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German Pages [344] Year 2010
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Schriften des Sigmund-Freud-Instituts
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl und Stephan Hau Band 11 Marianne Leuzinger-Bohleber / Paul-Gerhard Klumbies (Hg.) Religion und Fanatismus Psychoanalytische und theologische Zugänge
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Marianne Leuzinger-Bohleber / Paul-Gerhard Klumbies (Hg.)
Religion und Fanatismus Psychoanalytische und theologische Zugänge
Mit 2 Abbildungen und 1 Tabelle
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45184-7
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marianne Leuzinger-Bohleber und Paul-Gerhard Klumbies Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychoanalytische Perspektiven Werner Bohleber Idealität und Destruktivität. Überlegungen zur Psychodynamik des religiösen Fundamentalismus . . . . . . .
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Sverre Varvin Idealität und Zerstörungswut. Diskussion des Beitrags von Werner Bohleber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Charles B. Strozier Die fundamentalistische Denkweise. Psychologische Überlegungen zu Gewalt und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Paul-Gerhard Klumbies Apokalyptik im Christentum. Diskussion des Beitrags von Charles B. Strozier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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M. Fakhry Davids Psychoanalyse und Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Jorge Canestri Psychoanalyse und Rassismus. Diskussion des Beitrags von M. Fakhry Davids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Umgang mit Fundamentalismus, Gewalt und dem Fremden – Theoretische Konzepte und klinische Erfahrungen Mario Erdheim Ethnopsychoanalytische Perspektiven auf adoleszente Gewalt und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Sigrid Scheifele Rebellion und Fanatisierung als Reaktionen auf die Erschütterung der väterlichen Autorität . . . . . . . . . . . . . . . 154 Aydan Özdaglar Der Umgang mit dem eigenen Körper. Aus der psychoanalytischen Therapie einer türkischen Patientin . 176 Vera Kattermann Religiöse Diskurse gegen fanatische Ideologie? Nachdenken über das Beispiel der südafrikanischen Wahrheitskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Mahrokh Charlier Macht und Ohnmacht. Religiöse Tradition und die Sozialisation des muslimischen Mannes . . . . . . . . . . . . . . . 198 Fakhri Khalik Gruppenpsychotherapeutische Erfahrungen mit Ärzten aus dem Nahen Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Kerstin Weike-Bierbüsse Schule als ein Möglichkeitsraum für Adoleszenzkonflikte? Psychoanalytische Anregungen einer institutionellen Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
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Inhalt
Reinhard Nolle Biografische Spielfilmarbeit mit jugendlichen Straftätern und dissozialen Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Religion und Gewalt im Christentum Ilse Müllner und Luise Schottroff Der Gewalt widerstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Paul-Gerhard Klumbies Gewalt im Zentrum der christlichen Religion. Die Hinrichtung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Tom Kleffmann Religionsphilosophische und theologische Überlegungen zur Debatte um Monotheismus und Gewalt . . . . . . . . . . . . 294 Werner H. Ritter Religiöse Erziehung als Schwarze Pädagogik. Beobachtungen und Überlegungen zum destruktiven Potenzial religiöser Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Reiner Anselm Polemogene Religion. Überlegungen zur Domestizierung von religiös induzierten Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
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Vorwort
Seit den terroristischen Anschlägen auf die Twin Towers am 11. September 2001 hat sich das Thema »Religion und Gewalt« verständlicherweise vehement ins öffentliche Bewusstsein gedrängt. Politiker, aber auch Künstler und Wissenschaftler beschäftigen sich seither in verschiedensten Formen mit den existenziellen Gefahren, die von religiösem Fanatismus und Terrorismus in unserer globalisierten Welt ausgehen. Auch Psychoanalytiker und Theologen bringen sich in diesen Dialog ein, im gemeinsamen Ringen um ein vertieftes Verstehen der komplexen Wurzeln dieser neuen Bedrohungen. Die Keimzelle der in diesem Buch vorgelegten interdisziplinären Bearbeitung der Thematik bildete eine Ringvorlesung an der Universität Kassel im Wintersemester 2006/2007. Die 10. Joseph-Sandler-Research-Conference in Frankfurt im März 2009 gab der Debatte ihre internationale Ausrichtung. Zur Dokumentation des Gesprächsstandes in Buchform wurden außerdem weitere Fachleute aus Psychoanalyse und Theologie um ihre Beiträge gebeten. Wir freuen uns, dass dieser Band nun vorliegt. Alle Autorinnen und Autoren, die wir angefragt haben, an dieser Publikation mitzuwirken, haben sich sogleich bereit erklärt, uns ihre interessanten Beiträge zeitnah zur Verfügung zu stellen: herzlichen Dank! Ute Ochtendung, Institut für Psychoanalyse der Universität Kassel, hat mit großer Sorgfalt und Professionalität die Manuskripte in Form gebracht und uns bei der redaktionellen Arbeit unterstützt. Ihr gilt unser ganz besonderer Dank! Sie konnte auf die umfangreichen, vorzüglichen Vorarbeiten von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Vorwort
Jeannette Kuhlewey vom Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt, zurückgreifen. Danke auch ihr! Schließlich danken wir auch allen Übersetzerinnen der englischen Manuskripte, die in den betreffenden Arbeiten aufgeführt sind. Die Universität Kassel, das Sigmund-Freud-Institut und das Research Committee der International Psychoanalytical Association haben uns dankenswerterweise den institutionellen Rahmen für den interdisziplinären und internationalen Dialog zur Verfügung gestellt, den wir hier in die Öffentlichkeit tragen. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Ulrike Kamp, die den Band betreut hat, danken wir für die gewohnt kooperative Zusammenarbeit. Marianne Leuzinger-Bohleber und Paul-Gerhard Klumbies
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Marianne Leuzinger-Bohleber und Paul-Gerhard Klumbies
Einführung
Der vorliegende Band zu »Religion und Fanatismus« dokumentiert die Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Theologie angesichts einer brisanten Thematik. Vor dem Hintergrund der weltweiten Bedrohungen, die von den islamistischen und anderen fundamentalistisch motivierten Terroristen und Extremisten ausgehen, sind alle wissenschaftlichen Disziplinen dazu aufgefordert, ihren Beitrag zu einem interdisziplinären Verstehen der komplexen Zusammenhänge dieses brennenden gesellschaftlichen Problems zu leisten. Dies gilt auch für Theologen und Psychoanalytiker, die über längere Phasen der Wissenschaftsgeschichte, von Ausnahmen abgesehen, eher in einem NichtVerhältnis zueinander existierten. In dieser Zeit waren es vor allem Einzelne, die den Kontakt zueinander und das Gespräch miteinander suchten. Zwischenzeitlich haben sich die Rahmenbedingungen für eine Koexistenz von Psychoanalyse und Theologie geändert. Psychoanalyse ist für Theologen nicht länger der Inbegriff von Religionskritik und Theologie für Psychoanalytiker nicht die Agentin der Heteronomie. Dass inzwischen auch der Zeitgeist gedreht hat und Psychoanalyse und Theologie in der Außenwahrnehmung enger aneinander gerückt sind, als sie es möglicherweise selbst wahrgenommen haben, ist spätestens deutlich, seit Peter Sloterdijk (2006) die Psychoanalyse direkt neben die Theologie auf die Anklagebank gesetzt und beide Disziplinen mit dem Vorwurf konfrontiert hat, sie hätten durch Therapie beziehungsweise Moral in fahrlässiger Weise dazu beigetragen, gesellschaftliche Zornespotenziale aufzustauen, deren Entfesselung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zu ungeheueren Zerstörungen führen werde. In einer Wissenschaftslandschaft, in der das quantitativ-empirische Paradigma erneut zu höchstem Ansehen gelangt ist, stehen beide Fächer zudem gleichermaßen vor der Herausforderung, ihren Status als Wissenschaft im Spektrum der universitären Disziplinen zu behaupten. In dieser veränderten Lage ergeben sich neue Chancen, gesellschaftlich virulente Phänomene gemeinsam anzugehen. Die Notwendigkeit, das Thema »Religion und Fanatismus« zu behandeln, bedarf in der gegenwärtigen Weltsituation keiner Erläuterung. Die Vielschichtigkeit der Problematik gebietet es, neben das politische Handeln die Reflexion verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zu stellen. Die Psychoanalyse verfügt über eine jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit tief in der Psyche verankerten Konflikten. Die Analyse unbewusster, das heißt irrationaler Determinanten von religiösem Fanatismus, von Fundamentalismus und von Gewalt gehören in ihren professionellen Bereich. Die Theologie ist insbesondere seit der Aufklärung zu präzisen Verhältnisbestimmungen zwischen Vernunft und Religion gelangt. Sie erschließt das Potenzial der christlichen Religion zu einer friedlichen Gesellschaftsgestaltung und setzt sich mit deren destruktivem Gewaltpotenzial und seiner Entladung in der Geschichte auseinander. Beide Disziplinen leisten daher spezifische Beiträge zu einer Problematik, deren Multidimensionalität sich nur in einem breiten Spektrum der Zugänge erschließt. Bekanntlich hat die Psychoanalyse sich immer schon nicht nur als klinische Theorie und Behandlungstechnik, sondern auch als Kulturtheorie verstanden. Freud selbst befasste sich immer wieder mit Religion als kulturellem Phänomen. Dabei legte er den Schwerpunkt auf die Analyse der Vaterreligionen. Wie der Briefwechsel mit Romain Rolland illustriert, hatte er selbst wenig Zugang zu der mystischen Seite von Religion, etwa dem »ozeanischen Gefühl«. Freud zog den Vergleich zwischen einer zwangsneurotischen Erkrankung und der Religion vor, die er als »universelle Zwangsneurose« charakterisierte, die vom Ich einen Triebverzicht abverlangt und dadurch einen Kulturfortschritt erzwingt. Im Monotheismus sieht Freud eine Unterwerfung der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Einführung
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Söhne unter den »göttlichen Vater«. In der Religion suche der Gläubige, wie ein Kind, Schutz und Geborgenheit durch Unterwerfung unter die elterliche Autorität. In »Totem und Tabu« postuliert Freud (1912) den kollektiven Vatermord, der zu einem geteilten Schuldgefühl führt, das Motiv in jeder Religion wird. In »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« postuliert Freud (1939), dass der Vatermord seine Fortsetzung in den Morden an Moses und Jesus Christus fand und daher in ein wachsendes Schuldbewusstsein mündete, das Eingang in religiöse Vorstellungen nahm. Mit der Ermordung des Urvaters wird aber auch der Platz der Omnipotenz frei, und jeder Versuch, ihn wieder zu besetzen, wird von der Brüderhorde vereitelt. Entscheidungen und gesellschaftliche Vereinbarungen müssen nun unter den Brüdern ausgehandelt werden und können – in modernen Gesellschaften – nicht mehr an eine religiöse Vaterinstanz delegiert werden. In »Zukunft einer Illusion« geht Freud (1927) nochmals auf den illusionären Charakter religiöser Überzeugungen ein und diskutiert deren infantilen Wunschcharakter. Gott soll Schutz bieten und kindliche Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle zum Verschwinden bringen. Doch wie ein Kind seine infantile Neurose überwinden und psychisch wachsen muss, wird, so Freud, sich auch die Menschheit von den religiösen Illusionen befreien. Die wissenschaftliche Ratio wird sich gegen die illusionären Wunscherfüllungen durchsetzen: Die Vernunft wird über die Religion siegen. In »Das Unbehagen in der Kultur« sieht Freud (1930) zwar in der Religion »eine der Möglichkeiten des Menschen, Glück zu erwerben und sich vor Leiden zu schützen, aber um den Preis, an einen ›psychischen Infantilismus‹ und an einen »Massenwahn« gebunden zu bleiben« (Bohleber, 2009, S. 814 f.). Obschon diese Freud’sche Religionskritik unter anderem von Psychoanalytikern wie Oskar Pfister und Carl Müller-Braunschweig schon früh in Frage gestellt wurde, fühlen sich die meisten Psychoanalytiker auch heute noch einer bestimmten aufklärerischen Tradition verbunden, die religiöse Auffassungen einer kritischen Analyse unterzieht, um sie der Vernunft zugänglich zu machen, ganz im Sinne des von Freud beschriebenen Ziels einer Psychoanalyse »Wo Es war, soll Ich werden«. Aller© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dings schließt ein solches kritisches Verstehen bei vielen heutigen Psychoanalytikern eine Wertschätzung und eine Anerkennung der Bedeutung religiöser Sinnstrukturen für Individuen, Gruppen und Gesellschaften sowie ein Wissen um die Grenzen des eigenen disziplinären Denkens, des »Nicht-Wissens«, mit ein. Dadurch gewinnt der Dialog mit Theologen, Religions- und Kulturwissenschaftlern eine neue Basis und Relevanz. Für diesen Dialog erweisen sich neuere psychoanalytische Arbeiten zur Religion als fruchtbar. So wurden seit den 1950erJahren in die psychoanalytische Analyse religiöser Gefühle und Fantasien vermehrt auch präödipale Determinanten eingeschlossen. Das Gottesbild konnte daher nicht nur durch ödipale Wünsche geprägt sein, sondern auch durch Verschmelzungswünsche mit dem mütterlichen Primärobjekt. So sah beispielsweise Hans Loewald (1986) in der Sehnsucht nach der »narzisstischen Vollkommenheit«, einer Fantasie der Einheit mit der archaischen Mutter, eines der wesentlichsten Motive für religiöse Gefühle und ihre Verbindung zu Mystik und religiöser Gemeinschaft. Es gelang ihm dadurch, einen einfühlsameren und differenzierteren psychoanalytischen Blick auf das Phänomen der Religion zu werfen. – Analoges lässt sich zu den Arbeiten von Donald W. Winnicott (1973) feststellen: Seine Konzepte des intermediären Bereichs und der Übergangsphänomene entpuppen Illusionen als wichtige entwicklungspsychologische Prozesse, die dem Kind bei der frühen Ablösung von der Mutter in kreativer Weise helfen, sichere innere Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen aufzurichten. Kreativität, Kunst und Religion sind für Winnicott analoge Bereiche, die psychisch im intermediären Raum angesiedelt sind und wichtige psychische Funktionen erfüllen. Eine weitere Perspektive entwickelte Wilfred Bion (1963/1992) mit seinem Konzept des »O«, mit dem er letzte Wahrheiten, das Unendliche, das Kant’sche »Ding an sich« oder eben auch Gott, theoretisch zu fassen suchte. »O« hat keinen psychologischen Ort mehr und kann sich – auch in einer psychoanalytischen Behandlung – als eine religiös-mystische Erfahrung manifestieren. Bion sah selbst eine Verwandtschaft zwischen dieser Vorstellung und der unio mystica der mittelalterlichen Mystiker. Der Kasseler © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Einführung
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Psychoanalytiker Ralf Zwiebel hat in mehreren Arbeiten den Vergleich des Bion’schen Denkens mit zenbuddhistischen Praktiken ausgeführt (vgl. u. a. Zwiebel, 2009). Mit diesen exemplarisch herausgegriffenen neueren psychoanalytischen Verstehensversuchen von religiösen Überzeugungen und Haltungen verweisen wir darauf, dass in der heutigen Psychoanalyse differenziertere Konzeptualisierungen zu diesem Thema vorliegen als in der Frühzeit ihrer Disziplin. Gemeinsam bleibt allerdings die Sorge der meisten Autoren, dass religiöse Überzeugungen, vor allem falls sie mit fundamentalistischem Fanatismus gekoppelt werden, eine gefährliche Regression auf ein archaisches Niveau seelischen Funktionierens begünstigen beziehungsweise eine ubiquitäre unbewusste Fantasiewelt reaktivieren, die daraufhin zu einer mächtigen Quelle destruktiven Handelns werden kann. Die Aufsätze und Stellungnahmen der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker in diesem Band legen daher ihr besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang von unbewussten Fantasien und Konflikten beim Individuum und ihrer Beziehung zu religiösen Gemeinschaften. Werner Bohleber zeichnet in seinem Beitrag den inhärenten Zusammenhang von bestimmten Formen religiöser Vergemeinschaftung und Gewalt auf. Religiös fundamentalistische Vorstellungswelten eignen sich dazu, bestimmte ubiquitäre Fantasiesysteme zu aktivieren. So beruhen beispielsweise die inhärenten Verbindungen von narzisstischer Reinheits-, Einheits- und Gleichheitsvorstellung mit massiver Gewalt auf der Fantasie eines vorambivalenten narzisstischen Idealzustandes. Der Andere und der Fremde wird dabei zum Ungläubigen, zum Eindringling und Störenfried, den man gleichzeitig zur Projektion und Verfolgung benötigt, um den idealen Zustand phantasmatisch aufrechterhalten zu können. Die Sehnsucht nach einem präambivalenten narzisstischen Idealzustand kann vor allem in Zeiten der Krise verstärkt auftreten und sich in Gruppen machtvoll durchsetzen. Die Gefahr liegt dann darin, dass entsprechende ideologische Vorstellungen und Fantasien Aggression von enorm destruktivem Potenzial aktivieren können, wie dies in terroristischen Gruppen der Fall zu sein scheint. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Sverre Varvin weist in seiner Diskussion von Bohlebers Beitrag unter anderem auf verschiedene Ebenen hin, auf denen das Thema religiöser Gewalt betrachtet werden kann: auf der Ebene möglicher inhärenter Bedingungen innerhalb der monotheistischen Religionen, mit Fundamentalismus und Gewalt als möglichen Konsequenzen; auf der Ebene der Sozialpsychologie religiöser Gruppierungen und auf der Ebene der Ökonomie und Politik, insbesondere jener zwischen den reicheren und ärmeren Teilen der Welt. Nur eine sorgfältige Analyse möglicher Determinanten religiöser Gewalt auf allen diesen verschiedenen Ebenen garantiert ein einigermaßen adäquates Verständnis dieser komplexen, bedrohlichen Phänomene. Charles B. Strozier stellt das Wesen des Fundamentalismus und seine Beziehung zur Gewalt ins Zentrum seiner Betrachtungen. Er diskutiert vielfältige Formen des Fundamentalismus in Geschichte und Gegenwart. Einerseits kann eine intensive religiöse Überzeugung Menschen helfen, eine tiefe spirituelle Sehnsucht zu stillen. Andererseits führen eben diese Überzeugungen zu Extremismus, Gewalt, Terrorismus und Völkermord. Gefährlich ist vor allem, dass der Fundamentalismus oft mit einer grundlegenden Tendenz zur Paranoia und Apokalyptik verbunden ist. Im letzten Teil des Beitrags analysiert Strozier den Einfluss der Existenz von Atomwaffen auf fundamentalistische Vorstellungswelten. Paul-Gerhard Klumbies zeigt in seiner Replik auf Charles B. Strozier, dass Apokalyptik kein Spezifikum der christlichen Religion, sondern ein im Alten Orient verbreitetes vorchristliches Phänomen darstellt, das Eingang in die jüdische und die christliche Überlieferung gefunden hat. Auch verweist er darauf, dass die Apokalyptik in ihren historischen Gestalten unterschiedliche Ausprägungen erhalten hat. Ihr Spektrum beinhaltet Fantasien exzessiver Gewalt, die wiederholt auch in die Realität umgesetzt wurden. Zur Apokalyptik zählen freilich ebenfalls gelebte Modelle ausgeprägter Friedfertigkeit. M. Fakhry Davids befasst sich im ersten Teil seines Beitrags nochmals mit den Grenzen einiger klassischer Arbeiten der frühen Psychoanalyse zum Antisemitismus. Als neue Idee postuliert er eine innere rassistische Organisation, die, wie er an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Einführung
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einem Fallbeispiel erörtert, bei allen Menschen der Abwehr unerträglicher Ängste dient. Er postuliert, dass diese Abwehrorganisation nicht als schwerwiegend pathologisch, sondern als »normale pathologische Organisation« zu verstehen sei, die dazu diene, paranoid-schizoide und depressive Ängste psychisch zu bewältigen. Im Sinne der projektiven Identifizierung werde die innere rassistische Organisation auf soziale Bedeutungsunterschiede gerichtet, die in der äußeren Welt existierten. Auf diesem Hintergrund warnt der Autor vor einer aktuellen Islamophobie, die sich nach dem 11. September in den westlichen Ländern ausgebreitet habe. Jorge Canestri betont in seiner Diskussion von Davids’ Beitrag auch entwicklungspsychologische Perspektiven und zeigt auf, dass die Anerkennung des Anderen, des Fremden, für uns alle hohe seelische Anforderungen stellt. In allen Formen religiöser Gewalt werden gescheiterte Formen des »Umgangs mit dem Fremden« sichtbar, oft, wie Davids dies postuliert, in latentem oder offenem Rassismus, in Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Im Buch folgen weitere Beiträge von Psychoanalytikern, die sich mit spezifischen Aspekten religiöser Gewalt befassen oder von spezifischen Forschungsprojekten und klinischen Erfahrungen berichten. Mario Erdheim weist auf die besondere Rolle der Adoleszenz für das Herausbilden von religiösen Gewaltphänomenen hin. Er versteht Gewalt als ein Zusammenwirken von Aggression und Omnipotenz beim Versuch, Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Ein charakteristisches Moment der Adoleszenz besteht in der Wiederaneignung der Omnipotenzfantasien aufgrund derer das Individuum imstande ist, sich der Realität entgegenzusetzen und Pläne zu realisieren. Um dazu fähig zu sein, muss das Individuum seine Größen- und Allmachtsfantasien mit seinen IchFähigkeiten verknüpfen, keine leichte Aufgabe für einen Adoleszenten. Scheitert er bei dieser Aufgabe, liegt es für manche Jugendliche nahe, Zuflucht zu gewalttätigen religiösen Gruppen zu suchen. Sigrid Scheifele berichtet von ihrer jahrelangen Arbeit mit Migrantenfamilien, vor allem muslimischer Herkunft. Sie dis© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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kutiert exemplarisch das Problem der sich verändernden väterlichen Autorität in Familien mit Migrationshintergrund. Scheifele betont unter anderem, wie wichtig es für Psychotherapeuten ist, die Herkunftskultur von Migrantinnen und Migranten genau zu kennen, eine Voraussetzung für ein Verstehen manifester und unbewusster Konflikte dieser Patientengruppe. Aydan Özdaglar illustriert diese These mit einem eindrücklichen Fallbeispiel einer türkischstämmigen Patientin. Sie fokussiert auf spezifische Körpervorstellungen und Geschlechtsrollen bei muslimischen Migrantinnen. So ist es für nicht muslimische Psychotherapeutinnen schwierig nachzuvollziehen, dass junge muslimische Frauen unter dem starken Druck ihrer Familien, jungfräulich in die Ehe einzugehen, mit Hilfe von Rekonstruktionsplastiken eine Revirginisierung vornehmen lassen. Solche Techniken werden von Psychoanalytikerinnen ohne entsprechendes kulturspezifisches Wissen beispielsweise wie eine Gewalthandlung gegen den eigenen weiblichen Körper wahrgenommen. Vera Kattermann hat sich mit dem kollektiven Versuch der »Wahrheitskommission in Südafrika« befasst, die transgenerative Weitergabe von traumatischer Gewalt zu unterbrechen. Sie schildert die Bedeutung religiöser Diskurse in diesem Prozess der Wiedergutmachung und den Verzicht auf individuelle und gesellschaftliche Rache. Die Chancen, aber auch die Grenzen dieses historisch einmaligen Umgangs mit extremer Gewalt in einer Gesellschaft werden diskutiert. Mahrokh Charlier schildert den absolutistischen Anspruch der islamischen Theologie, die Idealisierung der Vergangenheit und die Wechselwirkungen zwischen der autoritär patriarchalischen Gesellschaft und der Familienstruktur, insbesondere der Beziehung zwischen Vater und Sohn in muslimischen Familien. Es bestehe eine grundsätzliche Differenz zu den westlichen Gesellschaften, die wesentlichen Anteil an den derzeitigen Konflikten zwischen dem muslimischen und dem westlichen Wertesystem habe. Der Autoritätsverlust des Mannes in der westlichen Welt und der zunehmende Bedeutungsverlust des Patriarchats stellen eine Bedrohung für die männliche Autorität im patriarchalisch-islamischen Wertesystem dar, ein möglicher Faktor bei der Attrakti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Einführung
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vität, die gewalttätige, religiöse Gruppen auf junge muslimische Männer ausüben. Fakhri Khalik berichtet von seinen Erfahrungen mit Gruppentherapien von Ärzten aus dem Nahen Osten. Beispielsweise schien für einige Ärzte bei ihrem Umgang mit Ohnmacht der Bezug auf Gott eine zentrale Rolle zu spielen. Dies konnte sich einerseits als eine Art Hilfs-Ich bei der Bewältigung dieser Gefühle erweisen. Wurde aber die Ohnmacht an Gott »abgegeben« und damit ungeschehen gemacht, resultierte daraus eine Regression, die nicht im Dienste der Progression genutzt werden konnte, sondern die Gruppenteilnehmer dazu bewog, in Passivität zu beharren. Die letzten beiden Beiträge im zweiten Teil des Buches widmen sich dem Versuch von Gewaltprävention. Kerstin Weike-Bierbüsse bezieht sich dabei auf das Konzept des »potential space« von Winnicott. Schule wird als intermediärer Raum besonders für Jugendliche verstanden, in dem sie verschiedene Formen des adoleszenten Umgangs mit Aggression und Gewalt durchspielen und dadurch psychisch integrieren können. Solche institutionellen Spielräume erweisen sich als unverzichtbar, um pädagogisch mit der Gewaltbereitschaft besonders von männlichen Jugendlichen konstruktiv umzugehen. Von einem beeindruckenden Projekt berichtet schließlich Reinhard Nolle. Er arbeitete mit straffälligen Jugendlichen und nutzt den Film als gestalterisches Medium, um in Kontakt mit den gewalttätigen Adoleszenten zu treten und mit ihnen kreativere Formen der Konfliktbewältigung zu erarbeiten. Die fünf Beiträge von Theologinnen und Theologen stammen aus verschiedenen Teildisziplinen der Theologie. Entsprechend setzen sie unterschiedliche Akzente. Die Alttestamentlerin Ilse Müllner und die Neutestamentlerin Luise Schottroff wenden sich anhand biblischer Überlieferungen dem Umgang mit Gewalt im Alten wie im Neuen Testament zu. Nach ihrer Darstellung lässt sich die weit verbreitete Gegenüberstellung eines gewalttätigen Alten Testaments und eines friedliebenden Neuen Testaments nicht halten. Die Gewalt wird in den biblischen Texten zum Thema, weil sie in der gelebten Wirklichkeit vorkommt. Das Sprechen über Gewalt hilft, ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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waltförmige Strukturen aufzudecken und gewalttätiges Handeln zu analysieren. Dabei geschieht das Sprechen über Gewalt teilweise gegen die Vorgaben gewalttätigen Handelns selbst, zu denen das Verschweigen als Strukturelement gehören kann. Dies gilt vor allem in Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Gewaltförmige Gottesbilder sind ein Teil der gesamtbiblischen und damit auch der christlichen Tradition. Sie trugen und tragen zur Legitimation gewalttätigen Handelns bei. Die Auslegung der biblischen Texte ist dem Durchbrechen der Gewalt verpflichtet. Auf der Basis dieser ethischen Vorgabe sind gewalthaltige Texte der Bibel in ihrem kanonischen und historischen Kontext zu verorten und handlungsleitend zu interpretieren. In seinem Beitrag zur Hinrichtung Jesu stellt der Neutestamentler Paul-Gerhard Klumbies heraus, dass das frühe Christentum historisch nicht in eine Welt der Gewaltlosigkeit eintritt, sondern sich unter den bestehenden Bedingungen von Gewalt bildet. Jesus als Protagonist Gottes auf Erden wurde ein Opfer von Gewalt. Durch die Hineinnahme des hingerichteten Jesus in den trinitarischen Gottesgedanken wird das Erleiden von Gewalt integraler Bestandteil des christlichen Gottesbegriffs. Auf diese Weise wird die Bestimmtheit der Welt durch Gewalt in das Gottesverständnis integriert. Weder ist der christliche Gott ein Gewaltproduzent, noch eignet er sich als Projektionsfläche für eine Gottesvorstellung, die ihn als jeder Gewalt enthoben über einer konfliktuösen Wirklichkeit schwebend darstellt. Tom Kleffmann als Vertreter der Systematischen Theologie setzt sich mit der These auseinander, der exklusive Monotheismus und sein Anspruch auf wahre Religion impliziere religiöse Intoleranz und Gewaltbereitschaft. Zunächst kritisiert er die kategoriale sowie hermeneutische Engführung der Debatte. Bei der Konstruktion eines »biblischen Monotheismus« werde über die Wahrheit und Einheit Gottes gar nicht nachgedacht. Kleffmann setzt dem den jüdisch-christlichen Gedanken von der Geschichtlichkeit Gottes entgegen, der von Anfang an eine historische und hermeneutische Relativierung derjenigen alttestamentlichen Texte bedeutet, die in unmittelbarer – fundamentalistischer – Interpretation Intoleranz und Gewalt zu fordern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Einführung
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scheinen. Die Unterscheidung zwischen wahrem und fiktionalem Gott aber sei theologisch notwendig. Hierbei hänge alles davon ab, wie sich dieser Gott denken lässt. Im christlich trinitarischen Verständnis der Einheit Gottes vollziehe dieser seine Einheit in sich und für uns in Kommunikation, die in Gestalt der Schöpfung Andersheit voraussetzt. Dass Gott sich seiner ausschließenden Einheit gerade wesentlich entäußert und in die Gemeinschaft mit dem Anderen begibt – dafür stehe das christliche Zentralsymbol des Kreuzes. Nach Darstellung des Religionspädagogen Werner H. Ritter gleicht die Geschichte religiöser Erziehung auf weiten Strecken »Schwarzer Pädagogik«, die Menschen mehr verformt als stärkt. Dazu steht allerdings nicht im Gegensatz, dass Heranwachsende grundsätzlich auf persönlichkeitsfördernde Maßnahmen angewiesen sind, um in ihre Personalität hineinfinden zu können. Religiöse Erziehung speziell nimmt Kinder und Jugendliche in ein komplexes Lebens- und Wirklichkeitsmodell hinein, das sich aus dem Sinnreservoir des christlichen Glaubens speist. Trotz überkommener Vorbehalte gegenüber Religion besteht am Anfang des 21. Jahrhunderts durchaus ein individueller wie gesellschaftlicher Bedarf an religiöser Erziehung. Die »gesunde« Entwicklung von Heranwachsenden ist offensichtlich nicht nur dann gefährdet, wenn zu massiv, sondern auch dann, wenn gar nicht oder zu wenig religiös erzogen wird. Auf diesem Hintergrund entfaltet der Autor wichtige Aspekte religiöser Erziehung heute und morgen. Religionen befrieden, aber sie besitzen auch Zerstörungspotenzial. Der Theologe und Ethiker Reiner Anselm stellt in seinem Beitrag das grundlegend polemogene Potenzial der Religionen – und damit auch des Christentums – heraus. Aufgrund der von ihnen erhobenen Wahrheitsansprüche können gerade die monotheistischen Religionen konfliktverschärfend wirken. In den religiös induzierten oder zumindest mit der Religion in Verbindung gebrachten Konflikten der Gegenwart ist dies, so seine These, auch deswegen so massiv ins Bewusstsein gerufen worden, weil in der Religionsforschung seit dem Beginn der Moderne die Religion vorrangig über deren integratives Moment thematisch wurde. Dabei geriet aus dem Blick, dass dieses Moment der Re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Marianne Leuzinger-Bohleber und Paul-Gerhard Klumbies
ligion vor allem aus deren Unterordnung unter das Recht resultierte. Freilich war dieser Suprematieanspruch des Staates in der Moderne durchaus zwiespältig, führte er doch dazu, dass nun der Staat und die Rechtsordnung selbst in der Versuchung standen, totalitäre Ansprüche zu erheben. Der Beitrag plädiert vor diesem Hintergrund dafür, in der Tradition von Aufklärung und Liberalismus zu einer Verhältnisbestimmung von Religion und Recht zu gelangen, bei der sich beide Sphären wechselseitig begrenzen und so einseitige Fundamentalismen verhindern. Die in diesem Buch dokumentierte Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Theologie versteht sich als ein Signal, das bedrohliche Phänomen der fanatisierten Religion nicht allein der Politik zur Bearbeitung zu überlassen. Sie ist Ausdruck des Bemühens, die Kompetenz universitärer psychoanalytischer und theologischer Wissenschaft heranzuziehen, um Lösungswege im Umgang mit einer weltweiten Gefahr zu suchen.
Literatur Bion, W. R. (1963/1992). Elemente der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp,. Bohleber, W. (2009). Editorial. Psychoanalyse und Religion: Facetten eines nicht unproblematischen Verhältnisses. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 63, 813 – 821. Freud, S. (1912). Totem und Tabu. Gesammelte Werke, IX. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1927). Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, XIV (S. 325 – 380). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. Gesammelte Werke, XIV (S. 419 – 506). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Freud, S. (1939). Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Gesammelte Werke, XVI (S. 103 – 246) Frankfurt a. M.: S. Fischer. Loewald, H. W. (1986). Psychoanalyse. Aufsätze aus den Jahren 1951 – 1979. Stuttgart: Klett Cotta. Sloterdijk, P. (2006). Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Winnicott, D. W. (1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett. Zwiebel, R. (2009). Das Studium des Selbst – Psychoanalyse und Buddhismus im Dialog. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 63, 999 – 1029. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Psychoanalytische Perspektiven
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Werner Bohleber
Idealität und Destruktivität Überlegungen zur Psychodynamik des religiösen Fundamentalismus
Vorbemerkung Vor dem 11. September wurde Religion weitgehend als ein Überbleibsel vormodernen Denkens oder als ein Randphänomen angesehen, das in den privaten Raum der Menschen verwiesen worden war. Auch die seit Längerem stattfindende Ausbreitung des religiösen Fundamentalismus und sein Erstarken in allen Weltreligionen erregte lange Zeit zumindest in Europa kein größeres Interesse. Heute sind wir eher bereit, uns mit dem Fundamentalismus, seinen Erscheinungsformen und seinen Botschaften auseinanderzusetzen. Erneut sind wir mit der Frage konfrontiert, wie Glaubensgewissheit und Hass sowie die Fantasie eines narzisstischen Idealzustandes und mörderische Gewalt zusammenwirken und psychologisch zusammengehören. Nicht nur die Öffentlichkeit wurde davon überrascht, sondern auch die Religionswissenschaften. Seither hat ein intensives Nachdenken und Forschen über diese Zusammenhänge eingesetzt, wobei vor allem die fundamentalistischen Bewegungen in den drei monotheistischen Religionen ins Zentrum rückten. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich kurz eine schon länger laufende Debatte erwähnen, die sich um die Frage dreht, ob der Exklusivitätsanspruch des Monotheismus aus sich heraus Gewalt erzeugt.
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Monotheismus und religiöse Gewalt Auf einer Tagung stellte der amerikanische Soziologe Shmuel Eisenstadt fest, dass in der heutigen aufgewühlten Weltgesellschaft, in der multiple Modernitäten miteinander konkurrieren, der Glaube an einen exklusiven Gott wie ein Brandbeschleuniger wirke, der die Glut der Konflikte immer wieder aufs Neue anfache.1 Vor allem der Ägyptologe Jan Assmann (1998, 2003) hat in seinen Untersuchungen zur Aton-Religion, zu der Gestalt des Moses und zum jüdischen Monotheismus die Verbindung des Exklusivitätsanspruchs des Monotheismus mit Gewalt herausgearbeitet. Der Kern des Monotheismus besteht nicht darin, dass es nur einen Gott gibt, denn schon im Polytheismus hatte sich die Auffassung verbreitet, dass alle Götter Ausfluss des einen Gottes seien. Die differentia specifica des Monotheismus liegt vielmehr in der Unterscheidung zwischen wahrem Gott und den falschen Göttern und Götzen. Damit verbunden war die Forderung des Bilderverbots. Assmann nennt dies die »Mosaische Unterscheidung«. Der Polytheismus ist dagegen Kosmotheismus. In ihm ist das Göttliche dem Kosmos inhärent und lässt sich nicht aus ihm herauslösen. Genau dies tut aber der Monotheismus. Nicht nur Gott selbst wird von der Welt geschieden, sondern auch der Mensch löst sich aus seinem symbiotischen Weltverhältnis und wird zur Partnerschaft mit dem außerweltlichen einen Gott aufgerufen. Zu einem autonomen Individuum erhoben, hat er sich vor seinem Gott zu verantworten. Rechttun und Gerechtigkeit werden nun zu theologischen Kategorien, womit die Ethik in die Religion Einzug hält. Darin liegt für Assmann die große zivilisatorische Leistung des Monotheismus, und zwar sowohl im Judentum als auch im Christentum und im Islam. Der Monotheismus hat für ihn aber noch eine andere dunklere Seite. Dieser neue Gottesbegriff brachte eine neue Form des Hasses und der Gewalt in die Welt, nämlich den Hass auf die zu Götzen erklärten alten Götter und auf deren Riten sowie auf deren Anhänger, die nun als Heiden und Ketzer galten, was wiederum als Reaktion den 1 Tagung des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Bericht in »Die Zeit«, Nr. 29, 2008.
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Hass der durch die Mosaische Unterscheidung ausgegrenzten Anderen hervorrief. Im Kern ist für Assmann der Monotheismus nicht nur Ikonoklasmus, sondern Theoklasmus. Er zerstört die anderen Götter, aber bleibt nicht dabei stehen, sondern richtet sich dann auch letztlich, wie die Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte zeigt, gegen den einen Gott selbst. Anders als für Freud liegt für Assmann das Trauma des Monotheismus nicht im zweifachen Vatermord, erst am Urvater und dann an Moses, sondern in der theoklastischen Gewalt selbst, die sich zunächst gegen die heidnischen Götter richtete, aber zuletzt gegen Gott selbst. Nicht nur die negative Theologie ist die Konsequenz eines »Fortschritts in der Geistigkeit«, sondern auch der Gottesmord. Für Assmann ist die Mosaische Unterscheidung nun aber ebenso wenig wie Freuds »Fortschritt in der Geistigkeit« ein historischer Zustand, der einmal erlangt wurde und danach bestehen blieb, sondern sie ist eine »geistige Position« und eine »niemals in letzter Konsequenz institutionalisierbare regulative Idee« (Assmann, 2003, S. 52). Immer wieder gab es Rückfälle in der Geschichte, bei denen Elemente der überwundenen und verdrängten kosmotheistischen Religionen aufgenommen wurden, die dann wieder eine monotheistische Gegenbewegung auslösten. In diese historische Linie und ihre Dynamik ordnet Assmann trotz aller Verschiedenheit der Form und Situation auch die modernen Fundamentalismen ein, die sich als Reaktionsbildungen und Gegenbewegungen gegen eine Modernisierung, Säkularisierung und Verwestlichung der Welt verstehen lassen. Ich kann hier nicht die theologische Auseinandersetzung um Assmanns These einer inhärenten Verbindung von monotheistischer Idee und Gewalt darstellen. Ebenso wenig möchte ich mich damit auseinandersetzen, inwieweit die Idee des christlichen Universalismus Assmanns Position widerspricht. Klar ist, dass erst der Monotheismus die Idee der universalen Einheit der Menschen hervorgebracht hat, indem in ihm die Vorstellung entstand, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Mit dieser Idee der universalen Gleichheit aller Menschen vor Gott entfaltete sich auch die Vorstellung einer virtuellen Gemeinschaft. Dass diese universale Idee immer wieder zerfiel und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sich Partikularismen sowie Machtinteressen durchsetzten, hat auch mit einer psychologischen Dynamik zu tun, die Vergemeinschaftungen mit sich bringen. Darauf möchte ich jetzt näher eingehen. Religiöse Gewalt ist nicht nur im Theoklasmus des Monotheismus begründet, sondern sie hat noch eine andere Form, die zwar damit verbunden ist, aber psychologisch aus anderen Quellen gespeist wird. Ich meine die religiösen Vorstellungen von Gemeinschaft und Vergemeinschaftung. Religion ist in ihrem Kern keine privatistische Angelegenheit, sondern setzt eine Gemeinschaft der Gläubigen voraus, die sich auf ihren Glauben, auf die heiligen Texte und deren ethische Gebote verpflichten und sich ihres Glaubens durch den gemeinsamen Ritus versichern. Religiöse Gemeinschaft ist einerseits virtuell, zum Beispiel als Kirche Jesu Christi oder als Umma der Muslime, andererseits verkörpert sie sich in den realen Gemeinschaften und Gemeinden. In dieser Spannung von virtueller und realer Gemeinde kommt das Problem von Inklusion und Exklusion in noch anderer Schärfe zur Geltung als in der monotheistischen Idee, wobei die modernen religiösen fundamentalistischen Bewegungen es noch einmal zuspitzen. Damit möchte ich mich im Folgenden befassen, wobei es mir vor allem darum geht, die hinter den bewussten Vorstellungen wirksamen unbewussten Fantasien herauszuarbeiten, die den Zusammenhang der Ideen von idealer Harmonie und Einheit mit einer vernichtenden, sich radikalisierenden Gewalt verständlich machen können. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt (2007) hat in seiner große Studie über Gewalt und Toleranz im Christentum aufgezeigt, dass für alle universalistischen Bewegungen und besonders für die Weltreligionen das für sie gefährlichste Problem dann entsteht, wenn sie sich zwar zum Universalismus bekennen, diesen aber »eigenvolklich«, das heißt, exklusiv vertreten möchten und sich als das erwählte Volk verstehen, das allen anderen das Heil bringt. Hier falle die universalistische Idee auf die einer gentilen Stammesreligion zurück. Sich von Gott als christliches Kollektiv, das heißt als seine Kirche autorisiert zu fühlen, erzeugt ein Gefühl der Überlegenheit und einen aggressiven Antrieb, die anderen religiös und politisch zu vereinnahmen. In der Geschichte ist aus dieser Gefahr immer wieder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Realität geworden. Die Idee der Universalität aufrechtzuerhalten, ist deshalb so schwierig, weil sie erfordert, andere in ihrer jeweiligen Eigenheit anzuerkennen und zu respektieren. Auf einem ganz anderen Feld, nämlich dem eines quasi religiösen ideologischen Nationalismus konnte die hier angesprochene Problematik, wie eine ideologische Botschaft und ihre Form der Vergemeinschaftung ursächlich mit Gewalt in Beziehung steht, untersucht werden. Die dort gewonnenen Erkenntnisse stellen sich auch für die Analyse der fundamentalistischen Bewegungen als hilfreich heraus. Ich komme darauf zurück.
