early morning – leading to suggestions that God appeared to Abraham in a dream – or even that the entire akeda is a dream; like Isaac, Ishmael would be dead, if it were not for the intervention of angel/messenger – (the Hebrew word, malach means both). Ishmael’s sacrifice prefigures and parallels akeda In a sense, it is the first akeda It suggests a lingering, unresolved Laius orientation of Abraham toward his sons. Sarah’s possessive power complex toward Isaac would have led to excessive closeness between mother and son, or even a pathological maternal symbiosis. Breaking such symbiosis is not simple. Jung 45 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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noted that fear of the father may drive a boy out of his identification with his mother, or it may cause him to cling still more, leading to a neurotic situation. Abraham’s Inner Voice may well have understood the need to dramatically sever this regressive mother-son bond. A fascinating piece of cross-cultural research in Africa discovered that the greater the maternal symbiosis, e. g., as measured by mother-son sleeping arrangements, the more brutal were male initiation rituals (Cornwall and Lindisfarne, 1994). From that perspective, the akeda was just such a traumatic, male initiation rite, separating Isaac from his mother and the maternal. Not surprisingly, Jewish tradition links Sarah’s death (23:2) with the fatal effect of her hearing about the akeda. The next phrase in the text of Genesis 22, »God tested Abraham«, creates a tension between the reader and Abraham. We know it is a test; Abraham does not. The reader is participating in the scene, longing to warn Isaac, »Your father is going to kill you!« As a result, the reader is present as a complicit participant in the unfolding divine psychodrama. God tells Abraham to take his son and »offer him up there as an offering-up upon one of the mountains« (22:1). How does Abraham respond? Does he protest and cry against this terrible injustice? No, he remains silent. To help understand Abraham’s silence, I want to review a crucial previous encounter with his Voice. 4 In Chapter 18, Abraham learns from God that He is about to annihilate the wicked cities of the plain, which we remember as Sodom and Gomorrah. Abraham responds with unparalleled intimacy and dialogue: Abraham came close and said: Will you really sweep away the innocent along with the guilty? Perhaps there are fifty innocent within the city, Will you really sweep it away? In their first encounter, God tells Abraham to go and he goes without protest; when Abraham reaches Canaan, God announces that Abraham has arrived at his destination and Abraham calls out in His name. In Chapter 15, God offers Divine protection and reassurance, but Abraham does not remain silent, but challenges God, »What would you give me for I am going to die cursed and childless?« (15:2). God responds by promising he will have a child. In Chapter 17, Abraham is told to change his name and circumcise his sons on the eighth day. Abraham, again, does not meekly submit but reveals his paternal anxiety that this new identity and ritual will be at Ishmael’s expense: [»And Abraham said to God, ›If only Ishmael might live in your presence!‹« (17:18) [which contains a latent »death wish«].
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… Heaven forbid for you! The judge of all earth – will not do what is just? (Fox, 1995, Genesis 18:23–25)
In this dynamic encounter between Ego and Self one can see the essence of Abraham’s spiritual revolution: humanity’s relationship with Divinity is based on dialogue not on blind submission to a Higher Authority, as in religions of his time. 5 While a man must know his place – Abraham says, »I am but earth and ashes« (18:26) – there are times when one can, and indeed must, argue with God. Arguing with God (and everyone else) has a strong tradition in Jewish culture 6, and it begins here with Abraham, as does the saving power of the just (See: Laytner, 1990). Abraham is the first person to be called a Prophet (Hebrew: navi) and in many ways, he defines the job description for all who come after him. His role is two-fold. Archetypally, he defends humanity to an angry God, while acting as His representative to humankind, e. g., by praying for the life of the local king and to unblock the sealed wombs of the woman of Gerar Abraham’s most poignant role is as the original, archetypal human rights activist, demanding that God Himself be subject to His own laws: »The judge of all the earth – will he not do what is just?« (18:25). No one, not even God, is above universal principles of justice and the rule of law. Surely, Abraham can be considered the patron saint of all human rights activists who demand justice in the face of tyranny. When he had ended bargaining, Abraham must have been confident that there were ten decent men in the City and so that he had saved Sodom; on the following day, looking down upon »dense smoke of a furnace« (19:28), Abraham sees, understands that he had been naïve concerning the pervasiveness and reality of human evil. This confrontation with the collective Shadow was a necessary moment of disillusionment. Viewing the holocaust from afar, seeing the smoke rising from the place where he had stood before the Lord is one of the great moments of silence in Scripture. Unlike Lot’s wife who becomes a pillar of salt, symbolically frozen in the PTSD (Posttraumatic Stress Disorder) process by premaIn the Babylonian epic, Enuma Elish, humanity is created from the blood of the traitor in order to serve the gods. 6 The tradition of the 36 just people or »lamedvavnik« who provide the moral foundation to sustain the world may also begin with Abraham’s plea. 5
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turely looking back at the trauma scene, Abraham is transformed into an ethical witness with an intense survivor mission [like his nieces]. Abraham would feel that he was spared the fate of Sodom for a reason: »to do what is right and just«. 7 Abraham’s ability to question injustice and speak his mind makes his silence at the injustice of the akeda all the more poignant. Abraham is a man who can and did question God. At the akeda, he chooses not to. I believe, given the experience of Sodom and Ishmael, Abraham understood the akeda was something he had to go through – even if he did not know how it would end. Philosophers from Kant onward challenge Abraham: how did you know it was the Voice of God and not the voice of Devil? Can one always distinguish psychosis from Self? Despite the overt immorality of the call, Abraham never doubted that it was from the Divine due to his trust in their ongoing relationship. Just as previously he had said that God could not do what is unjust, I imagine Abraham could not imagine the Divine asking him to do something immoral. Returning to the text, two Hebrew words, heneini and yachdav, are each repeated three times during the short 19 lines of the akeda story. »Heneini« means something like, »Here I am« and derives from the word for »here.« When God first calls Abraham by name, »Abraham, Abraham«, he replies, »Heneini,« »Here I am.« When Isaac calls him »Father« to ask his question, Abraham again answers »heneini.« The third and final »heneni« comes at the climactic moment when the angel-messenger calls Abraham to do no harm to his son. Abraham’s word, »Heneini,« »Here I am,« or in a bolder translation, »Ready!« will become the standard of how a prophet responds to a Divine Call. Moses, Samuel, Isaiah say, »Ready!« when they are first called. Heneini indicates a readiness to hear and be fully present. It indicates an existential attitude needed to be fully present to listen to the Voice, the call, our children and our patients: To be fully listening, in the »here«, ready to respond. The other word, yachdav means »together« and is derived from the word for »one« or »unity,« echad. The word echad completes that
On the shadow side, the collective memory of the Sodom holocaust carried an implicit threat to his descendants. If we do not follow the survivor mission of their Fathers, then Sodom will be their fate: »Why has Yahweh treated his land like this? Why this great blaze of anger?« And the people will say, »Because they deserted the covenant of the God of their fathers« (Deut 29:21–25).
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most fundamental Hebrew prayer, the shma, »Hear O Israel, the Lord, Our God, the Lord is One« (Deuteronomy 6:4), which is called out in daily prayer and as a Jew’s dying words. Yachdav is a state of being united, all together. Yachdav appears three times in Genesis 22: First, when father and son leave their servants behind and go off on their mission together; again, after Abraham’s wisely evasive reply to Isaac’s question, »Here are the fire and the wood, but where is the lamb for the offering-up?,« the reply being as follows: »God will see for Himself to the lamb for the offering-up, my son.« The narrator adds: The two of them went together; and Abraham returns to his lads, but without Isaac, to go together back home to Beersheva. Even though the akeda deals with a most brutal separation, the underlying leitmotif/theme is a symphony of togetherness. The Midrash traditionally explains the second »yachdav« as representing Isaac’s intuitive understanding that he is the one to be sacrificed. Like Jesus, Isaac accepts his fate and goes together with his father toward it. Together these two words present the essence of Abraham’s message to his son and in a way to us. The first is the need to be ready, ready to respond. The second is the fundamental importance of togetherness, unity and comm-unity; and the third is within all that to be true to your Self. It is a high wire act that we are all on. But the question must be asked: Why does God need to test Abraham? And what is being tested? To understand the nature of the test, I must make a detour to the »psychology of revolutionary.« Normally, family life is based on kinship continuity, the ongoing bond between parents and children, who in turn become parents to the next generation. True, children need to symbolically distance themselves from their parents and their values in order to begin their own journey toward individuation, even symbolically to kill them. But, typically after adolescent, there is a rapprochement. As one young man said, »It is remarkable how much my parents have grown up in the last couple of years!« Revolutionaries, in contrast, reject biological kinship and instead substitute an elective kinship based on a spontaneous communion of kindred souls and total identification with a common ideology and mission. Solidarity among comrades is intense; relatives and friends who do not share this ideological commitment become outsiders, even strangers. Revolution is based on a dramatic break with the past to create a new order, a new heaven on earth. 49 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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The same rejection of family was true of other revolutionary movements, like Zionist Socialists who founded the egalitarian Kibbutz in Israel, or the Bolsheviks who made a revolution that was supposed to take the people into the Promised Land. Once successful, every revolutionary faces the dilemma of continuity: how do I pass on the spirit of the revolution to the next generation? The revolutionary founder, whether spiritual or political, has a secret: the unacknowledged guilt of abandoning his father; how can he be certain his own »sons« will not do the same? Paradoxically, how does the revolutionary assure his sons be loyal to a tradition of disloyalty? Anthropologists divide succession into two main types: by birthright and by selection and ability. The benefit of birthright is an assured, pre-determined tradition. Everyone knows who will be the next king, priest or head of the family business. The downside is that new leader may be ill-prepared or tragically inadequate. Hereditary kingship, whether in China, Egypt or Rome, is proof of that fact. Charismatic pattern is the mirror image. The new leader is dynamic and highly capable, but the transition may be uncertain, even violent, leading to civil war. Often, the best approach is to combine aspects of both systems. Moses, a returning political refugee rose to authority as a charismatic leader and passed on political leadership to his chosen successor, Joshua. In contrast, he created a hereditary priest-caste based in his own clan and family, beginning with his own brother, Aaron. Every Cohen, Kagan, Katz is a priest-descendant of Moses’ brother, who still plays a significant role in Jewish ritual. Likewise, the highpoint of the Roman Empire occurred when a series of Emperors adopted worthy successors as sons, combining a charismatic succession with a fictive kinship; when Marcus Aurelius named his own biological son as Emperor, catastrophe immediately followed. There are 28 cases of father-to-son inheritance in the Old Testament, and in none is there a single, clear-cut case where a father simply and successfully initiates his firstborn son to be his chosen heir and spiritual successor. Most Biblical fathers, like Adam, Jacob, Samuel, or David undergo traumatic loss in relation to their sons. The akeda is, therefore, part of a pervasive pattern of traumatic succession and disputed inheritance. Succession in psychoanalytic institutes is no less problematic. Eisold (2008) found that often the analytic »fathers« manipulate those they train into carrying out their wishes, pressuring their followers to become apostles. Freud, despite his persona of professional 50 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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organization, manipulated from behind the scene via The Secret Committee. These compliant »sons« live constricted lives, obedient lives, complying with old theories and methods, vying to be each more faithful and unoriginal than the next. Those who do break away and become independent are ›destined to feel guilty for killing off their fathers‹ (Eisold, 2008, p. 619–632). Revolutionaries therefore have intensely ambivalent relationships with their own children. They yearn for them to continue their revolution and fear them for their independence. This is exactly what happened when the revolutionary founder Freud fainted at the thought that his crown prince Jung had »death wishes« to him. Freud’s fainting was related to his Laius complex. He experienced Jung as a displacing son. The double bind was that Freud wanted Jung to be loyal to him personally, and yet loyal to the revolutionary movement of psychoanalysis. It was a tension Freud was unable to hold. Jung was exiled and cast out as Lucifer. The Secret Committee that replaced Jung became followers who sacrificed their own creativity on the altar of loyalty. To put the conundrum of revolutionary succession in a different way: How can a revolutionary’s own son become the revolutionary’s disciple trusted to carry on the revolution? This is the heart of Abraham’s crisis. Abraham is a spiritual revolutionary. The Unknown Voice, which he does yet know is God or the Self, sends him off to an unknown destination. In the previous chapter, Scripture conveniently kills off Abraham’s father, Terah. But doing the math reveals that Terah was very much alive when Abraham left. Father Abraham abandoned his own father. Listening to the Voice means leaving his past behind, breaking from his father-bound identity and going toward a destiny and destination of his own. Even the Hebrew phrase, lech lecha usually translated as »leave« or »go-you-forth« means literally, »Go to yourself,« as if initiating Abraham on a journey toward individuation. During his years of wandering across the Fertile Crescent, throughout the Holy Land, down into Egypt, back into the Hill Country and Negev, Abraham discovered a new vision of how to live. It was something precious that must be passed on to his son. Indeed, his search to become a father is the libido that powers his life story. To discover his own God, however, he must leave his father’s gods. This conflict is expressed in a well-known Midrash, a kind of Rabbinic active imagination, about Abraham’s early life with his father. Abraham’s father made and sold statues of gods made of wood and stone. 51 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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One day, the father left the young Abraham in charge of the store – a rite of passage. Abraham picked up his father’s hammer and proceeded to smash all the gods, except the largest one in whose hand he placed the hammer. When his father returned, he saw the terrible damage and asked his son what had happened. Abraham calmly told his father that the »gods« started arguing among themselves as to who was more powerful. They started fighting and so destroyed each other until the strongest one was left. His father said: »Don’t you know they are only blocks of wood and stone?« Young Abraham replied with youthful chutzpa: »If they are only wood and stone, why do you worship them as gods?« There are many readings of the legend, but it clearly places the issue of continuity and disruption at the forefront. Abraham, the trickster rebel, does not directly confront his father. Nevertheless, he does subvert his father’s gods, and destroys them and his father’s God-image. Jung, no doubt, would approve that young Abraham was not striking out at his personal father from a regressive Oedipal complex, but only attacked his ideology, as Akhnaton did to his father, and Jung did to Freud. Abraham’s father, Terah, has another hidden/unconscious influence on Abraham and his new God-image. Abraham’s first journey lay in the shadow of his father’s previous trek from Ur, near Basra, in southern Iraq. When Abraham’s father set out with his family from southern Iraq, his declared destination was Canaan. 8 For some unstated reason, he stopped half way across the Fertile Crescent, roughly in modern Kurdistan. Years later, Abraham set out on his journey »to the land I will show you.« Only when Abraham arrives in Canaan does he learn that he has reached his destination. Abraham »unconsciously« completed his father’s unfulfilled dream so that Abraham could now say, »Father, I have arrived, where you wanted to go.« As Jung said: »Nothing has a stronger influence psychologically … on their children than the unlived life of the parent.« (»The Significance of the Father in the Destiny of the Individual,« in: Jung, 1970, p. 301–323). Or »The personal father inevitably embodies the archetype, which is what endows his figure with its »fascinating« power« (ibid., p. 302). If we consider Abraham’s developing »Godimage« we can say, that at this stage, it was emerging unconsciously The text states: »Terah took Abram his son … they set out together … to go to the land of Canaan. But when they came as far as Harran, they settled there.« (11:31)
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from his father-bound imago. As Jung wrote, »The patriarchs were a stepping stone to the Deity.« Abraham only becomes free of his idealizing father complex when his name is changed from Av-ram, meaning, »My father is supreme/lofty/high« to Av-raham, meaning »Father of Many Nations«, a Great Father in his own right. Now we are in a position to understand how the akeda resolved the revolutionary’s crisis of continuity by recreating for the son the spiritual journey of the father. The poetic cadence of the akeda repeats the rhythm of the first call: »Leave your country, your family, your father’s house, to the land I will let you see.« (12:1): »Take your son, your only-one, whom you love, Yitzhak, and go-youforth to the land of Moriyya/Seeing.« (22:1).
In both cases, Abraham is told to go to an unknown location. Setting out for the unknown is central to any spiritual quest or deep analysis – if you know where you are going, then you are probably not heading in the right direction; in taking Isaac and two lads, he is literally taking Isaac away from the world of women into the world of the masculine. Their journey recreates Abraham’s earlier journey throughout Canaan as a pilgrimage to the Self. Later, father and son separate from the lads in a further stage of individuation. Most dramatically, Abraham recreates the situation in which he challenged Divine authority at Sodom – Isaac’s question clearly shows he has learned the tradition of challenging authority. Abraham’s creative response teaches him something profound about trusting the process: »God will see for Himself to the lamb for offering-up, my son« (22:8). But most of all, the akeda is how Abraham introduces Isaac to the Divine, prophecy, promises, and the Transcendent; Abraham gives Isaac away and gets him back. Then he leaves Isaac to work things out for himself alone – rather like the vision quest of Sioux Indians or the long periods of intense solitude characteristic of the great philosophers. Isaac offered up as Abraham’s son is reborn as a/the prophet of Abraham’s God. Choosing God, Abraham received God choosing his son as a man of God. Freud wrote: »I cannot think of any need in childhood as strong as the need for a father’s protection« (Freud, 1961, p. 32). This is very true, but so is the opposite. Fathers of all sort need to know when it is time to allow their sons and daughters to explore on their own, unprotected. A father’s belief that their offspring can do it on their own 53 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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provides an enormous psychic protection. The next time we meet Isaac, he is walking and meditating in the field. The akeda has clearly broken his maternal symbiosis and forced him to come to grips with his destiny and survivor mission. Synchronistically he meets his future wife Rebecca, who comforts him after the death of his mother, »and he loved her« (24:67). For Isaac, this traumatic encounter with death made him into a survivor, much as Abraham had come away from the smoking furnace of Sodom with a sense of having been saved for some special purpose. The blessings addressed to Abraham were his first revelation to continue the spiritual revolution of his father. Isaac was indeed bound to the God of Abraham. The akeda was, therefore, a creative trauma, a ritual ordeal and initiation into a relationship with the Divine. Abraham had been forced to choose between his son and his Self/Destiny; Isaac now must discover what it means to be chosen.
A Modern Akeda The story of the akeda is one of the myths in which people can be trapped. I want to give a brief case illustration of a contemporary akeda complex. It concerns an Abraham-like figure, who I will call Abraham, who was a successful professional in a European country. Like Abraham, he had two sons and the younger was his favorite child. He was a modern assimilated, secular, »cultural Jew« proud of the tradition of his Fathers but with a weak, persona-based relation to the Spiritual, the sacred and religious practice. He might go to the synagogue once or twice a year, but he would drive on the Sabbath, eat non-kosher food, do little to very little to love his neighbor like himself. He was a practical, introverted, thinking type. All that changed during his intense mid-life crisis. His anima did not turn to new sexual partners for a renewal of eros, instead he experienced a powerful urge to »return« to the Ways of his Fathers or in the Hebrew phrase, »to return to the answer.« He felt that God was speaking to him personally and demanding to make Him the central force in his life. He was not psychotic and did not hear voices, but he began to make drastic changes in his lifestyle abandoning his secular life and to follow the Way (»halakha«) of Jewish religious observance. No more driving on Sabbath, no more non-kosher food, prayer three times a day and devoting all of his free time to the study of ancient Hebrew 54 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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texts, such as the Talmud. Whenever he was in doubt, he did not consult his own heart but asked his Rabbi, whose word was law. He had the passion and conviction of the psychology of the converted like Abraham, he felt called upon to leave his country, his family and his father’s house, where he had lived all of his life to make »aliya« – literally »to go up« and immigrate to the Land of Israel. Like Abraham, he felt called upon to change his name and naturally forced his sons to do the same. He was following his Inner Voice and returning to his roots in a way that Jung might have approved. Previously, he had been egalitarian in outlook, but now he became strongly patriarchal. Every morning he thanked God that He had not created him as a woman [Woman thank God for creating them »as they are«]. Family life is central to Judaism, and many of the commandments such as, »Be fruitful and multiply«; »Speak to your son and teach him« require family life. Therefore there is no monastic tradition in Judaism. Abraham imposed his orthodox lifestyle on his wife and adolescent sons. They, too, were forced to abandon their sophisticated, secular, European life for one dominated by meticulous religious observance. Whereas the Father had an authentic religious, if not to say mystical, experience, his sons did not. They were forced to go along and obey the »word of the Father« which they struggled to make their own. Outwardly, the sons never resist their Father or their Father’s God, God of the Fathers. Implicitly, they experienced a latent threat of an Ishmael-like expulsion should they leave the way of the Father. If a child left the faith of the Fathers or even merely married a non-Jew, it was not unknown for the paterfamilias to »sit shiva« and go through the full, seven-day, mourning ritual and treat the wayward child as if the child had actually died, or rather, no longer existed. The Father’s obsession with God had a narcissistic element in the sense that he was self-absorbed and virtually unaware of the impact this dramatic change had on his sons. One might say, in Jungian terms, there was an inflation of ego by Self. He moved to a Torah observant community and sent his sons to learn in religious boarding schools. So long as his sons outwardly complied, their father was content. The sons maintained a persona-faith but inwardly were returning to questioning. They had also lost a sense of being at home. They were still newcomers in Israel, but no longer connected to the European milieu they had left. Now enters an Israeli cultural complex. In Israel, when a son is 55 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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born, one automatically thinks of what will happen when he goes to the Army. I know I did when my son was born. One of the consequences of coming to Israel is that the two sons were now required to serve for three years in the Israel Defense Forces. The father was proud his sons were to become Biblical warriors defending the Faith and the Land. The elder son served in a frontline combat unit, and his younger brother soon after followed him, as the father had expected him. Towards the very end of his army duty, the younger son was killed in a terrorist clash on Hebrew New Year (»Rosh Hashana«) when the story of Abraham is read out aloud in synagogue and the ram’s horn, recalling the akeda, is blown. The Father reacted with sadness and belief. It was God’s will: »We do not understand the ways of the Lord, but we must accept them. His death is the sacrifice we must pay.« The surviving son was devastated. Silent. Neither present, nor together. Neither heneini nor yachdav. He showed little emotion and none around his father. He blamed his father for his brother’s death. He understood his brother’s premature death as an akeda experience. The father’s obsession had led to the immigration to Israel, which had led directly to the death. He was sacrificed to »God of his Father.« The son, ultimately, confronted his father in an akeda moment and asked him: »If God told you to sacrifice me, would you do it?« The father remained silent, neither confirming nor denying it. The father, like Abraham, had been called upon to make a choice and like Abraham, he had chosen God over his son. One person’s individuation may be another person’s akeda complex. As Jung wrote: »When an inner situation is not made conscious, it happens outside as fate« (Jung, 1979, CW 9ii, para. 126). The elder brother spoke of his brother’s death as an akeda in which the messenger/angel never came to restrain the daggered hand of the father. I want to amplify his experience of the absence of the messenger-angel by turning to this theme in modern Israeli literature.
What if the Angel does not come? Modern Hebrew literature is very concerned with the question: What happens when the angel does not come? In Genesis, the angel did appear but for many sons in Israel, »The angel did not appear to hold back the hand of slaughters« (Schneor, 1999, p. 43).The narrative fo56 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Akeda and the Psychology of the Spiritual Revolutionary
cus moves away from God and Abraham to the experience of the sacrificed victims. The akeda becomes a collective metaphor for the holocaust, for Zionism, or any ideology, in which the generation of the fathers sacrifice their sons. The story becomes an allegory of suffering without redemption. The surviving generations who »are born with a knife in their heart« (Gouri, 1981, p. 565) inherit the trauma. Abraham is not admired, but accused, even despised. Consider two examples – the first by the outstanding Israeli playwright of his generation, Hanoch Levin: Dear father, when you stand over my grave Tired and old and very solitary
And Levin continues: And you see how my body is put in the dust, Ask then my forgiveness. (Quoted in Kartun-Blum, 1999, p. 57)
The second is taken from the epic 1956 novel, »The Days of Ziklag« by S. Yizhar, perhaps the most important writer of the »Palmach« generation who fought in the War of Independence: … I hate Abraham who goes to sacrifice Isaac. What right has he over Isaac, let him sacrifice himself. I hate the God who sent him to sacrifice and besieged him … I hate that Isaac is nothing but an experiment between Abraham and his God (Yizhar, 1958, vol. 2, p. 108).
In contemporary Israel, Isaac has regained his voice, while Abraham has become silent. Here we can see how things have come full circle. Just as Abraham argued with God over Sodom, so too, his Israeli descendants challenge Abraham over the injustice of their own, personal akeda, Isaac slaughtered with no saving angel. The best known Hebrew poem about the akeda, however, makes no accusation. Yehuda Amichai, who was Israel’s unofficial national poet, plays with the absence to turn the story around in a new way: [… I want to sing a memorial song about the ram … I want to remember the last picture Like a beautiful photo … the ram Grasping the thicket before the slaughter. And the thicket was his last friend.]
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The angel went home Isaac went home And Abraham and God left much earlier But the real hero of the sacrifice Is the ram (Amichai, 1994, p. 345).
In Amichai’s version, the willing victim is not Isaac, but the ram with »curly wool and human eyes.« There is no drama, no conflict, as all the others have left. The story, deconstructed as a national epic of suffering becomes once again personal and intimate, a compassionate story of the ram and his last friend, the thicket.
Coda Abraham has been called the most successful individual in history, the father of the idea that there is one God whom you can find everywhere. It is a God who is in search of man, who cares deeply but demands much. The akeda story embodies another archetypal experience beyond the realm of fathers and sons. It is an intrusion of the Sacred into the everyday. It is the experience of losing something precious – your keys, your computer file, your child –, being overtaken with anxiety and despair; and then, suddenly, what you lost is found again! It is a moment of miraculously inspired synchronicity. Life is hopeful, exuberant, you feel like hugging someone and singing. This is the experience that the akeda conveys to us: having lost all, you receive it back again. The next time you find that lost object and rejoice, look up toward an unknown place and think of Abraham.
References Amichai, Y. (1994). A Life of Poetry: 1948–1994. Selected and translated by Benjamin and Barbara Harshav. New York: Harper-Collins. Cornwall, A. and Lindisfarne, N. (eds.) (1994). Dislocating Masculinity: Comparative Ethnographies. London & New York: Routledge. Eisold, K. (2008). »Succeeding at Succession: the Myth of Orestes.« Journal of Analytical Psychology, 53: 619–632. Fox, E. (1995). The Five Books of Moses: A New Translation. New York: Schocken Books.
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Akeda and the Psychology of the Spiritual Revolutionary Freud, S. (1961). Civilization and its Discontents. In J. Strachey (Ed. & Trans.), The Standard edition of the Vomplete Psychological Works of Sigmund Freud, Vol. 21, pp. 57–145. London: Hogarth Press. Gouri, H. (1981). Heritage. In The Penguin Book of Hebrew Verse. Translated by T. Carmi. London: Penguin. Jung, C. G., (1970). The Significance of the Father in the Destiny of the Child. In Collected Works Vol. 4, pp. 301–323. Princeton: Princeton University Press. Jung, C. G. (1979). Christ, a Symbol of the Self. In Collected Works Vol. 9ii. para. 126. Princeton: Princeton University Press. Kartun-Blum, R. (1999). Profane Scriptures: Reflections on the Dialogue with the Bible in Modern Hebrew Poetry. Cincinnati: HUC Press. Laytner, A. (1990). Arguing with God: A Jewish Tradition. Northvale, NJ: Jason Aronson. Miller, A. (1990). The Untouched Key Tracing Childhood Trauma in Creativity and Destructiveness. London: Virago. Schneor, Z. (1999). Bindings, quoted in Ruth Kartun-Blum, Profane Scriptures: Reflections on the Dialogue with the Bible in Modern Hebrew Poetry. Cincinnati: HUC Press. Yizhar, S. (1958). The Days of Ziklag, vol. 2 (Hebrew). Tel Aviv: Am Oved.
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Roman Lesmeister
Jenseits des Gesetzes: Sublimierung, Todestrieb und Exzess
Die folgenden Ausführungen handeln vom sublimierten Begehren, also jener kulturell so bedeutsamen Spielart des Begehrens, die sich nicht auf die Befriedigung sinnlicher Wünsche, sondern auf nichtsinnliche, geistige, kulturelle Ziele und Gegenstände richtet. Obgleich wie das sinnliche Begehren dem Gesetz unterstehend, also mit einer inneren Begrenzung ausgestattet, ist das Subjekt auch im sublimierten Begehren nicht davor geschützt, eine Übertretung zu begehen, ja von der Übertretung angezogen zu sein. Auch das sublimierte Begehren kennt den Exzess, das Übermaß, die Verausgabung. Es ist darüber hinaus imstande, das Subjekt in Geschichten von Leid, Frustration und Verzweiflung zu verwickeln, und die Kulturgeschichte liefert reichlich Zeugnisse dafür, dass ohne die maßlose Selbstquälerei, die den schöpferischen Prozess zwar nicht immer, aber doch oft genug kennzeichnet, manches große Werk nicht zustande gekommen wäre. Eigenartigerweise erfährt der Exzess des sublimierten Begehrens im allgemeinen ein gewisses Maß an Wertschätzung, zumindest Respekt für das freiwillige Ertragen von Härten und Grausamkeiten, die sich nicht jeder zumuten möchte, während dem sinnlichen Exzess auch unter dem Himmel einer freizügigen Sexualmoral nach wie vor Skepsis und Missbilligung entgegenschlagen. Man kann diesen Unterschied in der sozialen Bewertung leichthin auf eine tief eingewurzelte Leibfeindlichkeit zurückführen, die keineswegs erst mit dem Christentum aufgekommen ist. Man kann aber – und die anstehenden Betrachtungen werden auf diesen Punkt zuführen – auch darauf aufmerksam werden, dass im sublimierten Tun und Begehren Kräfte wirksam sind, die von Anfang an einer anderen Logik als der des Lustprinzips folgen, weshalb es nicht verwunderlich erscheinen muss, dass geistige Aktivität nicht unbedingt zur Entspannung führt und dass Denken, um es mit George Steiner zu sagen, nicht glücklich und zufrieden, sondern traurig macht (vgl. Steiner, 2006). Wie auch immer, durchsucht man das Feld, auf dem wir uns bewegen, in der 60 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Jenseits des Gesetzes: Sublimierung, Todestrieb und Exzess
angedeuteten Richtung, dann verlieren Freuds Worte, mit denen er uns im Unbehagen in der Kultur Trost für die »Herabsetzung der Genussmöglichkeiten« infolge der notwendigen Triebverdrängung versprechen will, ein wenig an Überzeugungskraft. Er schreibt dort: »Die Sublimierung der Triebe leiht dazu ihre Hilfe. Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben« (Freud, 1930a, S. 25). Schon einige Zeilen weiter muss er allerdings eingestehen, dass auch die Sublimierung dann keinen Leidensschutz mehr gewährt, »wenn der eigene Leib die Quelle des Leidens wird« (ebd., S. 25). Und da sind die Leiden, die aus »psychischer und intellektueller Arbeit«, also aus den Sublimierungsleistungen selbst resultieren, noch gar nicht mitgedacht.
Was ist Sublimierung? Nach allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei der Sublimierungstheorie um ein unabgeschlossenes, in unfertigem Zustand zurückgelassenes Projekt, um die größte und vielleicht auch großartigste Bauruine der psychoanalytischen Theorie. Der Idee und dem Entwurf nach vielversprechend, erweist sich die Konstruktion als inkohärent, nachlässig ausgeführt und insgesamt nicht zufriedenstellend. Von heute aus gesehen, hat es den Anschein, als seien bereits in den ersten Bauabschnitten unvorhergesehene Probleme aufgetreten, die man nicht zu bewältigen, ja deren wahre Natur man nicht einmal zu erkennen vermochte. Für die Stilllegung des Vorhabens lässt sich indes nicht das spätere Schwinden des Interesses für die Libido-Theorie und psychoenergetische Modellvorstellungen verantwortlich machen. Freud selbst hat sich um das mit einem vielversprechenden Namen geborene Kind seines Denkens, auf das man doch die allergrößten Hoffnungen hätte setzen müssen, nur sporadisch gekümmert (vgl. Laplanche & Pontalis, 1982, S. 478 ff.; Kerstan, 2011, S. 145 f.). Er hat einige der offenen Fragen wohl bemerkt, aber eine metapsychologisch konsistente Ausarbeitung der Sublimierungstheorie schien in seiner Agenda nicht ganz oben gestanden zu haben. Dies ist insofern erstaunlich, ja unverständlich, als mit der Erklärungskraft der Sublimierungstheorie der Anspruch der Psychoanalyse steht und fällt, die geistigen, und das sind für Freud insbesondere 61 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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die intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten und Leistungen des Menschen als ein mögliches »Triebschicksal«, als der Triebgrundlage durch »Verfeinerung« abgerungene Phänomene ausweisen zu können. Für diese Erklärungskraft nicht mit aller Entschiedenheit zu sorgen, hieße dann doch, die Aufklärung der Bedingungen für den »Fortschritt in der Geistigkeit« (Freud, 1939a, S. 225), an dem mitzuwirken die Psychoanalyse sich aufgerufen sehen sollte, entweder aufzugeben oder aufzuschieben oder sie ganz anders gearteten Denkansätzen zu überlassen. Den aufgelassenen metapsychologischen Problemen des Sublimierungskonzepts kommt man schnell näher, wenn man sich Freuds Definitionen zuwendet, die uneinheitlich ausfallen, unterschiedliche Akzentuierungen aufweisen und über sein gesamtes Werk verstreut sind. Eine Bestimmung, die den zentralen Aspekt der Umwandlung des Sexualtriebes herausstellt, findet sich bereits in einer Arbeit aus dem Jahre 1908: »Er (der Sexualtrieb, Erg. v. V.) stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung« (Freud, 1908d, S. 150).
Freud gibt uns hier zunächst zu verstehen, dass dem Sublimierungsvorgang der Mechanismus der Verschiebung zugrunde liegt, mit anderen Worten, das Begehren wird von seinem ursprünglichen Ziel abgelenkt und auf ein anderes Ziel übergeleitet. Diese Verschiebbarkeit verdankt sich der außerordentlich hohen Plastizität der sexuellen Triebregungen (vgl. Freud, 1916–1917a, S. 357 f.). Später wird Freud diese Bestimmung dahingehend erweitern, dass der Trieb nicht nur sein Ziel, sondern auch sein Objekt verändert. Aber ist damit das Wesentliche des Sublimierungsphänomens erfasst? Wohl kaum. Denn offensichtlich ist doch, dass mit dieser Verschiebung eine Veränderung der psychologischen Beschaffenheit, also nicht nur der Richtung oder der Objekte, sondern der psychologischen Qualität des Begehrens einhergeht. Es liegt auf der Hand, dass das Begehren nach sexueller Befriedigung oder die sexuelle Neugier, die sich auf den Körper der Mutter oder die Geheimnisse der sexuellen Vereinigung richtet, etwas qualitativ anderes ist als das Interesse an der Lö62 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sung eines philosophischen Problems oder der Hervorbringung eines künstlerischen Werkes. Beiden Arten von Bestrebung kann Leidenschaftlichkeit innewohnen, aber niemand wird sie trotz gewisser strukturaler Ähnlichkeiten und Verwandtschaften miteinander verwechseln. Natürlich war sich Freud über diese differentia specifica im Klaren. In Fortsetzung einer bereits zitierten Textstelle aus Das Unbehagen in der Kultur bemüht Freud die im Begriff der Sublimierung angelegten Bedeutungsaspekte, um in zumindest metaphorischer Ausdrucksweise den Unterschied, auf den es ankommt, zu kennzeichnen: »Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität (!), die wir gewiss eines Tages werden metapsychologisch charakterisieren können. Derzeit können wir nur bildweise sagen, sie erscheinen uns »feiner« und »höher«, aber ihre Intensität ist im Vergleich mit der groben Triebregung gedämpft; sie erschüttern nicht unsere Leiblichkeit« (Freud, 1930a, S. 25).
Die »besondere Qualität« der Sublimierungsleistungen wird mit den Attributen des »Feineren« und »Höheren« erläutert, was natürlich keiner Erklärung, sondern lediglich einer semantischen Explikation des Ausgangsbegriffs gleichkommt. Hinsichtlich der Möglichkeit einer überzeugenden wissenschaftlich-metapsychologischen Erklärung des postulierten Umwandlungs- und Verfeinerungsprozesses verweist Freud hoffnungsvoll auf eine unbestimmte Zukunft. Meiner Ansicht nach befinden wir uns hier im Kernbereich des Rätsels, das der Sublimierungsbegriff bis heute mit sich führt, und wir haben Anlass zu der Vermutung, dass dieses schwer zugängliche Geheimnis der entscheidende Grund dafür sein könnte, dass die psychoanalytische Sublimierungstheorie das unvollendete Projekt geblieben ist, von dem eingangs gesprochen wurde. Wir wissen, wie es kommt, dass feste Körper unter Zuführung von Wärme in flüssigen und schließlich gasförmigen Zustand übergehen; ebenso, dass Masse in Energie transponierbar ist. Aber kein psychologisches oder neurochemisches Wissen belehrt uns bis heute darüber, wie sich ein sinnlich-sexueller Vorgang in einen nichtsinnlich-geistigen verwandeln kann und welcher Ingredienzien es bedarf, damit eine derartige Transformation vonstattengehen kann. Im gleichen Maße, wie unser Verständnis am Mysterium eines solchen Übergangs scheitert, versorgt uns die Kul63 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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turgeschichte mit einer Vielzahl symbolischer und begrifflicher Konzepte, die mit allergrößter Selbstverständlichkeit eine Analogie, ja »geheime Identität« von Sinnlichem und Nichtsinnlichem, Sexuellem und Geistigem behaupten und tradieren. Der Fall der biblischen Ureltern, die nach dem Sündenfall einander »erkannten«, mag als einziges Beispiel für die fragliche Konkordanz von sexuellem und Erkenntnisakt dienen. Diese Hinweise bestärken uns in der Annahme und haben vielleicht auch Freud darin schon bestärkt, dass sich das fehlende Element in der Gleichung, die Sexualität und Geist miteinander verbindet, auffinden lassen müsse. Freud hat es nicht unterlassen, Versuche in dieser Richtung zu unternehmen, und einer von ihnen, der stichhaltigste vielleicht, soll uns hier näher beschäftigen. Nachdem er den Narzissmus eingeführt und die letzte Theorie des psychischen Apparates in Angriff genommen hat, entwickelt Freud in Das Ich und das Es den Gedanken, dass die Umwandlung von sexueller in sublimierte Aktivität über eine Zwischenstufe verlaufe und dass in diese Zwischenstufe des Prozesses eine Art Relay, ein Transformator eingeschaltet sein müsse. Dieser Transformator ist das Ich. Die Sublimierung sei so vorzustellen, dass die sexuelle Libido vom (realen, äußeren) Objekt abgezogen und dem Ich zugeführt werde. Im Zuge dieser Rückführung komme es zu einer Desexualisierung der sexuellen Energie, die als sublimierte vom Ich dann auf entsprechende Ziele, Objekte und Tätigkeiten verschoben werden könne (vgl. Freud, 1923b, S. 274). Man erkennt sofort die Nähe dieser Annahme zu der wenige Jahre zuvor entwickelten Vorstellung von der libidinösen Besetzung des Ichs, die besser unter der Bezeichnung Narzissmus bekannt ist. Das Ganze in Freuds Worten: »Die Umsetzung von Objektlibido in narzisstische Libido, die hier vor sich geht, bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung. Ja, es entsteht die eingehender Behandlung würdige Frage, ob dies nicht der allgemeine Weg zur Sublimierung ist, ob nicht alle Sublimierung durch die Vermittlung des Ichs vor sich geht, welches zunächst die Objektlibido in narzisstische verwandelt, um ihr dann vielleicht ein anderes Ziel zu setzen« (ebd., S. 258).
Die Konsequenz dieser Herleitung ist die, dass wir alle Sublimierungsleistungen – intellektuelle Betätigung, künstlerisches Schöpfertum, ethische Gesetzgebung – als narzisstische, von desexualisierter Energie gespeiste anzusehen hätten. Die ursprüngliche Herkunft aus
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dem sexuellen Eros wird darin aber nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht: »Wenn diese Verschiebungsenergie desexualisierte Libido ist, so darf sie auch sublimiert heißen, denn sie würde noch immer an der Hauptabsicht des Eros, zu vereinigen und zu binden, festhalten, indem sie zur Herstellung jener Einheitlichkeit dient, durch die – oder durch das Streben nach welcher – das Ich sich auszeichnet« (ebd., S. 274).
Freuds narzissmustheoretische Deutung der Sublimierung ist von beeindruckender Klarheit und Konsistenz, nur gibt sie nicht im Mindesten eine Antwort auf die uns beschäftigende Frage, wie genau das Ich es anstellt, sexuelle Energie (sexuelles Begehren) in nichtsexuelle Energie (nichtsexuelles Begehren) zu transformieren. Eigentlich kennen wir nur den Ausgangsstoff und das Endprodukt. Das Ich oder etwas im Ich gleicht einer Blackbox, in die sexuelle Libido hineingeht und aus der desexualisierte (sublimierte) herauskommt. Was im Transformatorgehäuse genau geschieht, entzieht sich nach wie vor unserer Kenntnis. Das Ich gibt in dieser Angelegenheit sein Betriebsgeheimnis nicht preis. Wir haben uns an dieser Stelle eine weitere Besonderheit der Sublimierung als Triebschicksal vor Augen zu führen. In seiner Arbeit über Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci macht Freud unmissverständlich klar, dass sich die Sublimierung »von Anfang an« dem Schicksal der Verdrängung entzieht (Freud, 1910c, S. 147 f.). Die Sublimierung beinhaltet zwar Triebverzicht, aber nicht zum Preis der Verdrängung. Die Umwandlung erfolgt auf direktem Wege unter Umgehung der Dynamik des Unbewussten, so dass auch die wahren Sublimierungsergebnisse prinzipiell frei sind von den Spuren unbewusst-primärprozesshafter Verarbeitung und entsprechender Abwehrvorgänge (Entstellung, Verdichtung, Projektion usw.). Diese Annahme Freuds erscheint mehr als bemerkenswert, rückt sie doch die Sublimierungsleistungen in beträchtlichen Abstand zu den Kompromissbildungen, denen ja immer das Odium des Neurotischen anhaftet. Man ist versucht zu sagen, dass sich die Sublimierungen, insofern sie auf wundersame Weise an den Prozeduren des dynamischen Unbewussten vorbei ins Bewusstsein gelangen, eine Art »Unschuld« im Sinne des Nichtpathologischen bewahren – ein Phänomen, das in Freuds Denken Seltenheitswert beanspruchen dürfte. Wir kommen an dieser Stelle vorläufig nicht weiter und setzen deshalb an einem Punkt an, dem Freud zumindest im Kontext der 65 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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bislang herangezogenen Quellen keine besondere Bedeutung zuzumessen scheint. In Freuds Überlegungen dreht sich alles um den Eros. Er bildet gewissermaßen das konstante Format und das Erkennungsmerkmal, an dem sich die Herkunft der Sublimierungsleistungen aus dem Feld des sexuellen Begehrens ablesen lässt. Das geht so weit, dass auch die Funktionen und Produktionen des Ichs jene Tendenz zur Einheit, Verbindung, Integration und Ganzheit aufweisen, die auch die Bestrebungen des Eros maßgeblich kennzeichnet. Nimmt man das Modell der Umwandlung von Objektlibido in narzisstische Libido jedoch genauer in Augenschein, dann zeigt sich, dass darin ein Element auftaucht, das sich unmöglich oder gerade nicht im Wirkungsbereich des Eros verorten lässt. Es ist ein Element von Negativität. Die Negativität besteht darin, dass im Zuge der fraglichen Transformation die Realobjekte des Begehrens aufgegeben werden, mit anderen Worten, es findet dasjenige statt, was man einen Objektverlust nennt. Die (äußeren) Objekte gehen verloren, sie gehen unter, sie »sterben«. Wenn nicht im Zentrum des Sublimierungsvorgangs, so doch an einer ganz entscheidenden Stelle des Prozesses ereignen sich weniger Verbindung und Vereinigung als vielmehr Auflösung, Aufgabe und Trennung. Sublimierung – so viel zeichnet sich hier bereits ab – bedeutet offensichtlich und in wesentlicher Hinsicht Abbau von Vorhandenem. Der von Freud in den Vordergrund gerückte Mechanismus der Verschiebung verdeckt die bedeutsame Rolle, die das Element von Negativität im Sublimierungsprozess spielt. Der im Ich stattfindende Transformationsvorgang, dessen eigentliche Natur uns noch gänzlich verschlossen bleibt, muss eine Form realer oder symbolischer Zerstörung der Ausgangssubstanz beinhalten. Die These, die deshalb von hier an allen weiteren Überlegungen die Richtung vorgeben wird, ist die, dass ohne ein zureichendes Verständnis der Phänomene von Destruktion und Verlust das Rätsel der Sublimierung nicht zu entschlüsseln sein wird. Am Ende wird sich zeigen, dass sich die »Verfeinerung«, die der Sublimierungsidee den Namen gegeben hat, nicht so sehr als Werk der Lebenstriebe als vielmehr der Todestriebe einstellt.