Grundzüge fundamentalistischen Denkens – Vergemeinschaftung und Gewalt Fundamentalistische Bewegungen haben sich nicht nur in den drei monotheistischen Religionen ausgebildet, sondern in allen großen Weltreligionen. Außerdem haben sich einige fundamentalistische Strömungen mit einer nationalistischen Ideologie zu ethnonationalistisch-religiösen Varianten verbunden. In der sozialwissenschaftlichen Forschung geht man heutzutage davon aus, dass es bestimmte Charakteristika und Strukturen gibt, die in allen religiös-fundamentalistischen Gruppen in ähnlicher Weise vorzufinden sind (Armstrong, 2000; Marty u. Appleby, 1991, 1995; Riesebrodt, 1990). Almond, Appleby und Sivan definieren Fundamentalismus folgendermaßen: »Fundamentalismus bezeichnet ein Muster religiöser Militanz, durch das selbsternannte ›wahre Gläubige‹ versuchen, die Erosion religiöser Identität aufzuhalten, die Grenzen der religiösen Gemeinschaft zu befestigen und brauchbare Alternativen zu den säkularen Institutionen und Verhaltensweisen zu schaffen« (Almond, Appleby u. Sivan, 2003, S. 17). Die Autoren benutzen das Konzept der »kulturellen Enklave« der Sozialwissenschaftlerin Mary Douglas, um die Charakteristika der fundamentalistischen Vergemeinschaftung theoretisch-systematisch beschreiben und gegen andere verwandte Bewegungen abgrenzen zu können. Ich fasse die wichtigsten Charakteristiken knapp zusammen: Fundamentalistische Bewegungen formieren sich als Abwehr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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gegen die Säkularisierung, Modernisierung und Liberalisierung, die die großen Religionsgemeinschaften durchdrungen haben und die sie als Verfallserscheinungen wahrnehmen. Das Grundmotiv besteht weniger im Hass auf die Moderne, als vielmehr in der Angst der Fundamentalisten, mit ihren religiösen Überzeugungen und grundlegenden Werte keinen Raum mehr zu haben und selbst in ihrer Existenz vernichtet zu werden. Fundamentalismus ist der militante Versuch, diese Entwicklungen wieder rückgängig zu machen. Seine Militanz erhält das Streben nach einer unverrückbaren sicheren persönlichen und gemeinschaftlichen Identität durch ein erhöhtes Empfinden einer unmittelbaren Gefahr. Fundamentalismus gedeiht in Zeiten der Krise, einer tatsächlichen oder einer subjektiv erlebten. Bewertet wird sie allerdings nicht als eine soziale oder politische Krise, sondern als eine Krise der Identität, die zu einer Auslöschung der Religion oder deren Auflösung in einer synkretistischen Kultur führt. Krisen werden auf dem Hintergrund eines Heilsplans verstanden, der dem Niedergang und Verfall einen Sinn gibt und das baldige Ende einer Ära und eine Wende zum Besseren in Aussicht stellt. Apokalyptisches Denken ist das Kennzeichen fast aller fundamentalistischen Bewegungen. Sofern sich die jeweiligen fundamentalistischen Bewegungen nicht von der Welt abwenden, sondern aktiv eingreifen möchten, zielen sie darauf ab, die existierenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen durch ein umfassendes System zu ersetzen, das aus religiösen Prinzipien abgeleitet ist und Regelungen für alle Bereiche des Lebens, für Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur umfasst. Alle Institutionen sollen dem göttlichen Gesetz untergeordnet werden. Fundamentalismus hat deshalb einen totalitären Impetus. Die Traditionsbestände der Religion werden selektiv für explizite politische Zwecke angeeignet und funktionalisiert. Fundamentalisten bekämpfen jede Form von historischem Bewusstsein, das zur Relativierung von heiligen Texten führt, sie sind gegen jede Form von Hermeneutik. Die heiligen Texte werden als buchstäblich von Gott eingegeben und damit als unfehlbar aufgefasst. Ihre religiöse Identität, die sich darauf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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baut, ist quasi ontologisch fundiert und nicht durch historische und soziale Veränderungen zu erschüttern. Fundamentalisten ziehen strenge Grenzen zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die Grenze schützt die Gruppe vor Verunreinigung und Vermischung und garantiert der Gruppe Reinheit. Die Widersprüche der Welt und die Ambivalenz der psychischen Realität werden aufgelöst. Die Welt draußen ist sündig, verdammt und unrein; die Welt drinnen erlöst und rein. Bekehrungsriten sichern die Grenze. Strenge gesellschaftliche und moralische Verhaltensregeln haben eine affektiv starke gleichmachende und vereinheitlichende Wirkung. Mitgliedschaft ist freiwillig und im Inneren der Enklave herrscht eine Brüderlichkeitsethik und eine Gleichheit der Mitglieder. Hierarchie wird so gering wie möglich gehalten. Leitungsfunktion hat der autoritative religiöse Text, der für alle Fragen eine Antwort bereithält. Er muss aber interpretiert werden, hier hat dann in der Regel ein charismatischer Führer letzte Autorität. Die innere Homogenität der Gruppe und die Gleichheit in der Reinheit lassen keine Ambivalenz zu und keine innere Opposition. Jeder Ansatz dazu wird als Verrat gebrandmarkt. Das betroffene Mitglied wird verfolgt oder aus der Gruppe entfernt. Die Folge sind Spaltungen, die eine Menge Energie kosten, aber funktional sind, weil sie die Gleichheit der Mitglieder und die Homogenität der Gruppe erhalten. Fundamentalismus definiert sich durch diese Eigenschaften als »strong religion« (Almond et al., 2003), gekennzeichnet durch Reinheit, wobei diese mit der Einheitlichkeit des Glaubens und seiner Ausübung gleichgesetzt wird. Fundamentalisten verachten die Kompromisse des religiösen Establishments mit den säkularen Mächten. Der inneren Dynamik der fundamentalistischen Bewegungen, die sich um Reinheit und Gleichheit dreht, ist nun eine extremistische Intoleranz und Gewalt inhärent, die latent bleiben kann und nicht immer zum Ausbruch kommen muss. Im Folgenden möchte ich diese Zusammenhänge weiter klären, indem ich versuche die Tiefenstruktur fundamentalistischer Mentalitäten offenzulegen. Ich beginne mit der Apokalyptik, die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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wir in allen religiösen Fundamentalismen finden und die von einigen Forschern als der zentrale Faktor fundamentalistischen Denkens innerhalb der drei monotheistischen Religionen angesehen wird.2 Nach dem Niedergang der Religion infolge der Aufklärung finden wir das apokalyptische Phantasma in säkularisierter Form in den Untergangsfantasien und Heilserwartungen der Fortschrittsideologien und der totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts wieder. Mit der Rückkehr der Religion, wie wir sie heute erleben, gewinnt auch das religiös-apokalyptische Denken wieder Zulauf und Attraktivität.
Fundamentalismus und apokalyptisches Denken Apokalyptik tritt in Gemeinschaften auf, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen und diese Bedrohung heilsgeschichtlich interpretieren. Die Krise wird zu einem Anzeichen eines kommenden Endkampfes, in dem das Alte untergeht und ein neuer harmonischer Zustand heraufkommt, der von aller Ungewissheit, Unsicherheit und Verfolgung erlöst. Grundlage dieses Denkens ist die kompromisslose Trennung von Gut und Böse. Trimondi und Trimondi (2006) sprechen gar von einer apokalyptischen Matrix als einem Muster, das sich wie ein Code in den Weltreligionen auffinden lässt. Diese Matrix hat den Untergang der Welt und ihre Neuentstehung zum Inhalt. Es ist eine ZweiÄonen-Lehre, auf der einen Seite der Äon der bestehenden Welt, die vernichtet werden muss, auf der anderen Seite der Äon des 2
Ostow (1996) geht davon aus, dass klinisch gesehen apokalyptisches Denken aus abgewehrtem und nach außen gewendetem suizidalem Denken herstammt. Apokalyptische Gewalt werde deshalb letzten Endes wieder selbstdestruktiv. Ostow verankert seinen »apocalyptic frame of mind« im primärprozesshaften Denken und in einer defizienten Affektregulation, die die Welt dualistisch in Kategporien von Gut und Böse wahrnimmt. Strozier stellt fest: »Fundamentalisms […] has a decidedly apocalyptic character […] it is a remarkable myth of violence, revenge, and renewal« (2002, S. 2). Trimondi und Trimondi (2006) beschreiben den Endzeit-Messianismus sowohl des jüdischen, christlichen und islamischen Fundamentalismus. Alle drei Formen orientierten sich an einer apokalyptischen Matrix. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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herbeigesehnten Friedens-Millenniums. Das Böse, das immer stärker von der Welt Besitz ergriffen hat, muss vernichtet werden, damit der harmonisch friedfertige Endzustand eintreten kann. In den Schilderungen der Apokalypse paaren sich Rachevorstellungen, Hass und grausame Bestrafungsfantasien mit einer Sehnsucht nach einem paradiesischen Zustand. In ihm haben nach der Vernichtung des Bösen alle Rache und Hass ein Ende. Dieses Nebeneinander von grausamsten Vernichtungsfantasien und einem ideal-narzisstischen Zustand gilt es zu erklären.3 Als Untersuchungsobjekt wähle ich den amerikanischen protestantischen Fundamentalismus, in dem das apokalyptische Denken weit verbreitet ist. Nach einer Time/CNN-Umfrage sind 59 % der US Amerikaner davon überzeugt, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Ereignisse der Johannesoffenbarung realisieren. 25 % glauben, dass der 11. September in der Bibel vorausgesagt ist (zit. bei Trimondi u. Trimondi, 2006, S. 9). Charles Strozier (2002) hat in den 1990er-Jahren psychoanalytisch orientierte lebensgeschichtliche Interviews mit protestantischen Fundamentalisten in den USA geführt. Hauptmerkmal dieser Narrative ist ihre Gebrochenheit. Stets wird die Bekehrung als entscheidender Einschnitt im Leben geschildert. Sie fand zumeist in der Spätadoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter statt und führte zu einer Scheidung des Lebens in Vorher und Nachher, was sich im Bild eines geteilten Selbst niederschlug. Häufig sind schwere langanhaltende persönliche Krisen oder Traumatisierungen vorausgegangen, die als psychomentales Totsein beschrieben werden, dem dann eine Wiedergeburt zum Leben 3
In der Forschung werden zwei Formen des apokalyptischen Denkens unterschieden: der Quietismus, der die Unbilden der Gegenwart passiv hinnimmt in Erwartung des Untergangs der Welt und der Heraufkunft einer apokalyptischen Erlösung. Der Aktivismus dagegen fühlt sich berufen, in diesen geschichtlichen Prozess selbst einzugreifen, um den Übergang zur erlösten Welt zu beschleunigen. Mühlmann (1964, zit. in Kippenberg, 2008b) betont nun, dass auch der duldenden quietistischen Apokalyptik die Tendenz zur Gewalt inhärent ist. Die Weltverneinung stellt auch in diesem Zustand eine aufgestaute Aggression dar. Sie kann in einer Krise einen entsprechenden Handlungsverlauf auslösen und in Terror umschlagen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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durch den Glauben folgte. Die Bekehrung wird zu einer überwältigenden authentischen Erfahrung und die Wiedergeburt zu einem dramatischen Akt der Selbsterschaffung. Für diese Neukonstruktion von Lebensgeschichte bilden die von der fundamentalistischen Lehre bereitgestellten Sinnstrukturen das Gerüst, in das die individuellen Erfahrungen eingepasst werden. Der Konvertit taucht mit seiner persönlichen Geschichte in ein heilsgeschichtliches Drama von Zerstörung und Errettung ein. Das wiedergeborene Selbst ist vom Tode erlöst, es lebt ewig und ruht schließlich im Frieden mit Gott. Die Vergangenheit ist schlecht und wertlos und wird abgespalten. Die Sehnsucht nach Verwandlung entfaltet eine Eigendynamik und steuert auf ein apokalyptisches Drama der Endzeit zu. Sie steht bald bevor. Beginnt sie, werden die Gläubigen plötzlich entrückt und in den Himmel erhoben, wo sie wie in einem paradiesischen Endzustand mit Jesus in den Wolken friedlich und harmonisch das tausendjährige Reich bevölkern. Auf der Erde dagegen ist die Zeit der großen Trübsal angebrochen, apokalyptische Kriege führen zur Vernichtung der Ungläubigen und zur Reinigung der Erde von Schmutz und Sünde. Ausgedehnte Reinigungs- und Vernichtungsfantasien sind in der entsprechenden Literatur von einer massiven blutrünstigen und geradezu lustvollen Grausamkeit gespeist. In den fundamentalistischen Narrativen, die Strozier zugänglich macht, fällt die Kälte und Erbarmungslosigkeit auf, mit der die Vernichtung der ungläubigen Mitmenschen in diesem Enddrama geschildert wird. Psychoanalytisch gesehen verkörpern die Ungläubigen das eigene sündige schlechte Selbst aus der Vergangenheit der Gläubigen, das sie aus sich selbst projektiv ausgeschlossen haben und nun in den Ungläubigen endgültig vernichtet sehen wollen. Diese projektive Abspaltung wird zudem sakral überformt, indem der eine erwählt ist, der andere als Ungläubiger aber von Gott zurückgewiesen wird. Das apokalyptische Denken wird zum Vehikel für die eigene abgespaltene Destruktivität, gepaart mit der Fantasie eines idealen harmonischen millennialistischen Endzustandes, in den der Gläubige eingehen wird. Die Präokkupation mit Reinigungsfantasien ist getrieben von der Vorstellung, das Böse, Schlechte könnte end© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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gültig vernichtet werden. Diese doktrinäre apokalyptische Fantasiewelt entlarvt die panische Angst vieler Fundamentalisten, von den Säkularisten ausgerottet zu werden, als abgespaltene eigene Destruktionsfantasien, die sie auf die säkulare Umwelt projiziert haben. Die fundamentalistische Religion ist radikal und hart und kann zur Abwehr passiver und libidinöser Bedürfnisse dienen. Sie stellt äußere Objekte bereit, auf die Ängste und Affekte ebenso wie schwache, verachtete Selbstanteile projiziert, dort verfolgt und vernichtet werden können. Das Ergebnis solcher religiös fundamentalistischen Sozialisierungsprozesse ist dann, dass die toleranten, mitfühlenden versöhnlichen Lehren der jeweiligen Religion verworfen werden und stattdessen eine Religion des Zorns, der Feindschaft und der Rache kultiviert wird (Armstrong, 2000). Diese psychologischen Grundstrukturen, eruiert aus dem Selbst- und Weltverständnis des christlichen Fundamentalismus, finden wir mit entsprechenden Abwandlungen auch in der Welt des fundamentalistischen Islamismus, dem ich mich nun zuwenden möchte.
Die mentale Welt des fundamentalistischen Islamismus und deren Tiefenstrukturen Fundamentalismus kann nur interdisziplinär erforscht werden. Erst eine vorgängige historisch-sozialwissenschaftliche Analyse kann den Ort aufzeigen, an dem eine psychoanalytische Betrachtung einsetzen kann. Deshalb möchte ich zunächst einige dieser Analysen zusammenfassend darstellen. Nachdem soziale und politische Reformen scheiterten, die in den arabischen Ländern nach dem Ende des Osmanischen Reiches durchgeführt worden waren, bekamen fundamentalistische Richtungen in der muslimischen Welt mehr und mehr Oberwasser, vor allem die Bewegung, die aus der um 1920 in Ägypten entstandenen Muslimbruderschaft hervorgegangen war (vgl. zum Folgenden Armstrong, 2000; Bergesen, 2008; Lewis, 1994, 2003; M. Qutb, 1964; S. Qutb, 2001; Schäfer, 2008; Serauky, 2000). Sie versteht sich als politische Theologie und als dritter Weg, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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neben dem westlichen Kapitalismus und dem östlichen Kommunismus. Diese islamistisch-fundamentalistische Bewegung bildet heute eine mächtige Strömung in der muslimischen Welt. Ihre Anhänger geißeln die Übernahme westlicher Lebens- und Denkformen als tiefgehende Krise des Islam, als neue Barbarei und Rückfall in die vorislamische Zeit. Ihr Ziel ist, Religion und Politik wieder zusammenzuführen, die weltlichen Regime abzuschaffen und zu einer ganzheitlich religiös-politischen Weltanschauung zurückzukehren. Sie propagieren eine Rückbesinnung auf das eigene Modell und idealisieren eine Rückkehr zu den Anfängen der als ideal und noch nicht verdorben gedachten Zeit der muslimischen Gemeinschaft im Medina des 7. Jahrhunderts. Es wäre allerdings verkehrt, dies als Traditionalismus zu betrachten. Sayyid Qutb, einer der wichtigsten Vordenker dieser radikalen Bewegung, war ein religiöser Revolutionär (Qutb, 2001; Bergesen, 2008). Für ihn ist die Oneness of God, die Einheit und Einzigkeit Gottes, das oberste und einzige Prinzip eines wahren Monotheismus. Die Botschaft »Es gibt keinen Gott außer Gott« heißt für Qutb, Gott alleine gebührt Gehorsam und es kann für den wahren Muslim keine Unterordnung unter eine politische Macht oder andere Autorität geben. Regeln und Gesetze können nur von Gott selbst stammen, wie er sie im Koran geoffenbart hat. Islam ist für ihn deshalb nicht nur eine Glaubensangelegenheit, sondern auch eine soziale Bewegung. Qutb propagiert die Rückkehr zu dem religiös-politischen System der ersten Muslime. Sie waren die wahren und reinen Muslime, weil sie die Leitlinien der Politik, des Berufslebens, der Ökonomie und aller Aspekte ihres Handelns aus dem Koran abgeleitet haben. Qutb strebt einen radikalen sozialen Wandel an, um eine ideale Welt zu schaffen, in der allein Gottes Autorität in den Herzen und Gewissen der Menschen herrscht ebenso wie in allen Angelegenheiten des sozialen und politischen Lebens. Alles muss für Gott gereinigt werden, sodass alle nur ihm gehorchen und kein anderer Mensch über die Gläubigen herrschen kann. Das ist für Qutb wahre Freiheit. Das heißt aber auch, alle weltlichen Systeme, die dem wahren Islam im Wege stehen, zu vernichten. Der Dschihad ist deshalb unausweichlich. Um Gottes Sache durchzusetzen, bedarf es nicht nur der Predigt und der Überzeu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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gungsarbeit, sondern auch militärischer Mittel. Um die Herrschaft Gottes zu errichten, muss die Reinigung zuerst in den eigenen islamischen Ländern beginnen und dann auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Olivier Roy (2006), der international als einer der führenden Experten des Islamismus gilt, sieht diese Strategie eines politischen Islamismus, Religion und Politik wieder in einem islamischen Staat und in einer wahrhaft islamischen Gesellschaft zusammenzuführen, als gescheitert an. Gescheitert an den eigenen autoritären Regimen in den muslimischen Ländern, aber auch an der faktischen Verwestlichung und Modernisierung der muslimischen Gesellschaften. Der Islam sei dabei, sich zu entterritorialisieren und sich aus der Verbindung mit spezifischen Kulturen herauszulösen. Eine Ursache ist die Globalisierung, die zur Bildung von islamischen Minderheiten in den westlichen Ländern geführt hat. Roy sieht heute einen Post-Islamismus und Neo-Fundamentalismus im Vormarsch, der sich aus dem Salafismus und aus dem saudi-arabischen Wahhabismus speist. Fälschlicherweise werde er als Reaktion einer sich bedroht fühlenden traditionellen Kultur angesehen. In Wirklichkeit sei dieser aber das deutlichste Zeichen eines Prozesses der Dekulturation und Entwurzelung des Einzelnen durch die Moderne. Die Betonung liege jetzt nicht mehr auf der gesellschaftlichen religiösen Ordnung, die wiederhergestellt werden soll, sondern auf dem Individuum und seinem Glauben. Es gehe nicht mehr um Religion, die in eine bestimmte Kultur eingebettet ist, sondern um Religiosität des einzelnen Menschen. Religion und Politik werden als getrennte Sphären angesehen. Die Schaffung einer reinen islamischen Religion ist das Ziel, die sich von allen weltlichen und säkularen Elementen befreit hat. Es gilt, einen echten Islam zu praktizieren, das Selbst zu reinigen, das Alltagsleben zu sakralisieren und alle religiösen Regeln und Verhaltensvorschriften streng zu beachten. Auch die Umma als die Glaubensgemeinschaft aller Muslime wird entterritorialisiert und ist nicht mehr an geografische Gebiete gebunden. Sie wird zu einer homogenen Gemeinschaft von Gleichen ohne Bindung an ein natürliches kulturelles Milieu. Damit mutiert sie zu einer abstrakten, virtuellen Glaubensgemeinschaft und wird noch viel stärker von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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imaginären Elementen geformt als in der traditionellen Version. Die Radikalen unter den Neo-Fundamentalisten, die sich dem Dschihad verschrieben haben, haben nicht mehr die Schaffung einer islamischen Nation zum Ziel. Sie sehen sich in eine weltweite Umwälzung involviert und träumen davon, dass der Westen und seine verderbte Zivilisation eines Tages besiegt und alle Menschen unter der Herrschaft des Islam vereint sein werden. Ich möchte nun der Frage nachgehen, wie eine solche enge und schlichte Weltsicht des Fundamentalismus und Neo-Fundamentalismus unter modernen und gebildeten Muslimen psychologisch so anziehend werden konnte. Es geht mir dabei nicht nur darum, die Anziehungskraft solcher fundamentalistischer Ideologien durchsichtiger zu machen, sondern auch die ihnen inhärente Tendenz zur Radikalisierung aufzuzeigen. Mein Ziel ist es, durchsichtig zu machen, welche unbewussten Fantasien dabei ins Spiel kommen. Methodisch und inhaltlich stütze ich mich auf das Konzept der ubiquitären unbewussten Fantasien (vgl. Bendkower, 1991). Es sind Fantasien, die von allen Menschen mehr oder weniger geteilt werden. Sie sind deshalb ubiquitär, weil sie mit den Grundtatsachen des Lebens, der Verknüpfung von Körperbedürfnissen mit seelischer Entwicklung und Fantasiebildung zu tun haben, insbesondere mit der psychosexuellen Reifung, der Abhängigkeit von und der Versorgung durch die Mutter, der Rivalität mit den Geschwistern, der Urszene und dem Ödipuskomplex. Als Abkömmlinge des Unbewussten drängen diese infantilen Fantasien ins Bewusstsein und tauchen damit in der Realität und im sozialen Leben auf. Sie besitzen eine Tendenz zur Externalisierung und heften sich einerseits an die Wahrnehmung und Formung von gesellschaftlichen Ereignissen, Institutionen und kulturellen Wertungsmustern und prägen sie. Andererseits werden sie von außen, also von gesellschaftlichen Agenturen, in Dienst genommen und durch objektive Strukturen, durch Institutionen, Verkehrsformen und Sprachtraditionen geformt und damit kanalisiert. In einer früheren Arbeit habe ich am Beispiel des deutschen Nationalismus und Antisemitismus die Emotionen und Affekte sowie die damit verbundenen unbewussten Fantasien untersucht, die bei der Vorstellung der Nation in den Menschen akti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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viert werden (Bohleber, 1997, 2002). Sie können vor allem in gesellschaftlichen Krisensituationen auf Menschen eine starke Faszination ausüben und massive Aggression und Gewalt auslösen. Ein Vergleich der Vorstellungswelten des radikalen deutschen Nationalismus nach 1918 mit der des islamistischen Fundamentalismus fördert erstaunliche Ähnlichkeiten zutage. Dennoch könnte man einem Vergleich der beiden entgegenhalten, dass der Nationalismus westlicher Provenienz in den islamischen Staaten nicht die emotionale phantasmatische Potenz wie in Europa entfaltete, sondern dass hier tiefer reichende und ältere religiöse Loyalitäten vorherrschten. Aber diese Kritik verliert die Tatsache aus dem Blick, dass Nationalismus oft der Erbe der Religion war, zudem hat er besonders in seinen totalitären Ausprägungen den Charakter einer politischen Religion angenommen (Bärsch, 1998). Bei aller Vorsicht wegen der Unterschiede erscheint es mir dennoch sinnvoll, auf der Ebene der psychischen Tiefenstrukturen die Vorstellungswelten des Nationalismus und des politisch-religiösen Islam zu vergleichen, der die Umma als eine Gemeinschaft aller Muslime, als die eine islamische Nation versteht. Unterstützt fühle ich mich dabei von Benedict Anderson (1983), der auch von einer untergründigen Verbindung ausgeht, wenn er bei seiner Definition der Nation als einer »imagined community« die kulturellen Systeme der »Verwandtschaft« und der »Religion« zugrunde legt. Folgende unbewussten Vorstellungskomplexe haben sich bei der Analyse des radikalen Nationalismus als bedeutsam erwiesen und sie dienen mir heuristisch als Grundlage, um die Tiefendimension der politischen Vorstellungen im islamistischen Fundamentalismus zu untersuchen: Versorgungsfantasien und Geschwisterrivalität, Reinheit und die Vorstellung vom Anderen, Einheitsvorstellungen in der Gruppe und Verschmelzungsfantasien. In dem ersten Fantasiesystem, das um unbewusste Versorgungsfantasien und Geschwisterrivalität kreist, wird der Fremde als Eindringling erlebt, der in eine als rechtmäßiges Eigentum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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empfundene Sphäre eindringt, den Einheimischen verdrängt, seines Besitzes (unbewusst des Primärobjektes) beraubt und dort als Parasit und Schmarotzer haust. Unbewusst ist dieser Fremde der geschwisterliche Rivale, der die narzisstisch idealisierte Union mit der kollektiven Mutterimago zerstört. Diese Vorstellungswelt scheint im Islamismus die am wenigsten ausgeprägte Fantasie zu sein. Sie kommt viel weniger vor und hat nicht die phantasmatische Kraft erlangt wie im deutschen Antisemitismus, in dem die Juden als alles verzehrendes Ungeziefer imaginiert wurden. Eine Fundstelle möchte ich dennoch zur Illustration anführen: In einer Erklärung Bin Ladens, in der er zum Dschihad gegen die Amerikaner und ihre Verbündeten aufruft, spricht er davon, dass die arabische Halbinsel von Kreuzzüglern wie von Heuschrecken heimgesucht werde, die ihre Reichtümer auffressen (zit. nach Kippenberg, 2008a, S. 164).
Reinheit und die Vorstellung vom Anderen Wie schon deutlich geworden ist, ist dieses Fantasiesystem im fundamentalistischen Denken vorherrschend. Verglichen mit der Projektion von verbotenen Triebstrebungen auf den Fremden, der dann als schmutzig erlebt wird, ist der Zusammenhang der Identität einer Gruppe mit Reinheitsvorstellungen komplexer. Wie Freud (1921) gezeigt hat, blenden Angehörige der Großgruppe in einer narzisstischen Identifizierung miteinander die individuellen Unterschiede aus. Ihrer Bindung und Identität versichern sie sich dadurch, dass sie so sind wie die anderen Gruppenmitglieder. Andersartiges und Fremdes taucht dann als das Verunreinigende auf. Wie Mary Douglas (1966) aufzeigte, ist Schmutz in einer kulturgeschichtlich alten Definition etwas, was fehl am Platze ist. Somit wird als Schmutz etwas bewertet, das nicht dazu gehören darf, wenn ein Muster oder ein symbolisches System Bestand haben soll. Ungewissheit, Unsicherheit und Ambivalenz können nicht toleriert, sondern müssen als unrein beseitigt werden, um ein homogenes, symbolisch konsistentes Universum zu erschaffen. Rituelle Reinheit spielt im Islam eine große Rolle und es ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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wundert nicht, dass Reinheitsfantasien im Islamismus eine außerordentliche Bedeutung für die eigene Identität haben. In einer großen islamistischen politischen Zeitschrift kann man über das Eindringen westlicher Ideen und Lebensformen Folgendes lesen: »Der Islam und die Ungläubigen sind wie frisches klares Wasser und wie Wasser vom Boden der vorstädtischen Abwasserkanäle. Wenn nur ein Tropfen des schmutzigen Wassers in das klare Wasser fällt, so verringert sich die Klarheit. In ähnlicher Weise bedarf es nur eines Tropfens vom Schmutz des Unglaubens, um den Islam im Westen zu kontaminieren« (zit. bei Raban, 2002, S. 32). Sayyid Qutb schreibt dieses Zerstörungswerk an der Reinheit den Juden zu: »Die Juden befreien die sinnlichen Begierden von ihren Beschränkungen und sie zerstören die moralische Grundlage auf der der reine Glaube basiert. Sie tun dies, damit der Glaube in jenen Dreck gezogen werden soll, den sie reichlich auf dieser Welt verbreiten« (Nettler, 1986, S. 104).4 Ähnliche Beispiele dieses Denkens gibt es viele. Neben der Verunreinigung spielen auch Bilder der Vergiftung eine große Rolle. Besonders dem weiblichen Körper wird eine außerordentliche Macht von Verunreinigung, Verführung und Zerstörung zugeschrieben. Er dient auch als Metapher für den Zustand der Gesellschaft, die sich durch verführerische böse Mächte bedroht sieht (Riesebrodt, 2000, S. 121). Ich möchte hier noch etwas ausholen. Psychologisch ist die Wahrnehmung des Anderen beziehungsweise des Fremden und des Eigenen reziprok miteinander verknüpft. Wie schon von Ren Spitz (1965) beschrieben, ist die Fremdenangst des Kindes nicht eine Folge der Fremdheit dieser Person, sondern Reaktion auf die Wahrnehmung, dass das Gesicht des Fremden nicht mit den Gedächtnisspuren des Gesichts der Mutter übereinstimmt. Somit verweist die Wahrnehmung des Fremden das Kind zurück auf die Mutter und verstärkt die Bindung an sie, vorausgesetzt das Kind fühlt sich in der Beziehung sicher. Dann kann es angstfrei Kontakt aufnehmen und den Fremden erkunden. Die patholo4 Ich verdanke diesen Fund Matthias Küntzel, der mir die englische Teildokumentation des Essays von Qutb in der Arbeit von Nettler zugänglich gemacht hat.
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gische Form dieser Beziehung sucht dagegen den Fremden auszuschalten und sich seiner selbst in einer narzisstischen Spiegelung in der Mutter zu versichern. Herrscht auf der Gruppenebene eine Homogenitätsfantasie vor, so kommt es zu einer Spiegelung und Selbstvergewisserung in denen, die so sind wie man selbst. Die dennoch vorhandene unvermeidliche Ambivalenz führt zu aggressiver Aufladung von Unterschieden innerhalb der Gruppe, die aber ausgeblendet und nach außen projiziert werden müssen. Eine solche Welt von narzisstischer Spiegelung und Reinheit führt eine massive verfolgende Aggressivität mit sich gegen den Andersartigen, der den inneren Zusammenhalt bedroht. Dieser Narzissmus kann nichts Anderes, Abweichendes neben sich dulden und hat die Tendenz, sich fortschreitend zu radikalisieren. Reinheit ist nur durch Aussonderung zu erlangen und soll zur Heilung der Gemeinschaft führen. Zugehörigkeit zu einer idealisierten reinen Gemeinschaft und verfolgende Gewalt schaukeln sich auf diese Weise gegenseitig auf. Ostow (1996) spricht in diesem Zusammenhang von »Pogrom-Mentalität«, und Adorno (1950) nannte es einen »psychischen Totalitarismus«.
Einheitsvorstellungen und Verschmelzungsfantasien Die neuere psychoanalytische Gruppenforschung hat aufgedeckt, dass die Regression in einer Gruppe oder Masse weit hinter das von Freud beschriebene ödipale Niveau zurückgeht und damit noch andere, tiefer reichende narzisstische Identifizierungen wirksam sind (Anzieu, 1975; Bion, 1961; Jaques, 1981; Kreeger, 1975; Money-Kyrle, 1951). Indem die Mitglieder regressiv zur Gruppe verschmelzen, wird diese zum illusionären Ersatz für das erste verlorene Objekt, die Mutter der Frühzeit. Die Gruppenfantasie ersetzt das individuelle Ich-Ideal durch ein gemeinsames und erzeugt ein manisches Hochgefühl. Kommt es zur Herrschaft und verbindet sich mit Fantasien eigener Überlegenheit, werden die Realitätsprüfung der Individuen und die Forderungen des eigenen Gewissens außer Kraft gesetzt, während das Selbstgefühl durch die Verschmelzung mit dem natio© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nalen oder dem Gruppenselbst enorm stimuliert wird. Die Frage »Wer bin ich?« ist ersetzt durch »Zu wem gehöre ich?« Für diese Menschen befindet sich auf der einen Seite die Welt der großen symbiotischen Einheit und, davon abgespalten, auf der anderen Seite die Welt der Rivalität, Konkurrenz und Pluralität. Die islamistische Vorstellung von der Umma als der Gemeinschaft aller Muslime ist ein Paradebeispiel dieses fusionären Einheitsdenkens. In den Augen der Muslime besteht die Menschheit aus Kollektiven. Bassam Tibi (1993) wies darauf hin, dass der Islam zwar die Individuation des Einzelnen anerkenne, dies aber nur partiell tue. Eine Bestimmung des Menschen als freies Individuum, wie wir sie aus der abendländischen Tradition kennen, fehle dort weitgehend. Man kann annehmen, dass sich auch hier durch die Migration von Muslimen in westliche Gesellschaften derzeit Wandlungen vollziehen. Der Muslim gehört zur Umma als der Gemeinschaft aller Muslime, eine Zugehörigkeit, die ihn definiert und aus der er sich nicht verabschieden kann, vergleichbar mit einer niemals aufkündbaren Stammeszugehörigkeit (Tibi, 1993, S. 42). So ist die Umma eine homogene Gemeinschaft ohne Teilung, ohne Hierarchie und andere soziale Differenzierungen. Die Wallfahrt nach Mekka wird als Vereinigung der Einzelnen mit der Umma idealisiert, wodurch die Ichbezogenheit des Individuums überwunden werde. Ein iranischer Philosoph beschreibt das siebenfache Umrunden der Kabah folgendermaßen: »Du wirst von der Woge der Begeisterung und der Anziehungskraft der Gemeinschaft getragen; du bist nicht mehr. Es gibt nur noch die Gemeinschaft […] Nun bist du Teil der Schöpfung geworden. Du befindest dich in der Umlaufbahn dieses Sonnensystems, du drehst dich um Gott und allmählich fühlst du dich nicht mehr« (Armstrong, 2000/2007, S. 360). Nun ist die Gemeinschaft der Umma aber keineswegs homogen, sondern in der Realität von Uneinigkeit, Streit und Zwietracht erfüllt. Die Einheit ist eine Fantasievorstellung, die aber umso mehr Macht über die Köpfe erlangt, je mehr die zersetzenden Tendenzen und feindseligen Impulse auf die religiösen und ethnischen Minderheiten im Gebiet des Islam oder auf die Welt der Ungläubigen als Feinde projiziert werden können, die sich gegen sie verschworen haben. Durch dieses Denken in Kol© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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lektiven wird der bedrohliche fremde Andere auch nicht als unabhängiges Individuum gesehen, sondern er ist ein Agent des Feindes, der die eigene Homogenität zerstören möchte. Die Beziehungen zur Außenwelt werden manichäisch wahrgenommen. Auf der einen Seite befindet sich die imaginäre Umma, auf der anderen Seite die Welt der Feinde, die geradezu dämonisiert werden. Uneinigkeit, Missstände und Fehler liegen dann nicht in der eigenen Verantwortung, sondern sind Ergebnis von bösen satanischen Machenschaften des Westens und der Juden, als deren Opfer man sich begreift. Ein Muslim, der anders denkt, gerät leicht in die Rolle des Verräters. Dieses Verschwörungsdenken ist in der arabischen Welt weit verbreitet. Die Verschwörung des Westens gegen den Islam gilt als ein lange bestehender Plan, der mit den Kreuzzügen begonnen hat, die Auflösung des Kalifats sowie die Trennung von Religion und Staat bewirkte und die Zerstörung der islamischen Religion und Kultur zum Ziel hat. Wie Bassam Tibi gezeigt hat, integriert dieses Verschwörungsdenken eine radikale Rhetorik, die »keinen Erkenntnis- oder Mitteilungswert mehr [hat]; sie hat lediglich die Funktion, die eigene weltfremde Wahrnehmung gegenüber der ihr widersprechenden äußeren Welt psychologisch und rhetorisch zu festigen« (Tibi, 1993, S. 43). Der islamische Fundamentalismus wird so zu einem in sich geschlossenen religiös totalitären System, beherrscht von imaginären Vorstellungen, die aus unbewussten Phantasmen gespeist werden. Gegen jede Realität wird eine imaginäre Gemeinschaft idealisiert. Harmonie und Frieden als ersehnter Endzustand erfordern die Auslöschung und Vernichtung der alten verdorbenen westlichen Zivilisation. Idealität und Terror sind bekanntlich miteinander verschwistert.
Schlussbemerkung Mein Ausgangspunkt war, den inhärenten Zusammenhang von Formen religiöser Vergemeinschaftung und Gewalt aufzuzeigen. Er wird durch unbewusste Fantasiesysteme gestiftet, die durch diese religiösen fundamentalistischen Vorstellungswelten aktiviert werden. Ich versuchte zu zeigen, wie die inhärente Verbindung von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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narzisstischer Reinheits-, Einheits- und Gleichheitsvorstellung mit massiver Gewalt auf der Fantasie eines vorambivalenten narzisstischen Idealzustandes beruht. Der Andere und der Fremde wird dabei zum Ungläubigen, zum Eindringling und Störenfried, den man gleichzeitig zur Projektion und Verfolgung benötigt, um den idealen Zustand phantasmatisch aufrechterhalten zu können. Geleugnet wird letztlich die Unaufhebbarkeit der Ambivalenz. Die Sehnsucht nach einem solchen präambivalenten narzisstischen Idealzustand kann vor allem in Zeiten der Krise verstärkt auftreten und sich in Gruppen machtvoll durchsetzen. Die Gefahr liegt dann darin, dass solche ideologischen Vorstellungen und Fantasien Aggression von enorm destruktivem Potenzial aktivieren kann. Dennoch führt von da aus kein gerader Weg in den Terrorismus, dazu bedarf es weiterer individueller Motive und einer zusätzlichen Indoktrination. Aber Reinheit ist nie positiv aus sich selbst heraus zu bestimmen, sondern braucht immer den Gegenpart oder das nicht so Reine. Reinigungsphantasmen haben die Tendenz, sich immer mehr zu radikalisieren und paranoid aufzuladen, was zu immer massiverer ausschließender oder vernichtender Gewalt führen kann. Am Schluss frisst die Revolution bekanntlich ihre Kinder. Das ist die eine Möglichkeit des Ausgangs. Die andere besteht darin, dass die Welt niemals in einem solchen fundamentalistisch totalitären System aufgeht, auch wenn sich die Gemeinschaft radikal dagegen abschottet. Das Andere und alternative Sichtweisen sind auf diesem Wege nie ganz auszuschalten. Der psychologisch fundamentalistische Prozess der Purifikation kommt deshalb nie zu einem Ende. Er birgt aber auch die Möglichkeit zur individuellen Besinnung und Kritik und somit zur Umkehr und zum Kompromiss.