Sublimierung und Destruktion Im Freuds Werk nimmt der Objektverlust einen wichtigen Platz ein, so zum Beispiel bei der narzisstischen Identifizierung, der Idealbil66 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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dung (vgl. Kerstan, 2011, S. 147 f.) oder der Genese der Melancholie. Im vorliegenden Fall der Sublimierung handelt es sich aber weniger darum, dass sich das Ich infolge der Identifizierung und das heißt des Rückzugs des Begehrens vom Realobjekt verändert, sondern dass das Ich auf dem Wege des Rückzugs vom Objekt die Art des Begehrens verändert und damit auch Ziel und Objekt des Begehrens. Die destruktive Dimension des Vorgangs wird erst dort so recht deutlich, wo der Verlust des Objektes nicht in der Form passiven Entzugs erfolgt, sondern durch das Subjekt aktiv herbeigeführt, wo mit anderen Worten das Objekt zerstört, getötet wird. Dass die Schnittstelle von »Natur« und »Kultur«, von »Sinnlichem« und »Nichtsinnlichem« von einer Gewalttat markiert – verbunden und auseinandergehalten – wird, ist keine Entdeckung Freuds. Er hat lediglich zu diesem Geschehen und den zahlreichen mythologischen Bearbeitungen, den dieses in der Kultur- und Religionsgeschichte gefunden hat, einen neuen Mythos ersonnen, nämlich den für sein gesamtes Denken zentralen Mythos vom Vatermord und seinen Folgen, wovon die Schrift Totem und Tabu (Freud, 1912–13a) handelt. Es gehört heute gewissermaßen zum guten intellektuellen Ton, darauf hinzuweisen, dass man selbstverständlich nicht an die historische Wahrheit dessen glaubt, was Freud uns als Ursprungsgeschichte von Kultur und Zivilisation nahebringen will. Schwieriger ist indes zu sagen, woran man stattdessen glaubt oder ob man in diesem Zusammenhang überhaupt an etwas glaubt. Man muss an dieser Stelle meiner Ansicht nach nicht lange herumreden. Freuds Erzählung enthält sicher nicht die Wiedergabe historischer Ereignisse, sie ist aber auch keine haltlose Fiktion, auch kein Tagtraum und kein Phantasma, das die Funktion hätte, eine tiefere Wahrheit zu verdecken. Die Erzählung ist in der Tat ein Mythos, ein mit wissenschaftlichen Bauteilen versehener Mythos, der wie alle anderen und früheren Mythen in metaphorischer Einkleidung von einer seelischen Realität oder Wahrheit handelt, die nicht immer exakt mit historischen Abläufen koinzidieren muss. Freuds Bericht setzt in prähistorischen Zeiten an. Irgendwann einmal lebten die Menschen bzw. deren Vorfahren in Horden, denen ein mächtiges und potentes Männchen, der tyrannische Horden-Vater vorstand, der alle weiblichen Mitglieder der Gruppe sexuell für sich beanspruchte. Die Söhne rotten sich zusammen, um diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu bereiten, und sie beschließen, den gehassten Vater zu erschlagen und zu verzehren. Nachdem dies geschehen ist, rückt der nunmehr stärkste aus der Geschwistergruppe 67 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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an die Stelle des Urvaters und das Drama beginnt von neuem. Doch irgendwann einmal tritt eine bemerkenswerte Wende ein, die den Zyklus der Vatertötungen unterbricht. Nach vollbrachter Tat erwacht in den Söhnen die Liebe zum Vater, und sie werden von Reue und Wiedergutmachungsbestrebungen überwältigt. Sie widerrufen ihre Tat und schaffen sich einen symbolischen Vaterersatz, das Totemtier, das nicht getötet werden darf. »Was er (der Vater, Erg. v. A.) früher durch seine Existenz verhindert hatte, das verboten sie sich jetzt selbst …«, heißt es bei Freud (1912–13a, S. 173). Das »Schuldbewusstsein des Sohnes« (ebd., S. 173) erzeugt nun die beiden grundlegenden Tabus des Totemismus, das Inzestverbot und das Verbot des Vatermordes. Es sind die beiden Tabus, mit denen Freud zufolge »die Sittlichkeit des Menschen beginnt« (ebd., S. 173). Die Erhöhung des getöteten Vaters, dessen symbolische Ersatzbildung im geheiligten Totem und die mit diesen Transformationen einhergehenden Regeln und Gebote bilden jenen Niederschlag im Ich, der sich zur Instanz des ödipalen Über-Ichs, des Gewissens, ausformt und aus dem im Prozess einer fortschreitenden historischen Differenzierung alle Formen der Moral, der Religion und kulturellen Wertordnung hervorgehen. Was hier im Speziellen als Genese des Über-Ichs rekonstruiert und in der individuellen Frühgeschichte des Subjektes wiederholt wird, darf, so meine ich, als Modell des Sublimierungsvorgangs übernommen werden. Der symbolische Vaterersatz, an den sich das Verbot heftet, steht gewissermaßen für die erste kulturelle Sublimierung, die Ursublimierung, von der alle anderen ihren Ausgang nehmen. Die Wiederkehr des getöteten Vaters im Gesetz legt den Grundstein für die symbolische Ordnung, in der sich im Verständnis Jacques Lacans der große Andere konstituiert – die Gesamtheit der kulturell tradierten symbolischen Strukturen, die für Lacan gleichbedeutend mit den Strukturen der Sprache sind. Man darf an dieser Stelle jedoch keinesfalls übersehen, dass die Erhöhung des Vaters zum Moralgesetz vor allem die Funktion erfüllt, für die Söhne den Zugang zur Mutter, also den Inzest mit dieser zu verhindern. Hinter den neu geschaffenen ethischen und kulturellen Werten residiert die primordiale Mutterimago gewissermaßen als das höchste und zugleich verbotene Gut(e), ähnlich wie laut Genesis im Paradiesgarten außer dem Baum der Erkenntnis, auf die das Menschenpaar im Sündenfall erfolgreich zugreift, noch der absolut unzugängliche Baum des Lebens vorhanden ist. Dieses auf immer entzogene Primärobjekt des Begehrens versieht Jacques Lacan mit dem 68 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Namen des Dings (später des Realen), wovon bald ausführlicher zu sprechen sein wird. Was im Drama von Totem und Tabu stattfindet, ist der erste große Schritt in Richtung jener »Geistigkeit«, den Freud fortgesetzt und gesteigert sieht in den Ereignissen, die den Inhalt seiner zweiten großen mythischen Erzählung ausmachen und deren Deutung und Beglaubigung er viele Jahre seines Altersschaffens gewidmet hat. Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Freud, 1939a) ist der Anschlussmythos zu Totem und Tabu. Erneut geht es um den Vatermord, dieses Mal den in der psychohistorischen Phantasie Freuds von den Hebräern begangenen Mord an Moses, dem Gründungsvater des jüdischen Volkes und der jüdischen Religion. Das Motiv für die Tötung des Moses ist zunächst allerdings ein ganz anderes als das in Totem und Tabu. Wurde der Urvater erschlagen, weil die Söhne dessen Tyrannei und sexuelle Omnipotenz beenden (und sich selbst aneignen) wollten, so wird Moses zum Opfer, weil die Hebräer die aus der ägyptischen Aton-Religion übernommene Strenge der monotheistischen Geistigkeit, die im mosaischen Gesetz ihren Niederschlag fand, nicht zu ertragen vermochten. Sie wehrten sich gegen den auferlegten Triebverzicht und wollten zurück zum goldenen Kalb. Übereinstimmend mit dem urzeitlichen Drama kommt es aber auch im Mann Moses zu einer Umwandlung, die sich Freuds Entwurf zufolge freilich über eine Jahrhunderte währende Latenzzeit (die Entwicklungsphase, in der die Sublimierungen sich ausbilden) erstreckt: der Wiederkunft des getöteten Moses im wirkmächtigen Wort der jüdischen Propheten (vgl. Assmann, 2014). Während der Vatermord an Moses in Freuds Darstellung der Verdrängung anheimfällt, also für lange Zeit im Unbewussten verschwindet, entspricht die Dramaturgie der Ereignisse in Totem und Tabu eigentlich mehr dem, was wir für den Sublimierungsvorgang als zutreffend erkannt haben. Die Mordtat wird nicht verdrängt, sondern evoziert eine von Ambivalenz geprägte emotionale Gegenreaktion. Wenn man sich fragt, was den Brüderclan veranlasst haben mag, den destruktiven Zyklus von Vatermord und Ersetzung des Vaters durch den stärksten der Sohne in der beschriebenen Weise zu durchbrechen, so ergeben sich im Prinzip zwei Antworten: Sie tun es entweder aus Selbsterhaltungsgründen oder aus Liebe. Das Motiv der Selbsterhaltung – die Söhne wissen, dass im Prinzip jedem von ihnen das gleiche Schicksal droht wie dem gemordeten Vater – liegt nahe, es findet sich als Begründungszusammenhang in allen späteren sozial69 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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und moralphilosophischen Theorien wieder, die auf die Überzeugung setzen, dass die Vernichtungsangst gemindert und das Leben für alle besser wird, wenn jeder Einzelne Verzicht leistet und sich einem allgemein verpflichtenden Kanon von Regeln unterwirft. Wobei das bessere Leben ursprünglich vielleicht nicht viel mehr als das Überleben war. Es ließe sich demnach der Standpunkt vertreten, dass sich die Sublimierungsfähigkeiten im Dienste der Selbsterhaltung und der erfolgreichen Anpassung entwickelt haben. Wer denken und die Sprache gebrauchen kann, verfügt über die effizienteren Werkzeuge und Waffen im Überlebenskampf. Diese Logik stößt auf ihre Grenzen dort, wo es um die menschheitsgeschichtlich so bedeutsame Rolle der Künste geht. Der künstlerische Gestaltungswille erscheint unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten entbehrlich, als überflüssiger Luxus, der die Selbsterhaltung in vielen Fällen sogar eher untergräbt als fördert. Interessant bleibt dennoch, dass auch Freud bereits in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Vermutung vorträgt, die Sublimierung könnte sich infolge der »Anlehnung« der Sexualtriebe an die Selbsterhaltungstriebe (also die Ich-Triebe) eingestellt haben (vgl. Freud, 1905d, S. 107; Laplanche & Pontalis, 1982, S. 480). Im narrativen Kontext von Totem und Tabu bevorzugt Freud jedoch eindeutig eine andere Linie. Im Übergang vom gesetzlosen Ausagieren der triebhaften Begierden zum Eintritt in den Äon von Sittlichkeit und Geistigkeit betont Freud die Bedeutung der Liebe, der Sohnesliebe, die allerdings nicht ausgereicht hatte, den Mord zu verhindern, die aber nach der Tat nun offenbar stärker wird, als sie davor gewesen ist – ganz analog zu der Bemerkung Freuds bezüglich der Macht des umgebrachten Vaters, dass »der Tote nun stärker (wurde), als der Lebende gewesen war« (Freud, 1912–13a, S. 173). Es ist allein die zentrale Rolle der Liebe, des Eros, die uns berechtigt, die Konstitutionsgeschichte der Sittlichkeit, der ethischen Werte und Ideale, als Sublimierungsvorgang zu begreifen und nicht lediglich als Geschichte der Aufrichtung von Reaktionsbildungen gegen Aggression und Hass. Genau genommen, nimmt Freud in diesem Punkt implizit einen Gedanken der entwicklungspsychologischen Lehre Melanie Kleins vorweg, die der Meinung ist, das gute Objekt und die Liebe zu diesem stellten sich erst nach einer Phase der vom Todestrieb beherrschten Aggression ein. Man könnte durchaus davon reden, dass den Söhnen nach begangener Tat der psychologisch qualitative Sprung auf die Stufe der depressiven Position gelingt, also jenes seelische Organisationsniveau, auf dem die Liebe sich durchsetzt und 70 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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dazu führt, dass die Folgen der eigenen Destruktivität bedauert, bereut und betrauert werden, und dass Bestrebungen einsetzen, das angerichtete Unheil wiedergutzumachen. Im Verständnis Melanie Kleins und ihrer Nachfolger sind die Sublimierungsleistungen, so zum Beispiel die künstlerische Kreativität, als symbolische Akte der Wiederherstellung der beschädigten oder zerstörten Objekten anzusehen (vgl. Kerstan, 2011, S. 150 f.). Danach setzt die Möglichkeit von und Fähigkeit zur Symbolisierung, das heißt Ersetzung des real anwesenden Objektes durch ein nichtsinnliches, geistiges Element wie das Wort der Sprache, die Erfahrung des (selbst verursachten) Objektverlustes voraus, die Erfahrung von Abwesenheit, vom »FortSein«, also vom Tod des Objektes. Im Vorausgriff auf spätere, über Freuds Anschauungen hinausgehende Ideen stellen wir fest, dass wir dem Sublimierungsphänomen, das sich ja nach wie vor ins Dunkle hüllt, nur näherkommen, wenn wir die außerordentlich enge Durchdringung und Wechselwirkung von bindenden und vereinigenden Kräften des Eros, der Liebe und solchen von Destruktion, Verlust und Auflösung, mit einem anderen Ausdruck: der Arbeit des Negativen in Betracht ziehen. So viel lässt sich sagen, dass es ohne die Liebe bei der reinen Zerstörung bliebe, dass es aber mit der Liebe allein nicht zur notwendigen Zerstörung käme.
Zur Mythologie der Sublimierung In einer Studie über die Sublimierung muss uns die Tatsache beschäftigen, dass die Vorstellung von einer Verfeinerung des Stofflichen ins Geistige, des sinnlichen Begehrens ins nicht- und übersinnliche, mitnichten erst in Freuds Nachdenken eine Rolle zu spielen begann, sondern sich als gleichsam archetypisches Phänomen durch die Kulturgeschichte zieht, worin sie in Form mythologischer, religiöser und philosophischer Gestaltungen ihre Spuren hinterlassen hat. Weit unterhalb des Anspruchs, diese Geschichte auch nur annäherungsweise rekonstruieren zu wollen, werde ich mich im Folgenden mit einigen exemplarisch ausgesuchten Zeugnissen befassen und dabei besonders auf das zuletzt herausgestellte Zusammenwirken von libidinösen und destruktiven Elementen achten.
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Aufwärts zur Idee – ein Sublimierungsmodell bei Platon Die auf philosophischem Gebiet prominenteste Analogie zum Sublimierungsphänomen findet sich in Platons Dialog Symposion oder Das Gastmahl. Dort wird von einer in der Vergangenheit stattgefundenen Zusammenkunft berichtet, bei der die Teilnehmer aufgefordert wurden, eine Lobesrede auf den Gott Eros zu halten. Von den fünf Beiträgen, die in Platons Dialog aufeinander folgen, interessiert uns hier lediglich der fünfte, und das ist die Rede des Sokrates. Von Sokrates hören wir, dass ihn vor längerer Zeit eine weissagende Frau namens Diotima über die Natur des Eros und das Wesen der Liebe unterrichtet habe. Diotima zufolge sei Eros entgegen der verbreiteten Ansicht kein Gott, sondern ein »großer Dämon« (Platon, 1965, 202e, S. 232), also ein Zwischenwesen und Mittler zwischen Sterblichen und Unsterblichen, aber auch zwischen Gutem und Schlechtem, Schönem und Hässlichem. Er sei nicht selbst das Gute und Schöne, sondern strebe nach diesem, um es in seinen Besitz zu bringen. Die Mutter Penia (= Armut) habe ihm Mangel und Bedürftigkeit mitgegeben, dem Vater Poros (= Ausweg, Fülle) verdanke er Zielstrebigkeit und Eroberungswillen. Allerdings gelingt es ihm nie, sich das einmal Gewonnene zu erhalten: »Was er sich aber schafft, geht ihm immer wieder fort, so dass Eros nie weder arm ist noch reich und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht« (ebd., 203e, S. 233). In einfacher und zugleich großartiger Weise klärt uns Platon hier also zunächst darüber auf, dass das Begehren seine Herkunft nicht nur im Mangel hat, sondern zugleich in der Bestrebung, diesen Mangel auszugleichen, zu überwinden. Aber genau das gelingt ihm nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Das ständige Zusammenspiel von Mangel und Streben nach Erfüllung bewirkt jenes Dazwischen, das weder das eine (»arm«) noch das andere (»reich«) ist. Wir haben uns danach das Begehren vorzustellen als etwas, was sich in ständiger Bewegung befindet zwischen den unerreichbaren Polen völliger Entbehrung und der Erfüllung im Höchsten, was für Platon und die Griechen seiner Zeit als Glückseligkeit benannt wurde. Über einige Zwischenschritte, die sich mit dem Ziel der Unsterblichkeit beschäftigen, gelangen wir zu dem Teil der Belehrungen Diotimas, die im Kontext unserer Überlegungen zur Sublimierung vom eigentlichen Interesse sind: dem aufsteigenden Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen (ebd., 210a-212a, S. 238 ff.). Unter Führung des 72 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Eros strebt die Seele, wie wir gehört haben, nach dem Schönen, was bei Platon gleichbedeutend ist mit dem Guten. Des Schönen wird sie auf unterster Stufe gewahr als Schönheit des Körpers der oder vielmehr des Geliebten. Das erotische Begehren erscheint also anfänglich an die konkrete leibliche Gestalt geheftet. Von dieser Fixierung im Sinnlichen und der Singularität der Erscheinung steigt es in einem zweiten Schritt auf zur »Schönheit in allen Leibern«, erreicht also einen höheren Allgemeinheitsgrad. Der Liebende wird zum »Liebhaber aller schönen Leiber« (ebd., 210b, S. 238). In einer weiteren Aufwärtsbewegung überträgt sich dieses Vermögen nun auf die Liebe für die Schönheit der Seelen, womit das Schöne in den Bestrebungen und Sitten, im Weiteren aber auch in den Erkenntnissen und der Weisheit gemeint ist. Schlussendlich führt Eros auch über diese Stufe noch hinaus zum allerhöchsten Ziel, nämlich der unmittelbaren Anschauung des Schönen an sich, der Idee oder dem Urbild des Schönen in Platons philosophischer Terminologie, dem wahren und ewigen Sein des Schönen, an dem alle übrigen und »niederen« Erscheinungsformen Anteil haben. Wir können uns fragen, wie sich Platons »Sublimationsmodell«, das uns das Begehren im fortschreitenden Aufschwung von der Liebe zum singulären schönen Körper zur allgemeinen Idee des Schönen an sich zeigt, zum bisher entwickelten und von psychoanalytischen Prämissen ausgehenden Verständnis der Sublimierung verhält. Zweifellos handelt es sich bei Platon um einen Weg der Vergeistigung, des allmählichen Übergangs vom Sinnlichen ins Nichtsinnliche. Wir wären aber hier bereits auf einer ganz in die Irre führenden Spur angelangt, wenn wir Platons Vorstellung gleichsetzen würden mit jenem »Fortschritt in der Geistigkeit«, von dem Freud spricht und worunter er einen Zuwachs an Intellektualität, an Ratio und Abstraktion versteht. Die platonische Idee ist etwas gänzlich anderes als eine begriffliche Abstraktion, sie ist etwas geistig Wesenhaftes, was der »Schau« zugänglich ist, ähnlich dem in der geistigen Anschauung gegebenen Bild der Urpflanze, von dem Goethe sprechen wird. Ebenso ist sie kein spätes Produkt eines progressiven Verfeinerungs- und Verdünnungsprozesses, sondern immer schon da, kein neu Erschaffenes, sondern im Begehren als Telos Angelegtes und schließlich Wiedergefundenes. Bereits an dieser Stelle werden tiefen Differenzen sichtbar, die Platons idealistischen Entwurf von den Prämissen psychoanalytischen Denkens trennen. Die Differenzen setzen sich dort fort, wo wir nach der in den 73 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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vorausgegangenen Überlegungen hervorgehobenen Rolle von Destruktion und Verlust im Sublimierungsvorgang fragen. Die Idealität der platonischen Konzeption bzw. der platonischen Philosophie überhaupt lässt für Negativität eigentlich keinen Raum. Der Gedanke, dass an einem früheren Ziel oder Objekt des Begehrens etwas zerstört werden müsse, um zur nächst höheren Kategorie von Ziel und Objekten zu gelangen, taucht in Diotimas Ausführungen an keiner Stelle auf. Die Transformation zu immer sublimeren Stufen der Geistigkeit vollzieht sich gleichsam sanft gleitend und ohne störenden Einfluss negierender Kräfte. Negativität macht sich am ehesten noch in der Charakterisierung des Eros selbst bemerkbar, nämlich dort, wo es von ihm heißt, dass »alles wieder von ihm fort gehe«, mit anderen Worten dass sein Wirken unter dem Zeichen des permanenten Verlustes stehe. In der stufenweisen Veredelung des Eros vom Sinnlichen zum Geistigen kommt dem Verlusterleben aber keine erkennbare Bedeutung zu. Denn das »Höhere« ist immer zugleich das »Bessere«, das das »Untere« und »Niedere« nicht nur überwunden hat, sondern gewissermaßen ideell in sich enthält. Daher kommt es, dass der Verlust von Singularität, sinnlicher Affizierbarkeit, Lust und ähnlicher Qualitäten, die mit dem »Unteren« verbunden sind, keinerlei Schmerz oder Trauer mit sich führt. Vergeistigung ereignet sich nicht als Schicksal (»Triebschicksal« bei Freud), in dem Abwesenheit, Entzug und Verzicht einen zentralen Platz einnehmen und unbewusste Transformationsprozesse in Gang setzen, sondern als Resultat von Bewusstseinsakten, als geistige Selbsterziehung, deren Ziel der Vervollkommnung in der Seele von Natur aus angelegt ist und von ihrem Begehren (Eros) daher angestrebt wird. Einmal abgesehen von seiner Kennzeichnung als ein von Mangel und Verlust geprägtes Wesen, weist der platonische Eros keinerlei destruktiven Züge auf. Diese Charakteristik steht in deutlichem Gegensatz zum Erscheinungsbild des Dämons bei den griechischen Tragikern, die das Zerstörerische, Trennende, Gewalttätige und Grausame des Eros nicht übersehen. Der Verharmlosung des Eros scheint auch Freud, der ansonsten in großer Distanz zu Platon steht, erlegen zu sein, wenn er – so in der letzten Triebtheorie – eben diesen Eros zum Inbegriff des Verbindenden, Vereinigenden und Ganzmachenden stilisiert und die gegenteiligen Qualitäten, die dem großen Dämon ebenso zugehören, dem Thanatos zuschiebt.
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Die Geburt der Musik aus dem Geiste des Verlusts – Pan und die Nymphe Man weiß nicht, welche Ironie dafür gesorgt hat, dass Sokrates, der im Symposion die progressive Sublimierung zum sittlichen und Lebensziel erklärt, der Überlieferung nach wie ein Silen oder Satyr ausgesehen haben soll: von gedrungener Statur, stupsnasig, mit breitem Gesicht und Stirnglatze. Eine Porträtbüste aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert gibt davon Zeugnis, aber mehr noch die Worte eines letzten und späten Gastes, der unangemeldet bei besagtem Symposion erscheint und eine hymnische Rede nun nicht auf Eros, sondern seinen Freund und Geliebten Sokrates hält. Alkibiades, um den es geht, vergleicht Sokrates mit dem Satyr Marsyas, und dies nicht nur der äußeren Erscheinung nach. Beide übten eine gewaltige Anziehungsmacht auf Menschen aus, Marsyas durch sein verzauberndes Flötenspiel, Sokrates in ähnlicher Weise »durch die Gewalt seines Mundes« (ebd., 215c, S. 243). Im Übrigen trage Sokrates das Bocksgewand nur als äußere Verkleidung: »Denn das hat er nur so äußerlich umgetan, eben wie jene getriebenen Silenen, inwendig aber, wenn man ihn auftut, was meint ihr wohl, ihr Männer und Trinkgenossen, wie vieler Weisheit und Besonnenheit er voll ist?« (ebd., 216d, S. 244). Platon will uns hier dazu bringen, im satyrhaften Äußeren nur eine täuschende Maskerade zu sehen, hinter der sich das Eigentliche, die philosophische Weisheit verberge – eine Gabe, die übrigens auch dem genannten Marsyas zugesprochen wurde. Aber sieht es nicht eher danach aus, als verkörpere Sokrates buchstäblich das Zusammenfallen der Pole, die im Sublimierungsverhältnis in Verbindung zueinander treten: Primitive Wildheit und sexuelle Begierde auf der einen, gezügelte Vernunft und sublime Geistigkeit auf der anderen Seite? Herkunft, Aussehen und Attribute der Satyrn oder Silene kennzeichnen diese als phallische Gesellen, deren Lüsternheit sprichwörtlich ist und die vor allem eins im Sinn haben, nämlich hinter ihren flüchtigen Begleiterinnen, den Nymphen, herzujagen und mit oder an ihnen ihre sexuellen Gelüste zu befriedigen (vgl. Kerenyi, 1966, S. 141 ff.). Die Satyrn sind trotz ihres theriomorphen Erscheinungsbildes keine Tiere, nicht die »Böcke«, als die sie bezeichnet wurden. Denn diesen ist das vollkommen Regellose des Verlangens fremd. Sie repräsentieren gerade umgekehrt den genuin menschlichen Sexus, der ohne instinktgeleitete Bindung auskommen muss und deswegen viel »wilder« ist als die im Allgemeinen 75 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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zweckmäßig regulierte Sexualität des Tieres. Wenn wir in Bezug auf das menschliche Subjekt vom »Wilden«, »Natürlichen« oder »Naturhaften« sprechen, so tun wir das allenfalls und eigentlich irreführend »in Anlehnung« an die Verhältnisse der Natur. Genaugenommen sprechen wir vom Anderen unserer symbolisch verfassten Welt, was aber etwas ganz anders ist als reale Natur. Eine etwas großzügigere Auslegung der mythologischen Überlieferung erlaubt es uns, die göttliche Schar der Satyrn und Silene als Vervielfältigung und Ausfaltung einer einzigen Götterfigur zu interpretieren, die all die bereits genannten Merkmale des begehrlich Getriebenen in sich vereint und mit noch einigen anderen kombiniert. Gemeint ist Pan, der gehörnte und bocksbeinige Sohn des Hermes, der nach seiner Geburt allen Göttern eine Freude war, unter diesen besonders dem Dionysos (vgl. Kerenyi, 1966, S. 138 ff.). Über das an seinen Artgenossen dominierende Phallische hinaus eignet Pan etwas Dunkles, Unberechenbares, Furcht- und Schreckenerregendes, worin er aber nur selten bösartig oder den Menschen gefährlich wird. James Hillman hat dem von Pan beherrschten psychologischen Wirkungsfeld eine wunderbare Studie gewidmet (Hillman, 1972). Ich konzentriere mich hier allerdings nur auf den einen Aspekt seines Treibens, der im Kontext unseres Versuchs, den Sublimierungsvorgang besser zu verstehen, von luzider Anschaulichkeit ist. Die Geschichte ist von einfacher Struktur und schnell erzählt. Von sexueller Begierde getrieben, verfolgt Pan wieder einmal eine Nymphe. Syrinx, so deren Name, entflieht ihm und verwandelt sich in ein Schilfrohr. Pan, der nicht zum ersten Mal die Vergeblichkeit seiner Jagd eingestehen muss, schneidet das Schilfrohr und verfertigt daraus eine aus mehreren miteinander verbundenen Schilfrohrstücken bestehende Flöte, die Syrinx. Fortan sieht oder hört man den Gott auf einem Hügel oder im schattigen Hain sitzend auf der Hirtenflöte spielen. Kann uns das, was Sublimierung meint, sinnenfälliger und überzeugender vor Augen geführt werden? Das sexuelle Begehren scheitert. Es erreicht weder sein primäre Ziel noch Objekt. Es scheitert, indem das Objekt »verloren geht«, es »erstirbt« im Schilfrohr, was vielleicht auch für eine Nymphe nicht das glücklichste Schicksal ist. Der Prozess geht jedoch weiter, ja tritt unter dem Gesichtspunkt des Sublimierungsvorgangs in seine entscheidende Phase. Pan gibt nicht auf, sondern schneidet das Schilfrohr, womit der sozusagen destruktive Abschnitt des Transformationsgeschehens eingeleitet wird. Nach dem Abtrennen des Rohres erfolgt dessen Zerkleinerung, ein regel76 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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rechter Akt der Zerstückelung, der unterschiedlich große Teile zurücklässt. Diese werden schließlich einer neuen, nun »künstlichen« Synthese unterzogen, das heißt in einer geordneten Abfolge miteinander verbunden, woraus das Musikinstrument, die Flöte entsteht. Die Endstufe der Sublimierung wird mit der Herstellung von Tönen und Tonfolgen erreicht, einer Musik, deren wehmütig-melancholischer Klang das verlorene Objekt vergegenwärtigt. Das Mythologem von Pan und der Nymphe unterstreicht in einzigartiger Weise die Bedeutung destruktiver, auflösender Prozesse bei der Transformation von sinnlichkeitsgebundenem Begehren in musische Kreativität. Aus der Liebe zum schönen Körper wird die Liebe zur Schönheit der Musik und zum Hingegeben-Sein an diese. Aber diese Umwandlung geht nicht ohne Arbeit des Negativen vonstatten. Die Transformation – und hier setzt ein verbreitetes Missverständnis an – hat nichts zu tun mit dem zyklischen Wechsel von Untergang und Wiedergeburt, wie er für die Gottheiten von Vegetation und Fruchtbarkeit typisch ist. Vielmehr handelt es sich hier um die Herstellung eines völlig neuen Zustandes, der nicht reversibel ist. Der neue »Leib« der Nymphe, die Flöte bzw. die mit ihrer Hilfe erzeugte Musik, hat keine Ähnlichkeit mehr mit der ursprünglichen Seinsform, kaum noch mit der des Schilfrohres. Diese neue Seinsform ist eine künstliche und dadurch zustande gekommen, dass die ursprüngliche sinnlich-lebendige Substanz des Begehrens verlorengegangen, durch den Tod gegangen ist, darin aufgelöst und umgearbeitet wurde. Dieser zentrale Aspekt der Künstlichkeit des Neuen wird uns in den nachfolgend zu besprechenden mythologischen Gestaltungen wieder begegnen.
Zerstückelungen: Osiris – Dionysos – Christus 1. Osiris: Vom Totenköper zum Textkörper Die Ägypter kannten einen sehr alten Mythos, der vom Schicksal des Osiris und dessen Schwester und Ehegattin Isis handelt. Die Geschichte existierte wohl ursprünglich in Form vereinzelter Episoden und wurde später von Plutarch, der sie von ägyptischen Priestern direkt vernommen haben will, in eine kohärente novellistische Fassung gebracht (Plutarch, 1967). Auch hier werde ich mich wieder auf die für unsere Thematik relevanten Aspekte konzentrieren. 77 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Osiris herrschte anfänglich als Gottkönig wohltätig über das Land und die Menschen. Dies erregte den Neid seines Bruders Seth (Typhon), der ihn deswegen zu beseitigen trachtete. Der Mordanschlag war erfolgreich, doch Isis gelang es, den Leichnam ihres Bruders in Sicherheit zu bringen. Daraufhin unternahm Seth einen zweiten Angriff. Er zerstückelte den Körper des Osiris in vierzehn Teile und verstreute diese im ganzen Land. Nachdem Isis dies gehört hatte, machte sie sich auf den Weg, sammelte die Teile ein und setzte mit Unterstützung einiger anderer Götter den Körper des Osiris wieder zusammen. Ein einziges Teilstück, der Phallus, fehlte jedoch. Auf diese Weise war mit Osiris die erste Mumie entstanden. Der Tote übertrug seine irdische Macht auf seinen zwischenzeitlich geborenen Sohn Horus und zog sich in die Unterwelt zurück, wo er fortan als Totengott residierte. Zu ergänzen ist, dass sich nach altägyptischem Glauben jeder Pharao nach seinem Tode und sofern er ordnungsgemäß nach den rituellen Vorschriften bestattet worden war, in einen Osiris verwandelte, sich mit dem Totengott gewissermaßen vereinte. Später egalisierte sich dieses Vorrecht und galt für jeden verstorbenen Menschen. Natürlich interessiert uns an dieser mythologischen Erzählung vornehmlich das Motiv der Zerstückelung, die metaphorische Erscheinungsform der Arbeit des Negativen, und die damit einhergehende Transformation. Irgendwie sieht es ja so aus, als sollte mittels dieser Zerteilung der an sich schon Tote noch »toter« gemacht, also eine Art zweiter und endgültiger Tod herbeigeführt werden. Der Vorgang würde so verstanden der Tendenz des Todestriebes folgen, der nach Freud das Ziel hat, »Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören« (Freud, 1940a, S. 71), und zwar auch das schon Tote noch weiter zu zerstören, bis es in anorganische Partikel zerfallen ist. Der angedeutete Aspekt eines zweiten und endgültigen Todes bedarf indes noch besonderer Beachtung und wird in einem späteren Abschnitt wieder aufgenommen. Zur definitiven Vernichtung, der Auflösung des Stoffes in der Erde, kommt es jedoch nicht, dank des Einsatzes der Isis, die den zerstückelten Körper, die membra disiecta, wieder zusammensetzt. Es kommt hier also wieder ein verbindendes, synthetisierendes, folglich eroshaftes Element ins Spiel, was aber keineswegs zur Wiederherstellung des status quo ante führt. Der neu zusammengesetzte Leichnam ist nun ein künstlicher Toten-Körper (zur künstlichen Neuzusammensetzung der durch den Tod dissoziierten Person bei den Ägyptern 78 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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siehe Assmann, J., 2010, S. 116 ff.). Und man mag die Vorstellung entwickeln – und diese Vorstellung wird durch alte Darstellungen tatsächlich verifiziert –, dass er als neuer ganzer Leib die Spuren der Dissoziation beibehält: die Schnittlinien, die die Fragmente erkennbar trennen und verbinden. Es erscheint mir folglich nicht vermessen, den gesamten Vorgang als Bild des Übergangs vom Sinnlich-Stofflichen ins Symbolisch-Geistige zu interpretieren. Der neue Körper ist der Textkörper, der von Signifikanten strukturierte Körper, der von den Spuren der Differenz durchzogen ist (dazu Sell & Küchenhoff, 2015). Zu all dem passt, dass légein wie das lateinische legere, also »lesen«, die Grundbedeutungen »auflesen«, »einsammeln«, auch »versammeln« aufweist. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch das Fehlen des Phallus. Das »Jenseitige«, Symbolische ist Träger eines zentralen Mangels. Jacques Lacan wird davon sprechen, dass der »phallische Signifikant«, der gewissermaßen die symbolische Ordnung zusammenhält, eine Leerstelle repräsentiert, den Ort der Abwesenheit und des Mangels. Was die Deutung des mythologischen Geschehens als Sublimierungsvorgang unterstützt, ist die »Verlegung an einen anderen Schauplatz«, den der Unter- oder Totenwelt. Osiris wird zum Herrscher des Totenreiches, das heißt der Sphäre des Nichtsinnlichen, des den Sinnen Entrückten. Er gebietet dort nun über die Abwesenden, die Schar der aufgegebenen und verlorenen Objekte. 2. Dionysos: Die sublime Gabe des Weines Im altgriechischen Kulturkreis treffen wir auf einen weiteren namhaften Zerstückelungs-Mythos. Die Überlieferung ist von hohem Komplexitätsgrad und umfasst unterschiedliche Versionen der Geschichte. Ich konzentriere mich hier auf den Bericht der Orphiker, der im Wesentlichen der Folgende ist (vgl. Kerenyi, 1966, S. 202 f.). Zeus hatte mit Persephone, der Unterweltsgöttin, einen Sohn gezeugt, Dionysos, der der erste genannt wird. Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, schickte gedungene Mörder aus, um das Kind töten zu lassen. Die Titanen, Angehörige eines alten, längst gestürzten Göttergeschlechts, kamen mit weiß gefärbten Gesichtern aus der Unterwelt, stürzten sich auf den spielenden Knaben und zerteilten seinen Körper in sieben Stücke. Danach kochten, brieten und verzehrten sie die Stücke. Zeus, vom Duft des Fleisches angelockt, warf mit seinem Blitz die Titanen in den Tartaros zurück. Das vom Blitz ver79 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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ursachte Feuer verbrannte auch die restlichen Teile des DionysosKindes. Aus der zurückgebliebenen Asche soll Prometheus die Menschen gebildet haben. Und es hieß auch, dass auf der Asche später ein Weinstock gewachsen sei. Eine etwas anderen Version der Geschichte zufolge wurden die zerteilten und gekochten Glieder des Dionysos von den Titanen in der Erde versenkt. Demeter – eine Ersetzung für Persephone – habe die Glieder aber wieder eingesammelt, und aus ihnen sei der Weinstock entstanden. Berichtet wird auch, dass nur ein einziger Körperteil des Dionysos der Vernichtung entgangen sei: der Phallus. Diesen habe Zeus zu sich genommen und einer Göttin anvertraut. Der aus Feigenholz verfertigte Phallus taucht im späteren Dionysos-Kult auf, wo er von den Thyiaden, den Anhängerinnen des Gottes, wieder zum Leben erweckt wird. Die Phänomenologie der Zerstückelung und der daran anschließenden Transformation weist im Dionysos-Mythos auffällige inhaltliche und strukturale Ähnlichkeiten mit der im Osiris-Stoff auf. Hier wie dort geht die Zerstörung von einem negativen Prinzip aus, bei Dionysos von den bleichgesichtigen Agenten einer älteren Macht, die Heras Neid- und Eifersuchtsgefühle exekutieren. »Der Hass ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe«, meint Freud (1915c, S. 232), und man könnte geradezu von einer kleinianischen Szenerie sprechen, in der allerdings nicht das Kind, sondern die Mutter einem neiderfüllten mörderischen Angriff ausgesetzt ist. Auch dieses Mal scheint es darum zu gehen, den Tod zu einem endgültigen zu machen. Es reicht nicht, den kleinen Dionysos zu töten und zu zerstückeln, die Teile müssen auch noch zubereitet und verschlungen werden – von den Titanen selbst oder der Erde, was auf dasselbe herauskommt. Merkwürdigerweise bringt der Götter-Vater selbst in seiner Rettungsaktion die Sache zum äußersten Ende, indem er nämlich die organischen Teilstücke im Feuer seines Blitzes zur Asche verbrennt. Asche besteht aus anorganischer Materie und repräsentiert damit genau jenen pulverisierten Endzustand, den nach Freuds Lehre der Todestrieb anstrebt: Auslösung der Zusammenhänge und Rückführung ins Anorganische. Daneben weiß man, dass Asche aufgrund des hohen Mineralgehalts die Fruchtbarkeit von Böden erhöht. Was also bleibt von Dionysos? Eine Restitution zur integralen Ganzheit findet nicht statt, nicht einmal in Form des neuen künstlich zusammengesetzten Leibes wie bei Osiris – obgleich wir auch hier von einer Mutter-Figur hören, die die verstreuten Teile »einsammelt«. Diony80 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sos verwandelt sich in Wein. »So lehrten auch die Anhänger des Orpheus: Die letzte Gabe des Dionysos sei der Wein gewesen, und nannten ihn selbst Oinos, ›Wein‹« (Kerenyi, 1966, S. 200). Der Wein ist demnach die durch den Tod gegangene und auf diesem Wege sublimierte Gestalt des Dionysos. Genauer noch müsste man sagen: Das eigentliche Sublimierungsergebnis ist der Geist, der sogar dem sehr viel späteren Volksmunde nach im Wein wohnt, der Geist, der in der durch den Wein hervorgerufenen dionysischen Be-geisterung zum Ausdruck kommt und von der Anwesenheit des Gottes kündet. Es ist die durch den Geist vermittelte Anwesenheit eines Abwesenden. Dass die Sinnennähe des Gottes nicht über seine absolute Jenseitigkeit hinwegtäuschen darf, dass der tote Dionysos wie Osiris auch ein Totengott und Gott der Toten ist, belegt ein Fragment des Heraklit: »Wenn die Leute nicht zu Ehren des Dionysos diese Prozesse veranstalteten und das Phalloslied sängen, dann wäre es wahrhaftig ein schamloses Treiben. Ist doch Hades und Dionysos, dem zu Ehren sie rasen und schwärmen, ein und derselbe« (Capelle, 1968, S. 137). 3. Christus: Das auferstandene Wort Noch offenkundiger, als wir dies bezüglich der Nähe von Dionysos und dem ägyptischen Osiris angetroffen haben, treten die Parallelen zwischen Dionysos und der biblischen Christusgestalt hervor – eine »Familienähnlichkeit«, die in den Religionswissenschaften längst bemerkt worden ist. Neben den Motiven des verfolgten und sterbenden Gottes ist da vor allem die auffällige Identifikation mit dem Weinstock und folglich mit dem Wein, die Christus von sich aussagt: »Ich bin der wahre Weinstock, …« (Joh 15, 1). Man könnte deuten, dass Christus die Sublimierungsstufe des Weines bereits erreicht hat – und darüber hinausgeht. Worin besteht das Mysterium der Wandlung, die er durchläuft, womit ich in diesem Fall nicht die Transformation von Brot und Wein in Fleisch und Blut des Gottessohnes meine? Die Zerstückelung bleibt im christlichen Mythos nur angedeutet durch das Kreuz, das den daran aufgehängten Körper symbolisch vierteilt. In der Erde wird auch er versenkt, aber was dann geschieht, ist, soweit mir bekannt, in der Geschichte der Religionen neu und einzigartig. Durch einen Prozess, der im Grabe stattfindet, wo eigentlich Verwesung und Zerfall einsetzen müssten – oder hat die todestriebhafte Auflösung ins Anorganische vielleicht im Zeitraffer stattgefunden? – wird dieser stoffliche tote Leib komplett umgewandelt in 81 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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einen »verklärten«, wie es heißt, einen Geistleib also, der nur noch die Form des ehemaligen Körpers aufweist, alles Stoffliche jedoch abgelegt hat. Der Vorgang stellt natürlich eine direkte Analogie zum dreitägigen Todesschlaf der Mysten bei der Einweihung in die vorchristlichen Mysterien dar, mit dem einen Unterschied allerdings, dass diese ihren natürlichen Körper behielten und lediglich der Kunde nach eine radikale seelisch-geistige Sublimierung durchliefen, durch die sich ihr Begehren von allen stofflich-sinnlichen Zielen und Objekten ein für alle Mal ablöste. Der Todesschlaf Christi steigert den Sublimierungseffekt bis ins Äußerste, indem er auch noch die physische Leiblichkeit des Subjektes einschließt. Aber auch damit ist der Prozess noch nicht an sein Ende gekommen. Der Geistleib weist immer noch eine figürliche Gestalt auf, er kann erscheinen und er kann, mit welchen Augen auch immer, gesehen, ja sogar mit Händen berührt werden. Die an den ungläubigen Thomas gerichteten Worte »Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben« (Joh 20, 29) zeigen jedoch an, dass es noch eine weitere Stufe der Geistigkeit zu erklimmen gibt. Diese Stufe wird erreicht mit dem Entzug auch des pneumatischen Leibes bei der Himmelfahrt und schließlich in eigentlicher Vollendung mit dem Pfingstereignis. An die Stelle eines auf noch so sublimer Ebene anzutreffenden Sichtbaren tritt nun eine rein symbolische Präsenz: die des Heiligen Geistes. Und es ist doch bemerkenswert, dass dieser Geist die Schar der zurückgebliebenen Jünger buchstäblich im Sprachzentrum erreicht: »Und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Zungen zu sprechen; jeder sprach das aus, was der Geist ihm eingab« (Apg 2,4). Dies taten sie wie im Rausch und mit einer solchen Begeisterung, dass einige der verwunderten Zuhörer glaubten, sie seien »trunken von süßem Wein« (ebd. 2,13). Das hat nichts anderes zu bedeuten, als dass der letzte Sublimierungsschritt die Stufe einer wie auch immer gearteten Sichtbarkeit hinter sich lässt und übergeht in die Form des aus einem universalistischen Geist gesprochenen und hörbaren Wortes. Es gleicht der Vorwegnahme dessen, was in der Weltalter-Lehre des Joachim von Fiore als »Zeitalter des Heiligen Geistes« vorhergesagt wird, jenes Stadium, das nach der Deutung des italienischen Postmodernisten Gianni Vattimo als die Zeit des auferstandenen Logos, des symbolischen Diskurses, der Geistigkeit des Wortes zu interpretieren ist (vgl. Vattimo, 2004, S. 40 ff.).
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C. G. Jung und der alchemistische Mythos der Sublimierung Jung hat die Freud’sche Sublimierungstheorie immer abgelehnt, was mit seinem von Anfang an bestehenden Vorbehalt gegen den sexuellen Libido-Begriff zusammenhing. Nach langem Hin und Her in dem Versuch, die inkompatiblen Sichtweisen zusammenzuführen, legte Jung zunächst in Wandlungen und Symbole der Libido (Jung, 1912– 13) und anschließend in Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie (Jung, 1913) eine revidierte Fassung des Libido-Begriffs vor, die jedoch theoretisch inkonsistent blieb. In dem 1953 erschienen Werk Symbole der Wandlung (Jung, 1952), das eine von freudianischen Anklängen und Resten »gesäuberte« Neubearbeitung der Wandlungen und Symbole darstellt, lassen sich die mehrfach modifizierten Stufen und Ergebnisse von Jungs Libido-Konzeption nachvollziehen. Interessant für den vorliegenden Sachzusammenhang ist Jungs Idee, wonach die Libido als neutrale, inhaltlich unbestimmte psychische Energie zu verstehen sei, deren Manifestationen ein Kontinuum von sinnlich-körperlichen bis zu höheren geistigen »Anwendungsformen« bilden (vgl. Jung, 1952, S. 174). Die Überleitung der Libido von einer Realisierungsform auf die andere erfolge mit Hilfe des Symbols, das seinerseits Erscheinungsweise einer der Psyche inhärenten archetypischen Struktur ist. Letzten Endes sind es die archetypischen Konfigurationen und Bilder des Unbewussten, welche der Libido Inhalt und Richtung geben. Damit wird der inneren Determination und Regulation der Libido-Entwicklung der Vorrang eingeräumt vor äußeren Momenten (Hindernissen der direkten Triebbefriedigung, Versagungen, Kastrationsangst), die bei Freud von entscheidender Bedeutung sind. Als problematisch erweist sich das Konzept einer von Jung als »Appetitus« oder »Lebenstrieb« (!) apostrophierten psychischen Energie, von der der Autor nicht zu sagen vermag, aus welcher Quelle sie stammt und wie man sich – jenseits triebhafter Bestimmung – ihre Beschaffenheit vorzustellen hätte. Es verwundert daher nicht, dass Jung am Ende, und das heißt bereits in der Schrift Über die Energetik der Seele zu einem vollkommen abstrakten physikalistischen Libido- bzw. Energie-Begriff Zuflucht nimmt, der sich nur noch aus innerpsychischen »Potentialdifferenzen« herleitet (vgl. Jung, 1928). Wie ein Beispielfall Hegel’scher Ironie muss es erscheinen, wenn die verworfene oder zumindest unterschätzte Bedeutung der Sexualität in Jungs Lebenswerk auf einem Gebiet wiederkehrte, dem er die 83 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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größten Teile seines Altersschaffens gewidmet hat. Dies ist das Gebiet der spätmittelalterlichen Alchemie, deren esoterische Ideen- und Bilderwelt Jung von den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an tiefgründigen psychologischen Analysen unterzog. Der vom Einfluss der jüdischen Kabbalisten geprägte alchemistische Symbolismus ist durchweg von erotisch-sexueller Art. Er handelt gewissermaßen von Liebesbeziehungen zwischen Substanzen (Stoffen), die sich anziehen, vereinigen, trennen und wieder vereinigen, und aus deren Wandlungen neue Substanzen, höhere und feinere hervorgehen, bis hin zum edelsten, sublimen Endprodukt und Ziel des alchemistischen Opus, das in der Herstellung von Gold oder der Erlangung des lapis philosophorum erreicht wird. Die alchemistische Metaphorik wechselt spielend leicht zwischen Paarungen materieller Substanzen und gegengeschlechtlicher Personifikationen (Mann-Frau, König-Königin, Bruder-Schwester), zwischen sinnlicher und nichtsinnlicher Bedeutungsebene, so dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Alchemist nicht, wie Jung meint, unbewusste seelisch-geistige Inhalte in den Stoff projizierte, sondern in Stoff und Geist, Sinnlichem und Nichtsinnlichem das Eine der Zweien erkannte. Die offen inzestuösen und bisexuell-hermaphroditischen, »polymorph-perversen« Elemente der alchemistischen Metaphorik imponieren wie Illustrationen zu Freuds Sexualtheorie, und man kann sich vorstellen, weshalb Jung trotz anhaltender Faszination den »primitiven Sexualismus« der Darstellung zuweilen als abstoßend empfand und ihn dementsprechend auch auf einer rein symbolischen Bedeutungsebene ansiedelte (vgl. Jung, 1946). Offensichtlich ist, dass die alchemistische Prozedur in psychologischer Hinsicht einen stufenweisen Sublimierungsvorgang beschreibt, einen Prozess fortschreitender »Verfeinerung«, der charakteristische Merkmale aufweisen muss, um zum Erfolg zu führen. Eine dieser Bedingungen des Gelingens ist die kontinuierliche Zufuhr von Wärme, was, ins Psychologische übersetzt, auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer libidinös-erotischen »Betriebstemperatur« hinweist. Eine zweite Bedingung ist von gegenteiliger Art und die für den vorliegenden Diskussionszusammenhang eigentlich interessante. Es ist die Bedingung vollständiger Zerstörung der Ausgangssubstanzen, durch die die angestrebte Transformation erst ermöglicht wird. Die alchemistischen Traktate nenne diese Prozessphase die der morteficatio, was im Deutschen so viel wie »Tötung« bedeutet (vgl. Edinger, 1990, S. 185 f.; Lesmeister, 1992, S. 111 ff.). 84 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Charakteristischerweise tauchen hier die uns bereits bekannten Bilder der Zerteilung und Zerstückelung auf. Die Imago des zerstückelten Körpers kann dabei auch durch eine vollständige Auflösung in Wasser zustande kommen. Die Destruktion endet jedoch nicht bei der Zerstückelung, sondern setzt sich fort in der Phase der putrefactio, womit Faulung und Verwesung im Grab gemeint sind. Man sieht deutlich, dass mit diesen Metaphern eine todestriebhafte Dynamik angesprochen ist, die ganz im Sinne Freuds auf einen absoluten energetischen Nullpunkt zutreibt. Die destruktiven Mechanismen schließen ab mit der nigredo, einem Zustand von Schwärze, Depression und leerem Nichts, der in Hegels Rede von der »Nacht der Welt« eine adäquate Entsprechung findet (Hegel, 1988, S. 172). Erst von dorther kann der Sublimierungsakt gleich einer creatio ex nihilo als Neubeginn einsetzen.
Schlussfolgerungen Die den Feldern der Mythologie und der religiösen Verkündigung entlehnten Erzählungen dienten dem Zweck, die Bedeutung von Destruktions- und Zerfallsprozessen im Kontext derjenigen Phänomene zu exemplifizieren, die man im weitesten Sinne als solche der Sublimierung ansehen darf. Unter psychoanalytischer Perspektive wäre damit der hohe Stellenwert der todestriebhaften Dynamik verifiziert, die mit Freuds Formulierung danach strebt, »Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören« (Freud, 1940a, S. 71). Dieser Sachverhalt verändert das Gewicht, das Freud in seiner Definition der Sublimierung auf den Aspekt der Verschiebung legt. Bei der Sublimierung handelt es sich im Wesentlichen nicht um einen Verschiebungs-, sondern um einen Umwandlungsvorgang, der durch die Arbeit des Negativen gekennzeichnet ist. Metapsychologisch bedeutet dies, dass die Umwandung von Objekt- in Ichlibido mit einem Dazwischentreten von Destruktivität verbunden ist. Was zum Ich »zurückkehrt«, muss auf diesem Wege sein ursprüngliches Sein aufgeben, »sterben«. Dass sich die transformierte (sublimierte) Energie (Libido) neue Ziele und Objekte sucht, ergibt sich von selbst, nämlich aus der nun veränderten qualitativen Beschaffenheit des Begehrens. Dazu ist keine Verschiebung erforderlich. Wenn man sagt, dass Sublimierung eine Weise der Vergeistigung darstellt, dann entsteht dieses Geistige nicht neben- und außer85 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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halb, sondern genau innerhalb dieser Negativität. Oder noch stärker formuliert: Geist ist die Form der Negativität, die immerfort an der Zerstörung des biologisch und materiell Gegebenen, der sinnenfälligen Positivität arbeitet. Dieses Resultat entspricht der Auffassung Hegels, die in den viel zitierten Sätzen der Phänomenologie des Geistes ihren prägnanten Ausdruck findet: »Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, was, was die Kraft erfordert … Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht …, sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt« (Hegel, 1988, S. 26).
Es mag ungewohnt und vielleicht auch unbequem anmuten, sich den Prozess der Kultivierung sowohl auf individueller wie kollektiver Ebene als einen Prozess unentwegten Abbaus vorzustellen, als ständige Zerstörung von etwas naturhaft Gegebenem, als ständigen »Mord an der Sache« (Lacan). Es reicht nicht, den Zerstörungsakt nur einmal zu begehen. Er muss ständig wiederholt werden, und zwar der Sublimierung wegen. Genau darin liegt ja die Bestimmung, die Freud dem Todestrieb verleiht, der von Beginn an das natürliche Leben permanent abbaut, bis er es am Ende aufgezehrt hat. Man bekommt von diesem Zerstörungsvorgang so gut wie nichts mit, denn die Todestriebe sind »stumm« und der »Lärm des Lebens geht vom Eros aus« (Freud. 1923b, S. 275). Der Lärm des Lebens – das sind die kulturell-zivilisatorischen Schöpfungen und Ereignisse, denen man die im Verborgenen vonstattengehende Abbauarbeit der Todestriebe nicht ansieht. Freud steht mit seinem in Totem und Tabu entfalteten Mythos nicht alleine da. Sein Ursprungsmythos der Kultur reiht sich ein in die lange Liste von Erzählungen, die übereinstimmend von Gewalttaten als Gründungsereignissen kultureller Entwicklung berichten, handele es sich dabei um Vatermord, Brudermord oder andere Spielarten gewaltsamer Übertretung (vgl. Siegel, 1998). Ich bin der Ansicht, dass solche Erzählungen hochverdichtete Symbolisierungen eines Geschehens darstellen, das sich gewissermaßen am Grunde der symbolisch-kulturell verfassten Welt fortgesetzt ereignet oder, anders ausgedrückt, »in unvordenklicher Zeit« immer schon ereignet 86 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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hat. Sie beschreiben die Konstitutionsgeschichte des verlorenen Objektes, eines Objektes der ursprünglichen Fülle, der Unmittelbarkeit und vollen Präsenz, mit anderen Worten eine phantasmatische Bildung, die auf dem Boden von Getrenntheit und symbolischer Ordnung überhaupt erst entstehen kann. Führt man solche Überlegungen noch ein Stück weiter in Richtung der Psychoanalyse Lacans, dann gelangt man zu einer nochmals veränderten Sicht auf das Wesenhafte der Destruktion im Inneren des Sublimierungsphänomens. Es handelt sich eben nicht nur um den Verlust des Stofflich-Körperlichen im Übergang zum Symbolisch-Geistigen, sondern viel elementarer noch um den Schnitt, der die Abtrennung vom Realen im Verständnis Lacans vollzieht. Dieses Reale ist nicht identisch mit der sinnlichen Realität. Es ist das an den Dingen, was weder vorstellbar noch sagbar ist, ihr nacktes Sein, wenn man so will. Für dieses Reale mag in der individuellen Entwicklung anfänglich der Körper der Mutter stehen, aber auch das ist schon wieder ein Bild, eine Vorstellung. Das Neugeborene wacht bereits in einem symbolisch verfassten Universum auf. Und mit dem destruktiven Schnitt, der die Nabelschnur durchtrennt, ist der Verlust des Realen sozusagen rituell besiegelt. Es liegt nahe, diese Zerteilung mit dem nachfolgenden ersten Schrei des Neugeborenen – der Artikulation des ersten Signifikanten nach Lacan – als primordiales Schema aller kommenden Sublimierungen anzusehen.
Sublimierung und Todestrieb bei Jacques Lacan Der Begriff des Realen bringt uns im nächsten Schritt zur Deutung der Sublimierung und des Todestriebes in der Psychoanalyse Jacques Lacans, auf die punktuell immer wieder Bezug genommen worden ist. Beide Konzeptionen, sowohl die der Sublimierung wie die des Todestriebs, weichen bei Lacan deutlich von Freuds originären Auffassungen ab. Es bedarf daher vorab einiger inhaltlicher Klarstellungen. Für Lacans Verständnis der Sublimierung ist entscheidend, dass sich bei der Sublimierung die überschüssige sexuelle Libido nicht, wie Freud meint, ein anderes Objekt wählt, sondern dass sich am Objekt, welches dasselbe bleibt, etwas verändert. Das Objekt erhält gewissermaßen einen neuen Status innerhalb der Phantasie und des Begehrens des Subjekts. Lacans kurzgefasste Definition lautet: »Die allgemeinste Formel, die ich Ihnen von der Sublimierung gebe, ist 87 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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diese – sie erhebt ein Objekt … zur Dignität des Dings« (Lacan, 1996, S. 138). Was bedeutet für Lacan das Ding? Lacan verwendet diesen Ausdruck in seinem großen Seminar über Die Ethik der Psychoanalyse (Lacan, 1996, S. 56 ff.). Der Ausdruck bezeichnet dasjenige, »was im Innersten der Libidoökonomie« (ebd. S. 138) anzutreffen ist, das Reale, das sich jeder Repräsentation in den Registern des Symbolischen und Imaginären (der »Wort- und Sachvorstellungen«) entzieht. Das Ding ist nicht identisch mit dem Objekt, es bezeichnet vielmehr – wenn man eine spätere Formulierung Lacans heranziehen will – die Objektursache des Begehrens, also das am oder im Objekt, was dieses im Letzten begehrenswert macht, jedoch vom in die symbolische Ordnung eingerückten Begehren nie erreicht werden kann. Man darf sich darunter also nicht unbedingt etwas konkret Physisches vorstellen, wobei der physische Körper natürlich Ding-Qualitäten haben kann und hat. Entwicklungspsychologisch betrachtet, verbirgt sich hinter dem Ding der Körper der Mutter als Ausdruck eines Ur-Realen. Dieser verkörpert buchstäblich das »Höchste Gut(e)«, das wir in seiner Reinform aber gar nicht ertragen könnten, das uns vielmehr vernichten würde. Wenn Lacan nun von der »Dignität des Dings« spricht, dann meint er, dass die Sublimierung darin besteht, dass der von dieser Urgestalt des höchsten Guten abgeleiteten »Wert« am Objekt erscheint und dieses zum sublimen Objekt des Begehrens macht. Entsprechend der klassischen Trias lassen sich alle Sublimierungen drei Kategorien zuordnen: dem Guten, dem Wahren und dem Schönen. Im Guten erscheint die ethische Variante der Sublimierungen, im Wahren die epistemologische und im Schönen die ästhetische. Wir haben uns dabei immer vor Augen zu halten, dass es im Realen immer auch die Rückseite dieser Positivität gibt. Im Ding sind das Gute und Böse, das Wahre und das Falsche, das Schöne und das Hässliche auf »undenkbare« Weise eins. Man darf hier an Rilkes Zeilen aus den Duineser Elegien erinnern (Rilke, 1984, S. 441): »… Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.«
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Lacans Verständnis der Sublimierung, das ich in knappen Umrissen nachgezeichnet habe, deutlich von Freuds Vorstellungen abweicht. Insbesondere umgeht er die von Freud postulierte Umwandlung von Objekt- in Ichlibido, 88 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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wodurch er vermeidet, dass die Sublimierung zu einem ganz und gar narzisstischen und folglich im Register des Imaginären verorteten Phänomen wird. Seine eindeutige Akzentuierung der Objektseite unterscheidet sich aber auch prägnant von der von mir vertretenen These, wonach es bei der Sublimierung zu einer Veränderung in der Beschaffenheit, der »Qualität« der Libido bzw. des von ihr gespeisten Begehrens kommt. Dieser Aspekt erscheint mir nach wie vor kontrovers diskutierbar. Ich würde hier immer noch dafür eintreten, dass sich das Begehren bei der Lösung eines wissenschaftlichen Problems oder der Hervorbringung eines Kunstwerkes signifikant anders darstellt und anfühlt als das Begehren nach körperlicher Vereinigung und Befriedigung mit einem Sexualpartner. Man sollte allenfalls in Begriffen von Analogie oder Ähnlichkeit reden, was allerdings durchaus sehr weit gehen kann. So weiß man von dem Komponisten und Dirigenten George Gershwin, dass er die Aufführung einer Sinfonie wie den Sexualakt mit einer Frau erlebte. Ich nehme aber nicht an, dass er dabei die ganze Zeit über genital-sexuelle Empfindungen und Reaktionen verspürte. Um die Andersartigkeit zu erklären, reicht es nicht, das Objekt in ein anderes Register zu rücken. Denn die Musik ist nun einmal nicht die Frau. Den Gedanken, dass in der Sublimierung die »Dignität« des Realen (des Dings) am Objekt aufscheint, halte ich für außerordentlich luzide. Allerdings kann dies beim nicht sublimierten (sinnlich-sexuellen) Begehren genauso gut der Fall sein. Denn was anderes macht denn die sinnliche Faszination des sexuellen Körpers aus als jenes unsagbare Etwas, für das Lacan den Namen des Dings eingeführt hat? Die Annahme, dass die Libido selbst eine Transformation durchlaufen muss, um sich auf »feinere« Objekte und Ziele richten zu können, bleibt demnach unwiderlegt und geradezu zwingend. Auch zu Freuds Konzeption des Todestriebes nimmt Lacan eine eigenständige Position ein (Lacan, 1996, S. 248 ff.). Zunächst betont er die zentrale Bedeutung der Idee des Todestriebes in Freuds Denken und hebt die Tatsache hervor, dass man dieses Denken, ohne den Todestrieb anzuerkennen, nicht wirklich verstehen könne. Dann nimmt er aber eine Differenzierung vor, die sich bei Freud so nicht findet. Dessen Ansicht, wonach der Todestrieb diejenige Triebkraft sei, die das Lebendige auf den anorganischen Gleichgewichts- und Nullpunkt der Leblosigkeit zurückführen wolle, weist er als unsinnigen bzw. für die Psychoanalyse irrelevanten Biologismus zurück. Der eigentliche Todestrieb sei, wie jeder Trieb, eine kulturell-historische Schöpfung, 89 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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jenseits der Natur der biologischen Evolution gelegen, nur denkbar innerhalb der symbolischen Ordnung der Signifikanten. Gleichzeitig hält Lacan aber daran fest, dass man den Todestrieb als reinen Destruktionswillen zu verstehen habe – dem hier überraschend eingeführten Begriff des Willens misst er keine besondere Bedeutung bei. Er schreibt: »Der Trieb als solcher, und sofern er eben Destruktionstrieb ist, muss jenseits der Tendenz zur Rückkehr zum Unbelebten liegen. Was aber kann er dann sein? – wenn nicht Wille zur direkten Zerstörung … Destruktionswille. Ein Wille, aufs Neue wieder anzufangen. Ein Wille zu etwas Anderem, insoweit alles in Frage gestellt werden kann von der Funktion des Signifikanten aus« (ebd. S. 256 f.).
Der Destruktionstrieb »stellt alles in Frage, was existiert. Ebenso ist er jedoch Wille zur Schöpfung aus dem Nichts, Wille zum Wiederbeginn« (ebd. S. 257). Der Todes- oder Destruktionstrieb verfolgt also das Ziel, die jeweils bestehende Ordnung der Signifikanten (der kulturellen Bedeutungen, des Sinns, der Wahrheit) vollständig auszulöschen, und zwar um die Voraussetzungen für einen radikalen Neubeginn zu schaffen. Man könnte das so formulieren, dass die Bestrebung des Todestriebes darin besteht, sich so weit wie nur möglich dem Realen anzunähern, was in Lacans Verständnis auch heißt, sich der Leere, dem Nichts anzunähern, um von diesem Nullpunkt der Signifikation aus einen Neubeginn als creatio ex nihilo zu ermöglichen. Darin liegt der radikale Gedanke Lacans: dass sich die kulturelle Produktion einschließlich des kulturellen Produzenten – des Subjekts – als Schöpfung aus dem Nichts einstellt, die »die Organisation des Signifikanten in die natürliche Welt einführt« (ebd., S. 259). Der Ort, auf den sich der Destruktionstrieb zubewegt, liegt folglich »am Ursprung der signifikanten Kette, ein Ort, an dem alles in Frage gestellt ist, was Ort des Seins ist, ein auserwählter Ort, an dem sich die Sublimierung herstellt …« (ebd., S. 259, kurs. v. Verf.). An dieser Stelle tritt in großer Klarheit hervor, wie eng und essentiell Lacan die Entstehungen der Sublimierungen mit einer Dynamik und Wirkung von Destruktion verknüpft, die sich auf Freuds Konzeption des Todestriebes stützt, diese jedoch in wesentlicher Hinsicht modifiziert. Auch steht die Destruktion im fraglichen Kontext weniger im Dienste des »Mordes an der Sache« als vielmehr der Zerstörung der bestehenden Sublimierungen, um aus nächster Nähe zum Ding und dessen primordialer Macht neue Sublimierungen hervorgehen zu lassen. Die 90 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Jenseits des Gesetzes: Sublimierung, Todestrieb und Exzess
Unverzichtbarkeit einer Idee des Destruktiven in der Genese der Sublimierung erfährt darin eine Bestätigung, auch wenn diese Idee an einer etwas anderen Stelle ansetzt, als dies in den vorangegangenen Betrachtungen der Fall war.
Exzesse der Sublimierung Bei der Sublimierung handelt es sich nach der ursprünglichen Lehre Freuds um ein Triebschicksal, welches dem Subjekt zwei unliebsame Ausgänge seiner Libidoökonomie erspart. Der eine Ausgang ist der in die Neurose, die immer noch vom Lustprinzip regierte Krankheit, die das Subjekt zwar in mehr oder minder hohem Grade sozial disqualifiziert, ihm aber dennoch einen Schutzraum zubilligt. Der andere Weg führt in die Perversion, die dadurch charakterisiert ist, dass die vom Gesetz – vom väterlichen Verbot – gezogene Grenze überschritten wird und das von eben diesem Gesetz regulierte Begehren in Formen des Exzesses münden, die zu Freuds Zeiten und auch später noch nicht nur gesellschaftlich missbilligt und geächtet, sondern auch strafrechtlich geahndet wurden. Zudem ist die Perversion, um die es dabei geht, von einer Übermacht todestriebhafter Dynamik gekennzeichnet, worin sie den Geltungsbereich des Lustprinzips hinter sich lässt und das Erleiden oder Zufügen von Schmerz zum eigentlichen Triebziel erhebt. Ihren überzeugendsten Ausdruck findet diese Verwandlung im Sadomasochismus, und die Szenarien des Marquis de Sade vermitteln einen anschaulichen Eindruck davon, wie man sich die äußerste Steigerung des Exzesses, von dem hier die Rede ist, vorzustellen hat. Ein etwas anders gelagertes Beispiel sind die sexuellen Verführungsexzesse des Don Juan. Auch ihnen begegnet die Sozietät mit scharfer Missbilligung und Verfolgung. Gleichzeitig geht von dieser Figur ebenso wie von den Sade’schen Protagonisten der absoluten Übertretung ein dunkler Glanz aus, worin der Hinweis darauf zu erkennen ist, dass es hier ein als Faszinosum wirkendes »Jenseits« des moralischen Urteils geben muss. Von all diesen Nöten nun scheint die Sublimierung zu erlösen. Ohne die unterweltlichen Schicksale verdrängter Treibregungen durchlaufen zu müssen, erlaubt sie Freud zufolge die relativ schmerzund komplikationsfreie Verschiebung auf bzw. Umwandlung in »Ersatzbefriedigungen«, die sich entweder durch hohe gesellschaftliche Nützlichkeit auszeichnen oder sich doch wenigstens, auch wenn die 91 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Nützlichkeit nicht zu überzeugen vermag, der Duldung, Wertschätzung oder gar Bewunderung erfreuen dürfen. Lacan weist daher völlig zu Recht darauf hin, dass die Sublimierungen innerhalb des Horizontes akzeptierter Normen und Werte angesiedelt sind, also dem kulturellen Bestand angehören, der in Lacans Terminologie den großen Anderen konstituiert. Das dem Realen zugehörende »höchste Gut« erscheint nun gewissermaßen in Form seiner imaginären und symbolischen Schattenbilder, den »Gütern«, die in den Währungen des Schönen, Wahren und moralisch Erstrebenswerten gehandelt werden. Doch das Begehren kommt auch im Innern der Sublimierungen nicht zur Ruhe. Es verliert ja auch im umhegten Feld der anerkannten Künste, Wissenschaften und altruistischen Betätigungen nicht seinen Drang zur Überschreitung, zur weitest möglichen Annäherung an den verbotenen Baum des Lebens. Mit anderen Worten: Was ist, wenn die Sublimierungen selbst exzessiv werden? Die Beurteilung eines Verhaltens oder einer Haltung als exzessiv hängt – auf einfacher phänomenologischer Ebene formuliert – von der Wahrnehmung einer Übertreibung ab, einer irgendwie gearteten Maßlosigkeit also. Jemand vertritt oder betreibt eine Sache mit äußerstem Nachdruck, mit unerbittlicher Konsequenz, mit einer unbedingten Entschlossenheit, die ein Höchstmaß an Entbehrung, an seelischem und körperlichem Schmerz, an Diffamierung und anderen Formen extremer Unlust in Kauf zu nehmen bereit ist, im äußersten Fall auch den Tod. Das kann je nach Charakterprägung und Kontext den eigenen, aber auch den Tod anderer betreffen. Es kann sich ausschließlich um die Bejahung der möglichen Selbstvernichtung handeln, aber auch die Bereitschaft, zur Realisierung eigener Ziele und Ambitionen »über Leichen zu gehen«. Mit diesem Kernbestand an Attributen verbindet sich meist eine Reihe anderer Züge, die den Betreffenden dazu disponieren, Anstoß zu erregen und zum Ärgernis zu werden: eine bestimmte Art von Starrheit, die als Verbohrtheit oder Verblendung erscheinen mag; die Neigung, die Dinge auf die Spitze zu treiben, sich in einen Gegenstand zu verbeißen und diesen nicht mehr loszulassen – kurzum allesamt Eigenschaften, die das Subjekt in der einen oder anderen Hinsicht in das unvorteilhafte Licht des Dogmatischen, Fanatischen oder Fundamentalistischen rücken. Ich nehme, wie man schon verstanden haben wird, solche Attribuierungen als die Oberfläche, die sie sind, um in das Dahinter der exzessiven Sublimierung zu gelangen. Im psychoanalytischen Verständnis Jacques Lacans haben wir es 92 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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beim Phänomen des Exzesses mit einer Dynamik zu tun, in der das Subjekt in seinem Begehren nicht nur über eine wie auch immer definierte Begrenzung hinauszugelangen sucht, sondern die es in eine psychologische Konstitution versetzt, die nicht mehr durch das Lustprinzip als vielmehr durch Mechanismen »jenseits des Lustprinzips« reguliert wird, solchen also, die dem Todestrieb angehören. Nur daraus erklärt sich Lacan zufolge das bereitwillige Auf-sich-Nehmen von Leiden und Schmerz und nicht – wie meist unterstellt – aus einem versteckten libidinösen Lustgewinn, wenngleich solche masochistischen Momente hinzutreten können. Die Menschheitsgeschichte ist voller Beispielfälle von Persönlichkeiten, die auf künstlerischem, wissenschaftlichem, politischem oder religiösem Gebiet genau jenem exzessiven Typus entsprochen haben, und es waren zuallermeist solche und keine anderen, die auf ihren jeweiligen Betätigungsfeldern tiefgreifende und richtungsweisende Transformationen initiiert und mitgestaltet haben. Eines der vornehmsten Resultate der Sublimierung liegt in der Konstitution der Moralität, des Ethischen. Als Richtschnur und exemplarischen Stoff aller weiteren Überlegungen zum Exzess der Sublimierung wähle ich daher den ethischen Rigorismus.
Antigone – Ödipus Ein prominentes Lehrstück ethischer Rigorosität präsentiert uns Jacques Lacan in seiner Ethik der Psychoanalyse. Er wählt dazu die Figur und das Geschick der Antigone in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles. Weit davon entfernt, das frühe Vorbild einer Kämpferin für Humanität und Menschenrechte abzugeben, bietet uns diese Frau ein ausgesprochen kantiges und durchaus anstößiges Charakterbild. Die unbeugsame, ja kalte und wenig einfühlsame Entschlossenheit, mit der sie ihren Weg bis zum Ende geht – einem Ende, an dem außer ihr zwei weitere Menschen sterben –, verursacht weniger Mitgefühl als erschrockenes Zurückweichen, was auch der Reaktion des Chores, des Repräsentanten der kollektiven Mehrheitsmeinung und des »gesunden Menschenverstandes« entspricht. Man kann Antigones Haltung und Agieren unmöglich jenes absolut Gute bescheinigen, was sie für sich selbst in Anspruch nimmt und wonach sie strebt, jedenfalls was die Gerechtigkeit betrifft, die ihrem toten, aber nicht ordnungsgemäß bestatteten Bruder Polyneikes widerfahren sollte. 93 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Sie stößt so gut wie allen vor den Kopf, auch denen, die ihr wohlgesinnt sind. »Toll«, wird sie sogar von der Schwester Ismene genannt (Vorszene, S. 15). Das Exzessive in Gesinnung und Verhalten muss man, worauf Slavoj Žižek zu Recht hinweist (2016, S. 118 ff.), auch ihr bescheinigen und nicht nur ihrem Gegenspieler Kreon, der eher ein rasend gewordenes Über-Ich verkörpert, ein Gesetz, das sich selbst Gesetz ist. Sieht man von diesem nicht unbedeutenden Unterschied einmal ab, dann kann man durchaus sagen, dass Antigone in ihrer Art genauso besessen ist wie ihr Kontrahent. Dennoch bescheinigt Lacan ihr jenen Glanz und jene Schönheit, die nach Jahrtausenden an Strahlkraft nichts eingebüßt haben. Was berechtigt ihn dazu? Es ist die Schönheit, die im vollendeten »Sein-zum-Tode« aufleuchtet. Antigone ist von einem bestimmten Moment an eine schon zu Lebzeiten Entrückte, die aus einer anderen Ordnung, von einem »anderen Schauplatz« her spricht. »Meine Seele starb /Schon längst zum Segen der Verstorbenen«, sagt sie im Wechselgespräch mit der Schwester (2. Hauptszene, S. 38). Wer nicht nur in Todesnähe lebt, sondern vorauseilend oder vorwegnehmend schon das Jenseits bewohnt, braucht keine Rücksicht darauf zu nehmen, ob sein Begehren sich den Rastern sozialer Normativität einfügt. Antigones Existenz ist »zwischen-zwei-Toden« (vgl. Lacan, 1996, S. 324 ff.) angesiedelt – dem, der gewissermaßen schon eingetreten ist, und dem, der ihr unausweichlich bevorsteht: »Nicht bei den Menschen, nicht bei den Leichen /Fern von den Lebenden, fern von den Toten« (4. Hauptszene, 2. Strophe, S. 53). Doch von diesem Ort aus kann ihr Begehren in einer Absolutheit aufleuchten, in der sich die »Dignität des Realen« spiegelt. Der Effekt fällt umso nachhaltiger aus, als dieses Begehren sich nicht etwa auf hehre Gegenstände (universelle Werte o. dergl.) richtet, sondern in ihrem Fall schlicht und einfach mit der Blutsverwandtschaft zu tun hat. Sie setzt ihr Leben aufs Spiel, weil Polyneikes ihr Bruder ist. Und den kann man nicht ersetzen, einen anderen Mann schon (4. Hauptszene, Schlussstrophe, S. 55). Indessen sind sowohl Todeszugeneigtheit wie Rigorismus keine spezifischen Charaktermerkmale Antigones. Sie teilt diese Prägungen mit ihrem Vater Ödipus, der nicht mehr damit aufhören kann, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden, eine Wahrheit, die ihn vernichten wird – sehenden Auges, so lange diese Augen noch sehend sind. Und der in Sophokles’ letzter uns erhaltener Tragödie Ödipus auf Kolonos auftritt als im Zorn verhärteter alter Mann, der angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit des Seins das Nicht94 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sein dem Sein entschieden vorzieht und der nur noch eines will: sterben und vollständig verschwinden, was ihm denn auch gewährt wird. Aber es handelt sich hier nicht nur um eine innerfamiliäre Obsession. Sowohl Antigone wie Ödipus teilen das Exzessive ihrer Haltung mit anderen tragischen Heldenfiguren, so zum Beispiel mit jenem unglücklichen Ajas, den zuerst Athene mit einer Besessenheit straft und der danach, in einer ähnlichen Besessenheit gefangen, meint, sich aus Scham über die erste Besessenheit und das, was er darin angerichtet hat, umbringen zu müssen. Die Griechen hatten für diesen unweigerlich auf den Untergang zutreibenden Komplex das Wort ate. Es ist ein Ausdruck für das beschriebene Unbedingte und Exzessive im Begehren, die Leidenschaft zur Außerkraftsetzung der normativen Ordnung, aber auch die Verblendung gegenüber dem Katastrophischen dieses Vorgangs und der Folgen, die er nach sich zieht. Gemeint ist der Wille zu einer Wahrheit, die einen nicht täuscht, aber zerstört. Lacan betont sehr stark – und vielleicht auch sehr einseitig – die Reinheit eines Begehrens, die seiner Ansicht nach nur in einer Haltung realisierbar ist, die ein Bündnis mit dem Todestrieb eingegangen ist. Daher auch seine uneingeschränkte Wertschätzung für den gnadenlosen Rigorismus des alten Ödipus und dessen Entschlossenheit, die von Willkür und Ungerechtigkeit regierte Sphäre des Seins zu verlassen. Man mag darin einen Hinweis darauf erkennen, dass der heroische Akt des frei auf sich genommenen Verschwindens Lacan wohl als der im Grund einzig mögliche Weg erschien, den Zwängen der omnipräsenten Herrschaft des großen Anderen zu entkommen. Wer den Blick durch die historischen Zeitabschnitte schweifen lässt, wird in jeder Epoche eine nicht geringe Anzahl von Individuen entdecken, die dem skizzierten Format der exzessiven Persönlichkeit entsprachen. Es handelt sich um Menschen, deren Leben in den Worten des französischen Philosophen Alain Badiou im Lichte eines Wahrheitsereignisses oder mehrerer solcher Wahrheitsereignisse verlief und die in beständiger Treue zu diesem Ereignis von Unmöglichem überzeugt waren, an Unmögliches glaubten (Badiou, 2012). Unter den Vielen, die für die Auswahl in Frage kämen, will ich als Beispielfall Leben und Werk der französischen Philosophin und – wie manche sie nennen – Mystikerin Simone Weil (1909–1943) herausgreifen (dazu Sellhöfer, 2009). Das Denken Weils zeichnet sich durch eine besondere Strenge und Radikalität der ethischen Anforderung aus, einer Anforderung (»Pflichten den Menschen gegenüber«), 95 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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die sie nicht nur an andere Menschen gerichtet sah, sondern die sie im höchsten Maße für sich selbst geltend machte. In wichtigen sozialen, politischen und moralischen Fragen jede Halbherzigkeit, jede Anpassung oder kompromisslerische Haltung verweigernd, führte sie ein Leben in bis zur absoluten Selbstvernachlässigung reichenden Selbstentsagung (im Besonderen hinsichtlich der äußeren Dinge des Lebens wie Nahrung, Kleidung, Besitz usw.) und restloser Hingabe an ihre intellektuelle, pädagogische und politische Arbeit. Ihrer puristischen Ideale, ihrer selbstauferlegten Verpflichtung zu unbedingter Wahrhaftigkeit und ihrer radikalen Konventionsfeindlichkeit wegen galt sie vielen als außerordentlich unbequem, unzugänglich, unmenschlich in gewisser Weise. Der Leidensaspekt dieser exzessiven Existenz manifestiert sich in einem von früher Jungend an bestehenden und so gut wie chronischen Kopfschmerz. Einen thanatophilen Grundzug ihres Wesens könnte man darin erkennen, dass Weil von Kindheit an die Nahrung verweigerte, in späteren Jahren immer nur ein Minimum dessen zu sich nahm, was sie eigentlich benötigte, und am Ende an den Folgen extremer Erschöpfung und unzureichender Ernährung verstarb. Vom psychologischen Standpunkt aus wäre es ein Leichtes, das Schicksal Simone Weils als Ausdruck und Folge einer schweren Persönlichkeitsstörung im Verbund mit einer ebenso schweren suizidal unterlegten Essstörung zu deuten. Eine solche Sichtweise ist möglich und auch legitim. Wenn sie aber die einzige bliebe, wäre darin ein wesentlicher Aspekt eines solchen Schicksals verfehlt.
Fundamentalismus und die Sehnsucht nach dem Realen Hält man sich an Lacans Verständnis des Todestriebes, wonach es diesem darum geht, die herrschende Signifikantenkette zu zerbrechen und damit die Ordnung des großen Anderen auszulöschen, dann wird man die Phänomenologie dieser Triebkraft nirgendwo besser studieren können als am Beispiel historischer Umbrüche und am Format des revoltierenden Subjektes. Im Letztgenannten kommen zwei Dinge zusammen: die Entschlossenheit, die überkommenen (politischen, ökonomischen, sozialen) Verhältnisse zu zerstören und aus dem Geist exzessiver Sublimierungen heraus vollkommen neue zu errichten. Die ethische Programmatik aller großen Revolutionen der Neuzeit war stets exzessiv, immer Transgression auf das Absolute hin. In dieser Hinsicht gibt es keine Unterschiede in der Tonlage eines Robes96 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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pierre oder Saint-Just und derjenigen Lenins oder Maos. Die wahre Revolution zielt immer auf das Ganze: Nicht eine bestimmte Anzahl von Menschen, sondern die Menschheit; nicht nur die Nation, sondern die Welt. Ethischer Rigorismus und universalistischer Expansionismus machen sich fest an einer umfassenden Vision des Guten: »Unser Ziel ist«, proklamiert Saint-Just, »eine solche Ordnung der Dinge zu schaffen, dass eine allgemeine Neigung zum Guten sich einstellt« (zit. n. Camus, 1986, S. 100). In der uns nun schon vertrauten Sprache der Lacan’schen Psychoanalyse kommt der revolutionäre Impetus dem Versuch gleich, sich dem Realen anzunähern und der »Dignität« des Realen zum Sieg zu verhelfen. Dazu ist es im ersten Schritt nötig, alles zu beseitigen, was diesem Versuch im Weg steht, das sind – auch hierin herrscht weitgehende Übereinstimmung zwischen allen großen revolutionären Bewegungen der vergangenen Jahrhunderte – die zu Herrschaftsstrukturen geronnenen Formen der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung. Dass dieser Schritt oft gerade nicht im Sinne der Gerechtigkeit vollzogen wird, sondern unter dem Zeichen eines todestriebhaften Vernichtungswillens steht, zeigen exemplarisch die Kontroversen um die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahre 1793. Mit unverstellter Offenheit äußerst sich Danton zu dieser Frage in der Nationalversammlung: »Wir wollen den König nicht verurteilen, wir wollen ihn töten« (zit. n. Camus, 1986, S. 93). Im zweiten Schritt geht es dann darum, eine neue Gesetzes-Ordnung aufzurichten, und zwar eine solche, die unmittelbarer Ausdruck des höchsten Guten, der Dignität des Realen zu sein beansprucht. Die revolutionäre Utopie besteht darin, die vollkommene Übereinstimmung zwischen Gesetz und Realem herzustellen zu wollen. Dieses Projekt scheitert jedoch an einer inneren Unmöglichkeit. Es scheitert aber nicht nur, sondern führt zu einer fatalen Konsequenz. Die exzessiven Sublimierungen drängen – im Namen der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Glücks – über das Gesetz hinaus. Dadurch aber wird das eigentlich geheiligte Gesetz immer wieder verletzt oder, was auf dasselbe hinausläuft, das Gesetz wird benutzt, um mit seiner Hilfe »über das Gesetz hinaus«, in ein »jenseits des Gesetzes« zu gelangen. Und genau darin wurzelt der Terror. Die Gewalt, in die revolutionäre Bewegungen immer wieder mündeten, resultiert aus dem Versuch, die Ordnung des Gesetzes, die ihrem Wesen nach eine Begrenzung darstellt, zu einer Repräsentanz des unerreichbaren Realen zu erheben, dessen Abglanz (»Dignität«) in den exzessiven ethischen Sublimierungen aufscheint und zum Handeln antreibt. 97 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Bemerkenswert ist, dass in der radikalsten Fraktion der Revoltierenden, derjenigen der Anarchisten, offenbar stets eine Ahnung von oder vielleicht sogar Wissen um das soeben beschriebene Dilemma vorhanden war. Aus diesem Grund haben sie das Gesetz gleich welcher Art (z. B. in Gestalt der staatlichen Ordnung) abgelehnt und sich davor gehütet, das, wenn man so sagen darf, Unendliche in eine endliche Form zu zwingen. Sie vertrauten allein auf die Kraft der Zerstörung und darauf, dass kraft der Zerstörung im Subjekt etwas befreit würde, das zu seiner schöpferischen Entfaltung keiner normativen Regulierung und Einfassung bedürfe. »Die Leidenschaft der Zerstörung ist eine schöpferische Leidenschaft«, heißt es bei Bakunin und: »Sturm und Leben, das ist es, was uns fehlt. Eine neue Welt ohne Gesetze und infolgedessen frei« (zit. n. Camus, ebd. S. 129 f.). Auch das eine Hoffnung, die nicht verhindern konnte, dass der zunächst von hohen Idealen geleitete russische Anarchismus des 19. Jahrhunderts bald in eine Endphase des nihilistischen Terrors mündete. Netschajew, der vielleicht besessenste Vertreter dieser Glaubensrichtung, hatte die Idee, einen Mörderorden zu gründen, um auf dieses Weise der Revolution zum Sieg zu verhelfen. Die Frage der revolutionären Gewalt und deren Verbindung zum Phänomen des Exzesses der ethischen Sublimierung müssen uns weiter beschäftigen. In Der Mensch in der Revolte fasst Camus den Sachverhalt in die Worte: »Jeder Revolte ist eine Sehnsucht nach Unschuld und ein Ruf nach dem Sein. Die Sehnsucht jedoch ergreift eines Tages die Waffen und nimmt die totale Schuld auf sich: den Mord und die Gewalttat« (Camus, 1986, S. 87). Ich habe bereits dargelegt, dass ich einen Grund für das Umschlagen der Unschuld in mörderische Gewalt in der Außerkraftsetzung der Differenz zwischen dem sich entziehenden Realen, dem »Sein« des Ethischen, und dessen symbolischer Vergegenwärtigung in den gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen sehe. Das Gesetz muss, damit es zur Erfüllung im Sinne der revolutionären Ideale komme, gerade immer wieder übertreten werden. Aber das ist sicher nur ein Aspekt des Phänomens. Von der Logik des Todestriebes aus gesehen, erscheint das Auftreten der Gewaltexzesse nicht weiter unverständlich. Wenn alle Signifikanten der Herrschaft ausgelöscht werden sollen, dann natürlich auch die dazugehörigen Subjekte als Träger und Erzeuger der Signifikanten. Deshalb musste 1917 die gesamte russische Zarenfamilie sterben, genauso wie 1793 das französische Königspaar – nicht aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern »aus Prinzip« – unter 98 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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die Guillotine geschickt wurde. Und nicht umsonst gehören die Revolutionskriege, die ja in der Mehrzahl Bürgerkriege waren – der amerikanische, der russische, der spanische – zu den grausamsten und verlustreichsten Kriegen, die je geführt wurden. Man könnte, wenn es nicht verdächtig einfach klänge, von einer »regressiven Entsublimierung« sprechen: An ihrem äußeren Ende, der exzessiven Sublimierung, angekommen, läuft die Libido zurück zum Ausgangspunkt, an dem alles begonnen hat, den Gewaltakten von Vatermord und Brudermord. Camus vertritt die Auffassung, im historischen Königsmord sei immer schon, soweit wir von der neuzeitlichen Geschichte reden, der metaphysische oder Gottesmord enthalten gewesen. Was aber, wenn der metaphysische oder Gottesmord nichts anderes als die sublimierte Spiegelung des von Freud postulierten realen Urverbrechens wäre? Dann hätte die in Gewalt und Terror übergehende Revolte nicht das Ende der Geschichte – den Zustand ewigen Heils, Friedens und Glückes – herbeigeführt, sondern eben diese Geschichte wieder von vorne beginnen lassen. Der »allerschwerste« Gedanke scheint mir in diesem Zusammenhang aber der folgende zu sein: Wenn Lacan feststellt, dass die dem Gesetz unterworfene Sublimierung die »Dignität« des Realen offenbare, dann offenbart die in den Exzess geratene Sublimierung die Monstrosität des Realen. Die schreckliche Seite des Engels wird sichtbar. Schwer ist dieser Gedanke deswegen, weil er impliziert, dass wir entgegen der biblischen Auskunft den Unterschied zwischen Gut und Böse gerade nicht kennen, jedenfalls dort nicht, wo der Glanz des Realen uns so sehr blendet, dass wir die darin enthaltene Dunkelheit nicht zu sehen vermögen. Auch René Girard macht in seinem Werk Das Heilige und die Gewalt (Girard, 1992) für den Ausbruch offener Gewalt in Gesellschaften eine Entdifferenzierung verantwortlich, womit er, ohne die Lacan’schen Termini zu gebrauchen, die Auslöschung der Unterschiede, der differenziellen symbolischen Ordnung bzw. der des großen Anderen im Blick hat. Seiner Auffassung nach erzeugen die dadurch entstehenden Symmetrien eine nivellierende und bedrohliche Gleichheit. Reines und Unreines, Böses und Gutes, Heiliges und Profanes, legitime Gewalt und illegitime Gewalt sind nicht mehr zu unterscheiden, wodurch Konfusion und Chaos, anomische Verhältnisse sich ausbreiten, was notwendig mit der Freisetzung der vormals im Opferkult regulierten Aggression einhergeht. Das Zusammenfallen der Differenzen würde im Sinne Lacans auf das differenzlose Reale 99 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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verweisen, das in Girards Theorie allerdings keine Rolle spielt. Man könnte seine Theorie in dieser Richtung erweitern: Der Einsturz der »kleinen« Differenzen innerhalb der Ordnung des großen Anderen (der Gesetze, Vorschriften, Riten usw.) führt zwangsläufig zu einem Einsturz der »großen« Differenz zwischen dem Symbolischen und dem Realen oder in anderen Worten zu einer »Überflutung« des Symbolischen durch das differenzlos Reale. Wo ethischer Rigorismus herrscht und die entsprechenden Sublimierungen in den Exzess übergehen, sprechen wir seit neuerer Zeit von Fundamentalismus, der je nach Richtung und Ausprägungsschwerpunkt religiöse oder politische Erscheinungsformen annimmt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Fundamentalismus, gleich auf welchem Gebiet er sich bemerkbar macht, immer religiöse Züge aufweist, was gegenwärtig am eindrucksvollsten am Beispiel des islamistischen Fundamentalismus abzulesen ist. Die Frage, die auch kritische Forscher beschäftigt, ist aber die, ob es dabei tatsächlich um ein primär religiöses Anliegen geht. Da jeder Fundamentalismus religiöse, quasi- oder pseudoreligiöse Formen annimmt, liegt der Schluss nahe, dass der gemeinsame Nenner des fundamentalistischen Begehrens ein allgemeinerer sein könnte, der in der religiösen Sprach- und Bilderwelt lediglich seine ausdrucksstärkste Manifestation findet. Es geht hier um den Eintritt in die transsymbolische Welt des Realen, in der Sprache C. G. Jungs um die Erfahrung eines Numinosen, in dem die Momente von Heiligkeit, Schrecken und Gewalt nicht voneinander zu trennen sind. Es wurde weiter oben festgestellt, dass der ethische Rigorismus oder Extremismus eine Art Quadratur des Kreises anstrebt, die darin bestehen würde, das »jenseitige« Reale vollständig in der Struktur des Gesetzes (des moralischen, staatlichen, sozialen) zu verkörpern. Geht die Anziehungskraft – und es gibt, wie wir wissen, eine solche – des islamistischen Fundamentalismus nicht maßgeblich davon aus, dass er vorgibt, es sei ihm gelungen, diese Bestrebung nach totaler Kongruenz am weitesten voranzutreiben? Das gelingt, wie wir gesehen haben, nur um den Preis totalitärer Herrschaft und des absoluten Terrors. Man muss dazu töten – und bereit sein, sich töten zu lassen oder sich im Märtyrerakt des Selbstmordanschlags selbst zu töten. Von einer Bombe am Leib zerrissen zu werden, ist eine rituelle Form der Selbstzerstückelung, die auf direktem Weg ins Paradies führt. Man sieht die Mechanik des Todestriebes am Werk. Ziel ist, eine Art Jenseitigkeit schon auf Erden herzustellen. Dazu gehört neben dem 100 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Selbstopfer die konsequente Auslöschung aller Herrschaftssignifikanten vorausgegangener kultureller Sublimierungen (siehe die Zerstörung der antiken Stätten durch den IS, die Verwüstung der Kulturgüter und Vernichtung der Kulturträger im Zuge der sogenannten chinesischen Kulturrevolution, ebenso im Terror der Roten Khmer). Der Versuch, das Jenseits des Gesetzes in die Immanenz einer weltlichen Ordnung zu überführen, ist das, was im Wort vom GottesStaat seinen Ausdruck findet. Ein solches Projekt verwandelt das väterliche Gesetz in das Gesetz des Lagers, in dem Allmacht, Willkür und Terror geregelt, ja ritualisiert praktiziert werden (dazu Agamben, 2002, S. 127 ff.). So betrachtet, war auch Auschwitz so etwas wie ein kleiner »Gottes-Staat«. Schon geraume Zeit vor Akutwerden der islamistisch-fundamentalistischen Problematik hat Rüdiger Safranski vom Unterschied zwischen »heißer« und »kalter« Religion gesprochen (Safranski, 2004, S. 132 ff.). Das Christentum hat sich seiner Ansicht nach von einer einstmals »heißen«, das heißt »ekstatischen und apokalyptischen« Religion (ebd. S. 133) in eine »kalte« verwandelt, die »spirituelle(n) Flankenschutz bei der Bewältigung innerweltlicher Probleme« (ebd. S. 133) anbietet und sich hauptsächlich für »Sozialarbeit, Sinnbeschaffung, Feiertagsgestaltung und Konsensbewahrung« (ebd. S. 132) zuständig sieht. Die »heiße« Religion dagegen ist auf »Erlösung von dieser Welt« (ebd. S. 132) ausgerichtet. Der »heiße Kern« des Fundamentalismus’ enthält nur die eine Alternative: die bestehende Welt entweder vollständig zu vernichten oder sie vollständig in ein Ebenbild der Überwelt des Realen umzuwandeln. Beides geht nur mittels Destruktion. Die Anziehungskraft geht aber nicht allein von der als legitim deklarierten Triebentfesselung aus, wenngleich die Bedeutung der direkten Befriedigung aggressiver Impulse dabei nicht unterschätzt werden darf. Die eigentliche »Objektursache« des fundamentalistischen Begehrens geht von der Vorstellung aus, Eingang zu finden in die Sphäre des numinos Realen und sich mit dieser zu vereinigen.
Narzisstische Pathologie? Nach allgemeiner psychoanalytischer Auffassung fallen die beschriebenen Phänomene des sublimierten Exzesses (des moralischen Exzesses, des Exzesses der politischen Utopie oder Ideologie, des religiösen 101 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Exzesses der Erlösung) unter die Psychologie und Psychopathologie des Ich-Ideals, das heißt, es handelt sich um narzisstische Bildungen, die einen besonders extremen Ausprägungsgrad bewahrt oder angenommen haben. Dass der Narzissmus in der Genese der Sublimierungen nach Freuds Ansicht eine zentrale Rolle spielt, wurde an früherer Stelle bereits dargelegt. Unter dieser metapsychologischen Prämisse ist es möglich, die exzessive Steigerung des Ich-Ideals zur Absolutheit und einer sich darin vollziehenden Entgrenzung als maximalen Überschuss an narzisstischer Besetzung zu interpretieren und die Manifestationen dieses Überschusses – den Rigorismus, den Eifer, das Nebeneinander von Überhitzung und Kälte – als Symptome einer narzisstischen Pathologie, als »Krankheit der Idealität« zu bewerten (dazu Chasseguet-Smirgel, 1981). Woher rührt dieser Überschuss? In Zur Einführung des Narzissmus beschreibt Freud (1914c) das Ich-Ideal als psychische Instanz, die im Wesentlichen aus sekundärem Narzissmus aufgebaut ist. Sie enthält die von den idealisierten Elternobjekten abgezogene und auf das Ich zurückgelenkte Libido. Damit legiert sind die Identifizierungen mit den idealisierten Objekten und deren Ich-Ideal. Wir stoßen hier erneut darauf, dass – ähnlich wie in der Genese der Sublimierungen – die Idealbildung mit einem Objektverlust, dem Untergang oder Tod der Objekte einhergeht. Manche Autoren sind indes der Meinung, dass in die Herausbildung des Ich-Ideals auch Reste des so genannten primären Narzissmus eingeflossen sind, das Ich-Ideal also so etwas wie das Erbe des goldenen Zeitalters des narzisstischen Sich-selbstGenügens darstellt. Wie auch immer, das Ich-Ideal trägt infolge seiner Herkunft die Züge archaischer Idealität und Omnipotenz, weshalb diese Instanz nach herkömmlicher psychoanalytischer Lehrmeinung gewisser transformativer Maßnahmen bedarf, um in den Zustand psychologischer Reife eintreten zu können. Denn unter dem Einfluss hochgradig idealisierter Ziele und Ambitionen, so die Lehrmeinung, neigt das Subjekt dazu, den Kontakt zu Realität und deren notwendig gegebenen Begrenzungen zu verlieren. Es neigt des Weiteren dazu, in der Verfolgung und Realisierung seiner Ideale »über Leichen zu gehen«, sowohl die anderer Menschen als auch die eigene (»Der Zweck heiligt die Mittel«). Ein begrenzendes, mäßigendes Regulativ muss also her. Ein solches Regulativ wird vom realitätsorientierten ödipalen Über-Ich bereitgestellt, einer Instanz, die dem von seinen narzisstischen Aspirationen mitgerissenen Subjekt das Gesetz auferlegt, das heißt ihm Mord und Inzest verbietet, das Wis102 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sen um Differenz und Endlichkeit verordnet, kurzum ihn das Bewusstsein von Kastration und Mangel anzunehmen lehrt. Etwas Vergleichbares leistet der Entwicklungsschritt, der in der Sprache der Psychoanalyse Melanie Kleins als Erlangung der depressiven Position ausgewiesen ist. Hier geht es ebenfalls im Wesentlichen um den Zusammenbruch der narzisstischen Omnipotenz und die Begrenzung einer die Unversehrtheit des Selbst erhaltenden Destruktivität. Man erkennt leicht, dass die psychoanalytische Lehre von der Eindämmung exzessiver Idealität einem normativen Schema verhaftet ist, das die Idealität jenseits einer bestimmten Grenze, die durch Verbote, Konventionen oder wie auch immer zustande gekommenen Vorstellungen vom rechten Maß als unreif und pathologisch qualifiziert. Das Streben nach dem Unbedingten und Unendlichen steht von vornherein unter dem Verdacht, nichts anderes als Indikator einer narzisstischen Problematik zu sein, die früher oder später in megalomaner Destruktivität endet. In klinischer Hinsicht mag dieser Sichtweise eine gewisse Berechtigung zukommen. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch, dass an ihr die Schwachstelle einer psychologischen Perspektive sichtbar wird, der ein Begriff des Realen fehlt, so wie dieser in der Psychoanalyse Lacans vorhanden ist und systematisch gebraucht wird. Wenn es die Jenseitigkeit des Realen ist, die das Begehren im Letzten anzieht, dann gerät der Exzess, die Überschreitung des Maßes und des Gesetzes, sofort in ein anderes Licht. Lacans Wort, dass die Sublimierungen den Objekten die »Dignität« des Realen verleihen, gilt im besonderen Maße für die höchsten Sublimierungen, zu denen die ethischen gehören. Sie verleihen den Objekten nicht nur die Würde des Realen, sondern auch dessen Glanz, der in dem Maße, wie die Ideale exzessiv werden, in zerstörerisches Brennen übergehen kann. Historischer Fortschritt, soweit von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, hat sich realiter immer innerhalb der Grenzen des symbolischen Universums und dessen politischen, sozialen und religiösen Institutionen ereignet. Die exzessiven Ideen und Ideale, die ein solches Fortschreiten inspiriert haben, stammten jedoch stets von woanders her: aus dem Jenseits dieser Ordnung. Es muss an dieser Stelle nochmals darauf verwiesen werden, dass Lacans Konzept des Realen, also dessen, was außerhalb der Ordnungen des Symbolischen und Imaginären angesiedelt ist, eine bemerkenswerte Entsprechung findet in bestimmten Aspekten der Archetypentheorie C. G. Jungs. Archetypen sind für Jung Struktur103 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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elemente des Psychischen, die auf symbolisch-imaginärer Ebene fassbar werden (als Bilder, Symbole im engeren Sinne). Daneben spricht Jung aber auch vom »Archetypus an sich«, womit er mit deutlichem Anklang an Kants Ding-an-sich einen »unanschaulichen« Faktor, ein symbolisch nicht repräsentierbares Reales meint, von dem eine von Jung als numinos bezeichnete Wirkung ausgeht. Dabei ist der Archetypus von zwiespältiger Natur. Bis zu einem gewissen Grade ununterscheidbar, enthält er den Glanz wie die Finsternis und Monstrosität des Realen. Auf diese wenigstens zum Teil analogen Begriffsbildungen bei Lacan und Jung weist auch Kerstan in ihrem schon mehrfach zitierten Beitrag hin (Kerstan, 2011, S. 103). Bezüglich Jungs psychologischer Interpretation der alchemistischen Prozedur könnte man in analoger Sichtweise feststellen, dass es beim Ziel der Herstellung der sublimsten Substanz, des Goldes, der »schwer erreichbaren Kostbarkeit«, des Steines des Weisen, um nur einige der vorherrschenden Metaphern zu nennen, weniger um die psychische Erzeugung des Selbst im Sinne des Persönlichkeitsganzen als um eben dieses schwer erreichbare Reale geht, dessen zwiespältiger Glanz das Begehren gleich dem Goethe’schen Ewig-Weiblichen »hinan zieht«. Der bezeichnete Unterschied würde indessen wieder relativiert, wenn man das Selbst als im Register des Realen anzusiedelndes »Ding« zu verstehen bereit wäre. Unter den spärlichen Ansätzen, die als vergleichbar zu Lacans Register des Realen herangezogen werden können, ist schließlich noch Wilfred Bions Konzeption von »O« zu nennen. »O« verweist für Bion auf eine letzte und nicht erkennbare Realität (»ultimate reality«), die nur in einer Seins-Erfahrung nachvollzogen werden kann (Lesmeister, 2004; Darmstädter, 2001). Im Gegensatz zu Lacan, der die Unmöglichkeit betont, den Raum des Symbolischen und der damit gegebenen unaufhebbaren Differenz zu transzendieren und des Realen unmittelbar innezuwerden, hält Bion, der »Mystiker« unter den Psychoanalytikern, allerdings daran fest, dass eine transsymbolische identitäre Erfahrung des Realen möglich sei und dass eine derartige Erfahrung als Ziel des analytischen Prozesses zu gelten habe. Alle Mystiker, Exzentriker, Häretiker, Ekstatiker und Anarchisten waren exzessive Persönlichkeiten, die in der einen oder anderen Weise – man sollte die teils gravierenden Unterschiede keinesfalls übersehen – von exzessiven Sublimierungen inspiriert und häufiger auch besessen waren. In der Mehrheit waren sie bereit, ihrer exzessiven Ideen wegen Leid oder gar den Tod auf sich nehmen. Die Persön104 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Jenseits des Gesetzes: Sublimierung, Todestrieb und Exzess
lichkeit mit exzessivem Begehren ist, was die Felder des Geistigen und Ethischen betrifft, in der postmodernistischen Ära der Relativitäten, Ambiguitäten und komfortablen Vagheiten wenig gefragt. Dies aber nicht etwa, weil die herrschende Kultur auf der Einhaltung des Gesetzes bestünde – dies ist gerade nicht der Fall –, sondern weil der Exzess die herrschende Kultur an die Wahrheit des Gesetzes und die Möglichkeit seiner Übertretung erinnert. Man könnte auch sagen: Die exzessiven Persönlichkeiten erinnern an die Dignität und Numinosität des Realen. Alles soll sich stattdessen in einer moderaten Mitte abspielen. Man will engagierte Subjekte, aber keine Fanatiker. Man will kritische Köpfe, aber keine radikalen Verweigerer. Man will Menschen, die gewisse Mühen auf sich nehmen und für ihre Überzeugungen eintreten, aber keine Märtyrer, die sich aufopfern, die »ihr Leben hingeben«. Man will nach allen Seiten offene und tolerante Realisten, keine verschlossenen und intoleranten Utopisten. Gleichwohl herrscht eine untergründige »Sehnsucht nach Exzess« (vgl. Austin, 2013), die sich andere als die verfemten Wege sucht. Ich habe an früherer Stelle bereits der Vermutung Ausdruck verliehen, dass gerade die stillschweigende Ächtung exzessiver Geistigkeit, exzessiver Moralität, exzessiver Religiosität es ist, die Menschen unterschiedlichster Herkunft und Zugehörigkeit heute anfällig macht für fundamentalistische Ideologien, so auch gerade für die islamistische. Hinzu kommt, dass in den posttraditionalen Gesellschaften des Westens an die Stelle exzessiver Sublimierungen in zunehmendem Maße Ersatzbildungen getreten sind, die den Exzess im kollektiven Maßstab auf Gebiete verlagert haben, wo er nicht mehr als Überschreitung erlebt wird und demzufolge auch nicht mehr gefürchtet werden muss. Dazu gehören unter anderem die Erscheinungsformen des suchtartigen Konsums materieller wie virtueller Warenangebote und die Spielarten der Steigerung des narzisstischen Selbstgefühls. Aus psychoanalytischer Sicht hat Gerhard Schneider in seinem Beitrag Die erregte Gesellschaft (Schneider, 2011) darauf aufmerksam gemacht, dass das Begehren in der postmodernen Mentalität nicht mehr auf libidinöse Wunscherfüllung aus ist, sondern auf Herstellung und Aufrechterhaltung einer möglichst permanenten Erregtheit, eines »arousal« oder »hype«, ganz gleich, ob dieser Zustand mithilfe von Drogen, Techniken exorbitanter Selbstbereicherung, sexueller und Gewaltinszenierungen oder anderen Instrumentarien herbeigeführt wird. Man könnte sagen, es geht um die Erfahrung eines Zustandes fortgesetzter Ekstase, um die Perpetuierung eines Ausnahmezustan105 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Roman Lesmeister
des exzessiven Herausgehoben-Seins, der in früheren Zeiten die Nähe und Ankunft des Realen, des Numinosen oder Heiligen anzeigte. Die in der Psychoanalyse verbreitete Diskreditierung des Exzessiven als narzisstische Psychopathologie, als Krankheit des Ich-Ideals, zurückzuweisen, kann auf der Gegenseite nicht bedeuten, die moralischen, religiösen oder politischen Spielarten des Exzesses zu mystifizieren und sie als probates Heilmittel gegen ein angeblich gesundes, was in Wahrheit immer heißt konformistisches Modell des Maßhaltens in Stellung bringen zu wollen. Beide Tendenzen verfehlen den spezifischen Status des Subjektes, das in seinem Begehren im Letzten auf ein Unendliches und Unbedingtes bezogen ist, dem aber etwa nicht nur durch externe Hindernisse oder internalisierte Verbote, sondern durch die von der symbolischen Ordnung durchzogene Struktur seines Begehrens selbst Grenzen gesetzt werden. Für die jeweils verträgliche oder eben auch unverträgliche Nähe zum Ungeheuren existiert kein allgemeingültiges, sondern ein nur individuelles Maß. Und dieses bestimmt sich nach einem weitestgehend unverfügbaren Parameter, einem Faktor X, der einem Leben Richtung und Gehalt gibt.