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Idealität und Zerstörungswut Diskussion des Beitrags von Werner Bohleber
Wir sind heutzutage konfrontiert mit radikaler Gewalt im Namen der Religion, die am 11. September 2001 als ein Schock auf das westliche Denken traf. Als Präsident Bush unmittelbar danach von dem Kampf zwischen Gut und Böse sprach und in seinem berühmten Versprecher auf einen Kreuzzug (crusader) verwies, war szenisch alles bereitet für eine Konfrontation, nicht zwischen der Moderne und den Traditionen des islamischen Fundamentalismus, sondern zwischen zwei fundamentalistischen Positionen: der islamischen und der christlichen (Juergensmeyer, 2000). Bush begab sich damit auf dieselbe Ebene wie Osama bin Laden, wobei beide Positionen einen Kampf gegen das Böse und gesellschaftliche Forderungen nach Reinwaschung von unlauteren Elementen implizieren. Wir wissen, dass diese Entwicklung umgewandelt und konzeptualisiert wurde zu einem Kampf von Vernunft, Moderne und Demokratie gegen militanten Fundamentalismus, Traditionalismus und Missachtung von Menschenrechten. Es fällt jedoch schwer, nicht auf beiden Seiten die fundamentalistischen Prägungen zu sehen. Das Konzept der Achse des Bösen beispielsweise goss Öl ins Feuer derjenigen, die daran glaubten, dass dies tatsächlich ein Kampf der Ideen und Religionen war. Deshalb ist es sehr passend, wenn Bohleber in seinem Beitrag den Fokus auf die Beziehung zwischen Religion im Allgemeinen und speziell den monotheistischen Religionen mit ihren fundamentalistischen Versionen legt, sowie auf die Beziehungen zwischen religiöser Idealisierung, religiöser Gruppensoziologie und der Psychologie von Gruppen und Individuen. Eine zentrale These in Bohlebers Beitrag ist, dass fundamen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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talistische Religion allgegenwärtige Fantasien anspricht und ihnen Ausdruck verleiht. Dadurch eröffne sie Lösungswege für spezifische seelische Frustrationen und Bedürfnisse von sowohl Individuen wie Gruppen. Weiterhin sei fundamentalistischer Idealisierung und Denkweise inhärent, dass die Vorstellung von Reinheit und idealen Lösungen das Tor öffnet für Zerstörungswut und Hass gegenüber dem Anderen, dem Unreinen und den Zweiflern. Die psychologischen Kräfte hinter den fundamentalistisch, religiös-politisch motivierten Bewegungen leiten sich, so verstehe ich Bohleber, von der Art und Weise her, wie gemeinschaftliche und universelle Fantasien unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen instrumentalisiert werden. Sein spezifischer Fokus liegt auf den extremeren Formen des islamischen Fundamentalismus. Der zentrale Wunsch nach Frieden und einer konfliktfreien Gemeinschaft findet seinen Ausdruck in der Konzeption der Umma. In dieser idealen Kommunalität sind alle Muslime vereint, was fast notwendigerweise eine Tendenz hervorbringt, die sich in dem Bedürfnis nach einer reinen Gemeinschaft ausdrückt, und im schlechtesten Fall darin, Eindringlinge und Außenseiter auszulöschen. Das Problem, das Bohleber anspricht, ist: »wie eine ideologische Botschaft und [dass] ihre Form der Vergemeinschaftung ursächlich mit Gewalt in Beziehung steht«. Die Revolution frisst ihre Kinder. Dies kann im islamischen Fundamentalismus wie auch in anderen fundamentalistischen Kontexten beobachtet werden. Die purifizierende Tendenz ist zumeist gegen die unreinen Mitglieder gerichtet, die den Frieden und die Harmonie der Gemeinschaft, der Umma, stören. Ein kurzer Blick in YouTube zeigt mit überzeugender Klarheit, dass die Umma als eine Gemeinschaft »der Harmonie und des Friedens, der Gleichheit zwischen Alt und Jung, Mann und Frau, zwischen ethnischen Gruppierungen« entworfen ist. In weiß gekleidet, die Kaballah umrundend, findet der Muslim Frieden in seiner Seele. Diese Qualität von Frieden und Harmonie unter »jenen, die zur Gemeinschaft gehören«, wohlbekannt in jeder Religion, nimmt dann extreme Formen an, wenn man sie in fundamentalistischen Kontexten verwirklicht; wenn sie für soziale/politische Zwecke verwendet werden, wo paranoide Idea© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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lisierungen die Oberhand gewinnen und damit die Notwendigkeit erzeugen, die Störer auszulöschen. Wie lässt es sich jedoch erklären, dass diese Tendenzen die extrem gewalttätigen Formen annehmen, die wir in verschiedenen islamischen Kontexten wahrnehmen können? Welche Beziehung (kausal, vermittelnd) besteht zwischen religiöser Ideologie und Gewalt? Auf einer mehr konkreten Ebene: Was motiviert dazu, Selbstmordattentäter im Mittleren Osten zu sein, oder was veranlasst islamisch-fundamentalistische Gruppierungen dazu, radikale Formen der Sharia – oder Interpretationen der Sharia – zu verfolgen, wo nach innen gerichtete reinigende Tendenzen die grausamsten Zustände hervorrufen? Nehmen wir das Beispiel von Alisha, einem 13 Jahre alten Mädchen, das in einer kleinen Stadt in Somalia von islamischfundamentalistischen Kriegern zu Tode gesteinigt wurde. Dem armen Mädchen, das über seine Vergewaltigung berichtet hatte, wurde anschließend unmoralisches Benehmen vorgeworfen und, zur Erschütterung der Einheimischen, die nicht einzugreifen wagten, wurde es gesteinigt. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie weit gefasste islamische Rechte dazu verwendet werden, um die Bevölkerung zu terrorisieren. Es gibt eine Fülle weiterer Beispiele: die Massenhinrichtungen in iranischen Gefängnissen in den 1980er-Jahren: »bekehre dich oder stirb«; das irakische Terrorregime unter Saddam, bei dem die religiöse Rechtfertigung sogar schwächer war. Man kann nicht anders als sich fragen, ob diese Taten – selbst wenn sie in einem religiösen Kontext auftreten – sadistische Aggression darstellen, die dem Zweck dienen, Macht zu gewinnen und vielleicht auch als Abfuhr puren sadistischen Genusses fungieren. Der Sachverhalt ist vielschichtig. Es gibt viele Formen und Äußerungen fundamentalistischer Ideologien und gemeinsam sind ihnen allen gravierende Störungen und oftmals Zerrüttungen, sowohl innerhalb der Gruppe als auch in Bezug auf Außenstehende. Wo steht Bohlebers Arbeit in diesem Zusammenhang? Es ist eine wissenschaftliche Studie über die Entwicklung der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Charakteristika des Fundamentalismus in verschiedenen Religionen und, im Zusammenhang mit islamischem Fundamentalismus, eine scharfsinnige Analyse der Beziehungen zwischen Mentalitäten und unbewussten Fantasien der Gruppe, der Ideologie des fundamentalistischen Islam und der inhärenten oder vielleicht notwendigen Beziehung zu extremem Hass und Gewalt. Wir sind von der Möglichkeit dieser Beziehung überzeugt, und wir können auch sehen, wie gemeinsame Fantasien, die in jeder Gruppe üblich sind, im Rahmen fundamentalistischer Gruppierungen und deren Ideologie geformt und strukturiert werden können, so dass sie zum psychischen Vehikel für Gewaltakte werden. Ein kollektives narzisstisches Hochgefühl ist notwendigerweise mit der Möglichkeit zur Gewalttätigkeit verbunden. Die der menschlichen Existenz inhärente Spannung, mit ihrer unvermeidlichen Ambivalenz, wird verleugnet, so dass die schwachen und als unrein empfundenen Anteile in der Folge nach außen projiziert werden. Andere, der Fremde oder der Abweichler werden zum Strohmann gemacht, den es zu vernichten gilt. Die Formel: ideale Einheit, der Traum von der glorreichen Vergangenheit und das Bedürfnis, den Eindringling auszulöschen, »das rivalisierende Geschwister«, stellt die Charakteristika des Fundamentalismus dar, und als solche müssen sie als Regression auf eine präödipale Stufe des Gruppenprozesses betrachtet werden. Aber – und das stelle ich zur Diskussion – wie kann dies geschehen? Warum hat diese Denkweise eine so große Anziehungskraft auf einen großen Personenkreis? Und stellt der Fundamentalismus notwendigerweise eine derart regressive, zerstörerische Kraft dar? Ich werde mich zu der letzten Frage zuerst äußern. Die muslimische Bruderschaft, die Hamas und in einem gewissen Maß die Hisbollah sind komplexe Organisationen mit verschiedenen Aspekten und Funktionen. In erster Linie und ganz besonders wollen sie sich als soziale Reformer sehen, die versuchen, die soziale Ordnung, das Gemeinwohl und die Menschenwürde der Bevölkerung wiederherzustellen. Groß angelegte soziale Programme haben die Popularität dieser Bewegungen gesichert und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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waren ein Hauptgrund des Wahlsieges im Gaza-Streifen. Gleichermaßen hat die muslimische Bruderschaft große Teile der kranken Bevölkerung in Ägypten vereinnahmt und wird als eine soziale Bewegung gesehen. Dies hat, wie Bohleber sagt, historische Wurzeln, denn es ist ein Versuch, einen dritten Weg zwischen westlicher Moderne und russischem Kommunismus zu schaffen. Ein Weg, bei dem die Spezifität der islamischen Weltanschauung bewahrt und die Identität einer verarmten Bevölkerung sichergestellt werden kann, verarmt sowohl in materieller als auch in geistiger Hinsicht (man denke daran, dass die meisten Regime in der arabischen Welt strikt diktatorisch regiert werden). Können islamische Bewegungen von daher nicht auch als eine progressive Kraft gesehen werden? Das bringt mich zu der ersten Frage: Warum hat dieses Denken solch eine Anziehungskraft? Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Arbeitslosigkeit und die Kluft zwischen armen und reichen Ländern eine Armee von jungen, frustrierten Männern ohne Hoffnung in die Zukunft schafft. Der Völkermord-Forscher Gunnar Heinsohn beschreibt eine »demografische Zeitbombe« und weist auf die Tatsache hin, dass in vielen sich entwickelnden und armen Ländern ein sehr hoher Bevölkerungsanteil unter 14 Jahren ist und dass mehr als 100 Millionen dieser jungen Männer in islamischen und afrikanischen Ländern südlich der Sahara keine Hoffnung in die Zukunft haben (Herzinger, Schuh u. Nieuwenhuizen, 2002). Ihm zufolge bilde sich hier eine erhebliche Rekrutierungsbasis für fundamentalistische und extremistische Organisationen und Gruppenmitglieder, die künftige Terroristen werden können. Die Hintergründe sind jeweils sehr komplex und verschieden. In einer umfassenden Studie über den militanten Islam in Zentralasien zeigt Ahmed Rashid, wie historische, soziale, politische und ökonomische Faktoren eine unterschiedliche Entwicklung terroristisch anfälliger Bewegungen in Tadschikistan, Usbekistan, Kasachstan und Kirgisistan ergeben (Rashid, 2002). Wenn jemand versuchen will, Terrorismus zu verstehen und möglicherweise zu verhindern, so ist offensichtlich, dass diese mannigfachen und vielschichtigen Hintergründe der Entstehung terroristischer Bewegungen eine realistische, pragmatische und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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empirisch gestützte Annäherung verlangen. Die Frage ist: Warum greifen gewaltsame Formen des islamischen Fundamentalismus in manchen Zusammenhängen und in anderen nicht? Bohleber stellt daher meiner Meinung nach zu Recht fest, dass religiöse Gewalt nicht nur im Gottesmord des Monotheismus gründet, sondern sich im Rahmen »religiöser Konzeptionen von Gemeinschaft und Vergemeinschaftung« verwirklicht. Er verbindet Letzteres mit der Ausnutzung gemeinsamer Fantasien der Geschwisterrivalität, der Reinheit der Gruppe, der Angst vor Verunreinigung durch den Anderen sowie der Vision einer Gruppeneinheit. Obwohl Bohlebers Text nicht darauf abzielt, denke ich dennoch, dass die reale Ungerechtigkeit und Ungleichheit heutzutage in Betracht gezogen werden muss, insbesondere auf welche Weise sie in verschiedenen kulturellen Kontexten wahrnehmbar ist. Der fundamentalistische Diskurs nimmt in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unterschiedliche Formen an, wobei nicht alle gewaltsam werden. Manche Gemeinschaften können die Entstehung gewalttätiger Ausdrucksformen offensichtlich besser verhindern. In seinem Briefwechsel mit Einstein (»Warum Krieg?«) behauptet Freud, dass es keine Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass die aggressiven Impulse des Menschen unterdrückt werden können, »man kann versuchen, sie so weit abzulenken, dass sie nicht ihren Ausdruck im Kriege finden muß« (Freud, 1933, S. 23). Freud reklamiert weiter : »Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muß dem Krieg entgegenwirken« (S. 23). Dieser grundlegende kulturelle Anspruch wird durch Bindungen der Liebe und der Identität erreicht, durch ein Ähnlichkeits- und Zugehörigkeitsgefühl. Und Freud stellt weiterhin fest: »Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen« (Freud, 1933, S. 26). Aus dieser Perspektive steht in gewalttätigen fundamentalistischen Kontexten die spezielle Version dieser »Gefühlsbindungen« auf dem Spiel, indem primitive kollektive Fantasien durch religiöse Propaganda aktiviert werden. Man © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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kann die Betonung der Köharenz, der Ähnlichkeit, der Identifikation innerhalb einer Gruppe auch als bestimmte positive Werte (Zügeln der Aggression) sehen. Auf einer bestimmten Ebene oder in einem bestimmten Kontext jedoch schlägt dies fehl und erzeugt Gewalt. Ist es die Entwicklung innerhalb einer Gruppe oder die Beziehung zwischen Gruppenprozessen (Gesellschaftsprozessen) und kulturellen Prozessen (Gemeinschaft), die darüber entscheidet, ob sich gewaltsamer Fundamentalismus entwickelt? Und welche Rolle spielen materielle/soziale/politische Umstände (Ungleichheit, Krieg, Unterdrückung)? Kurz gesagt, wie kommt diese Entmenschlichung des Anderen zustande? Auf der Gruppenebene wird Gewalt außerhalb der Gruppe verbunden mit einer Bedrohung der Identität und des Gruppenzusammenhalts. Wie es Kakar (1996) herausstellte, ist für den Einzelnen der Übergang von einer gewöhnlichen religiösen Gemeinschaft zu einer gewalttätigen verbunden mit einem Übergang zu einer subjektiven Erfahrung von Gruppenzugehörigkeit. Es gibt einen Wandel in der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, die normalerweise ein starkes Gefühl der »Wirheit« [»We-ness«] impliziert, also die Erfahrung als Teil einer Glaubensgemeinschaft, des Kommunalismus, der definiert wird als ein Geisteszustand, bei dem die persönliche Identität verbunden ist mit einer präreflexiven Ebene der Gruppenkohäsion und Gruppenidentität. Die »Wir-heit« wird dann ersetzt durch »wir sind«, was zumeist notwendigerweise Intoleranz und potenzielle Gewalt gegen diejenigen, die nicht zur Gruppe gehören, beinhaltet (Kakar, 1996). Der Andere wird dann zu einer Bedrohung, die auf einer individuellen Ebene die äußerste Gefährdung der Identität und Individualität darstellt. Auf einer Gruppenebene mag dies primitive Prozesse zur Folge haben, wo Grundannahmen dem Anderen gegenüber zu einer Ideologie werden. Es gibt daher nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl, die narzisstische Befriedigung, mit jemandem einer Meinung zu sein, sondern, wie Bohleber sagt, die Aktivierung von Fantasien der Geschwisterrivalität und der Vorstellung, dass die Einheit zerstört werden kann, woraus die Notwendigkeit resultiert, den Anderen als Gegner zu sehen. »Wir-heit« wird umgewandelt in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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»wir sind« – anders und besser als die Anderen, und das genau in einer Situation, in der die Identität der Gruppe bedroht ist. Es ist daher zweitrangig, dass die Moderne als der Feind gesehen wird. Der Übergang zu einer potenziell gewalttätigen Gruppe findet daher über eine äußere Bedrohung statt. Wir haben gesehen, wie die Erzeugung narzisstischer Verletzungen sowohl auf einer individuellen als auch auf Gruppenebene mit dem Gefühl einer Berechtigung verbunden wurde. Die eigentümliche Wertschätzung von Außenseiterpositionen – oftmals angeheizt durch die Vorstellung eines gewählten Traumas (ein historisches Ereignis, das aktuelles Elend erklären kann [Volkan, 2003]) – wird in eine mächtige psychologische und soziale Kraft der Gruppe beziehungsweise der Gesellschaft verwandelt, die Krieg und Gewalt anregt. Wir verstehen, wie der Krieg selbst zum Ziel werden kann. Bohleber erlaubt, etwas Hoffnung zu haben, dass Unterschiede und Vernunft nicht ausgelöscht werden können (der fundamentalistische Versuch findet kein Ende). Aber können wir auf Besserung hoffen, solange es soziale und politische Prozesse gibt, die narzisstische Wunden bewirken? Kriege, wie der jüngste im Gaza-Streifen, sowie die Finanzkrise, die bestimmt die Existenz von Menschen in ärmeren Teilen der Welt untergraben und narzisstische Wunden erzeugen wird, sind sicherlich kontraproduktiv. Wir können diese Probleme auf verschiedenen Ebenen diskutieren: auf der Ebene möglicher inhärenter Bedingungen innerhalb der monotheistischen Religionen, mit Fundamentalismus und Gewalt als möglichen Konsequenzen; auf der Ebene der Sozialpsychologie religiöser Gruppierungen; und auf der Ebene der Ökonomie und Politik, insbesondere jener zwischen den reicheren und ärmeren Teilen der Welt. Bohlebers Beitrag ist deshalb äußerst wichtig, weil er eine Analyse der Beziehung zwischen religiöser Ideologie, sozialen Gruppenprozessen und unbewussten Prozessen sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene darstellt. Bohleber entwirft eine Kritik der Religion und situiert gleichzeitig den religiösen Diskurs in einer sozialen und psychologischen Wirklichkeit. Letzteres muss von zentraler Bedeutung für religiöse Institutionen, Anführer und Schüler sein. Er zeigt, wie äußere und innere Bedrohung religiös © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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inspirierte Gewalt initiieren kann, welche sich wiederum mit regressiven Tendenzen verbindet, bei denen maligne Formen des Narzissmus die Oberhand gewinnen. Jede Situation ist indessen anders. Die Analyse der Beziehung zwischen historischen und sozialen Bedingungen, insbesondere in Bezug auf Trauma und die Schaffung von Opfern, erscheint mir notwendig, um zu verstehen, wie religiöse Ideologien kollektive Fantasien, die wiederum Gewalt und Enthumanisierung anderer begründen, sowohl ausdrücken als auch schaffen können. Bohleber hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, diese Phänomene zu verstehen. Wie wir wissen, ist das Problem, wie diesen Tendenzen zu begegnen ist, nunmehr die zentrale Frage in vielen politischen und sozialen Zusammenhängen. Man kann zu Recht fragen, ob wir als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker Lösungen auf dieser Ebene bieten können. Übersetzung: Mirjam Weisenburger und Tomas Plänkers
Literatur Freud, S. (1933). Warum Krieg? Gesammelte Werke, XVI (S. 11 – 27). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Herzinger, R., Schuh, H., Nieuwenhuizen, A. (2002). Der heranwachsende Krieg. Interview mit Gunnar Heinsohn. Hamburg: Die Zeit. Juergensmeyer, M. (2000). Terror in the mind of God. The global rise of religious violence. Berkeley : University of California Press. Kakar, S. (1996). The colours of violence. Chicago, London: The University of Chicago Press. Rashid, A. (2002). Jihad: the rise of militant Islam in Central Asia. New Haven u. London: Yale University Press/World Policy Institute. Volkan, V. D. (2003). Traumatized societies. In S. Varvin, V. D. Volkan (Eds.), Violence or dialogue. Psychoanalytic insights on terror and terrorism (pp. 217 – 236). London: International Psychoanalytical Association.
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Die fundamentalistische Denkweise Psychologische Überlegungen zu Gewalt und Religion
Vor dem 11. September 2001 konnte man angesichts des steigenden Fundamentalismus in der scheinbar säkularen Welt nur erschrecken. Es wurde festgestellt, dass nicht weniger als 30 % der Amerikaner – oder weit über einhundert Millionen Menschen – einer Form des evangelikalen Christentums angehören, dessen Grenzen zu dem, was streng genommen als Fundamentalismus bezeichnet werden kann, oft verschwimmen. Garry Wills (1990, S. 15) wies vor einigen Jahren auf die Fahrlässigkeit der Wissenschaftler hin, so viele Menschen aus den Augen zu verlieren. Fundamentalismus ist kein rein christliches Phänomen. Es gibt »verrückt religiöse« Menschen hier und im Ausland in vielen Glaubensrichtungen; man könnte sogar von einer »globalen Epidemie« des Fundamentalismus sprechen (vgl. Stein, 2009; Strozier, Terman, Jones u. Boyd, 2010). »Das Fundamentalismus-Projekt«, das in den späten 1980er-Jahren begann und von Martin Marty angeführt wurde, war die erste größere wissenschaftliche Reaktion auf das, was in akademischen Kreisen im Allgemeinen als der erstaunliche Aufschwung des Fundamentalismus in Amerika und in der Welt wahrgenommen wurde (Marty u. Appleby, 1991 – 1995). Marty und seine Mitarbeiter sprachen in ihrer Vergleichsstudie in überzeugender Weise von »Familienähnlichkeit« zwischen scheinbar verschiedenen Fundamentalismen und unterschieden ihren Untersuchungsgegenstand sorgfältig von Orthodoxie. Sie versuchten, verschiedene Möglichkeiten zu beschreiben, wie Glaube sinnstiftend wirken kann, während sie gleichzeitig einige der schlechten Einflüsse von Funda-
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mentalismus auf alle Weltreligionen erfassten. Wir sind uns dieser schlechten Einflüsse nun stärker bewusst. Ich gehe von der Prämisse aus, dass es eine Psychologie des Fundamentalismus gibt, eine Denkart, die über ihre Besonderheit in heutigen religiösen Bewegungen hinausgeht. Innerhalb der Religionen kann solcher Fundamentalismus, wie jener der Islamisten, die den weltweiten Dschihad der al-Qaida antrieben, oder der Evangelikalen, die das Christentum in diesem Land nach rechts getrieben haben, oder der Siedler in Israel, die einen seit Jahrhunderten nicht gesehenen Millennarismus über das jüdische Land brachten, ziemlich lärmig sein. Aber die fundamentalistische Denkweise ist tiefer im Selbst verwurzelt, welches in einer Reihe menschlicher Institutionen Ausdruck findet, die Religion einschließen, sich aber keineswegs auf sie reduzieren. Ihre Bedeutung hat sich im Laufe ihrer Geschichte über viele Jahrhunderte verändert. Norman Cohn (1961) beschrieb kultische Gruppen am Rande mittelalterlicher Gesellschaften. Das Grauen der Französischen Revolution bewirkten die paranoiden und destruktiven Potenziale einer Revolution, die die menschliche Freiheit erweiterten. Der Nazismus war zweifellos die wichtigste Form des Fundamentalismus, eine millennarische Bewegung des 20. Jahrhunderts, wenn nicht der ganzen Menschheitsgeschichte. Und als Kliniker sind wir uns sehr genau der Verwurzelung von Paranoia bewusst und vermuten, dass sich dabei in einem rein psychologischen Sinn viel über Fundamentalismus lernen lässt. Das Individuelle und das Kollektive, das heißt Psychologie und Geschichte, wirken gemeinsam, um die vielen Formen von Fundamentalismus in Religion, Politik und Kultur zu erzeugen, abzuschwächen, zu verschlimmern oder zu heilen. Als wissenschaftlicher Beobachter, der Fundamentalismus aus einem klinischen und psychologischen Standpunkt betrachtet, erkenne ich, dass es bei meiner Perspektive auf die gewaltsamen Potenziale in allen Formen von Fundamentalismus entscheidend ist, nie in meine eigenen falschen und rigiden Dichotomien zu verfallen. Ich versuche es geflissentlich zu vermeiden, meine analytischen Kategorien gegen jene zu verwenden, mit deren Überzeugungen und Haltungen ich nicht übereinstimme. Ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Großteil der umfangreichen soziologischen und religionsbezogenen Daten in Martin Martys fünf Bände umfassenden »The Fundamentalism Project« (Marty u. Appleby, 1991 – 1995) beschreibt Menschen, deren Leben durch die Erfahrung tiefen Eintauchens und Wiedergeborenwerdens im Glauben gerettet und bereichert wurde.1 Neue religiöse Bewegungen, oft als Kulte verhöhnt, können bedeutende und unterstützende Gemeinschaften für geplagte Seelen hervorbringen, die so vor Krankenhäusern und lähmenden Medikamenten bewahrt werden. Martys Fundamentalismusprojekt verdeutlicht viele wichtige Aspekte des Phänomens, so wie es in zeitgenössischen religiösen Bewegungen Form annimmt. Er (und seine vielen Mitarbeiter in den fünf Bänden) bemerken zum Beispiel, wie entscheidend der Fundamentalismus die Landschaft des Säkularismus herausfordert. Fundamentalismus ist als Phänomen Reaktion auf die Moderne und stark bedroht durch sie. Sein primärer Impuls ist es, zurückzubringen, was oft als idealisierte Vergangenheit gesehen wird. In diesem Prozess wird der Kampf als ein ultimativer verstanden. Die Begegnung mit der modernen säkularen Welt ist nicht trivial. Es ist ein titanischer Kampf für alle wahren Gläubigen. In diesem Prozess jedoch, den man nur als Prozess der »selektiven Wiedergewinnung« bezeichnen kann, suchen sie auf entschieden eigentümlichen Wegen nach Ideen, um sie ihrer Neudefinition des Glaubens zugrunde zu legen. Meine Arbeit gründet auf diesen (und anderen) Befunden des »Fundamentalism Project« und unterstützt sie. Aber in einigen wichtigen Bereichen geht sie darüber hinaus: Erstens möchte ich die Wichtigkeit der psychologischen Tendenz zu Dualismen und zu Paranoia betonen, die für das fundamentalistische Denken so zentral sind. Um den Mechanismus dieser Denkart zu verstehen, muss man zur inneren Erfahrung des Glaubens durchdringen und die Wichtigkeit der ängstlichen Wachsamkeit des Fundamentalisten erfassen, die oft an tatsächliche Paranoia angrenzt. 1 In einer fünfjährigen Felduntersuchung unter christlichen Fundamentalisten in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren begegnete ich nie einer Person, die ich als gewalttätig bezeichnen würde (Strozier, 1994).
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Zweitens betont meine Arbeit den apokalyptischen Charakter aller Fundamentalisten, die für das Ende der Welt und deren eigene Erlösung als Wiedergeborene leben. Sie haben, in diesem Sinne, eine Überlebensmission. Ihr apokalyptisches Narrativ definiert ihre Geschichte. Und schließlich liegt ein wichtiger Schwerpunkt meiner Arbeit auf dem engen Zusammenhang zwischen Fundamentalismus und Gewalt. Es gibt andere Dimensionen der fundamentalistischen Erfahrung, die zu untersuchen sich lohnt, eingeschlossen jener, die William James (1902) vielleicht ein zweites Selbst genannt hätte, das durch den Fundamentalismus kreiert wird. In meinem Ansatz spielen jedoch Gewalt und die Gewaltpotenziale aller Fundamentalismen eine zentrale Rolle. Das Wort, welches in den fünf Bänden von »The Fundamentalism Project« nie genannt wird, ist Terrorismus.2 Diese Betonung von Gewalt und Terrorismus bedarf weiterer Erklärung. Es steht außer Frage, dass Fundamentalismus, psychologisch gesehen, komplex ist. Es gibt keinen offensichtlichen oder direkten Zusammenhang zwischen seinen verschiedenen Formen und denen von Gewalt. Die Yeshivas in Israel bringen die Haredi hervor, aber die Siedlungsbewegung insgesamt hat andere Wurzeln. Die Hamas ist viel stärker religiös fundamentalistisch als die PLO, aber sie ist auch sehr politisch und durch säkulare autoritäre Themen geprägt. Aus den Madrasas in Pakistan sind die Taliban hervorgegangen, die Afghanistan eingenommen haben. Sie haben aber nicht direkt mit Osama bin Laden und der al-Qaida zu tun. Und die Leser der Left-BehindSerien, näher an der Heimat, sind oft das Produkt von hermetisch abgeschlossenen christlichen Schulen oder Heimschulen, aber sie sind nicht wie jene, die Abtreibungsärzte umbringen. In meinem Zugang zum Problem des Fundamentalismus bin ich systematisch und uneingeschränkt psychologisch. Während Sogar eine Diskussion über Gewalt wurde in Martys Projekt umgangen. Was unserem Unterfangen am nächsten kommt, war David C. Rapoports (1993) Diskussion über »Kampfgeist« (militancy). Rapoport begann nach 9/11 einen anderen Ton anzuschlagen (vgl. Rapoport, 2004). 2
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ich auf das Gewaltpotenzial im Kern der fundamentalistischen Denkweise aufmerksam mache, versuche ich eine Pathologisierung von Millionen von Gläubigen, die auf der ganzen Welt großen und kleinen Glaubensgemeinschaften angehören und die sich als stark gläubig betrachten und aus ihrer religiösen Bindung viel Sinn schöpfen, geflissentlich zu vermeiden. Etikettierung kann zersetzend sein. Genau der Begriff Fundamentalismus kann angesichts seiner vagen Bedeutung der Verleumdung jener Gläubigen dienen, die einen spirituellen Weg gehen, der der eigenen Erfahrung fremd ist. Respekt für Differenzen ist notwendig für jeden, der sich zutraut, die Welt des Fundamentalismus zu studieren. Viele Menschen auf der ganzen Welt mit starkem religiösem Glauben finden Erlösung in dem Weg, den sie gewählt haben, persönlichen Sinn aus ihrer spezifischen Hingabe und Trost im Tal der Tränen, in dem sie sich vor ihrer Wiedergeburt durch den neuen Glauben befanden. Es gibt an dem, was ich als die fundamentalistische Haltung bezeichnen würde, auch Aspekte, die psychologisch in der Erfahrung derer mit starkem religiösem Glauben hoch positiv wirken können. Was ich zum Beispiel das dualistische Denken nenne, wird von einem gläubigen Menschen subjektiv oft bloß als scharfe Markierung der Grenze zwischen seinem Glauben und einer korrupten Welt voller Sünden und Gewalt empfunden. Ein Ausflug zu ihrem lokalen Multiplex-Kino reicht, um sie die leidenschaftliche Verachtung der Fundamentalisten für die Pornografie des heutigen Lebens mitfühlen zu lassen. Zu beachten ist auch die Erfahrung der Wiedergeburt im Glauben – sei es die wörtliche Auslegung der Christen oder die eher symbolische Form unter Islamisten oder Haredi oder Hindus oder vielen anderen – als das entscheidende Moment der Verwandlung eines alten in ein neues Selbst, die neue Möglichkeiten, sowohl psychologisch als auch spirituell, eröffnet. Sogar wenn ich von Paranoia spreche, muss man sich daran erinnern, dass für viele Fundamentalisten ein geschärfter Sinn für Gefahr von Viktimisierung für die nötige Leidenschaft sorgt, um dem Bösen zu widerstehen und neue Wege zur Erlösung zu suchen. Das Paranoide mischt sich mit dem Prophetischen. Und schließlich muss man zur Kenntnis nehmen, wie apokalyptische Energien vieles an© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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treiben, das in der Welt hoffnungsvoll und erlösend ist. Die Gründung der Antisklaverei-Bewegung in den Vereinigten Staaten erfolgte durchaus in einer millennialen Rhetorik und Motivation. Unsere »Erlöser-Nation«, wie sie Timothy Weber (1987) nannte, hat das Apokalyptische oft eingesetzt, um zu unterdrücken, wie bei unserem imperialen Projekt. Sie inspirierte aber auch viel kreativen sozialen Wandel, wie den Idealismus der Bürgerrechtsbewegung oder der Friedenstruppen. Und eine wichtige psychologische Dimension der Umweltbewegung von heute durchzieht den Aktivismus mit grüner apokalyptischer Energie auf eine Art, die sich vom merkwürdigen Kommentar im Buch der Offenbarung abzeichnet, der lautet: »Du sollst jene zerstören, die die Erde zerstören« (15,18). Der Weg, vieles dieser scheinbar begrifflichen Verwirrung auszusortieren, führt über ein Verständnis der Wichtigkeit der zugrunde liegenden Psychologie jener, die in diese vage definierte und sehr breite Kategorie der Fundamentalisten fallen. Das Christentum ist per definitionem teleologisch und millennarisch. Die millennarische Dimension des Glaubens kann ignoriert, aber nicht verleugnet werden, und sie könnte eifrig als eine Form begrüßt werden, die kreativen sozialen Wandel anregt. Apokalyptisches Christentum jedoch begrüßt ein gewaltsames Ende der Menschheitsgeschichte und genießt Visionen von Sündern, die im See des Feuers schwimmen.3 Die meisten Islamisten finden in ihrem Leben Frieden und Trost in der sicheren, wenn auch abgeschiedenen Welt der Familie und der Moscheen. Dschihadis verdrehen die Worte des Korans andererseits radikal und greifen Aspekte der Hadith-Tradition heraus, um den Islam ihrer wild apokalyptischen und paranoiden Welt der Gewalt zunutze zu machen. Das Paranoide und das Apokalyptische begründen das fundamentalistische Gedankengut. Solche psychologischen Themen bestimmen ihr traumatisiertes und belastetes Selbst. Diese zugrunde liegende Psychologie scheint sich von der jener Gläubigen zu unterscheiden, die empathischer, geerdeter, hoffnungsvoller und eher geneigt sind, ihren Nächsten und sich 3 »Und wer auch immer nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl« (Offb 20,15).
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selbst zu lieben, selbst wenn sie millennarischen und utopischen Träumen anhängen. Mich besorgen hauptsächlich Extremist und Fanatiker ebenso wie historische Ereignisse, die ich als fundamentalistisch oder millennarisch bezeichne und die Krisen waren, von der Französischen Revolution zum Nazideutschland zur Post-Partition in Indien. Mein Ziel ist es, die Konturen einer Psychologie solcher Fundamentalisten in einer Weise zu skizzieren, die eine Konzeptualisierung ihres Gewaltpotenzials erlaubt. Eine ziemlich andersartige Psychologie motiviert Millennaristen, das Ende der Sklaverei in Amerika zu erreichen oder einen erstickenden Planeten zu retten, oder auch utopische Träumer wie Martin Luther King, wobei das intensive Verlangen nach dem Kommen oder der Rückkehr des Messias das Leben eines Individuums und einer Gemeinschaft bereichern kann. Der Fokus auf dem Paranoiden und Apokalyptischen sollte nicht den Blick für das Utopische und Hoffnungsvolle verdunkeln. Das fundamentalistische Denken bleibt auch nicht auf die Religion begrenzt. Es lassen sich leicht ästhetische Psychologen oder säkulare Maurer finden, auf die meine Gedanken zutreffen. Aber Religion ist die menschliche Institution, die mit der Aufgabe betraut ist, Antworten auf die unbeschreiblichen Fragen nach Anfang und Ende zu finden, die beide außerhalb der Sozialwissenschaften liegen. Religion zieht Menschen mit einer Neigung an, über die letzten Fragen nachzudenken. Einige davon sind Extremisten. Um das Denken von Fundamentalisten zu untersuchen, ist es deshalb unvermeidlich, religiöse Massenbewegungen zu untersuchen, darunter unter anderem den zeitgenössischen Islamismus, christlichen Fundamentalismus und hinduistischen Nationalismus. Aber mein Ziel ist es, die Konturen einer fundamentalistischen Denkweise zu benennen, die über das Partikulare und das Religiöse hinausgeht. Dieses Projekt ist, so behaupte ich, der Anfang eines Versuchs, die tiefere Bedeutung der Gewalt zu verstehen, die unser Leben heimsucht. Bei der Untersuchung jener Gewalt bin ich besonders an der apokalyptischen, vom Tod durchdrungenen Dimension des Fundamentalismus und ihres Zusammenhangs mit Paranoia interessiert. Im Glaubenssystem religiös-fundamentalistischer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Gläubiger gibt es nichts Grundlegenderes als die Hoffnung auf das Erscheinen beziehungsweise die Rückkehr des Messias. Bei säkularen Millennaristen wie den Nationalsozialisten sind die Ziele der Erlösung vager, aber in gleicher Weise zentral für ihre Bestrebungen. Ultimative Erlösung kann es nur durch die absolute Zerstörung der Welt und ihres Bösen geben. Das Ende des Todes beseitigt den Tod selbst, jedoch durch eine Wiederherstellung der Welt, die machtvolle Hoffnung mit sich bringt. Dieser transzendente Prozess totalisiert den Anderen, der radikale Dualismen beansprucht und das Böse auf paranoide Weise beschwört. Dieser bemerkenswerte Zusammenhang zwischen Paranoia und dem Apokalyptischen gibt uns einen Einblick in die gewaltsamen Potenziale des fundamentalistischen Denkens. Ich würde sagen, Paranoia existiert ontologisch als ein Potenzial im Selbst, das in Momenten historischer Krisen aktualisiert werden kann. Mein Kollege David Terman (2010) plädiert für die Existenz einer »paranoiden Gestalt«, die im Selbst und in der Gruppe (wie die Angst vor Schlangen) auftritt. Ich würde dazu tendieren, Paranoia als ein wenig dynamischer zu denken, als in unsere Psychologie eingebettet, die aber leicht hervorgerufen werden kann und Teil unserer individuellen und kollektiven Erfahrungen ist. Ich denke, diese Sensibilität für das historische Moment lag Richard Hofstadters Ansatz zugrunde, den er vor einem halben Jahrhundert in seinem Aufsatz über den paranoiden Stil in der amerikanischen Politik vertrat, auch wenn er eine andere Sprache benutzt. Dies erklärt, warum dieser Aufsatz so enorm einflussreich war (Hofstadter, 1964). In der Psychiatrie existiert eine größtenteils irrelevante Literatur über Paranoia, die sich mit der Wahl angemessener Medikamente zur Behandlung befasst. Die psychologische Literatur, vor allem innerhalb der Psychoanalyse, hatte einen schlechten Start durch Freuds Erklärung von Paranoia als unterdrückter Homosexualität (Freud, 1911c). Die Diskussion um Paranoia blieb ähnlich verengt, da nur wenige psychoanalytisch orientierte Psychotherapeuten tatsächlich Paranoide behandeln. Ein einfacher Grund dafür liegt darin, dass Paranoide schlecht auf die anhaltende Erfahrung der Befragung ihrer Motive reagieren. Jerrold Post schrieb über Narzissmus und Paranoia (Post, 2003, 2004; Schneider u. Post, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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2003); Vamik Volkan beschäftigte sich mit der von ihm sogenannten »zweiten Haut« des Nationalsozialismus (Volkan, 1999, 2006); Joseph Berke und seine Kollegen haben eine wertvolle Sammlung von Aufsätzen über Paranoia mit dem Titel »Even paranoids have enemies« zusammengestellt (Berke, Pierides, Sabbadini u. Schneider, 1998; vgl. auch Robins u. Post, 1997); Robert Jay Lifton (1979) ist wie immer herausragend bei der Analyse dieses Themas, aber eine einsame Stimme und etwas eigenwillig.4 Ich selbst habe ein Buch geschrieben und einige herausgegeben, die mit dem Thema zusammenhängen (Strozier, 1992; Strozier u. Flynn, 1996a, 1996b, 1997). Aber in Anbetracht eines so entscheidenden Themas, das so wichtig ist, wenn wir die zeitgenössische Gewalt verstehen wollen, müssen wir mit überraschend magerer Literatur auskommen. Gewisse Dinge sind klar. Der Paranoide lebt in einer Welt hitziger Übertreibungen, in der Empathie ausgelaugt wurde und der es an Humor, Kreativität und Weisheit fehlt (Ornstein, 1978; Strozier, 2001). Der Paranoide lebt in einer Welt von Scham und Demütigung, Argwohn, Aggressivität und Dualismen, die alles Gute vom reinen Bösen trennen. Der Paranoide ist grandios und megalomanisch und hat immer eine apokalyptische Sicht der Geschichte, die ein mythisches Zeitgefühl enthält. Viele Paranoide sind sehr klug, ich hatte lange sogar die Vermutung, die Paranoia könnte die Pathologie der Wahl für die Begabten sein. Es steht außer Frage, dass in der Paranoia alle kognitiven Fähigkeiten in einer Weise konzentriert werden, die deren Schemata intellektuell abschreckend machen kann. Einige haben bemerkt, dass ein erhöhtes Maß an Misstrauen, das an milde Paranoia grenzt, in Situationen realer chronischer Gefahr adaptiv sein kann, wie es viele afrikanische Amerikaner in den Ghettos amerikanischer Städte oder Palästinenser in der West Bank oder im Gaza erlebt haben und erleben. So über adaptive Paranoia zu sprechen, ist jedoch heikel und geschieht oft mit einer politischen
4 Dies ist Liftons theoretischstes Buch, aber es gibt in den 26 Bänden, die er bislang geschrieben oder herausgegeben hat, vieles von Interesse über Fundamentalismus, Gewalt und Paranoia.