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Daniel Krochmalnik
Der Ursprung des Begehrens
Das Wunschverbot 1 Das 10. Gebot: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib …« (Ex 20, 17) ist nach Ansicht einiger jüdischer Kommentatoren des 18. Jahrhunderts der Schlüssel zum Dekalog, ja, zum ganzen Gesetz. Der Aufklärer Moses Mendelssohn (1729–1786) führt in seinem hebräischen ExodusKommentar aus, dass die Zehn Gebote nach abnehmendem Schweregrad und zunehmender Übertretungswahrscheinlichkeit angeordnet sind. Die Verletzung des Wunschverbotes sei ebenso unvermeidlich wie scheinbar lässlich, weil kein äußerer Schaden entsteht. Mendelssohn behauptet jedoch, dass der verbotene Wunsch der Anfangsfehler sei, durch den der Sünder auf die schiefe Bahn gerät und letztendlich beide Tafeln bricht. Wer dagegen: »nach etwas, das nicht sein ist, keine Begierde empfindet, wird seinen Nächsten niemals schädigen. Denn der Begierde wegen kommt der Mensch dahin zu verleugnen, zu lügen, zu stehlen, zu morden, die Ehe zu brechen, den Ruhetag und alle Feiertage zu entweihen und seine Eltern zu missachten, und er kommt dahin, die Geschöpfe zu hassen und ihnen missgünstig zu sein. Wer aber kein Begieriger ist, der liebt die Geschöpfe und ehrt sie. Er entfernt aus seinem Herzen die Sorgen und Kümmernisse und Seufzer und vertraut auf den Ewigen, seinen Gott, dass er ihn versorgen wird, und wirft auf ihn sein Begehr.« (JubA 9.3, 226, 20–279)
Der zeitgenössische Kabbalist R. Chajim Josef David Azulai (gen: Chida, 1724–1806) sagt positiv im Idiom der Reinheitsgebote: »Die Begierde ist die Hauptquelle der Unreinheit (HaChemda Aw HaTuma), und durch sie wird der Mensch dazu gebracht, alle zehn Gebote zu übertreten«. 2 1 2
Vgl. zu diesem Abschnitt meine Beiträge 2011, S. 121–145 u. 2016, S. 293–309. Ich konnte die Stelle in Azulais Werk Chochmat Anach nicht überprüfen und zitie-
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Daniel Krochmalnik
Damit haben die jüdischen Exegeten, wie es scheint, die Intention der Bibel gut getroffen. Die biblische Geschichte beginnt nicht zufällig mit einem Verstoß gegen das 10. Gebot, auf das sie im Wortlaut auch anspielt, und knüpft an diese Sünde den Fall des ganzen Menschengeschlechts. Die Formulierung des 10. Gebotes ist schwankend: heißt es im Exodus in Bezug auf das Haus des Nächsten sowie in Bezug auf dessen Haus- und Besitzstand, inklusive Ehefrau,pzweiffi mal: »Du sollst nicht begehren …« (20, 17, Lo Tachmod, von: חמד, an etwas Gefallen finden, begehren, wollen, gr. ἐπιθυμία, lat: concupiscentia), so heißt es im Deuteronomium in Bezug auf die hier besonders hervorgehobene und vorangestellte Ehefrau des Nächsten: »Du sollst nicht begehren« (Lo Tachmod) und in Bezug auf seinen Besitz: »Du sollst nicht lüstern sein« (Deut 5, 18, Lo Titawe, von pffi אוהpi: sich sehnen, verlangen, begehren), so als ob der Text zwei Formen der Begehrlichkeit unterscheiden wollte: die fleischliche und die materielle Gier. 3 Die beiden Vokabeln für das Begehren sind jedenfalls diejenigen, die die Bibel verwendet, um die Wirkung des verbotenen Baums auf die Urfrau zu beschreiben: »eine Lust für die Augen und begehrenswert« (Ta’awa Hu LaEnajim WeNechmad, Gen 3, 6). Der verbotene Wunsch in Gen 3 und das Wunschverbot in Ex 20, 17 und Deut 5, 18 erweisen sich als Echotexte, die durch Wortgleiche (hebr.: Gesera Schawa, gr.: Isorhemie) verbunden sind und sich zueinander wie die Regel zum Beispiel der Regelverletzung (Ma’asse) verhalten. In der Präambel des Gesetzbuches wird die Geburt des Gesetzesbruches aus dem Begehren behandelt und ein abschreckendes Exempel statuiert. Die jüdische Exegese hat die Begierde als Erzübel und den Rang des 10. als des 1. Gebotes nicht erst im 18. Jahrhundert entdeckt. Bereits in den Apokryphen zur Sündenfallgeschichte wird das Begehren als »Kopf«, d. h. nach dem hebräischen Rosch (wie in BeReschit), als Ursprung und Prinzip aller Laster angezeigt (ApkAbr 24, 8; VitAdgr = ApkMos 19, 3). Entsprechend erscheint das Gebot: »wir dürfen uns nicht gelüsten lassen« (me epithymia) als Summe
re aus zweiter Hand nach David Abergel, Dixième commandement. Ne convoite pas, in: Méïr Tapiero, Les dix paroles, Paris 1995, S. 441. 3 Davon ist zu unterscheiden das 6. Gebot – Du sollst nicht die Ehe brechen (Ex 20, 14, pffi von: )נאפ. In der katholischen Moraltheologie wurde das 6. Gebot aufgrund 1. Kor 6, 9 f., und Eph 5, 5 f. im weiten Sinne von »Du sollst nicht huren« verstanden und auf jeden außerehelichen Geschlechtsverkehr bezogen.
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Der Ursprung des Begehrens
des ganzen Gesetzes (IV Makk 5, 6). Die hellenistisch-jüdische Exegese, allen voran Philon von Alexandrien (ca. 20 v.–40 n.), hat diese Erklärung an der Schnittstelle biblischer Sünden- und stoischer Lasterlehre wiederholt bestätigt, so in seiner Abhandlung Über die Einzelgesetze: »Ein so großes und überragendes Übel ist also die Begierde oder vielmehr, um es richtig zu bezeichnen, sie ist die Quelle aller Übel; denn Raub, Plünderei und Nichtbezahlen von Schulden, Verleumdung und Beschimpfung, ferner Verführung, Ehebruch, Mord und alle die anderen Verbrechen gegen Einzelne und gegen den Staat, wider heilige oder profane Dinge, aus welch anderer (Quelle) fließen sie? Denn die Leidenschaft, die mit vollem Recht als das Grundübel bezeichnet werden könnte, ist die Begierde (archekakon pathos estin epithymia).« (Philon von Alexandrien, 1962, spec. leg IV, 84 f., ferner: decal. 130 f., decal. 173)
Diese Belege bringen uns in die zeitliche Nähe des Urchristentums und des Paulus (Theißen, 1993, S. 204–213). Doch ehe wir christliche Positionen referieren, sei zur biblischen Urgeschichte aus guten Gründen noch angemerkt: Wie steil der Sturz des Menschen nach der ersten Sünde auch gewesen sein mag, wie groß die Geschwindigkeit und wie klein die Strecke zwischen Schöpfung und Untergang – 10 Generationen und 5 Kapitel der Schrift (Gen 5, 7) –, zwingend sollte dieser Fall nicht sein. Gott versichert dem ersten Adamssohn vor der zweiten Sünde Jenseits von Eden persönlich: Du musst nicht sündigen (posse non peccare), »die Sünde lauert an der Tür, nach dir ist ihr Verlangen, doch du sollst sie beherrschen« (WeElecha Teschuqato WeAta Timschal Bo, Gen 4, 7). Der Mann aber soll dem Begehren der Sünde widerstehen, wie er, so die Bibel mit einer anderen Wortgleiche, dem Begehren des Weibes widersteht (WeEl Ischech Teschuqatech WeHu Jimschal Bach, 3, 16). Kain ist gewarnt und sündigt trotzdem aus freien Stücken. Das »Feuer der Begierde« (1 Kor 7, 8) wird in der christlichen Sündenlehre allerdings immer tragischer: das Begehren erscheint als die eigentliche Sünde, als eine unvermeidliche Sünde obendrein (non posse non peccare), mehr noch, als eine überkommene Schuld (Röm 5, 12; I. Kor 15, 22), und das Wunschverbot wird zumindest von Paulus als Brandbeschleuniger angesehen. Das Zehnte Gebot ist nicht das wichtigste christliche Gebot, es ist aber auf jeden Fall das entscheidende Verbot. Jesus predigt es auf jenem Berg gegenüber vom Sinai: Moses hat den »Alten« (archaíois) gesagt, … : »Ich aber sage euch …« 111 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Daniel Krochmalnik
(egò dé légo hymin). Seine Predigt leitet er wohl mit der Versicherung ein: »Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen« (Mat 5, 17–19). Aber nur um Mose Punkt für Punkt zu überbieten: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist (Ex 20, 13; 21, 12): ›Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein‹. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig (…)« (ebd. 5, 21–22). »Ihr habt gehört, dass gesagt ist (Ex 20, 14): ›Du sollst nicht ehebrechen‹. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf’s von dir (…)« (ebd. 5, 27–29). In allen diesen Fällen geht es dem Bergprediger nicht nur um die Werke, sondern hauptsächlich um die Wünsche. Eine derartige Überbietung der Gebote und die Einbeziehung dessen, was im Mittelalter »Herzenspflichten« (Chowot HaLewawot) heißen wird, ist der rabbinischen Gesetzes-Paränese keineswegs fremd, die häufig auch minderschwere Denk- und Wortsünden gegen den Nächsten mit schwersten Werksünden gleichsetzt, so z. B. den Nächstenhass oder die öffentliche Beschämung (Halbanat Panim BaRabim) mit Mord (Traktat Derech Erez 10). Diese höheren, die Gesinnungen einschließenden Ansprüche werden zur Unterscheidung von der gewöhnlichen Lehre (Mischna) im Talmud »Lehre der Frommen« (Mischnat HaChassidim) genannt, die weniger zulässt als das Gesetz normalerweise erlaubt und mehr erwartet als das Gesetz gebietet. Die jesuanische Ethik, wie sie sich in der Bergpredigt darstellt, kann im rabbinischen Kontext daher als »chassidische« Gesinnungsethik angesprochen werden. Für Paulus ist das Gesetz freilich unter keinen Umständen Teil der (Er-)Lösung, sondern Teil des Problems, in seinen Augen ist die antinomistische Sünde nicht gravierender als die nomistische. Die Front verläuft bei dem Apostel anders als erwartet: Er stellt den alten Adam und Mose mit der Sünde, dem Gesetz, dem Gericht, dem Tod und der Verdammnis auf die gleiche Seite und Christus und den neuen Adam mit der Vergebung, der Gnade und der Errettung auf die Gegenseite (Röm 5, 12–21). Dem Gesetz gibt er eine Mitschuld an der Sünde, denn »wo kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung« (Röm 4, 15). Das beweist gerade das 10. Gebot: »denn ich wusste nichts von der Lust, hätte das Gesetz nicht gesagt: ›Lass dir nicht gelüsten‹« (Röm 7, 7). Das Gesetz muss man sich als Staudamm vorstellen, der den Triebpegel durch Rückstau ansteigen 112 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Der Ursprung des Begehrens
lässt. 4 Gewiss, das Gesetz ist an und für sich nicht Sünde (Röm 7, 12), es offenbart aber die Macht der Sünde und die Ohnmacht des Willens (Röm 5, 20). Dem Gesetztreuen wirft der Apostel Heuchelei vor: »Du predigst, man solle nicht stehlen, und du stiehlst? Du sprichst, man solle nicht ehebrechen, und du brichst die Ehe? (…) Du rühmst dich des Gesetzes und schändest Gott durch die Übertretung des Gesetzes« (Röm 2, 21–23). Eine Verschärfung des Gesetzes kann da nicht abhelfen, ganz im Gegenteil: »Denn sie trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan.« Christus fordert bei Paulus nicht eine Überbietung des Gesetzes, sondern dessen »Ende« (Röm 10, 4; Gal 4). Obwohl es im Neuen Testament auch Gegenstimmen gibt, z. B. die des Jakobus (Jak 2, 14–26), hat sich Paulus mit seiner Gesetzeskritik bis zur Reformation durchgesetzt. Der junge Luther schreibt mit Blick auf das 10. Gebot wie Paulus: »die Gebote lehren und schreiben uns vor mancherlei gute Werke, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht; lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, daß der Mensch darin sehe sein Unvermögen zu dem Guten und lerne, an sich selbst zu verzweifeln. Und darum heißen sie auch das Alte Testament und gehören alle ins Alte Testament, wie das Gebot, ›Du sollst nicht böse Begierden haben‹ beweiset, daß wir allesamt Sünder sind und kein Mensch vermag, ohne böse Begierde zu sein, er tue was er will. Daraus lernt er, an sich selbst zu verzagen und anderswo Hilfe zu suchen, dass er ohne böse Begierde sei, und also das Gebot durch einen andern erfülle, was er selbst nicht vermag. So sind auch alle anderen Gebote uns unmöglich« (Luther, 1520).
Nach Paulus und Luther ist die Übermacht des Begehrens aber nicht gottgewollt, es hat seine Zeit: nach dem Sündenfall, und seinen Ort: im Fleisch. Unter »Fleisch« verstehen beide freilich nicht nur wie Augustinus sexuelle Fleischeslust (Gal 5, 16 ff.; Aug. civ. XIV, 16, Flasch, 2009, S. 17–20; ders., 2017, S. 106 ff., Groh, 2003, S. 573). Aber der Aufruhr des Fleisches tut sich doch vornehmlich in der geschlechtlichen Begierde, der Concupiscentia, kund, ein Schandfleck, der sich nach Augustinus in der gefallenen Menschheit wie eine GeErri De Luca hat in einem tiefsinnigen Essay darauf hingewiesen, dass das Trilegopffi menon: Teschuka, Verlangen (Gen 3, 16; 4, 7; HL 7, 11), von שוק, hif.: überfließen komme, Ammore (sic!), in: Rez-de-chaussée, franz. v. D. Valin, Paris 1996, S. 77–79. Vgl. auch das Bild für die sexuellen Sünden von Rubens.
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Daniel Krochmalnik
schlechtskrankheit vererbt. Und so übersetzt auch die Vulgata das 10. Gebot: »non concupisces uxorem proximi tui« (Deut 5, 21). Dabei ist, wohlgemerkt, nicht die Sexualität an sich widernatürlich, auch die Ureltern hatten Sex im Paradies, es soll aber eine Liebe ohne Lust gewesen sein (Aug. civ. XIV, 23; Flasch, 2017, S. 89 ff.), so leidenschaftslos wie der Akt des Ackersmann, der den Samen auf seinem Feld aussät (Aug., civ. XIV, Flasch, ebd. S. 107). Das erinnert an die Ausrede jenes Beichtvaters, der mit seiner Beichttochter Unzucht im Beichtstuhl trieb und vor der römischen Inquisition zu Protokoll gab: »es war kein Ausbruch von Lust, sondern absolut vom Willen beherrscht«, also keine »delectatio carnalis«, sondern Sex in statu innocentiae. 5 Jenseits von Eden war das christliche Ideal bis zur Reformation die Keuschheit, und so sollte es schließlich auch im himmlischen Paradies sein (Luk 20, 27–40). Ehe und Sexualität in der Ehe gingen nur als geringeres Übel, als Schutz vor Unkeuschheit durch (I Kor 7, 7. 32; Mat 19, 12). Wie war nun die jüdische, die rabbinische Vorstellung vom Urzustand und vom Ursprung des Begehrens? 6
Der Garten der Lüste Kinderkriegen ist die erste der 613 Pflichten eines Judenmenschen (Perija URewija Gen 1, 28), unter Segen versteht die Bibel in erster Linie Kindersegen (Gen 1, 28; 9, 7; 15, 5 u. ö.), Unfruchtbarkeit, Kinderlosigkeit (Aqara WeEin La Walad, Sagar Rachmah) gilt als schwere Behinderung der Frau, an der freilich fast alle Erzmütter litten (Gen 11, 31; 25, 2; 29, 31; I Sam 1, 5). Einige Rabbinen betrachteten Keuschheit gar als Kapitalverbrechen. Die Bibel kennt zwar den Asketen (Nasir), er trinkt nicht und geht nicht zum Friseur, aber ein Keuschheitsgelübde legt er nicht ab (Num 6, 2). Der bekannteste Nasir, der Held Samson (Ri 13, 7), war ein ausgesprochener Frauenheld (14, 1 ff.). Der Garten Eden war, wie schon sein hebräischer Name verpffi rät ( עדן, hitp., es sich gut gehen lassen, ֶע ְד ָנה, Freude, nach Gen 18, 12, sexuelle Erfüllung), ein »Garten der Lüste« (Vulg.: Paradisus voluptatis, Jes 51, 3; Jo 2, 3; Ez 36, 35), ganz im Gegensatz zur Lust-
Gemeint ist das Verhör von Kleutgen zit. in: Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 3. Aufl. 2013, S. 365. 6 Vgl. mein Buch 2001, S. 58–65; und mein Text 2003 (2), S. 13–62. 5
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losigkeit Jenseits von Eden (Gen 3, 17 ff.). Adam brauchte nach der Vertreibung aus dem Paradies mehr als 100 Jahre, um Eva erneut zu begatten (Gen 4, 25; 5, 4). Ein Blick auf das biblische Pendant zu Eden, das in der Bibel allererst »Paradies« heißt, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Der Garten des Hohen Liedes verhält sich zu Paradise lost wie Paradise regained (zum Pardes vgl. HL 4, 13 // Neh 2, 8; Qoh 2, 5). Das Verlangen, Teschuka, das Eva und Adam an der Grenze und Jenseits von Eden unterdrücken sollen (Gen 3, 16 u. 4, 7), feiert im Pardes fröhliche Urständ. Dort hatte es geheißen: »Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein« (WeEl Ischech Teschuqatech WeHu Jimschal Bach, Gen 3, 16), hier nun heißt es: »Meinem Freund gehöre ich und nach mir steht sein Verlangen« (HL 7, 11, WeAlai Teschuqato). Danach verschwindet das Liebespaar in die Weinberge und Granatapfelgärten (Rimonim), wo sie die Nacht verbringen und sie ihm ihre Liebe schenkt (HL 7, 13 f.). Der hermeneutische Schlüssel zu diesem Paradies liegt im zentralen Vers: »Mein wohlverwahrter Garten bist du meine Schwester Braut! Dein Gewächs’ ein Paradies mit Granaten (Pardes Rimonim), mit köstlicher Frucht« (4, 12 f.), was umgekehrt doch wohl nur den Schluss zulässt, dass die Flora und Fauna des Paradieses als Körperlandschaften und Liebesbilder zu lesen sind. 7 Er vergleicht z. B. ihren Körper mit einer Palme, die er besteigen will (7, 8), sie träumt davon, ihn mit dem Most ihrer Granatäpfel zu tränken (Assis Rimoni, 8, 2). Aber die Sprache Edens verströmt auch ohne Vergleich mit diesem Sexparadies einen unverwechselbaren »sexuellen Geruch«, wie Kurt Flasch sagt, wobei er noch die Atmosphäre berücksichtigt, die die hebräischen Vokabeln ausstrahlen (2017, S. 99). Von einer Liebe ohne Libido kann hier jedenfalls nirgendwo die Rede sein. Zurück zum Paradies: In der Mitte des Lustgartens steht der »Baum des Erkennens von Gut und Böse« (Ez HaDa’at Tow WaRa, Gen 2, 15; 3, 3). Der Fruchtbaum, seine Dürre und Grüne, war schon immer ein Symbol der Fruchtbarkeit, siehe den Lebensbaum (Gen 2, 9), siehe den Stammbaum (Jes 11, 1.10, Schmidt, 2000, S. 21 ff.). »Erkennen« (LaDa’at) ist ein häufiger biblischer Euphemismus für Geschlechtsverkehr (Gen 4, 1.17.25; 24, 16; 38, 21 u. ö.). Der Wortund Bildgebrauch vom Baum, der uns in den Genuss von Erkenntnissen bringt, erschließt sich nur, wenn man sich in die Bedeutungs-
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Ausführlich dazu meinen Beitrag 2014 (1), S. 178–207.
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pffi fülle der hebräischen Wurzel Jada ( )ידעvertieft. Damit ist keineswegs nur ein kognitives Wissen gemeint, Erkennen, d. h. Erleben, Erfahren, Wahrnehmen, Innewerden, Fühlen, ferner: Erforschen, Erkunden, Kennenlernen, Bekannt-, Befreundet-, Vertrautsein, Verstehen, Erschließen – die semantische Krone dieser Wurzel ließe sich mit dem Gesenius (2013) noch viel reicher entfalten. Dazu passt nun jener Euphemismus des Geschlechtsverkehrs, der vielleicht gar keiner ist, sondern dessen genaue und zutreffende Beschreibung: Geschlechtsverkehr als die intimste Erkenntnis: ›Angesicht in Angesicht‹ (Panim El-Panim, Deut 34, 10) ist keine prüde Umschreibung. Der Merismus »Erkennen von Gut und Böse« kann schließlich insbesondere ein Ausdruck für Geschlechtsreife sein: von Kindern, die noch nicht soweit sind, heißt es, dass sie »noch nicht Gutes und Böses erkennen« (Lo Jadu Tow WaRa, Deut 1, 39; Jes 7, 14), und Greise, die nicht mehr können, sagen: »weiß ich zu erkennen zwischen Gut und Böse?« (HaEda Bejn Tow LeRa, 2 Sam 19, 36). Diese Redewendung kommt vermutlich aus der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Geschlechtsreife mit der geistigen Reife und Entwicklung der Urteilsfähigkeit einhergeht. Weitere sprachliche Indizien verstärken den Verdacht, dass die Bibel hier hinter vorgehaltenem Feigenblatt (Laschon Nekia) alles, was Sie schon immer über Sex wissen wollten, verhandelt. Sonst wird der verbotene Geschlechtsverkehr mit der euphemistischen Redewendung, die »Scham aufdecken« (LeGalot Erwa, Lev 20, 18 ff.) bezeichnet. Nun wimmeltpesffi in diesen Kapiteln von Paronomasien zu dieser Redewendung: ערהhif., aufdecken, pffi pffi entblößen, עררq., sich entblößen, עורIII, blank ziehen, ָערום, nackt, ֵערֹםnackt, Nacktheit, ֶעֽר ָוה, Scham, Genitalien (2, 25; 3, 7), pffi ערםklug, listig sein, ָע ְרָמה, Hinterlist (3, 1), עור, Haut, Leder (3, 21). 8 Diese permanenten Anspielungen zwingen unausweichlich zu dem Schluss, dass es beim Sündenfall von der Schamlosigkeit (2, 24) über den beschämenden Lapsus (3, 10) bis zur Schamhaftigkeit (3, 21) um die Genesis der Sexualität geht. Wir sind hier, wohlgemerkt, noch nicht auf psychologischem Tauchgang (Drewermann 1977/78, Bd. 1, S. 18), sondern im sicheren Hafen des Buchstabens (Pschat). Zu diesen Paronomasien vgl. Francine Kaufmann, Introduction au tissu et du vêtement dans la bible et dans le judaïsme, in: Céline Masson (Hg.) Shmattès. Le mémoire par le rebut, Limoges 2007, S. 210. Dort auch der einschlägige Beitrag von Benjamin Gross, Les vêtements de l’âme, ebd., S. 229–238.
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Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der rabbinische Midrasch: er liest Gen 2 als Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Herrgott betätigt sich in Eden als »Schadchen«, als Heiratsvermittler und Hochzeitsbeistand (Schoschwin bBer 61a). »Und der Herrgott baute …« (Gen 2, 22), das heißt nach einem Midrasch, er baute die mehrstöckige Hochzeitsfrisur der Braut (GenR 18, 1). Dann schmückte er sie mit den vierundzwanzig Schmuckstücken, mit denen die Töchter Zions, nach dem zornigen Propheten, anzugeben pflegen (Jes 3, 16– 23). Dann »brachte er sie Adam« (ebd.) wie ein »Unterführer« zum Traubaldachin. Diesen hat er wie prachtvolle Königsgewänder mit allen Arten von Edelsteinen verziert (nach Ez 28, 13). Nach der Hochzeit vollzieht das Paar, wie es sich gehört, die Ehe. Der anschließende Bräutigams-Jubel: »Dieses Mal …« bezieht sich dabei – nach einem Midrasch, den die Standardglosse von Raschi aufgreift und damit kanonisiert – auf die anderen Male, nämlich mit den Tieren, die ihm Herrgott mit den gleichen Worten zugeführt hatte (V. 19.22) und bei denen Adam keine Befriedigung fand (bJeb 63 a, Raschi z. St.) – ein Motiv das auch im Gilgamesch-Epos auftaucht, wo der aus Lehm erschaffene pansexuelle wilde Mann Enkidu vor seiner Domestikation durch eine Hure mit seinen Tieren verkehrte (1. Tafel II, 14 u. ö.). Der von deutschen Alttestamentlern sogenannte Bräutigams-Jubel wäre der Freudenschrei über die endlich gefundene Geschlechtspartnerin. Im alten Jubiläenbuch geht denn auch das »Erkennen« der Frau diesem Jubel voraus, dort allerdings noch diesseits von Eden (Jub 3, 6), wie auch sonst die sittenstrengeren Apokryphen den Geschlechtsverkehr lieber an die Grenze oder ans Jenseits von Eden verlegen (VitAd = ApkMos 15.25; ApkAbr 23, 8, IVMakk 18, 8, vgl. Anderson 1992, S. 53 ff.). Die in der Bibel anschließende Ehe-Ätiologie (Gen 2, 24) ist jedenfalls eine durchsichtige Beschreibung des Geschlechtspffi verkehrs und seiner Folgen. Der Mann »klebt« wörtlich ( ﬢבק, dawaq, kleben, anhaften) an seiner Frau, und in der lebenslangen fleischlichen Vereinigung (Nachmanides z. St.) der beiden Seiten (ֵ ֵצָלע, Rippe, auch Seite) oder in ihrem Kind (GenR 18, 5, bSan 58a) werden sie ein Fleisch (Vgl. dazu Mosès 2004, S. 20–21). Bis heute erinnert der jüdische Hochzeitssegen (Birkat HaChatanim) an diese Urszene der Sexualität in Eden, wobei der abschließende siebte Segensspruch: »Gelobt seist Du, Ewiger, der den Bräutigam mit der Braut erfreut« auf die Freude beim Geschlechtsakt bezogen wird. Raschi schreibt in seinem Talmudkommentar zur Stelle: dies sei das Lob des Schöpfers, der die geschlechtliche Vermählung von Mann 117 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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und Frau erschaffen habe. 9 Das Wort Dibbuq von Dawaq bezeichnet den Geschlechtsakt und das »eine Fleisch«, dessen bleibendes Resultat, das Kind, als genetische Elternmischung (Raschi z. Gen 2, 24). Raschi unterstreicht mit dem Midrasch die außerordentliche Fruchtbarkeit des Urelternpaares, indem er nachweist, dass das Verb für Beiwohnen im ersten Vers nach der Sündenfall-Erzählung: »Der Mensch hatte Eva, seine Frau, erkannt« (Gen 4, 1) ein Plusquamperfekt ist und den Vers vor den Fall zurückdatiert. Demnach wären Kain und Abel Kinder des Paradieses. Den Midrasch kommentiert die eigenartige Fortsetzung des Verses: »sie wurde schwanger, und sie gebar den Kain … Sie fuhr fort zu gebären, seinen Bruder, den Abel« (4, 1– 2), wie folgt: »Sie stiegen zu zweien ins Bett und zu sieben wieder heraus, nämlich Kain und seine Zwillingsschwester und Abel und seine Zwillingsschwestern« (bSan 38b, ARN A 1, PRE 11). Demnach unterschied sich das Leben, insbesondere das Ehe- und Geschlechtsleben der Ureltern in Eden nicht grundsätzlich von dem Jenseits von Eden. Sie sehnten und begehrten sich, heirateten und vermehrten sich, alles war nur viel, viel leichter, wie die Fünflinge in einem Wurf bezeugen sollen. Der Midrasch über die Kinder des Paradieses ist freilich auch nach der erzählten Zeit ein Anachronismus und wird der krisenhaften Entwicklung vom vor- zum nachlapsarischen Zustand kaum gerecht. Fangen wir also noch einmal, dem biblischen Erzählfaden folgend, an und achten dabei besonders auf die Konsequenzen in re veneris.
♀=–φ Adam war zölibatär. Das sei nicht gut, meinte sogar sein Schöpfer (Gen 2, 18). Mit den Tieren konnte der Herrgott ihn allerdings nicht befriedigen, sie waren zu ungleichartig. Im Gegenteil, als er ihm bei der Tierschau die Pärchen vorführte (19), wurde dem Wärter seine Einsamkeit erst richtig bewusst, ihm fehlte sein ebenbürtiges »Gegenüber« (Negdo). Die jugendfreie Geschichte von der »Rippe« berichtet, wie der Schöpfer diesen offensichtlichen Mangel behob, wie der Mann zu seiner Frau kam (21). Die Genesis stellt die Natur auf den Kopf. Normalerweise kommt ein Mensch nicht aus dem Bauch Chatunat Dibbuq Isch BeIschah Kom bKet 8a, Stichwort Messameach Chatan Im Kala.
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des Vaters. Demzufolge hätte Eva, Chawa, die doch Lebensmutter ist (Em Kol Chaj, Gen 3, 20), zuerst erschaffen sein sollen. Natürlich lehrt die Natur nicht minder: keine Mutter ohne Vater. Auch in der Bibel ergreift der Mann die Initiative (2, 24) und das Henne-Ei-Problem wird mit dem Hahn gelöst. Aber wie soll der Mann eine Frau schaffen, ohne mit einer Frau zu schlafen? Gewiss, der Schöpfer hätte die Frau auch aus Erde bilden können, wie zuvor schon den Mann und die Tiere (2, 7.19). Aber dann wäre die romantische Sehnsucht nach dem anderen Selbst (alter idem), nach dem vorherbestimmten Partner (Bat Sugo), 10 nach der engen Liebesgemeinschaft (consortium dilectionis) unerfüllt geblieben, eine Sehnsucht die auch der 1. Schöpfungsbericht mit dem Monogenismus des Geschlechtsdipols bedient (1, 27), 11 die erste Wortmeldung des Menschen, jener schon mehrfach erwähnte Freudenschrei: »Dieses Mal ist es Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch« (2, 23) wäre unterblieben. 12 Beim Wort genommen, bedeutet dieses erste Wort Adams, dass Eva aus seinem Bein und Fleisch sei. Allein, dem Mann fehlt keine Rippe, er hat genau so viel Rippen wie seine Frau. Der amerikanische Biologe Scott Gilbert und der israelische Bibelwissenschaftler Ziony Zevit sind daher auf die Idee gekommen, dass mit Rippe ein ganz anderer Knochen gemeint sein muss, der beim Mann in der Tat verschwunden ist, bei Affenmännchen aber immer noch für häufige Erektionen sorgt, das os penis. Die Bibel verwendet das Wort Rippe nur, weil ihr für Penis, geschweige denn für das Os penis die Worte fehlen. 13 Damit wäre zugleich das Rätsel der Fleischnarbe gelöst, von der die Bibel spricht (2, 21). Um den Nabel kann es sich bei diesen Ungeborenen ja nicht handeln, die einzige verbleibende Narbe wäre die vom Penis bis
Vgl. mein Text 2003 (1), S. 100 und Anm. 33. Zum Verhältnis des egalitären 1. Schöpfungsbericht zum inegalitären 2. in der rabbinischen Auslegungstradition vgl. Beitrag 2003 (1), S. 87–100. 12 Gen 2, 23 ist ein Gedicht, vielleicht ein kurzes Epithalamium. Es besteht aus 13 Wörtern, wobei das erste, mittlere (7.) und letzte Wort das weibliche Demonstrativpronomen (Sot) ist. Man sieht förmlich Adams ausgestreckten Zeigefinger und hört sein ungläubiges Staunen: Diese da …, diese …, diese … Die Inquit-Formel: »Da sprach der Mensch« hat den Jubilus-Akzent Qadma Munach Segol, die zu dem in der Exegese sogenannten Bräutigamsjubel genau passt, vgl. dazu meinen Exkurs Adam Onomast, »Adam, wo bist Du?« Hermeneutik der biblischen und jüdischen Anthropologie, 2014 (2), S. 49–51. 13 Natürlich gibt es Ersatzbezeichnungen wie Schofcha, Gießkanne (Deut 23, 2) oder Mewuscha, Scham, (Deut 25, 11). 10 11
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zum Anus reichende, Raphe perinei genannte, Verwachsungsnaht. 14 Nach dieser Vermutung hätte die Erschaffung Evas doch etwas mit dem Penis Adams zu tun, zumal das fragliche Glied, nach dem Spruch Adams zu schließen, nicht nur aus Bein, sondern auch aus Fleisch bestanden haben muss (2, 23). Man könnte sich auch einen schonenderen, natürlicheren göttlichen Eingriff vorstellen. Die Frau wäre doch irgendwie vom Mann gezeugt worden, zwar nicht im Beischlaf, aber im Tiefschlaf, in Folge einer nächtlichen Pollution. Aus dem Samen hätte der göttliche Genetiker dann etwas weniger wundertätig eine wunderschöne Frau geformt und statt des steifen das schlaffe Glied zurückgelassen, jenes »Fleisch« (2, 21) ohne Knochen, wie der französische König Heinrich IV. nach seinem 40. Lebensjahr bedauerte. Der genaue Operationsverlauf muss Spekulation bleiben (Flasch, 2017, S. 73 ff.), schließlich ist die Bibel kein Anatomie-Handbuch, aber jeder mögliche Verlauf beruht auf einem Tausch. Für die Gabe der Frau muss der Mann im Gegenzug etwas abgeben. Das Do-utdes-Prinzip, hebräisch: Midda KeNeged Midda, klingt sogar ausdrücklich an, wenn die Frau als »sein Gegenstück« (Negdo) bezeichnet wird. Die Logik des Tausches hat, um mit Lacan zu sprechen, nicht den realen Phallus Π, sondern den imaginären Phallus φ und den symbolischen Phallus Φ im Auge. 15 Zu diesen Phalloi lato sensu kann man getrost auch die Rippe zählen. Auf dieser Ebene wäre die Operation eine Kastration. Der Mann erleidet einen Mangel, der der Ursprung seines Begehrens ist, das man als Suche nach seinem verlorenen Glied bezeichnen könnte. Die passende Frau erscheint als das fehlende Stück in der Algebra Lacans: – φ. Wenn der entmannte Mann das Negativ seines Glieds in der Frau ausfüllt, wird er mit ihr zusammen wieder ganz, eben »ein Fleisch«, wie die Bibel sagt (2, 24). Zum Penisneid hat die Frau keinen Grund, denn es ist der Mann, der Congenital human baculum deficiency: The generative bone of Genesis 2:21–23, American Journal of Medical Genetics, 101, Nr. 3, 2001, S. 284–5. Auf diesen Aufsatz bin ich in der Chronique Improbabologie von Pierre Barthélémy im Le Monde gestoßen. 15 Das Buch von Delphine Renard, Judaïsme et psychanalyse. Les »discours« de Lacan, Paris 2012, ist nichts als eine rhapsodische Verknüpfung von Lacan und Bibelund Talmudtexten, Aussagen, die in keine Richtung erhellend sind. Das Kapitelchen zur »Rippe« kann nicht befriedigen, ebd. S. 104 f. Als Übersichtslektüre zur Thematik des Phallus geeignet ist Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien, Berlin 2002, S. 223–228. 14
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sein Glied verliert und bei der Beschneidung noch das Häutchen lassen muss, während die Frau, die der Schöpfer daraus macht, zwar kein Glied hat, aber eines ist (ebd. 22). Es ist der Bibel hier nicht um die Genese der Frau an und für sich zu tun, sondern um die der Ehefrau. Der Mann, sagt uns diese Warum-Geschichte, wird zum Ehemann, wenn er seiner Ehefrau sein steifes Glied abtritt, ähnlich wie Paulus es im 1. Kor 7, 4 formulieren wird: »der Mann hat kein Verfügungsrecht über den eigenen Körper, das hat die Frau«. Wenn Gen 2, 19–20 die Domestikation der Tiere beschreibt, dann Gen 2, 21–24 die Domestikation des Mannes. Aber noch lebt das ehelose Kinderpaar selig mit »aufgedeckter Scham« (2, 25) im Nudistencamp Eden, wie Primaten im Zoo. Der Zustand vor dem Fall wäre ein onto- und phylogenetischer Naturzustand noch diesseits von Inzesttabu und Exogamie. Der Soll-Zustand, die Exogamie, ist freilich an der Schnittstelle der Paradiesund der Sündenfallepisode schon begründet: »darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen« (Gen 2, 24 f.). Den notwendigen Ausgang der Symbionten aus der Unmündigkeit erzählt die genau à propos anschließende Tierfabel, die Schlange weist den Weg in die freie Welt. Es mag ein Beleg für die Schlüssigkeit unserer Interpretation sein, dass wir ohne literarkritische Interventionen und Operationen auskommen, die Schlange erscheint goldrichtig! Aus der Sicht der besorgten Eltern, hier Gottvaters, bleibt ihr Auftritt in der Kinderstube der Welt freilich ein Skandal. Die zwischen arom, nackt und arum, listig schillernde Schlange führt sich als eine um das Wohl des ehelosen Kinderpaares besorgte Artgenossin ein, denn auch sie ist ohne schützendes Fell auf die Welt gekommen. Mit welcher vollendeten Verführungskunst sie die Benachteiligten und Elenden der Erde gegen den fürsorglichen Gutbesitzer aufstachelt und zum Mundraub verführt, brauchen wir nach der psychologisch meisterhaften Nacherzählung von Eugen Drewermann in Strukturen des Bösen nicht noch einmal zu wiederholen. Bemerkenswert ist der Rollentausch in dieser Geschichte: Gottvater erzwingt das Glück der Kinder des Paradieses diesseits von Gut und Böse mit einer Todesdrohung, während die Schlange, wie in einer Naassener-Predigt, für Aufklärung und Emanzipation sorgt. Die Emanze, Heines »Blaustrumpf ohne Füße«, entlarvt mit ihrer Hermeneutik des Verdachts die Menschfreundlichkeit Gottvaters als durchsichtiges Manöver zur Verteidigung seiner Privilegien, sie stellt seine Güte als Bosheit hin und gibt ihre Bosheit als Güte aus – Nietzsche lässt mit der Umwertung aller Werte dies121 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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seits von Gut und Böse grüßen. Diese Geschichte lässt den frommen Leser etwas ungläubig staunen: Kann es sein, dass der Gesetzgeber die Menschen vor dem Elend des Gesetzes, namentlich der restriktiven Sexualmoral schützen wollte? Kann es sein, dass die Präambel des Gesetzes einem Zustand der Gesetzlosigkeit nachtrauert? Soll damit vielleicht ein eschatologischer Endzustand sub gratia vorweggenommen werden, der den zwischenzeitlichen Zustand sub lege ablösen wird? Ein Gesetz, das sich in märchenhafter Einkleidung a limine abschafft, wäre jedenfalls ein höchst ungewöhnlicher Anfang für Nomoi.
Das erste Mal Wir müssen jetzt gar nicht die Symbolsprache der Sündenfall-Erzählung bemühen, etwa die Schlange und den Baum als Penissymbole, die Frucht und die Feige als Brust- und Vaginasymbole, das Pflücken und der Genuss der Frucht als Paarungssymbole, die Erzählung spricht hinreichend deutlich vom Verlust der Unschuld, vom Ersten Mal. Der Geschlechtsakt wird allerdings konsequent als Erkenntnisakt geschildert, und zwar in drei Richtungen: 1. vertikal zu Gott, 2. horizontal zum Gatten, 3. zirkular zu sich Selbst und den Anderen, den Gesellen und der Gesellschaft. Indem der Mensch (HaAdam, 3, 8.9) – die Frau und der Mann, der bei ihr ist und schweigt (3, 6), obwohl er es besser weiß (2, 15–17 u. 3, 17) – nach der verbotenen Frucht greift, gibt er zu erkennen, dass er, entgegen der ausdrücklichen Weisung und Warnung seines großen Vormunds (2, 9.15.18), selber bestimmt, was in seinen Augen gut und schlecht ist. Dieser Erkenntnisakt des Guten und Bösen geht dem Genuss vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen logisch voraus und bestätigt sich in ihm. Der Mensch muss jenes Verbot schon gedanklich übertreten haben, ehe er es tatsächlich übertritt. Ansonsten wäre nur schwer zu verstehen und zu akzeptieren, dass er für das Böse bestraft wird, dass er noch gar nicht erkennen konnte. Jeder verbotene Baum ist insofern ein Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, als durch die Übertretung des Pflückverbots und des Apfelbisses der Gehorsam aufgekündigt und die süße Frucht der Freiheit genossen wird. Aber der Kontext legt, wie gesagt, eine inhaltliche, sexuelle Deutung des Baumes der Erkenntnis nahe (2,23–25, 4, 1; 4, 25; 1. Sam 1, 19), die Gatten lernen sich intim kennen. Hier geht es nicht um 122 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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irgendeinen Baum: »Wie ein Apfelbaum … so ist mein Freund« (HL 2, 3), liebenskrank lechzt die Freundin nach seinen Früchten: »labt mich mit Äpfeln!« (HL 2, 5), und ihre »Liebesäpfel geben den Duft«, die heurigen und die jährigen (HL 7, 14). Die Einverleibung der Frucht steht für die Liebesvereinigung. Gut und Böse meint dann vielleicht die Lust und Last der Ehe. Die Frucht dieser Begattung ist die Leibesfrucht. Aus ihr wächst wiederum ein Baum, der Stammbaum der Gattung, dessen exponentielle Fruchtbarkeit in den Genealogien der Genesis aufgezeichnet wird (Toldot). Die sexuelle Deutung kann auch aus der Wirkung des Gebotsübertrittes abgelesen werden, der dritten Dimension jenes Erkenntnisaktes, die Selbsterkenntnis. Diese setzt schlagartig mit dem Verzehr der verbotenen Frucht ein, es fällt den Ureltern wie Schuppen von den Augen (3, 7). Nicht, dass sie zuvor blind gewesen wären, aber jetzt erst er-kennen sie, was ihnen schon längst bekannt war. Sie sehen sich nun mit anderen Augen bzw. mit den Augen der anderen und bedecken sofort die aufgedeckte Scham mit den sprichwörtlichen Feigenblättern und verstecken sich vor den Blicken des/der Anderen (3, 8). Zur Rede gestellt, entschuldigt sich Adam damit, dass sie nicht nackt (erom) erscheinen wollten (3, 10). Mit der Scham vor der Scham entlarvt sich Adam freilich als einer, der weiß, was sich in guter Gesellschaft gehört und was nicht, kurz als einer, der die Weisheit vom sogenannten Guten und Bösen mit Löffeln gefressen hat. Vor der Ausweisung aus dem Paradies schneidert ihnen Gott bessere Wildlederanzüge (V. 21), wohl kaum um sie vor der orientalischen Witterung oder den harten Arbeitsbedingungen da draußen zu schützen. Vielmehr soll nach dem Ende der Freizügigkeit die Scham für alle bedeckt sein, außer für die zur Einsicht berechtigte Person, unter den vorgesehenen Bedingungen, in den erlaubten Zeiten. Die Verstöße gegen die Sexualtabus und den damit verbundenen Reinheitsgeboten werden von jetzt an als »Aufdeckung der Scham« erkannt und geahndet. Man hat noch zu wenig beachtet und bedacht, dass die Ursünde nicht etwa in Zügellosigkeit, sondern in Züchtigkeit mündet. An die Stelle der unbefangenen Naivität treten die Genitalscham und der Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Intimbereich. Die Ureltern verlassen das sorglose Sandkasten- und Planschbecken-Stadium und werden zu modebewussten Erwachsenen. Der ganze Unterschied zwischen dem Zustand vor und nach dem Fall besteht, wenn man Gen 2, 25 und Gen 3, 21 vergleicht, in der Kleidung bzw. in der Nacktscham, die die Menschen in der Tat von 123 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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allen Tieren unterscheidet. Gewöhnlich wird dieser Erkenntnisgewinn mit den großen Hoffnungen, die die Schlange geweckt hatte, der Mensch werde »wie Gott«, verglichen und lächerlich gemacht. Was haben die Ureltern mit der Übertretung des Verbotes schon erreicht? Sie haben sich doch nur als Möchtegerns und Höherhinaufs bloßgestellt und unsterblich blamiert. Aber Gott sieht es anders, er findet, dass der Mensch in der Tat eine göttliche Erkenntnis erworben hat (3, 22) (Biale, 1997, S. 30), und Gott steht damit nicht allein. Der Kulturanthropologe Hans Peter Duerr bestätigt den biblischen Mythos: »Es gehört zum Wesen des Menschen, sich seiner Nacktheit zu schämen« (Duerr 1988, 12). Der Strukturalist Claude Lévi-Strauss schätzt den Gegensatz: nackt/gekleidet für die Unterscheidung von Natur und Kultur ebenso hoch ein wie den Gegensatz von roh/gekocht (Lévi-Strauss, 1964). Der Psychoanalytiker der Scham, Léon Wurmser, meint, der biblische Mythos beschreibe die Geburtsstunde des Gewissens, die Einführung des Schamanteils des Über-Ich« (Wurmser, 1993, S. 91). 16 Mit der Erkenntnis des sogenannten Guten und Bösen, mit der Abgrenzung von Kultur und Natur, mit dem Inkrafttreten von Inzesttabu und Exogamie, mit dem Triebverzicht und der Arbeit, mit der Integration von Es und Über-Ich im Ich ist die Menschwerdung eigentlich erst vollendet. So gesehen erweist sich der Sündenfall als Glücksfall, als felix culpa und der Sünder als felix peccator (Flasch, 2017, S. 102 f., 109 f.). Die unverschämte Schlange hatte jedenfalls nicht gelogen, der Mensch ist durch den Sündenfall tatsächlich gottgleicher geworden, er weiß jetzt selber, was er will, auch wenn er dafür teuer bezahlen musste – als Kleinverdiener mit Großfamilie (3, 14–19). Gottgleich waren die Menschen nach dem ersten Schöpfungsbericht freilich auch schon zuvor (Gen 1, 27–28), aber die Erfüllung des damit verbundenen Herrschaftsauftrages (Krochmalnik, 2008) setzt doch voraus, dass der Gatte die Gattin erkennt, will sagen, begattet, und eine Gattung von Ebenbildern zeugt (Gen 5, 3), die alle anderen Gattungen der Erde beherrschen. Gottgleich wird der Mensch schließlich auch, indem er in der Nacktscham seine Grenzen entdeckt, seine Zeugungsorgane bedeckt und dem Begehren aller entzieht, ausgenommen dem, Vgl. auch Seidler 1995, S. 228–239, der freilich die angeblichen Webfehler, die die historisch-kritische Exegese dem Text unterstellt, als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse annimmt. Unbeschadet dessen sind Einsichten seiner Analyse tiefschürfend.
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der durch »Heiligung« (Kidduschin), d. h. Trauung, zur Aufdeckung der Scham berechtigt ist. Die Sexualtabus des Heiligkeitsgesetzes stehen jedenfalls unter dem Titel: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig! (Lev 19, 2), d. h. auf Deutsch: ihr sollt euch von allem fernhalten, was euch nicht zusteht, wie ich von allem fern bin (Krochmalnik, 2014/3). Insofern könnte man das 10. Gebot und alle zehn Gebote wie R. Chajim Josef David Azulai auch zum Heiligkeitsgesetz rechnen. Die dreidimensionale Erkenntnis steckt vielleicht schon im dreiteiligen Spruch, mit dem das Begehren der Frau beschrieben wird (3, 6): »… die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen eine Lust für die Augen verlockend für die Betrachtung«
Der Spruch soll die unwiderstehliche Anziehung zum Ausdruck bringen: das Objekt der Begierde erscheint als Leckerbissen, als Augenweide, als Wissensgenuss. Es lassen sich darin aber auch die drei angesprochenen Bezüge wiedererkennen. Der Baum scheint »gut« und geeignet zum Verzehr, obwohl in aller Deutlichkeit »Vorsicht Lebensgefahr!« draufsteht (2, 17). Er nimmt den Blick gefangen wie das erotische Lustobjekt in den Beschreibungsliedern des Hohelieds (4, 1–5; 5, 10–16; 7, 2–6). Er verspricht mit seinem Zweigwerk pffi aber auch intellektuelles Unterscheidungsvermögen (haskil, hif.: שכלeinsehen, verstehen).
Eine Ordensschwester, der ich diese Überlegungen zum Lesen gab, reagierte mit trockenem Humor, der hinter Klostermauern öfter vorkommt, als man denken sollte. Dabei gewann sie den für Frauen nicht gerade sehr schmeichelhaften biblischen Geschichten der Rippe und der Schlange überraschende emanzipatorische Potentiale ab. Ich bat sie, ihre gewitzte Exegese auch anderen zugänglich zu machen. Mit ihren Gedanken schließen wir unsere Überlegungen ab: »Der zweite Mensch im Garten Eden war langersehnt und heißumjubelt – diese sei endliche die Bei(n)gabe, dankt der bereits betagte Erdensingle. ›Dieses Mal ist es Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch.‹ Nimmt man Adam beim Wort, so ist es 125 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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die Gleichheit, die ihm gefällt. ›Diese werde Männin genannt (Ischa), denn vom Manne (Isch) ist sie genommen.‹ Die Vulgata liest ›haec vocabitur virago quoniam de viro sumpta est‹. Hier klingen womöglich virgo, junges Mädchen/Jungfrau und virga, Rute mit an. Jedenfalls wird das schöne Seitenstück als Heldin voll mannhafter Tapferkeit und Tatendrang, virago, als differenziertes Gegenüber, wie der Schöpfer es sich eigentlich gedacht hatte (18), (noch) nicht erkannt. Gewiss, eine Stütze (zela; LXX: pleura) ist der Neubau (banah, 2, 22), die Männin, schon. Doch Adams Freude scheint sich mehr auf die Proportionen, den gelungenen Body-Mass-Index zu beziehen, wird das Wort ›zela‹ doch sonst für Angaben der Architektur benutzt (Ex 25, 12; 27, 7). Zugleich bleibt anzunehmen, dass Adam hier nicht einfach ein flaches ›Brett‹ (zela) erregte. Sie, seine Hilfe, ist doch mehr als Haut und Knochen, sie ist vor allem sein Fleisch: lebendige, warme, weiche ›Seitenlehne‹ (zela). Das Dankeswort für die Gehilfin richtet sich zumindest an den richtigen Absender: ›Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat‹ (Ps 121, 2). Kurz: Alles sah rundherum rosig aus: beide waren nackt und schämten sich nicht. Aus dem Schulterschluss in freier Bindung sollte mit der Zeit eine dauerhafte Verklebung (dawaq, 2, 24) werden – doch die Frau ging der Schlange auf den Leim. Wieso? Nach der Geschichte vom Sündenfall gibt Adam seiner Männin einen neuen Namen (3, 20), der sich nun von seinem eigenen unterscheidet: Eva (Chawa), Mutter alles Lebenden (Em kol Chaj). Da in der Bibel das NomenOmen-Prinzip gilt, ist diese Stelle aufschlussreich. Was Adam in 2, 23 noch nicht sehen konnte (oder wollte), hat er inzwischen lustvoll und schmerzhaft erkennen müssen: er ist zwar der Anteilgeber, doch die Heldin hat sich von der stillen Teilhaberin zur selbständigen Partnerin gemausert: pars pro toto und totum pro parte. Das ist freilich keine Folge des Sündenfalls. Adam ist anfangs nur auf ein Erkennen im Spiegelbild fokussiert, er erblickt sein verlorenes Glied und jubelt, so gesehen, bloß über seine eigene Potenz, die ihm zudem noch mächtig erscheint. Das macht es der Schlange leicht, sich dem »schwachen Geschlecht« zu nähern, zumal das schlaffe Glied erst in 4, 1 erkennt, wozu es eigentlich zu gebrauchen ist. Während zwischen Isch und Ischa von keiner verbalen Kommunikation erzählt wird und Adams Jubelschrei ja auch eher ein Loblied der eigenen Fleischbeschauung ist, kitzelt die Schlange Eva genau am richtigen Punkt: am Eros des Erkennens. Die Schlange weckt Neugier, stellt Fragen und erweist sich so als Gesprächspartner und mehr wissendes Gegenüber. Eva 126 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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spürt erst geistig, dann leibhaftig, wie köstlich es wäre, sich das begehrte Objekt einzuverleiben. Eva erkennt bereits in diesem Moment den Unterschied, der es ihnen ermöglichen würde, in Beziehung zu treten – zu sich selbst und untereinander. Dass sie Adam von der Frucht reicht und ihn damit ins verantwortete Leben ruft, verheißt ihre spätere Namensgebung. Sie wird die, die sie immer schon war: Mutter allen Lebens. Sie, die selbst nie einen Mutterschoß durchbrochen hat, verhilft Adam – und insofern ist sie wieder eine ihm angemessene Gehilfin – zu einer individuellen, differenzierten Sichtweise: sie gebiert die Möglichkeit der Frage. Was sich den Augen nach der Nascherei eröffnet, ist jedoch nur die Wahrnehmung, dass es zwischen Imaginärem, Symbolischem und Realem eine Differenz gibt. Mann und Frau bleiben komplementär. Die Frau ist das Kompliment des Mannes.«
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Christentum als radikale Sublimierung? Biblischer Glaube im Spannungsfeld von Begehrensverbot und erfüllter Begierde
»Was immer man in bestimmten Kreisen denken mag, Sie hätten Unrecht zu glauben, die heiligen Autoren gehörten nicht zur guten Lektüre. Ich meinerseits habe mich immer nur belohnt gefunden, wenn ich mich in sie vertieft habe, und insbesondere dieser [Paulus], den ich Ihnen zur Urlaubslektüre aufgebe, wird kein schlechter Begleiter für Sie sein.« (Lacan 1986, 104) 1
I.
Das Verbot: Du sollst nicht begehren!
I.1 Die schwierige Dialektik von Gesetz und Begehren in den JesusTraditionen »Le christianisme efface le désir«, so erklärt Patrick Banon, worauf es im Christentum ankomme. 2 Damit bringt der populäre Religionsdenker aus Paris auf den Punkt, wie er die triebtheoretischen Folgen des christlichen Glaubens einschätzt (Banon 2015). Und in der Tat – wenn man die Evangelien (als direkte oder mehr indirekte) Reflexe der Verkündigung Jesu durchdenkt, dann scheint dieses Urteil gut begründet. Gegen wesentliche Aspekte des menschlichen Begehrens 3 richtet Jesus Verbote auf, die radikal klingen und auch von seinen Jüngern Was für ein Unterschied zu Freud! Im Netz unter http://www.lesoir.be/archive/recup/961337/article/culture/livres/ 2015-08-13/christianisme-efface-desir (22. 10.2017) 3 In der deutschsprachigen theologischen Literatur findet das französische Wort »désir«, das wir nachfolgend mit »Begehren« übersetzen, bislang relativ wenig Aufmerksamkeit. Als Übersetzung des griechischen ἐπιθυμία bzw. lateinischen concupiscentia hat es einen sehr negativen Klang und ist nahezu synonym mit Sünde. »In den französischsprachigen Geisteswissenschaften, ob in Philosophie, Psychologie oder Theologie, gehört ›désir‹ zu den zentralsten Begriffen überhaupt, um die entsprechend 1 2
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als schwierig wahrgenommen wurden. Hier sollen nur drei Aspekte beleuchtet werden: a)
Das Verbot von sexuellem Begehren (selbst in der Phantasie)
Die zweite Antithese der Bergpredigt des Matthäus lautet: »Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen! Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht und sie begehrt, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.« (Matthäus 5,27)
Jesus verstärkt das überlieferte Verbot des Ehebruchs, indem er das sechste Gebot »Du sollst nicht ehebrechen!« mit dem zehnten Gebot »Du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten« kombiniert und durch diese Synkrasis schon das »Begehren« zum »Ehebruch« erklärt. Er nimmt damit eine Tendenz auf, die schon im Dekalog selbst angelegt ist. Denn der heilige Text »verdoppelt« ja den Schutz der Ehefrau, indem er das sechse Gebot implizit im Begehrensverbot des zehnten Gebots wiederholt und damit einschärft. Das Gesetz, das zum Schutz der Frau, der eventuell entstehenden außerehelichen Kinder, aber vor allem auch zum Schutz des Eigentums des Nächsten gedacht war, wird bei Jesus zur furchtbaren Bedrohung jedes Mannes. Wer eine Frau anschaut und begehrliche Gedanken und Phantasien zulässt, wird in die Hölle geworfen. Er soll sich lieber ein Auge ausreißen. Die Tabuisierung des begehrlichen Blickes wird mit drakonischen Strafen der Körperverstümmelung abgesichert, die der schuldige Sünder an sich selbst durchführen soll: »Verführt dich aber dein rechtes Auge zur Sünde, so reiß es aus und wirf es weg von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verdirbt und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen wird. Verführt dich deine rechte Hand zur Sünde, so haue sie ab und wirf sie weg von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verdirbt und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen wird.« (Matthäus 5,29–30)
gerungen wird. ›Désir‹ wird im Deutschen häufig – vor allem im psychoanalytischen Umfeld und in Anlehnung an die Freud’sche Begrifflichkeit – mit ›Wunsch‹ übersetzt. In literarischen Zusammenhängen hingegen wird oftmals das Wort ›Sehnsucht‹ gebraucht. Der treffendste, weil unverbrauchteste Begriff ist allerdings der seit einiger Zeit vor allem im Umfeld des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan verwendete Begriff ›Begehren‹.« (Meyer 2003, S. 295)
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Gegenüber dem aktiven Verzicht auf eine sexuelle Tat wird hier sogar der Verzicht auf jedweden erotischen Gedanken (und sei er noch so theoretisch) eingefordert. Wer dies nicht tut, wird ewige Qualen erdulden müssen. Zur Durchsetzung des Begehrensverbots wird also nicht nur mit irdischen Sanktionen, sondern mit ewigen Strafen argumentiert. b)
Das Verbot von autonomer Macht und persönlicher Entscheidungsfreiheit
Markus berichtet, dass die Jünger Jesu miteinander konkurrieren und untereinander darüber streiten, wer von ihnen der Größte sei. Dieses Streben nach hohem Status und Einfluss weist Jesus in Kapernaum, dem Heimatort des Petrus, des ideellen Stammvaters des Papstes, schroff ab: »Und er setzte sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: ›Wenn jemand der Erste sein will, soll er der Letzte sein von allen und aller Diener.‹« (Markus 9,35)
Jesus fordert unter Verweis auf seinen eigenen Lebensweg von seinen Jüngern radikale Selbsterniedrigung bis hin zur Selbstverleugnung: »Aber Jesus rief sie zu sich und sagte zu ihnen: ›Ihr wisst, dass die, welche als Fürsten der Nationen gelten, über diese herrschen, und die Großen unter ihnen Gewalt über sie üben. Aber so soll es unter euch nicht sein. Sondern wer unter euch groß werden will, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste werden will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.‹« (Markus 10,42–45)
Dienen bis zum Selbstverlust, ja bis zum Martyrium, das ist das Ideal Christi. Nach der Nächstenliebe kommt »die zweite ethische Grundforderung des Neuen Testaments: der Statusverzicht. In der antiken mediterranen Welt war das Zusammenleben von dem Versuch bestimmt, Ansehen und Macht zu steigern. In dieser agonistischen Gesellschaft entdeckt das Urchristentum (und das rabbinische Judentum) die Demut, das heißt die Bereitschaft, auf Status, Ansehen und Macht zu verzichten, als zentralen Wert.« (Orthwein 1999, S. 9)
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c)
Das Verbot von Reichtum
Jesus wurde nach Markus 10,17–25 von einem wohlhabenden jungen Mann gefragt: »Meister, was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?«
Die Antwort Jesu markiert den Erwartungshorizont, den er in ethischer Perspektive folgendermaßen formuliert: »Du kennst die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, du sollst niemanden berauben, ehre deinen Vater und deine Mutter.«
Jesus erweist sich damit als observanter Jude, der im Rahmen der Tora Israels lebt und der möchte, dass alle nach den Geboten des Dekalogs handeln (wobei er hier die zehn Gebote auf sechs reduziert und ihre Reihenfolge gegenüber den alttestamentlichen Vorlagen umdreht). Aber der fragende reiche Jüngling erwidert: »Meister, das alles habe ich befolgt von Jugend an.«
Offenbar erwartet er, dass Jesus mit der Erfüllung der »normalen« jüdischen Standards nicht zufrieden sei und darüber hinausgehend etwas Besonderes von ihm verlangte. Wenn man ein guter Christ sein will, dann muss man – so glaubt er – mehr leisten als das Übliche, »Anormales«. Und Jesus geht im zweiten Schritt in die geradezu ersehnte Richtung und erhebt zwei zusätzliche Forderungen: »Geh, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir!«
Abschied von irdischen Gütern, Verschenken der wirtschaftlichen Absicherung und radikale Nachfolge in Armut, ohne alle Sicherheiten. »Der aber war entsetzt über dieses Wort und ging traurig fort; denn er hatte viele Güter. Da blickt Jesus um sich und sagt zu seinen Jüngern: ›Wie schwer kommen doch die Begüterten ins Reich Gottes!‹ Die Jünger aber erschraken über seine Worte. Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen: ›Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen.‹«
Ein solches neues »Gesetz« erregt Trauer und Angst; Trauer, weil der junge Mann dem Gebot nicht zu entsprechen vermag; Angst und 134 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Christentum als radikale Sublimierung?
Schrecken bei den Jüngern, weil es so »schwer« (δύσκολόν) ist, ins Reich Gottes zu kommen. Was soll aus ihnen werden? Die angeführten drei Texte haben im Verbund mit zahlreichen ähnlichen das Image des Christentums nachhaltig geprägt: Als entschiedener Christ zu leben, ist schwierig, denn es verlangt radikalen Verzicht, es verbietet das Begehren. 4 Statt Trieberfüllung werden Statusverzicht, Selbstrücknahme und stoisch-strenge Triebbeherrschung bis ins Intimste gefordert (von Gemünden 2009a; dies. 2013). Das Christentum verlangt – Freudianisch formuliert – radikale Sublimation, d. h. grundlegende Umwandlung oder Umlenkung von Libido in »sozial nützliche« Eigenschaften, in geistige Leistungen oder kulturell anerkannte Verhaltensweisen (vor allem in Bereichen wie Ethik, Diakonie, Kunst und Wissenschaft): Gott, der strenge Vater, verlangt radikale Kontrolle der sexuellen Gelüste, grenzenloses Dienen und völlige Armut. Im Lacan’schen Sinne besteht die Funktion der christlichen Religion darin, das Begehren (le désir) durch das Gebot (le loi) des himmlischen Vaters einzudämmen und zu überwinden und das ursprüngliche Lustobjekt (la chose = die Mutter?) loszulassen. Um das zu lernen, braucht ein Christ intensive Anleitung, bis hin zu den Finessen spiritueller Lenkung und Leitung. In seiner Auslegung des 10. Gebots schreibt Lacan: »Dieses Gesetz, immer lebendig im Herzen der Menschen, die es tagein, tagaus verletzen, zumindest was die Frau des Nächsten angeht, muß ganz bestimmt in einem gewissen Verhältnis zu dem stehen, was hier unser Gegenstand ist, nämlich das Ding*. […] Ist das Gesetz das Ding? Sicher nicht.« (Lacan 1996, 103 f.) Auch wenn nicht restlos klar ist, wie genau das Begehrensverbot mit dem Ding zusammenhängt, es geht hier, im letzten Gebot, um etwas ganz Elementares. Wir werden unten in der Auslegung von Röm 7 darauf zurückkommen. Die These lautet: Wer ein guter Christ sein will, muss lernen, sein von der Majorität der Gesellschaft damals und heute als »normal« empfundenes Verlangen nach erotischer Lust und sexueller Erfüllung, nach Selbstbestimmung, Wohlstand und finanzieller Sicherheit zu unterdrücken bzw. sich davon innerlich und äußerlich loszusagen. Durch eine solche Deutung der Botschaft Jesu und der EvanDie Parallele in Lukas 18,25 expliziert: »Verkaufe alles, was du hast, und verteile es unter den Armen«.
4
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gelisten stünde das Christentum ziemlich isoliert gegenüber dem Mainstream-Judentum da. Die Ideale von Askese, Unterwerfung und Armut gibt es dort nicht. Selbst die Rechabiter, der strengste Zweig alttestamentlicher Frömmigkeit (siehe Jeremia 35), lebten nur alkoholabstinent. In der neuesten historisch-kritischen Forschung hat sich zwar zunehmend gezeigt, wie sehr Jesus weitgehend auf dem Boden des Judentums stand. Aber Jesus nimmt in mancher Hinsicht schon eine Extremposition ein, indem er noch härtere Forderungen erhebt als Schammai, der strengste Gerechte (ca. 50 v.–30 n. Chr.). Jesus ist ein Streiter für die Tora in einer radikalisierten Auslegung. »Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht um aufzulösen, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen. Denn, amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, soll vom Gesetz nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vergehen, bis alles geschieht.« (Matthäus 5,17–18).
Auch die sechs »Antithesen« (Matthäus 5,21–48) wollen nicht die Geltung des Gesetzes aufheben, sondern ganz im Gegenteil. Sie stehen im Kontext der angemessenen Deutung der Mosaischen Gesetze. Im Streit um ihre richtige Auslegung vertritt Jesus seine Sinngebung mit gottgleicher Vollmacht. Man musst das »Ich aber sage euch« entsprechend folgendermaßen paraphrasieren: »Im Streit um die Interpretation der Offenbarung Gottes sage ich euch, mit meiner ganzen Autorität, was die richtige Auslegung ist«. Die Bergpredigt gilt als systematisierende Zusammenfassung, als das Grundgesetz des Reiches Gottes. Dabei ist aber die Art, wie Jesus das Gesetz deutet, ihrerseits wiederum deutungsbedürftig. Die Grundfrage ist, ob man seine Forderung überhaupt erfüllen kann – oder aber nicht. Die Radikalität der Ethik Jesu hat in der Auslegungsgeschichte eine Fülle von Theorien hervorgebracht, teils, um sie in irgendeiner Weise doch »lebbar« zu machen, teils, um ihr einen Sinn zu geben, auch wenn sie unerfüllbar ist. Im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte hat die Bergpredigt diverse Deutungstraditionen hervorgebracht. Theißen/Merz skizzieren acht Typen der Sinngebung der Bergpredigt folgendermaßen (Theißen/ Merz 2011, S. 351–355): 1. Die Unterscheidung von sogenannten praecepta und consilia evangelica in der mittelalterlichen Zwei-Stufenethik: Die weithin aus den 10 Geboten bestehenden praecepta (Gebote) gelten für alle, die con136 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Christentum als radikale Sublimierung?
silia evangelica (evangelische Vorschriften der Bergpredigt) der Armut, Keuschheit und des Gehorsams jedoch nur für wenige Spitzengläubige, z. B. für Mönche und Nonnen. 2. Die Unterscheidung einer Ethik des Amts und der Person bei Martin Luther: Die radikalen Forderungen Jesu gelten demnach nicht für das öffentliche und politische Leben: Als Vertreter eines Amtes (z. B. als Politiker, Richter, Lehrer usw.) muss der Christ im Interesse Anderer die Macht gebrauchen und das Recht auch gegen Widerstand durchsetzen, muss sinnvoll haushalten und Geld ansparen. Wenn es aber nur um seine eigenen Interessen geht, wenn er als »Privatperson« betroffen ist, dann soll der Christ auf Widerstand verzichten, Unrecht leiden und unbedingte Liebe verwirklichen, was eine starke Relativierung bis hin zum Verzicht auf Lust, Macht und Geld einschließt. 3. Die Unterscheidung zwischen Gesinnung und (zeitbedingter) Konkretion in der sogenannten »liberalen Theologie«: Eine eher neuzeitliche Konzeption ist die Reduktion der Ethik Jesu auf ein Prinzip der Gesinnung: Gut ist nur das, was aus einer guten Gesinnung heraus getan wird. Die Gebote Jesu wollen daher nicht ihrem Buchstaben nach verwirklicht werden, sondern ihrem inneren Geist nach; sie wollen die grundsätzliche Gesinnung formen, aus der heraus wir handeln sollen. In dieser Hinsicht sind sie zeitlos gültig. Die konkreten Forderungen und die je aktuellen Umsetzungen sind dagegen zeitbedingt und wandelbar. 4. Die radikale Ethik Jesu als usus elenchticus (aufdeckender Gebrauch) des Gesetzes. Schon Luther betrachtete die Bergpredigt als Gesetz, das unerfüllbar ist. Diese Linie wurde in der lutherischen Orthodoxie fortgeführt. Die unerfüllbaren Forderungen Jesu decken die Sünde des Menschen auf und schaffen eine Sehnsucht nach dem Evangelium. Wer in der Erfüllung des Gesetzes Jesu scheitern muss, weil es gegen die menschliche Natur ist, der versteht, dass eben die menschliche Natur das Problem ist, von dem er erlöst werden muss. 5. Die radikale Ethik Jesu als christologische Aussage über Jesus selbst als den einzigen Bringer des Gottesreiches: Nach E. Thurneysen ist Christus nicht nur der Autor der Bergpredigt, sondern ihr
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Gegenstand: Exklusiv nur in ihm sind die radikalen Gebote der Bergpredigt erfüllt. 6. Die radikale Ethik Jesu als eschatologische Aussage über das zukünftige Leben im Gottesreich: Danach sind die Sprüche Jesu »Zeichen des kommenden Gottesreichs«. Sie sind in dieser Welt nicht erfüllbar, aber sie weisen sinnvoll auf eine neue Welt voraus. 7. Die Auffassung der Ethik Jesu als »Interimsethik«, die punktuell aus der Ausnahmesituation des nahen Weltendes erklärbar ist: Johannes Weiß z. B. deutet Jesu Ethik im Kontext der Naherwartung. An ein ethisches System, das die Belange einer Gemeinschaft strukturell für Jahrhunderte regeln könne, sei nicht gedacht. »Wie im Kriege Ausnahmegesetze in Kraft treten, die sich so im Frieden nicht durchführen lassen, so trägt auch dieser Teil der ethischen Verkündigung Jesu einen besonderen Charakter. Er fordert Gewaltiges, zum Teil Uebermenschliches, er fordert Dinge, die unter gewöhnlichen Verhältnissen einfach unmöglich wären« (Weiß 1964, S. 139). Albert Schweitzer prägte dafür den Begriff »Interimsethik«. Aber Jesus hat sich geirrt: die Parousie, d. h. die Wiederkunft des Auferstandenen und der Anbruch der neuen Welt, hat sich verzögert, bisher schon 2000 Jahre. 8. Die Auffassung der Ethik Jesu, die als Ausdruck eines radikalen Wandercharismatikertums erklärbar ist: Wenn man Jesus und seine Jünger als eine Gruppe mit sozial abweichendem Verhalten betrachtet, die ohne die Bindungen und Einschränkungen eines alltäglichen Berufs- und Familienlebens durch Palästina zogen, so erscheint die Radikalität der Ethik Jesu tendenziell »lebbar« zu sein (so z. B. G. Theißen). Die hiermit angedeutete Fülle der Interpretationsmöglichkeiten der radikalen Lehren Jesu macht demütig. Es ist nicht eindeutig klar, was Jesus meinte und was das »Ausradieren des Begehrens« alles impliziert. Was lehrte Jesus wirklich und was wurde ihm später in den Mund gelegt? Nach meiner Einsicht ist dies in den meisten Fällen nicht zu entscheiden. Allerdings ist es methodisch sinnvoll zu fragen: Wo hat diese Gesetzesauslegung Jesu im Kontext des antiken Judentums ihren Ort? Das zehnte Gebot ist in der Bibel Israels in zwei leicht abweichenden Fassungen überliefert: 138 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Christentum als radikale Sublimierung?
»Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren (chamad); du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren oder seinen Knecht oder seine Magd oder sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.« (Exodus 20,17) »Und du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren (chamad) und sollst nicht verlangen (’awah) nach dem Haus deines Nächsten, nach seinem Acker oder seinem Knecht oder seiner Magd, nach seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.« (Deuteronomium 5,21)
Der wichtigste Unterschied betrifft die Stellung der Frau, die in der Exodus-Version erst an zweiter Stelle steht, in der jüngeren Deuteronomium-Version aber an erster. Mehr noch als der Immobilienbesitz soll primär die Ehefrau vor dem begehrlichen Blick geschützt werden. Der zweite Unterschied betrifft die hebräischen Verben. Es geht im Deuteronomium um eine stärkere Verinnerlichung; ’awah ist zwar fast synonym zu chamad, zeigt aber m. E. eine Richtung auf Sünde rein in Gedanken an, »in erster Linie ein von innen, durch Triebe und Wünsche geleitetes Begehren« (Schmidt/Delkurt/Graupner 1998, S. 140, Anm. 46). Die griechische Übersetzung des Pentateuchs, die Septuaginta, die ca. im 3. Jh. vor Christus von Juden in Alexandrien angefertigt wurde, überträgt mit οὐκ ἐπιθυμήσεις, was einen Vorgang im Herzen bezeichnet. Die Auslegung des 10. Gebots in der alttestamentlichen Weisheit ist erhellend; die Weisen Israels waren gute Kenner der menschlichen Seele. In Spr 6,25 wird der Aspekt der Innerlichkeit deutlicher, wenn der junge Mann vor der fremden Frau mit den Worten gewarnt wird: »Begehre nicht ihre Schönheit in deinem Herzen«;
Diese Dimension wird in Hiob 31,1 nochmals intensiviert: »Ich habe einen Bund mit meinen Augen geschlossen, wie sollte ich auf eine Jungfrau hinschauen?« 5 Zur Erläuterung möchte ich eine Anekdote berichten, die ich selbst erlebt habe. Während meiner Ausgrabungen in Aseka sind 2015 zwei weibliche Grabungsteilnehmerinnen an einer Blasenentzündung erkrankt. Sie wollten sofort zu einem Arzt. Ich chauffierte die beiden jungen Damen zum Gynäkologen nach Bet Schemesch. Wir mussten im Wartesaal Platz nehmen, wo allerdings schon ein orthodoxer Jude saß, der vermutlich seine Frau begleitete. Der Anblick der beiden Studentinnen in Grabungsoutfit (Shorts, Spagettiträger-Shirt) machte dem frommen Mann ersichtliche Probleme, die er so löste, dass er aufstand, sich in die Ecke des Warteraums stellte
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Der späte Weisheitslehrer Jesus Sirach mahnt um 180 v. Chr. Folge deinem Begehren nicht, auch wenn du es könntest, und gehorche deinen Trieben nicht. μὴ ἐξακολούθει τῇ ψυχῇ σου καὶ τῇ ἰσχύι σου πορεύεσθαι ἐν ἐπιθυμίαις καρδίας σου (Jesus Sirach 5,2, ca. 180 v. Chr.)
[In der lateinischen Übersetzung des Hieronymus (4. Jh. nach Chr.) steht: non sequaris concupiscentiam cordis (Jesus Sirach 5,2 nach der Vulgata)]
Die ἐπιθυμία [bzw. die concupiscentia] wird also schon während des vorchristlichen Judentums als innere Kraft angesehen. Glauben wird zu einem psychischen Prozess, der nach außen gar nicht sichtbar ist, zu einem inneren Kampf. »Beherrschung« des désir wird zum Erweis der Frömmigkeit. Der Begierde nachzugeben, ist Zeichen der Herrschaft der Sünde (Apokalypse des Mose 19,3; Philo, De decalogo 142.153.173; De specialibus legibus 4,84–86); der Begierde nicht zu verfallen, ist Erfüllung des Gesetzes Gottes, was man an Josef ablesen kann, der Potiphars Weib widerstand: Der keusche Joseph wird ja deshalb gepriesen, weil er durch die Vernunft die Wollust besiegte. Denn obschon er ein Jüngling und in voller Reife für den Verkehr war, unterdrückte er doch durch die Vernunft den Stachel der Triebe. Natürlich unterdrückt die Vernunft nicht bloß den Wollustreiz, sondern auch alle andern Begierden. So sagt wenigstens das Gesetz. (4 Makkabäer 2,2–5) (Übersetzung und Auslegung von Gemünden, 2009b, S. 118–137)
Im rabbinischen Judentum gibt es eine große Fülle von ähnlichen Aussagen, die Strack/Billerbeck zusammengestellt haben (Strack/Billerbeck 1926, S. 294–321, bes. S. 299–302), z. B. »LvR 23 (122b): Resch Laqisch (um 250) hat gesagt: Du sollst nicht sagen, dass nur der, welcher mit seinem Leibe die Ehe bricht, ein Ehebrecher genannt wird; auch der, der mit seinen Augen die Ehe bricht, wird ein Ehebrecher genannt.« […]
und dort ca. 20 Minuten die weiße Wand anblickte, ohne seinen Kopf umzudrehen. Ich hatte das zuletzt als kleines Kind vor 55 Jahren erlebt, dass sich ein Mitschüler zur Strafe so in die Ecke stellen musste. Dieser Mann hatte mit seinen Augen offenbar den gleichen Bund geschlossen wie Hiob mit den seinen.
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Christentum als radikale Sublimierung?
»Tr. Kalla 1: Wer eine Frau mit (begehrlicher) Absicht anblickt, gilt wie einer, der ihr beiwohnt. Von hier aus haben die Gelehrten gesagt: Wer den kleinen Finger einer Frau berührt, ist wie einer, der eine gewisse Stelle berührt; und ebenso, wer auf die Ferse einer Frau blickt, dem werden Kinder mit Leibesfehlern zuteil: lahme, blinde, stumme, taube.« […] »Nidda 13b: Rabbi Ammi (um 300) hat gesagt: Wer sich selbst in die Gewalt unzüchtiger Gedanken bringt, den läßt man (= Gott) nicht eintreten in die Abteilung (= himmlische Wohnung) Gottes.« […] »pChalla 2,58c, 42: Bar: Wer auf die Ferse des Weibes blickt, ist wie einer, der auf die Schamteile blickt; und wer auf die Schamteile blickt, ist wie einer, der ihr beiwohnt.«
ἐπιθυμία wird zu einem Vergehen gegen Gott und sein Gesetz; die Unterdrückung der Wünsche und die starke Stutzung des Begehrens wurden im hellenistischen und rabbinischen Judentum zum zentralen religiösen Inhalt. In dieser Linie steht der matthäische Jesus mit seiner besonders scharfen Kritik des erotisierten Anschauens und mit seiner extrem harten Forderung, wirklich wegzusehen, weil sonst schwerste Verstümmelungen als Strafen drohen. Man kann aus psychologischer Sicht leicht zu der Ansicht gelangen, dass die Verkündigung Jesu im Kern den Aufruf zu einer radikalen Sublimation beinhalte. Dabei geht es zentral um den Verzicht auf Sexualität – Jesus selbst war nicht verheiratet, er hatte keine Kinder gezeugt, und es wird nicht erzählt, dass er jemals eine Liebesbeziehung unterhalten hätte, weder zu einer Frau noch zu einem Mann oder mehreren Männern. Das gleiche gilt für Paulus – aber keineswegs geht es nur um leibliche Enthaltsamkeit. Der radikale Widerspruch von natürlichem Begehren und religiös wie rational-philosophisch begründetem Verbot des Begehrens durchzieht seit den ersten Anfängen in den Predigten Jesu die gesamte christliche Verkündigung als immer wieder neu virulente Problematik. Es scheint, als ob der christliche Glaube in Aufnahme und bis zum Äußersten getriebener Fortführung alttestamentlicher und hellenistischer Wurzeln seinem innersten Wesen nach darin besteht, das natürliche Begehren durch Verbote geradezu »auszureißen« und »abzutöten«. Dies geht einher mit einer provokativen Umkehrung des Bildes eines normalen Erwachsenen in Gestalt des Aufrufs zur Infantilisierung:
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»Amen, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.« (Matthäus 18,3)
Welches Kinderbild hier genau maßgeblich ist, ist in der Forschung umstritten. Ich vermute, es handelt sich um die Annahme, dass Kinder keine sexuellen Bedürfnisse hätten. Mit dieser Abwertung des Begehrens und der Androhung von ewigen Höllenstrafen geht eine Personifikation der Begierde einher. Es ist der Satan, der den Menschen verführt, der von außen auf ihn zukommt und ihm das Begehren »einflüstert« und ins Herz »eingibt«. ἐπιθυμῆσαι erstreckt sich aber keineswegs nur auf den Bereich des Geschlechtstriebs. Es gibt ebenso auch Gier nach Macht und Besitz. Es kann nicht wundernehmen, dass in einer bestimmten Phase der Entstehung des Christentums das Ideal des Mönchstums entstand, man mag allenfalls darüber staunen, dass es erst so spät, ab dem dritten und vierten Jahrhundert n. Chr. zu einer nennenswerten Bewegung wurde. Der vollkommene Christ wurde dargestellt im Idealbild eines Mönchs oder gar eines Eremiten, der sich ganz aus der Welt zurückzieht und in einer einsamen Höhle haust. Der gute Mönch musste auf Selbstbestimmung verzichten und sich der Autorität des Abtes oder anderer Ordensoberen unterwerfen. Ebenso musste er auf Besitz verzichten und sich ganz dem Wohlwollen der anderen aussetzen. Sein Handeln widerspricht damit den zumeist als natürlich empfundenen Maßstäben des Menschen (bzw. damals primär des Mannes), der Glück, Sicherheit, Erotik erfahren möchte. Wenn dem so ist, dann ist im zentralen Glaubensgeschehen ein massiver Kampf angelegt: als dauernder Kampf im Ich, das die Forderungen des Glaubens (des Über-Ichs) erfüllen möchte und dessen innerste Antriebe (des Es) diesen Wünschen zugleich zuwiderlaufen. Diese Verzichtsforderungen sind aber paradox verbunden mit Belohnungsphantasien. (Lacan sieht sogar in Kants Ethik-Konzeption ähnliche Phänomene, wenn hier die Pflichten-Ethik mit dem Begriff des »Wohls« verbunden wird.) Wer es schafft, seine Bedürfnisse zu verleugnen, wer es in seinem Leben leistest, die Gier nach Besitz, gesellschaftlicher Anerkennung, Sex und Fortpflanzung zu unterdrücken, auf den wartet »großer Lohn«. »Selig ihr Armen – euch gehört das Reich Gottes. Glückselig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet satt werden. Glückselig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.
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Christentum als radikale Sublimierung?
Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt. Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht! Denn ihr werdet weinen und klagen.« (Lukas 6,20–28)
Ein Christ verzichtet entsprechend (nur?) deshalb auf Erfüllung seiner Begierde in diesem Leben, weil er auf umso größere Erfüllung im kommenden Leben hofft. 6 Die Beschreibung der Gebotsauslegung Jesu und der tiefgründigen Schwierigkeiten, die die Frage nach der Lebbarkeit des Gesetzes aufwerfen, lädt ein zum Dialog mit der Psychoanalyse Lacans, der in seiner Weiterentwicklung der Freud’schen Hermeneutik der Religion einen besseren Platz einräumte, indem er sie nicht überwinden wollte, sondern sich mit der psychischen Wirkung von religiösen Gesetzen intensiv befasste, 7 auch mit dem Dekalog. Für Lacan haben die Zehn Gebote einen großen Vorteil. Sie erziehen zur Abstraktion, weg von Bild und vom Haptischen, hin zur Sprache und zur Geistigkeit. »Es gibt aber eine Dimension des Gesetzes, die tiefer als das Problemanzeige: Partiell ähnliche Denkfiguren begegnen heute bei islamistisch motivierten Selbstmordattentätern, die auf himmlische Jungfrauen hoffen, und auch bei christlichen Attentätern. 7 Die Rezeption Lacans ist in der Theologie und vor allem der Bibel-Exegese noch schleppend. Hier eine repräsentative Stimme: »Jacques Lacan (* 13. April 1901; † 9. September 1981) ist ein französischer Arzt und Psychoanalytiker, der bereits früh den strikten therapeutischen Rahmen der Psychiatrie verlässt und beginnt, die Einsichten, die er aus dem Werk S. Freuds, aus der surrealistischen Avantgarde und aus der deutschen (besonders F. Nietzsche, K. Jaspers, G. W. F. Hegel und M. Heidegger) und der französischen Philosophie gewonnen hat, in seine Spielart der Psychoanalyse zu integrieren. So kann Lacans Denken am ehesten als eine Synthese aus einer Neubewertung bzw. Radikalisierung der Freud’schen Psychoanalyse in Verbindung mit der strukturalen Sprachwissenschaft F. de Saussures und der Dekonstruktion verstanden werden. Er ist damit ein erster Vertreter des sog. linguistic turn in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, da in Lacans Werk ganz bewusst der Untersuchungsgegenstand Bewusstsein durch die Konzentration auf die Sprache ersetzt wird. Ein System oder wenigstens eine Systematisierung seiner Lehre und Ansichten sucht man bei Lacan vergebens. Dies und der äußerst schwierige Stil seiner Schriften, den er selbst als Ausdruck der Komplexität von Sprache und Subjektivität bewertete, machen die Lektüre schwierig und fast unmöglich. Die Aussage, Lacan verstanden zu haben, sollte immer Anlass zur Nachfrage geben. Lacan bietet ein Œuvre, das Anthony Wilden »a curious mixture of penetration, poetry and willful obscurity« genannt hat, das der Leser entweder als widersprüchlich oder als Prophetie auffassen kann. Dementsprechend ist die Wirkung Lacans ungeheuer vielschichtig.« (Hagedorn 2010, S. 602) 6
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ödipale Gesetz geht. Es ist das Gesetz der Konfrontation mit dem Tod; mit dem Mangel als solchen, also mit dem Gebot der symbolischen Kastration« (Lipowatz 2005, S. 55). »Lacan kombiniert das Lust- mit dem Realitätsprinzip zu einem Prinzip der Distanz gegenüber dem Ding, woraus er dann eine neue Vereinheitlichung der Theorie erreichte, denn hier gilt nun: das Begehren ist der Distanz und auch dem Gesetz äquivalent. […] Wenn aber die Mutter […] unmöglich zu erreichen, das Unmögliche ist, dann ist auch das höchste Gut der Philosophen / Mystiker ›durchgestrichen‹ […] prinzipiell unerreichbar, und verboten.« (Lipowatz 2005, S. 54)
Lacan deckt am Dekalog eine mehrfache, geradezu unheimliche Dialektik auf (Lacan 1996, S. 100–105): a) Das Gesetz soll zum guten Leben führen, führt de facto aber in eine tiefe Gefährdung, ja Vernichtung, weil man das Gesetz oft nicht einhält. Das Scheitern am Gesetz bewirkt innere Zerrissenheit. Der Wunsch nach Gesetzeserfüllung gerät in unheimliche Nähe zum Todestrieb. b) Das Gesetz bewirkt die Sünde, weil es sie aufreizt. »Das dialektische Verhältnis von Begehren und Gesetz lässt unser Begehren allein auflodern in einem Verhältnis zum Gesetz, durch das es Todesbegehren wird« (Lacan 1986, S. 104). Lacan spricht vom »Gesetz des Begehrens«, weil das Begehren gerade darin besteht, gegen das Gesetz aufzubegehren. c) Das Gesetz verleitet oder inspiriert und bestärkt den Wunsch nach Befreiung vom Gesetz: »Allein aus der Tatsache des Gesetzes nimmt die Sünde, ἁμαρτία, was im Griechischen Mangel und Nichtteilhabe am Ding heißt, einen maßlosen, übertriebenen Charakter an. […] Wir haben zu erkunden, was das Menschenwesen im Laufe der Zeiten fähig war, an Überschreitungen dieses Gesetzes auszuarbeiten, was es in ein Verhältnis zum Begehren setzt, das dieses Verbotsband überwindet und jenseits der Moral eine Erotik einführt.« (Lacan 1996, S. 104)
Ein katholischer Theologe hat in konstruktiver Auseinandersetzung mit Lacan ein mögliches Glaubensideal entwickelt, welches das Begehren einschließen möchte. Für Erwin Möde (2016) erschließt sich aus der Analytik des Gesetzes ein integratives Existenzmodell: Das unbewusste Begehren bewirkt Selbstentfremdung, ja sogar Spaltung des Subjekts, eine tragische Seinsverfehlung. Dem Begehren gegenüber steht das ganz Andere des Gesetzes, das Möde letztlich mit Gott 144 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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identifiziert. Der Mensch soll sich diesem Anderen, dem Gesetz (= Gott), anvertrauen und so sein ursprüngliches »désir«, die Wirkmacht des personalen Gottesbezuges, wiedergewinnen. Ob ein solcher Heilsweg gelingen kann?
I.2 Der tiefe Konflikt zwischen Gesetz und Begehren in den Paulus-Traditionen Für den Apostel Paulus ist alle Begierde ein »Werk des Fleisches«, das dem Geist entgegensteht. »Die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Missgunst, Trink- und Essgelage und ähnliches mehr.« (Galater 5,19–21)
Die radikale Opposition von Fleisch und Geist treibt den Glaubenden an seine Grenzen und in die Verzweiflung. Was soll werden, wenn er die theoretisch bejahte Sublimation in der konkreten Lebenspraxis nicht durchhält? Paulus hat diese aporetische Situation erkannt und hat diesen Widerspruch in seinen äußersten Konsequenzen durchdacht, besonders in Römer 7. Im Brief an die Römer, mit dem Paulus sich und seine Theologie ca. 56/57 n. Chr. von Korinth aus der Gemeinde in Rom vorstellen will, um für seine geplante Mission in Spanien zu werben, entfaltet er seine Gedanken dazu in nahezu philosophischer Form. Der Aufbau des Römerbriefes, der eine Art kleine Dogmatik entfaltet und die grundlegende Strukturen des Glauben an die Gerechtigkeit Gottes systematisch reflektiert, umfasst überblickshaft gesprochen folgende fünf Blöcke: a) In Kap. 1–4 wird verdeutlicht, wie sich in Christus die Gerechtigkeit Gottes offenbart hat; zum einen im Gericht Gottes an allen Menschen (Röm 1,18–3,20), zum anderen in der Erlösung durch die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, die man im Glauben an Christus nur annehmen muss, inklusive des Schriftbeweises für die Rettung »allein aus Glauben ohne Werke des Gesetzes« bei Abraham (3,21–4,25). b) In Kap. 5–8 erfolgt der Aufweis der Überwindung von Leben aus dem Gesetz und dem Fleisch durch das Leben im Geist. c) In Röm 9–11 bedenkt Paulus, welchen Weg Gott mit Israel gehen will, wenn das Gesetz nicht mehr der Heilsweg ist, bevor 145 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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d)
e)
in Kap. 12–15 die praktischen Folgerungen aus der Gerechtigkeit in Christus für das Alltagsleben der Christen gezogen werden (im Gottesdienst, im Umgang mit dem Staat, im Umgang mit den Schwachen); Röm 15 und 16 schließen mit umfangreichen Grüßen und Mahnungen.
Das zentrale Kapitel Röm 7 soll also aufzeigen, wie es um den Menschen, um »das Ich«, im Angesicht des Gesetzes bestellt ist und wie dieses Ich aus der Macht des Gesetzes herauskommen kann. Paulus bietet eine tiefe Introspektion in die Abgründe menschlicher Existenz. Es ist nicht verwunderlich, dass Lacan sich in seinen Reflexionen über »la loi« für diesen Text besonders interessiert hat. Im Seminar VII führt er ihn gleichsam unbemerkt ein: »Immerhin, ich hatte Kenntnis vom Ding nur durch das Gesetz. In der Tat, hätte ich nicht den Gedanken gehabt, begierig auf es zu sein, hätte das Gesetz nicht gesagt – Du sollst es nicht begehren. Doch weckt das Ding, wenn es nur Gelegenheit findet, in mir allerhand Begehrlichkeiten dank des Gebotes, denn ohne das Gesetz ist das Ding tot. Nur, ich war lebendig ehedem, ohne das Gesetz. Doch als das Gebot kam, loderte das Ding auf von neuem, während ich den Tod fand. Für mich führte das Gebot, das ins Leben führen sollte, zum Tod, denn das Ding, das Gelegenheit fand, verführte mich dank des Gebots und hat mir durch es Todesbegehren gemacht« (Lacan 1996, S. 104).
Dann macht Lacan sein implizites Zitat explizit: »Ich denke, dass seit einem sehr kurzen Augenblick einige unter Ihnen zumindest die Vermutung haben, es sei nicht mehr ich, der spricht. Tatsächlich ist das, bis auf eine kleine Änderung – Ding an der Stelle von Sünde –, die Rede des heiligen Paulus über die Beziehung von Gesetz und Sünde, Römerbrief, Kapitel 7, Absatz 7« (Lacan 1996, S. 104). 8
Worum geht es in Römer 7? Es gibt hierzu noch weit mehr Typen der Interpretation, als wir es oben bei der Bergpredigt gesehen haben. Ich kann unmöglich den Versuch wagen, diese Pluralität der Deutungen breiter zu entfalten, sondern beschränke mich auf einige Hauptlinien, um dann meinen eigenen Lektürevorschlag zu skizzieren.
Zur Lacan’schen Interpretation von Röm 7 gibt es – von Psychologen und von Theologen geführt – eine breite Debatte: Crespy 1968; Hachett 1982; Roquefort 1986; Causse 2000; zuletzt Causse 2012: Lacan avec saint Paul: Loi, désir et grâce.
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Zunächst der Text, dessen Lektüre Lacan so eindringlich empfiehlt (siehe das Motto am Anfang des Aufsatzes), in der sehr wörtlichen Übertragung der Elberfelder Bibel und gliedernden Zwischenüberschriften von mir selbst: (Verhältnis von Gesetz und Sünde: Leben vor dem Gesetz und ohne Gesetz) 7 Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Begierde hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: »Du sollst nicht begehren!« 8 Die Sünde aber ergriff durch das Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede Begierde in mir; denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. 9 Ich aber lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; 10 ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, gerade das erwies sich mir zum Tod. (Die neue Situation, nachdem das Gesetz gegeben worden ist) 11 Denn die Sünde ergriff durch das Gebot die Gelegenheit, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe. 12 So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut. 13 Ist nun das Gute mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Sondern die Sünde, damit sie als Sünde erschiene, indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte, damit die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot. (Die Sünde / »das Fleisch« bewirkt die Unfähigkeit, das gute Gesetz auch zu erfüllen) 14 Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft; 15 denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht, was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus. 16 Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so stimme ich dem Gesetz bei, dass es gut ist. 17 Nun aber vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. 18 Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; denn das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Vollbringen des Guten nicht. 19 Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. (Die Fremdherrschaft der Sünde führt in die Verzweiflung) 20 Wenn ich aber das, was ich nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr ich es, sondern die in mir wohnende Sünde.