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Agenda im Geiste, das heißt, um die Identität des bösen Verfolgers klarzustellen. Solche Formulierungen verkennen in der Regel die beträchtlichen Deformationen des Selbst, die mit Paranoia jeglichen Grades einhergehen. Denn jene, die unter ihr leiden, überlassen ihrer Pathologie vieles. In der Paranoia ist alles intensiv und vom Moment bestimmt und die Zeit läuft für immer davon. Ihr Geschichtsverständnis ist wahrlich in der Tat krank. Große Kräfte sind gegen den Paranoiden gerichtet, ja, es ist der ganze Kosmos darauf ausgerichtet, das Opfer zu verfolgen und zu bestrafen. Man ist hilflos und fühlt sich erschlagen. Doch kann diese Viktimisierung als negative Grandiosität gesehen werden: Niemand hat so sehr gelitten wie ich angesichts dieser Verfolgung. Diese Sicht wird leicht ins Positive verdreht in seiner maximal malignen und psychotischen Form. Das heißt, ich bin eigentlich großartiger als mein Peiniger ; ich bin der Schöpfer ; ich bin Napoleon; ich bin Jesus. Die Verschwörungen der Welt, von denen es im Geiste des Paranoiden wimmelt, sind nicht isolierte Ereignisse, die ihn betreffen, sondern tatsächlich genau die Antriebskraft von Geschichte. Es gibt für ihn nichts Wichtigeres als zu verstehen, wie diese großen Verschwörungen funktionieren, was erklärt, warum Paranoia so absolut selbstabsorbierend ist. Außerdem sind das Instrument der Verschwörungen und die Quelle der Furcht ein großes Bild oder ein Konglomerat von Bildern oder sogar Kräften, das – darin waren sich psychologische Beobachter immer einig – die Projektion des eigenen inneren Sinns für das Böse ist. Was die psychotherapeutische Behandlung von Paranoiden so schwierig macht, ist, dass der Therapeut normalerweise im Geiste des Paranoiden ziemlich schnell als Verfolger etabliert wird. Aber für unsere Zwecke lohnt es sich zu bemerken, dass die subjektiven Bilder des Bösen des Paranoiden, die im Trauma wurzeln, destilliert und in kollektiven Imagines (unbewusste idealisierte mentale Bilder) bestimmter Opfer institutionalisiert werden – Juden für Europäer über viele Jahrhunderte, Westliche heute für Islamisten des Nahen Ostens (die Zionisten und Kreuzritter im Diskurs Osama bin Ladens), Schwarze und Juden für amerikanische radikale Rassisten. Diese Imagines wiederum intensivieren das paranoide Potenzial im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Selbst. Sie können für verschiedene Individuen und sogar Gruppen auf sehr unterschiedliche Weise existieren. Sie sind jedoch in das kollektive oder Gruppenselbst eingebettet und in der Lage, in Momenten historischer oder sozialer Krisen bösartige Formen anzunehmen. Diese Erfahrung des apokalyptischen Anderen erwächst, in anderen Worten, aus verwirrtem und ambivalentem, aber tief persönlichem Wissen. Was sich entwickelt ist eine Art paranoide projektive Rückkopplungsschlaufe. Der entsetzliche und abscheuliche böse Andere, der aus dem Innern des Paranoiden kreiert wird, dient als ein objektives Korrelativ, um Begehren und Fantasie im Paranoiden tief aufzuwühlen, der wiederum bemüht ist, in der Intensivierung der Imago des bösen Anderen durch weitere Projektion Erleichterung zu finden. Der apokalyptische Andere ist so als das subjektive Selbst objektiviert und wird in diesem Prozess ein aberwitziges Gewirr aus Begehren, Macht und Bosheit. Hofstadter (1964) zum Beispiel beobachtete scharfsinnig die Pedanterie der Beschreibungsversuche der Verschwörung, mit der sich Paranoide zum Gespött machen. In der Literatur über jene, die den Holocaust leugnen, zeigt sich zum Beispiel, dass einige dieser Wälzer tausende von Fußnoten und anderen akademischen Schmuck haben, wodurch sie unbewusst das Beste des jüdischen Lernens imitieren. Bevor Timothy McVeigh (Strozier, 1997) mit seinem mörderischen Projekt begann, sprach er in seinem Brief an New Yorker Zeitungen nach seiner Rückkehr aus dem Golfkrieg vage davon, das große Bild zu verstehen, das niemand sonst sehen oder verstehen konnte. Dieser Brief las sich wie einer der Intellektuellen, über die er sich lustig machte. Sogar Osama bin Laden spricht in seinen Fatwas von 1996 und 1998 mit großem persönlichem Wissen über westliche Kreuzritter und Zionisten. Der Paranoide kennt das böse Andere, weil es seine eigene Schöpfung ist. Bei der Aufforderung, jenes zu beschreiben, wird ein angsterfüllter Blick auf dem Gesicht des Paranoiden erscheinen, ein Blick, der von einem Ort geheimer Bewusstheit stammt. Das ist wirklich sehr beeindruckend. Manchmal, sogar oft, wird er den Kopf leicht neigen, nur das Kinn, sich vielleicht etwas zur Seite drehen, um misstrauisch zu schauen und mit einem wissenden Grinsen zu feixen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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das zu einem Angst einflößenden und hochmütigen Lachen werden kann. Der Paranoide ist eine geplagte Seele. Während Freud die Frage der Homosexualität falsch verstand, betraf seine tiefste Einsicht die Psychologie der Paranoia und deren restitutiven Charakter. Die eigentliche psychologische Krankheit und der Zusammenbruch in der Paranoia wurzeln in einem tiefen und andauernden Trauma, das gewöhnlich außer Reichweite eines Klinikers liegt, um es in irgendeiner bedeutenden Weise zu bearbeiten, denn Paranoide sind oft sehr resistent gegenüber psychotherapeutischer Untersuchung. Aber wir können vermuten, dass die Reaktion der Paranoiden auf die Krise der Fragmentierung ein vehementer Versuch ist, durch die Konstruktion eines alternativen Universums imaginierter Gefahren, bewohnt von projektiven Imagines innerer Erfahrung, abzuwehren, was er unvermeidlich als das psychologische Äquivalent zum Tod erfährt. Die neue Realität ersetzt die alte. Die neue Realität ist zum Bersten voll mit Terror und Grauen. Sie ist kein stabiles Terrain – Paranoia, wie auch Ängstlichkeit, breitet sich aus –, aber immerhin ist diese neue Welt der Böswilligkeit vertraut. Sie kann nicht weggenommen werden. Wenn es gelingt, sie genauer zu verstehen, wird sie vielleicht nicht mehr Elend und Pein verursachen. Ich kann das Leiden nicht genug betonen, das unter den oft wütenden, arroganten und oberflächlich selbstsicheren Externalisierungen einer paranoiden Person liegt. Es ist mir in meiner klinischen Praxis oft, aber aus den genannten Gründen gewöhnlich nur in vorübergehenden Zuständen begegnet. Die letzten vier Jahre hatte ich allerdings eine völlig paranoide Patientin in meiner Praxis. Harriet ist eine 75 Jahre alte Frau, deren Nachbarn Giftgas durch den Lüftungsschacht schickten, deren Kollegen sich an ihrem Greenwich Village AA-Treffen verschwören, um sie zu einer »lesbischen, drogensüchtigen Schlampe« zu machen, und die sich nachts kaum erholen kann von den Nackenschmerzen, die von den Elektroschockpistolen herrühren, die von der von Bernard Kerik trainierten örtlichen Polizei gegen sie eingesetzt werden. Ihr Vermieter, der eng mit Rudy Giuliani zusammenarbeitet (der ein geheimes Apartment in ihrem Gebäude unterhält), schleicht sich nachts ein, um ihr unaus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sprechliche sexuelle Dinge anzutun, und einmal wachte sie mit einem großen, brummenden deutschen Schäferhund in ihrem Bett auf. Karl Rove war, als er an der Macht war, der eigentliche Verursacher ihres Leidens, wobei er mit Rudy Giuliani zusammenarbeitete. Wenn öffentliche Personen wechseln, ändert sich auch ihre Erklärung der letzten Quelle ihres Leidens; ihre Theorien durchlaufen alle Transformationen seit der Wahl Barack Obamas und der Demokraten und dem Besiegen von Bush, Rove, Cheney und Giuliani. Es erübrigt sich zu sagen, dass ihre Theorie in diesem Sinne formbar ist. Die innere Realität passt sich dem sich verändernden Gesicht der Geschichte an, obwohl sie klug (und gerade gesund) genug ist, ihre ständig wechselnden paranoiden Erklärungen in Frage zu stellen. Die Frage, die sie sich immer wieder stellt, ist, warum Menschen mit so viel Macht in der Gesellschaft sich um jemanden kümmern, der so unbedeutend ist. Die Welt macht absolut keinen Sinn für Harriet. Alles, was sie wirklich weiß, ist, dass sie leidet. Es gibt jedoch sichtbaren Ärger, der in Harriets Erfahrung auftaucht. Sie berichtet in der Therapie, dass sie in ihrer Wohnung oft jene anschreit die sie quälen, diese bösartigen Figuren, die entweder an der Türe lauschen oder durch ein Mikrofon im Ventilator oder außen an ihrem Fenster. Manchmal schmeißt sie Dinge aus Frustration oder Wut umher. Sie würde töten, sagt sie, obwohl solch gewaltsame Fantasien sich schließlich gegen sie wenden und sie in Verzweiflung und suizidale Impulse führen. Schließlich bricht sie in eine Flut von Tränen aus. Sie schreit vor Wut, was sogar einmal zu ihrer Verhaftung führte, als Nachbarn sich gestört fühlten und die Polizei gerufen haben. Ich habe oft versucht, sie zu einem Psychiater und Medikamenten zu bewegen, aber sie weist dies unerbitterlich zurück. Dies bedroht selbstverständlich unser therapeutisches Arbeitsbündnis. Im St. Vincent Krankenhaus, wo sie nach einem Sturz hingebracht wurde, führten zwei deutsche weibliche Psychiaterinnen-Zwillinge eine Operation an ihrem Kopf durch, entfernten einen Teil ihres Schädels und implantierten einen Apparat, der sie weiterquälte. Übrigens fürchtet sie sich vor der Einnahme jeglicher Substanzen, die sicherlich giftig und dazu bestimmt sind, ihr weiteren Schaden zuzufügen. Der wichtigste Punkt in unserem Zusammenhang ist jedoch, dass Harriet ihre Gewaltfantasien gegen jene, die sie peinigen, von den Nachbarn bis zu Rudy Giuliani, als ethisch zu rechtfertigen erlebt. Es muss einen Weg geben zu bezeugen, was sie durchzumachen haben glaubt. Die tägliche Bestrafung, die Elektroschläge, die Angriffe
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passen alle als Teil zu dem Schema, das wandelbar und verwirrend in seiner Bedeutung ist, aber immer eine Wirkung auf sie ausübt. Sie kann nicht sagen, warum Giuliani darauf besteht, ihr wehzutun, aber sie ist subjektiv absolut sicher, welche Wirkung seine Bösartigkeit auf sie hat. Ethisch gesehen verdient Giuliani deshalb zweifelsohne Bestrafung, sei es durch sie, die Polizei oder jemanden von außen. Sie fleht mich andauernd an, ihr bei dessen Identifizierung zu helfen. In ihrer Erfahrung werden ihre Gefühle der extremen Schikane, die so eingebettet sind in die Schablone ihrer Paranoia, zu Fantasien über die Tötung ihrer Unterdrücker.
Man muss ganz allgemein näher auf diesen außerordentlichen Wechsel von Viktimisierung zu Gewalt eingehen. Der Paranoide versteht die geheime Welt des Bösen ganz genau, die er in seinen projektiven Schemata konstruiert hat. Die rigide dualistische Auffassung schützt ferner gegen das Bösartige und versieht das Selbst mit Tugend und Rechtschaffenheit. Der Andere wird dann zur Verkörperung des Bösen und kann nicht nur, sondern muss ihm dienen. In extremeren Fällen, wenn die Fantasie zur Tat wird, fühlt der Paranoide mehr als bloße Erlaubnis zu töten. Es wird zur Obligation. Und da man in der paranoiden Welt im Namen absoluter Rechtschaffenheit handelt, wird Töten zu Heilung, wie Lifton so eloquent über die Nazis schreibt oder wie die AumSekte, der apokalyptische japanische Kult in den frühen 1990erJahren, in seinen wilden Schemata Armageddon auszuführen suchte (Lifton, 1985, 1999). Die Gewalt des Paranoiden liegt, in anderen Worten, genau in seiner Natur und kann in Abhängigkeit vom Moment zur Handlung übergehen. Gewalt ist der Paranoia inhärent, wohnt ihr sogar – so denke ich – ontologisch inne, zumindest in der Fantasie. Solche Gewalt wird oft als kontraphobisch beschrieben, also als das Gefühl : »Ich muss den bösen Anderen bekämpfen, bevor er mich angreift«. In anderen Worten : Selbst in der Fantasie wird solche Gewalt durch den Paranoiden als selbstschützend erfahren. Aber angesichts der rigiden dualistischen Welt, die der Paranoide bewohnt, bedeutet Handlung gegen den Peiniger im Namen der Selbstverteidigung, ein Retter zu werden. Gewalt heilt und erlöst. Das Böse der Welt bedroht unsere bare Existenz. Das Paranoide wird © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zum Träger von Erlösung und Heilung, weshalb die Paranoia, denke ich, eine so wichtige Rolle im religiösen Fundamentalismus und im Apokalyptischen spielt. In ihren tieferen (und totalistischen) Bedeutungen wird die Paranoia deshalb apokalyptisch. Wir können die bösartige Macht des Apokalyptischen und seine Rolle bei der Konstruktion »Grausamkeit produzierender Narrative« (Lifton, 1973, S. 65) nicht ignorieren. Ich persönlich bin beeindruckt (und entsetzt) angesichts der Erlösungsbilder von fließendem Blut, das über das Zaumzeug von Pferden läuft, von Verschlüssen, die sich zum Tode öffnen, Trompeten, die Gewalt ausblasen, und Ampullen, die Zerstörung ausgießen in drei großen Sequenzen der Sieben, jede nach vorne und hinten mit den Endpunkten der Zerstörung verbunden. Die Offenbarung, so habe ich argumentiert, ist eine Erzählung des biblischen Genozids, in der Gott, in den Worten von James W. Jones (2008), als »göttlicher Terrorist« handelt. Der Text wird als Traum präsentiert, weshalb Johannes in der Vergangenheit schreibt, und er bewegt sich ziemlich logisch von der Auslösung großer Gewalt durch die Hände eines zornigen Gottes, schließlich hin zur Erlösung in den Kapiteln 19 bis 22. Die Offenbarung ist also auch eine Überlebensgeschichte, denn der Text beweist gleichzeitig den Tod und die Pein des Anderen und die Erlösung und Heilung des Auserwählten. Es gibt natürlich viele Überlebensnarrative und gewisse können paradigmatisch für das Hoffnungsvolle aller Zeiten werden. Aber im Apokalyptischen wird die Überlebenserzählung verdorben und in Gewalt verkehrt, wenn sie totalisiert oder zu einer Geschichte der absoluten Erlösung gemacht wird. Wir müssen wohl – leider – verstehen, dass die Zerstörung des apokalyptischen Anderen, sogar wenn die Urheberschaft der Handlungen von der Menschheit auf Gott übertragen wird, von jenen, die gewalttätig werden, subjektiv als höchsten Zwecken dienend erfahren wird. Vollendung oder die Lokalisierung des Selbst in irgendeiner Zukunftserzählung, wie ich es 1994 nannte, ist höchst motiviert (Strozier, 1994). Sich von dem Anderen in kollektiver Weise zu befreien, etwas, was wir Genozid nennen, erwächst aus einer intensiv erlebten idealistischen und morali© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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schen Verpflichtung, die Welt zu verbessern (Lifton, 1961).5 Menschen wenden individuelle Gewalt aus verschiedensten eigentümlichen Gründen an, aber es ist das zutiefst befremdliche Ziel, die Geschichte zu verändern, sie zu korrigieren, sie rassisch und ethnisch zu reinigen, die zum Genozid führt. Und zum größten Teil haben jene, die Ausrottungsprojekte durchführen, das Gefühl, im Namen göttlicher Endzeitzwecke oder von Variationen dieser Motive zu handeln. Schließlich ist die Vollendungserzählung auch nicht eine Sache, sondern hat sich im Laufe der Geschichte historisch entwickelt, vom ägyptischen »Buch der Toten« im 13. Jahrhundert v. Chr. über die frühen Zoroastrier sechs Jahrhunderte später zu Johannes auf Patmos in 95 und Joachim von Fiore (1135 – 1202) im Mittelalter. Sie ist jedoch keinesfalls wichtiger als unsere historische Entdeckung der ultimativen Zerstörungsmacht von Nuklear- und von biologischen Waffen. Tatsächlich haben uns nukleare und andere Massenzerstörungswaffen psychologisch in einer Art und Weise verändert, die wir erst zu verstehen beginnen. Wir brauchen Gott nicht mehr, wie wir ihn von Beginn der Kultur an brauchten, um unser Ende herbeizuführen. Die Handlungsmacht verschiebt sich. Die ultimative Zerstörungsmacht ist nun in Menschenhand. Dies verändert unsere Welt des Begehrens. Nuklear- und andere ultimative Waffen sind natürlich an und für sich gefährlich in den Händen wilder, apokalyptischer Gruppen in allen Ländern, so wie von der Aum-Sekte oder von neuen religiösen Terroristen wie Osama bin Laden. Aber der wichtigere und subtilere psychologische Punkt ist, dass genau die Präsenz nuklearer Waffen in der Welt das Auftreten mörderischer Kulte und neuen Terrorismus, sogar des Fundamentalismus selbst, hervorbringt. Robert Jay Lifton definiert Nuklearismus als die Verehrung nuklearer Waffen aufgrund der göttlichen Macht, die sie besitzen. Wie Lifton bemerkt: »Die ultimative gegenwärtige Deformation ist ein Zustand, den wir Nuklearismus nennen könnten, die leidenschaftliche Umarmung nuklearer Waffen als eine Erlösung von Todesangst und eine Art, ein verlorenes Un5 Lifton schreibt hier über das Absprechen von Existenzrecht als zentralem Aspekt dessen, was er »Gedankenreform« nennt.
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sterblichkeitsgefühl wiederherzustellen. Nuklearismus ist eine säkulare Religion, eine totale Ideologie, in welcher ›Gnade‹ und sogar ›Erlösung‹ – die Beherrschung des Todes und des Bösen – durch die Macht einer neuen technologischen Gottheit erlangt werden« (Lifton, 1979, S. 369). Nuklearwaffen repräsentieren die Religion unserer Zeit. Sie definieren unsere Politik und Werte und setzen am allermeisten das Endzeitnarrativ fort, das wir leben. Gescheiterte Staaten wie Nordkorea sehnen sich nach Waffen und erwerben sie, genauso wie problematische wie Regime Iran. Bestinformierte Beobachter glauben, dass, wenn Osama bin Laden vor den Anschlägen des 11. September Zugang zu Nuklearwaffen und die Durchführungsmöglichkeit gehabt hätte, er eine oder mehrere in den Flugzeugen platziert hätte, die New York und Washington trafen; er erhielt auch eine Fatwa (ein Spruch im islamischen Recht, der durch eine anerkannte Autorität gegeben ist) von einem radikalen Kleriker im Jahre 2003, die den Gebrauch solcher Waffen in der Zukunft autorisierte (Scheuer, 2004).6 Stellt er sich vor, New York City auszulöschen oder die Menschheitsgeschichte zu beenden? Eine solche Frage ist in diesem Fall zwar fast sicher hypothetisch, muss aber nicht reine Fantasie bleiben im Hinblick auf andere Figuren in zukünftigen Jahrzehnten. Aber wir müssen uns auch an unsere eigene tiefe und zwanghafte Beteiligung an 6 Michael Scheuer entdeckte später im Jahr des Erscheinens seines Buchs die ziemlich bemerkenswerte Fatwa, nach welcher Osama bin Laden einen radikalen saudischen Scheich nach den Anschlägen des 11. Septembers fragte. Scheuer war leitender Analyst des CIA in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Er leitete die geheime Analystengruppe, die Bin Laden in den folgenden Jahren nach dem 11. September 2001 verfolgten. Kurz nach seinem Austritt aus dem CIA erschien er in 60 Minutes, der CBS-Nachrichtensendung (14. November 2004). In dieser Sendung sagte Scheuer zwei Dinge über Bin Laden und Nuklearwaffen. Erstens bestätigte er, wie ernsthaft Bin Ladens Bemühungen vor den Anschlägen des 11. Septembers waren, Massenzerstörungswaffen zu erwerben. In der Zeit nach den Anschlägen, zum Teil als Reaktion auf die Kritik einiger in der muslimischen Welt hinsichtlich der Tötung muslimischer Zivilisten, suchte und bestätigte Bin Laden eine Fatwa von Hamid bin Fahd im Mai 2003, die spezifisch die Verwendung nuklearer Waffen gegen Amerikaner erlaubte.
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Nuklearwaffen erinnern. Wir haben uns der Sowjetunion für ein halbes Jahrhundert angeschlossen in einem ideologischen Ausrottungsprojekt, das an einigen Punkten fast zum Ende der Geschichte führte. Wir haben uns von dieser Front zurückgezogen, aber die Ausbreitung dieser Waffen auf andere Staaten und in der Zukunft vermutlich auf terroristische Gruppen machte die Welt wohl sogar noch instabiler. Trotzdem klammern wir uns an Waffen und ihre Macht. Wie andere verehren wir sie auf unsere eigene Weise. Es ist nicht mehr, falls es das jemals war, eine Frage von Freiheit oder Demokratie. Nukleare und andere ultimative Waffen und alles, was sie bedeuten, rufen das menschliche Begehren hervor, diese Macht zu haben, sie zu besitzen, sich zu eigen zu machen, die göttliche Ordnung umzudrehen, uns selbst zu Göttern zu machen. In dieser außerordentlichen psychohistorischen Wendung von Ereignissen verwandelt der apokalyptische Andere persönliches Leiden in eine kollektive Anbetung nuklearer Waffen. Es ist eine gefährliche Ordnung. Paranoia ist keine neue menschliche Erfahrung, und sie trat vermutlich vor tausenden von Jahren als adaptiv in einem evolutionären Sinne auf (wie etwa die Angst vor Schlangen). Aber Paranoia in der gegenwärtigen Ära hat ihre nützlichen adaptiven Bedeutungen längst eingebüßt. Paranoia ist, wie ich zu zeigen versucht habe, immer schon apokalyptisch und hat die Tendenz, den Anderen in Begrifflichkeiten zu konstruieren, die dem Selbst Möglichkeiten gewaltsamer Fantasien und manchmal gewaltsamer Handlungen eröffnen. In einer Welt von zunehmendem und oft rasendem Fundamentalismus entsteht eine gefährliche potenzielle Verkettung von Paranoia und starkem Glauben, die nukleare Waffen miteinschließt. Wir können solche Gefahren nur abwenden, indem wir uns ihrer Dynamik überaus bewusst werden. Übersetzung: Tamara Lewin
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Paul-Gerhard Klumbies
Apokalyptik im Christentum Diskussion des Beitrags von Charles B. Strozier
Charles B. Strozier hat in eindrucksvoller Weise das Tableau der fundamentalistischen Mentalität aufgeblättert. In einem gewaltigen Bogen stellt er eine Verknüpfung zwischen Fundamentalismus, Paranoia, Dualismus, Apokalyptik, Religion und Gewalt her und entwirft ein Szenario, in dem diese Elemente zu einer unheilvollen Melange zusammenfließen. Beängstigend deutlich stellt er heraus, wie das aus solcher Verquickung resultierende Aggressionspotenzial sich explosiv entladen könnte – bis hin zu einem Nuklearschlag. Innerhalb seiner Ausführungen lässt Strozier der Religion und dem Glauben grundsätzlich ihre Berechtigung. Er redet keiner reflexhaft religionskritischen Haltung das Wort und leistet damit implizit einen Beitrag zur Überwindung der einst ideologisch tief verankerten Distanz zwischen Psychoanalyse und Religion beziehungsweise Theologie. Mein Beitrag besteht nicht in einer Grundsatzkritik der von Strozier vorgetragenen Perspektive. Was ich vorzunehmen versuche, sind Modifikationen in der Begrifflichkeit, Differenzierungen in Einzelheiten der Darstellung sowie eine veränderte Bewertung der Apokalyptik. Dazu werde ich einige religionsgeschichtliche Hinweise geben und knapp auf historische Entwicklungen verweisen.
Fundamentalismus Meine Replik beginne ich mit Überlegungen zum Begriff Fundamentalismus. Was bedeutet Fundamentalismus? Nach meinem Verständnis ist der Fundamentalismus eine Rückzugsbewegung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Paul-Gerhard Klumbies
Fundamentalisten ziehen sich auf Überzeugungen zurück, die sich nicht hinterfragen lassen. Kennzeichnend für den Fundamentalismus jeder weltanschaulichen Richtung ist die Zementierung der eigenen Position. Der Fundamentalist fühlt sich in der Defensive. Seine eigene Auffassung entzieht er einer kritischen Kontrolle. Er vermeidet die Beteiligung an einer ergebnisoffenen Diskussion. Fundamentalismus äußert sich in der Abwehr von Einwänden, die als Relativierung empfunden werden. Das erklärt, warum Fundamentalisten schnell aggressiv reagieren. Solche Aggressionsbereitschaft deutet auf Verlustängste und massive Sicherheitsbedürfnisse. Dominant scheint mir die Furcht an Fundamentalismus erkrankter Menschen, mit dem Verlust der eigenen Position auch selbst zu fallen. Angesichts einer derart tief greifenden Bedrohung gehen Fundamentalisten zum Angriff über. Fundamentalismus ist ein Krisenanzeichen, mehr ein Krankheitssymptom denn ein krimineller Akt. Fundamentalistische Gruppen jeder Weltanschauung neigen bei der Verteidigung ihrer Denkgebäude zum Ausagieren ihrer unterdrückten Aggression und damit zur Gewalt. Die Gewaltakte fundamentalistischer Gruppen dienen nach außen der Zerstörung einer als feindlich empfundenen Welt. Nach innen stabilisieren sie die eigene Gruppe und die fragile Befindlichkeit des Individuums. Darum hat Strozier Recht, wenn er das kathartische Element hervorhebt. Die ausgeübte Gewalt kann in eine Erlöserattitüde münden und die Beseitigung externer Übelstände im Inneren als Befreiung und Entlastung empfunden werden. Der Fundamentalismus besitzt damit in der Tat eine destruktive Außenseite. Auf seiner Innenseite freilich verheißt er den Eingeweihten Schutz und Sicherheit. Diese scheinbar heile Innenwelt wird durch permanente Aggressionsbereitschaft zu schützen versucht. Strozier bemüht sich darum, den Fundamentalismus als eine quasi anthropologische Konstante darzustellen. In unterschiedlichen Spielarten scheint nach seiner Darstellung immer wieder dasselbe Phänomen auf: in der Religion, im Säkularismus, im Terror. In den Baukasten des Fundamentalismus gehören nach Stroziers Darstellung zudem ein weltbildlicher Dualismus, die Paranoia als Triebfeder des Handelns und insbesondere die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Apokalyptik im Christentum – Diskussion
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Apokalyptik als treibende Kraft gewaltsamer Aktion. Das Grundübel der fundamentalistischen Mentalität liege, so Strozier, in der Paranoia. Die Paranoia produziere Gewalt und setze die Apokalyptik aus sich heraus. Die Apokalyptik wiederum sei ein Essential der (christlichen) Religion. Ergo wohne der christlichen Religion ein Gewaltpotenzial inne. Die neutestamentliche Johannesoffenbarung entlarve Gott als divine terrorist. Diese auf den ersten Blick bestechende Verknüpfung könnte sich bei einem Vergleich unterschiedlicher Fundamentalismen möglicherweise sogar selbst bestätigen. Dennoch drängen sich drei Fragen auf: 1. Ist nicht auch die scheinbare anthropologische Konstante bereits historisch und kulturell vermittelt? Die Frage ist dann: Wann und durch wen? 2. Stimmen die Voraussetzungen in Stroziers Verknüpfung von Paranoia, Apokalyptik und Gewalt? 3. Ist Paranoia ein ontologisch verankertes Potenzial und Gewalt eine anthropologische Grundgegebenheit, oder sind nicht beide eher als sekundäre Reaktionen auf Krisensituationen, die sich mit der Problemstellung entwickeln, anzusehen?
Der historische Hintergrund von Dualismus und Apokalyptik Die geistigen Prägungen, die bis heute die von der europäischen Antike beeinflussten Gesellschaften bestimmen, haben eine lange Vorgeschichte. Sie stammen aus der Zeit ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Chronologisch ereignete sich in der Geistesgeschichte der entscheidende Einschnitt bereits vor dem Auseinandergehen von Christentum und Judentum vor 2000 Jahren. Durch Alexanders Feldzug nach Osten kam es zu einer gigantischen Kulturverschmelzung zwischen griechischem Geist und persischer Kultur. Der Hellenismus brachte Traditionen Griechenlands – den griechischen Mythos ebenso wie die durch Sokrates initiierte und durch Plato und Aristoteles durchgeführte Aufklärung – mit dem Erbe der Hochkulturen des antiken Orients zusammen (Klumbies, 2005, S. 7 – 11). Der Dualismus strukturiert, wie Strozier zu Recht feststellt, mit seinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen, seinen Freund-Feind© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Bildern, seinen Gegenüberstellungen von Gut und Böse bis heute das Denken von Millionen Hirnen. Historisch betrachtet wurde er gleich zweimal in den europäischen Kulturkreis hineinvermittelt. Zunächst wurde durch die Babylonier und anschließend die Perser ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert der Dualismus in die Jahwereligion Israels implantiert. Im Zuge der Übernahme des Alten Testaments hat die dualistische Weltsicht selbstverständlichen Eingang in das frühe Christentum gefunden. Dann wurde durch die Verschmelzung von Okzident und Orient im Hellenismus das persische Erbe ab dem vierten vorchristlichen Jahrhundert flächendeckend im gesamten Mittelmeerraum wirkungsmächtig und zog in den griechischen Sprachraum ein. So übernahm das griechisch schreibende frühe Christentum unter dem Einfluss jüdischer wie hellenistischer Tradition selbstverständlich dualistische Denkbewegungen. Aus dem Milieu eines dualistisch geprägten Judentums ging in Israel etwa ab 200 v. Chr. die Apokalyptik hervor (vgl. Lebram, 1993, S. 198).1 Ihre Entstehung vollzog sich vor dem Hintergrund einer desaströsen Geschichte Israels. Der Eigenstaatlichkeit durch wechselnde Großmächte praktisch beraubt taumelte Israel nach Alexander dem Großen unter ptolemäischer und seleukidischer Herrschaft dahin. Am Ende geriet es unter das römische Joch. Bis zum Untergang mit der Tempelzerstörung des Jahres 70 n. Chr. vernichteten Eingriffe ausländischer Herrscher und innenpolitische Selbstzerfleischung die geistigen und physischen Grundlagen der einstigen Großmacht Israel. In jenen 250 Jahren wurde immer klarer : In dieser Welt wird Israel nicht mehr zu alter Größe aufsteigen. Damit gewannen apokalyptische Bewegungen an Boden. Apokalyptiker zu sein, hieß, den Blick auf das Ende zu richten. Diese Welt, so die Überzeugung der Apokalyptiker, ist nicht mehr zu retten. Gott aber kann, darf und wird Israel nicht untergehen lassen. Denn er hat sich an die Zusagen gebunden, die er seinem erwählten Volk verheißen hat. Wenn aber deren Erfüllung innerweltlich nicht mehr zu realisieren ist, dann muss Gott eine neue Welt schaffen. 1 Als Ursprungsort der alttestamentlichen Apokalyptik ist die jüdische Diaspora, vornehmlich die in Ägypten, anzusehen.
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In dieser Ausgangslage entstanden zwei Ausrichtungen der Apokalyptik. Die eine war überzeugt davon: Gottes neue Welt wird von ihm ganz allein geschaffen. Darauf sollen fromme Juden sich in spiritueller Weise einrichten. Im 4. Esrabuch und im syrischen Baruch hat dieses verzweifelte Ausharren einen ergreifenden Niederschlag gefunden. Beide Bücher entstanden zeitgleich mit der ältesten christlichen Evangelienschrift, dem Evangelium nach Markus. Sie dokumentieren den Versuch, die Katastrophe der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. durch die Römer in den traditionellen Denkbewegungen des Judentums theologisch zu bewältigen. In ihnen wird das Ringen sichtbar, in der Unbegreiflichkeit des Handelns Gottes dennoch Sinn zu erblicken. Auch Johannes der Täufer und Jesus aus Nazareth waren von einer auf das Eingreifen Gottes ausgerichteten apokalyptischen Erwartung erfüllt. Daneben gab es freilich Gruppen Andersgesinnter. Sie wollten keinesfalls die Hände in den Schoß legen und warten. Entweder, so die einen, müsse man versuchen, durch besonders vorbildliche Orientierung am jüdischen Gesetz Gott zu veranlassen, jetzt endlich tätig zu werden und die Verhältnisse zu wenden. Oder, so die anderen, man müsse Widerstand leisten. Es bildeten sich militante Gruppen. Zeloten wollten das Ende herbeizwingen. Sikarier griffen zum Dolch. Sie verübten Attentate. Ihre Vorstellung vom erlösenden Ende war keine rein spirituelle. Sie ersehnten – gegen alle Wahrscheinlichkeit – nach wie vor die nationale Wende. Dazu betrieben sie den Aufstand. Messianische Gestalten sollten sich an die Spitze setzen. Und tatsächlich: Diese Gruppierungen schafften es, im Jahre 66 den Krieg gegen das römische Imperium loszutreten. Das Ergebnis war der kollektive Untergang im Jahre 70 n. Chr.
Apokalyptik und Christentum In der Wissenschaft vom Neuen Testament ist immer wieder erörtert worden, ob die Apokalyptik die »Mutter der christlichen Theologie« (Käsemann, 1964, S. 100) ist. Manches könnte dafür sprechen. Die Schrift, die Strozier scharf zensiert, die Johannesapokalypse, scheint das sogar nahezulegen. Dennoch ist eher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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daran festzuhalten, dass die Apokalyptik dem Christentum zwar viele Bilder geliefert hat, die Endzeitausrichtung des Christentums aber dennoch eine andere ist. Für die frühen Christen ist die Welt mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus an ihr Ende gekommen. Die Christen glauben sich als durch Jesus Christus bereits Erlöste. Darum liegt bis heute in der christlichen Verkündigung ein so starkes Gewicht auf der Vergegenwärtigung dieser Vergangenheit. Das Ursprungsdatum der Erlösung rückt mit weiterlaufender Zeit Jahr für Jahr weiter in die Vergangenheit. Nach vorn drängen sich die Erfahrungen bleibender Unerlöstheit. Es entsteht eine Spannung zwischen geglaubter und erlebter Realität. Die vollständige Vollendung der Erlösung wird zur Frage. Damit meldet sich schon für die frühen Christen die Zukunft zurück. Als eine Denkfigur entwickelt das frühe Christentum als Antwort auf dieses Problem die Überzeugung von einer gestaffelten Erlösung. Das Wesentliche ist mit der Kreuzigung und Auferweckung Jesu von den Toten bereits geschehen. Aber das endgültige Ende lässt noch auf sich warten. In der Zwischenzeit müssen sich die Glaubenden in der Welt einrichten. Die Johannesapokalypse führt in ein christliches Milieu, das unter christentumsfeindlichem Druck steht. Die Gemeinde, die hinter diesem Buch steht, sieht sich akut gefährdet und in ihrem Überleben bedroht. Die Schrift zeigt eine christlich-apokalyptisch geprägte Umgangsweise mit dieser Situation. Martin Luther hat aus theologischen Gründen wenig von der Johannesoffenbarung gehalten. Es mangelt ihr nach seinem Urteil an einem klaren Christuszeugnis. Daher hat Luther ihr in seiner Ausgabe des Neuen Testaments die Nummerierung entzogen. Außerdem hinterließ er unfreundliche Bemerkungen über sie. In der Johannesoffenbarung werde Christus »weder gelehret noch erkannt« (Luther, zit. nach Bornkamm, 1989, S. 219). Die aggressiven Aussagen der Schrift mögen insbesondere für heutige Leserinnen und Leser ein weiterer Grund sein, sich inhaltlich von diesem Dokument des Christentums am Ausgang des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu distanzieren. Dennoch gilt es, dem Buch historisch gerecht zu werden. Auch wenn die Wirkungsgeschichte der Johannesapokalypse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zeigt, dass Leute sich auf sie berufen, um ihre Ressentiments auszuleben: Das Buch selbst verfolgt eine andere Absicht. Für eine heutige distanzierte Lektüre mag Gott in der Johannesoffenbarung als göttlicher Terrorist erscheinen. Das Buch ruft jedoch nicht zur Übernahme der Gewaltfantasien auf. Es handelt sich in der Johannesoffenbarung um ein literarisches Abreagieren. Eine unterdrückte christliche Gruppe in Kleinasien Ende des 1. Jahrhunderts macht sich Luft und Mut (vgl. Mayordomo, 2008, S. 51 – 59).2 Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit, vermittelt der Verfasser. Gott selbst wird dafür sorgen, dass die Feinde der Gemeinde ihr Schicksal erleiden werden. Charakteristisch für das christliche Schrifttum des 1. und beginnenden 2. Jahrhunderts ist gerade, dass man das Gewaltmonopol Gott überlässt. Weil Gott allein für seine unterdrückten Gemeinden eintreten wird, kann das frühe Christentum darauf verzichten, sein Recht zu erkämpfen. Die Christen der ersten dreihundert Jahre benötigen einen gewaltsamen Widerstand gerade nicht. Eine zu lange Geschichte ist es, zu erzählen, wie die apokalyptischen Dualismen von Babylonien und Persien über Israel und Griechenland nach Mitteleuropa gelangt und von dort schließlich nach Amerika weitergesegelt sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts kommt es in Mitteleuropa zu einer Renaissance apokalyptisch stimulierter christlicher Gruppen. Diese sehen als Trittbrettfahrer Luthers eine Chance, sich endlich zur Gemeinschaft der Heiligen zu formieren. Der Dualismus ist für sie Programm. Manche von ihnen wollen das Gottesreich auf Erden sichtbar etablieren – notfalls, wie in Münster in Westfalen, auch mit Gewalt. Andere verhalten sich quietistisch. Sie ziehen sich in die fromme Innenwelt zurück und führen ein von der Umwelt abgeschiedenes friedliches Glaubensleben im Kreise Gleichgesinnter (Möller, 1979, S. 245 – 253). Wichtig zu wissen ist, dass diese radikalreformatorischen Gruppen im evangelischen genau wie im katholischen Mitteleuropa nicht geduldet wurden. Sie 2 Jenseits von einseitiger Verurteilung wie unkritischer Verharmlosung eröffnet Mayordomo einen Zugang zu der spannungsvollen Ambivalenz, in die die Lektüre der Schrift führt.
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wurden verdrängt und physisch verfolgt. Viele dieser Gruppen sind, teilweise auf dem Weg über England, schließlich auf den amerikanischen Kontinent ausgewandert. Dort ist ihr geistiger Einfluss auf die gesellschaftlichen und politischen Überzeugungen in stärkerer Weise als in Europa wirkungsmächtig geworden.
Fazit Aus dieser Rückschau ergeben sich Schlussfolgerungen. Festzuhalten ist: Die christliche Religion kann, aber sie muss nicht fundamentalistisch sein. Der Fundamentalismus kann sich apokalyptisch speisen, muss das aber nicht. Die Apokalyptik im Christentum ist eine Antwort auf eine tiefer liegende Krise. Sie ist die Reaktion auf eine Bedrängnis. Sie ist kein inhaltliches Essential der christlichen Religion. Apokalyptik kann Gewaltexzesse freisetzen. Sie muss es nicht, und es gibt bis heute viele Beispiele apokalyptisch orientierter Glaubensgruppen, die gerade durch ihre Friedensliebe und Gewaltlosigkeit auffallen (vgl. Körtner, 1988, S. 278 – 323).3 Zur Diskussion fordert mich nach Stroziers Ausführungen besonders die Frage heraus, welchen Status Strozier der Gewalt beimisst. Meine Rückfrage an ihn lautet, wie tief verankert er die Gewalt im Menschen sieht. Nach seiner Darstellung ist die Gewalt immer schon da, in der Paranoia, in der Apokalyptik, im Fundamentalismus. Ist die Gewalt also eine anthropologische Gegebenheit, oder ist sie nicht vielmehr eine sekundäre Reaktionsweise, eine Möglichkeit, auf eine als Krise oder Überforderung empfundene Situation zu reagieren? Paranoia ist eine Krankheit, die sich in apokalyptischen Vorstellungen ausdrücken kann. Ob sie ihrerseits durch apokalyptische Bilder ausgelöst wird, erscheint mir zweifelhaft. Der von Strozier konstatierte Zusammenhang von Paranoia und starkem Glauben in einem fundamentalistischen Umfeld ist meines Er3 Körtner (1988) unterscheidet zwischen »positiver und negativer Apokalyptik« (S. 279). Positive Apokalyptik besitzt eine »Trostfunktion«, sie »ist eine Botschaft gegen die Angst« (S. 307).
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achtens mehr ein Symptom als die Ursache tief greifender Probleme. Fundamentalismuskranke Menschen brauchen Therapie und den Zuspruch einer weichen Religion. Die Chance einer weichen Religion besteht darin, den Verlust an Selbstwert aufzufangen, unter dem Menschen leiden. Das setzt freilich voraus, dass diese Menschen verbaler Kommunikation überhaupt noch zugänglich sind. Aber selbst diese für das menschliche Zusammenleben unverzichtbare Voraussetzung ist angesichts der weltpolitischen Verhärtungen derzeit vielerorts fast unerreichbar.
Literatur Bornkamm, H. (Hrsg.) (1989). Luthers Vorreden zur Bibel (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Käsemann, E. (1964). Die Anfänge christlicher Theologie. In E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, Zweiter Band (S. 82 – 104). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Klumbies, P.-G. (2005). Vorchristliches Erbe in nachchristlicher Zeit. Hellenismus und frühes Christentum. evangelische aspekte, 15 (4), 7 – 11. Körtner ; U. H. J. (1988). Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lebram, J. (1993). Art. Apokalyptik/Apokalypsen II. Altes Testament. Theologische Realenzyklopädie, Bd. 3 (Studienausgabe) (S. 192 – 202). Berlin u. New York: De Gruyter. Mayordomo, M. (2008). Gewalt in der Johannesoffenbarung als Problem ethischer Kritik. In P. Lampe, M. Mayordomo und M. Sato (Hrsg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium. Festschrift U. Luz (S. 45 – 69). Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. Möller, B. (1979). Geschichte des Christentums in Grundzügen (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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M. Fakhry Davids
Psychoanalyse und Rassismus
Der Frühling 1937 brachte kein Nachlassen der eisigen Gewalt, mit der der Nationalsozialismus das Leben der einfachen deutschen Bevölkerung, die jüdischer Abstammung war, überzog. Im April des gleichen Jahres hielt Otto Fenichel im benachbarten Prag einen Vortrag, der die Aufwallung des Antisemitismus aus psychoanalytischer Sicht behandelte. Als Hintergrund betonte Fenichel, dass die Psychoanalyse kein Ersatz für ein genaues historisches Verständnis sein könne für das, was vor sich ging. Psychische Belastungen allein hätten keinen Antisemitismus produziert. Dieser war in erster Linie das Resultat einer politischen Strategie seitens der Nazis, denen es gelang, reale und alltägliche Schwierigkeiten anzusprechen, unter denen die deutsche Bevölkerung zu leiden hatte. Sie gingen dann darüber hinaus, indem sie eine falsche Erklärung für diese Schwierigkeiten anführten, in der die Juden als Sündenböcke dargestellt wurden. Wie konnte eine so außerordentlich einfache Argumentation die gängige Vorstellungskraft derart gefangen nehmen? Der Ursprung, so Fenichel, liege in der Fremdartigkeit der Juden ; sie schüre den Hass der Antisemiten, der auf die Tatsache zurückgehe, wonach »das eigene Unbewusste auch fremd ist« (Fenichel, 1946, S. 31). Fenichel identifizierte zwei Stereotype : 1. Juden seien Mörder – sie vergifteten das Gute, sie töteten Christen und christliche Kinder, die sie verstümmeln und zerstückeln (Loeblowitz-Lennard, 1947); 2. Juden seien schmutzig und verkommen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Fenichel argumentierte weiter, dass der emotionale Inhalt aus frühen Entwicklungsstadien hervorgehe. Zum Beispiel entstehe die Angst, das Gute werde vergiftet, aus einer frühen kindlichen Frustrationserfahrung, die als nicht tolerierbar empfunden wurde. Da die orale Modalität die einzige sei, die dem Kleinkind zur Verfügung stehe, um sich seine Erfahrungen, einschließlich der Aggression, vorzustellen, werde der infantile Wunsch, die frustrierende Brust zu vergiften, abgespalten und in der Brust erneut lokalisiert. So entstehe jedoch zugleich eine tiefe Verwirrtheit: Wie ist das Kind zu versorgen? Indem man das vergiftete Essen in das Gute verlagert, wird das kindliche Dilemma gelöst. Es bietet sich ein Weg an, der nach vorne weist: Indem man den Täter, der dafür verantwortlich ist, findet, kann auch das Problem als gelöst erscheinen. So können auf ähnliche Weise die Leitmotive von Mördern, Unflätigkeit und Prasserei, auf die anale und die phallische Phase zurückgeführt werden und starken Impulsen Ausdruck verleihen, die so beunruhigend sind, dass das heranwachsende Kind versucht, sie loszuwerden. Die Auffassung, Juden seien schmutzig, gehört zu einem analen Komplex und ist folglich koexistent mit der Ansicht, dass Juden, weil sie gut mit Geld umgehen können, die Wirtschaft kontrollieren würden. All das sind ausdrückliche Elemente der Nazipropaganda. Die phallische Phase bietet den vielleicht ergiebigsten Bereich von projektiven Möglichkeiten (Grunberger, 1964). Mit dem Ödipuskomplex werden wichtige unbewusste Themen in Verbindung gebracht: Bewusstheit von genitalen Impulsen bis hin zur sexuellen Beziehung der Eltern, von der das Kind ausgeschlossen wird; unerwiderte kindliche Wünsche gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil und intensive Feindseligkeit gegenüber dem Elternteil des eigenen Geschlechts; ein Zusammentreffen von Autorität und Macht, das dem Vater zugeschrieben wird und in den Kastrationskomplex mündet; und schließlich die Internalisierung der Autorität des Vaters als ÜberIch, welches Grenzen bei den Wünschen setzt und diese lenkt, um die Geschlechtsidentifikation zu erleichtern. Zusammen mit anderen frühen psychoanalytischen Beiträgen sah Otto Fenichel in dieser psychischen Sequenz zahlreiche Möglichkeiten für Projektionen auf die Juden, wofür hier ein Beispiel genügen mag. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Weggesperrt hinter geschlossenen Toren des Ghettos repräsentieren Juden das Elternpaar, was sich mit fröhlicher Unbekümmertheit auf schmutzigen und zügellosen sexuellen Verkehr einlässt. Ein Bild, das durch die archaische orientalische Herkunft wie dunklere Haut, große Nasen, unübliche Bärte und eigenartige Sprache und Bräuche verstärkt wird (Loeblowitz, 1947). Das Bild von Schmutz und Verdorbenheit wird verknüpft mit Erregung, Neugierde und Intrigen, aufgewühlt durch die Wahrnehmung des elterlichen Verkehrs und den Hass auf das kindliche Ausgeschlossensein. All das kann eine mörderische Intensität annehmen – der Jude als Mörder erscheint unheimlich oft als antisemitisches Stereotyp. Dazu kommt, dass dieses Bild vom Ghetto eine Masse von Menschen beinhaltet, die es irgendwie fertig bringt, der Macht der Unterdrückung zu entgehen – den Geboten des Über-Ich zum Trotz –, ein Bild, das verstärkt wird durch die Tatsache, dass Juden ihre eigenen, rätselhaften Gesetze haben. So wird eine weitere Projektion ermöglicht: die Projektion des Wunsches der Deutschen, gegen die Mächte zu rebellieren, die für ihre eigene Misere verantwortlich sind. Diese unbewusste Identifikation mit dem Trotz der Juden kann sich mit der Aufwallung der Kastrationsangst verbinden, wie sie in der antisemitischen Denkweise festzustellen ist und die ihrerseits durch das Wissen um die jüdische Beschneidungspraxis verstärkt wird (Frenkel-Brunswik u. Sanford, 1946). Dieses Beispiel erlaubt uns zu erkennen, dass der Antisemit vielfältige Projektionen auf die Juden vollzieht. Falls der Jude gehasst wird, weil er trotz der Macht des Über-Ich verbotenen sexuellen Impulsen Raum gibt, macht ihn das zum Rebellen. Als ein Rebell repräsentiert er den Bürger, der selbst wünscht, gegen die Obrigkeit anzugehen – eine Position, die ihm jedoch versagt ist und vom Staat, in dem er lebt, energisch unterdrückt wird. Letztendlich wird der Jude für die großen Schwierigkeiten im Land verantwortlich gemacht, die Unruhen und Rebellion auslösen können. Nun wird er von den Herrschenden für das Leiden der Massen verantwortlich gemacht und muss den Angriff erdulden, der vom Staat auf ihn verschoben wird. In der Psychologie des Antisemitismus kann fast jedes emotionale Thema leicht auf die Juden projiziert werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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»Kommt zu all diesen innerfamiliären Konflikten – in welchen der Jude entweder für die eine oder auch für beide Seiten stehen kann – die traditionelle jüdische Fähigkeit, mit Geld umzugehen, hinzu […] wie auch seine merkwürdigen Essenspraktiken […], dann fragt man sich, ob es irgendeinen wichtigen Aspekt des Unbewussten gibt, für dessen Verkörperung der Jude nicht benutzt werden kann« (Brenner, 1948, S. 29).