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Manfred Oeming 21 Ich finde also das Gesetz, dass bei mir, der ich das Gute tun will, nur das Böse vorhanden ist. 22 Denn ich habe nach dem inneren Menschen Wohlgefallen am Gesetz Gottes. 23 Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meines Sinnes widerstreitet und mich in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes? – 25 Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn! Also diene ich nun selbst mit dem Sinn dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.
Man kann sehr unterschiedliche Deutungen des Textes ausmachen, die sich primär daraus ergeben, wie man das hier sprechende »Ich« versteht. 9 1. Man kann das »Ich« mit Paulus selbst identifizieren. Danach würde Paulus hier zumindest auch über seine eigene innere Entwicklung berichten. Am besten nachvollziehbar hat diese Auslegung Gerd Theißen begründet (Theißen 1983; ders. 2006; ders./von Gemünden 2016). Bei Paulus ist es demnach aufgrund von ihm selbst zunächst unbewussten Spannungen zu einer Reaktionsbildung gekommen: Er befand sich in einem unbewussten Zweifel am Gesetz, den er aber nicht zulassen konnte, sondern verdrängen musste. Stattdessen verfolgt er mit Gewalt diejenigen, die ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gesetzes offen auslebten: die Christen. Als Saulus bekämpfte er diese Gruppe radikal. Er verteidigte voller Eifer den Geltungsanspruch und die Heilsbedeutung der Tora. Plötzlich aber wurde ihm in einer Art Offenbarungserlebnis deutlich, dass sein Eifer verkehrt war. Er hielt ihn jetzt für »Dreck« (Phil 3,8). Nunmehr begann er umgekehrt eine rastlose christliche Mission, welche die Freiheit von jeder heilsrelevanten Forderung nach Befolgung des Gesetzes verkündet. 2. Auf der anderen Seite gibt es Ausleger, die in Röm 7 eine fundamentalanthropologische Aussage suchen, voller Realitätssinn und Lebenserfahrung. Sie finden gleichsam eine zeitlose Wahrheit über jeden Menschen jenseits des Glaubens. Das Ich ist jeder; der Mensch Zur aktuellen Forschung Krauter 2016. Wichtige älterer Studien in chronologischer Reihenfolge: Schmithals 1980; Bergmeier 1985; Aletti 2002; Deenick 2010.
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ohne Christus ist »unter die Macht der Sünde verkauft« (V. 14). Die Ausweglosigkeit der Situation des Menschen ergibt sich aus innerem Selbstwiderspruch. Der Gedanke, der in der griechischen Mythologie mit Medea verbunden wird, besteht darin, dass es einen ursprünglichen Willen Gottes gab, dem kraft der Vernunft und des Gewissens jeder Mensch zustimmte. Diese ursprüngliche Einheit ist aber durch die Macht der Sünde zerbrochen. Der Mensch tut nun das, was er eigentlich will, gerade nicht; den Gotteswillen, den er im Grunde bejaht und realisieren möchte, übertritt er (Müller 2009). Darin besteht sein Elend. Von sich aus ist der Mensch verloren. Die Frage von V. 24: »Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes« ist rein rhetorisch; sie muss beantwortet werden: Niemand! 3. Wieder andere Wissenschaftler sehen in dem Text das Ich als einen rückblickenden Christen, der von seinem jetzigen Glauben aus auf die Zeit zurückschaut, als er noch nicht gläubig war. Man kann diese hoffnungslose Situation aber nur erkennen, wenn man von Christus her zurückblickt (Kümmel 1974; Hofius 2002). Oder ähnlich gedeutet: Das Ich ist der Glaubende, der auf die Situation des Menschen ohne Glauben blickt. 4. Manche Exegeten sehen in Röm 7 ein rhetorisches Feuerwerk, das mit großen Begriffen dramatisch hantiert, sich aber logisch und psychologisch nicht erschließt: »Mit anderen Worten, Röm. 7 beschreibt in Wahrheit überhaupt niemanden, außer vielleicht den Neurotiker. Warum steht dann dieses Kapitel da? Der Schrei der Angst ist vermutlich der Schrei theologischer Aporie« (Sanders 1995, S. 128). 5. Meine eigene Lektüre ist stark beeinflusst von einer Studie von Jan Dochhorn (Dochhorn, 2009), der an ältere Auslegungstraditionen anknüpft. »Als Subtext für Röm 7,7–25 vermuten viele Ausleger seit alters her die Paradiesgeschichte in Gen 3 und identifizieren dementsprechend das Ich in Röm 7,7–25 mit Adam« (Dochhorn 2009, S. 59). Das hier sprechende »Ich« ist der Adam von Genesis 2–3 (Grappe 2002; Busch 2004; Götte 2016). Über wirklich archaische Grundstrukturen kann man nicht anders als in der Gestalt des Mythos sprechen. Mythen sind alles andere als naive Geschichten; sie leisten vielmehr zu Deutung des menschlichen Daseins Unersetzliches. Urgeschichte ist Gegenwartsauslegung. Dabei ist der Gedankengang in der Tat nicht bis ins Letzte logisch klar. Der Text versetzt uns dann in Gestalt eines 149 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Urzeit-Mythos zurück in die Ursituation des »ersten Gesetzes«. Von den Texten der Genesis fällt entscheidendes Licht auf den Römerbrief. »Und Gott, JHWH, gebot dem Menschen und sprach: Von jedem Baum des Gartens darfst du essen; aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben!« (Genesis 2,16–17)
Das Gesetz wird nicht weiter begründet. Es setzt dem Menschen eine Grenze. Über diese Grenze wird nicht verhandelt, sie wird nicht erklärt, sondern gesetzt. Sie »riecht« vielleicht etwas nach Götterneid und schmeckt nach göttlichem Narzissmus, der die Einzigartigkeit Gottes festhalten will. Aber sie wird vom Menschen hingenommen und eigentlich eingesehen und akzeptiert, dann aber taucht die Schlange auf. Sie ist eine mythische Verdichtung der Sünde und bewirkt das Böse. Das Böse ist personifiziert als Schlange bzw. als Satan zu denken; ganz raffiniert steht am Anfang eine Infragestellung Gottes: »Hat Gott wirklich gesagt: Von allen Bäumen des Gartens dürft ihr nicht essen?« Gewiss hat Gott das nicht gesagt! Sondern genau umgekehrt hat er unendliche Freiheit geschenkt: »Alle Früchte dürft ihr essen, nur diese eine nicht!« So verstrickt die Schlange den Menschen in eine Diskussion über Gott und provoziert dadurch ein Zerbrechen des ursprünglichen Vertrauens in Gottes gute Absicht. Zwischen dem inneren Menschen, der dem guten Gesetz gerne folgen möchte, und dem äußeren Menschen, der sich von der Begierde zum Übertreten der Grenze verleiten lässt, findet plötzlich ein Kampf statt. Das Gesetz, um das es hier geht, ist noch nicht die Tora vom Sinai, sondern eine Ur- und Vorform derselben, eine Art Schöpfungsgesetz der Differenz zwischen Mensch und Gott. Eine Art Widerspruch, ja Feindschaft gegen Gottes Führungsanspruch bricht auf. Die Gestalt, die dieses Begehren des Menschen nach Emanzipation von Gottes Anweisungen verkörpert, ist Eva: »Und die Frau sah, dass der Baum gut zur Speise und dass er eine Lust für die Augen und dass der Baum begehrenswert war, Einsicht zu geben; und sie nahm von seiner Frucht und aß« (Genesis 3,6).
Das Ich in Röm 7 wäre also auch mit Eva zu identifizieren, selbst wenn Paulus ihr keine explizite Stimme gibt (Lyonnet 1962a; ders. 1962b; Theißen 1983, S. 204–213; Weber 1987, S. 156–158; Hofius 2002). 10 Informationen zu Kirchenschriftstellern, die das Ich von Röm 7 mit Adam identifizieren, finden sich bei Lyonnet 1962b, S. 132. Bündig dargestellt werden Aus-
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Paulus erzählt in Röm 7,7–25 eine Adam-Eva-Geschichte: von einem Ich, das dem Gesetz in Gestalt des zehnten Gebotes begegnet und das gerade durch diese Begegnung unter die Gewalt der Sünde gerät. Paulus ist zu dieser eigentümlichen Adaption der Paradiesgeschichte unter Hinzuziehung des Begehrensverbotes durch die Apokalypse des Mose (ApkMos) geführt worden. Dort werden das zehnte Gebot und die Begierde als Antriebsgrund von Sünden vorausgesetzt, denn Eva hat die Frucht wie eine Hexe vergiftet: »Da ging sie [Eva] und legte auf die Frucht, die sie mir zu essen gab, das Gift ihrer Schlechtigkeit, das ist das Gift der Begierde, und zwar der Begierde nach jeglicher Sünde. Und nachdem sie den Ast zur Erde herabgebogen hatte, nahm ich [Adam] von der Frucht und aß«. (ApkMos 19,3, Übersetzung von Dochorn, 2006, S. 325; vgl. ApkAbr 24,9; Philo, Spec. Leg. 4,84–85; Decal. 173; Jak 1,14–15)
Schon am Anfang des sogenannten »Sündenfalls« hat sich die Frau, bevor sie von dem Baume aß, gegen das zehnte Gebot vergangen: »Da sah die Frau, dass es gut wäre, von dem Baum zu essen, und dass er eine Lust für die Augen war und dass der Baum begehrenswert war, weil er wissend machte.« (Genesis 3,6).
In der Genesis geht es nach dieser antiken Ausschmückung um eine dreifache Verführungsgeschichte: die Schlange wird verführt, Eva wird verführt, Adam wird verführt, aber der eigentliche Verführer steht unerkannt im Hintergrund: allein Satan. Schon in ApkMos 16 gewinnt der Teufel die Schlange für sein gegen Adam und Eva gerichtetes Vorhaben als Werkzeug. »Jeder der drei Verführten ist also von einer ursprünglich externen und internen diabolischen Macht beherrscht. Passend dazu tun die Verführten in ApkMos 15–30 auch nicht, was sie wollen: Alle drei sagen, bevor sie verführt werden, dass sie Gottes Zorn fürchten (16,4; 18,2; 21,4); sie handeln damit wider besseres Wissen. Besonders bei der Verführung Evas (17,2–20,3) wird mehrfach erkennbar, wie sehr sie, die Verführte, in keiner Weise willentlich handelte, sondern ganz und gar passiv war: Dem Verführten mangelt es gewissermaßen an Subjekthaftigkeit« (Dochhorn 2009, S. 66). Damit wird der Mensch als im Grunde seines Wesens gut und Gott verbunden dargestellt, aber das Böse ist die von außen kommenlegungstraditionen zu Röm 7,7–25, speziell zur Identifikation des »Ich«, bei Fitzmyer 1993, S. 463–466; Krauter 2010.
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de teuflische Sünde; diese hat Macht über ihn gewonnen. So hat Paulus in Röm 7,17 eben nicht eine Verdorbenheit seines Ichs konstatiert, sondern die Sünde als eigentlichen Handlungsträger benannt. »Wir haben es hier mit einer satanologischen bzw. dämonologischen Wirklichkeitsdeutung zu tun« (Dochhorn 2009, S. 68). Es bietet sich an, eine Metapher aus dem Sklavenwesen heranzuziehen: Der Mensch ist »verkauft« (V. 14), d. h. entmündigt und höheren Befehlen von außen unterworfen. Der, der ihn gekauft hat, so legt es Röm 7,7–25 nahe, sind Begierde, Fleisch oder Satan. Die von Paulus in mythologischer Gestalt präsentierte Sündenlehre betrifft auch in der Post-Moderne zahlreiche Phänomene: Hamartiologisch sind folgende dämonischen Mächte vorstellbar: Geld, Macht, Jugend, Schönheit, Drogen, Gewalt, Fanatismus.
Zusammenfassung von I. Die psychoanalytische Durchdringung der Konstellation der »gläubigen Seele« führt nach Lacan zu folgenden Resultaten: Der ernste Glaube generiert eine tragische Überforderung durch Anforderungen, die man nicht erfüllen kann. Das Begehren, nicht zu begehren (vgl. Jeusu und Paulus), führt zu infantilen Regressionen in einen erträumten, aber nie erreichbaren asexuellen Zustand. Jede Begierde bzw. jedes Ausagieren der Lust generiert Schuldgefühle; diese werden mythologisch auf die außerhalb stehende Macht des »Fleisches«, der »Sünde«, oder des »Teufels«, die den armen Menschen in Versuchung führen, externalisiert (Röm 7). Lacans Rekonstruktion der psychischen Situation des gläubigen Christen basiert gewiss primär auf den Erfahrungen und Berichten seiner Patienten, aber lassen sich nicht auch gewisse autobiographische Elemente erkennen? Klingen das konservativ-katholische Klima, in dem Lacan selbst aufgewachsen ist, oder aber das Milieu der hugenottischen Frömmigkeit seiner Nachbarn hier nicht mit? Auch wenn ich als Theologe aus Deutschland – aus einem liberalen protestantischen landeskirchlichem Kontext – solch ein Psychogramm des Christentums nicht für repräsentativ halten kann und möchte, kenne auch ich solche psychischen Konstellationen. Ich denke etwa an pietistische Gruppen, die mir manchmal sogar im universitären Theologiestudium begegnen. Oder mir kommen Gespräche in den letzten Monaten bei Aufenthalten in Nordamerika und Südkorea 152 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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in den Sinn. Hier sind mir Glaubenskonflikte geschildert worden, die die Wirklichkeit und Wahrheit der obigen Analysen bestätigen. Zahlreiche »bibeltreue« Christinnen und Christen begegneten mir, die vorehelichen Geschlechtsverkehr verurteilen, weil sie unberührt in die Ehe gehen wollen, die den Genuss von Tabak, Alkohol oder Internet (wegen der Pornographiegefahr) ablehnen, weil sie ihr Leben »heiligen« wollen, die sich gegenseitig in Hauskreisen »überwachen«, ob sie etwa in die Irre gehen. Auch der mythische Glaube an die reale Macht des Teufels, der sogar im theologischen Seminar umgeht und sucht, welche Seele er greifen kann, ist mir sehr präsent. Mit Philipp Stöllger muss man für weite Teile des gegenwärtigen evangelikalen bis fundamentalistischen Christentums (und das sind die prozentual größten Anteile der derzeit ca. zwei Milliarden Christen auf dem Globus) feststellen: »›Begehren‹ ist eine Sündenmetapher […] mit der man zu sagen suchte, was als Sünde zu verstehen und zu erfahren sei: die unheimliche Eigendynamik der Triebe, Lüste und Affekte, ihr diabolisches Durcheinander im anarchischen Aufbegehren – die ›Ichsucht‹ als Herrschsucht – wie die Angst und Aggression, nicht Herr im eigenen Hause zu sein« (Stöllger 2013, S. 19).
II.
Du sollst begehren!
Gegen den zuvor beschriebenen Geist eines engen und aus meiner Sicht »verklemmten« Christentums hat die aufgeklärte Moderne auf vielen Ebenen revoltiert. Der zeitgemäße Slogan der Befreiung verdichtet sich in der provokativen Neu- bzw. Umschreibung des 10. Gebots: »Du sollst begehren!« Die sogenannte sexuelle Revolution und die neoliberale Entfesselung der Macht- und Habsucht führten zu bewusst als antichristlich oder antikirchlichen verstandenen Lebensstilen. Es gibt eine breite Streuung des Hedonismus. Selbst ein ehedem puritanisches Land wie die USA wurde ab den 1970er Jahren in weiten Teilen rasant von der Kultur des ungehemmten Begehrens erfasst und entwickelte sich zum Vorreiter freizügigster Erotik. Gay Talese z. B. war ein Investigationsjournalist, der sich in die amerikanische Pornokultur begab, in Nudistencamps lebte, in Sex-Shops arbeitete und ein ums andere Mal seine Frau betrog. Seine Erfahrungen legte er in einem Bestseller vor: »Du sollst begehren« (1981/ 2007). »In seiner Darstellung der sexuellen Revolution in den USA, für die Talese neun Jahre recherchierte, kommt vieles zur Sprache: der ge153 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sellschaftliche Hintergrund dieser Umwälzung, der Kampf für liberalere Gesetze, prominente Akteure wie Hugh Hefner, Gründer des ›Playboy‹, Betty Dodson oder Alex Comfort. Aufschlussreich sind die Biografien von Männern und Frauen, deren Leben in jener Zeit umgekrempelt wurde oder in die Brüche ging« (NZZ, 5. 1. 2008). Aber diese Form der »Aufklärung« und das geradezu explosionsartige Aufleben des Begehrens haben spürbar auch erhebliche Schattenseiten. Peter Sloterdijk z. B. hat dies in seiner Kulturkritik oft gegeißelt, etwa in seinem Buch »Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch« (2008). Im seelischen Koordinatensystem des Menschen sind wir aus dem Gleichgewicht. Der Prozess der Zivilisation hat uns zu stumpfen Erotikern, gierigen Konsumisten gemacht. Der Karlsruher Kulturphilosoph »formuliert das erste Gebot des herrschenden neuen Systems: »Du sollst begehren und genießen, was auch immer dir durch genießende Andere als begehrenswertes Gut gezeigt wird! Daraus folgt unmittelbar das zweite Gebot […], das Exhibitionismusgebot: Du sollst aus deinem Begehren und Genießen kein Geheimnis machen! […] und das abschließende dritte Gebot […] Du sollst eventuelle Nicht-Erfolge beim Wettlauf um den Zugang zu den Objekten des Begehrens und der Privilegien des Genießens niemand Anderem zuschreiben als dir selbst!« (Ebd., S. 314 f.). Diese Gebote führen zu einer beschämenden Veräußerlichung des Lebens. Die moderne Zivilisation hat uns allen Stolz, alle Würde und damit: allen Zorn gekostet. Was übrig ist, nennt Sloterdijk die »misanthropische Internationale« (Ebd., S. 315 ff.), eine Allianz »der Menschenfeinde, der Weltund Seinsfeinde«, die sich jeder aktiven Gestaltung und politischen Kultivierung verweigert. »Wenn sie um sich schlagen, um zu zerstören, was ihnen zufällig in die Quere kommt, geschieht das wie in einer Fremdsprache aus Gebärden, an deren Sinn sie selber nicht glauben. Diesen Extremisten des Überdrusses bedeutet ihr eigenes massenhaftes Vorkommen nichts« (Ebd., S. 330). Auch wenn die nachfolgenden Überlegungen im Lichte dieser Modeströmungen und Kulturkritiken leicht in den Verdacht geraten können, einem christlichen Hedonismus der Neuzeit das Wort zu reden, beanspruchen sie jedenfalls, seriöse historische Arbeit zu sein. Dass die oben unter I. skizzierten psychologischen Interpretationen nicht den ganzen biblischen Befund treffen können, versuche ich im Folgenden aus den Quellen heraus mit zehn Argumenten einer angemessenen Psychologie des Glaubens zu begründen.
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1. Schon die Tatsache, dass die Christen in einer weit überwiegenden Mehrheit keine Mönche geworden sind und dass sich das Ideal einer Freiheit von jeder Begierde keineswegs allgemeine Anerkennung verschaffen konnte, sondern ganz im Gegenteil erst im vierten Jahrhundert aufkam und auf winzige Minderheiten beschränkt blieb, macht die Problematik einer solchen Deutung ersichtlich. 2. Das Alte Testament ist ein viel zu realistisches Buch, um so idealistischen Konstruktionen eines Seins ohne Begehren widerspruchslos Recht zu geben. Die überzogenen Einseitigkeiten des Neuen Testaments (zumindest in bestimmten Deutungen) werden gesamtbiblisch ausbalanciert. Die Weltlichkeit des Alten Testamentes impliziert eine ungebrochene Freude an Essen und Trinken, an Erotik und Zärtlichkeit (Hohelied), eine Frömmigkeit ohne Scheu vor dem Schönen und Lustvollen. 3. Der Wortlaut des zehnten Gebots – egal ob nach Exodus oder Deuteronomium – macht deutlich, dass in jedem Falle das Begehren ein Objekt hat. Dieses Objekt ist entweder »das Haus«, d. h. sein Immobilien-Besitz, oder aber die Frau des Nächsten, d. h. die Person, mit der er dauerhaft fest verbunden ist. Das Problematische ist nicht das Begehren, sondern das Problematische ist besonders das Objekt der Begierde. Man muss also feststellen, dass das zehnte Gebot nicht das Begehren an sich verbietet, sondern seine Übergriffe. Das Begehren darf uns nicht dazu verführen, Dinge oder Personen an uns zu ziehen, die uns mit emotional oder rational nachzuvollziehenden Gründen entzogen sind. 4. Das Alte Testament kennt viele Dinge, die man sich mit guten Gründen wünschen darf. Zum Beispiel Fleisch. »Wenn der HERR, dein Gott, dein Gebiet erweitern wird, so wie er zu dir geredet hat, und du sagst: ›Ich will Fleisch essen!‹, weil deine Seele Fleisch zu essen begehrt, so magst du nach Herzenslust Fleisch essen.« (Deuteronomium 12,20)
5. Das, was einen Begehrenden qualifiziert, ist der Charakter dessen, der begehrt. Das Begehren des Gerechten bewirkt lauter Gutes. »Das Begehren der Gerechten bringt lauter Gutes, aber das Hoffen der Gottlosen Zorn.« (Proverbien 11,23)
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»Wenn kommt, was man begehrt, tut das dem Herzen gut; aber das Böse zu meiden, ist den Toren ein Gräuel.« (Proverbien 13,19)
Wer sich der ethischen Qualitäten seiner Begierde gewiss sein kann, der kann aus vollem Herzen begehren. »Käme doch, was ich begehre, und gäbe Gott, was ich erhoffe.« (Hiob 6,8)
6. Ein weiteres entscheidendes Problem ist die Frage nach dem rechten Maß. Mäßigung und Besonnenheit nehmen der Begierde ihre zerstörende Macht. »Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (σωφρονισμός).« (1 Timotheus 1,7)
Der Mensch ist wegen seiner maßlosen Gier, seinem zur Sucht gesteigerten Habenwollen erlösungsbedürftig. Darauf reagiert er mit Reflexion. Für die gesamte alttestamentliche Weisheitsliteratur gilt: »In der Sorge für sich und für andere sucht sie die rechte Mitte [… sie] warnt vor einem rücksichtslosen Egoismus (Sprüche 1,10–19; 21,13) ebenso wie vor den Gefahren eines unreflektierten Altruismus, der in mangelnder Selbstachtung gründet und in eigener Verwahrlosung endet« (6,1–5; 11,5; 22, 26 f.; 27,13) (Schwienhorst-Schönberger, 2017, S. 156). Aber wenn jemand es schafft, die Fülle dessen zu erkennen, was Gott geschenkt hat, dann findet diese Person zur inneren Ruhe. Rainer Kessler hat diese psychische Situation auf die schönen Bilder von der Sabbatruhe gebracht: die Gier in all ihren Formen (u. a. Habgier, Machtgier, Sexgier, Fressgier) kommt durch Gottes reiche Fürsorge zur Ruhe (Kessler 2005, S. 63–68). 7. Das Alte Testament hat eine sehr positive Einstellung zu den guten Gaben der Schöpfung. Unter anderem sind Liebe und Erotik solche Segensgaben Gottes. Es gehört zu den ehelichen Pflichten, dass ein Mann seiner Frau Kleidung, Nahrung und Sex in ausreichendem Maße zukommen lässt. »Nimmt er sich aber eine andere, so soll er an ihrer Nahrung, Kleidung und an der ehelichen Pflicht nichts abbrechen.« (Exodus 21,10)
Wenn eine Frau schön ist, dann soll sie stolz sein und genießen, was Gott ihr und ihren Mitmenschen (auch »Mitmännern«) geschenkt hat »Und wird der König deine Schönheit begehren, denn er ist dein Herr: so neige dich vor ihm!« (Psalm 45,12)
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Der erste und größte Teil der christlichen Bibel, das Alte Testament, hat ein entspanntes Verhältnis zum Begehren. Ganz entscheidend ist das Kämpfen um das richtige Objekt der Begierde. Wer nach Weisheit verlangt, wer nach Gotteserkenntnis verlangt, wer nach gutem Tun verlangt, der darf das tun und soll sich darin auch steigern. Gott setzt dem Verlangen nach Gutem keine Grenze. »So führt das Verlangen nach Weisheit zur Herrschaft hinauf.« (Weisheit Salomos 6,20)
8. Dass dieses positive Verhältnis zu den Segensgaben Gottes nicht nur im Alten Testament absolut vorherrschend ist, belegt Jesus auch durch seinen Lebensstil. Seine Gegner haben daran Anstoß genommen und seine Freude an Essen und Trinken gegen ihn gewendet; auch der Umstand (der historisch sein dürfte), dass Jesus Frauen in seinem Gefolge hatte, hat Anstoß erregt. Dabei spielte eine Rolle, dass diese Frauen zumindest früher der Prostitution nachgingen. »Der Sohn des Menschen ist gekommen, der isst und trinkt, und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder; – und die Weisheit ist gerechtfertigt worden aus ihren Werken.« (Matthäus 11,19)
9. Im zweiten Brief an die Korinther nimmt Paulus ausdrücklich Stellung zur Frage, ob sexuelle Abstinenz vom Christinnen und Christen gefordert wird. Die Antwort ist eindeutig. Paulus fordert sowohl den Mann als auch die Frau auf, ihre sexuellen Bedürfnisse kräftig auszuleben. Denn er sieht, dass sexuelle Abstinenz die Verführbarkeit auf beiden Seiten stark erhöht. Er fasst es wieder satanologisch und warnt davor, dass bei zu wenig Sex der Satan komme und die Ehepartner in Versuchung führe. Er bezeichnet die Alibidinie, die er selbst lebt, als Gnadengabe, aber nota bene auch eine befriedigende und ausgereifte Sexualität ist eine Segensgabe! Der genaue Wortlaut des Briefes: »Nun zu den Anfragen eures Briefes! ›Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren‹. Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben, und jede soll ihren Mann haben. Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber dem Mann. Nicht die Frau verfügt über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt nicht der Mann über seinen Leib, sondern die Frau. Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein. Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung führt, wenn ihr euch nicht enthalten könnt.
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Das sage ich als Zugeständnis, nicht als Gebot. Ich wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet) wie ich. Doch jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so.« (1 Korinther 7,1–7)
10. Dass der Mensch der Macht der Sünde – personifiziert als Satan – nicht hoffnungslos ausgeliefert ist, sondern als erwachsener selbstständiger Verantwortungsträger der Sünde auch Widerstand leisten kann, schärft am eindringlichsten der Jakobus-Brief ein. Für den Herren-Bruder (ob der Verfasser wirklich der Bruder Jesu war, lasse ich hier unerörtert) haben die Versuchungen sogar eine positive erzieherische Funktion. Man muss reif und stark werden, um mit den Trieben umzugehen. Implizit ist seine Rede eine Kritik an der VaterunserBitte. »Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen«; sie ist für den Geschmack des Jakobus viel zu passiv gedacht; der Mensch ist nicht subjektlos das Objekt entweder des Satans oder Gottes, sondern eine Persönlichkeit, die frei entscheiden kann, was sie will und was sie nicht will. »Glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet! Denn nachdem er bewährt ist, wird er den Siegeskranz des Lebens empfangen, den der Herr denen verheißen hat, die ihn lieben. Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand. Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, bringt sie Sünde hervor; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Irret euch nicht, meine geliebten Brüder!« (Jakobus 1,12–16)
Die psychische Situation des biblischen Durchschnittschristen ist sehr stark von Dankbarkeit, Freude und Genuss geprägt. Gegenüber dem hellenistisch-stoischen Erbe der asketischen Triebbeherrschung hat das Christentum zweifellos auch ein jüdisch-pragmatisches Element der Triebbejahung. Wenn das Objekt der Begierde, die Ziele und der Charakter des Begehrenden und vor allem das Maß der Begierde stimmen, dann ist mit Jesus und Paulus ein entspannter und reichlicher Genuss der göttlichen Segensgaben möglich und vom Glauben her erlaubt. Im Letzten geht es darum, dass Glauben selbst eine Form des Begehrens ist, denn der Glaube sucht Gemeinschaft mit Gott und bewusstes Erleben der Zeichen seiner Nähe. 11 Die christliche Mystik ist voll von sehr erotischer Sprache der Lust, die aus der Gottesbegegnung resultiert. Als einen kleinen Beleg dafür zitiere ich ein Kirchenlied von Paul Gerhardt:
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III. Abschlussreflektionen über das Spannungsfeld von Begehrensverbot und erfüllter Begierde Ich hoffe deutlich gemacht zu haben, dass es innerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaften zwei weitgehend entgegengesetzte Strömungen gibt: Auf der einen Seite einen Glaubensstil, der sich unter Berufung auf das 10. Gebot, auf die zweite Antithese der Bergpredigt und auf Röm 7 ganz aus der Begierde herauskämpfen möchte, der diese Welt mit ihren Werten und mit ihren satanischen Versuchungen hinter sich lassen möchte – entsprechend dem Wort Jesu im Johannesevangelium: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (18,36). Auf der anderen Seite aber bezeugt die Bibel, insbesondere das Alte Testament, einen Glaubensstil, der diese Welt als positive Möglichkeit und als Chance zur Begegnung mit Gott begreift. Wie der Schöpfungsbericht Gen 1 f., die Schöpfungspsalmen oder die Antwort Gottes an Hiob (Hiob 38–41) bezeugen, eröffnet die reiche Schöpfung vielfache Möglichkeiten, den Abstand zu Gott zu verringern und eine emotionale und rationale Nähe zu Gott (und gerade nicht zum Teufel) zu erleben. Das Begehren ist nicht per se eine zerstörerische Macht, vor der man flüchten müsste, keine dunkle Macht, die man letztlich mit der Sünde beschreiben oder als Teufel identifizieren müsste. Auch Paulus versteht seine Aussagen in Röm 7 als Beschreibung einer Psyche, die ohne echte Begegnung mit Christus existiert. Der Glaube aber als Erfahrung der innigen Nähe macht frei: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.« (Johannes 8,31 f.)
Begehren bewirkt nicht notwendigerweise eine Selbstentfremdung und eine Seinsverfehlung. Im Zutrauen auf die guten Ordnungen und im Glauben an die Leben fördernden Gaben Gottes darf man auch das eigene Begehren annehmen – und sogar genießen. Gewiss ist es richtig, dass im Begehren der Ursprung der bösen Tat liegen kann, aber nicht in jedem Begehren muss eine solche Schuld schon »Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!«
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unvermeidlich begründet sein. Es ist also christlich durchaus akzeptabel, eine schöne Frau anzuschauen und sie zu begehren, solange man sie als Offenbarung der Schöpferherrlichkeit Gottes begreift. Das gilt umgekehrt natürlich auch für die Frau im Blick auf einen Mann. Und weiterhin ist es christlich legitim, von Macht und Besitz zu träumen und diese Träume in gewissem Umfang auch zu realisieren. Aber man darf sich selbst nicht davon gefangen nehmen lassen und man darf sich nicht in die Eigengesetzlichkeit von Macht und Kapital verstricken. Vielleicht sind das fromme Wünsche, die in der Realität an der Macht der Triebe zerschellen. Aber es muss zwischen ohnmächtigem Ausgeliefertsein an die Macht der Sünde und libertinistisch-frivoler Bejahung aller Lüste einen Mittelweg geben. Im Leben ist man gewiss in der Gefahr, nach beiden Seiten hin »abzustürzen«. Aber ein erwachsener Glaube ist weder ängstliche Weltflucht noch gottvergessene Weltlichkeit, sondern findet seinen Kurs auf dem schmalen Weg zwischen Askese und Triebhaftigkeit. In, mit und unter den Schönheiten der Schöpfung findet sich ein gangbarer Weg. Provokativ, aber zutreffend hat Guido Meyer (2010, S. 9) formuliert: »Verstehen wir allerdings Begehren als Wunsch, als einen tiefen, bewegenden Antrieb, dann wird deutlich, dass eine lebendige Religion, die den Menschen als ein auf Gott gerichtetes Beziehungswesen begreift, auf das Begehren nicht verzichten kann. Wer glaubt, der begehrt, und wer begehrt, dessen Leben wird reich und wertvoll.« Der evangelische systematische Theologe und Religionsphilosoph Philipp Stöllger sieht in herausragender Form in der Rehabilitation des Begehrens eine notwendige theologische Aufgabe. Er betont dabei aber zu Recht auch die Ambivalenzen: »Sünde sei Begehren, ›wie Gott‹ zu sein – Glaube sei das Begehren Gottes (gen. obj.)? Dann liegen sie ›haarscharf‹ beieinander. Glaube heißt dann nicht ›nur‹ Gott begehren. […] sondern treffender: wie Gott begehren. Die Formulierung ist riskant und angreifbar. Gängig wäre zu sagen: nicht nur Gott zu lieben, sondern wie Gott zu lieben. […] Damit wird ein Unterschied markiert: dass der Glaube nicht endet ›bei Gott‹, sondern sein Begehren wird ›umgelenkt‹ in die Welt, zum Nächsten. […] In dem Sinne gilt: Du sollst (darfst, wirst) begehren – den Nächsten begehren, wie Gott selbst ihn begehrt. Begehren will auf ambivalente Weise Unendlichkeit. So sucht auch das religiöse Begehren Größe, Herrlichkeit und Ewigkeit. Die metaphysischen Gottesphantasien zeigen das: Allmacht, Allwissenheit und Ewigkeit gelten als der Gipfel religiöser Genüsse (vgl. Joh 6). Solches Be-
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gehren nährt sich von dem Mangel, den es selber produziert. […] Die christliche Antwort darauf ist eine Schubumkehr: die Kultur der Verendlichung des religiösen Begehrens (ohne es verenden zu lassen), seine (christologisch bestimmte) Verweltlichung (nicht asketische Entweltlichung) und seine Vergemeinschaftung (ohne ›geschlossene Gesellschaft‹ zu werden). Das bleibt ein riskanter Balanceakt: Das Unendliche im Endlichen zu suchen – ohne das Endliche als unendlich zu übertreiben.« (Stöllger 2013, S. 30–32)
Ich selber bin als christlicher Theologe ein Freund der Tora (la loi), d. h., ich erkenne und anerkenne die sinnvolle Ordnung des Lebens. Religion dient dem Leben; sie erlaubt kein grenzenloses Wollen, sondern eine sinnvolle Begrenzung des Begehrens. Aber sie fordert auch kein grenzenloses Nicht-Begehren, sondern eine sinnvolle Begrenzung der Entsagung. Erwachsene Religion schließt eine Integration des Begehrens in das Nicht-Begehren und des Nicht-Begehrens in das Begehren ein. Die Sublimation hat ihre Würde, aber die Lust ebenso. Vielleicht sollte man es auch andersherum anschauen: Es ist ein wichtiger Aspekt des Glücks, begehrt zu werden. Begehren und Begehrtwerden führen zum Glück. Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die sich gegenseitig begehren, kann dies die vollkommene Erfüllung sein. Einen Eindruck davon eröffnet das Hohelied: »Wer gelernt hat, die Oberfläche der Wirklichkeit mit den Augen der Liebe zu durchstoßen, der wird im Hohenlied die Wirklichkeit Gottes entdecken. Nirgendwo ereignet sich ekstatische Transzendierung der Sterblichkeit so intensiv wie in der Liebe. Nirgendwo ist die Liebe Gottes unserer Erfahrung so nah und zugänglich wie in der Erfahrung der leidenschaftlichen Liebe. Das ist keine allegorische Auslegung, sondern die große Liebe ist intensive Einstimmung auf das Heilige.« (Oeming 2015, S. 133 f.)
Die jüdische wie auch die christliche Mystik haben genau dies gewusst. Der eigentliche Höhepunkt einer religiös gefüllten Lustbarkeit des Göttlichen sind manche Pijutim und Kirchenlieder. »Leucht uns selbst in jener Welt, /du verklärte Gnadensonne; führ uns durch das Tränenfeld /in das Land der süßen Wonne, da die Lust, die uns erhöht, /nie vergeht.« (Christian Knorr von Rosenroth, Morgenglanz der Ewigkeit)
»Die Lust, die uns erhöht« (und nicht in primitive Animalität hinabdrückt), das irdische Vergnügen in Gott, ist etwas Kostbares. Es gibt 161 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sie freilich nur in einem gefährlichen Spannungsfeld von Begehrensverbot und erfüllter Begierde, gewiss, aber in dieser »integrativen Ethik« 12 liegt die Erfahrung des Heils.
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Die schöne Seele in Goethes Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
Zur Einführung In der Aphorismensammlung »Blüthenstaub«, die Friedrich Schlegel 1798 im Athenaeum erscheinen ließ, steht das Wort: »Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.« (Novalis, 1798/ 1983, S. 70–106, hier S. 745–8) Innen, so denke ich mir, ist zuerst die Seele. Gewiß ist auch der Geist innen oder das Selbst oder das Ich, wollten wir aber sagen, was das Innere des Innen eigentlich ist, dann wäre es doch am ehesten die Seele. Der geheimnisvolle Weg, den Novalis zu gehen vorschlägt, wäre so der Weg zur Seele. Schon das achtzehnte Jahrhundert nannte die Lehre von der Seele Psychologie. Im ausgehenden 19. Jahrhundert machte Wilhelm Dilthey die Psychologie zur Grundwissenschaft und die Grundgegebenheiten der Seele zum einzig denkbaren Fundament der Geisteswissenschaften. Bei Franz Kafka finden wir dann, wohl zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, in seiner Aphorismensammlung »Betrachtungen« den Ausruf: »Zum letztenmal Psychologie!« (Franz Kafka, 1963, S. 195–209, hier S. 20618) Eine durchaus sachliche Beschreibung der Gegebenheiten auch des Innenlebens war eine der Parolen einer Zeit, die durch ein Übermaß an Psychologie hindurchgegangen war. Der Weg nach innen schien seine Schuldigkeit getan zu haben, der wahre Weg geht jetzt nach außen. Bei Benjamin nimmt das Verfahren, ein Inneres durch ein Äußeres zu bestimmen, einen prinzipiellen Charakter an. Er untersucht die Trauer, die Melancholie, also ein Gefühl. Fühlen dürfen wir als das Grundvermögen der Seele annehmen. Ein Gefühl lässt sich nach Benjamin nur gegenständlich beschreiben, denn »Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine {sc. des Gefühls} Phäno165 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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menologie.« (Walter Benjamin, 1928/1974, S. 203–430, hier S. 31814– 16) Die Frage, wie ein Gefühl beschaffen sei, beantwortet der Gegenstand, den das Gefühl sich notwendig (apriorisch) entwirft. Über die Trauer erfährt man etwas »nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut« (aaO., S. 31818–19), die Welt des Trauernden ist eine »entleerte Welt« (aaO., S. 31813), die rätselhaft, vom Gefühl »maskenhaft neubelebt« (aaO.) erscheint, aber nicht mehr zum Gebrauch, sondern nur noch zum Betrachten. Dem Tiefsinn verwandt sinnt die Trauer über die leere Welt nach. Aber »die Versenkung führte allzu leicht ins Bodenlose. Das lehrt die Theorie der melancholischen Veranlagung.« (aaO., S. 32034–35) Der geheimnisvolle Weg zur Erkundung der Seele führt also mit Novalis nach innen, aber mit Benjamin auch wieder nach außen. Aber es gäbe gar kein Außen, wäre es nicht betrachtet durch ein Innen. Das Außen, die Welt, der apriorische Gegenstand, von dem Benjamin spricht, dient der Erkundung des Innen, der trauernden Seele. Im einen wie im anderen Fall vertrauen wir uns der Sprache an, kennenzulernen, was es mit der Seele auf sich hat.
Die klassische Verortung der Seele Die klassische Bestimmung der Seele sieht sie als ein Mittleres zwischen Leib und Geist. Dreistufig aufgebaut war das menschliche Sein gedacht: Leib, Seele, Geist. Der Leib wird erkannt als irdische Verankerung des Menschen, als das Feste, an den Ort Gebundene, Begrenzte, Vergängliche. Der Geist aber, frei in seiner Weite, das Denken und Wollen enthaltend, ist ebenso außen wie innen, der Geist der Zeit, der alle erfasst, und mein Geist, der mir allein gegenwärtig werden kann. Die Seele als ein Mittleres verbindet diese beiden, weil sie an beiden Anteil hat. Sie fühlt mit dem Leib, sie ist ein Ort des Schmerzes und des Behagens. Sie trägt aber auch den Geist, als seine ruhige Begleiterin lässt sie ihn ungestört bei seiner Sache sein. Die Konzentration des Geistes, die Hingegebenheit an seine Sache, ist zugleich Sache der Seele. Wie wenig kommt durch den Geist zustande, ist die Seele zu unruhig, voller Wartens oder zerstreut oder besorgt. Dieser Mittelstellung wegen liegt es nahe, die Seele dreifältig zu betrachten, als Leibseele, als Geistseele und als sie selber, als Mitte von Leib- und Geistseele ihr Verbindendes und Band, in dem Leibund Geistseele verbunden sind, gewissermaßen als Seelenseele, ge166 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
heimnisvoll doch gerade hier als sie selber. Es ist, als wäre ihre Mitte ihre größte Tiefe und ihr eigentliches Geheimnis.
Die Seele in den Bekenntnissen einer schönen Seele Liest man in den ersten fünf Büchern der Lehrjahre des »Wilhelm Meister« (Johann Wolfgang Goethe, 1794–1796/1977) von den leidenschaftlichen Beziehungen Wilhelms zum werdenden deutschen Theater, so ergibt sich keine Notwendigkeit für ein sechstes Buch, überschrieben »Bekenntnisse einer schönen Seele« (aaO., S. 385– 452), das anders als alle anderen Bücher des Meister ohne jede Untergliederung in Kapitel auskommt. Wie kommt es zu diesen Bekenntnissen? Aufschluss gibt das fünfte Buch des Meister, in dem ein Arzt von einem Manuskript berichtet, das ihm anvertraut worden ist. Im Kreise Wilhelms und seiner Freunde verbarg dieser Arzt nicht, »daß er diejenigen Personen sehr glücklich gefunden habe, die bei einer nicht ganz herzustellenden kränklichen Anlage wahrhaft religiöse Gesinnungen bei sich zu nähren bestimmt gewesen wären. Er sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und gleichsam historisch, und versprach dabei seinen neuen Freunden eine sehr interessante Lektüre an einem Manuskript zu verschaffen, das er aus den Händen einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe. Es ist mir unendlich wert, sagte er, und ich vertraue Ihnen das Original selbst an. Nur der Titel ist von meiner Hand: Bekenntnisse einer schönen Seele.« (aaO., S. 37525–35) Die Verfasserin dieses Lebensberichtes ist eine Angehörige des niederen Adels, ihr Vater ist an einem Hofe tätig und »bei seinem mäßigen Vermögen durch Besoldung an den Dienst fest geknüpft« (aaO., S. 41323–24). Sie beginnt ihren Bericht mit der Erinnerung an ihr achtes Jahr. »Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtnis.« (aaO., S. 3855–7) Damit ist gleich zu Beginn des Berichtes die Seele als das wichtigste Thema und Fragstück des ganzen sechsten Buches eingeführt. Der Achtjährigen scheint sie durch eine Krankheit in einem Augenblick zuzufliegen und sie ist »ganz Empfindung und Gedächtnis«. Mit dem Wort »Empfindung« ist eines der Lieblingsworte des späteren 18. Jahrhunderts ausgesprochen, dessen siebziger und achtziger Jahre auch geradezu Zeitalter der Empfindsamkeit genannt worden sind. In der Empfindung wird nach der in167 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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neren Korrespondenz zu einem äußeren Verhalten gefragt, benimmt sich einer höflich, fragt man, ob er es auch ist. Im religiösen Bereich geht es dem Empfindsamen nicht um die Wahrheit eines öffentlichen Bekenntnisses, wie es damals die lutherische Orthodoxie formulierte, sondern um die Wahrhaftigkeit, mit der es seine Bekenner glauben. Was in den Bekenntnisschriften niedergelegt war, rief nach einem Lebendigwerden durch das Gemüt. Die Empfindung war die innere Antwort auf das von außen zugesagte Wort Gottes, die ihm erst seine Bestätigung und seinen wahren Wert zu geben schien. So genügte es dem aufblühenden Pietismus nicht mehr, den wahren Glauben richtig zu bekennen, es sollte auch die ihm gemäße Empfindung zu ihm hinzutreten. Damit aber war der Grund für eine neue Erkundung der Seele gelegt und eine »Erfahrungsseelenkunde«, wie sie Karl Philipp Moritz seit dem Jahre 1783 unter dem Motto »Und was ist dem Menschen wichtiger, als der Mensch?« (Karl Philipp Moritz, 1783, hier S. 26–7) propagierte, bereitete sich vor. Mit den Worten »Empfindung« und »Gedächtnis« ist der Grundklang der Vermögen der Seele angegeben. Auf sie folgen einige die jugendliche Seele betreffende Stellen, deren erste in der Mitte zwischen Heiterkeit und Ernst gelegen, die noch unreife Zwölfjährige auftreten lässt, wie sie der erfahrenen Schreiberin im Rückblick erscheint, »ich las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widerglänzen könnte; das hatte ich ein für allemal vorausgesetzt.« (aaO., S. 38812–17) Ein forschendes Interesse, die Nachfrage nach der eigenen Seele, die gleichsam aufgefordert wird, Rechenschaft über sich abzulegen, ist das eine große Motiv der Erfahrung der Seele, das andere ist die in die religiösen Formen der Zeit übersetzte Gottesbegegnung. Der als »ewige Sonne« vorgestellte Gott begegnet der Seele, die ihm nur genugtut, wenn sie ein heller Spiegel seines Lichtes ist. Die nächste Szene zeigt die Erzählerin noch als »halbkluges Mädchen« (aaO., S. 39814–15), das nach einem Aufsehen erregenden gesellschaftlichen Zwischenfall wieder zum Nachdenken kommt. »Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an sich zu regen; allein die unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so 168 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
leicht nicht wieder hergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein großer Unterschied.« (aaO., S. 39816–24) Hier wird zuerst der Keim eines Zwiespaltes entdeckt, welcher die weitere Entwicklung der schönen Seele bestimmen soll, der Zwiespalt zwischen einem zerstreuten Leben, das an die Vielfalt der Umstände, welche die Gesellschaft bietet, hingegeben ist, und der Zugewandtheit der mit sich einigen Seele zu Gott. Es charakterisiert die Seele, dass sie in den bunten Bildern des alltäglichen Lebens gar keine Aufgabe hat und sich erst wieder zu regen beginnt, als die Bilder dieses Lebens wie weggeblasen sind. Doch zunächst fordert der gesellschaftliche Umgang weiterhin seinen Tribut, ohne dass die junge Erzählerin ihren Umgang mit Gott aufgibt. Aber Gott schien sie »in dem Schmucke«, in dem sie sich ihm zeigte, »gar nicht zu bemerken« (aaO., S. 39913). Doch war ihr darum »nicht übel … zu Mute. Ich hatte was ich brauchte, Gesundheit und Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut; wo nicht, so glaubte ich doch meine Schuldigkeit getan zu haben. So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu ändern und zu reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.« (aaO., S. 39916–24) Auch hier ein auffallendes neues Element der Erfahrung der Seele, indem sich das spätere Nachsinnen in der Lage zeigt, die wahre Gestalt nicht nur eines früheren inneren Ereignisses, sondern der Seele selbst wahrzunehmen und auszusprechen. Es folgt im Lebenslauf des adligen Mädchens die Verlobung mit einem jungen Mann der Gesellschaft und entsprechend ist auch ihrer Seele ein neues Geschäft zugewiesen. »Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin. Narciß gab mir nicht die mindeste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wußte er wohl und wußte es zu schätzen.« (aaO., S. 4015–8) Diese Liebe hindert nicht die Beziehung zu Gott. »Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden« (aaO., S. 40124–25), berichtet vielmehr die schöne Seele, freilich rückblickend, doch mit der Einschränkung, sie habe ihrer eigenen Tugend zu sehr vertraut. Doch dieses Vertrauen ermöglicht eine eigentümliche Erfahrung mit Gott. »In diesem losen Flitterschmuck erschien ich dreist vor Gott; er stieß mich nicht weg; auf die geringste Bewegung zu ihm hinterließ er einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich, ihn immer wieder aufzusuchen.« (aaO., S. 40133–4021). So geht es eine Weile, »ich fühlte und dachte, und erlangte nach und nach eine 169 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Fertigkeit, von meinen Empfindungen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widersprachen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß nirgend gegen meine Pflichten an. Sie widersprachen sich nicht und waren doch unendlich verschieden.« (aaO., S. 40224–31) Eine doppelte unendlich verschiedene Reihe von Empfindungen in derselben Seele sollte ihr zu einer Schwierigkeit und ersten ernstlichen Irritation der Seele werden. Denn wenn sie auch alles Gesellschaftliche an den Ort tragen konnte, »wo mein Anliegen so wohl aufgenommen wurde« (aaO., S. 40521–22), so musste sie jetzt eine neue Erfahrung machen. »Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto öfter suchte ich sie zu erneuern, und den Trost immer da, wo ich ihn so oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer: es war mir wie einem, der sich an der Sonne wärmen will, und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht. Was ist das? fragte ich mich selbst. Ich spürte der Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich, daß alles von der Beschaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott gekehrt war, so blieb ich kalt; ich fühlte seine Rückwirkung nicht, und konnte seine Antwort nicht vernehmen.« (aaO., S. 40523–33) Mit der Katechismusfrage »was ist das?« wird nun nicht mehr ein Fragstück des Bekenntnisses erfragt, wie es im Buche steht, sondern das Selbst befragt und erkannt, dass alles auf die Beschaffenheit der Seele ankommt. Auch das kann als eine Art der Revolution betrachtet werden, als ein Umsturz vom objektiven Bekenntnis zu seiner subjektiven Zueignung durch die Seele, welcher die Bekanntschaft mit der eigenen Seele zur ersten Pflicht macht. »Nun war die zweite Frage: was verhindert diese Richtung? Hier war ich in einem weiten Feld, und verwickelte mich in eine Untersuchung, die beinahe das ganze zweite Jahr meiner Liebesgeschichte fortdauerte. Ich hätte sie früher endigen können, denn ich kam bald auf die Spur; aber ich wollte es nicht gestehen, und suchte tausend Ausflüchte. Ich fand sehr bald, daß die gerade Richtung meiner Seele durch törichte Zerstreuung und Beschäftigung mit unwürdigen Sachen gestört werde;« (aaO., S. 40533–4065). Es sind die Umstände des geselligen Lebens, »die mich nun einmal zerstreuten und meinen innern Frieden störten« (aaO., S. 40634–35). Aus dieser Einsicht wird die schöne Seele vor die Entscheidung zwischen Zuständen, die einen Zugang zu Gott erlauben, und solchen, die ihn nicht erlauben, gestellt – und die Verlobung aufgelöst. »Meine Geschichte war ruchbar ge170 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
worden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mädchen zu sehen, die Gott mehr schätzte als ihren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewisse religiöse Stimmung in Deutschland bemerkbar. In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig.« (aaO., S. 41222–27) Das ist die einzige Stelle im sechsten Buch der Lehrjahre, in der das Wort Seele nicht die Seele der Berichterstatterin meint, sondern ins Objektive geht, die religiösen Bestrebungen der damaligen adligen Gesellschaft betreffend. Goethe notiert diese Bestrebungen in der nüchternsten Weise mit den Worten »Sorge für das Heil der Seele«, doch so, daß ihre christliche Herkunft erkennbar bleibt. Schließlich aber, nachdem die schöne Seele sich gegen den Ehestand entschieden hat, um ihren religiösen Neigungen leben zu können, kommen die wichtigsten Prüfungen der Seele. Denn von zwei Dingen weiß diese junge Adlige nichts: sie weiß nicht, was Sünde ist, und sie weiß nicht, was Glaube ist. Zuerst die beiden Stellen der Bekanntschaft ihrer Seele mit dem Bösen. Als ihr ein Seelenfreund, Philo genannt, schließlich seine Geschichte anvertraut, erfuhr sie nur so viel, dass sie »das Schlimmste vermuten konnte.« (aaO., S. 42134) Ihre Teilnahme aber am Schicksal ihres Freundes »war lebhaft und vollkommen; … Nachdem ich mich lange mit seiner Gemütsverfassung beschäftigt hatte, wendete sich meine Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke, du bist nicht besser als er, stieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus, und verfinsterte meine ganze Seele.« (aaO., S. 4225–11) Indem nun ihre Seele empfindend und fühlend das Böse in sich kennenlernt, wendet sie sich erneut Gott zu. Was sollte sie aber tun, da schon in ihrem bisherigen tugendhaften Leben »die nun erkannten Greuel … tief in meiner Seele verborgen gelegen« (aaO., S. 4234–5) hatten. Sie vergleicht sich mit König David, »als er Bathseba erblickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes«? (aaO., S. 4236–7) Bevor ihrer Seele eine Antwort zuteil wird, erinnert sie zuerst noch einmal das Bekenntnis ihres Glaubens. Das johanneisch geprägte Glaubensbekenntnis, das hier im Bericht der schönen Seele folgt, darf wohl zugleich als das Bekenntnis Goethes angesehen werden. Es lässt sich als Versuch lesen, eine einem pantheistisch gefärbten Humanismus noch zumutbare Formulierung des christlichen Überlieferungsgutes zu geben, ohne dass ein sofort erkennbarer Widerspruch gegen das tradierte christliche Bekenntnis entsteht. Über ihr Bekenntnis schreibt die schöne Seele: »Die Antwort aus den symboli171 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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schen Büchern wußte ich wohl: es war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige. Nun aber bemerkte ich erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden hatte. Die Fragen: Was heißt das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch. Endlich glaubte ich bei einem Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der Menschwerdung des ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sei. Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt, einstmal als Bewohner begeben habe, durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe, von der Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe, durchgegangen sei, daß er durch diesen sonderbaren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu sein: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart.« (aaO., S. 42328–4248) Aber all das, schön gesagt, sind Worte, die den objektiven Sachverhalt angehen. Wie aber wird er angeeignet, wie wird er in die Seele aufgenommen? Die Beantwortung dieser Frage hat Goethe dem Höhepunkt der Bekenntnisse vorbehalten. Wir finden die schöne Seele, wie sie um Glauben ringt und zum Glauben findet. Auf diesem Weg vom Glaubenszweifel zur Erhörung wird die Seele ausdrücklich dreimal genannt. »Nun, Allmächtiger! so schenke mir Glauben, flehte ich einst in dem größten Druck des Herzens. Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch, an dem ich saß, und verbarg mein beträntes Gesicht in meinen Händen. Hier war ich in der Lage, in der man sein muß, wenn Gott auf unser Gebet achten soll, und in der man selten ist. Ja, wer nur schildern könnte, was ich da fühlte! Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen, demjenigen völlig gleich, wodurch unsere Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir vermuten. So nahte meine Seele dem Menschgewordenen und am Kreuz Gestorbenen, und in dem Augenblicke wußte ich, was Glauben war. Das ist Glauben! sagte ich, und sprang wie halb erschreckt in die Höhe. Ich suchte nun meiner Empfindung, meines Anschauens gewiß zu werden, und in kurzem war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.« (aaO., S. 42422–4255) Nur eine Bemerkung zu dieser großen Stelle. Der Glaube ist eine 172 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
Bewegung der Seele, ein Zug der Seele – ein Zunahen zu Gott. Der Glaube ist Gottesbegegnung und die Seele das Vermögen dieser Begegnung, so ist das Vermögen Gott zu begegnen die Grundbestimmung der Seele. Reflexionen über den neuen Stand der gläubig gewordenen Seele schließen sich an, die Folgen des Glaubens für das Leben der Seele werden bedacht. Schließlich folgt eine Einsicht, die auch als Klage gelesen werden kann, indem sie in der zum Glauben gekommenen Seele den Wunsch nach einer nochmaligen Erweiterung entstehen lässt, erinnernd an die paulinische Differenz von Glauben und Schauen: »Denn meine Seele hat nur Fühlhörner und keine Augen; sie tastet nur und sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und schauen dürfte!« (aaO., S. 42631–33) Mit diesem starken, ungewohnten Bild wird die Sehnsucht der Seele ausgesprochen, ihre Fühlhörner möchten sich in schauende Augen verwandeln, das Gefühl möge sich zur Schau erheben. Eine letzte große Erfahrung mit der Seele ist dann in Vorahnung des eigenen Todes ein Freiwerden der Seele auch dem eigenen Körper gegenüber. »Ich hielt mich bei meiner schwachen Gesundheit still, und bei einer ruhigen Lebensart ziemlich im Gleichgewicht; ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer näher zu kommen. In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich beschreiben kann. Es war als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dächte; sie sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer außerordentlichen Lebhaftigkeit die vergangenen Zeiten und Begebenheiten vor, und fühlte daraus, was folgen werde. Alle diese Zeiten sind dahin; was folgt wird auch dahin gehen: der Körper wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich, das wohlbekannte Ich, Ich bin.« (aaO., S. 44635– 44713) Nirgends als in den Bekenntnissen einer schönen Seele legt Goethe seine eigenen Anschauungen von der Seele konzentrierter dar. Ist sie anfangs »Empfindung und Gedächtnis« (aaO., S. 3857), offenbart sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit als das Vermögen, Gott zu begegnen, so ist sie im letzten Verstand das Vermögen eines jeden Menschen, als Ich über die Endlichkeit seines leiblichen Lebens hinaus da zu sein. Die als Ich gedeutete Seele verbürgt Unsterblichkeit.
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Horst Folkers
Sehen wir, wie Goethe die Seele und ihren Glauben auffasst, so zeigt sich, dass er sich zugunsten der schönen Seele nicht auf eine johanneisch dem Pantheismus noch zumutbare Formel beschränkt. Vielmehr kennt die schöne Seele ein »Zunahen«, mit dem ihre Seele »dem Menschgewordenen und am Kreuz Gestorbenen« (aaO., S. 42432–35) naht. Dieser Satz ist jedem Pantheismus unerschwinglich, er nennt vielmehr das den beiden anderen abrahamitischen Religionen fremde Proprium des Christentums. Nur das Christentum kennt die Menschwerdung Gottes – nicht als ein allgemeines, jeden Menschen betreffendes, sondern als an das Individuum Jesus von Nazareth gebundenes Geschehen. Goethe denkt nicht daran, sich in Glaubensdingen heikel zu geben und bedeckt zu halten. Er nennt das Zentrum des Christentums ohne falschen Klang, wenn er von einem »sonderbaren Umweg« spricht, den der »Uranfängliche« gegangen ist, »von der Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe« (aaO., S. 4241–6). Das aber ist Goethes Haltung als Erzähler überhaupt, er lässt nichts aus, was die Tiefe, die Weite und den Ernst des Menschlichen betrifft. Wie schon »Wilhelm Meister« bewährt, weiß Goethe sich den biblischen Erzählern verbunden, besonders dem großen Erzähler des Buches Samuel, den er in den Schlussworten des »Meister« ehrt, indem Friedrich zu Wilhelm sagt: »du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« (aaO., S. 65311–13). Mit Samuel teilt Goethe den großen Erzählatem und bewundert, wie das Zitat zeigt, die leitmotivische Kunst dieses großen frühen Erzählers, den wir Samuel nennen. Der erzählenden Souveränität und Macht Goethes kann am selbstverständlichsten der größte Erzähler des Neuen Testaments, also Lukas, an die Seite gestellt werden. Goethe hat auf ihn implizit hingewiesen, indem er den Weg Jesu »von der Empfängnis und Geburt« (aaO., S. 4244) an nennt, da nur der Evangelist Lukas der Empfängnis und Geburt Jesu zwei große Kapitel widmet. Lukas traut sich zu, das eigentlich unerzählbare Geschehen zu erzählen, wie der – längst übergeschlechtliche – Gott Israels durch den Engel Gabriel um Maria wirbt –, man lese nur die anderen Evangelisten oder Paulus, um zu ermessen, wie weit Lukas gegangen ist. Das Sagbare über alle bisher bekannten Grenzen auszudehnen und ein neu Gesagtes der Literatur für alle Zeiten hinzuzufügen, verbindet Lukas mit Goethe.
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Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
Die Seele im Lukasevangelium Ein Wort vorab zu Lukas, dem Evangelisten. Lukas ist unbestritten einer der großen Erzähler der Weltgeschichte, der barmherzige Samariter, Maria und Martha, der arme Lazarus, der verlorene Sohn – nur Lukas erzählt von diesen sprichwörtlich gewordenen Gestalten. Aber Lukas ist, das ist weniger bekannt, zugleich ein durchgebildeter Intellektueller auf der Höhe der schriftstellerischen Möglichkeiten seiner Zeit. Eine ihrer Techniken war die von der alexandrinischen Homerauslegung ebenso wie von Philos Schriftauslegung vorgetragene Allegorese – ein und dasselbe Wort hat einen leiblichen, anschaulichen und einen geistigen, begrifflichen Sinn. Lukas nutzt das Prinzip der Allegorese in seinem Evangelium, indem er dasselbe Wort in einen doppelten Bedeutungszusammenhang stellt, einen erzählenden, aus dem das Wort seine Anschaulichkeit und seine Bestimmtheit gewinnt, und einen zweiten, in dem es lehrende und deutende Aufgaben erfüllt. Ausgesuchten Worten wie »λόγος« – Weltvernunft«, »ῥῆμα – (von Gott) gesprochenes Wort«, »δεῖ – es muß, eine göttliche Notwendigkeit anzeigend« vertraut Lukas durch die gezählte Wiederholung des Wortes eine Lehre an, die sich in ihrer inneren Logik erst im Durchgang durch alle Stellen, die das Wort verwenden, völlig enthüllt. Paradigmatisch lässt sich das am ῥῆμα der Kindheitsgeschichte des Lukasevangeliums, Lk 1,1–2,52, erkunden, welches in neun Vorkommen eine trinitarische Lehre vom göttlichen, fleischgewordenen Wort enthält (Horst Folkers, 2002, S. 105–131). Das Wort »ψυχή – Seele« kommt im Evangelium nach Lukas 13mal vor. Die 13 Stellen können in eine Gruppe von sechs Stellen (Lk 1,46; 2,35; 6,9; 9,24(2); 10,27) und eine weitere Gruppe von sieben Stellen (Lk 12,19(2).20.22.23; 14,26; 21,19) unterschieden werden. Die erste Gruppe findet sich in der Kindheitsgeschichte und dem nächsten, Markus folgenden Teil des Evangeliums. Lukas lässt in dieser Gruppe an seiner Hochschätzung des Wortes Seele keinen Zweifel, sodass sich durch genaue Beobachtung der Lehrgehalt jeder Stelle erkennen lässt. Das Wort ψυχή tritt an die Seite der lukanischen Hauptworte und bewährt durch seinen Anteil an der Formulierung der Christologie, des Zentrums des Evangeliums, den großen Denkstil des Lukas. Das letzte Vorkommen der Seele in dieser Gruppe zitiert das Sch’ma Israel, den Kern der Gotteserfahrung Israels »ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου καὶ ἐν ὅλῃ τῇ ψυχῇ σου – denn lieben sollst du den Herrn deinen Gott von ganzem 175 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Herzen dein und in deiner ganzen Seele«, Lk 10,27. Damit verbinden sich zum Schluss durch die Seele wie alter Bund und neuer Bund auch Gottesliebe und Christusliebe. Die Seelengeschichte des Lukasevangeliums beginnt mit Maria und ihrem Gotteslob im Magnificat: »μεγαλύνει ἡ ψυχή μου τὸν κύριον – groß mache meine Seele den Herrn«, Lk 1,46. Die betende, lobpreisende, singende Seele Mariens ist die erste im Evangelium genannte ψυχή und Maria selbst ist es vorbehalten, sie zu nennen. Es ist, als wolle Lukas in ihr den Typus der Seele überhaupt geben. Denn Maria steht für die Frömmigkeit Israels, die Gottes Wohlgefallen findet. In ihrer Seele fällt die große Entscheidung, den Messias Israels, den Christus der Welt zu gebären. In Mariens Seele hören vollkommene Hingabe an Gott und vollkommene Selbstmacht auf, im Widerspruch zueinander zu stehen. Beide, Hingabe an Gott und Selbstmacht der Seele, kommen durch das einzigartige Ja Mariens zum Ausgleich. Auch die zweite Stelle im Evangelium zur Seele gilt Maria. »καὶ σοῦ δὲ αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία – aber durch deine Seele wird ein Schwert hindurchgehen«, Lk 2,35. Auch Maria kann Gott nur um den Preis des Leidens empfangen. Im Ja zu Gott ist ein Nein zur Welt enthalten, das hier im Schwert, das die Seele durchdringt, sein Bild findet. Es ist das Geschick der Seele, dass sie, geliebter Ort der Vereinigung, auch die Trennung, das Verlieren des Geliebten, tragen muss. Mariens Seele in ihrer freien Hingabe an Gott und ihrem Schmerz, das Geliebteste zu verlieren, sind die Grundorte der Seele im Lukasevangelium. Die dritte Stelle der Seele führt uns in eine Szene in der Synagoge am Sabbat. Jesus stellt die Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat »ψυχὴν σῶσαι ἢ ἀπολέσαι – die Seele zu retten oder zu verderben«, Lk 6,9. Durch das Wort der Verheißung und der Bedrohung deutet Jesus die Verfassung der Seele der Menschen neu. Weil sie in der Welt leben, ist ihrer Seele das Hinschauen auf die Rettung und die Verlorenheit gegeben. Indem der Heilsauftrag Christi aber nicht in der Scheidung des Geretteten vom Verlorenen, sondern lukanisch darin besteht, auch das Verlorene zu retten, vgl. Lk 19,10, ist die Seele der Ort, an dem sich dieses umfassende, nichts verloren gebende Heilswerk vollzieht. Dann folgt das zu allen gesprochene Wort Jesu, das die ψυχή zum vierten und fünften Mal aufruft: »ὃς γὰρ ἂν θέλῃ τὴν ψυχὴν αὐτοῦ σῶσαι ἀπολέσαι αὐτὴν· ὅς δ’ ἂν ἀπολέσει τὴν ψυχὴν αὐτοῦ 176 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
ἕνεκεν ἐμοῦ οὗτος σῶσει αὐτήν – welcher nämlich seine Seele retten will, der wird sie verlieren; wer aber verliert seine Seele um meinetwillen, dieser wird sie retten«, Lk 9,24. War im vorhergehenden Wort Jesu zur Seele ihre Verfassung entscheidend, geht es jetzt um das Handeln an ihr, das sein Ziel in der Nachfolge Jesu hat. In unüberbietbarer Klarheit wird die Selbstmacht der Seele, ihre Rettung, die doch ihr entscheidendes Werk wäre, beschränkt, ja geleugnet. Die Dialektik der Seele enthüllt sich darin, dass es der Andere ist, der allein die Seele zu retten vermag. Wessen Seele sich auf sich selbst richtet und sie dem eigenen Willen zu unterwerfen versucht, um ihr Heil zu besorgen, wer also will, was das »θέλῃ – er will«, Lk 9,24, ausspricht, verliert die Seele unweigerlich. So sehr es auf die Seele und sie allein ankommt, wird von ihr das entscheidende Wort gefordert, wie es Maria geschah, so wenig ist es ihre Sache, sich zu behaupten. Die Seele bleibt rein empfangend. Daher kann einer seine Seele geradezu verlieren, doch nicht aus Unachtsamkeit, sondern um Seinetwillen und rettet sie doch, indem er sie verliert. Als krönender Abschluss folgt dann die sechste Verwendung, ausgesprochen von dem Gesetzeskundigen, als Zitat aus dem »Sch’ma Israel«, dem »Höre Israel«. Du sollst Gott lieben »ἐν ὅλῃ τῇ ψυχῇ σου – in deiner ganzen Seele«, Lk 10,27. Denn Gott ist einer und du sollst ihn lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft und mit aller deiner Einsicht. Mit dem Zitat des Glaubensbekenntnisses Israels ist an dieser Stelle die Einheit der bisherigen Betrachtung der Seele nachgetragen. In zwei Marienworten und zwei Jesusworten wurde zuvor das messianische Heilswerk als ein Geschehen der Seele gedeutet. Alles das kann auch als Auslegung des Sch’ma Israels verstanden werden, in welchem nach dem Herzen die Seele den ersten Teil der Gott liebenden Vermögen abschließt, dessen zweiter Teil durch »Kraft – ἰσχύς« und »Einsicht – διάνοια«, Lk 10,27, die Liebe Gottes vollendet. Die Seele ist die zweite Person der Liebe, sie ist als das Du der geliebte Sohn, wie der Heilige Geist in seiner Freiheit zweifach, zugleich als Kraft und als Einsicht erscheint. In diesen sechs Worten zur Seele legt Lukas seine Theologie der Seele dar, ohne die er sein Evangelium nicht hätte schreiben können. Von den folgenden sieben Verwendungen des Wortes Seele, der zweiten Gruppe, liegen fünf eng beieinander. Sie haben einen anderen Charakter und setzen gewissermaßen neu ein, indem sie den Umgang der Seele mit alltäglichen Gütern betreffen. Zuerst spricht der reiche 177 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Kornbauer »καὶ ἐρῶ τῇ ψυχῇ μου· ψυχή, ἔχεις πολλὰ ἀγαθὰ κείμενα εἰς ἔτη πολλά· ἀναπαύου, φάγε, πίε, εὐφραίνου. – Vnd wil sagen zu meiner Seelen /Liebe seele /du hast einen grossen Vorrat auff viel jar /Habe nu ruge /iss /trinck /vnd habe guten mut.«, (Lk 12,19, Martin Luther, 1545/1972). Nun, mit der Ruhe der Seele dieses reichen Kornbauers hat es eine besondere Bewandtnis, denn »ταύτῃ τῇ νυκτὶ τὴν ψυχήν σου ἀπαιτοῦσιν ἀπὸ σοῦ: – Diese nacht wird man deine Seele von dir foddern«, Lk 12,20, spricht Gott zu ihm. Dreimal wird hier von der Seele des irdisch Reichen gesprochen. Zweimal vom Reichen selbst, der zur Seele spricht und ihr zuspricht, sie möge doch ruhig sein, als fühlte er ihre Unruhe inmitten der vielen Güter, die ihr doch niemals genug tun könnten. Einmal nennt sie der Erzähler, der die nächste Zukunft der Seele berichtet, der ein anderer Ort des Heils gewiesen ist, da irdische Güter nicht zulangen. Es ist das Gleichnis von der Verlorenheit der Seele, die, statt sich zur Dankbarkeit zu erheben, inmitten vieler Güter unruhig sich um sich selber sorgt. Die vierte und die fünfte Verwendung gelten nicht der reichen, sondern der ums Lebensauskommen besorgten Seele. Jesus spricht den Jüngern zum Trost: »μὴ μεριμνᾶτε τῇ ψυχῇ τί φάγητε, μηδὲ τῷ σώματι τί ἐνδύσησθε. ἡ γὰρ ψυχὴ πλεῖόν ἐστιν τῆς τροφῆς καὶ τὸ σῶμα τοῦ ἐνδύματος – Sorget nicht für euer Leben (Leben ist hier Luthers Übersetzung für die ψυχή), was ihr essen sollt«, Lk 12,22, um sofort eine Begründung anzufügen. Denn »ἡ γὰρ ψυχὴ πλεῖόν ἐστιν τῆς τροφῆς καὶ τὸ σῶμα τοῦ ἐνδύματος – das Leben ist mehr denn die Speise /vnd der Leib mehr /denn die Kleidung«, Lk 12,23. Dem Reichen wie dem Armen ist die Seele der Ort der Sorge. Die Sorge ist Hingabe der Seele an das alltägliche viele. Sie ist der gelassenen Freude, eines nach dem anderen zu tun, entgegengesetzt, denn die Sorge stellt die Unmöglichkeit des Aufeinmal und das Unzulängliche des Ganzen immer neu vor Augen – sie ist die Gefangene der Fiktion, als ob das Endliche je eine zureichende Ordnung des Ganzen erlaubte. Eine solche, mit den täglichen Sorgen befasste Seele scheint auch der sechsten, vorletzten Verwendung, die vom Ernst der Nachfolge handelt, zugrunde zu liegen. »εἴ τις ἔρχεται πρός με καὶ οὐ μισεῖ τὸν πατέρα ἑαυτοῦ καὶ τὴν μητέρα καὶ τὴν γυναῖκα καὶ τὰ τέκνα καὶ τοῦς ἀδελφοὺς καὶ τὰς ἀδελφὰς ἔτι τε καὶ τὴν ψυχὴν ἑαυτοῦ, οὐ δύναται εῖναί μου μαθητής. – So jemand zu mir kompt vnd hasset nicht seinen Vater /Mutter /Weib /Kind /Brüder /Schwester /auch dazu sein eigen Leben /der kan nicht mein Jünger sein.«, Lk 14,26. Dem Übersetzungswort Luthers »Leben« in »dazu sein eigen 178 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Die schöne Seele im Wilhelm Meister und die Seele im Lukasevangelium
Leben« liegt die Seele zugrunde. Sie, »seine eigene Seele – τὴν ψυχὴν ἑαυτοῦς hassen, ist freilich eine unerwartete Steigerung und verständlich wird sie nur, sofern die Seele auf den einzigen Punkt der Freiheit der Nachfolge bezogen ist. Was aber diese Freiheit angeht, so kann auch die eigene Seele in ihrem Gebundensein an das Vertraute hindern, die eigenste Bestimmung zu ergreifen. Zum siebten und letzten Mal verwendet Lukas das Wort Seele in der Endzeitrede Jesu. Er spricht der Seele, die den irdischen Dingen ausgeliefert ist, eine besondere Dignität zu, insofern sie inmitten von endzeitlichen Bedrängnissen in Geduld bewahrt wird. Nur hier verwendet Lukas den Plural von Seele und spricht von »den Seelen – τὰς ψυχὰς«, Lk 21,19. Jesus sagt: »ἐν τῇ ὑπομονῇ ὑμῶν κτήσασθε τὰς ψυχὰς ὑμῶν – im Darunterbleiben gewinnet ihr eure Seelen«, Lk 21,19. Luther hatte 1545 übersetzt, »Fasset ewre Seele mit gedult«, das ist frei übersetzt, aber sachgemäß. Das sogenannte Luther – NT (Luther – NT, Das Neue Testament 1975) und ihm wörtlich folgend die Einheitsübersetzung (Die Bibel, 1980) übersetzen stattdessen: »Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.« Das ist in Hinsicht auf das »κτήσασθε – gewinnen« genauer übersetzt, zugleich spürt man den Optimismus jener Jahre, der überall dabei war, wo das Selbst sich verwirklichen sollte. Denn das Werk der Seele ist ja nicht, sich zu gewinnen, sondern Rettung zu erfahren durch den Retter, worum es Lukas auch hier in der Endzeitrede in einer zarten Erinnerung an zuvor Gesagtes geht. Die Seele gilt es auch in Bedrängnis zu bewahren, dass sie harre auf das Eine, das sie rettet – gehe sie dabei im Sinne der Welt auch verloren. Fasset eure Seelen in Geduld, auf dass sie errettet werden. Luthers Übersetzung bleibt sachgemäß, auch wenn mitgehört wird, dass Menschen ihre Seelen, ihr Leben im Darunterbleiben unter der Bedrängnis erwerben und sich so erringen und gewinnen.
Zum Abschluss Die Seele ist nie ganz bei uns, weil sie zu einem Teil von Gott gehalten wird. Eine Seite der Seele, die sie zu ihrer Vollendung braucht, bleibt und wirkt immer im Himmel. Darum ist es so schwer, zur Ruhe der Seele zu kommen, darum ist die Seelenruhe in diesem Leben nicht endgültig zu erreichen. Die Seele ist größer als die ganze Welt, weil sie auch im Himmel ist. So betrachtet geht es darum, die Seele sein zu 179 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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lassen, was sie ist, sie zu erkennen als unsere innerste Lebendigkeit und zugleich als unseren irdischen Teil Himmel. Da sie uns irdisch gegeben ist, haben wir Umgang mit ihr, nehmen sie wahr, nähren sie, sorgen für sie – oder auch nicht. Wir können sie aber nicht zu unserer Habe machen, sie lässt sich nicht in ein Können verwandeln, es gibt keine Virtuosen der Seele. Vielleicht können wir ihr zuletzt nur mit Scheu begegnen. Mit Scheu betrachten wir das Offene der Seele, ihren Anteil Himmel. Nehmen wir das Offene an, mischt sich Freude in die Scheu, dass wir dem uns Unergreifbaren der Seele gewärtig bleiben.
Literatur: Benjamin, W. (1974). Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), in: Gesammelte Schriften Bd. I, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Die Bibel (1980). Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen, Stuttgart: Katholische Bibelanstalt. Folkers, H. (2002). Synteresis und Symbolon als Elemente lukanischer Hermeneutik, in: Hermann-Josef Röllicke (Hrsg.), Auslegung als Entdeckung der Schrift des Herzens, München: iudicium. Kafka, F. (1963). Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg, in: Er, Prosa von Franz Kafka, Auswahl und Nachwort von Martin Walser, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luther, M. (1545/1972). Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545, hg. von Hans Volz, München: Rogner & Bernhard. Luther – NT (1976). Das Neue Testament 1975, nach der Übersetzung Martin Luthers, Revidierter Text 1975, Stuttgart: Deutsche Bibelstiftung Stuttgart. Moritz, K. P. (1783) ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Ersten Bandes erstes Stück. Berlin: August Mylius. Novalis, Blüthenstaub (1798). In: Athenaeum, Ersten Bandes Erstes Stück, hrsg. von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Berlin: Friedrich Vieweg 1798, wiederabgedruckt: 1983, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
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Vor der Türe ausharren, hinter der Türe nichts erwarten. Das Wesen des Gesetzes und das Warten des Mannes vom Lande in Kafkas Legende Vor dem Gesetz […] ich hörte: Wir wissen ja nicht, weißt du, wir wissen ja nicht was gilt. Paul Celan
»Vor dem Gesetz« – so ist ein kurzer Text von Franz Kafka überschrieben. Kafka selbst spricht von einer Geschichte, einer Legende oder einer Schrift, in der Forschung ist meist von einer Parabel die Rede. Dass immer wieder auf deren Unauflöslichkeit aufmerksam gemacht wurde, hat Interpreten nicht daran gehindert, nach Auflösungen zu suchen. Und sie tun recht daran, vor Kafkas Text nicht wie fundamentalistische Exegeten vor ihrer heiligen Schrift zu erstarren, bis sie zum tötenden Buchstaben gerinnt, sondern sich um Verstehen und lebendigen Sinn zu bemühen. Selbst wenn solche Bemühungen zum Scheitern verurteilt sein sollten, sind sie deswegen nicht vergeblich. Zwar erfüllt sich, wie bei allen großen Texten, die Intention der Legende nicht darin, dass Leser herausfinden, was sie uns sagen will. Aber dass statt einer Interpretation eher »eine Interpretationsvermeidung … gefragt wäre«, da, »was die Parabel paralysiert, der Interpretationsbetrieb des menschlichen Bewusstseins selbst« (HansenLöve, 1994, S. 147) sei, ist eine so allgemeine Deutung, dass damit die konkreten Potenziale des Textes keineswegs ausgeschöpft sind. Die Mahnung, in ihr eine »Interpretationsfalle« (ibd.) zu erkennen, ist immerhin beherzigenswert: Während theologische Deutungen gerne darüber hinwegsehen, dass Gesetzesbücher im Roman »Der Prozess«, in den die Geschichte eingewoben ist, als pornographische 181 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Schriften erscheinen (Prozeß, S. 48), verfehlen rein säkulare Deutungen, die in Vor dem Gesetz nichts weiter als die Hilflosigkeit des modernen Menschen angesichts eines Labyrinths bürokratischer Komplexe sehen können, Tiefendimensionen, die an den abgrunt der mittelalterlichen Mystik gemahnen. Ohne auf Deutung zu verzichten, geht es mir im Folgenden eher um eine Art Kontextualisierung der Geschichte: Im ersten Teil wird sie mit Ideen von Philosophen wie Hobbes, Kant oder Nietzsche gleichsam umschrieben. Deutlich wird, dass Kafkas Text sich mit Gedanken dieser Denker kreuzt, dass er sie in sich aufnimmt, indem er sie in die Form des Paradoxes einhüllt. Ein blinder Fleck, den die philosophische Darstellungsweise der Problematik des Gesetzes zudeckt, tritt offen zutage. In der anschließenden Auseinandersetzung mit der Thora (Teil II) zeigt sich, anknüpfend an Beobachtungen von Walter Benjamin und Gershom Scholem in ihrem Briefwechsel, dass die anscheinende Unauflöslichkeit der Legende – die als solche ja übrigens kein Selbstwert wäre – etwas mit einer ihrerseits unauflöslichen Schwellensituation menschlicher Existenz in der Moderne zu tun haben kann. Kafka schreibt in einer Zeit, in der »der zur Regel gewordene Ausnahmezustand anzeigt, daß das Gesetz dabei ist, sich aufzuzehren und mit dem Leben, das es regulieren sollte, zu verschwimmen« (Agamben 2002, S. 64, mit Hinweis auf Walter Benjamin). Verlangen und Verbot, Angst vor dem Chaos und gesetzesförmige Ordnung bedingen sich, behindern sich und vermischen sich untereinander bis zur Ununterscheidbarkeit. In diesem Feld verirrt sich das Lebendige in einem Gewirr von Regeln und bürokratischen Verfahren, während alles Gesetzliche sich der Willkür und dem grundlosen Wildwuchs des natürlichen Lebens annähert. Das Warten des Mannes vom Lande an der Schwelle zwischen Leben und Gesetz, verbunden mit seiner Hoffnung auf einen anderen Zustand, die, in den Worten des Türhüters, unersättlich ist, bringt zugleich eine messianische Dimension ein. Seine Haltung verweist auf einen utopischen Zustand, wo das Verlangen nicht Schranke noch Übertretung und das Gesetz nicht Verbot noch Strafe mehr kennt. In ihrer Aufhebung fallen beide Seiten in eins und bleiben unvermischt.
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Vor der Türe ausharren, hinter der Türe nichts erwarten
Teil I Wie steht der Mensch vor dem Gesetz Würde man nichts als die Überschrift Vor dem Gesetz kennen, so wäre man versucht, sie zu ergänzen zu der bekannten Formel: »… sind alle gleich«. Vor dem Gesetz sind alle gleich – damit ist ein wesentlicher Grundsatz eines Rechtszustandes angegeben. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, im Artikel 3, Absatz 1 steht geschrieben: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« Wo Recht herrscht, sind alle gleichermaßen dem Gesetz unterworfen, keiner wird bevorzugt, keiner benachteiligt, alle sind verpflichtet, seine Gebote und Verbote zu kennen, derart dass »Unwissenheit nicht vor Strafe schützt«. Strafen drohen allen gleichermaßen, wenn sie sich schuldig machen, indem sie tun, was das Gesetz verbietet, oder unterlassen, was es gebietet. Ob aber eine Schuld vorliegt, muss überprüft werden. Es sind Repräsentanten des Gesetzes, etwa die Mitglieder eines Gerichtshofes, denen die Erkenntnis des Tatbestandes, die Feststellung der Schuld und die Festlegung des Strafmaßes entsprechend dem Gesetz obliegt. Vor dem Gesetz steht innerhalb des Bereiches seiner Geltung jeder als vor einer Instanz, die ihn mahnt, die ihm droht und die ihn schützt. Denn indem das Gesetz jeden Einzelnen davor warnt, Unrecht zu tun, sichert es ihm zugleich Schutz vor allen anderen Einzelnen zu, die ihm Unrecht tun könnten, indem es auch sie mit Strafen bedroht. Falls sie aber dennoch Unrecht tun, so sorgt es für Genugtuung und Kompensation der Schäden. Vor dem Gesetz sind alle gleich – dazu bedarf es mehr als des Gesetzes und seiner Auslegung und Anwendung durch seine Repräsentanten: einer souveränen Macht, die Gewaltmittel besitzt und bereit ist sie einzusetzen. Gegen alle, die das Gesetz missachten und unter Umständen auch gewalttätig Ziele verfolgen und Wege beschreiten, die das Gesetz nicht erlaubt, muss diese Macht dem Gesetz Geltung verschaffen. Ohne die Gewalt, die von der staatlichen Macht angedroht und gegebenenfalls durch seine Vertreter, etwa die Organe der Polizei, vollzogen wird, wäre der Gesetzestext bloß toter Buchstabe. »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.« So beginnt Franz Kafka seinen Text. Alles, was wir bisher über das Gesetz sagten, scheint nicht auf das Gesetz zuzutreffen, das Ge183 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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genstand der Parabel ist. Dass alle vor dem Gesetz gleich sind, bedeutet hier anscheinend nichts, denn alle treten in der Geschichte nirgends in Erscheinung: außer dem Türhüter und dem Mann vom Lande befindet sich niemand anderes vor dem Gesetz. Und ob diese beiden Personen, die doch so unterschiedliche Rollen einnehmen, in irgendeiner Hinsicht gleich sind, mag man durchaus bezweifeln. Was das Gesetz ist, zu dem der Mann vom Lande kommt, was es gebietet oder verbietet, wie es zustande gekommen ist, ob es aufgeschrieben ist oder nicht, welche Instanzen beauftragt sind, ihm Geltung zu verschaffen, darüber erfahren wir nur eines: Zum Gesetz gehört als sein Repräsentant ein Türhüter, eine Person, die in der Tat ein Verbot ausspricht. Aber schon die Frage, ob eine Übertretung des Verbots gerichtlich überprüft und mit einer Strafe geahndet würde, bleibt unbeantwortet. Sind wir hierüber im Unklaren, so erfahren wir doch anderes. Das Gesetz wird bei Kafka als ein Raum vorgestellt, in den man unter Umständen eintreten, aus dem man aber auch ausgeschlossen sein kann. Obwohl es irritierend ist, dem Gesetz eine Türe zuzuschreiben und davor einen Türhüter vorzustellen, ist die räumliche Anordnung nicht gänzlich außerhalb der Normalität: Jedes staatliche Gesetz hat einen Bereich, in dem es gilt, nämlich das Territorium des entsprechenden Staates. Das kann man so verstehen, dass man sich sowohl innerhalb als auch außerhalb seiner befinden kann. Weilt man nicht innerhalb der Grenzen des Staates, ist man in der Regel auch nicht innerhalb des Geltungsbereiches seines Gesetzes. Eine besondere Vorstellung, wie man innerhalb oder außerhalb des Gesetzes sein kann, findet sich in der Philosophie des Thomas Hobbes. Sein Leviathan entfaltet den Gedanken, es gebe einen Zustand außerhalb aller staatlichen Gesetzlichkeit, einen Zustand, worin Menschen tun, was ihnen beliebt, und erleiden, was ihren Mitmenschen beliebt, ohne Furcht vor Strafen und ohne den Schutz der Strafandrohung gegen die anderen. In einem solchen Naturzustand befinden sich Menschen dann, wenn entweder überhaupt kein Gesetz gilt oder wenn, wie in failed states, keine Macht existiert, die fähig wäre, offiziell noch geltenden Gesetzen faktisch Geltung zu verschaffen. Der Krieg aller gegen alle, der aus derartigen Verhältnissen notwendig resultiert, erscheint Hobbes als das größte denkbare Elend, und alles vernünftige Streben der Menschen sollte, so Hobbes, dahin gehen, Befreiung von diesem Naturzustand zu erreichen. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn sie in einen gesetzlichen Zustand ge184 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vor der Türe ausharren, hinter der Türe nichts erwarten
langen. Der Preis dafür ist allerdings hoch: Jeder, der in diesen Zustand eintritt, überträgt die Gewaltmittel, über die er im Naturzustand souverän verfügte, an eine einzige auf die Zustimmung aller gegründete souveräne Macht. Durch diese gemeinschaftlich vollzogene, vertraglich fixierte Übertragung werden die natürlichen Menschen zu Bürgern eines Staates. Dieser Staat heißt bei Hobbes Leviathan, womit auf ein in der Bibel erwähntes, furchteinflößendes Meerungeheuer angespielt wird. Der Leviathan ist die souveräne Macht, die als Staatsgewalt Gesetze gibt und durchsetzt, die den Bürgern Frieden und Sicherheit bieten. Dem Gesetz, wie Hobbes es versteht, wohnt allerdings ein finsterer Grund von Gewalt inne: Der Leviathan selbst steht außerhalb des Gesetzes, denn es ist keine Macht da, die es gegen ihn geltend machen könnte. Wird die offene Gewaltausübung des Naturzustandes in der Übertragung an den Leviathan gleichsam aus dem Gesichtsfeld der Bürger gerückt, so ist sie latent Teil des gesetzlichen Zustandes, und sie wird immer dann manifest, wenn wirkliche oder angebliche Übertretungen stattfinden, die die Staatsgewalt mit Strafen ahndet. »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.« Wenn wir Hobbes folgen, können wir vielleicht verstehen, warum der Mann vom Lande um Eintritt in das Gesetz bittet und warum er glaubt, dass das, was er will, nichts anderes sei als das, was alle wollen: »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt er später. Hobbes zufolge streben alle vernünftigen Menschen nach einem Zustand, der ihnen Frieden und Sicherheit bietet, um dann, in den Schranken des Gesetzes, persönlichen Zielen nachgehen zu können. Die Menschen im Naturzustand werden vernünftigerweise von dem Verlangen motiviert, in den gesetzlichen Zustand zu gelangen, aber damit werden sie zum Verzicht auf alle gesetzwidrigen Bestrebungen genötigt. So gehört zu diesem Zustand notwendig Furcht vor Übertretung als Schranke des zuvor unkontrollierten Verlangens: Denn wenn die Autorität des Gesetzes auch vor der Gewalttat der Anderen schützt, so wird sie unmittelbar erlebt als Drohung mit Strafen, falls man selbst zur Übertretung geneigt sein sollte. Das Gesetz zieht eine Grenze – zwischen Gebotenem bzw. Erlaubtem einerseits, Verbotenem andererseits. Verboten ist sowohl die Unterlassung des Gebotenen als das Tun des Unerlaubten. Ein Verbot markiert auch den entscheidenden Wendepunkt in Kafkas Erzählung: 185 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Reiner Manstetten
»Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht.‹ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ›Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.‹« Das Verbot des Türhüters regelt, anders als sonstige von einem Gesetz festgelegte Verbote, nicht die Anwendung des Gesetzes, sondern den Eintritt ins Gesetz. »Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt«, wäre es dem Mann vom Land anscheinend möglich, den Eintritt zu wagen – allerdings beginge er damit eine Übertretung. Wenn, wie bisher angenommen, der Eintritt ins Gesetz gleichbedeutend ist mit dem Eintritt in den Bereich seiner Geltung, dann erscheint das Verbot des Türhüters paradox. Denn der Bereich der Geltung des Gesetzes ist versperrt. Bereits außerhalb dieses Bereiches trifft den Mann vom Lande ein Verbot, das doch nur innerhalb wirksam werden kann. Es ist dies allerdings die typische Erfahrung einer Schwelle. Draußen stehend, ist man doch bereits berührt von der Macht dessen, was drinnen ist. Jeder Person, die, etwa als Flüchtling oder Migrantin an der Grenze eines Landes stehend, Einlass begehrt, widerfährt etwas Ähnliches wie dem Mann vom Lande: Sie muss lernen, dass das Gesetz eines Territorialstaates nicht nur in seinem Bereich gilt, sondern auch an seiner Schwelle wirksam wird, indem es den Zugang regelt. Wer vor der Grenze eines Staates von seinen Repräsentanten überprüft wird, ob er zum Eintreten berechtigt ist oder nicht, steht gewissermaßen vor dem Gesetz dieses Staates. Anders als in der von Kafka dargestellten Situation ist es aber unmöglich zu sagen, dass »das Tor zur Bundesrepublik Deutschland offensteht wie immer«. Ein Gesetz, dessen Tor immer offensteht und dessen Repräsentanten zugleich den Eintritt verweigern, kann nicht das empirische Gesetz eines Territorialstaates sein. Über die paradoxe Struktur von Offenheit und Verbot hinaus gibt uns Kafka weitere Hinweise, die das Gesetz selbst betreffen. Von einem Gesetzestext, von Verboten und Geboten, von Rechten 186 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
Vor der Türe ausharren, hinter der Türe nichts erwarten
und Pflichten, ist nirgends die Rede. Dagegen erfahren wir, dass das Gesetz, soweit es dem Türhüter zugänglich ist, als eine Flucht von abgegrenzten Räumen erscheint. Wer an ihm vorbei hineingehen würde, käme, so behauptet er, in einen Raum – man ist geneigt, sich einen Saal oder eine Halle vorzustellen –, an dessen Ende sich die Türe zu einem weiteren Raum befindet, an dessen Ende sich angeblich die Türe zu einem dritten Raum befindet. Wie viele dieser Räume, wie viele Türhüter es gibt, erfahren wir nicht, wohl aber hören wir, dass die Türhüter, je weiter man vordringt, nach Ansicht des Türhüters desto mächtiger sind. Er, Türhüter an der äußersten Türe, kann, wie er sagt, schon den Anblick des dritten nicht mehr ertragen. Er kann also nie weiter als in die ersten beiden Säle gelangt sein, auch wenn er, wie er behauptet, selbst mächtig ist. Ob es innerhalb des Gesetzes noch etwas anderes gibt als Säle und Türhüter – auch das bleibt, soweit wir den Text bisher wiedergegeben haben, offen. So bleibt an Gewissheit nur, dass zum Raum des Gesetzes sowohl Macht gehört als auch Instanzen, die sie ausüben. Das Verbot, das der Türhüter ausspricht, und sein Hinweis auf seine Macht sind unmittelbar wirksam. Der Mann vom Lande, der doch nur deswegen gekommen schien, um ins Gesetz eintreten zu können, lässt zunächst von seinem Vorhaben ab: »Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.« Offensichtlich hat der Mann mit dem Gesetz, bevor er mit seiner Wirklichkeit konfrontiert wurde, Vorstellungen verbunden, die uns allen vertraut sind: »das Gesetz sollte doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er«. Aber obwohl es sich genauso verhält, da ja »das Tor zum Gesetz offensteht wie immer«, unterscheidet sich die Realität, auf die er trifft, von derartigen Vorstellungen. Der Zugang zu dem, was offensteht wie immer, ist mit einem Verbot belegt. Mit dem Verbot rückt in Gestalt seines Repräsentanten zugleich die abweisende Außenseite dieses Gesetzes in den Blick. Die konkrete Beschreibung des Türhüters versetzt uns in eine kühle, wohl gar eisige Region, in der man eines Pelzmantels zu bedürfen scheint, sein Aussehen aber, bei dem ausdrücklich auf Tatarisches verwiesen wird, rückt die Szenerie in eine den abendländischen Lesern unver187 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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traute Fremde irgendwo zwischen den Rändern des Urals oder den Steppen der Ostukraine und den Gebieten der Inneren und Äußeren Mongolei.