Diese frühe Erkenntnis, dass allgemeine, vertraute intrapsychische Themen in das Objekt des Rassismus hineinprojiziert werden, hat sich mehrfach klinisch bestätigt. Es gab Berichte, dass der Hass eines Rassisten sich verschärfen kann, wenn die zugrunde liegenden psychischen Themen aufflammen (vgl. Rodgers, 1960), und wieder nachlässt, wenn diese Themen bearbeitet werden (vgl. Silverman, 1985). Warum hat die rassistische Sündenbocksuche einen so großen Einfluss auf das antisemitische Denken der Nazizeit ausgeübt? In dieser Frage kam Otto Fenichel nicht weiter und ging meiner Meinung nach in die falsche Richtung, als er annahm, dass die »Eigensinnigkeit, mit der die Juden der Assimilation widerstanden« (Fenichel, 1946, S. 28), dabei half, sie zur Zielscheibe rassistischer Projektionen zu machen.1 Von da an war das Argument Fenichels ein systematisches: Propaganda, die mit politischen Ereignissen verknüpft wird, stellt ein soziales Stereotyp her, das beim Individuum psychische Themen wiederbelebt, die lange in heikler Anpassung, die zur Normalität gehört, zur Ruhe gebracht waren. Die wiedererlebte Angst und der Konflikt ermöglichen es, die rassistische Projektion als frische, bessere und, wie die Welt
1 Fenichel war sich dieser Schwierigkeit bewusst, da er auch anerkennt, dass diese Projektionen »sich nicht durch reale Erfahrungen mit Juden verändern würden« (1940, S. 32). Wie wir heute wissen, wird ein einzelner Jude, der sich entgegen seinem Stereotyp verhält, als Ausnahme angesehen – ein Mensch, der sich ganz gewöhnlich verhält, und nicht wirklich als Jude: So oder so bleibt das Stereotyp weiterhin hartnäckig bestehen. Aber Fenichel greift dann auf die Idee einer archaischen Erinnerung (im Sinne des Antisemiten) des Juden als eines Anderen zurück, welche die Nazipropaganda aufgriff und nutzte.
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herausfinden sollte, letzte Lösung für innere Spannungen anzubieten, die wir als das Gepäck unseres normalen Lebens verstehen. Heute würden wir das Problem anders formulieren. Was die ethnische Gewalt, die sich bei der Gründung des Staates Pakistan 1945 ereignete, und den Völkermord der 1990er-Jahre in Bosnien betrifft, so weiß man jetzt, dass sogar eine gut integrierte Gesellschaft nicht immun dagegen ist, entlang rassistischen Bruchlinien zu zerfallen – egal wie falsch die aktivierten Gruppenunterschiede sein mögen. Hier sind Freuds (1927) Überlegungen relevant, die er zur Dynamik der Überbetonung von kleinen Unterschieden für narzisstische Zwecke – um zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« zu unterscheiden – anstellte: Er sprach vom Narzissmus der kleinen Differenz (vgl. Rustin, 1991). Farhad Dalal (2002) baut auf einer zeitgemäßen Auffassung auf, nach der unser Verständnis von Rassen frei von objektiver Bedeutung ist, und gibt zu bedenken, dass der Prozess, in dem das Objekt fremd gemacht oder »verrasst« wird, für den Rassismus unerlässlich ist. Er zeigt, dass die Kategorien dem rassistischen Diskurs nicht vorausgehen, obgleich sie als solche erscheinen, sondern dass sie durch den rassistischen Diskurs erst hervorgebracht werden. Diese neue Konzeptualisierung betont, dass zum Zweck einer rassistischen Projektion bestimmte Besonderheiten der Juden vom Diskurs der Nazis als zentral ausgewählt wurden, während andere nicht beachtet wurden. So zu handeln, ist eine Strategie, um die anderen, hier die Juden, von sich abzuheben, und das auf eine Art, die glaubhaft erscheint: Wir sind dann überzeugt, dass diese ausgewählten Unterschiede wirklich real und signifikant sind. Folgt man dieser Argumentation, ist die Auswahl der Juden als gekennzeichnete Außengruppe eher beliebig. Es passte, dass sie da waren und sich erkennbar vom idealisierten Arier unterschieden.2 Dieser Gedanke wird durch die Tatsache gestützt, dass die Nazis auch andere Gruppen attackierten, die nicht ihren Idealen entsprachen: die psychisch Gestörten, die körperlich Behinderten und die Roma. Außerdem sollte die Industrialisierung der Juden-Vernichtung der Wegbereiter für den Plan sein, Europa von allen Slawen zu bereinigen und somit den Kontinent den angeblichen gebürtigen Ariern zurückzugeben. 2
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Ab dem Punkt, als Fenichel diese Fragen stellte, war er, wie ich meine, in die Konstruktion der Nazis einbezogen und sprach als Jude innerhalb dieser Konstruktion: Er fragte sich, was habe ich getan, dass ich so etwas verdient habe? Der Nazipropaganda gelang es, ihn – als Jude – davon zu überzeugen, dass ihm die Schuld zugewiesen werden müsse. Ich halte das für ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient. Wenn man die psychologischen Wurzeln des Antisemitismus analysiert – was Fenichel in bewundernswerter Weise tat –, regt sich Schuld; warum muss dies so sein? Die Fragen, die durch Fenichels Analyse erschlossen wurden, waren folgende: Wie ist es möglich, dass die gewöhnlichen Deutschen ihren Verstand einer wahnhaften, merkwürdigen Auffassung hingaben, die im Widerspruch zu ihren Ich-Funktionen stand, über die sie ansonsten verfügten? Warum konnte die Realitätsprüfung des Ich, die soweit alle Spannungen in Schach hält, die zu den unreifen Elementen des Unbewussten gehören, umgangen werden? Warum wird ein Individuum so empfänglich für den Lockvogel der rassistischen Überzeugungen, die so offensichtlich einfach gestrickt sind? Warum geht das Individuum zu früheren, psychischen Kompromissbildungen zurück und greift zu unreifen paranoiden Lösungen, von denen es sich entfernt hatte? Bei einer späteren Bearbeitung seines Textes, nachdem sich der ganze Horror des Holocausts offenbart hatte, erkannte Fenichel (1946), dass er an die Grenze dessen gestoßen war, was man bei der Anwendung der existierenden psychoanalytischen Kenntnisse auf Stereotype erzielen konnte. Neue Beobachtungen des antisemitischen Gedankenguts, die man tiefer gehend nur mit Hilfe des psychoanalytischen Settings erreichen kann, waren notwendig. Die Suche nach Literatur aus den vergangenen sechzig Jahren über Rassismus, wie er in der Übertragung beobachtet werden kann, führte zu enttäuschenden Ergebnissen. Nach dem Holocaust war es nur verständlich, dass es schwierig sein würde, den Antisemitismus direkt in der Übertragung zwischen jüdischem Analytiker und antisemitischem Patienten zu untersuchen – die Last der unmittelbaren Vergangenheit würde zu schwer zu tragen sein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Dennoch gäbe es Möglichkeiten, Rassismus klinisch zu untersuchen, doch ist es erstaunlich, wie sehr dieses Thema vermieden wurde. Ein Beispiel: Wulf Sachs (1937) analysierte einen schwarzen Migrationsarbeiter in Südafrika, schränkte jedoch seine Ziele darauf ein, zeigen zu wollen, dass man das psychoanalytische Modell der Psyche auf Schwarze und Weiße gleichermaßen anwenden könne. Mit diesem Fokus auf eine vorab bestehende Vorstellung wurde die Gelegenheit verpasst, Licht in den Rassismus zu bringen, der in der reichhaltigen, komplexen »schwarz-weißen Übertragung« präsent war. Obwohl Sachs in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort arbeitete, könnte es doch sein, dass unsere Profession als Ganze einem unbewussten Wunsch folgt: beweisen zu wollen, dass menschliche Wesen unter ihrer Haut aus demselben Material gemacht sind. Dieser Wunsch kann das Vorhaben, psychoanalytisch am Rassismus zu arbeiten, durchkreuzen.
Innerer Rassismus Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich an einem Beispiel aus meiner klinischen Arbeit zeigen kann, wie Rassismus psychisch funktioniert. Zwei relativ neue Entwicklungen in der Psychoanalyse haben den klinischen Zugang zum Subjekt verbessert. Die erste besteht darin, dass wir uns von der Betonung der Triebe durch Freud gelöst und unsere Prioritäten auf die Analyse der Objektbeziehungen gesetzt haben. Die zweite betrifft unser derzeitiges Verständnis, wie die Abwehr organisiert ist. Heute sehen wir Objektbeziehungen als eine innere Fantasiewelt an, die unsere Beziehung zur Außenwelt vermittelt. Wenn wir in der klinischen Situation nicht auf der Suche nach Triebschicksalen sind, wird es eher möglich, Phänomene wie den Rassismus zu untersuchen (Leary, 1995). Ein Vorteil des Konzeptes einer inneren Welt liegt darin, dass diese Welt unendlich variabel ist. Jede innere Welt ist von einer Menge an Objekten bevölkert, die für dieses Individuum von spezieller Bedeutung sind. Einige Objekte kann man in jeder inneren Welt finden. Sie können daher als Teil der psychischen Struktur aufgefasst wer© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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den. In diese Kategorie fallen das Selbst, das Über-Ich, die Mutter- und die Vaterrepräsentanz. Ich denke, dass der rassisch Andere auch in diese Kategorie gehört. Dies ist keine Hypothese. Es ist eine Beobachtung, dass es keine innere Welt gibt, die keinen rassisch Anderen enthält. Im Allgemeinen ist dies die andere Seite von sozialen Stereotypien, deren Existenz dem Verstand verborgen und privat bleibt, weil sie so normal und unauffällig ist. Für einige ist dieser Andere ein Mitglied einer speziellen Rassengruppe, für andere ein Mitglied einer Sprach- oder religiösen Gruppe. Einige von uns sind mit den Objekten unseres Rassismus vertraut, während andere eine Pseudotoleranz vorgeben, die keine emotionale Resonanz trägt – zum Beispiel: »Einige meiner besten Freunde sind Juden.« Andere jedoch projizieren den Rassisten in jemand anderen hinein, beispielsweise in einen Elternteil, der möchte, dass die Tochter innerhalb des Familienclans heiratet. Einige von uns kennen unseren eigenen Rassismus, während andere ihn projizieren; der Rassismus ist so oder so in unserer Psyche präsent. Von welcher Art ist die Beziehung zwischen dem Selbst und dem rassisch Anderen? Dafür nehme ich die zweite der beiden genannten neueren Entwicklungen zu Hilfe, das Modell der pathologischen Organisationen, wie es von John Steiner (1987, 1993) vorgeschlagen wird. Dieses Modell entwickelte sich auf der Grundlage klinischer Beobachtung: Einige unserer schwierigsten Patienten konnten in einer analytischen Behandlung nicht erreicht werden, weil es so aussah, als lebten sie in einer Fantasiewelt, die den Vorrang vor dem Kontakt mit dem Analytiker genießt. Anders als bei psychotischen Patienten, bei denen die Fantasie auf eine noch ungeklärte Art über die Realität dominiert, halten die erstgenannten Patienten ihren Kontakt nach außen als eine Art Abschirmung und Schutz ihrer Fantasiewelt aufrecht. Steiner (1987) argumentiert, dass die pathologische Organisation als Zuflucht vor einfachen emotionalen Zuständen funktioniert, die auf der einen Seite den Verfolgungsterror, der für die paranoid-schizoide Position charakteristisch ist, ebenso einschließt wie den unerträglichen Schmerz der depressiven Position auf der anderen Seite. Das Individuum fühlt sich sicher vor diesen Gefahren geschützt, solange es in dieser pathologischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Organisation lebt – eine bekannte Welt, von der man selbst glaubt, sie biete einen mafiaähnlichen Schutz als Gegenleistung für Loyalität. Das bedeutet, dass alle Interaktionen mit den Parametern der Abwehrorganisation in Übereinstimmung gesehen werden müssen und sich so die Probleme lösen lassen, die ihre Ursache darin haben, wirklich objektbezogen zu sein. Vor einigen Jahren konnte ich eine rassistische Attacke eines weißen Patienten auf mich in der Behandlung genau untersuchen (Davids, 2003). Mein Patient hatte äußerste Schwierigkeiten mit der Abhängigkeit von einem Analytiker, jedoch wusste er aus Erfahrung, dass er dringend analytische Hilfe braucht. Dies führte zu einem unmöglichen Dilemma, das er löste, indem er den bedürftigen Teil seiner selbst auf mich projizierte. Das ist nicht ungewöhnlich bei gestörten Patienten. An ihm aber war interessant, dass er die Bewusstheit über die Bedeutung der Farbunterschiede zwischen uns als Basis für diese Projektion benutzt hat. Er war Einheimischer und vermutete, dass ich ein Immigrant sei. Er war sich der rassistischen Einstellungen braunhäutigen Ausländern gegenüber äußerst bewusst und schloss sich ihnen selbst nicht an. Durch die Projektion wurde ich in seiner Vorstellung umgewandelt von einem, der eine braune Hautfarbe (und einen komischen Akzent) hat, zu einem Fremden, der sich abmüht, Akzeptanz im fremdenfeindlichen Britannien zu finden. Sein Problem mit der Akzeptanzfindung war auf mich projiziert, und der Ort des Geschehens war die Straße draußen. Das Sprechzimmer konnte für ihn dann ein gemütlicherer Treffpunkt sein. Obwohl projektive Prozesse, wie sie von Fenichel und anderen identifiziert wurden, auch in dieser Geschichte zentral sind, konnten sie keinen Aufschluss darüber geben, was die Attacke auf mich ausgelöst hat. Es war eine absolut unerwartete und außerordentlich bösartige Attacke. Unmittelbar vorher hatte ich gesagt, dass er unter psychotischer Angst leide, die mir, seinem Analytiker, bewusst sein sollte. Dies definierte ihn zu direkt als Patient in großer Not und löste seine gewalttätige Reaktion aus. Er erlebte mich so, dass ich seine anfängliche Projektion von Hilfe auf ihn zurückverlagern würde. Aber warum sollte er das tun? Ich habe keinen Standpunkt durchgesetzt oder auf irgendetwas be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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standen. Alles, was ich getan habe, war, als gewöhnlicher Analytiker zu sprechen, der eine Interpretation anbot. Es kam heraus, dass ich eine versteckte Akzeptanzgrenze überschritten hatte, die in ein komplexes Set aus Rollenerwartungen eingebunden war, das wiederum aus seiner Sicht jeden Austausch zwischen uns lenkte. Im Nachhinein ließ sich erkennen, dass er es war, der darauf bestand, dass ich nicht wie ein gewöhnlicher Analytiker, den ein Patient braucht, sprechen sollte. Im Gegenteil, alles, was ich sagte, sollte mit dem Bild von mir als Immigrant, der ein Problem hat, übereinstimmen. Wenn man der anfänglichen Projektion folgt, hatte sich daher ein Set von Erwartungen, wie man miteinander umgehen sollte, in seinem Kopf aufgebaut. Ich wurde nur attackiert, wenn ich von ihm so gesehen wurde, dass ich dieses Set oder Skript verlassen hatte – was unvermeidlich war. Weil ich eine Art heilige Grenze überschritten habe, fühlte er sich berechtigt, sich mit mir anzulegen. Ein Abwehrset dieser Art hat die Qualität einer pathologischen Organisation. Eine Funktion dieser Abwehrorganisation war es, die anfängliche Projektion, welche erkennbar rassistisch ist, zu verdecken. Indem die Projektion unsichtbar wird, wird auch die ganze Situation gleichsam hygienisch und lässt nur harmlose Erwartungen darüber zu, wie Menschen sich so verhalten sollten, dass dafür andere als rassistische Stereotype gelten. Ich schloss folglich, dass eine innere rassistische Organisation in der Seele meines Patienten existierte, die ihn vor der unerträglichen Angst rettete, die durch den Behandlungsbeginn ausgelöst wurde. In der Regel stellen wir eine Verbindung von Abwehrorganisation und schwerwiegender Pathologie her; eine innere rassistische Organisation sollten wir jedoch als normale pathologische Organisation auffassen. Das ist eine neue Idee. Sie erfasst zwei unterschiedliche Aspekte der rassistischen Organisation: Innerlich operiert die rassische Organisation wie eine pathologische Organisation, indem sie hartnäckig paranoidschizoide und depressive Ängste abwehrt. Um eine projektive Identifizierung zu bewirken, wird die rassistische Organisation jedoch sorgfältig auf die sozialen Bedeutungsunterschiede, die in der äußeren Welt gelten, abgestimmt und sie tendiert dazu, bestehende Sozialstereotype zu verwenden. Die innere rassistische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Organisation tritt in jeder inneren Welt auf und schützt uns vor unserer ursprünglichsten Angst, indem sie uns in eine Welt zieht, die uns bekannt ist, in eine Wir-Situation, in der Sicherheit eher durch Zugehörigkeit entsteht als durch Lösen der Probleme. Abwehrorganisationen verschieben den psychischen Fokus von der Angst und zum Sicherstellen, dass Interaktionen sich an eine strukturierte innere Schablone anpassen – jeder muss seinen ihm eigenen Platz einhalten. In einer rassistischen Organisation wird vom Bewusstsein ferngehalten, dass ein willkürliches Attribut einer Person (z. B. die Fremdheit des Juden) gewählt wird, um Projektion auf sie zu rechtfertigen, die selbstverständlich als rassistisch erkennbar ist. Stattdessen ist der einzige bewusste Abkömmling dieses Prozesses der Versuch, die Auffassung, die man von einem Objekt hat, zu rechtfertigen, indem man beweist, dass die Vorstellungen, auf die sie zurückgeht, wirklich wahr sind – dass Schwarze riechen, Juden die Welt kontrollieren und Muslime intolerante Fanatiker sind. Freud bezog sich, wie schon erwähnt, auf den Narzissmus der kleinen Unterschiede. Sobald Beziehungen in Übereinstimmung mit solchen Stereotypen organisiert sind, wird das Objekt des internen Rassismus rekrutiert und gebraucht, um eine Rolle im »inneren Traumskript« von jemand anderem zu spielen. Dies ist ein invasiver Prozess, der unmerklich den Sinn des Objektes von sich selbst als einer Person wegfrisst. Das Subjekt mag ahnungslos sein, das Objekt als Empfänger hingegen fühlt sehr wohl, was mit ihm geschieht: Es ist keine und darf keine gewöhnliche Person sein. Kommen wir zur Frage von Otto Fenichel zurück: Warum ausgerechnet der Jude? Wir dürfen vermuten, dass die psychische Energie der Nazi-Konstruktion sich nicht von etwas ableiten lässt, das für Juden spezifisch ist, sondern von der Fähigkeit, eine innere rassistische Organisation zu aktivieren, die den Einzelnen davon überzeugt, dass es nur diesen einen Weg gibt: sich auf diese Konstruktion zu stützen. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass es nicht nur die Nazis sind, die für das Argument empfänglich waren; da wir alle eine innere rassistische Struktur haben, durch die der rassisch Andere dämonisiert wird, haben wir an der Schuld der Nazis teil, was – so können wir jetzt vermuten – zu der Frage führt: »Was habe ich getan, dass ich das verdiene?« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Eine klinische Illustration Frau B., eine Akademikerin Anfang vierzig, hatte eine frühere Analyse, die sie mit Anfang zwanzig begonnen hatte, erfolgreich abgeschlossen. Das hatte ihr geholfen, in dem von ihr gewählten Feld innerhalb der Sozialwissenschaften sich zu etablieren. Sie war sehr begabt und erwarb bereits in jungen Jahren eine akademische Position an einer angesehenen Universität. Rasch erlangte sie einen guten Ruf. Außerdem ging sie eine stabile und befriedigende langfristige Beziehung ein. Nach einigen Jahren vereinbarten sie und ihr Analytiker, angesichts ihrer guten Perspektiven, die Beendigung der Analyse. Als der Termin jedoch näher rückte, überlegte sie es sich anders und bat ihren Analytiker, über eine Verlängerung nachzudenken. Er bestand auf der Beendigung, was sie sich damit erklärte, dass er mit einer von Heimweh geplagten Ausländerin verheiratet sei, in deren Heimatland sie zurückkehren wollten. Nachdem die Analyse beendet war, büßte sie allmählich Erfolge ein; ihre akademische Leistung versiegte, sie stagnierte beruflich und ihr Leben verzettelte sich. Sie verließ ihren Partner und begann eine lange destruktive Beziehung, die zum Scheitern verurteilt war. Eine zweite Analyse konnte diesen Absturz nicht aufhalten; sie gab diese Analyse nach etwa zwei Jahren auf. Es vergingen einige Jahre, bevor sie es wieder versuchte. Ich erkannte bald, wie lebendig ihr erster Analytiker immer noch in ihrem Seelenleben war. Ständig verglich sie mich mit ihm, meistens zu meinen Ungunsten. Ich dachte, die Beendigung der ersten Analyse sei von ihr als Katastrophe erlebt worden. Einige Zeit später verstand ich, dass sie einen eher umfassenden Kummer hatte, sich unerreichbar zu fühlen. Sie war die jüngste von fünf Geschwistern in einer Familie, die in einer überfüllten Zweizimmerwohnung wohnte und in der es chronisch an Geld mangelte. Dies alles wurde noch dadurch erschwert, dass ihr Vater öfter über längere Zeitperioden von zu Hause weg war. Dann schlief die Patientin in einem Bett mit ihrer Mutter. Im Kern ihrer Pathologie stand der Hass auf die Eltern. Sie hatten sie im Stich gelassen. In ihrer Fantasie reagierte sie darauf mit einer mörderischen Attacke auf die elterliche Sexualität, was © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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typisch für Kinder in solch erniedrigenden Umständen ist. Es gab keine jüngeren Geschwister. Ihrer Fantasie nach waren sie alle im Mutterleib getötet worden; sie wusste von einer Abtreibung. Natürlich waren auch die für sie so wichtigen Erträge ihrer früheren analytischen Interaktion untergegangen. Die analytische Aufgabe war es deshalb, diesen mörderischen Hass aufzugreifen und aufzunehmen. Allerdings erwies sich dabei Frau B.s Intellekt als geeignetes Hindernis. Rasch konnte sie eine Deutung erfassen, dann grübelte sie endlos – getarnt als freie Assoziation –, bis jegliche Möglichkeit zum Kontakt mit ihrem emotionalen Leben verpasst war. Wenn ich ihr sagte, dass ihr Abschweifen ein Angriff auf meine Fähigkeit war, ihr zu helfen, wusste sie das bereits. Folglich entwickelten wir ein umfassendes Verständnis des Problems, das sie mit ihrem Hass hatte, ohne dass es sie aber irgendwie emotional berührt hätte. Nach einigen Jahren des Kampfes mit diesem Problem brachte sie einen Traum, der es mir zu verstehen erlaubte, dass die Kräfte, zu denen ich mir einen Zugang verschaffen wollte, an eine innere rassistische Organisation gebunden waren; dadurch waren sie unerreichbar und eine Bewegung in der Analyse blieb blockiert. Sie näht Kostüme mit anderen. Da ist ein Männeranzug, in Schwarz, und ein dunkles, purpurnes Kleid, beide aus sorgfältig zusammengenähten Samtstreifen. Sie bemerkt eine graue Jacke mit einem großen roten Kreuz, das darin eingeprägt zu sein scheint. Die Jacke scheint jedoch flexibler als in der Realität. Frau B. dachte, dass die beiden Kostüme für die Beziehung zwischen ihren Eltern standen, an der wir gearbeitet hatten, wobei die Gewänder sowohl die Nähfertigkeiten ihrer Mutter wiedergaben, die sie bewunderte, als auch ihre Fähigkeit, aus wenig viel zu machen. (Delikate Gewänder wurden fachgemäß aus gebrauchtem Material gefertigt.) Wie im richtigen Leben, war ihr Vater eine dunklere, schattenhaftere Figur. Das Kreuz erinnerte sie an die englische Nationalflagge mit dem Kreuz des Heiligen Georg. Sie war kurz davor in den Nachrichten als Symbol Rechtsextremer gezeigt worden. Ihr Rassismus belastete sie: Könnte das Kreuz als Symbol einer inklusiveren, multirassischen britischen Identität zurückgewonnen werden? Sie sprach über den Triumphzug des Arsenal-Fußballteams, das den Liga© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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titel jenes Jahres gewonnen hatte, durch die Straßen Londons. Well Done Arsenal verkündete ein blutig in den Teamfarben Rot und Weiß – den Farben des Kreuzes – angemaltes Banner, das stolz von sechs schwarzen Spielern in die Höhe gehalten wurde. Wie befriedigend, dass ein multirassisches Team erfolgreich sein und die Herzen der Londoner erwärmen konnte. Wenn das rote Kreuz solch eine inklusive Britishness symbolisieren sollte, wäre sie bestimmt dafür. Während ich ihren Schilderungen zuhörte, überkam mich ein Gefühl von Stolz: Wir Londoner waren in der Tat strahlende Beispiele für Toleranz in einer sonst rassistischen Welt. Doch fragte ich mich schließlich: Wurde auf diese Weise eine tiefere Erkundung schwierigerer und komplexerer Dimensionen verhindert, auf die im Traum hingewiesen wurde? Frau B. sagte nichts mehr. Ich bemerkte schließlich, dass sie sich nicht auf den Bericht des Roten Kreuzes über Folterungen, die im Irak stattgefunden hatten, bezogen hat, von dem sie einige Tage zuvor gesprochen hatte. Als ich sie damit konfrontierte, war sie aufrichtig überrascht. Sie sagte, dass ich Recht hätte, den Bericht habe sie nicht im Sinn gehabt. Darauf folgte eine nachdenkliche Stille von mehreren Minuten, aus der sie schließlich auftauchte, indem sie sich selbst als »Hakenkreuz-Kind« bezeichnete – ein Kürzel für einen Gedanken, der in der früheren Analyse entwickelt wurde: dass ihre jüdische Identität eine Grausamkeit verbarg, die normalerweise mit den Nazis assoziiert wurde. Dies, sagte sie, beschwöre ein weiteres Kreuz herauf – das schwarze Nazi-Kreuz, das für abgewehrte Grausamkeit steht. Ich fragte mich, warum sie von sich als Nazi sprach. Als Kind war Frau B. das Opfer gemeiner rassistischer Vorurteile gewesen. Während einer Periode politischer Korrektheit waren die Schulen angehalten, Kindern anderen Glaubens das Christentum nicht einzureden. In der Folge mussten sie und ihre jüdischen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden während des Religionsunterrichts hinten sitzen, während den anderen beigebracht wurde, die Juden seien Christus-Mörder, ein Hohn, der sie danach auf dem Schulhof verfolgte. Ich erinnerte mich auch daran, wie ihre Mitteilung, dass sie jüdisch sei, eine ungewöhnliche, unmittelbare Gegenübertragungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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reaktion in mir hervorrief : »Das ist seltsam«, dachte ich, »du wirkst nicht jüdisch auf mich.« Ich erinnerte mich, dass sie kurz zuvor beschrieben hatte, wie sie es als Kind liebte, mit dem Nachbarsmädchen zu spielen. Während ich dieser Beschreibung eines Einzelkindes einer freundlichen englischen Familie zuhörte, dessen Zimmer voll war mit jedem Spielzeug, das sich ein kleines Mädchen wünschen konnte, hatte ich das Gefühl, neben meiner Patientin durch dieses Haus zu gehen, dieses niedliche blonde Mädchen direkt anzusehen. Meine Patientin hatte schwarzes Haar. Ich stellte mir vor, zu welch hübscher, zufriedener, englischer Rose sie heranwachsen würde. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt keinen Reim auf diese Fantasie machen, aber jetzt fragte ich mich, ob sie mir vermittelte, was sie getan hatte: War sie im Nachbarhaus eingezogen, um von ihrem überfüllten Zuhause wegzukommen? Als ich diese Elemente zusammenbrachte, konnte ich verstehen, dass sie das Problem des Mangels an emotionaler und körperlicher Versorgung zu Hause – ein untragbares Kreuz – löste, indem sie in ihrer Freundin lebte (in ihrer Fantasie durch projektive Identifikation in sie eindringend). Unbewusst war sie dadurch das englische Mädchen von nebenan, dem jedes Bedürfnis erfüllt wurde. Dies erklärte die Abwesenheit jeglicher Gefühle – Hass, Eifersucht, Neid und anderes – in Verbindung mit Entbehrung. So wurden ihre Bedürfnisse in der Fantasie befriedigt, und der Hass, der durch die Realität ihres Mangels hervorgerufen wurde, auf die Antisemiten projiziert, beispielsweise auf die Lehrer und Schüler in der Schule, die sie verhöhnten, deren Opfer sie bewusst war. Unbewusst war sie, da der Hass auf ihre Eltern in den Antisemiten lag, tatsächlich ein HakenkreuzKind. Die angenehme Träumerei als Reaktion auf den Traum sollte mich für diese konfliktreiche rassische Dynamik blind machen – so als wäre Rasse gar kein Problem. Ich teilte Frau B. den Kernpunkt dieser Interpretation mit, aber meine Mitteilung wurde zu lang und sie ging nur intellektuell darauf ein. Am nächsten Tag sagte sie, dass sie gedacht habe, das sei eine »großartige Geschichte«. Sie wiederholte die Elemente dessen, was ich ihr gesagt hatte. Es fiel ihr auf, dass sie dachte, für mich sei es eine Geschichte wie jede andere – sie hatte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Als-ob-Qualität. Deshalb sagte ich, dass sie etwas Wichtiges auslasse, das einfach zu schrecklich war, um darauf einzugehen: »Als Sie sich, im Geiste, in Sarah begaben, taten Sie das nicht nur, um das Problem Ihrer unbefriedigten Bedürfnisse und Sehnsüchte zu lösen. Es machte auch Ihrem Hass auf Ihre jüdischen Eltern Luft, die wie Ratten brüteten. Daher kehrten Sie ihnen wegen des zivilisierten arischen Nachbarpaares den Rücken zu.« Ich war versucht, viele Dinge hinzuzufügen, aber ich machte es kurz. Frau B. wurde für etwa zehn Minuten still, während ihr die Farbe aus ihrem ohnehin schon blassen Gesicht wich. Schließlich, genau zum Ende der Sitzung, sagte sie langsam nickend: »Ja, ich verstehe. Ich verstehe genau, was Sie sagen, und da es von Ihnen kommt, erkenne ich die Ernsthaftigkeit dessen, worauf Sie sich beziehen.« Dieser Austausch markierte einen Wendepunkt. In den folgenden Monaten wurde ihre falsche, intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrem Hass und ihrer Feindseligkeit allmählich fundierter. Er wurde zugänglicher durch Träume. Sie begann, Details aus ihrem Leben zu erzählen, die vorher herausgehalten wurden. So konnten wir beginnen, den Hass zu analysieren. Was sagt uns das über Rassismus? Meine Patientin liebte ihre Eltern. Deshalb war ihr Hass auf sie dafür, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, ihren Bedürfnissen zu entsprechen, ein ernsthaftes Problem. Als sie den Antisemitismus in der Schule entdeckte, ergriff sie die Gelegenheit, diesen Hass von sich in die Antisemiten zu projizieren: Als Jüdin war sie deren Opfer. Unbewusst war sie identifiziert mit der antisemitischen Kritik an ihren jüdischen Eltern, und ins Nachbarhaus zu ziehen, war eine Lösung für dieses Problem. Von nun an würden alle Anstrengungen, eine gute Bildung zu erhalten, Mittel sein, Teil des englischen Establishments zu werden und folglich Teil des Wirkens ihrer rassistischen Organisation. Dies war in ihrer ersten Analyse nicht verstanden worden.
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Eine Entwicklungslinie Die Idee einer normalen pathologischen Organisation muss in die Entwicklungstheorie integriert werden. Sie verlangt, dass wir das Schicksal psychotischer Belastung im Laufe der Entwicklung überdenken. Ich möchte kurz die Entwicklungsstufe ins Auge fassen, die darin involviert ist. Anfangs denken wir, dass der Säugling auf die Spaltung angewiesen sei, um seine intensive Liebe und seine destruktiven Gefühle auseinanderzuhalten, und in der normalen Situation wird erstere in Beziehung zur Mutter, letztere werden in der Beziehung zum Vater erlebt, der dadurch zu einem bösen Objekt wird. Dies bewirkt ein großes Ausmaß an Stabilität, weil der Säugling sozusagen weiß, wo sein böses Objekt ist. Mit seiner Reifung erfährt er jedoch die Liebe des Vaters und kann daher nicht aufrechterhalten, dass dieser nur böse ist. Eine realistischere Beziehung zu beiden Eltern wird möglich. Was aber ist das Schicksal der intensiven Kräfte, welche die psychotische Angst (eingeschlossen in der Projektion auf den Vater) zunächst produzierten? Gewöhnlich treten sie in Übergangsmomenten auf – zum Beispiel könnte das Kind in einem bestimmten Moment von Angst erfasst werden –, eher in Reaktion auf bestimmte Situationen als in Zusammenhang mit einer bestimmten Person. Aber die lösungsbasierte Spaltung taucht mit etwa acht Monaten wieder auf, wenn der gute Kreis nicht mehr um die Mutter und das Kind mit dem Vater als Außenseiter gezeichnet wird, sondern um die Familieneinheit, resultierend in einer Fremdenangst. Wir können uns das als einen Versuch vorstellen, die Situation zu stabilisieren – Spaltung zu institutionalisieren als eine Abwehr gegen einsetzende psychotische Ängstlichkeit. Aber auch dies hält nicht an, wenn das Kind lernt, dass seine größere Gemeinschaft seine Leute sind, die nicht ohne Kosten ausgeschlossen und dämonisiert werden können. Ich denke deshalb, dass das Problem, wie mit psychotischer Ängstlichkeit umzugehen ist, wiederkehrt, sobald das Kind eine Vorstellung davon hat, dass eine gesellschaftliche Außengruppe existiert – wenn eine innere rassistische Organisation gebildet
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wird, um Spaltung als Reaktion auf psychotische Angst zu institutionalisieren, immer einsatzbereit im Notfall. Das überwältigendste Beispiel für eine innere rassistische Struktur sind die Puppen-Studien, die ursprünglich in den USA in den 1940er-Jahren ausgearbeitet wurden (für einen Überblick vgl. Foster, 1994). Konfrontiert mit einer Entscheidung zwischen schwarzen und weißen Puppen, ordneten schwarze Kinder negative Eigenschaften schwarzen Puppen zu und positive den Weißen und zogen weiße Puppen den schwarzen als Freund vor, ein Befund, der weltweit repliziert wurde. Weiße Kinder zeigen nicht diese negative Selbst-Identifikation. Wenn wir im Sinn behalten, dass wir in einer postkolonialen Welt leben, in der schwarze Menschen negativ stereotypisiert werden, was mit negativen Konnotationen der Farbe Schwarz verknüpft ist, erzeugt dies die klarste, wenn auch die am meisten belastende Evidenz für eine rassistische interne Struktur, die entlang diesen Linien gebildet wurde. Sich mit dem idealisierten weißen Objekt in der Analyse oder Psychotherapie zu beschäftigen, setzt in der Regel – in nichtpsychotischen Patienten – die nackten psychotischen Kräfte frei, die in der Wurzel dieser rassistischen Abwehrorganisation liegen. Diese Abwehr existiert in uns allen und ist in einem Notfall immer abrufbar.
Interne rassistische Mechanismen nach dem 11. September 2001 Mein Argument beinhaltet, dass eine innere rassistische Organisation bei jedem Menschen vorhanden ist. Sie dient dazu, mit großer Angst zurechtzukommen. Ein Beispiel dafür lässt sich auch in den Reaktionen auf den Terroranschlag auf die Twin Towers vom 11. September finden. Noch bevor die Identität der Verantwortlichen bewiesen werden konnte, setzte sich der Gedanke im kollektiven Gedächtnis fest, dass islamistische Fundamentalisten/Terroristen die Verantwortlichen waren. Das Verbinden der Wörter Terrorist und Fundamentalist mit islamisch zeigte schon früh, dass antiislamische Tendenzen, die in der westlichen Kultur vorherrschen (Said, 1997), zusammenge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nommen werden würden, um den Feind als Muslim zu identifizieren. Und der gleich folgende Handlungsablauf gehorchte dem Gesetz der Vergeltung: Rache. Das Leben in einer friedlichen Umwelt, die nach den Regeln des Gesetzes regiert wird, gibt einen sicheren Hintergrund (Sandler, 1960), den wir im Westen als selbstverständlich annehmen und der unser Leben untermauert. Die Ereignisse des 11. Septembers verletzten diesen Sicherheitsschild und setzten uns all den primitiven Vernichtungsängsten aus, die darunter lauern. Die Anschläge waren erfolgreich im Verbreiten der Vernichtungsangst. Diese Erfahrung, terrorisiert zu werden, musste in den Muslim hineinprojiziert werden. Künftig sollte kein Muslim mehr den Seelenfrieden als selbstverständlich ansehen; in jedem Moment würde auf ihnen herumgehackt, sie würden verfolgt oder attackiert werden. Der in diesen unbewussten Kreuzzug eingebundene, nichtmuslimische Westliche wurde so frei von der Vernichtungsangst: Auf der anderen Seite wurde der Muslim zur Zielscheibe der stumpfen, zugleich aber auch todbringenden terroristischen Waffe und der nichtmuslimischen Vergeltungsantwort auf darauf. Auf die initiale Projektion folgend wurden unerbittlich weit reichende Handlungsabfolgen zur Regulierung der Beziehungen mit der muslimischen Welt in Gang gesetzt. Zwei Kriege wurden geführt, zahlreiche Muslime getötet und die Infrastruktur ihrer Länder zerstört. Das fundamentalistische Herz des Islams wurde explizit als der Feind im Inneren identifiziert, und das Kopftuch als die am meisten sichtbare Manifestation. Was die Kategorien des Islams und der Muslime betrifft, gab es nun kaum eine Möglichkeit, sie als gewöhnliche Menschen wahrzunehmen. »Es ist so, als könnte die Unterscheidung von religiösen Leidenschaften, vom Kampf aus einem gerechtfertigten Grund, von normaler menschlicher Schwäche und politischem Wettkampf […] nicht getroffen werden, wenn ›der Islam‹ […] von Schriftstellern, Reportern, Politikern, ›Experten‹ behandelt wird. Das Wort ›Islam‹ schien alle Aspekte einer vielfältigen muslimischen Welt zu verschlingen, in dem sie alle auf eine besonders übelwollende und nicht denkende Essenz reduziert wurden. Statt einer Analyse mit dem
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Ergebnis des Verstehens gab es für die meisten nur die krudeste Form des Wir-gegen-sie« (Said, 1980, S. 174).
Es ist verführerisch zu denken, dass die antimuslimische rassistische Organisation auf eine extreme, aber einflussreiche Minorität, zum Beispiel die amerikanischen Neo-Konservative, beschränkt ist. Ich meine aber, dass das nicht stimmt und dass das Phänomen weit verbreiteter ist. Schon zu Beginn gab es in den Köpfen derer, die nicht auf derartig rudimentärem Generalisierungsniveau dachten, aber auch in den Köpfen der mutmaßlichen Opfer schon eine Erwartung beziehungsweise Angst vor einer antimuslimischen Gegenreaktion. Diese Beziehung beinhaltet ein Selbst und einen rassistischen Anderen, den Muslim, der die berechtigte Zielscheibe der Rache ist. Ob einer ein solches Objekt besitzt, ist nicht der Punkt, sondern es ist wichtig, dass es innerlich existiert. Daher nehme ich an, dass eine solche rassistische Figur universell präsent war, entweder als Teil des Selbst oder auf den äußeren Xenophoben projiziert. Die Nichtanerkennung der Fähigkeit, eine rassistische Organisation zu erschaffen, löst das Problem nicht; es verlagert sich nur, und mit ihm die Angst. So entsteht eine psychische Verknüpfung zwischen dem äußeren, rassistischen Neo-Konservativen einerseits und dem sowohl dem äußeren Anschein nach toleranten Liberalen als auch dem muslimischen Opfer des Rassismus, das sich behaupten muss, andererseits. Die Verwendung einer rassistischen Organisation zur Angstabwehr ist nicht umsonst; ihr Nebenprodukt ist die Schuld gegenüber unschuldigen Zuschauern, die willkürlich und opportunistisch als Feind dargestellt werden, weil sie, wie die Angreifer, arabisch beziehungsweise muslimisch sind. Dies setzt sich zusammen aus dem Problem des Triumphierens (Segal, 2003): Sobald wir erkennen, dass wir auf diese Weise die Angst loswerden, können wir abhängig davon werden und Freude daran haben, anderen Leid zuzufügen, was wir als immer weiter von uns selbst entfernt erleben, bis wir letztendlich über das Leid selbst triumphieren. Die Schuld an der Beschädigung unschuldiger Anderer, ebenso wie der manische Triumph über die normale menschliche Schwäche, setzen nicht nur unsere Vernich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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tungsangst erneut frei, sondern auch die Vergeltung durch das Über-Ich. All dies kann dazu dienen, den Zugriff der Abwehrorganisation zu stärken. Wenn die rassistische Organisation zur Anwendung kommt, ist das mit dem Eindringen in einen geschlossenen Kreislauf vergleichbar : Je mehr wir die rassistische Organisation verwenden, desto mehr Angst erzeugen wir, und desto mehr müssen wir die Organisation selbst wieder abwehren. Um jedem Gedanken von der Art »Wir haben den falschen Mann«, oder der Frage: »Warum hassen sie uns so?« zuvorzukommen, verdoppelt die rassistische Organisation ständig ihre Anstrengungen, die Strafbarkeit des Islam oder der Muslime nachzuweisen. Die Medien sind in diesen Prozess offensichtlich involviert, und so sind es auch unsere wissenschaftlichen Disziplinen, die Psychoanalyse eingeschlossen.
Psychoanalytische Perspektiven des Terrorismus Ich bin dankbar für die Gelegenheit, die Bedeutung des inneren Rassismus auf unseren Versuch, die Rolle des Fundamentalismus in unserer Welt nach dem 11. September zu verstehen, beziehen zu können. In einer Atmosphäre, in der die inneren rassistischen Mechanismen weit verbreitet sind, ist es sehr schwer, die Wahrheit zu finden. Wir produzieren eher Wissen, das unsere Position in der nun geteilten Welt der Machtverhältnisse widerspiegelt – Wissen, dessen Ziel es ist, die rassistische Organisation, die uns alle schützen soll, an ihrem Platz zu halten. Innerhalb einer rassistischen Organisation identifizieren gegensätzliche Ansichten uns als jemanden, der zur anderen Seite gehört: »Du bist entweder für uns oder gegen uns.« Jedes Verständnis der anderen Seite ist gleichzusetzen mit einer ersten Duldung dieser Seite und ihrer Förderung: So gibt es keinen Platz für eine echte Debatte. Hatte man zur Zeit der Apartheid in Südafrika ein Buch über die Gleichstellung von Schwarz und Weiß in seinem Bücherregal, bedeutete das, man sympathisiere mit den Zielen des ANC; somit wurde man schuldig, eine verbotene, terroristische Organisation © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zu unterstützen, worauf eine Gefängnisstrafe oder Schlimmeres stand. Ein Beispiel für diese Problematik lässt sich der ausgewogenen Antwort der IPA auf die Anschläge des 11. Septembers entnehmen. Sie erschien unter dem Titel: »Gewalt oder Dialog? Psychoanalytische Erkenntnisse über Terror und Terrorismus« (Varvin u. Volkan, 2003). In der Rubrik »Was führt zu Terrorismus?« gibt es vier Beiträge – zwei von Psychoanalytikern (Akhtar, 2003; Awad, 2003) –, die ein gewisses Maß von Wissen über Muslime aus erster Hand haben, das den beiden anderen Autoren (Bohleber, 2003; Erlich, 2003) zu fehlen scheint. George Awad spricht aus seiner persönlichen Erfahrung im palästinensischen Exil, zunächst im Libanon und später in Kanada, einer Schwellenposition (vgl. Hall, 1990), die es ihm erlaubt, ein fein strukturiertes und historisches Bild der arabisch-muslimischen Situation einem überwiegend westlichen Publikum nahezubringen. Es ist ein eindringliches Plädoyer dafür, über das aktuelle Problem des Terrorismus nachzudenken, und zwar im Kontext der großen Demütigung und des Verrates an den Völkern des Nahen Ostens durch den dominierenden Westen wie auch durch die politischen Strömungen innerhalb dieser Gesellschaften. Salman Akhtar konzentriert sich auf verschiedene Formen der Entmenschlichung und stellt damit – wie auch andere in ihren Beiträgen – die Aktionen von Terroristen in einen breiteren Kontext. Er bringt es auf den Punkt, dass Entmenschlichung durch Verbreitung des Terrors nicht das Ziel der Terroristen sei, sondern eine Strategie zur Verwirklichung anderer, politischer Ziele. Mit diesem Kontrast zu anderen Formen der Entmenschlichung vertieft er unser Verständnis der Probleme, die sich durch das Begehen von Terrorhandlungen ergeben, und wie die Terroristen diese überwinden könnten: »In der inneren Realität schützt die Entmenschlichung Anderer ihn [den Terroristen] vor Empathie (die seine Aktionen unmöglich machen würde) und vor dem Auftauchen von Reue (die verhindern würde, erneut so zu handeln). Entmenschlichung des eigenen Selbst, nach dem Vorbild der Adrenalin pumpenden Ermahnungen einer religiösen oder sozialen Natur, ist im Wesentlichen also eine strate© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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M. Fakhry Davids gische. Ein dämonisiertes Selbst besitzt eine größere Immunität gegen die Ängste der Körperverletzung und weniger Trauer über ein verlorenes Leben. Es ist eine nützliche Waffe« (Akhtar, 2003, S. 139).
Während diese beiden Beiträge als Plädoyer gelesen werden können, die Terroristen der Gegenwart oder den arabisch-islamischen Kontext, aus dem sie hervorgehen, in Bezug auf historische, kulturelle und emotionale Kräfte zu sehen, produzieren die verbleibenden zwei Beiträge Darstellungen, die anfällig für Kritik sind, indem sie ein komplexes, vielschichtiges Problem auf einen psychologischen Kern reduzieren. Bohleber und Erlich argumentieren, dass ein unbewusster Wunsch nach Fusion mit einer größeren Entität eine zentrale, motivierende Rolle in der Mentalität der heutigen Terroristen spiele. Für Bohleber, dessen Arbeit ich nicht im Detail betrachte, hat die Idee der Zusammenlegung mit anderen Muslimen in eine »reine und einheitliche muslimische Gemeinschaft« (Bohleber, 2003, S. 124) sehr frühe Wurzeln in der Entwicklung, zurückgehend auf den infantilen Wunsch, mit der Mutter zu verschmelzen und so die unzähligen psychischen Probleme, die mit der Individuation entstehen, zu vermeiden – was seiner Behauptung nach durch den Islam nicht anerkannt werde (Bohleber, 2003, S. 15). Erlich, der sich auf junge Selbstmordattentäter in Israel/Palästina bezieht, ist auch der Ansicht, dass islamische religiöse und kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle bei dem Wunsch nach Verschmelzung spielen. Dieser Wunsch wird jedoch als Teil der normalen Entwicklung gesehen: »Was wir in terroristischen Aktionen und im terroristischen Denken sehen, ist nicht so sehr eine Funktion von überwältigender Wut, Hass und Destruktivität […] was wir antreffen, ist eine Notwendigkeit, das Selbst ›wiederzufinden‹, indem man es verliert, indem man ihm erlaubt, seine Grenzen zu verwischen und mit einer größeren Einheit zu verschmelzen durch das eigene Eintauchen in einer Idee oder Ideologie. Dieser Bedarf wird durch ein zugrunde liegendes Streben nach Erhaltung der ›Reinheit‹ des Selbst getrieben […] aus der kontaminierenden Unreinheit, die einem Anderen, dem ›Feind‹, zugeschrieben wird« (Erlich, 2003, S. 152).
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»Das Bedürfnis, in etwas anderes, das größer als das Selbst ist, einzutauchen« (Erlich, 2003, S. 149) sei charakteristisch für Jugendliche, die auf die umgebende Kultur schauen, um Möglichkeiten für eine solche Verschmelzung zu finden. Selbstmordattentate seien ein besonders geeignetes Vehikel für Verschmelzungsfantasien, weil sie nicht als Selbstmord, wie der Westen es sieht, sondern als Martyrium gelten. Das Martyrium kann die Suche nach der Fusion in diesem Leben und im Jenseits beantworten. Auf der Erde, so weiß die Jugend, gibt es neben den Schmerzen, unter denen das Leben verloren wird, »Akzeptanz, Beifall und sogar Stolz« in seiner Familie und der Gemeinschaft, während im Paradies siebzig Jungfrauen warten. Dies verspricht nicht nur ewige Glückseligkeit, sondern »die Vorstellung eines Verschmelzens mit ewiger Glückseligkeit« (Erlich, 2003, S. 151). Auf Formulierungen wie diese darf man in der Regel wenigstens einige klinische Hinweise erwarten. Welche Belege kann Erlich dafür vorweisen, dass Selbstmordattentäter unbewusst durch einen Verschmelzungswunsch motiviert sind? Erstens, dass sie (vor allem) Jugendliche sind und es in der Pubertät normal ist, solche Sehnsüchte zu haben. Zweitens einen Zeitungsartikel, auf den ich mit einem ausführlichen Zitat verweisen möchte. Erlich (2003) schreibt: »Ein kürzlich veröffentlichter Artikel in einer führenden Tageszeitung Israels (Haaretz, 16. Juli 2002) scheint meine These zu bestätigen. Der Titel lautet: ›Der Selbstmordattentäter, der Doktorand, ist überzeugt, ist ein glücklicher Mensch, der das Leben liebt.‹ Die Behauptung, dass Selbstmordattentäter durch persönliche Verzweiflung und Armut getrieben werden, wird von den interviewten Hamas-Aktivisten völlig abgelehnt. Einer von ihnen sagt: ›Als ich sah, dass Kinder getötet werden, die Steine auf Panzer werfen, und als meine Freunde an der Universität getötet wurden […] fasste ich den Entschluss, mich als Freiwilliger zu melden. Ich wusste nicht, wie man eine Waffe hält oder benutzt. Ich wurde von einem Gefühl der Rache für die Verteidigung des Vaterlandes getrieben […] Was einen Menschen wie mich bewegt, ist das Gefühl und der Glaube, dass Gott mich schützt und hilft den Sieg zu erreichen.‹ Osama Mazini, der seine Promotion in Psychologie an der islamischen Universität in Gaza abschließt, sagt: ›Psychologisch gesehen muss eine Unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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M. Fakhry Davids scheidung gemacht werden zwischen einer Person, die ihr Leben beendet aufgrund eines psychischen Leidens, und dem Shahid (Märtyrer), der ein glücklicher, lebensliebender Mensch mit innerer Stärke ist‹« (Erlich, 2003, S. 151).
Auf diese letzte Aussage zielt Erlich ab, um sein Argument zu bestätigen, dass der Begriff der Reinheit des Selbst, der von »religiösen Systemen« propagiert werde, den Gläubigen motiviere. Im Islam soll es die Aussicht auf ewige Glückseligkeit in der Vereinigung mit unbefleckten Jungfrauen sein, die den Shahid antreibt. Wie ich gezeigt habe, behauptet Erlich in dürftiger Weise, dass die terroristische Handlung nicht auf Destruktivität, Wut und Hass zurückzuführen sei. Er nennt keine Beweise oder eine Referenz zur Unterstützung seiner Ansicht, und daher frage ich, ob die Terroristen nicht zu normal erscheinen würden, wenn er es täte, da sie dann von den gleichen Dingen wie wir motiviert wären. Dies würde die Wir-sie-Unterscheidung bedrohen, die unbewusst als notwendig für unseren Schutz angesehen wird. Schaut man sich die Erzählung des Studenten als Ganzes an, ergibt sich genau dieses Bild: Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem Glück, das erwartet wird; im Gegenteil, der entscheidende Punkt ist, dass der potenzielle Märtyrer in der Gegenwart nicht unter suizidaler Verzweiflung leidet, die zu einer suizidalen Handlung führt. Ob man zustimmt oder nicht, die Behauptung des Studenten zeigt, dass es innere Kraft braucht, sich zu entscheiden, ob man sich aktiv an einem Kampf beteiligt oder passiv sein Los akzeptiert. Der Begriff »glücklich«, wie ihn die Befragten benutzen, steht in keiner Verbindung zum Begriff der Reinheit des Selbst, wie es Erlich behauptet; er steht in starkem Kontrast zur Depression, zu »psychischem Leiden«, womit ein Bild des Selbstmordattentäters als einem normalen Individuum gezeichnet wird, das mit beiden Füßen auf dem Boden steht im Gegensatz zum Bild eines suizidalen depressiven Menschen. Das ist natürlich nicht leicht herauszuhören. Die Erzählung geht weiter. Sie erzählt von schrecklichen Ausschreitungen, vom Hass und von den destruktiven Kräften der Rache, die durch unberechtigte und unverhältnismäßige Gewalt auf der Seite einer allmächtigen Besatzungsmacht ent© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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fesselt wird und zu der Entscheidung führt, Waffen in die Hand zu nehmen. Das heißt, dass materielle Bedingungen motivierend sind – und das ist genau die Auffassung, die Erlich von der Hand weist. Sie steht im Widerspruch zu der von ihm vorgeschlagenen psycho-religiösen Motivation. Statt jedoch diese entscheidende Differenz anzusprechen, wird sie von Erlich ignoriert. In der Erzählung selbst wird, der emotional getriebenen Entscheidung folgend, das Vaterland zu schützen und den Tod von Landsleuten zu rächen, Gottes Schutz erfleht. Damit wird der Religion eine völlig andere psychologische Rolle zugewiesen als in Erlichs Ausführungen. Hier ist es ein Gott, der Leiden bezeugt, die Entscheidung versteht, der unterstützt, die Soldaten schützt und sie belohnt, wenn nicht in diesem Leben, dann in dem darauf folgenden. Vergleichen Sie dies mit Erlichs Ansicht: »Es ist keine psychotische Regression, welche die Jugend dazu führt, ihr Leben wegzuwerfen. Es ist die ungeheure Macht und der glückselige Frieden, der aus der Verschmelzung des Selbst mit einer größeren Ursache kommt – und das ist das Paradies. Es ist ein Zustand des Geistes, der keine Berechnungen mehr anstellen oder instrumentelle Entscheidungen treffen muss« (Erlich, 2003, S. 151, Hervorh. F. D.).
Nach meiner Lesart behaupten die Studenten tatsächlich, dass Selbstmordattentäter eine instrumentelle Wahl treffen. Dies heißt nicht, dass Erlich falsch liegt und die Befragten, die ich nicht kenne, Recht haben; das wäre vermessen. Was ich jedoch unterstreichen möchte, ist die Diskrepanz zwischen den beiden Ansichten darüber, was die Selbstmordattentäter motiviert. Sie wird nach wie vor nicht anerkannt und bleibt aufzuklären. Relevant ist für mein Thema, dass es die Frage aufwirft, ob Erlich a priori beschloss, dass ihre Religion die Schuld an der Gewalttat trägt. Wäre das so, dann würde das Beispiel zeigen, wie leicht es geschieht, den starken Kräften der bestehenden Islamophobie in unserer Welt zum Opfer zu fallen. Im Unterschied zwischen den beiden Auffassungen liegt die Möglichkeit einer ernsthaften Suche nach Wahrheit in dieser schrecklichen Situation. Wir alle können die Selbstmordattentate © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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missbilligen, aber sie zu verstehen, bedarf es einer Bereitschaft, die Geschichte in erster Linie ohne Verzerrungen zu hören. Wenn das versagt, kommt es zur willkürlichen und wilden Analyse, mit der realen Gefahr, dass die eigenen überbewerteten Vorstellungen des Analytikers an die Oberfläche kommen, als wären es die unbewussten Vorstellungen des Patienten (Britton u. Steiner, 1994). Ich gehe davon aus, dass in unserer gegenwärtigen Welt überbewertende Ideen die Dämonisierung des Islam vorantreiben, ihm die Schuld geben und ihn für den Terrorismus verantwortlich machen. Übersetzung: Anne Miereke, Tamara Lewin, Friederike Höltermann und Heinrich Deserno
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Jorge Canestri
Psychoanalyse und Rassismus Diskussion des Beitrags von M. Fakhry Davids
Soziale Gewalt, Rassismus, Terrorismus sind der gemeinsame Nenner von sehr verschiedenen Ursachen; sie sind das Endprodukt eines Konflikts, dessen Wurzeln weit verzweigt sind und der so unterschiedliche Situationen einschließt wie Armut, ethnische Differenzen, Mangel an Alternativen, politische Unterdrückung, das Verschwinden von Sicherheiten oder Erwartungen, religiöser Streit oder Wahnsinn. Die erste Vorsichtsmaßnahme, die notwenig erscheint, wenn über diese Themen gesprochen wird, ist die Vereinigung unterschiedlicher Ursachen in diesen Ausdrücken, so dass eine neue Kategorie in sich selbst geschaffen wird und der Weg für metapsychologische oder metasoziologische Erklärungen frei wird. Das Risiko ist, illusorisch ein scheinbares Verhältnis von Gewalt, Rassismus oder Terrorismus zu erhalten und deshalb die Hypothese aufzustellen, dass jede einzelne dieser Metaerklärungen an sich dem zu diskutierenden Phänomen Rechnung tragen kann. Die zweite Vorsichtsmaßnahme, die ergriffen werden muss, resultiert aus der Erkenntnis ob der Mannigfaltigkeit der beteiligten Elemente; sie postuliert den Bedarf an multidisziplinärer Forschung in Annäherung an das Thema. Hierzu sind jedoch einige Warnungen zur Methode bei interdisziplinären Schnittstellen angezeigt. Vor rund dreißig Jahren veröffentlichte das »International Journal of Psycho-Analysis« einen Artikel von R. S. Wallerstein und N. J. Smelser (1969) über Psychoanalyse und Soziologie. Ich zitiere ihre Warnung zur Methode: »Insofern, als jede Disziplin die Reichweite ihres Untersuchungsgebiets notwendigerweise begrenzt und vereinfachende Annahmen über Gebiete außerhalb dieser Reichweite macht – d. h. als gegeben behandelt –, nimmt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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jede Disziplin hin, über die Unzulänglichkeit dieser Annahmen informiert zu sein, indem sie auf empirische Forschung und theoretische Formulierungen von Nachbardisziplinen verweist.« Dieser »Prozess wechselseitiger Information und interaktiver Modifikation« oder dieses »Prinzip komplementärer Artikulation« (Wallerstein u. Smelser, 1969, S. 695) zwischen (den oben angeführten) Disziplinen liefern die Grundlage für einen interessanten Austausch. Der französische Soziologe Edgar Morin (1981) drückt das Konzept klar aus: »Soziale Gewalt ist ein komplexes bio-psychoanthropo-soziologisches Problem, das wir irrsinnigerweise zu reduzieren und zu eindimensionieren versuchen« (Morin, 1981). Das Gleiche könnte in Bezug auf Rassismus oder Terrorismus gesagt werden. Einige Überlegungen von Norbert Elias über Gewalt in seinem Buch »Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I« (1983), scheinen mir sachdienlich, um eine bestimmte Haltung bei denjenigen, die diese Phänomene studieren, zu besänftigen. Wie Elias sagt, ist es evident, dass wir große Schwierigkeiten haben, Probleme, die aus der menschlichen Natur heraus entstehen, zu betrachten und zu untersuchen, während wir beträchtlichen Erfolg gehabt haben, Problemen nichtmenschlicher Natur zu begegnen. Bei der Betrachtung von Problemen menschlicher Natur fehlt Wissenschaftlern die Distanzierung. Wobei der Begriff Distanzierung (detachment) hier als heilend im psychoanalytischen Sinne intendiert ist, der nicht Passivität oder keine Teilnahme bedeutet, sondern eher eine aktive Teilnahme an der konkreten Elaboration sowie an den Erfahrungen der Gruppen im Konflikt. Es ist eine Frage des Wiederentdeckens im erfahrenen Leid und des Wiedererkennens der verursachten Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten beider Konfliktparteien, ein Ausweg aus der Spirale wechselseitiger Gewalt. Es ist für alle schwierig – sowohl für diejenigen, die direkt von einer Gefahr umgeben sind (real oder imaginär), sowie für diejenigen, die das Phänomen studieren sollten (seien sie Psychoanalytiker, Soziologen, Historiker, Anthropologen oder Philosophen) –, eine zeitlich adäquate Perspektive zu erreichen. Elias © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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betont, dass unsere zeitliche Perspektive theoretisch unbegrenzt ist, wenn wir Phänomene nichtmenschlicher Natur behandeln, während unsere Perspektive angesichts menschlicher Phänomene durch Verkürzung deformiert wird; Historizität verschwindet und wir tendieren dazu, unser Blickfeld auf das Geschehen im Hier und Jetzt zu beschränken. Die offensichtliche Tatsache berücksichtigend, dass Wissen – und mit ihm die Vorurteile, die Wunden, die Diskriminierungen, die Traumata – über Generationen durch den Lernprozess (dieser beinhaltet Imitation, Identifikationen etc.) weitergegeben wird und weil es keine genetische Transmission von Kultur und Wissen gibt, ist der implizite Widerspruch in der Verkürzung der zeitlichen Perspektive auf das Hier-und-Jetzt-Phänomen als Untersuchungsgegenstand sogar noch evidenter. Deshalb ist es einleuchtend, dass die Analyse sozialer Phänomene nicht von einer Untersuchung der Ausrichtung der Gruppe, zu der ein Individuum gehört, getrennt werden kann und auch nicht von allem, was auf diesem Weg an Wissen akkumuliert ist, aber auch, wie ich bereits erwähnt habe, an Vorurteilen, Traumata und Ressentiments. Mit anderen Worten ist es offensichtlich, dass jedes Subjekt das Resultat von allem ist, was die Gruppe, der er/ sie angehört, zuvor angesammelt hat, und dass diejenigen, die das Ergebnis studieren, nicht anders können, als die Gesamtheit des Inputs zu berücksichtigen. Um es noch klarer zu formulieren: Menschen isoliert zu betrachten ist bei der Analyse sozialer Phänomene irreführend, da diese Phänomene ein Wir voraussetzen, dessen theoretisches Erfassen in psychoanalytischen Begriffen zwar unzulänglich und sicherlich nicht einfach, aber definitiv notwendig ist. Die Abhängigkeit des Menschen vom Anderen in seinen kognitiven wie emotionalen Funktionen ist derart – und das haben die Psychoanalyse und viele andere Disziplinen klar gezeigt –, dass es paradox wäre, es anschließend zu ignorieren, wenn wir nach den Gründen für die Phänomene Rassismus, soziale Gewalt oder spezifisch für Terrorismus suchen. Ich denke, dass solch eine Annäherung, die die Notwendigkeit der Betrachtung der Vielfalt der in das Phänomen involvierten Faktoren berücksichtigt, in Davids interessanter Arbeit deutlich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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erkennbar vorhanden ist. Sein erstes Ziel ist eine psychoanalytische Reformulierung des Rassismuskonzepts, angeregt durch die Arbeit von Otto Fenichel (1940). Es ist richtig, dass Fenichels Text eine Analyse vorschlägt, die in mancher Hinsicht stark vereinfachend und in anderer Hinsicht inkorrekt ist. Die Annahme über den Grund, warum der Antisemitismus so eine starke Anziehung auf die Menschen in der Nazi-Ära hatte, nämlich »die Hartnäckigkeit, mit der die Juden der Assimilation Widerstand geleistet haben«, kann durch Zitieren einer sehr ausführlichen Bibliografie kontrastiert werden. Um sie zu widerlegen, müssen wir nur die Arbeit von Georg L. Mosse erwähnen: »German Jews beyond Judaism« (1985). Gemäß Mosse war es die Übernahme von Konzepten der Aufklärung als ein neuer Glaube, die zur Isolierung der Juden führte, während deutscher Nationalismus sich immer weiter von dieser Weltanschauung entfernte. Davids diskutiert die Notwendigkeit, »das Problem anders zu formulieren«, da selbst »eine gut integrierte Gesellschaft nicht gegen das Brechen an rassistischen Linien immun ist«. Ein oberflächlicher Blick auf die Menschheitsgeschichte konnte seine Beobachtungen nur bestätigen. Von einem psychoanalytischen Standpunkt aus gesehen unterstützt er die Vorteile, sich »von Freuds Betonung der Triebe hin zu Objektbeziehungen in der Psyche zu bewegen« bei gleichzeitiger Berücksichtigung »des gegenwärtigen Verständnisses der Abwehrorganisation«. In Davids’ Text bietet dieser Standpunkt viele Möglichkeiten, die er bei der Beschreibung der Vorteile seines Modells betont. Aus meiner Sicht darf es jedoch nicht als ein alternatives und exklusives Modell betrachtet werden. Wie Fenichels Arbeit und auch meine nachfolgenden Aussagen über Gewalt und Terrorismus zeigen, ist die Integration von Trieb- und Objektbeziehungsmodell sinnvoll und notwendig. Ich denke, dass die Möglichkeit, die Existenz von pathologischen Organisationen gemäß J. Steiners Modell (1993) zu betrachten und eine spezifische innere rassistische Organisationen aufzuzeigen, die als eine normale pathologische Organisation gesehen werden muss, schlüssig ist und ihr Potenzial gerade in den im Beitrag von Davids näher ausgeführten Analysen der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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interessanten klinischen Beispiele zeigt. In ähnlicher Übereinstimmung mit dem Modell und mit der klinischen Praxis steht die Tatsache, dass diese innere rassistische Organisation für das Subjekt eine internale Funktion der Abwehr von schizo-paranoiden und depressiven Ängsten sowie eine externale Funktion der Abstimmung mit sozialen Bedeutungen und sozialen Stereotypen hat, wodurch eine projektive Identifikation mit rassistischen Prototypen und Fantasien bewirkt wird. Durch die Erweiterung des Konzepts der Spaltung von Fetischismus und psychotischen Pathologien zu neurotischen Pathologien und Normalität in Kapitel VII von »Abriß der Psychoanalyse« (Freud, 1938), war es Freud, der es uns ermöglichte, die Existenz von getrennten Bereichen der normalen und pathologischen Psyche zu verstehen. Basierend auf diesem Modell stellten die Barangers, Freud und M. Klein folgend, 1961 die Hypothese der Existenz von Bastionen (oder Schutzwehren) in jedem Individuum auf. Diese Bastionen werden von frühen, in der Psyche des Subjekts eingekapselten Mechanismen verteidigt und eignen sich für projektive Identifikationen. In gleicher Richtung hypothetisierte, meiner Meinung nach, Steiner (1993) Orte des seelische Rückzugs. Was diese Modelle ähnlich macht, ist, die unabdingbare Normalität (Normalität, die Pathologie sicherlich nicht ausschließt) dieser Bereiche zu postulieren, die, wie Davids sagt, bereit sind, unter bestimmten Umständen aufgerufen zu werden. Es scheint ebenso einleuchtend, die Hypothese aufzustellen, wie dies der Autor macht, dass sich »die Kraft einer rassistischen Konstruktion« aus ihrem Vermögen ableitet, die innere rassistische Organisation präzise wieder zu erwecken. Wie ich zu Anfang erwähnt habe, ist es notwendig, zusätzlich Hypothesen über andere konkurrierende Faktoren aufzustellen, um das Phänomen zu erklären, und dies ist im Nazi-Phänomen besonderes offensichtlich. Da ist eine Frage, die ich dem Autor, meinen Kollegen und natürlich mir selbst stelle. Ist das Phänomen des Antisemitismus identisch mit anderen rassistischen Phänomenen? Ich habe einige Zweifel. Eine sorgfältige Untersuchung der Geschichte der Juden in Westeuropa – die ich aus offensichtlichen Platzgründen hier nur erwähnen kann – offenbart Formen von Rassismus und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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von Antisemitismus, die sehr unterschiedlich und manchmal auch divergierend sind. Manche der Stereotypen, die Fenichel identifiziert, entsprechen verschiedenen Perioden in der Geschichte. Dass die Juden »schmutzig und verkommen« waren, wurde ihnen nach der Pest im 14. Jahrhundert zugeschrieben, eine Epidemie, die die Möglichkeit bot, Juden als ansteckende Leute zu betrachten. Das Bild von Juden als Mörder ist ein eng mit Beziehungen zum Christentum verbundenes Phänomen und manifestierte sich im 11. Jahrhundert mit Beginn der Pogrome und den ersten Kreuzzügen […] gegen die Muslime! Juden wurden als Gottesmörder angesehen und dies führte zu zwanghafter Bekehrung als einer Alternative zum Tod, aber dieser Stereotyp und die Gründe, die ihn hervorgebracht haben, änderten sich offenkundig nach zwei Jahrhunderten. Und sie änderten sich in den folgenden Jahrhunderten weiter, um dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine umso radikalere Transformation zu erfahren, mit den Konsequenzen, die wir alle kennen. Wir mögen zustimmen, dass die Pseudo-Ursachen, die von Zeit zu Zeit angeführt werden, um die antisemitischen Stereotype zu konstruieren, obwohl sie den Inhalt modifizieren, das Schema oder die strukturellen Ursachen an der Basis des rassistischen Phänomens aber unberührt lassen; das heißt, Projektion auf die Außenwelt des Verfolgers, Hervorrufen der inneren rassistischen Organisation. Jedoch können wir uns vielleicht fragen, ob dieser spezifische Rassismus Charakteristika hat, die eine Unterscheidung zwischen seiner Natur und anderen Phänomenen, die wir in einer Klasse zusammen gruppieren, nahelegt. Ich stimme mit Davids darin überein, dass es notwendig ist, die Idee der normalen pathologischen Organisation in die Entwicklungstheorie zu integrieren. Sein Schema stellt einen bestimmten Moment der infantilen Entwicklung heraus, der in Verbindung mit der Fremdenangst mit acht Monaten und mit dem Übergang von der ›Familieneinheit‹ zur sozialen Fremdgruppe steht. Hieraus entstehen die Bildung einer inneren rassistischen Organisation und eine Institutionalisierung der Abspaltung. All dies führt zum Thema des Anderen im psychischen Leben des Menschen und seine Übertragung, welches ein extrem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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wichtiger Punkt bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus, Gewalt und Terrorismus ist. Ich werde zu diesem Punkt nach einigen Kommentaren zu Gewalt und Terrorismus zurückkehren. Aus psychoanalytischer Sicht kann Gewalt, und in diesem speziellen Fall Terrorismus, aus verschiedenen Richtungen angegangen werden. Eine ist theoretischer Natur: nämlich zu versuchen, die genaue raison d’Þtre der Gewalt in der Konstitution und der Funktion der Psyche in Betracht zu ziehen. Freuds Argumente zu diesem Thema sind gut bekannt: der Todestrieb, der innen und außen wirkt, kann nicht bestritten werden noch kann Aggressivität neutralisiert werden. Allerhöchstens können wir seine Antagonisten stärken: »If willingness to engage in war is an effect of the destructive instinct, the most obvious plan will be to bring Eros, its antagonist, into play against it. Anything that encourages the growth of emotional ties between men must operate against war« (Freud, 1932, S. 212). Sogar, wenn man die freudianischen Thesen zu den ultimativen Ursprüngen von Destruktivität und Gewalt annimmt, kann sich die Stärkung des Antagonisten leicht als zweischneidiges Schwert erweisen. Soziale Ordnung trägt den Keim der Verfolgung in sich. In einer Abhandlung mit dem emblematischen Titel »Pourqoui le mal?« behandelt A. Green (1988) das Problem der Wurzeln von Bösem und trifft eine nützliche Unterscheidung zwischen Todestrieb und Aggressivität, zwischen der Liebe von Bösem (love of evil) sowie unsensibler Destruktivität und dem Sadismus sexueller Perversion, um die Bindung (fusion) oder Ent-Bindung (de-fusion) von Trieben zu konzeptualisieren. Wenn der Todestrieb komplett ungebunden (defused) ist, dann lässt sich seine deobjektualisierende Funktion (Green), die die Entmenschlichung des Objekts erlaubt, in all ihrer Intensität erkennen. Sicherlich sind auch andere theoretische psychoanalytische Ansätze möglich. Viele Modelle betonen den Trieb zur Soziabilität, zur Etablierung und Verstärkung von Verbindungen mit der Umwelt, zur Kontaktaufnahme mit den Anderen, als natürliche Neigungen des Kindes. Ich denke, jeder stimmt der Bedeutsamkeit der frühesten Lebenserfahrungen mit der Umwelt für die Entwicklung von Ur-Vertrauen zu, ohne welches verschiedenste © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Entwicklungsstörungen folgen würden. Von diesem Standpunkt aus werden diese psychoanalytischen Beobachtungen auch von der Ethologie (z. B. Eibl-Eibesfeldt, 1970) aufrechterhalten, die zeigt, wie die positive Grundlage des Vertrauens in Seinesgleichen das Ergebnis einer zufriedenstellenden frühsten Beziehung ist. Jedoch trifft es gleichermaßen zu, dass ethologische Forschung über die Hemmung von Gewalt zeigt, wie Menschen, durch kulturelle Entwicklung, in solch einer Weise die Karten auf dem Tisch mischen können, dass die natürlichen positiven Grundlagen nutzlos gemacht werden. Angeborene Hemmungen werden durch die Degradierung des Anderen zu einem nichtmenschlichen Fremden und durch technische Errungenschaften, die es ermöglichen, ohne zu sehen aus der Distanz zu töten, in eine Krise gestürzt. Aber auch diese anderen psychoanalytischen Ansätze, die auf der Betonung des Triebs zur Soziabilität basieren, können sich als zweischneidiges Schwert erweisen. In seiner Arbeit über »L’agressivit en psychanalyse«, unterstreicht Jacques Lacan (1948) bei der Analyse der Frage der metapsychologischen Struktur des Todestriebs die spezifische Beziehung des Menschen zu seinem eigenen Körper, die danach in der Allgemeingültigkeit einer Serie von individuellen Phantasmen (corps morcel) und sozialen Praktiken (Tattoorituale, Körpereinschnitte, Beschneidung etc.) erklärt wird. Diese spezifische Beziehung entsteht aus einer echten strukturellen Kreuzung, dem Spiegelstadium, dessen narzisstische Natur zentral ist. Unter dieser Perspektive ist Aggressivität mit der grundlegenden narzisstischen Beziehung als Bestandteil des menschlichen Egos (moi) verbunden und deshalb mit den Strukturen von NichtAnerkennung und Objektivierung, die die Bildung des menschlichen Egos charakterisieren. Lacan ist nicht der einzige, der Theorien über die Gefahren der Persistenz narzisstischer Strukturen im Subjekt und ihre Bedeutung für die Entwicklung individueller Gewalt oder Gruppengewalt aufstellt. Andere Autoren haben aus sehr unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln ihre Bedeutsamkeit aufgezeigt. Bei einer Präsentation während eines FEP-Kongresses (1999) mit dem Titel »Rflexions pour introduire une discussion © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sur la violence individuelle et sociale«, betonte Henri Vermorel, dass der Trieb zur Soziabilität, repräsentiert durch die primäre Bindung, selbst auch double face ist, indem er die Gefahr einer verlängerten Abhängigkeit von den primären Objekten beinhaltet. Des Weiteren erwähnt er die Arbeit von J. Bleger (1967), der seinerseits postuliert, wie ein Teil der früh bindenden Undifferenzierung der ursprünglichen Mutter-Kind-Beziehung für immer bestehen bleibt. Welchen gemeinsamen Ausweg schlagen die verschiedenen Autoren vor? Die Anerkennung der Andersartigkeit. Aber diese Antwort lässt sofort die ihr innewohnenden Probleme durchscheinen. Welche Art der Andersartigkeit ist davon betroffen und wie kann sie anerkannt werden? Auf der Ebene der bekannten hegelianischen Postulate (der Dialektik von Herr und Knecht) stellt sich das Verlangen nach Anerkennung als ein unerfüllbares heraus – und dies ist durch die Zeitgeschichte mehr als bewiesen. Es ist daher notwendig, von einer abweichenden Version dieser Dialektik auszugehen. Der Ansatz wird für die Psychoanalyse ansprechender, wenn klinische Praxis, empirische Erfahrung und die je individuelle Psychopathologie mit einbezogen werden. In vielen Fällen können wir einen Zusammenhang zwischen gravierenden Entwicklungsdefiziten und – unter anderem – einer unbefriedigenden Umgebung voraussetzen. Aber es ist auch wahr, dass bei der Behauptung komplexer Kausalzusammenhänge besondere Vorsicht angemessen ist. Betrachten wir die umfangreichen Daten über die Erfahrung von Aggression in der Kindheit (vgl. z. B. den Artikel von Fonagy u. Target, 1995) aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive und beziehen es auf große Gruppen oder Populationen, so scheint Robert A. Hindes Warnung gerechtfertigt: »Eine Warnung vor der Erwartung einfacher monotoner Kausalbeziehungen zwischen Kindheitserfahrungen und später auftretenden Wesensmerkmalen« (Hinde, 2005, S. 1 – 12). Ich habe zuvor die Unzulänglichkeit der psychoanalytischen Theorie hinsichtlich der Einbindung des Individuums in seinen sozialen und institutionellen Kontext erwähnt. Ich werde nicht auf die Arbeiten von Bion eingehen, deren Beitrag zu diesem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Thema allgemein bekannt ist. Aber ich möchte gern diejenigen von J. Puget et al. (1989) erwähnen, insbesondere einen ihrer Essays mit dem Titel »The psychoanalytical status of social violence«, in dem sich die Autoren mit dem Problem der sozialen Dimension des Subjekts auseinandersetzen. Sie stellen fest, dass ein metapsychologischer Status für die Polarität Subjekt – Institution/Gesellschaft – das heißt für die Polarität Ego – Andere – nicht existiert. Den psychischen Räumen des Intra-Subjektiven (dem Bereich der Beziehungen des Körper-Egos und der Objektbeziehungen) und des Inter-Subjektiven (dem Bereich der Verbindungen mit anderen Menschen) fügen sie daher noch einen dritten, transsubjektiven Raum hinzu, der als der virtuelle Ort für die Beziehungen des Egos mit der soziokulturellen Welt zu verstehen ist; Beziehungen, welche die Zugehörigkeit des Egos zu verschiedenen Arten von Institutionen sicherstellen. Die Autoren schreiben diesem Raum einen speziellen Organisator zu – das Verbot, deinen Nächsten zu töten, da die Beziehung der Zugehörigkeit immer auch ein potenzieller Erzeuger von Gewalt sein kann. Ich möchte diesen Aspekt unterstreichen, der sich mit der oben erwähnten narzisstischen Nicht-Reduzierbarkeit überschneidet. Was erwartet sich das Subjekt von dieser Zugehörigkeit? Anerkennung – vom Anderen erkannt und anerkannt zu werden. An diesem Punkt finden wir uns inmitten der Dialektik der Anerkennung mit all ihren impliziten Problemen wieder. Aus Platzgründen kann ich hier eine weitere Formulierung der Dialektik der Anerkennung nicht eingehend ausführen, bei der ich dem Vorschlag E. Morins (1981) folge, der in seinem Buch mit dem Titel »Pour sortir du vingtime sicle« als letztes ethisches Thema des Jahrhunderts die Verpflichtung benennt, Menschlichkeit hervortreten zu lassen. »Tatsächlich«, sagt Morin, »formiert sich das Gefüge der Menschlichkeit, ausgehend von Individuen, dann, wenn jeder jeden Anderen als seinen Nächsten anerkennt, der in seinen Bereich der Kommunikation eintritt, der bezogen auf das Ego ein Anderer (Ego-Alter) ist, welcher der Möglichkeit nach ein eigenes, anderes Ich (Alter-Ego) ist.« Als einzigen Ausweg aus der Krise bestimmt er die Versicherung, dass der Feind zu einem Ego-Alter/Alter-Ego werde. In den 1970-er Jahren schrieb F. Fornari, dass die paranoide © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Beziehung der Vereinigten Staaten (insbesondere inmitten des Kalten Krieges) durch die Formel »Dein Leben ist mein Tod, mein Leben ist dein Tod« (Fornari, 1974) ausgedrückt wurde. Morin schlägt eine Umkehrung der Formel vor, die in eine andere Zukunft führt: »Mein Tod ist dein Tod, mein Leben ist dein Leben« (Morin, 1981). Wir mögen uns aber fragen: Wer ist dieser Andere, der in uns selbst lebt, von dem wir Anerkennung erwarten, den wir ebenso viel als den Anderen anerkennen und in uns beherbergen müssen? Eine Studie wie die des Linguisten E. Benveniste (1969) in seinem »Vocabulaire des institutions indo-europennes « kann hier sehr nützlich sein. Im Lateinischen ist hostis das Wort für Gast, und rührt vom gotischen Gasts her (von dem sich auch das englische guest ableitet). Aber die Bedeutung des gotischen Gasts ist Gast, die des lateinischen hostis hingegen Feind.1 Wir mögen uns fragen, wieso im lateinischen Wortschatz Gast Feind bedeutet. Um die Beziehung zwischen Gast und Feind zu erklären, sagt Benveniste, wird üblicherweise anerkannt, dass beide von der Bedeutung von Fremder im lateinischen Wortschatz abgeleitet sind, wobei »wohlwollender Fremder = Gast« und »feindseliger Fremder = Feind« ist. Aber vielleicht ist diese Art, die Dinge zu sehen, vereinfachend. Der Römer Festus sagt: »Sie werden als Gäste (hostes) bezeichnet, weil sie dasselbe Recht haben wie das römische Volk, und wir sagen hostire für aequare.« Daraus lässt sich ableiten, dass hostis weder der Fremde noch der Feind ist. Daher rührt hier aequamentum, Gleichheit. In keinem der mit diesem Konzept verknüpften Worte taucht die Auffassung von Feindschaft auf, bis auf hostis. Die ursprüngliche Bedeutung ist aequare – ausgleichen, gleich machen. 1
Der Begriff Gast ist in etymologischer Hinsicht doppeldeutig: Das lateinische hostis kann je nach Kontext und dem historischen Zeitpunkt der Verwendung Gast, Fremder, Ausländer, Gegner oder Feind bedeuten. Später tritt daneben im Lateinischen auch hospes sowohl als Bezeichnung für Gastfreund, Gast oder Fremder. Der gefährliche Fremde wird vom willkommenen Fremden unterschieden. Beim von hostis abgeleiteten neuhochdeutschen Gast ist die Bedeutung auf den zweiten Aspekt reduziert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Ein hostis ist kein Fremder schlechthin; hostis ist »der Fremde, insofern als er die gleichen Rechte genießt, wie sie den römischen Bürgern zugebilligt werden«. Die Anerkennung der Rechte impliziert eine bestimmte reziproke Beziehung, sie setzt eine Konvention voraus, und diese führt zum Begriff der Gastfreundschaft. Dieser Begriff beruht auf dem Gedanken, dass jeder Mensch mit einem anderen verbunden ist (hostis hat immer einen reziproken Wert), und zwar durch die Funktion der Pflicht zur Wechselseitigkeit jener Dienste, die ihm zu Gute gekommen sind. Aber zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt hat diese Einrichtung ihre Bedeutung in der römischen Welt verloren, weil sie eine Art von Beziehung voraussetzte, die nicht länger mit dem nun eingerichteten Herrschaftssystem zu vereinbaren war. Als die alte Gesellschaft eine Nation wurde, wurden die Beziehungen von Mensch zu Mensch und Klan zu Klan schwächer und die Unterscheidung ging auf das über, was auf die civitas bezogen extern oder intern war. Von da an erhielt das Wort hostis eine feindliche (hostile) Bedeutung und wurde nur auf den Feind angewendet. Hostis schließt somit in sich den Wandel ein, der zwischen den römischen Institutionen stattfand. Die lateinische Sprache konstruierte daraufhin das Wort hospes, wenn von Gästen die Rede war. Hospes wurde durch Verbindung von *hostipet abgeleitet. Dieses Kompositum ist für uns interessant, weil pet ursprünglich persönliche Identität anzeigte. Das Partikel wurde gebraucht, um eine Person selbst zu bezeichnen und damit: Identität. Dieser Übergang von hostis zu hospes, das Ergebnis eines sozioökonomisch-politischen Prozesses, ist von beträchtlicher Bedeutung; es definiert eine Art von Beziehung und artikuliert die Begriffe von Gastfreundschaft, von Andersartigkeit und von Identität in nur einem einzigen Konzept. Im psychoanalytischen Denken erhält der Begriff der Identität den Namen Selbstgefühl. Wir wissen, in welchem Maß Zerbrechlichkeit, Unsicherheit und Relativität Charakteristika dieses Gefühls sind. Wir wissen auch, wie groß die Vielfalt an Phänomenen ist, die mit den normalen und pathologischen Veränderungen des Selbstgefühls verbunden sind. Die Alltagssprache selbst zeigt, wie der Begriff der Identität, wenn er auf das Subjekt selbst angewendet © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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wird, zum zirkulären Begriff wird. Wenn das Pronomen selbst gebraucht wird, um dasselbe zu benennen, so wird die individuelle Persönlichkeit ihre Vollständigkeit darin finden, dass sie dasselbe wie sie selbst ist. Die Alltagssprache situiert den Sinn der Identität in der wiederholten Bekräftigung der Übereinstimmung oder des Zusammentreffens von mir und meiner selbst, aber sie sagt nichts über das Selbst, das eigentlich in Frage steht. Die Psychoanalyse, und allen voran Freud, hat versucht, die »einzelnen Phasen der Entwicklung des Selbstgefühls und ihren Wandel« zu analysieren; vom frühesten mentalen Stadium an, in welchem die Trennung zwischen dem Selbst, der Außenwelt und den Anderen unbeständig ist und in dem das Erfahren des fortwährenden Verhandelns der subjektiven und objektiven Welten, des Selbst und der Anderen, an seinem Anfang ist, bis hin zu einer komplexen und nie endgültig fertig gestellten Situation, die wir, einfach gesagt, die Identität eines Subjekts nennen können. Steiners Modell folgend hat Davids uns gezeigt, inwieweit diese Identität pathologische Organisationen in sich einschließt. Der große portugiesische Autor Fernando Pessoa (1982), der sich in diesen Dingen auskannte, stellte fest, dass »jeder einzelne von uns mehr als einer ist, viele, eine Unmenge seiner Selbst.« Was mir – wenn auch sicherlich nicht originär – wichtig zu sein scheint, ist, dass die Psychoanalyse die Erklärung der psychischen Kausalzusammenhänge von einer bloßen Abhängigkeit von den Bedingungen der Funktionsweise eines hypothetischen psychischen Apparats auf die Beziehung mit dem Anderen als einer condition sine qua non des mentalen Lebens verlagert: Der Mensch braucht andere Menschen, um zu psychischem Leben geboren zu werden. Diese Bedarfsbedingung geht weit über den mit dem bloßen Überleben verbundenen Status an Bedürftigkeit und Abhängigkeit hinaus und ebenso über den wohlbekannten Bedarf einer Stimulierung der Funktion, damit sich diese entwickeln kann, wie es zum Beispiel beim Spracherwerb der Fall ist. Wir können folgern, dass das Selbst – dessen, was das künftige Gewahrsein von Selbst sein wird – unauflösbar mit dem Anderen verbunden ist. Im Dienste dieser Überzeugung findet der gesamte methodologische Apparat der Analyse seine raison d’Þtre: Um mich selbst zu kennen, muss ich durch das Andere hindurchgehen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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das in mir ist, und zwar mit der Hilfe eines Anderen als meiner selbst. Worauf hingewiesen werden muss, ist, dass es irreführend wäre zu glauben, dass diese Passage durch das Andere hindurch in ihrer konstituierenden Funktion für die menschliche Psyche sich während der ersten Monate des Lebens erschöpft. Wenn die Liebesbeziehung mit dem Anderen (der Mutter oder ihrem Ersatz) die Bedingung und die beste Garantie für die psychische Geburt ist, dann ist der Durchgang durch das Andere auch die Bedingung dafür, dass der Eintritt in ein Wertesystem und in das Universum der Zeichen möglich wird, das die menschliche Spezies charakterisiert. Dieser Durchgang, dieser Übergang dauert daher ein Leben lang an. Ich würde diese Formel vorschlagen: Es gibt kein Selbst ohne das Andere, das Andere ist die Voraussetzung für die Existenz der Psyche und lebt in ihr ewig fort. Ich denke, wir können verstehen, dass eine Auffassung wie diese die Konzepte von Identität, Andersartigkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Fremden (hospitality) unauflösbar verbindet. Es ist die Bedingung für die höhere oder geringere Integration des Subjekts und seine höhere oder geringere Akzeptanz gegenüber der zugrunde liegenden Vielgestaltigkeit der Identität, welche Aufgeschlossenheit zu geben und aequamentum zu üben erlaubt; Gleichheit im Akzeptieren und Anerkennen des Unterschieds. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, Andersartigkeit anzunehmen und die daraus resultierende Aufgeschlossenheit zu üben. Davids’ Arbeit erforscht erfolgreich einige der Wesensmerkmale der Mühseligkeiten, die dies beinhaltet. Übersetzung: Felicia Schröck
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Umgang mit Fundamentalismus, Gewalt und dem Fremden – Theoretische Konzepte und klinische Erfahrungen
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Ethnopsychoanalytische Perspektiven auf adoleszente Gewalt und Religion
Zur Fragestellung: Wünsche, Gewalt und Omnipotenz Weil Gewalt eine Möglichkeit ist, seinen Willen auch gegen das Widerstreben anderer Individuen durchzusetzen und damit Macht über sie auszuüben, spielt sie eine entscheidende Rolle im sozialen Leben. Wer über Gewalt verfügt, ist auf das Einverständnis von anderen nicht angewiesen und kann von ihnen etwas fordern, ohne entsprechende Gegenleistungen erbringen zu müssen. Der Gewalt wohnt eine rationalistische Magie inne: Sie ist wie eine Zauberformel, die einem all das verschaffen kann, was man sich wünscht. Zwischen der Fähigkeit des Menschen, wünschen zu können, und seiner Neigung zur Anwendung von Gewalt besteht eine unheimliche und tiefreichende Verbindung, die mit seinen Omnipotenzfantasien zu tun haben. Wenn Fantasie und Realität nicht zur Deckung kommen, Wünsche nicht in Erfüllung gehen, dann wächst die Bereitschaft, sich gewalttätig zu holen, was die Verhältnisse einem versagen. Wer aber Gewalt einsetzt, kommt schnell unter der Herrschaft seiner Omnipotenzfantasien und vermag deshalb nicht mehr die Realität adäquat einzuschätzen. Besonders in der Adoleszenz ist das Verhältnis zwischen Fantasie und Realität ein prekäres: Unter dem Druck der Größen- und Allmachtsfantasien bekommt das Wünschen in dieser Lebensphase eine große Intensität; Fantasie und Realität können oft nicht mehr klar auseinandergehalten werden, und die jugendliche Gewalttätigkeit entwickelt eine Eigendynamik, die vom Individuum nicht mehr kontrolliert werden kann (vgl. Erdheim, 2002). Märchen sind Erzählungen vom Wünschen, und das Mär© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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chenhafte an ihnen ist nicht zuletzt, dass die Wünsche ohne Einsatz von Gewalt in Erfüllung gehen: Die Fee spricht ein Zauberwort und schon sind die Karosse und die Diener zur Stelle. Nicht von ungefähr sind die Märchen aber voller Blut und Toten; die böse Königin und die Hexe, der Drache und der mächtige Riese müssen meist qualvoll sterben, und die untergründige Moral der Geschichten lautet: Weil Märchen von den Wünschen handeln, spielt in ihnen die Gewalt eine so große Rolle. Im Grimm’schen Wörterbuch stößt man auf das Wort Wunschgewalt: Es bezeichnet die Fähigkeit, eine Wunschäußerung wirksam werden zu lassen. Die Gewalt im Wunsch kommt auch im Begriff der Verwünschung klar zum Ausdruck – jemanden verwünschen heißt, ihm mit Erfolg etwas Böses anzuwünschen. Wünsche schlagen oft dann in Gewalt um, wenn sie den Größenund Allmachtsfantasien entspringen und das Individuum über keine anderen Möglichkeiten verfügt, sie in Realität umzusetzen. Die Psychoanalyse hat sich von Anfang an mit den Wünschen beschäftigt. Freud hob vor allem die triebhafte Seite des Wünschens hervor, aber allmählich setzte sich ein anderer Gesichtspunkt durch, nämlich den Wunsch in Verbindung mit den Objektbeziehungen zu bringen. Große Kontroversen wurden geführt, um entscheiden zu können, welcher Zugang der geeignete war. Joseph Sandler zielte darauf, eine psychoanalytische Motivationstheorie zu entwerfen, in der beide Gesichtspunkte, das Triebhafte ebenso wie die Objektbeziehungen, Berücksichtigung finden sollten (vgl. Sandler, 1989). Er vertrat den Standpunkt, bedrohte Sicherheit, Verletzungen des Selbstwertgefühls etc. würden kompensatorische narzisstische Wunschfantasien (etwa Superman-Fantasien) wecken. Auch gehe es nach Verlusten um den Wunsch, die Beziehung zum verlorenen Objekt wiederherzustellen. Sandler bezieht sich auf Freuds Traumdeutung: Die Erlangung von Befriedigung wird (im Traum) durch eine Wahrnehmungsidentität erreicht. »In seiner einfachsten Form stellt der Wunsch eine Suche nach Wiedererleben einer Erinnerung an etwas dar, das in der Vergangenheit einmal befriedigend war. Wenn in der Gegenwart eine identische Wahrnehmung erreicht wird, dann ist die Wunscherfüllung herbeigeführt worden« (Sandler, 1989/1994, S. 83). Im Traum wird durch die Halluzi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nation zwar nicht das biologische Bedürfnis, aber doch der psychische Wunsch erfüllt. Im Folgenden nehme ich zwar Sandlers Fragestellung auf, versuche aber sie auf eine andere Art und Weise zu beantworten.