Welches Gesetz: das moralische Gesetz? Ist es überhaupt das Gesetz eines Staates, das einen Rechtszustand im Sinne von Hobbes ausmacht, vom dem hier die Rede ist? Von »Gesetz« sprechen wir ja auch angesichts der Naturgesetze, wie sie die neuzeitliche Physik aufstellte. Allerdings kann man allem Anschein nach nicht vor dem Gravitationsgesetz stehen, denn es ist im Leben zwischen Geburt und Tod unmöglich, außerhalb seiner zu sein. Vom Gesetz spricht man auch im Buddhismus: der Dharma umfasst alles, was ist, als ewige, unverbrüchliche Ordnung. Auch hier gibt es kein Außerhalb. Im antiken Griechenland verlieh Sophokles der Vorstellung Ausdruck, dass es zwei Arten des Gesetzes, des Nomos, gebe. Die ungeschriebenen göttlichen Gesetze, so weiß es Antigone, stehen über den Gesetzen des Staates, die der Souverän festlegt. Antigone macht deutlich: Selbst in einem vernünftigen Rechtszustand behält das Gesetz des Staates immer den Zug des bloß Gesetzten. Es beinhaltet Gebote und Verbote, die auch anders sein könnten, und nur deswegen gelten, weil sie einmal von den Machthabern so festgesetzt sind, wie sie sind. Daher ist kein gesetzlicher Zustand denkbar, worin es nicht Gründe gäbe, Gesetze zu befragen und zu kritisieren. Das Gesetz des Kreon, dem Staatsfeind kein ordentliches Begräbnis zu gewähren, kann für Antigone, wie sie glaubt, nicht gelten, weil das höhere ungeschriebene Gesetz, das aus der Liebe der Schwester zum Bruder entspringt, ihr gebietet, dem Gebot des Souveräns zuwiderzuhandeln, auch wenn darauf die Strafe des Todes steht. Kreon, der dies ungeschriebene Gesetz geringer achtet als das von ihm gesetzte Gebot, setzt zwar das Prinzip des Staates durch: Antigone erleidet die Strafe und stirbt. Aber damit bewirkt er zugleich den Tod seines Sohnes und seiner Gattin, die Folge ist der Untergang seiner souveränen Macht. Die ungeschriebenen Gesetze halten die Menschen in ihren Bindungen fest, nicht einmal die souveräne Staatsmacht kann sich ihnen entziehen – nicht, wie bei Kafka, der Eintritt in sie, sondern der Ausgang aus ihnen erweist sich als unmöglich. Für Sophokles erscheint der Konflikt zwischen dem geschriebenen Gebot des Staates
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und den ungeschriebenen Gesetzen der blutsmäßigen Ordnung der Familienliebe tragisch, d. h. unlösbar. Die Unterscheidung von zweierlei, potenziell konfligierenden Arten des Gesetzes zieht sich durch die Geistesgeschichte Europas, wobei die Frage, was jenseits des staatlichen Gesetzes sei, unterschiedlich beantwortet wird und die Lösungsangebote für Konflikte unterschiedlich sind. Lex naturalis, natürliches Gesetz, war in der Scholastik der Name für die Teilhabe am ewigen Gesetz Gottes, die in jedem vernünftigen Geschöpf angelegt ist (Thomas v. Aquin, Summa theologica, I-II, q. 92 a 2). Eine der bedeutsamsten Formulierungen für ein Gesetz, dessen Gültigkeit von keinem staatlichen Recht abhängig ist, findet sich bei Immanuel Kant: Alle Menschen unterstehen dem moralischen Gesetz, das im Kategorischen Imperativ ausgesprochen ist. Er ist das Gebot aller Gebote und lautet: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, GMS, BA 52 [Kant 1974b, S. 51]). Jeder Mensch ist aufgerufen, sein Handeln nur an solchen Grundsätzen auszurichten, die für alle Menschen gelten können. Der Kategorische Imperativ bietet keine Inhalte, er sagt nie im Einzelfall, was zu tun und zu lassen wäre, aber indem er allen zulässigen Inhalten von Handlungen die Form des Gesetzes aufprägt, schließt er alle diejenigen Handlungsmöglichkeiten aus, die sich in diese Form nicht fügen. Daher kann beispielsweise eine Lüge nie gerechtfertigt werden, da für Kant ein allgemeines Gesetz, das die Lizenz zum Lügen erteilt, wäre es auch nur in besonderen Fällen, in sich widersprüchlich ist. Ebenso widerspricht der Grundsatz: Tue stets das, was dir den größten privaten Vorteil verspricht, dem Kategorischen Imperativ, da die Befolgung der Maxime, jeder solle stets tun, was ihm den größten privaten Vorteil verspricht, alle menschlichen Bindungen gefährden würde. Der Kategorische Imperativ ist ein Gesetz, das unbedingt und unmittelbar gebietet. Es kennt keine äußeren Repräsentanten und ist zugleich frei von dem Rest an Willkür, den selbst die besten Gesetze eines Staates nicht ablegen können. Das moralische Gesetz in mir ist nicht etwas, in das ein Mensch Einlass suchen könnte, denn mit der Geburt eines Menschen ist es bereits in ihn eingetreten, und es wird ihn nie verlassen. Und anderseits steht er stets vor ihm, und so wird der Anruf dieses Gesetzes einen Menschen erreichen, wohin er sich immer begibt. Die Besonderheit dieses Gesetzes besteht nun darin, dass es ge189 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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bietet, was dem Menschen, insofern er ein Vernunftwesen ist, wesensgemäß ist. Daher besteht wahre menschliche Freiheit darin, ihm zu folgen. Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz und wirkliche Freiheit sind für Kant keine Gegensätze, sondern bedingen einander: »Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit« (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, KpV, A 59 [Kant 1974a: S. 144)]. Nur wer das moralische Gesetz einsieht und ihm gemäß handelt, entspricht seiner Vernunft und ist frei von seiner Triebnatur und den Vorstellungen seiner Einbildungskraft. Freiheit ist also gleichbedeutend mit Selbstbindung, die vollendete Ausprägung dieser Selbstbindung aber ist das moralische Gesetz. Es ist der Grund aller echten Verantwortlichkeit. Vor diesem Gesetz – und im Letzten nur vor ihm – sind Menschen unbeschränkt verantwortlich. Dass wir dieses Gesetz kennen und uns aufgerufen wissen, ihm zu entsprechen, hat für Kant etwas Mystisches. »Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit …« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, GMS, BA 128 [Kant 1974b, S. 102]). Hier ist gleichsam der archimedische Punkt, von dem her allein verständlich wird, was es bedeutet, wahrhaft als Mensch zu handeln. Allerdings liegt in diesem Imperativ etwas Abgründiges. Der Mensch steht vor dem moralischen Gesetz als einer Instanz, die ihm gebietet, was ihm entspricht. Was ihm entspricht, entspricht ihm aber nur, insofern er ein Vernunftwesen ist. Insofern er jedoch zugleich ein Wesen ist, das eine Triebnatur hat und sich nach kreatürlichem Glück sehnt, erfährt der Mensch diese Instanz als etwas ihm zutiefst Fremdes. Soweit es ihm um die möglichst vollständige Erfüllung aller seiner Triebregungen geht, sieht er sich gewissermaßen außerhalb des Gesetzes gestellt und erfährt dessen Gebote und Verbote als Schranken dessen, was er von Natur aus will. In dieser Stellung mag er zwar aus Furcht vor Strafe oder aus Nutzenerwägungen das moralische Gesetz befolgen, aber er gelangt nie in seinen eigentlichen Bereich: Innerhalb dieses Bereiches gelten nur die Bestrebungen der praktischen Vernunft, die geleitet sind von der Achtung vor dem Gesetz. Wer innerhalb des Gesetzes steht, »muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben« (Kant: Die Metaphysik der Sitten [vgl. Kant 1974c, S. 534)]). Aber diese rein intrinsische Motivation ist nirgends fassbar. Denn laut Kant kann man bei keinem Menschen je sicher 190 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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sein, ob sie besteht. Wenngleich sich das moralische Gesetz in jedem Menschen durch die Stimme der Vernunft vernehmbar macht, so kann man dennoch nicht wissen, ob je ein Mensch ihr um ihrer selbst willen gefolgt ist, ja, man weiß es nicht einmal von sich selber (vgl. Kant, GMS, BA 26 [Kant, 1974b, S. 34]). »Alle streben doch nach dem Gesetz. Das Gesetz sollte immer zugänglich sein.« Das sind Formulierungen in Kafkas Text, die sich unmittelbar auf Kants Kategorischen Imperativ anwenden ließen. Noch eine weitere Gemeinsamkeit gibt es: Der Kategorische Imperativ enthält nur »die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung« (Kant, KpV, A 49 [Kant, 1974a, S. 136]). Konkrete Inhalte gebietet oder verbietet er nicht. Sie kommen nur insofern ins Spiel, als sie auf ihre Vereinbarkeit mit dieser Form zu überprüfen sind: Alle Fragen laufen somit in der einen zusammen: Ist der Grundsatz, der einer konkreten Handlung zugrunde liegt, verallgemeinerbar? Wenn sich also das moralische Gesetz als ein Gesetz erweist, das bloße Form ist, wenn es sich um ein Gesetz handelt, von dem man nicht weiß, ob jemals ein Mensch es so befolgt hat, wie es intendiert ist – dann ist es vielleicht gar nicht weit entfernt von dem Gesetz, in das der Mann vom Lande Einlass begehrt. Der Anschein einer solchen Nähe wird noch größer, wenn man bedenkt, dass es keineswegs sicher ist, dass die angeblich absolute Verbindlichkeit des Kategorischen Imperativs eindeutige Orientierung und Richtung für das Handeln gibt. Gerade das nämlich, was jedes normale staatliche Gesetz wenigstens einigermaßen sicherstellt, nämlich die Eindeutigkeit von Gebot und Verbot, ist durch den Kategorischen Imperativ nicht gewährleistet. Denn der oberste Grundsatz des Handelns ist so allgemein gehalten, dass sich in konkreten Situationen Auslegungsspielräume eröffnen können, die so ausgedehnt sind, dass jedes eindeutige Urteil über richtig und falsch unmöglich erscheint. Diesen Vorwurf hat bereits Hegel formuliert, wenn er im Kategorischen Imperativ einen »leeren Formalismus« sieht und behauptet, dieser gewähre, da er keine Inhalte gebiete oder verbiete, keineswegs sichere Orientierung: »Im Gegenteil kann alle unrechtliche und unmoralische Handlung auf diese Weise gerechtfertigt werden« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137 [Hegel, 1970, S. 252 f.]). Was den Kategorischen Imperativ mehr als alles andere von dem Gesetz in Kafkas Text abhebt, ist seine Herleitung. Sein Grund ist für Kant klar und lauter: reine praktische Vernunft. Bei Kafka dagegen 191 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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erscheint das Gesetz und alles, was zu ihm gehört, grundlos. Die Zuversicht, es gebe in jedem Menschen eine reine praktische, aus sich heraus gesetzgebende Vernunft, war der Generation Kafkas verlorengegangen. Sie musste sich mit Nietzsche auseinandersetzen, der den Grund aller Moral in einem biologistisch hergeleiteten, irrationalen Willen zur Macht sah. Der ganz und gar unmystische Grund aller Arten von Gesetz ist, so Nietzsche, die bloße Macht des blinden Lebens. Indem sie danach strebt, sich ungehemmt zu entfalten, versucht sie, allem was ihr widerstreben könnte, unüberwindliche Schranken aufzuerlegen. Gesetzgebend wirkt sie nur, um sich selbst gesetzlos zu behaupten, Schranken setzt sie, um sich selbst schrankenlos auszuagieren.
Frei von den Schranken des Gesetzes Lesen wir Kafkas Geschichte mit den Augen Nietzsches, erscheint das Verhalten des Mannes vom Land als Zeichen geistiger oder charakterlicher Schwäche. Von Nietzsche belehrt, hätte er keinerlei Anlass, um Eintritt in das Gesetz zu bitten. Drinnen wäre nichts anderes zu finden als draußen: pure Macht. Da er, was immer ihn nach dem Gesetz verlangen ließ, in seinen Räumen nichts finden wird, was er nicht auch außerhalb seiner finden könnte, sollte er die Schwelle des Gesetzes verlassen und ins Offene ringsum seine Schritte lenken. Anders als Kant sieht Nietzsche Freiheit nicht in der Treue zu einem moralischen Gesetz, sondern im entschlossenen Aufbruch aus dem Bereich jeder Gesetzlichkeit. Die eigentliche Bedeutung des Satzes Gott ist tot liegt für Nietzsche darin, dass der Mensch, der ihn sich zu eigen macht, nicht mehr vor dem Gesetz steht, d. h. frei ist von aller Verantwortlichkeit. »Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens zu sein, der da sucht. […] Niemand ist dafür verantwortlich, daß er überhaupt da ist, daß er so und so beschaffen ist, daß er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist […] – es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen. […] Daß niemand mehr verantwortlich gemacht wird, daß die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, daß die Welt weder als Sensorium noch als Geist eine Einheit ist, dies ist erst die große Befreiung – damit ist erst die Unschuld des Werdens wiederher192 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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gestellt. Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt.« (Nietzsche, 1966, S. 977 f.) Aller Libertinismus der Moderne, auch wenn er sich in der Regel weitaus harmloser präsentieren möchte, rekurriert auf diese Unschuld des Werdens, für die es nichts Böses geben darf. Die grenzenlose Offenheit eines Raumes fern aller Gesetzlichkeit hat bereits Paulus berührt, als er die Befreiung und Erlösung aus der Knechtschaft des Gesetzes verkündete und den Satz Alles ist erlaubt (wenn auch nur in einer bestimmten Sichtweise) für wahr erklärte (vgl. 1 Kor. 6,12). Dieselbe Offenheit leuchtet aus dem berühmten Diktum des Augustinus: Dilige et quod vis fac: Liebe, und was du willst, tue. Wir begegnen ihr wieder im Spiegel der einfachen Seelen der Marguerite Porete, die in der größten Gottesnähe alles, was auf Pflichten verweist, verabschiedet (Ruh 1993, S. 359). Die Idee einer Lebensweise, die keines Gesetzes bedarf, gehört zum Kern jeder Mystik. Aber anders als Nietzsche weiß alle Mystik, dass von Verantwortlichkeit nur frei ist, wem Verantwortlichkeit so sehr zum Wesen geworden ist, dass der Gedanke, sie zu leugnen, gar nicht erst aufkommen kann. Wer aus dem Bereich des Gesetzes, ohne ihn ganz durchmessen zu haben, in die Unschuld des Werdens flieht, ist nicht weiter gelangt als das namenlose Wilde, von dem Heinrich Seuse berichtet, dass es in ungebundener Freiheit die Haltlosigkeit des eigenen Innern zu höchster Gottesnähe stilisiert (Seuse, 1993, S. 57). Der Mensch, der meint, wie Gott über aller Gesetzlichkeit zu stehen, weiß nichts von seiner Gottesebenbildlichkeit und wird gegenüber seinen Mitmenschen alle Menschlichkeit vermissen lassen. Daher mahnt Meister Eckhart: »Nun sagen gewisse Leute: ›Habe ich Gott und Gottes Liebe, so kann ich wohl alles tun, was ich will.‹ Dieses Wort verstehen sie unrecht. Solange du irgend etwas vermagst, das gegen Gott und sein Gebot ist, so hast du Gottes Liebe nicht; du kannst die Welt wohl betrügen, als hättest du sie« (Meister Eckhart, Pr. Convescens praecepit [Meister Eckhart 1973, S. 291]). Die Leugnung des Gesetzlichen ist für die Mystik keine Befreiung, sie führt vielmehr ins Feld der Lüge und der Selbsttäuschung. Ein Bereich jenseits des Gesetzes könnte nur aus tiefster Einsicht in die Bedeutung des Gesetzes für das eigene Leben betreten werden.
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Teil II Warum so unterwürfig? Vielleicht hat der Mann vom Lande schon Erfahrungen mit der Unschuld des Werdens und ihren oft brutalen Folgen gemacht, bevor er sich auf den Weg machte, der ihn vor dem Gesetz ankommen ließ. Wenn er aber keinerlei Neigung zeigt, als Übermensch im Sinne Nietzsches alle Fesseln der Gesetzlichkeit abzuwerfen, warum tritt er nicht ein? Dass der Türhüter ihn gewaltsam daran hindern würde, ins Innere zu gehen, ist unwahrscheinlich, nichts in der Legende spricht dafür. Wenn er sich aber nicht traut, einzutreten, warum geht er nicht wieder weg? Was zieht ihn so mächtig und beständig an, dass er nach seiner Ankunft sein ganzes verbleibendes Leben am Tor des Gesetzes verbringt? Nicht wenige Menschen wissen genau, was der Mann vom Lande hätte tun sollen, aber unterlassen hat, weil er zu risikoscheu, zu ängstlich, zu autoritätshörig sei: Er hätte eintreten oder wenigstens mit dem Türhüter einen Kampf um den Eintritt aufnehmen müssen. Und haben sie nicht recht? Dass er, nachdem er eine lange Reise hinter sich hat, vor dem Gesetz angelangt, aufhört zu agieren, dass er für den Rest seines Lebens zum passiv Wartenden, täglich neu die Aufhebung des Verbotes Erhoffenden wird, scheint auf eine unselbstständige Persönlichkeit hinzuweisen. Man muss jedoch bedenken, dass er, würde er das Verbot missachten, von vorneherein existenziell unfähig würde zu verstehen, was Gesetz bedeutet. Wer meint, willkürlich darüber entscheiden zu dürfen, wann er sich an ein Verbot hält und wann er es übertritt, greift damit das Gesetz als solches an. Mit diesem Argument lehnte es Sokrates ab, angesichts des ungerechten Todesurteils, das über ihn ergangen war, zu fliehen. Habe man erkannt, so belehrte er Kriton, wie viel Gutes man den Gesetzen zu verdanken habe, dürfe man sie nicht übertreten, wenn sie im konkreten Einzelfall Schlechtes bewirkten. So erkennt der Mann vom Lande die Geltung eines Verbotes an, dessen Bedeutung ihm unzugänglich bleibt. Handelte er anders, etwa indem er es auf einen Machtkampf mit dem Türhüter ankommen ließe, so wäre das, wohinein er gelangen würde, nicht mehr das Gesetz. Da er sich aber an das Verbot hält, muss er anderseits erfahren, dass sein Verlangen, Einlass in das Gesetz zu erhalten, unerfüllt bleibt: »Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts 194 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ›Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‹ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.« Mit der Ankunft vor dem Gesetz hat die entscheidende Wende im Leben des Mannes vom Lande stattgefunden. Er hat eine Reise hinter sich, die zu unternehmen er durchaus in der Lage war, er ist mit vielem ausgerüstet. Aber für den Rest seines Lebens ist er nur noch zu einer einzigen Art von Handlung fähig: Er verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Der einzige Erfolg dieser Handlungsweise ist jedoch, dass sie ihn von dem Gefühl befreit, etwas versäumt zu haben. Aber versäumt er nicht alles Leben, was er noch vor sich haben könnte, Tage und Jahre, nur um auf einem Schemel vor dem Gesetz auf Einlass zu warten? Statt zu handeln, zu leben, beobachtet er nur noch den Türhüter fast ununterbrochen. Wer meint, der Mann vom Lande habe, seitdem sein Leben vor dem Gesetz die entscheidende Wende vom Handeln zum untätigen Warten genommen hat, alles Wesentliche versäumt, gerät unvermeidlich in die Rolle des Richtenden. »Das einfache Gepräge des Landmannes ist selbst nur als Bild der Beschränktheit des Menschen und seiner Selbsttäuschung über die Zugänglichkeit der Wahrheit oder des Heils zu verstehen … Damit repräsentiert der Mann vom Lande den irregeleiteten Menschen schlechthin«, schreibt ein Interpret (Sudau, 2007, S. 24). Nach welchem Gesetz könnte ein solches Urteil über ein menschliches Leben ergehen und wer wäre legiti195 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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miert, es zu fällen? Wenn irgend, dann ist es an dieser Stelle gerechtfertigt, vor der Interpretationsfalle zu warnen, die Kafkas Geschichte darstellt. Solche Urteile sind allerdings Ausdruck einer nur zu begreiflichen Ratlosigkeit, zwar nicht vor dem Gesetz, wohl aber vor der Geschichte Vor dem Gesetz. Wer ohne Selbstgerechtigkeit oder ohne Verlass auf ein dogmatisches System oder eine Ideologie wie die moderne Vorstellung von wahrer Selbstverwirklichung urteilen möchte, wird sich hüten, es besser zu wissen als der Mann vom Lande. Nehmen wir die Geschichte ernst, so müssen wir dem Mann vom Lande zwar nicht unterstellen, das einzig Richtige, wohl aber, etwas seiner Situation Entsprechendes getan zu haben. Die Gründe für sein Verhalten könnten in der Tat etwas mit dem Menschen schlechthinzu tun haben. Paradoxerweise kommt man ihnen am nächsten, wenn man das Augenmerk auf etwas nicht allgemein Menschliches, sondern durchaus partikular Erscheinendes richtet, nämlich das, was Gershom Scholem in einem Brief an Walter Benjamin den »jüdischen Zentralnerv« des Werkes von Kafka nannte (Benjamin/Scholem, 1980, S. 174). Wenn die Person, die vor dem Gesetz steht, ein Mann vom Lande ist, so erinnert dies, wie Alt (2005, S. 409 f.) deutlich macht, an diejenigen, die »im Kontext der Entwicklung des rabbinischen Judentums … am ha-arez« heißen. »Allgemein werden mit dem Begriff am ha-arez ›Ignoranten‹, also Personen ohne Interesse oder Kenntnis der eigenen historischen, literarischen, religiösen Tradition bezeichnet. Auch im heutigen Judentum ist die Gleichsetzung von am ha-arez mit einem Ignoranten gebräuchlich« (Agus, 2001, S. 114 Fn.). Am ha arez, wörtlich: Leute vom Lande, sind keineswegs Nicht-Juden, der Ausdruck verweist vielmehr auf eine »Trennung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst« (ibd.). Betrachten wir den Mann vom Lande unter diesem Gesichtspunkt, liegt es nahe, in dem Gesetz nach Zügen der Thora, des jüdischen Religionsgesetzes, zu suchen. Die Thora ist in erster Linie nicht dazu da, Menschen daran zu hindern, einander alles erdenkliche Böse anzutun. Mag man das Gesetz im modernen Staat dem Geländer auf einem Schiff vergleichen, das davor schützt, über Bord zu gehen, so wäre die Thora darüber hinaus zugleich die Landkarte, die den Weg zum bestimmungsgemäßen Hafen weist, und das Handbuch der Seefahrt, das die Schiffsleute anhält, mit geeigneten Maßnahmen das Schiff auf Kurs zu halten. Wie die Lebensregeln aller großen Religionen beansprucht die Thora, Weisung zu sein, das heißt, die Einhal196 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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tung ihrer Gebote führt, wenn man ihrer Verheißung vertraut, zum erfüllten, ja vollendeten Leben, ihre Negation jedoch führt, auch ohne alle Strafen seitens staatlicher oder religiöser Gewalten, ins Verderben. Die Thora ist zugleich Ordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie die Gesetze des Staates, und transzendente Anordnung mystischen Ursprungs. Anders als das moralische Gesetz bei Kant entspringt sie nicht menschlicher Vernunft, sondern göttlicher Offenbarung. Dabei schließt die Thora das Vernehmen eines vom Ewigen stammenden Anspruchs zusammen mit der genauen Befolgung äußerer Regeln, die das Verhältnis zu Gott, zu den Mitmenschen und zu den nicht-menschlichen Mitgeschöpfen ordnen. Der Thora, so wie sie in der Tradition weitergegeben wurde, wohnt indes eine Art innerer Relativierung inne: Sie gilt für die Zeit bis zum Kommen des Messias, dann aber wird sie aufgehoben. Eben diese Vorstellung war für den pharisäisch geschulten Paulus aus Tarsus der Grund, die Aufhebung des Gesetzes zu deklarieren, nachdem Jesus von Nazareth ihm als der Christus offenbar geworden war. Anders als die Lebensregeln des Christentums und des Islam verzichtet die Thora darauf, den Bereich ihrer Geltung über alle Menschen ausbreiten zu wollen – etwa durch kriegerische Eroberung oder durch Mission mit den Waffen des Wortes. Man muss zu ihr kommen, und der Eintritt in ihren Geltungsbereich ist bis heute für Nicht-Juden keineswegs einfach. Dass aber einer von denen draußen, der nach Wahrheit und Gerechtigkeit sucht, sich in seinem innersten Anliegen von der Thora angezogen fühlt und dass sein Streben ihn in den Bereich ihrer Geltung hinein verlangen lässt, könnte eine Intention dieses Gesetzes selbst sein. Ob der Mann vom Lande, wenn wir ihn als den am ha arez zugehörig ansehen wollen, von alledem etwas weiß? Er hat zumindest eine Ahnung davon. Mag er ein Ignorant sein, so ist er doch zugleich jemand, der so tief ins Gesetz eindringen möchte wie die Gelehrten. Das Gesetz übt auf ihn eine unüberbietbare Anziehungskraft aus. Findet der gläubige Jude in der Thora die entscheidende Ordnung und Wegweisung für sein Leben, so sucht in ähnlicher Weise der Mann im Gesetz etwas, das ihm so wichtig ist, dass das bloße Verlangen nach Einlass in das Gesetz ihn jeden anderen möglichen Inhalt seines Lebens aufgeben lässt. Dass das Gesetz, vor dem er angelangt ist, kaum Züge der Thora aufweist – jedenfalls werden sie, falls vorhanden, in der Legende nicht erwähnt –, schließt nicht aus, dass es Analogien zu Vorstellungen in 197 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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ihrem nächsten Umkreis gibt. So kann das, was wir über die Räume des Gesetzes aus den Worten des Türhüters entnehmen können, an einen Tempel mit verschiedenen Innenhöfen und einer Flucht von sakralen Räumen gemahnen, deren letzter, sollte es ihn geben, das Allerheiligste wäre. Wer an die äußerste Pforte solcher Räumlichkeiten gelangt ist, kann wohl, wie vermutlich der Mann vom Lande, glauben, dass innerhalb ihrer eine andere Ordnung gilt als im Bereich des Profanen, den er auf seiner Reise durchwandert hat. Innerhalb des Gesetzes scheint er eine Art Heimat für sich wie für alle, die nach dem Gesetz streben, zu erhoffen. Denn der Eintritt ins Gesetz hat für den Mann vom Lande eine Bedeutung, die man vielleicht eine messianische nennen dürfte: sein Warten erinnert an Formen der Messiaserwartung. Wer etwa die Erzählungen der Chassidim in der Fassung Martin Bubers liest, trifft immer wieder auf eine Ungeduld, die nahe daran ist, dem Messias, wenn nicht Gott selbst, die Verzögerung des Heils vorzuwerfen. So verflucht der Mann vom Lande die Umstände, die ihn zum Warten nötigen. Aber in dieser spürbaren Ungeduld wirkt eine Ausdauer, die über die ganze Lebenszeit des Mannes währt. Er verhält sich wie einer, der mit seinem ganzen Sein zur Messiaserwartung geworden ist. Ihm wird alles Übrige nichtig erscheinen. Das Warten aber bringt einen weiteren Charakterzug des Mannes zum Vorschein, der ebenfalls an jüdische Religiosität gemahnt. Die Thora wäre im Leben nicht wirksam ohne das lebenslange Studium der Gelehrten, das sich in seiner Genauigkeit auf kleinste Einheiten der Schrift, Silben, Buchstaben, ja, Partikel wie Kronen über den Buchstaben erstrecken kann. Auch der Mann vom Lande, gewiss kein Gelehrter, betreibt ein Studium. Dieses Studium erstreckt sich gleichfalls aufs Kleinste und bringt ihn sogar zu einer Art Handeln, nämlich zum Bitten: »… da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen.« Aber vielleicht lässt nichts deutlicher als das Studium des Türhüters den Unterschied zwischen dem Gesetz bei Kafka und der Thora hervortreten. Die Rabbiner betreiben das Studium des Gesetzes als Suche nach der Bedeutung einer Schrift oder einer sie begleitenden mündlichen Überlieferung. Bei Kafka hat eine Verschiebung stattgefunden: Das Studium gilt nicht dem Gesetz, und erst recht nicht seiner sprachlichen Gestalt, sondern einzig seinem Repräsentanten, dem Türhüter. Resultat dieses Studiums ist nicht Erkenntnis eines 198 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Sinnes, sondern das Gewahrwerden eines rein animalischen Lebens, wie es den Flöhen zukommt. Und wo man in schwierigen Fragen der Thoraauslegung vielleicht den Beitrag der Engel erbitten mag, bittet der Mann vom Lande parasitäre Kleinstlebewesen um Hilfe, deren Stiche vielleicht fertigbringen könnten, was sein Flehen nicht erreicht. »Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹ Wenn der Einlass nur für den Mann vom Lande bestimmt war, warum hat er nicht gewagt, die Schwelle zu überschreiten? Warum ist er nicht einmal auf die Idee gekommen, diese Frage, die seine letzte ist, irgendwann vorher einmal zu stellen, obwohl er doch Jahre Zeit dafür gehabt hätte? Die letzten Worte des Türhüters erscheinen wie ein abschließender Stempel auf der Bilanz eines verfehlten, versäumten Lebens. Zugute halten ließe sich dem Mann allenfalls, was Josef K. im Roman ›Der Prozess‹, worin die Legende Vor dem Gesetz Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen dem Protagonisten und dem Gefängniskaplan ist, letzterem entgegenhält: Der Mann sei getäuscht worden, und wenn möglicherweise auch der Türhüter, der ihn täuschte, selbst in einer Täuschung befangen wäre, dann liefe dies darauf hinaus, dass die Lüge zur Weltordnung gemacht werde (Prozeß, S. 188). Gegen diese Deutung spricht jedoch, dass der Mann vom Lande vor dem Gesetz zu einer Erkenntnis gelangt. Nichts spricht dafür, dass es ihn nach ihr verlangte, als er sich entschieden hat zu warten, sie scheint ihm ungesucht und unverhofft zuteil zu werden. 199 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Gerade zu dem Zeitpunkt, da sein Augenlicht schwach geworden ist – zu einem Studium des Türhüters wird er nicht mehr in der Lage sein, geschweige denn zur Beobachtung der in dessen Pelz befindlichen Flöhe –, »erkennt er einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht«. War es ihm nicht möglich, über die Schwelle ins Innere zu gelangen, so kommt etwas aus dem Innern über die Schwelle herüber zu ihm. Seltsam, dass er, der »im Dunkel« unfähig ist, räumliche Verhältnisse wahrzunehmen, diesen Glanz zu erkennen vermag, dass er, dessen eigenes Sehen fast erloschen ist, einem Unverlöschlichen aus jener Sphäre begegnet, zu der ihm der Zugang verwehrt ist. Von dem aus, was hier geschieht, ließe sich das Leben des Mannes vom Land in einer bisher nicht thematisierten Weise deuten. Im Zen-Buddhismus werden Menschen, die mit aufrichtigem Herzen nach vollkommenem Erwachen trachten, wie es Shakyamuni Buddha einst unter dem Bodhi-Baum zuteil wurde, dazu angehalten, in jahreund jahrzehntelanger Übung vor einer leeren Wand im Meditationssitz ohne Worte und Gedanken in die Leere des eigenen Bewusstseins bis zu völliger Selbstvergessenheit zu schauen. Manche unter ihnen bekommen gleichsam als zu knackende Nüsse paradoxe und unsinnig erscheinende Texte mit auf den Weg gegeben, sogenannten Koans. Die berühmteste Sammlung solcher Texte, das Mumonkan (vgl. Mumonkan, 1989), trägt einen Untertitel, der an das erinnert, was dem Manne vom Lande vor dem Gesetz begegnet: »Die Schranke ohne Tor«. In der Leere, die es zu realisieren gilt, sind die wahrsten Worte diejenigen, die wie die Texte im Mumonkan Schranken setzen und zugleich signalisieren, dass es nichts durch Schranken gegen unbefugten Einlass zu Schützendes gibt: Vor der Schranke nichts, hinter der Schranke nichts, die Schranke selbst nichts – aber vielleicht reicht ein ganzes Menschenleben zwischen Geburt und Tod nicht aus, zu verstehen, was es mit diesem »nichts« auf sich hat. Die Zen-Übung ist, entgegen üblicher Vorstellung, kein Rezept für Selbsterlösung. Der unverlöschliche Glanz des Erwachens zeigt sich nur von sich selbst her, niemals als Ergebnis einer noch so perfekten Übungstechnik. Die Analogie zur Zen-Übung könnte deutlich machen, warum das Leben vor dem Gesetz nicht sinnlos sein muss. War es am Ende der unverlöschliche Glanz aus der Türe des Gesetzes, der den Mann vom Lande unwiderstehlich zum Gesetz zog und den er im Innern zu finden hoffte? Was er hinter der Türe, hinter allen Türen im Inneren 200 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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des Gesetzes, im Vollbesitz seiner Kräfte, vermutlich nie gefunden hätte, erfährt er erst, nachdem seine gewöhnlichen Kräfte des Erkennens und Wollens nahezu suspendiert sind. Was dieser Glanz ist und wie er zum Gesetz und zum Leben dessen, der vor dem Gesetz geblieben ist, steht, darüber macht Kafka nicht einmal Andeutungen. Die Leser erfahren nicht einmal, ob dieser Glanz dem Gesetz zugehörig oder ob das Gesetz nicht eher das Medium ist, das der Glanz, aus einer anderen Sphäre stammend, bis zur Türe und über sie hinaus durchquert, um vom Mann vom Lande erkannt zu werden. Vielleicht hat der Türhüter nicht ganz unrecht, wenn er den Mann vom Lande unersättlich nennt. Denn dieser findet kein Genügen in der Erkenntnis eines Glanzes, den nur er selbst und niemand sonst wahrnimmt. Sein Streben zieht vielmehr seine Kraft aus der Überzeugung, es sei auf dasjenige gerichtet, was Ziel des Strebens aller ist. »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt er. »Mit Recht hat man das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt«, sagt Aristoteles (Aristoteles, Nikomachische Ethik, I). Offensichtlich geht es dem Mann vom Lande um das Gesetz im Sinne eines Guten, das für ihn deswegen das Gute schlechthin ist, weil es das für alle Gute ist. In diesem Sinn hat er – wenn er den Glanz nur für sich erkennt – noch nicht gefunden, was er suchte. Und vielleicht hätte er aufgehört zu warten, wenn er gewusst hätte, was er als Letztes in seinem Leben erfährt: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Bewegt von dem, wonach alle streben, realisiert der Mann, dass »niemand außer mir Einlass verlangt« hat. Mit der Erkenntnis des unverlöschlichen Glanzes wird er zugleich seiner bis zum Tode unaufgehobenen Verlassenheit gewahr.
Kafka, Benjamin, Scholem: Verlorene Schrift oder verlorener Schlüssel zur Schrift? Kafkas Texte sind keine heiligen Texte, stehen aber in einer besonderen Beziehung zu als heilig geltenden Texten, insofern sie deren Möglichkeit kritisch infrage stellen. Heilig ist ein Text für diejenigen, die aus seiner Sprachgestalt ein unüberbietbar letztes, entscheidendes Wort vernehmen. Vor dem Gesetz scheint dagegen jedes letzte Wort als ein vorletztes, auf andere, noch kommende wartendes zu erweisen: die Legende ist die Negation des heiligen Textes. Aber wenn sie 201 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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mehr sein will als das sinnlose Zuschnappen einer Interpretationsfalle, wenn sie positiv etwas am Verhältnis Mensch-Gesetz zeigen will – und sei es nur einen blinden Fleck –, muss sie sich in Frage stellen lassen: Kann es sein, dass sie einen in ihr angelegten Sinn verfehlt? Walter Benjamin deutet diese Möglichkeit an, wenn er in einem Brief an Gershom Scholem schreibt: »Kafkas stetes Drängen auf das Gesetz halte ich für den toten Punkt seines Werkes, womit ich nur sagen will, daß es gerade von ihm aus interpretativ mir nicht zu bewegen scheint.« (Benjamin, in: Benjamin/Scholem, 1980, S. 167). Als diese Zeilen geschrieben wurden, hatte der Reichstag in Berlin das sogenannte Ermächtigungsgesetz verabschiedet, das einen zuvor bestehenden prekären Rechtszustand, die Verfassung der Weimarer Republik, durch einen unbefristeten Ausnahmezustand ersetzte, in dem die Willkür des Führers, Adolf Hitler, Gesetzeskraft beanspruchte. Überpersonale, rein sachliche, vom Willen eines Einzelnen unabhängige Geltung sowie gemeinsam geteilte Bedeutung – wenn diese beiden Eigenschaften des Gesetzes verlorengehen, ist der Versuch Kafkas, diesen Verlust durch sein sei es auch paradoxes Ringen mit den Ideen von Gesetz und Gericht zu begegnen, zum Scheitern verurteilt. Für Benjamin suchen Kafkas Figuren sich in einem Zustand zurechtzufinden, den man mit Paul Celan die Unlesbarkeit dieser Welt (Celan, 1977, S. 338) nennen könnte. Unlesbar ist diese Welt deswegen, weil denen, die in ihr mit ganzem Ernst Orientierung und Wege suchen, die Schrift abhanden kam. (Benjamin 1977, S. 437). Die Schrift ist die Heilige Schrift, die als Offenbarung eindeutige Orientierung und, ausgestattet mit der Kraft des unbedingt geltenden Gesetzes, höchste Verbindlichkeit bietet. Kommt die Schrift abhanden, gibt es weder Richtung noch Weg, und als Grund aller Ordnung bleibt nur bloße Gewalt zurück. Benjamins Briefpartner Scholem weist diese Einschätzung in einer entscheidenden Hinsicht ausdrücklich zurück. Für diejenigen, denen es um Einsicht zu tun ist, ist die Autorität der Schrift keineswegs verlorengegangen. Sie wissen, dass die Schrift und die Tradition, die sich um sie gebildet hat, nach wie vor gilt. Zugleich aber erkennen sie, dass niemand gemäß der Schrift leben kann, auch sie selber nicht. Auch die Menschen, die den göttlichen Grund des Gesetzes anerkennen, müssen die Erfahrung machen, dass sie an einer Zeitstelle leben, an der sie mit der Entscheidung über Recht und Unrecht alleingelassen werden. Da, wo sie des entscheidenden Zuspruchs der göttlichen Weisung bedürftig sind, bleiben sie auf sich gestellt. Alles, was man 202 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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als Rechtleitung bezeichnen kann, alles, was an der Offenbarung als Weisung und Gesetz den Menschen den Weg zum Leben (Psalm 16,11) zeigt, ist in der Welt Kafkas, die auch die Welt von Scholem und Benjamin ist, abwesend. Ist es für jedes Gesetz im Rechtszustand entscheidend, dass man es befolgen kann, so stellt Scholem fest, dass Kafka seine Unvollziehbarkeit (ibd. 155) ins Zentrum seiner Betrachtungen gestellt habe. Daraus ergibt sich die paradoxe Figur einer Geltung ohne Bedeutung. Dass der Vollzug angeordnet ist, wird anerkannt, aber er kann nicht stattfinden. Was ist darunter zu verstehen? Bedeutung gewinnt die Offenbarung nicht in rein theoretischen Reflexionen, sondern nur da, wo sie über sich hinausweist und in eine Lebenspraxis für die Einzelnen und die Gemeinschaft einmündet. Die Wahrheit der Schrift ist unablösbar von ihrer Bewährung im Leben: An der Übergangsstelle zwischen Schrift und Leben aber steht das Gesetz, wie Kafka es versteht. Eben an dieser Stelle macht es sich zwar im Verbot das Türhüters geltend, verweigert aber zugleich jeden Hinweis auf Bedeutung. Das Verbot des Türhüters gewinnt seine Bedeutung und seinen Gehalt nicht, indem es zwischen diesem Verbotenem und jenem Erlaubtem scheidet. Vielmehr scheidet es die Position des Mannes vom Lande von dem Bereich, worin es Verbotenes und Erlaubtes gibt. Was immer sein Handeln sein mag, es wird außerhalb dieser Unterscheidung liegen, in deren Geltung er doch eintreten möchte. Seine Achtung vor einem solchen Gesetz kann er schwerlich anders erweisen als mit demjenigen Leben, wie es ihm in Gegenwart des Türhüters beschieden ist: Verzicht auf Handeln und Warten auf etwas Kommendes, das nicht kommt, aber jederzeit kommen könnte. Der Mann vom Lande stellt sich in die reine Geltung des Gesetzes, ohne je seine konkrete Bedeutung zu erfahren. Es bleibt die unersättliche Hoffnung des Mannes und der unverlöschliche Glanz, der ihn trifft. Scholem sieht hier einen Hinweis auf das ›Nichts der Offenbarung‹. »Ich verstehe darunter einen Stand, in dem sie bedeutungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Erscheinendes), da tritt sein Nichts hervor« (ibd. 175). Scholems Auffassung des Nichts berührt sich mit einer Interpretation, wie sie hier anlässlich der Bemerkungen zum Zen-Buddhismus angedeutet wurde, hebt sich von ihr allerdings durch den Hinweis ab, dass sie die Signatur einer gottverlassenen Zeit sei. Benjamin jedoch sah 203 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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selbst darin noch zu viel Sinn und zu wenig »Widersinn«: Benjamin schreibt (ibd. 166 f.): »[D]u gehst vom ›Nichts der Offenbarung‹ aus, von der heilsgeschichtlichen Perspektive des anberaumten Prozeßverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen Hoffnung sowie den Kreaturen, denen einerseits diese Hoffnung gilt, in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus.« Zwischen den Widersinn des Weltlaufs und die kleine widersinnige Hoffnung der Kreaturen passt, Benjamin zufolge, nicht einmal das Nichts der Offenbarung, das immerhin für eine positive heilsgeschichtliche Perspektive Raum ließe. Erst recht widersinnig wäre im allumfassenden Widersinn das Drängen auf das Gesetz. Denn abhandengekommen wäre den Menschen mit der Schrift nicht nur das Gesetz, sondern sogar die Idee eines Gesetzes. Aber gerade in diesen Verhältnissen könnte die abwartende Position vor dem Gesetz – statt außerhalb des Gesetzes oder unter dem Gesetz – eine Lebensmöglichkeit anzeigen, in der sich nicht nur der Mann vom Lande, sondern auch andere Figuren Kafkas bewähren. Es geht um die Möglichkeit eines Innehaltens in einem Weltlauf, dessen unerforschlicher Gesetzmäßigkeit alles unterworfen scheint. So hat sich der neue Advokat in Kafkas gleichnamiger Erzählung, der Dr. Bucephalus, von der Welt des Handelns verabschiedet, deren Gipfel und Abgründe er als Streitroß Alexanders von Mazedonien im Getöse der Alexanderschlacht erlebt hat. Wohl scheint sein Leben als Gelehrter des Gesetzes – bei stiller Lampe (…) liest und wendet er die Blätter unserer alten Bücher – beschaulicher als das des Mannes vom Lande (Kafka, 1970, S. 123 f.). Aber beiden gemeinsam ist, dass für sie, die alles Handeln eingestellt haben, zugleich alles Gesetzliche – Pflicht und Verbot, Schuld und Strafe bei Übertretung sowie Selbstgerechtigkeit bei pünktlicher Erfüllung – wegfällt. Der Mann vom Lande ist gelegentlich als eine Figur messianischen Charakters gedeutet worden (Weinberg, 1963), denn mit seinem Warten wird die Suspension des Gesetzes, die mit dem Kommen des Messias eintritt, vorweggenommen. Aber sie geschieht nicht etwa mit der Leugnung des Gesetzes, sondern mit der Wahrnehmung von Lebensmöglichkeiten, die innerhalb der Bedeutungen, die das Gesetz annehmen kann, weder vorgesehen noch ausgeschlossen sind. Wo kein Handeln ist, wo weder Übertretung noch Unterlassung stattfinden kann, ist jedes Gesetz zum Schweigen gebracht. Im Licht des Messianischen ist Vor dem Gesetz im Wortsinn eine Legende, d. h. die Erzählung eines heiligen, vorbildlichen Lebens. Der 204 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Mann vom Lande führt ein Leben, das trotz des Befremdens, das es im Leser bewirkt, exemplarische Züge aufweist. Messianisch ist es, weil es der Macht des Gesetzlichen keinerlei Angriffsmöglichkeit bietet. Das Leben des Mannes ist dem Bereich von Schuld und Strafe entzogen, ohne ihn zu verleugnen oder zu fliehen. Zwar weiß der Mann davon offensichtlich nichts, und wüsste er davon, hätte er es möglicherweise nicht gewollt. Aber sein Leben, das Kafka in ungeheurer Abbreviatur präsentiert, erinnert an ein allzeit gegenwärtiges Jenseits des Gesetzes. Nichts anderes ist das Messianische inmitten einer Welt, die auf den Messias wartet.
Ausblick: Vor dem Gesetz heute – Krise der Legitimität und ihre Chancen Angesichts der großen Aufgaben der Menschheit heute – Beendigung der exzessiven Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde und Bekämpfung der Strukturen und Auswirkungen globaler Ungleichheit – ist weltweite Kooperation nur denkbar, wenn alle Menschen wenigstens ein Minimum von Werten allseits anerkennen, wenn sie Regeln befolgen, die für jeden einsichtig sind, und wenn sie aus dieser Gemeinschaftlichkeit der Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit voreinander verantwortungsfähig sind für ihr Tun und Lassen. Liest man jedoch Kafka mit dem Blick von Benjamin und Scholem, scheint es schon in der reinen Theorie – ganz zu schweigen von der Empirie – undenkbar, dass die Menschen in dieser Weise zueinanderfinden und miteinander handeln könnten. Hinter der Krise der Lebensgrundlagen und der Krise globaler Verteilung wird eine Krise der Legitimität sichtbar. Giorgio Agamben (2002, S. 62) schreibt dazu: »Überall auf der Erde leben die Menschen heute im Bann eines Gesetzes und einer Tradition, die sich einzig als ›Nullpunkt‹ ihres Gehalts erhalten und die die Menschen in eine reine Beziehung der Verlassenheit einschließen. Alle Gesellschaften und alle Kulturen (gleichviel ob demokratisch oder totalitär, konservativ oder progressiv) sind heute in eine Krise der Legitimität geraten, in der das Gesetz (damit ist hier der ganze Text der Tradition unter seinem regulativen Aspekt gemeint, sei das nun die jüdische Thora oder die islamische Scharia, das christliche Dogma oder der profane nómos) als reines ›Nichts der Offenbarung‹ gilt« (Agamben, 2002: 62). Eine Krise der Legitimität konstatierte bereits Alasdair Mac205 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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Intyre (1987), der davon überzeugt ist, dass moderne Gesellschaften in entscheidenden moralischen Fragen zu einem Konsens systematisch unfähig sind. Indizien für eine derartige Krise lassen sich heute reichlich finden: Neben einem Individualismus, der Gesetze nur gelten lässt, wenn sie einem nutzen, macht sich in vielen Teilen der Erde ein autoritäres Denken breit, das die Gesetze den Interessen der jeweils Regierenden unterwirft. Zugleich aber geschieht etwas, was Kafka, Benjamin und Scholem kaum vorhersehen konnten: In einer von keiner Tradition beglaubigten Lesart finden religiöse Fundamentalisten in ihren heiligen Schriften Rechtleitung, indem sie ihre eigenen, häufig archaisch oder barbarisch anmutenden Vorstellungen vom Recht als den einzig möglichen Sinn aus dem Text, den sie von aller Auslegungstradition abschneiden, herausklauben. Geltung und Bedeutung finden hier scheinbar wieder zusammen, aber nur, weil die Dreistigkeit des unmittelbaren Zugriffs Achtung und Scheu vor der Heiligkeit der Schrift und Reflexion über die Willkür des eigenen Verstehens erst gar nicht aufkommen lässt. Wird die derart entstellte Rechtleitung gar Grundlage eines staatlichen Gesetzes in einem Staat mit religiösem Vorzeichen, so ist dies die vollendete Perversion dessen, was der Mann vom Lande sucht: Aus Kafkas fernem Gesetz, dessen Unzugänglichkeit anzeigt, dass es menschlicher Macht entzogen ist, wird ein Machwerk von Fanatikern, dessen Früchte Unterdrückung, Lebensfeindlichkeit, Gewalttat und Tod sind, aus dem Gesetz, nach dem doch alle streben, wird ein Machtinstrument gegen die Ungläubigen und für die Gläubigen einer besonderen Denomination. Dennoch bieten die Verhältnisse der Gegenwart auch Chancen. Vielleicht gab es keine Epoche zuvor, in der so offensichtlich wurde, dass Legitimität nie aus der Berufung auf eine heilige Schrift entspringen kann. Vielleicht ist es das Zeitgebundene an Kafka, dass er die Verbindung zwischen heiliger Schrift und Leben vor allem unter dem Zeichen des Gesetzes suchte, das er dann paradox dekonstruierte. Dieses Zeichen scheint mir jedoch für das Gesuchte nicht mehr adäquat. Ich glaube vielmehr, dass man das Gesetz dem Leben der Menschen in der Welt überlassen und die Bedeutung der Schrift außerhalb ihrer gesetzesförmigen Geltung zu ergründen suchen sollte. Für das Leben der Menschen ist es ein Fortschritt, wenn sie akzeptieren, dass das Gesetzliche als solches nie mehr die Insignien göttlicher Autorität tragen darf. Wie alles Regelwerk hat es teil an 206 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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der, wie Kleist es ausdrückte, gebrechlichen Einrichtung dieser Welt (Kleist, 1970, S. 143). So notwendig im Verkehr der Menschen Regeln sind, an die sich alle halten können, ihre der Sache nach geforderte Universalität kann die Spuren der Vorläufigkeit all dessen, was Menschen in der Zeit ersinnen, nie ablegen. Gleichwohl, wenn es solchen Regeln gelingt, die nackte Gewalt des Hobbes’schen Naturzustandes niederzuhalten, haben sie, was immer an ihnen fehlerhaft sein mag, Achtung verdient. Sind sie veränderungswürdig, so darf ihre Veränderung doch nur im Rahmen von ihrerseits gesetzlichen Verfahren erfolgen, da sonst statt besserer Verhältnisse der Krieg aller gegen alle eintreten könnte. Wenn Paulus, der am Ende seines Lebens durch das Schwert der römischen Obrigkeit endete, forderte, stets der Obrigkeit untertan zu sein (Brief an die Römer, 13), so drückt er damit aus, dass die Fehler der Obrigkeit als Ausdruck der begrenzten Möglichkeiten dieser Welt nicht durch religiöse Ideen und Energien geheilt werden können. Den Menschen, die in dieser Welt unter solchen Obrigkeiten als Untertanen leben, bleibt immerhin die Distanz des Als-ob. In Abwandlung eines Wortes aus dem ersten Korintherbrief könnte man aus Paulus folgende Mahnung entnehmen: Gehorcht den Gesetzen so, als ob ihr ihnen nicht gehorchtet, denn das Wesen dieser Welt vergeht (1 Kor. 7, 29–31). Das Als-ob drückt aus, dass die Menschen sich schon jetzt als diejenigen erkennen, die, während sie die Gesetze einhalten, ihr wahres Leben in Dimensionen suchen, die dem Gesetz entzogen sind. Wird die Welt in ihrer Selbstorganisation von der Geltung der heiligen Schriften entlastet, so können diese wiederum, befreit von der Forderung, der Welt die richtigen Regeln aufzuoktroyieren, erst wahrhaft ihr Eigenes entfalten. Von den heiligen Schriften aus gesehen erscheinen mir Deutungen, die tendenziell alles Gesetzliche von ihnen ablösen und in ihnen nicht Rechtleitung, sondern die Transzendierung all dessen, was mit richtig und falsch erfasst wird, sehen, weitaus tiefer zu gehen als alle Versuche, sie als Gesetz für die Welt erneut in Geltung zu setzen. Mystische, ästhetische, lebensphilosophische sowie liturgische und caritativ ausgerichtete Interpretationen heiliger Schriften haben gemeinsam, dass ihre lebenspraktische Bedeutung das Leben so ergreift, dass es zugleich dem Bereich des bloß Gesetzlichen enthoben wird. Zugleich bleibt dieser Bereich dennoch nicht verlassen von dem Licht, das aus diesen Schriften fällt. Nichts aus dem Feld, wo Menschen sich in Schuld verstricken oder die Folgen der Schuld anderer erleiden, wo sie mit Recht Strafe befürch207 https://doi.org/10.5771/9783495813881 .
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ten oder Strafe androhen, wird in den heiligen Schriften übergangen: Gerechtigkeit gehört zu ihren Leitworten. Wenn jedoch darin Gesetzliches durchaus anklingt, steht es doch nie für sich. Was auf das Gesetz verweist, wird vollendet durch ein Annehmen und Tun, das bei Kafka, so weit ich es sehe, zu kurz kommt, obwohl es in seinem Weltentwurf durchaus eine Stelle haben könnte: Vergebung.
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Autorinnen und Autoren
Henry Abramovitch, Gründungspräsident des Israel Institute of Jungian Psychology, Professor an der Universität in Tel Aviv, Medical School. Früherer Präsident der Israel Anthropological Association. Aktives Mitglied der Interfaith Encounter Association. Lebt in Jerusalem. Horst Folkers, Dr. phil., Dozent am philosophischen Seminar der Universität Freiburg Daniel Krochmalnik, Prof. Dr. Dr. h. c., Studium der Philosophie und Judaistik; Professor für jüdische Religionslehre, -pädagogik und -didaktik an der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg. Privatdozent für jüdische Philosophie an der Universität Heidelberg. Roman Lesmeister, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut. Dozent und Lehranalytiker (DGAP /DGPT) an psychoanalytischen Ausbildungsinstituten. Reiner Manstetten, PD Dr. phil., Dozent am philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Lehrer für christliche Kontemplation. Manfred Oeming, Prof. Dr., Ordinarius für alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Mitglied in Senat und Kuratorium der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg. Mai Wegener, Dr. phil., Psychoanalytikerin, Mitbegründerin des Psychoanalytischen Salons Berlin. Tätigkeit als Kulturwissenschaftlerin an zahlreichen Institutionen.
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