Was heißt ethnopsychoanalytisch? Es geht mir nicht um Ethnologisches im traditionellen Sinn, also etwa um Vergleiche mit Stammesgesellschaften. Es geht mir viel mehr um eine psychoanalytische Betrachtung, die der kulturellen Dimension des psychischen Geschehens größere Beachtung schenkt. In der Geschichte der Psychoanalyse hat es schon eine Vielzahl solcher Versuche gegeben: Geza Roheim war einer der ersten Pioniere, die Frankfurter Schule, insbesondere mit Theodor W. Adorno, Erich Fromm und andere, hob die sozio-ökonomische Komponente hervor, Alexander und Margarete Mitscherlich beschäftigten sich mit dem Einfluss des Nationalsozialismus auf die Psyche, die Zürcher Ethnopsychoanalyse schrieb weitere Kapitel zur Zusammenarbeit zwischen Ethnologie und Psychoanalyse und schließlich griff auch Alfred Lorenzer das Thema der sekundären, außerfamiliaren Sozialisation auf, um die nachkonziliaren Entwicklungen des Katholizismus zu untersuchen. Mein Versuch, die kulturellen Dimension bei der Analyse der Psychodynamik des Individuums zu berücksichtigen, geht von zwei Prämissen aus, die bisher nicht oder kaum beachtet wurden. 1. Die Zweizeitigkeit der psychischen Entwicklung und die Rolle, die die Adoleszenz als zweite Chance dabei spielt, und 2. die Bedeutung der Größen- und Allmachtsfantasien für Religion und Gewalt.
Die Zweizeitigkeit der psychischen Entwicklung Die Adoleszenz kann deshalb als eine zweite Chance betrachtet werden, weil vor allem drei Prozesse in Gang kommen, die das Individuum zwingen, neue Erfahrungen zu machen: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Die triebhafte Entwicklung. Sexualität und Aggression schaffen den Druck, den das Individuum dazu antreibt, neue Objekte suchen zu müssen. Das Inzestverbot nötigt das Individuum, die bisherigen Liebesobjekte aufzugeben und das Fremde begehrens- und liebenswert zu finden. Die Aggression macht es notwendig, klarer zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Winnicott weist auf den fünfjährigen Knaben hin, der mit seinem Vater rivalisiert, und den Pubertierenden, der nun seinen Vater tatsächlich erschlagen kann … Die Größen- und Allmachtsfantasien werden in der Adoleszenz virulenter. Der Wunsch, stärker, gescheiter, sportlicher, schöner als die anderen zu sein, lassen dem Individuum keine andere Wahl, und es muss sich in das Getümmel werfen. Es geht um Grenzüberschreitung und um die Lustangst, die die Umsetzung der Größen und Allmachtsfantasien fördert. Hinzu kommt auch der Rausch, der die Größe und Allmacht bestätigen soll. Gerade weil diese Größenfantasien zur Grenzüberschreitung verlocken, ist die Adoleszenz eine Lebensepoche, in der sehr starke religiöse Impulse wirksam werden. Von daher rührt auch die Faszination von Sekten und esoterischen Gruppierungen (Satanismus) auf diese Altersgruppe … Der Generationskonflikt und der damit in Verbindung stehende Antagonismus zwischen Familie und Kultur eröffnet dem Individuum neue Bereiche, in denen es sich bewähren kann. Das Individuum wird vom Inzestverbot genötigt, sich von den familiären Liebesobjekten abzuwenden und im Kulturellen neue Objekte zu suchen. Kultur ist in dieser Sicht nicht einfach das Vertraute und bereits Bekannte, sondern das Fremde, das Angst, aber auch Faszination weckt. Sicher ist es eine Tendenz des psychischen Apparates, Wohlbefinden, Sicherheit und Geborgenheit zu suchen. Aber es gibt auch die Tendenz nach Spannung, nach dem Neuen und Fremden. Unsere Kultur hat dieser zweiten Tendenz immer mehr zum Durchbruch verholfen. Bis zu einem gewissen Grad kann man sagen, dass die Kindheit unter der Herrschaft der Tendenz nach © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Geborgenheit und Wohlbefinden steht, während die Adoleszenz zunehmend die zweite Tendenz fördert. Um die Rolle der Adoleszenz als zweite Chance zu verstehen, muss man das Konzept der Nachträglichkeit verwenden. »Der Begriff der Nachträglichkeit«, schreiben die Psychoanalytiker H. Thomä und H. Kächele, »verbietet es, die Geschichte des Subjekts auf einen linearen Determinismus, der lediglich den Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart beachtet, zu reduzieren« (Thomä u. Kächele, 1988, S. 115). Die Adoleszenz ist insofern eine Voraussetzung dafür, dass das Prinzip der Nachträglichkeit wirksam werden kann, als sie bereits aufgrund des physiologischen Geschehens (Wachstum, hormonale Veränderungen) das Individuum zwingt, neue Erfahrungen zu machen. Entscheidend ist, dass diese neuen Erfahrungen in einem existenziellen und in der Regel unbewussten Sinn Neuinterpretationen früherer Erfahrungen ermöglichen. Wenn Louise Kaplan schreibt: »Der Zweck der Adoleszenz ist es, die Vergangenheit zu revidieren, nicht, sie auszulöschen« (Kaplan, 1988, S. 210) so verweist sie auf die Chance, sich nun bei Fremden (d. h. nicht Familienangehörigen) das zu holen, was einst im familiären Rahmen defizitär gewesen ist. Gelingt das, so kann die frühere Erfahrung revidiert werden; scheitert es, so ist die Voraussetzung für eine Kumulation des Traumas gegeben, und dann scheint es, als ob die frühkindliche Geschichte des Individuums determinierend wird. Mit anderen Worten: Der Determinismus der frühen Kindheit wird nur dann wirksam, wenn es nicht gelingt, die Adoleszenz als zweite Chance zu nutzen. Psychische Störungen haben in der Adoleszenz eine spezifische Bedeutung: Sie können als Versuche interpretiert werden, dem Druck und dem Risiko auszuweichen, neue Erfahrungen machen zu müssen. Aber nur diese neuen Erfahrungen erlauben dem Individuum, die Ressourcen seiner Vergangenheit neu zu bestimmen. Eine wesentliche Strategie in der Adoleszenz besteht darin, die Vergangenheit in der Gegenwart neu zu inszenieren, um sie so zu revidieren und zu verarbeiten. Das Konzept der Adoleszenz als zweiter Chance spielt auch im Hinblick auf die Interpretation von Gewalterfahrungen und Kriminalität von Jugendlichen eine wichtige Rolle. Die meisten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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psychoanalytischen Untersuchungen postulieren eine Kontinuität zwischen der frühkindlichen Sozialisation und der jugendlichen Kriminalität (vgl. Moser, 1978). In der Regel wird ein deterministischer Zusammenhang postuliert: Weil die frühe Kindheit defizient war (zu wenig Bindung, Überstimulierung, Gewalterfahrung etc.), wird der Adoleszente dissozial und gewalttätig; er wiederholt alte Erfahrungen, und daran muss man ihn hindern. Das Konzept der Nachträglichkeit legt jedoch eine andere Interpretation nahe: Die Wiederholung ist die Voraussetzung dafür, dass sich dem Jugendlichen eine zweite Chance bietet. Man darf sie nicht unterbinden, sondern muss sie nutzen. Das Problem liegt darin, ob es dann zu einer Fixierung oder zu einer Relativierung der frühen Erfahrungen kommt. Bei der Lösung dieses Problems kann die Gesellschaft eine wesentliche Hilfe bieten, aber nur wenn sie beziehungsweise ihre Vertreter keine Angst vor der Wiederholung haben. Der Erfahrungsdruck, Rutschky (1980) spricht zu Recht auch vom »Erfahrungshunger«, macht es auch verständlich, dass viele Adoleszente auf der Suche nach intensiven, starken Erfahrungen sind. Gerade das macht sie auch so ansprechbar auf Religiöses. Und jetzt mache ich doch einen kurzen Sprung ins Traditionelle – was sich, wenn von Religion die Rede ist, gar nicht vermeiden lässt. Ob es sich um Texte über Initiationsfeiern und Fruchtbarkeitsrituale oder um Darstellungen urzeitlicher Geschehnisse handelt – sie wecken sogar bei der Lektüre starke Emotionen. Wie musste es erst sein, wenn das Beschriebene unmittelbar, das heißt als reales Geschehen erlebt wurde! Es geht in diesen Texten um etwas Überwältigendes, nicht Kontrollierbares. Der französische Soziologe Emile Durkheim beschrieb die emotionale Bewegung archaischer Feste folgendermaßen: »Nun wirkt aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel. Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewußtsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist. Jedes Bewußtsein findet sein Echo in den anderen. Der erste Anstoß ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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größert sich auf solche Weise immer mehr, wie eine Lawine anwächst, je weiter sie läuft. Und da diese starken und entfesselten Leidenschaften nach außen drängen, ergeben sich allenthalben nur heftige Gesten, Schreie, wahrhaftes Heulen, ohrenbetäubendes Lärmen jeder Art, was wiederum dazu beiträgt, den Zustand zu verstärken, den sie ausdrücken. […] Die Erregung wird manchmal derart stark, daß sie zu unerhörten Akten verführt. Die entfesselten Leidenschaften sind so heftig, daß sie durch nichts mehr aufgehalten werden können. Man ist derart außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen und man ist sich dessen derart bewußt, daß man sich notwendigerweise außerhalb und über der gewöhnlichen Moral erhebt. Die Geschlechter begatten sich entgegen den Regeln, die sonst den Sexualverkehr regeln. Die Männer wechseln ihre Frauen. Selbst Inzestverbindungen, die normalerweise als verwerflich gelten und schwer bestraft werden, werden bisweilen offenkundig und straflos eingegangen« (Durkheim, 1912, S. 297 f.).
Es ist also die emotionale Bewegung der Religion, in der sich das Sexuelle jener Verhaltensweisen aufheben kann.1 Das Sexuelle kann im religiösen Bereich konserviert, sublimiert oder neutralisiert werden. Man kann sicher auch sagen, dass religiöse Gefühle verstärkt werden, wenn sexuelle Quellen angezapft werden. Je vernünftiger, das heißt Über-Ich-hafter aber die Religionen wurden, desto mehr tendierten sie, diese emotionalen Quellen trocken zu legen. William James schreibt am Anfang seines Buches über religiöse Erfahrungen: »Wir werden sehen, wie unendlich leidenschaftlich eine Religion in ihren höchsten Flügen sein kann. Wie Liebe, wie Wut, wie Hoffnung, Ehrgeiz, Eifersucht, Natürlich hat bereits Freud diese Zusammenhänge geahnt. An Wilhelm Fliess schrieb er : »Ich bin einer Idee nahe, als hätte man in den Perversionen, deren Negativ die Hysterie ist, einen Rest eines uralten Sexualkultus vor sich, der einmal vielleicht noch im semitischen Orient (Moloch, Astarte) Religion war. […] Ich träume also von einer urältesten Teufelsreligion, deren Ritus sich im Geheimen fortsetzt und begreife die strenge Therapie der Hexenrichter. Die Beziehungen wimmeln. Ein weiterer Zufluss in das Strombett leitet sich aus der Erwägung her, dass es eine Klasse von Leuten gibt, die noch heute ähnliche Geschichten wie die Hexen und wie (meine Patienten) erzählen, ohne Glauben zu finden, obwohl ihr Glaube daran nicht zu erschüttern ist« (Freud, 1897/1986, S. 239 – 241). 1
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wie jeder andere instinktive Antrieb und Eifer, so bringt auch sie ein zusätzliches Entzücken ins Leben, das nicht rational oder logisch von etwas anderem herzuleiten ist« (James, 1901 – 1902/ 1982, S. 57). Und am Schluss, also über 400 Seiten später, betont James, er erschrecke über die Menge von Emotionalität, die er in seinem Buch finde, und wendet sich unmittelbar an den Leser : »[…] so haben Sie wahrscheinlich das Gefühl gehabt, dass meine Auswahl fast pervers gewesen ist, und gewünscht, dass ich mich an nüchternere Beispiele gehalten hätte« (S. 449). Aber für William James ist Gefühl das innerste Geheimnis des Religiösen. »Wenn wir das ganze Feld der Religion überblicken, finden wir eine große Vielfalt in den Gedanken, die dort vorgeherrscht haben; aber die Gefühle auf der einen Seite und das Verhalten auf der anderen Seite sind fast immer dieselben, denn stoische, christliche und buddhistische Heilige sind in ihrer Lebensführung praktisch ununterscheidbar. Die Theorien, die die Religion erzeugt, sind, weil sie so variabel sind, sekundär ; und wenn man ihr Wesen zu erfassen versucht, muss man auf die Gefühle und das Verhalten als auf die anderen Elemente blicken« (James, 1901 – 1902/1982, S. 449).
Auch hier möchte ich besonderen Wert darauf legen, dass das Religiöse und Adoleszente eine innige Wahlverwandtschaft aufweisen, die auch die Gewalt mitumfasst. Auch Gewalt schafft intensive Erfahrungen und bekanntlich schließen sich Gewalt und Religion keineswegs aus. Und zwar nicht nur in der Verfolgung von Andersgläubigen, sondern auch in der Gewalt, die sich die Gläubigen selbst antun. Das Tremendum, von dem die Religionswissenschaftler sprechen, und die blutigen Opfer, die dargebracht werden müssen (Isaaks Opferung), sind ein zentraler Teil des Religiösen.
Die Größen- und Allmachtsfantasien Zuerst möchte ich noch einige Bemerkungen zum Begriff der Fantasie vorausschicken. Im Griechischen bedeutet er Erscheinung, Einbildungskraft. Bei Aristoteles ist die Rede von der Fantasie als ein eigenes © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Erkenntnisvermögen. Fantasie besteht in der Fähigkeit, auf bestimmte Weise Dinge erscheinen zu lassen: als Vorstellung im Prozess des Denkens, als Gedächtnisbild beim Erinnern oder als Traumbild im Schlaf, aber auch Zielvorstellung beim Handeln. Geht es nicht vor allem um das Irreale der Fantasie? Eine Erinnerung ist in dem Sinne eine Fantasie, als diese Erinnerung etwas Vergangenes wiederaufleben lässt. Der Begriff Erscheinung geht auch in diese Richtung: Produktion von Bildern auch ohne gegenwärtige Affektion der Sinne. Aristoteles führt den Begriff der Fantasie auch deshalb ein, um die Möglichkeit zu irren zu bedenken. Da er glaubt, Sinneswahrnehmung sei immer wahr, stellt er die Hypothese auf, dass es Fantasien seien, die das Denken zu Irrtümern verführen. Aristoteles unterscheidet zwischen Fantasie und Sinneswahrnehmungen einerseits, andererseits zwischen Wissen und Fantasie. Fantasien müssen nicht – wie das Wissen – wahr sein. Im Hoch- und Spätmittelalter, im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Aristoteles, interessierte man sich vor allem für die Rolle der Fantasie innerhalb des Erkenntnis- und Abstraktionsprozesses und bei Phänomenen wie Träumen, Visionen, Zauberei, psychosomatischen Vorgänge. Bei Pico della Mirandola ist Fantasie eine ausgesprochen negative Kraft der menschlichen Seele. »Wenn die Fantasie vom Verstand nicht unter Kontrolle gehalten wird, erregt sie heftige Leidenschaften, durch die man in eine trügerische Welt versetzt und damit verführt wird.« Eine verdorbene Fantasie ist »Mutter und Amme« aller Laster von »Ehrgeiz, Grausamkeit, Wut, Habsucht und Zügellosigkeit«, die »den Frieden einer Gesellschaft stören«. Sie »verwirrt auch das philosophische und christliche Leben«, indem sie alle »sinnlosen philosophischen Ansichten und Häresien« erzeugt (zit. nach Ritter, 1971). Ich hege den Verdacht, dass die Psychoanalyse bis heute an diesem negativen Verdikt der Fantasien, insbesondere auch der Größen- und Allmachtfantasien festhält (vgl. etwa Kernberg, 1978). Nun einige Bemerkungen zum Begriff der Allmacht. »Allmacht« an und für sich gibt es bekanntlich nicht. Was es gibt, sind Größen- und Allmachtsfantasien, Größen- und Allmachtsgefühle. Die Inhalte der Fantasien sind Unsterblichkeit, Ruhm, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Ehre, Unverletzlichkeit, Überwindung von Raum und Zeit, Fliegen, Allmacht der Gedanken. Und bei den Gefühlen geht es vor allem um Ehre, Stolz, Selbstbewusstsein, Vollkommenheit … Es überrascht nicht, dass das Konzept der Omnipotenz theologischen Ursprungs ist (Ritter, 1971). Es besagt, dass Gott alles kann, was er wollen kann. Auf die unbegrenzte Macht Gottes weisen bereits die ältesten biblischen Gottesnamen hin. Unbegrenzte Kraft seines Wortes, ferner die Schilderung der Werke der Schöpfung, Herrschaft über die Naturkräfte. Omnipotenz galt als wichtigstes Prädikat Gottes. Aber es tauchen immer wieder Widersprüche auf, die dann zu verschiedenen Rechtfertigungsversuche Gottes (Theodizeen) führen: Kann Gott etwas wollen, was Böse wäre? Wie verhält sich Gottes Allmacht zur Freiheit des Menschen oder wie kann das Leiden Unschuldiger rechtfertigt werden (Hiobs Geschichte)? Die Vorstellung der Omnipotenz bringt das Denken also in Schwierigkeiten. Hanna Segal spricht sogar von einem Hass der omnipotenten Fantasie – die Segal mit einer Halluzination gleichsetzt – gegen Denkvorgänge; die omnipotente Fantasie attackiere das Denken, denn ihr eigentliches Ziel sei die Verleugnung der Realität des Erlebens (Segal, 1989/ 1994, S. 67). Trotz dieser Schwierigkeiten möchte ich am Konzept der Omnipotenz und ihren Abkömmlingen, den Größen und Allmachtsfantasien, festhalten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie einen interessanten Zugang zum Problem der Religion und der Gewalt eröffnen. Omnipotenz gehört nicht zur Realität als etwas, das neben anderem Realen vorhanden wäre. Alles Reale würde die Omnipotenz ja einschränken und sie somit zunichte machen. Omnipotenz gehört zur Ordnung der Fantasie und der Gefühle. Ihre Funktion besteht darin, das Verhältnis des Menschen zur Realität mitzugestalten, und zwar indem sie den Menschen ermutigt, sich der Realität entgegenzusetzen und sie zum Objekt zu machen. Das Omnipotenzgefühl ebenso wie die Omnipotenzfantasie sind wichtige Faktoren dafür, dass die Welt als durch den Menschen veränderbar erscheint. Im Kopf erschafft sich der Mensch eine Welt des Möglichen, an der er die Wirklichkeit messen kann, und es ist letztlich das Omnipotenzgefühl, das ihm erlaubt, seinen »Möglichkeitssinn« (Robert Musil) so ernst zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nehmen, dass er sich an einen Umbau der Wirklichkeit wagen kann. Das Omnipotenzgefühl stellt sich dann ein, wenn Fantasie und Realität zur Deckung kommen. Oft wird es wie ein Rausch erlebt, und im Begriff »workoholic« schwingt das Rauschhafte mit, das zu dieser Art Arbeit gehört. Der Realisierung von Omnipotenzfantasien haftet immer ein gewisses Maß an Unkontrollierbarkeit an; ihre Folgen sind oft nicht absehbar. Wesentlich an der Omnipotenz ist, dass ihr die Tendenz innewohnt, zur Realität einen Bezug herzustellen. Omnipotenzfantasien setzen das Individuum immer unter Druck und es muss vielfältige Strategien entwickeln, um diesen Druck zu bewältigen. Im Verhältnis zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Plan und Ausführung oder zwischen Utopie und Realität taucht die Spannung auf, die dazu führt, das Vorhandene am Ideal zu messen und zu beurteilen. Am Beispiel der Religion und der ihr innewohnenden Omnipotenzfantasien kann man sehen, in welchem Ausmaß die vorhandene Realität verworfen werden kann: Sie wird zum Nichts, das einen höchstens davon abhält, selig zu werden. Die Geschichte der Märtyrer zeugt davon, dass ihnen das Leben weniger Wert war als der omnipotente Glaube. Mit der Pubertät fängt aber der Prozess an, den man als die Wiederaneignung der Größen- und Allmachtsfantasien bezeichnen könnte, diese werden von den Eltern gleichsam abgezogen und für den Aufbau des eigenen Selbstwertgefühls eingesetzt. Sichtbar wird diese Entwicklung vor allem in der Entidealisierung und Entwertung der Eltern beziehungsweise der Erwachsenen. Die europäische Kultur hat diese Tendenz auf die Spitze getrieben. In keiner anderen literarischen Tradition werden die Auseinandersetzungen zwischen Vätern und Söhnen so erbarmungslos dargestellt wie in Europa (von Matt, 1995). Ergebnis dieses Kampfes zwischen Eltern und Kindern um die Omnipotenz war die Übertragung der Omnipotenz vom Alter auf die Jugend. Die Spannung zwischen Vätern und Söhnen heizte den Kulturwandel weiter an und trug wesentlich zum Abbau der Traditionen bei. Hier stoßen wir auf die innige Verbindung zwischen Individualismus und Omnipotenzfantasien. Die Adoleszenz wird zu einer Zeit des Ehrgeizes, der Eigenliebe, des Hochmutes, der hohen Ansprüche und der großen Wünsche; © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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damit aber auch zu einer Zeit der Kränkungen, Zurücksetzungen und Vernachlässigungen. Merkt man, dass die Wünsche nicht in Erfüllung gehen, dann kann sich einerseits die Neigung verstärken, zu Drogen zu greifen oder auch einen Rückzug in die Depression anzutreten, dank denen die »Wunschmaschine« bis zu einem gewissen Grad stillgelegt werden kann. Andererseits bietet die Dissozialität die Möglichkeit, mittels Gewalt doch noch die Erfüllung der Wünsche anzustreben. Die Betonung und immer gründlichere Ausarbeitung des Individualismus ging einher mit der Entfesselung der Omnipotenzfantasien und der daraus entspringenden Wünsche. Deren Realisierung durch immer komplexer werdende Arbeitsprozesse trieben die Beschleunigung des Kulturwandels voran. Auf diese Omnipotenzfantasien ist heute nicht mehr zu verzichten, denn sie sind es, die die Kreativität des Menschen besonders stimulieren. Die Entwicklungsaufgabe, die erfüllt werden muss, besteht darin, die Omnipotenzfantasien mit entsprechenden Ich-Funktionen zu verknüpfen, das heißt, diese Fantasien müssen auf die Realität bezogen werden. Die dafür zuständige psychische Instanz ist das Ich mit seinen Funktionen der Realitätswahrnehmung, -erfahrung und -prüfung. Das ist eine ähnlich heikle und schwierige Aufgabe wie der Umgang mit der Sexualität. Aber die Kultur liefert dem Individuum auch hier gewisse Muster und Vorbilder und stellt mindestens drei Bereiche zur Verfügung, um Omnipotenzfantasien und Ich-Funktionen miteinander zu verknüpfen: Arbeit, Freizeit und Gewalt.
Die Umsetzung von Omnipotenz in Arbeit, Freizeit und Gewalt Arbeit Dem Individuum gelingt es dank seiner Kreativität und dem Prozess der Arbeit, seine Omnipotenzfantasien so umzuformen, dass sie in die Realität umsetzbar werden. In einem anderen Aufsatz (Erdheim, 2001) habe ich am Beispiel der Flugfantasien, die zur Omnipotenz gehören, aufgezeigt, wie dieser Urtraum des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Menschen zur Realisierung drängte. Der Einsatz von Drogen vermittelte in den verschiedensten Kulturen die Illusion des Fliegens. Personifiziert durch levitierende Heilige oder fliegende Hexen taucht der Flugwunsch im mittelalterlichen Europa auf. Es dauerte lange, bis Leonardo da Vinci in der Renaissance sich Apparate vorstellte, die dem Menschen das Fliegen ermöglichen könnten. Auch wenn Leonardo nie den Versuch machte, solche Apparate zu bauen und auszuprobieren, formte er seine Flugfantasien so weit um, dass sie mit den entsprechenden Ich-Leistungen, nämlich dem Bau von Apparaten, umsetzbar erschienen. Er begnügte sich also nicht mit der Allmacht des Gedankens (wie der Schneider von Ulm, der vom Turm hinuntersprang und offenbar davon überzeugt war, sein Wille werde ihn schon tragen) oder mit drogeninduzierten Illusionen, sondern dachte sich mechanische Mittel aus, um die Fantasie umzusetzen. Es brauchte aber noch fast dreihundert Jahre, bis Ende des 18. Jahrhunderts der Mensch mit dem Wasserstoff und den Ballonen Mittel fand, um sich tatsächlich in die Lüfte zu erheben. Hundert Jahre später war es schließlich so weit, dass der Mensch Flugzeuge bauen konnte. Omnipotenzfantasien sind also umsetzbar, aber sie müssen aus ihrem archaischen Stadium herausgelöst und mit der Realität konfrontiert werden (Behringer u. Ott-Koptschalijskj, 1991). Das einzige Mittel dazu ist die Arbeit. Die Adoleszenz ist in allen Kulturen eine Lehrzeit, in der notwendige Fertigkeiten gelernt werden müssen. Aber jedes Üben beinhaltet eine Kränkung: Die Allmacht der Gedanken reicht nicht aus, um perfekt Klavier oder sonst ein Instrument spielen zu können, Fremdsprachen müssen mühsam angeeignet werden und der Zugang zu Technik und Wissenschaft kann nur durch Beharrlichkeit erworben werden. Und auch dann ist man immer noch kein Meister. Das Kunststück der Adoleszenz besteht nicht zuletzt darin, sich nicht von der Realität überrollen zu lassen und an den Omnipotenzfantasien festzuhalten, aber sie von der Archaik der Kindheit zu befreien. Wenn zwischen der Omnipotenz und den Fähigkeiten des Individuums kein adäquates Verhältnis zustande kommt, drohen depressive Verstimmungen. Zur Omnipotenz gehört aber auch eine Tendenz zur Maßlosigkeit und Unersättlichkeit, die das In© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dividuum nicht zur Ruhe kommen lässt und es bis zur Erschöpfung immer weiter treibt. Die therapeutische Bearbeitung der Omnipotenz kann auch deshalb mühsam werden, weil sie zuerst einmal solche Ängste vor Überforderung auslöst und das Individuum in große Unruhe stürzt.
Freizeit Unsere Kultur hat die in traditionellen Kulturen geltende Zeitordnung, die zwischen sakraler und profaner Zeit unterschied, durch die Kategorien Freizeit und Arbeitszeit ersetzt, wobei die Freizeit in vielerlei Hinsicht das Erbe der sakralen Zeit antrat. Dabei spielt der Konsum eine wesentliche Rolle. Bereits ein flüchtiger Blick auf die Werbung zeigt, dass sie hauptsächlich mit Größenfantasien arbeitet: Wer dieses oder jenes Produkt konsumiert, gehört zur Elite, zu den Mächtigen und Schönen. Überfluss und Verschwendung galten seit alters her als Beweismittel omnipotenter Möglichkeiten.2 Die Freizeitindustrie schuf den Rahmen, um diejenigen Omnipotenzfantasien aufzunehmen, die im Arbeitsprozess nicht befriedigt und umgesetzt werden können, und die deshalb auch in einem archaischen Zustand bleiben müssen. Auch der Film ist zu einem Medium geworden, das seine Macht aus der Archaik omnipotenter Fantasien bezieht: Alles erscheint als möglich und zieht den Betrachter ähnlich wie ein Traum in Bann. Die unzähligen vom Fernsehen übertragenen oder von der Presse propagierten Glücks- und Ratespiele arbeiten ebenfalls mit der Omnipotenz: Um die Million zu gewinnen, braucht man sich nur beim Spiel anzumelden. Ein anderer Bereich der Freizeit befriedigt die Omnipotenz dadurch, dass sie – wie im Spitzensport – außerordentliche Leistungen verlangt und die (bequeme) Möglichkeit Zu erinnern wäre an den Potlach, als ursprüngliches Modell eines Konsums, bei dem wertvolle Güter zerstört wurden, um damit die Macht des Häuptlings zu beweisen. Diese Art Konsum ist also nichts Modernes, sondern in unserer Gesellschaft etwas zutiefst Anachrones (vgl. Mauss, 1923 – 1924/1975). 2
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bietet, über die bloße Identifikation mit den Siegern an deren Omnipotenz teilzuhaben. Die Archaik der damit verbundenen Fantasien manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass sie oft eine aggressive Stimmung verbreiten und angsterregend um Gewalt, Zerstörung und Vernichtung kreisen. Der Omnipotenz ist auch das Gefühl der Angstlust zugeordnet. Wo sich Angst und Lust miteinander vermischen und sich gegenseitig steigern, prüft das Individuum seine Omnipotenz. Der Skifahrer, der sein Leben aufs Spiel setzt, um ein paar Hundertstelsekunden schneller als der bisherige Sieger zu sein, der Jugendliche, der aufs Dach der rasenden S-Bahn steigt, um im Geschwindigkeitsrausch seinen Mut zu beweisen – sie alle aktivieren ihre Omnipotenzfantasien, und die Verwandlung von Angst in Lust ist die physiologische Prämie für die Grenzüberschreitung, die sie gewagt haben. Angst hält die Menschen in ihren Grenzen fest und lässt sie vor dem Fremden zurückweichen. Die Lust hingegen verlockt zur Grenzüberschreitung. Angstlust wird zum Reiz, Verbotenes zu tun, und Tabus zu brechen; sie ist ein intensives Gefühl der Grenzerfahrung, das besonders von den Adoleszenten genossen wird. Die Kultur bezieht aus dieser Bereitschaft zum Tabubruch wesentliche Anstöße zur Weiterentwicklung. Wird der Tabubruch jedoch nur auf die Freizeit beschränkt, so verliert er seine kulturelle Bedeutsamkeit. Die Achterbahn vermittelt den Thrill nur noch durch die Illusion der Gefahr, und die Drogen isolieren den Einzelnen in seinem Wahn. Auf diese Weise nimmt die Spaltung zwischen Arbeit und Freizeit viel Druck vom Adoleszenten und wirkt sich auch prägend auf die Adoleszenz aus. Adoleszenz wird zu einer Art Freizeitverhalten und tendiert sogar dazu, altersunabhängig zu werden. In der Freizeit gelten alle als jung und dynamisch.
Individuelle oder durch Gruppen legitimierte Gewalt Der österreichische Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld prägte bereits anfangs der 1930er-Jahre den Begriff der »Tantalussituation«, um die Problematik von jugendlichen Individuen zu beschreiben, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren (Bern© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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feld, 1931). Die Omnipotenzfantasien werden in unserer Gesellschaft ständig angesprochen und gereizt, so dass es im Individuum zu Wunschexplosionen kommt; die Möglichkeiten, diese Wünsche zu realisieren, sind aber letztlich eng begrenzt. Die sich verschärfende ökonomische Krise, von der Jugendliche besonders betroffen sind, rückt die Verwirklichung ihrer Wünsche – ähnlich wie bei Tantalus – in die Ferne. In solchen Situationen wächst die Bereitschaft zur kriminellen Handlung, um auf illegale Weise zur Wunscherfüllung zu gelangen. Dabei schafft die Allmachtsfantasie eine Art imaginären Schutzschild um den Missetäter, der nicht selten überzeugt ist, dass man ihn nicht zur Rechenschaft ziehen kann oder ihn bei der Untat gar nicht sehen wird, da er die Situation voll unter Kontrolle hat. Eine wesentliche Leistung der Gruppe besteht in Vergesellschaftung von Omnipotenzfantasien: Der Einzelne ist nicht mehr allein mit ihnen und die Gruppe bestätigt sie. Der Gruppenkonsens verändert auch den Bezug zur Realität und weicht den Unterschied zwischen Fantasie und Realität auf. Verhängnisvoll ist es, wenn die Gruppenidentität sich vorwiegend der Gewaltbereitschaft verdankt. Dostojewski beschrieb eine solche Gruppe in seinem Roman »Die Dämonen«: kriminelle Handlungen, die die Angehörigen der Gruppe zu Komplizen macht. Die Gefahrensituation bindet die Gruppenmitglieder zusammen, schafft die erwünschte Nähe, aber diese hält nicht lange hin. Aber aufgrund der Gewaltbereitschaft der Gruppe entstehen bald neue Solidarität schaffende Gefahren. Gewaltanwendung wird auf diese Weise zu einem Bindemittel innerhalb der Gruppe. Mit Hilfe eines Traumes verweisen Peter Fonagy und Mary Target auf eine weitere Funktion der Gruppengewalt. Ein Gang-Mitglied träumte, dass »zwei Hennen aufeinander einhacken. Hinter den beiden Hennen befand sich ein gefährlicher wütender Hund, aber die Hennen nahmen keine Notiz von ihm – sie waren zu sehr damit beschäftigt, miteinander zu kämpfen« (Fonagy u. Target, 1996, S. 68). Die unmittelbare Gewalt, in die sich die Jugendlichen verstricken, macht die Angst vor dem gefährlichen Hund (= aussichtslose Zukunft) unbewusst. Wer von der Gruppe zum Feind deklariert wird, wird zur Projektionsfläche für all das, was im Eigenen verpönt werden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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muss. Je böser der Feind erscheint, desto mehr Omnipotenz kann im Kampf gegen ihn mobilisiert werden; der omnipotente Feind wird zur wichtigsten Stütze der eigenen Omnipotenz. Omnipotenzfantasien können ganz verschiedene Färbungen annehmen: biologisierte (Rassismus, Sexismus), politisierte (Elite-, Adelsherrschaft), ökonomisierte (Reichtum als Kriterium der Auserwähltheit), ästhetisierte (Schönheit als Grundlage des Erfolges). Jede radikale Bewegung versucht die Jugend für sich zu gewinnen, indem sie deren Omnipotenzfantasien anspricht. Je archaischer diese sind (zum Beispiel im Wunsch nach Verschmelzung mit dem großen Ganzen einer Volksgemeinschaft), desto eher werden die Individuen in passive Rollen gedrängt, die sie lediglich zu disziplinierten Befehlsempfängern macht, die zu jeder Form von Gewaltanwendung bereit sind. Rechtsradikale Omnipotenzfantasien kreisen um die Überlegenheit einer Rasse beziehungsweise Kultur, um die Vorstellung einer Elite, einer Herrschaft der Besten. Auf die unmittelbare Umwelt bezogen, beansprucht man die Kontrolle der Nachbarschaft (ausländerfreie Gebiete) und behauptet, die Ehre der entsprechenden ethnischen Gruppe zu verteidigen. Die eigenen Frauen müssen vor den Fremden geschützt werden und gefährliche Demonstrationen von Fähigkeiten (Autofahren, Austricksen der Polizei und sonstige Mutproben) stellen die eigene Omnipotenz unter Beweis. Linksradikale Omnipotenzfantasien kreisen um die Vorstellungen von einer Avantgarde und eines siegreichen Proletariats. Das Ende der Geschichte wird als ein Zustand gedacht, in dem alle Individuen ihre Fähigkeiten realisieren können, und zwar ohne in Interessenkonflikte untereinander zu geraten. So verschieden rechts- und linksradikale Utopien auch sind, die Idee einer (notwendigerweise immer gewalttätigen) Diktatur des Proletariats gleicht schließlich die zwei Gruppen von Allmachtsfantasien einander an. Wenn die historische Realität den Omnipotenzfantasien nicht entspricht, meint man gewalttätig nachhelfen zu müssen, so dass sich die gesellschaftliche Realität in den beiden ursprünglich entgegengesetzten Systemen immer ähnlicher wird. Omnipotenzfantasien legitimieren die Anwendung von Gewalt: Im Namen Gottes, des Kaisers, des Vaterlandes, der Partei – die Gewalt gegen die Feinde ist rechtens. Aber es gilt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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auch, dass die Gewalt ihrerseits die Omnipotenzfantasien legitimiert: Wer Gewalt anwendet, bestätigt sich, dass er wirklich an die Omnipotenzfantasien glaubt. Die Gewalt wird wichtig als eine Art Existenzbeweis für die Omnipotenzfantasie und bestätigt ihre Wirklichkeit.
Ausblick Der innige und gefährliche Zusammenhang zwischen Omnipotenz, Wunsch und Gewalt wurde in traditionellen Gesellschaften dadurch unter Kontrolle gebracht, dass das Wünschen möglichst rationiert wurde. Mittels Meditation, Askese und anderen religiösen Praktiken lernte der Mensch, seine Wünsche zu kontrollieren. Die moderne Gesellschaft ist die erste, die die Wunschexplosion zum Motor ihrer Entwicklung machte und dem Wünschen keine Grenzen mehr zu setzen versuchte. Auf diese Weise kommt es zu einem schwer lösbaren Dilemma: Wird die Wunschproduktion unter dem Druck der Omnipotenz gefördert, so nimmt auch die Gewaltbereitschaft bei all denen zu, die sich ihre Wünsche nicht erfüllen können. Gleichzeitig wird aber in der modernen Gesellschaft die Ausübung von Gewalt und Aggression zunehmend eingegrenzt und tabuisiert. Kinder dürfen nicht mehr geschlagen werden und Gewalt in der Ehe oder Vergewaltigung werden thematisiert und von der Justiz geahndet. Zudem ist ein Bewusstsein entstanden, dass Gewalt nicht nur physisch, sondern auch symbolisch (z. B. sprachlich) ausgeübt werden kann; dies hat die Wahrnehmung von Gewalt wesentlich verschärft. Diese Sensibilisierung gegenüber der Gewalt, die ein charakteristisches Merkmal des Zivilisationsprozesses ist, geht jedoch einher mit ihrer Kommerzialisierung in der Unterhaltungsindustrie, in der die Gewaltdarstellungen immer weiter intensiviert werden. Die gesellschaftliche Relevanz dieser Gewaltdarstellungen rührt aus der Notwendigkeit, die aus der Versagung der Wunscherfüllung resultierende Gewaltbereitschaft symbolisch zu verarbeiten beziehungsweise zu neutralisieren. Die Frage ist jedoch, ob es der Unterhaltungsindustrie gelingen kann, diese Aufgabe allein zu bewältigen, oder aber ob andere, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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weniger symbolische Akte notwendig sein werden, nämlich Gewalt gegen reale Minderheiten, Religionen und andere noch zu konstruierende Feindbilder. Es wäre dies eine Lösung, wie sie seit alters her immer wieder dann versucht wurde, wenn gesellschaftliche Probleme angegangen werden mussten, ohne etablierte Machtstrukturen in Frage stellen zu müssen. Eine andere Möglichkeit bestünde jedoch darin, durch die Umgestaltung der Omnipotenz und durch die Erhöhung der Komplexität der Wünsche die Gewaltbereitschaft abzubauen. Das wäre ein neuer, ungewohnter Weg und eine Herausforderung für die Gesellschaft. Dabei geht es vor allem darum, die Omnipotenz aus ihrer Archaik herauszulösen und in ichnahe Bereiche zu bringen. Fähigkeiten, die sich ein Individuum aneignet, die es aber nicht mit Omnipotenzfantasien in Verbindung bringen kann, wirken sinnlos; Omnipotenzfantasien, die sich nicht auf Fähigkeiten beziehen, bleiben wirkungslos. Die Verbindung dieser beiden Bereiche stellt sich immer mehr als eine der entscheidenden Leistungen dar, die in der Adoleszenzphase erbracht werden müssen.
Schlussbemerkung Gewalt wird hier verstanden als ein Zusammenwirken von Aggression und Omnipotenz beim Versuch, Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Weil Omnipotenz ein wesentlicher Motor der individuellen Entwicklung darstellt, kann auf sie nicht einfach verzichtet werden, ebenso wenig wie auf die Sexualität, die ja ebenfalls mit vielen Problemen verknüpft ist. Ein charakteristisches Moment der Adoleszenz besteht in der Wiederaneignung der Omnipotenzfantasien aufgrund derer das Individuum imstande ist, sich der Realität entgegenzusetzen und Pläne zu realisieren. Um dazu fähig zu sein, muss das Individuum seine Größenund Allmachtsfantasien mit seinen Ich-Fähigkeiten verknüpfen, was in den verschiedenen Lebensphasen in immer neuen Anläufen versucht werden muss. Es ist keine leichte Aufgabe der Psychoanalyse und ihr verwandter Therapien, dem Individuum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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bei der Umgestaltung seiner Omnipotenzfantasien beizustehen, denn vor allem in der Adoleszenz fällt die Entscheidung, welche Kanäle das Individuum zur Verfügung haben wird, um seine Omnipotenz umzusetzen: Arbeit, Freizeit oder Gewalt.
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Ethnopsychoanalytische Perspektiven
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Sigrid Scheifele
Rebellion und Fanatisierung als Reaktionen auf die Erschütterung der väterlichen Autorität
Vorbemerkung In meinem Beitrag entwickle ich Überlegungen, zu denen mich eine Auffälligkeit im Umgang mit Patienten aus dem Orient angeregt hat: Sie sind in der Regel weitaus höflicher als die deutschen und versuchen oft direkter, mir eine Zustimmung zu entlocken. Dies gilt, auch wenn der höfliche Ton gelegentlich unter einer stacheligen Schicht verborgen ist. Angeregt wurde ich dazu auch durch meine Erlebnisse auf Reisen. Seit dem Ende meiner Schulzeit bin ich in vielen Ländern Arabiens und Vorderasiens gereist, oftmals allein. In Kursen habe ich die arabische Sprache wenigstens soweit gelernt, dass ich mich im Alltag verständigen kann. So fällt mir immer wieder die Bedeutung höflicher Formeln auf und die Zurückhaltung in der Äußerung von eigener Meinung und Dissens. Die Tagung über Religion und Fanatismus hat mich dazu veranlasst, den über die Jahre empfangenen unsystematischen Eindrücken und Einfällen nachzugehen, sie zu durchdenken und ihren Sinn zu ergründen. Und ich musste feststellen, dass ich so auf einen sozialen Hintergrund des Themas »Religion und Fanatismus« gestoßen bin.
Überanpassung – Abschottung – Veränderungsarbeit Respekt, der ein Ausmaß erreichen kann, das wir aus westlicher Sicht als Unterwerfung empfinden, charakterisiert bis heute im Maghreb, im Nahen Osten, in Vorderasien die Beziehung zwischen den Generationen. Zwischen den Geschlechtern herrscht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Rebellion und Fanatisierung
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die patriarchale Ordnung. Diskussionen, wie sie hier in den Klassenzimmern zwischen Schülern und Lehrern, Eltern und Lehrern gang und gäbe geworden sind, gibt es im genannten geografischen Raum kaum. Mitte der 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre hielt ich in Frankfurt an der Universität im Fach Soziologie Seminare; damals bekam ich einen deutlichen Eindruck hiervon. Studenten, die aus dieser Region kamen, war die kritische Auseinandersetzung mit Texten und den verschiedenen Positionen nicht geläufig. In ihren Referaten und Hausarbeiten wiederholten sie eher eine Ansicht, die sie für gültig, für wahr nahmen. Zwei Szenen mögen dies veranschaulichen: Ein etwa dreißig Jahre alter Iraner, Intellektueller und aus einer bürgerlichen Familie stammend, erzählte mir, dass sich im Iran allenfalls Künstler und Kriminelle gegen die Autorität auflehnen würden. Alle anderen würden keinen klaren Widerspruch wagen. So bahnte sich auch der Kampf meines Patienten um Eigenständigkeit seinen Weg über selbstschädigende Aktivitäten wie den Schulabbruch, niemals aber in einem deutlichen verbalen Protest. Eine Lehrerin aus dem Libanon, die seit Längerem mit ihrer Familie in Deutschland lebt und hier als Erzieherin arbeitet, ist bestrebt, sich ohne Diskussion den Wünschen der Eltern der Kinder zu beugen. Im Team der Erzieher führt dies immer wieder zu Konflikten, weil sie damit gegen das pädagogische Konzept des Kindergartens verstößt. Und innerhalb des Teams wagt sie es nie, eine andere Position als die gerade von der Leitung vertretene zu äußern; ihren Unmut lässt sie nur im Zwiegespräch mit einer anderen Erzieherin deutlich werden, die ebenfalls Migrantin ist.
Das überkommene Geschlechterverhältnis ist in vielen Familien von Zuwanderern abrupt und massiv erschüttert worden. Es ist bekannt, dass unter den in der Türkei angeworbenen Arbeitskräften während der 1960er- und 1970er-Jahre Frauen – verheiratete wie auch unverheiratete – zahlreich waren. Aus Lehrerinnen wurden Fabrikarbeiterinnen1; Mütter ließen ihre Kinder zurück. 1 Sehr schön ist dieses Leben in Emine Sevgi Özdamars Roman (1988) nachzulesen.
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Sigrid Scheifele
Manchmal wurde der Ehemann als Erster nachgeholt, hatte sich das Paar dann hier stabilisiert, kamen die Kinder nach. Vergegenwärtigt man sich, dass die meisten damals mit der Vorstellung aufgewachsen waren, der Mann repräsentiere die Familie in der Öffentlichkeit, kann man sich den Bruch in den Lebensentwürfen und auch in der Lebenspraxis kaum größer vorstellen. In den letzten drei Jahrzehnten kamen viele nach Deutschland, die aus bäuerlichen oder subproletarischen Verhältnissen stammen. Manche sind innerhalb des Herkunftslands schon vom Land in die Randbezirke einer großen Stadt gewandert, anschließend dann ins Ausland. Alle miteinander trifft der Verlust der vertrauten belebten und unbelebten Umwelt – manche leben zum ersten Mal in einer Stadt, ohne mehr in den natürlichen Kreislauf von Tag und Nacht, des Umgangs mit Tieren und der Natur eingebunden zu sein. Neue Alltagsformen2, anderes Essen, andere Kleidung, ein anderes Klima, anderes Licht, andere Gerüche3 erschüttern das Selbstgefühl und machen die Suche nach neuer Sicherheit vordringlich. Zwei verschiedene öffentlich sichtbare Versuche, zu neuer Sicherheit zu finden, waren immer schon verfügbar : Eine als 16-Jährige aus Indien nach Deutschland Gekommene wurde im Flugzeug zum ersten Mal mit Besteck konfrontiert. Die ihr vertraute Form des Essens war die mit den Händen vom Bananenblatt. Sie blieb lieber hungrig, als von dem auf dem Flug angebotenen Essen zu nehmen und dabei etwas falsch zu machen, wodurch sie sich der Beschämung ausgesetzt gefühlt hätte, eine »aus dem Dschungel« zu sein. 3 In vielen Romanen, Erzählungen, Autobiografien von Exilanten und Migranten finden sich eindrucksvolle Schilderungen dieser erlebten sinnlichen und atmosphärischen Veränderungen wie auch der Freude oder Trauer über derartig elementare Herausforderungen des Selbstgefühls. Stellvertretend verweise ich auf die ergreifenden Worte des im holländischen Exil lebenden ägyptischen Literaturwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid, die ich in meinem Aufsatz (Scheifele, 2003) zitiert habe. Dort streife ich auch die Problematik des Sagbaren und Unsagbaren beim Wechsel der leitenden Alltagssprache von Migranten am Beispiel des Romans des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe (2002). Salman Akhtar hat sich in seinem Aufsatz auf dieses Thema konzentriert (Akhtar, 2007). 2
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Überanpassung: Die Zugewanderten versuchen, deutscher als deutsch zu sein. Der schmerzliche Unterschied von Zugewandertem und Einheimischem soll unsichtbar gemacht werden, indem sich der Zugewanderte so sehr anpasst, dass seine Eigenart unsichtbar wird. Wahrscheinlich spielt bei einigen derjenigen, die ohne Vorkenntnisse die neue Alltagssprache sehr schnell lernen, als Antrieb die Angst vor der Beschämung, nicht dazuzugehören, sich nicht auszukennen und weniger sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten als ein Kind zu haben, eine nicht geringe Rolle. Abschottung: Die Zugewanderten führen ein Leben, mit möglichst wenig Kontakt zur Bevölkerung des Aufnahmelandes. Dies betraf hauptsächlich – und bei einem Teil der hier lebenden Zugewanderten ist dies noch immer Praxis – Frauen, die nicht einer Lohnarbeit nachgehen. In der ersten Generation der Gastarbeiter gab es zumindest am Arbeitsplatz unvermeidliche Berührungen mit der ansässigen Bevölkerung. Eine weitere Umgangsweise mit dem Leben in der neuen Heimat fällt weniger auf: Veränderungsarbeit bei Erhalten der Hoffnung auf ein gutes Leben. Überanpassung und Abschottung sind auch als Reaktionen auf den »sozialen Tod« der Migranten verstehbar. Mario Erdheim und Maya Nadig beschreiben das Phänomen des »sozialen Tods« Ende der 1970er-Jahre folgendermaßen: »Der soziale Tod ist jener Prozeß, in welchem die sozialen und kulturspezifischen Rollen zerfallen, die unbewußten Werte und Identitätsstützen ins Wanken kommen und damit auch die diesen Verhältnissen angepaßten Wahrnehmungsformen« (Erdheim u. Nadig, 1979, S. 125). Diese schmerzliche und konfliktreiche Erschütterung ist der Migration inhärent. Jeder, der seine vertraute – familiäre, soziale, geografische, klimatische – Umgebung verlässt, ist unumgänglich damit konfrontiert und muss nach Möglichkeiten suchen, dieses sozialen Sterben anzunehmen, wie auch nach einem neuen Gleichgewicht. Wie kann er sich in der veränderten Lage im Alltag als wertvoll und gut erleben, An© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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erkennung finden und seine triebhaften Wünsche befriedigen oder kontrollieren ?
Erschütterte Autorität und deren Verarbeitungsweisen in der nachfolgenden Generation Mittlerweile blicken wir in Deutschland, einem Land, das sich bis heute gegen die Anerkennung der Tatsache sträubt, ein Einwanderungsland zu sein, auf mehr als zwei Generationen Zugewanderter zurück. Ich möchte nun verschiedene Umgangsweisen der zweiten Generation mit den Erschütterungen und Aufbrüchen der Zuwanderer aufzeigen.
Die in der hiesigen Gesellschaft Angekommenen, insbesondere die Rebellen Diese Gruppe umfasst diejenigen, die einen Platz in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft einnehmen. Sie sind in der Gesellschaft angekommen und sie blenden ihre Geschichte nicht aus. Als ein Beispiel unter vielen möchte ich die Position anführen, die in provokativer Wendung die Anforderungen und Zumutungen an Migranten und deren Kinder der aufnehmenden Gesellschaft vorhält. Ich zitiere hier den Schriftsteller Feridun Zaimoglu, der seine Rede mit »Kanak Attack« überschrieben hat: »Es war ein trostloser Einstieg in das, was die ersten Vertragsarbeiter als das ›Deutschlandabenteuer‹ bezeichnen, als die Zeit, die in ihre Herzensfibern und Gelenkkapseln Sporen der Bekümmerung setzte. Auch wenn die meisten nach Deutschland mit dem Gefühl aufbrachen, das große Glück habe nach ihnen gepfiffen, und nach ihrer Ankunft mit dünner Armeleutegrütze vorlieb nehmen mussten – sie alle hielten sich daran, daß Arbeitsamkeit die beste Lotterie sei. Also füllten sie Fabrik- und Montagehallen, standen oder saßen am Fließband, wuschen und putzten Böden blank, bekamen eine Anstellung bei der Müllabfuhr oder verdingten sich als Toilettenpförtner. Sie waren ins Land geholt worden, um ehrbarer Arbeit nachzugehen, und das taten sie denn auch, ohne sich an dem Mangel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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an Ansehen zu stoßen, der mit der Art ihrer Beschäftigung einherging« (Zaimoglu, 2000). »Wer in solch einer Klimazone der Unterschichtskräfte aufwächst, hat sich für sein späteres Leben eins vorgenommen: Er will und wird nicht auf halber Strecke verrecken, um Gottes willen nein. Ich spreche nicht nur von einem Aspekt meiner Kindheit, ich spreche von tausend mal tausend Gastarbeiterhaushalten der ersten Stunde, ich spreche von den verschimmelten Arbeiterbaracken, von den Hinterhausbuchten und den Elendkabuffs, in denen wir groß geworden sind, wir – das sind die Zuwandererkinder« (Zaimoglu, 2000).
Zu Beginn hatte die Bewegung der jungen Aufbegehrenden, die längst in der Kulturszene angekommen und arriviert sind, die Fremdzuschreibung des Kauderwelsch in provokativer Weise umgemünzt: Sie nannten sich »Kanakster« und sprachen »Kanak Sprak«: »Und noch einmal, man muss sich das einmal vorstellen: Menschen, die die Situation der eigenen Sprache verlassen, fühlen sich evakuiert, in extremen Fällen sogar entleibt. Und ihre Kinder und Kindeskinder, die Sprosse einer zungenbetäubten ersten Generation üben sich nicht nur im Deutschen, aber auch in vielen Zungenschlägen. Die sprachliche Manifestation unserer Mobilmachung heißt Kanak Sprak, das ist das babylonische Kauderwelsch einer unbedingt auffälligen, unbedingt angestoßenen Generation, auf die dieses Land wirklich gewartet hat. Darin finden sich Brocken aus dörflichen Dialekten und Anleihen aus dem Hochtürkischen genauso wie das metaphernreiche Slang-Stakkato der Straße und der Großstadtszenen. […] so ist nun eine eingewanderte Unterschicht dabei, ein Feuerwerk an Kulturaufregung zu entfachen« (Zaimoglu, 2000).
Wir werden in diesen Zeilen aufmerksam gemacht auf die Demütigung, die Scham und den Zorn der Söhne auf die Anpassung ihrer Väter an die Lebensbedingungen der Arbeiter und Subproletarier. »Kanak Sprak« – dieses Aufbegehren sucht Befreiung im wütenden, sprachmächtigen Protest. Dass es dabei auch um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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den Versuch der Überwindung eines schmerzlichem Verlusts geht, macht der Autor deutlich. Einen vergleichbaren gleichwohl anderen Weg suchen eher Mädchen als Jungen, indem sie sich anstrengen, in Schule und Universität gute Leistungen zu erbringen. Sie begreifen Bildung als Chance, sich einen anderen »sozialen Ort« (Bernfeld) zu erobern.4 Nicht selten ist in einer zugewanderten Familie die Tochter erfolgreiche Hochschulabsolventin mit gutem Beruf, während der Bruder eine Lehre gemacht hat, wenn er nicht ungelernter Arbeiter ist oder keiner geregelten Tätigkeit nachgeht. Auf ein bekanntes Beispiel möchte ich kurz verweisen: auf die marokkanisch-stämmige Rachida Dati, die bis vor kurzem französische Justizministerin war. Die vielfach bewunderte kluge, arbeitsame und schöne Frau kommt aus einfachen Verhältnissen. Ihr ist es gelungen, sich daraus zu befreien und einen Aufstieg durch Bildung zu nehmen; ihre Brüder sind den anderen Weg gegangen und sind dabei auch mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Vor kurzem hat die unverheiratete Frau eine weitere Einschränkung öffentlich gebrochen. Die Dreiundvierzigjährige ist Mutter geworden und gibt den Namen des Vaters ihres Kindes nicht preis. In einem Satz charakterisiert, kann man diese Form des Kampfes um Anerkennung und des Umgangs mit schmerzlichen eigenen Erfahrungen sowie mit den von den Vätern übernommenen, transgenerationalen also, die sublimierte Form nennen. Ihr steht eine andere Form des Kampfes um Anerkennung gegenüber, auch sie erregt Aufmerksamkeit: die Gewaltbereitschaft männlicher Jugendlicher und junger Erwachsener.
4 Es gibt viele Arbeiten über genderspezifische Lebens- und Bildungskarrieren von Migranten der zweiten und dritten Generation. Erwähnen möchte ich hier Ursula Apitzsch (2003).
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Gewaltbereitschaft gegen Dinge und Personen Diesen Weg beschreiten vorwiegend männliche Jugendliche und, um dies klar zu sagen, nicht nur männliche Jugendliche aus zugewanderten Familien, sondern auch männliche Jugendliche aus der deutschen Unterschicht. Sie verweigern sich in der Schule und fallen als Versager auf. Manche richten ihre zerstörerischen Ausbrüche gerade gegen die sozialen Einrichtungen, in denen sie verkehren, in denen sie Beachtung sowie Anregung finden. Mir scheint, dass im gewalttätigen Ausbruch eine komplizierte, nicht auf den ersten Blick fassbare Dynamik zum Vorschein kommt. Diese Dynamik speist sich aus einer Verschränkung von internalisierten Forderungen der Söhne, es besser als die Väter zu machen, wie auch einer Identifikation mit den geschwächten Vätern, die von den Söhnen nicht durch ein Übertrumpfen ihrerseits erneut geschwächt werden sollen. Das bildet häufig den Hintergrund des Schulversagens und damit des Zerstörens besserer Berufschancen. Die Gewaltbereitschaft ist oft auch Ergebnis einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber realer oder fantasierter Zurücksetzung. Der impulsive Durchbruch von Gewalt folgt dann dem Mechanismus der Verkehrung von Ohnmacht in Macht, Passivität in Aktivität. Melvin Lansky (2008) hat diesen Mechanismus untersucht und dabei auf die mittlerweile in der psychoanalytischen Diskussion vernachlässigte Rolle des IchIdeals aufmerksam gemacht: Wenn das Gewahrwerden des Unterschieds zwischen dem, wie man sein will, und dem, wie man sich in einem bestimmten Moment wahrzunehmen gezwungen ist, unerträglich ist, dann kann dies zum Ausüben einschüchternder Gewalt bis hin zum unkontrollierbaren Ausbruch direkter Gewalt führen.5 Lansky schreibt: »Ein Mangel an Kohärenz des Selbst und eine Tendenz zur Desorganisation sind zentrale Merkmale der Psychopathologie von impulsiv Handelnden, die andere anfallartig mit Vorwürfen überhäufen. […] Eine nur allzu häufige Äußerungsform der von Kohut beschriebenen Inkohärenz des Selbst besteht in der engen Bindung an eine Person, von der die Kohärenz des eigenen Selbsterlebens abhängt und die zugleich Objekt von Haß, Neid, Rivalität oder Verachtung ist. Ähnliches gilt 5
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Eine weitere Möglichkeit, den Erschütterungen des Gefühls der Sicherheit und der Anerkennung zu begegnen, besteht in der Hinwendung zur Religion.
Die Hinwendung zum Glauben Westliche Vorurteile gegenüber dem Orient gab und gibt es im Verlauf der Jahrhunderte der Berührung von Christen und Muslimen, Abendland und Morgenland viele, viele verschiedene und einander widersprechende. Es gibt die Verklärung des Orients zum Reich der unumschränkten Sinnenlust. In den vergangenen Jahren wird der Orient in der westlichen medialen Diskussion vor allem unter dem Stichwort »der Islam« rubriziert. Auch in der Hinwendung zum Glauben gibt es eine große Spannweite der Formen, in denen dies geschehen kann. Manche für das Empfinden, daß die Intaktheit des eigenen Selbst unmittelbar von der Anwesenheit und Zugänglichkeit eines solchen Selbstobjekts abhängt. Das verzweifelte Bedürfnis des impulsiv Aggressiven nach dem die Kohärenz festigenden Objekt ist stark schambesetzt, ebenso wie seine Fixierung auf die Dyade, seine Verletzlichkeit und seine Neigung zu Desorganisation und Dissoziation, die wirksam wird, sobald die Verbindung zur zentralen Bezugsperson vorübergehend unterbrochen ist, oder eine Unterbrechung auch nur droht. Auch das innerpsychische Gewahrwerden des inkohärenten, paranoid dissoziierten Zustandes, der eine prodromale Stufe des Impulsdurchbruchs darstellt, ist beschämend, weil dieser Zustand Angst, Hilflosigkeit, Argwohn und Bedürftigkeit einschließt. […] Deshalb spielt der aggressiv Beschuldigende den impulsiven Akt hinterher oft herunter und bagatellisiert oder rationalisiert dessen Auswirkungen auf andere; er verharmlost gegebenenfalls auch, daß Beobachter (oft die Kinder) mit hineingezogen werden, die sich dann dafür verantwortlich und zugleich außerstande fühlen, eine Verbesserung seines inneren Zustandes zu erreichen […] »Der einschüchternde Akt selbst übt insofern eine strukturierende Wirkung auf andere aus, als er sie in einen inneren Zustand versetzt, der den zweiflerischen, ungewissen, beschämenden Zustand widerspiegelt, aus dem der impulsive Ausbruch hervorgegangen ist. […] Das durch die Einschüchterung entstehende neue Gleichgewicht ist gewöhnlich das einer mehr oder weniger fragilen Mesalliance, die von Instabilität und einer Atmosphäre der Nötigung geprägt ist« (S. 943 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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begnügen sich damit, die täglichen fünf rituellen Gebete sowie das Fasten im Monat Ramadan einzuhalten; sie nutzen die Moscheen als Orte unkomplizierten Zusammenseins, nutzen vielleicht auch das Angebot der preiswerten Lebensmittel in den angeschlossenen Läden. Sie fühlen sich dank des Einhaltens der religiösen Pflichten in ihrem Selbstgefühl gestärkt und gehoben. Das Fasten bestärkt die Vorstellung, der Triebnatur nicht ausgeliefert zu sein, sondern sie im Griff zu haben. Dies hilft, das Ideal des freien und geachteten Erwachsenen zu sichern, das durch die Erschütterungen, die mit der Zuwanderung verbunden sind, angegriffen ist. Der praktizierende Gläubige findet eine Möglichkeit, sich so zu beweisen, dass er seine Geschicke in der eigenen Hand hat. Er beweist sich zugleich, dass er den rechten Weg geht und nicht etwa durch Verlassen der Herkunftsfamilie und des Vaterlandes ungehorsam geworden ist. Andere gehen weiter, werden fanatisch und hängen Vorstellungen von Reinheit und Überlegenheit an, die das Gegenteil des Gefühls von Ausgeliefertsein oder Missachtung darstellen. Es gibt Lebensgeschichten, die relativ spät diese Richtung nehmen und vom vorher verfolgten Lebensentwurf abweichen. Ein junger Mann der durch seine blutige Tat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen hat, ist hier zu nennen: Mohamed Bouyeri, der Mörder des holländischen Filmemachers und Enfant terrible Theo van Gogh.6 Van Gogh wurde für seine öffent-
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Es lohnte, den inneren Prozess zu rekonstruieren, der aus dem sozial engagierten Studenten den religiösen Fanatiker hat werden lassen, der selbst vor einem Mord nicht zurückschreckt. Der Dokumentarfilm »Der Tag, als Theo van Gogh ermordet wurde«, den Esther Shapira und Kamil Taylan 2007 gedreht haben, zeigt die Unbedingtheit des Führers der religiös-politischen Sekte, der Bouyeri sich schließlich angeschlossen hat. Das Auftreten des Sektenführers demonstriert eine autoritäre Stärke, die einen großen Reiz auf Bouyeri ausgeübt haben dürfte. Der Sektenführer und die apodiktischen Pamphlete verkörpern das Gegenteil des Vaters, der eher tolerant bis schwach erscheint; sie verkörpern auch etwas anderes als die Initiatoren des Jugendhauses und die Gemeindeverwaltung, von der sich der junge Mann enttäuscht abgewandt hatte, als sein Vorhaben nicht die gewünschte Unterstützung gefunden hatte. Auch dürfte der Tod der Mutter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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lichen Provokationen, die auch in dem Film »Submission« zum Vorschein kamen, im November 2004 in Amsterdam ermordet. Den Film drehte er gemeinsam mit der aus Somalia stammenden ehemaligen niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali und auf ihren Wunsch hin. Anstoß erregten die Koranverse, die auf den nackten Körper einer Frau geschrieben waren. Auch die Attentäter vom 11. September sind zum großen Teil erst nach und nach Fanatiker geworden. Um es klar zu sagen: Im Gegensatz zu der in den Medien immer wieder verbreiteten Anschauung, Fanatismus habe etwas mit der Natur des Islam zu tun, bin ich der Ansicht, dass Fanatisierung kein dem Islam notwendig zugehöriger Prozess ist, sondern dass die gesellschaftlichen Verwerfungen den Boden darstellen, auf dem autoritäre Lösungsformen gedeihen und Anhänger finden.7 Alle großen Religionen, nicht nur die monotheistischen, haben im 20. Jahrhundert fanatische Sekten ausgebildet.8 Und, nebenbei gesagt, das Ideologem einer fanatischen Gruppe braucht nicht die Religion zu sein, wir haben in den 1930er- und 1970er-Jahren in Deutschland, Italien und Japan ganz andere gehabt. Der junge indische Schriftsteller Aravind Adiga erkennt in in diesem Zeitraum die krisenhafte innere Situation verstärkt haben (s. a. Buruma, 2007). 7 Vergleichbares lässt sich auch am Schicksal der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen. Einige ihrer führenden Mitglieder unterstützten den Ersten Weltkrieg an der »Heimatfront«, einige schlossen sich später der autoritären Lösung der Nationalsozialisten an (vgl. Prokop, 1994). In einem Aufsatz stelle ich »Überlegungen zur Attraktivität islamistischer Gruppen für Frauen« an (Scheifele, 1997). 8 Von denjenigen Historikern, Soziologen und Religionswissenschaftlern, die diese Auffassung vertreten, nenne ich hier pars pro toto Gilles Kepel. Er untersucht seit Jahren die monotheistischen Sektierergruppen (vgl. Kepel, 1994). Mit dem Aufkommen des hinduistischen Fundamentalismus setzt sich Sudhir Kakar auseinander (Kakar, 1995). Salman Akhtar und Manasi Kumar untersuchen die religiöse Wendung Mohammad Ali Jinnahs bei der Teilung Indiens und der Begründung Pakistans als muslimischem Staat (Akhtar u. Kumar, 2008). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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seinem leidenschaftlichen Aufschrei nach dem Attentat auf das Taj Mahal Hotel in Bombay im November 2008 Terroristen und Rebellen als Brüder. Er schreibt: »Die Terroristen, die nach Bombay kamen, waren entschlossen zu sterben. Sie wollten nicht entkommen. Vermutlich haben sie sich von dem üblichen Dschihadistentraum leiten lassen, einzugehen ins Paradies, umgeben von sch önen Frauen, Alkohol und Pracht. Ihr Traum ist ein groteskes Spiegelbild der Träume all jener, die es, wie mich, nach Bombay zieht. Der Unterschied ist nur, daß wir unsere Träume auf den Basaren des Diesseits zu verwirklichen suchen, während die Terroristen ihre Erfüllung in den Basaren des Jenseits suchen. Deshalb gibt es Krieg zwischen Bombay und den Terroristen, zwischen uns und ihnen. Es ist ein Krieg zwischen den Anhängern dieser Welt – einer schmutzigen, unvollkommenen, miesen, ungerechten Welt – und den Propagandisten des Jenseits, einer schönen, gerechten, sauberen, perfekten Welt. Hoffen wir alle, daß in diesem Krieg die richtige Seite gewinnt« (Adiga, 2008b).9
Adiga kritisiert in seinem 2008 erschienen Roman »Der wei ße Tiger« vehement die paternalistischen Formen des Zusammenlebens in Indien. Er vergleicht die dienenden unteren Gesellschaftsschichten mit den Hühnern, die gedrängt im Käfig ihrer Schlachtung harren. Die Hauptfigur des Romans, der Fahrer Balram, bricht mit der lange geübten Rolle des guten Dieners. Der Roman ist in Indien in der bürgerlichen Öffentlichkeit auf heftige Kritik gestoßen. Bereits im Namen der Stadt wird ein vielschichtiger Konflikt offenbar : Mumbai oder Bombay. »Es ist eine Stadt, die über viele noms de guerre verfügt, ähnlich wie Gangster oder Huren« (Mehta, 2006, S. 29). schreibt der in Bombay geborene Suketu Mehta. Mumbai ist die Bezeichnung in Marathi, der Sprache, die die Einheimischen dieser riesigen Stadt sprechen. Er wurde vor einigen Jahren zum offiziellen Namen der Stadt bestimmt. Der ebenfalls dort geborene Schriftsteller Kiran Nagarkar – er hat seinen ersten Roman in seiner Muttersprache Marathi geschrieben – spricht heute lieber von Bombay – der Name ist vom Portugiesischen abgeleitet –, um den kosmopolitischen Charakter der Stadt zu betonen. 9
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Zwei Szenen Ich möchte hier zwei Episoden, die eindrucksvoll Autorität inszenieren, anführen, die ich in den vergangenen Jahren in zwei öffentlichen Foren in Frankfurt erlebt habe. Erste Szene: Hörsaal V der Frankfurter Universität Anfang September 2002 lud eine Gruppe muslimischer Studenten zu einer Diskussion ein. Auf dem Podium saßen ein deutscher Politikwissenschaftler, der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, der in Leiden einen Lehrstuhl für Islamwissenschaften innehat, Gamal al Banna10, betagter Muslimbruder sowie der Imam einer Frankfurter Moschee. Am eindrucksvollsten war das Auftreten des Imams: Bereits sein Aufzug unterschied ihn von allen, denn er kam mit Turban und in traditionellem Gewand mit Überwurf; seine Anhänger umgaben ihn. Er sprach im Ton einer Predigt: bestimmt im Gestus, keinen Widerspruch duldend. Inhaltlich ging es um den Zerfall der Familie im Westen als Ursache allen Übels und die Pflege der Familie unter den Muslimen, in der jeder seinen rechten Platz hat, Respekt das Verhältnis der Geschlechter zueinander bestimmt wie auch das zwischen den Generationen. Der Inhalt war nicht besonders auffällig: konservativ, es war viel von Werten die Rede; der Inhalt hätte auch von manchen konservativen, christlichen Politikern oder Kirchenleuten vertreten werden können. Der Gestus aber, mit dem der Imam auftrat, war bemerkenswert: Im Vollbesitz der Wahrheit sich gebend, insofern auch fern von Diskussionen und Streit; als allein angemessene Reaktion wären Fragen erschienen. Einzig Nasr Hamid Abu Zaid, selbst gläubiger Muslim und Streiter für einen Islam, der sich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stellt und der für die Trennung von Staat und Religion plädiert, wagte es, für die Pluralität der Kulturen und Diskurse einzutreten.
Er ist Bruder von Hassan al Banna. Der von ihm 1929 in Ägypten begründete Bund der Muslimbrüder war der erste überhaupt. Auf ihn berufen sich nach wie vor muslimische Fundamentalisten der verschiedensten Länder. Heute gehören die ägyptischen Muslimbrüder zu den Gemäßigten. 10
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Zweite Szene: Symposium im Frankfurter Römer Während der Buchmesse 2004, als die arabische Welt Ehrengast war, fand das Symposium »Orient und Okzident – Ein neuer Anfang. Alternativen zum Kampf der Kulturen« im Frankfurter Römer statt. Es gab ein illustres Podium von Wissenschaftlern und Journalisten, unter ihnen Tariq Ramadan11. Von Tariq Ramadans Eloquenz, die in allen Städten Europas die Säle mit der Jugend der Zugewanderten füllt, bekam ich einen deutlichen Eindruck. Ich will mich hier nicht zu dem Streit unter Soziologen und Islamwissenschaftlern äußern, ob Tariq Ramadan ein gefährlicher Fundamentalist ist oder ein moderater, diskussionsbereiter Vertreter des Islam in Europa. Mich hat vor allem sein selbstbewusstes Auftreten beeindruckt. Aufmerken lassen hat mich, wie barsch er einem Historiker, Emeritus der Universität Tunis, ins Wort gefallen ist. Mir blieb diese Geste als sehr bedeutsam in Erinnerung: Abseits des üblichen Streits der Intellektuellen wurde mir hier klar, was ein jüngerer, im Westen erzogener Intellektueller mit der Generation der Väter in den Ländern des Maghreb und der arabischen Welt ausfocht: Er führte sie mit dieser Geste als schwach, als zahnlos vor. Damit wollte der junge Intellektuelle brechen. Das muss es sein, so dachte ich, was die junge, die zweite und dritte Generation der Zugewanderten an ihm begeistert.
In der ersten Szene wird die Verführungskraft des autoritär Auftretenden greifbar – inhaltlich waren nach den Pausengesprächen der mehrheitlich aus dem arabischen Raum stammenden Zuhörer viele nicht gleicher Meinung. Doch ist der selbstbewusste Gestus und die Prätention, mit dem Nachdruck von über Jahrhunderte überlieferten Dogmen zu sprechen, Ehrfurcht heischend wie Sicherheit versprechend. Die Unterwerfung unter solche Autorität ist verführerisch; sie wird von etlichen indirekt im Alltag umgangen, nicht aber direkt in Frage gestellt. Nasr Hamid Abu Zaids Eintreten für die Pluralität der Diskurse und für vorbehaltlose Forschung weist den Weg eines Bruchs mit der Figur der Unterwerfung unter die Autorität und ist aufklärerisch. Solche Kritik muss auch der zu Beginn erwähnte Iraner im Sinn haben, wenn er mir voller Enthusiasmus Kant vorhält 11 Enkel von Hassan al Banna und überwiegend in der Schweiz aufgewachsen.
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und mich an den Satz erinnert: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Vom Gestus her ist Tariq Ramadan ein charismatischer Führer. Er beschränkt sich nicht auf eine Kritik an westlichen Denkformen, sondern wendet sich gleichermaßen gegen die säkularen Intellektuellen der arabischen Welten als schwach, unglaubwürdig und unproduktiv – eine Fassade gleichsam ohne innere Festigkeit. Zugleich kritisiert er die Hemmung durch die (politischen) Autoritäten. Er formuliert den Anspruch der Söhne und inszeniert einen Vatermord. Welche Kräfte im Vatermord kulminierten und welche Kräfte der Entwicklung dieser freisetzt, wissen wir mit Freud. Ich folge hier Alfred Lorenzers Interpretation des Freud’schen Mythos von der Urhorde.12 Der Wahrheitsgehalt dieses Mythos ergibt sich als Aussage über die zeitgenössischen unmenschlichen Verhältnisse: »Die Figur des Urvaters und der Eiszeit […] spiegeln in der Tat die Unmenschlichkeit versteinerter Verhältnisse, die als ›Gesetz‹ den Menschen entgegentreten, ungleich tiefer als es die sozialwissenschaftlich durchkategorisierten Formulierungen vermöchten. Daß der Schrecken, der allen Vatererfahrungen der Kinder anhaftet, niemals von der Bösartigkeit konkreter Väter oder Mütter allein verschuldet wird, sollten sich die psychoanalytischen Positivisten, die Familialisten und Environmentalisten vom Freudschen Mythos sagen lassen. Freud entwirft einen transfamilial angelegten, familial erscheinenden Hintergrund in und hinter der konkreten Familie. Die Freudschen Mythen durchbrechen den starren Familialismus, der für die Psychoanalyse so gefährlich ist. Zugleich stellt sich nach der anderen Seite, zur Soziologie hin die Frage, ob die archaische Dramatik im Freudschen Mythos nicht Erfahrungen andeutet, von denen die soziologischen Theoreme der Persönlichkeitsbildung eines zivilisierten homo sapiens nichts ahnen lassen. Es stellt sich die Frage, ob nicht der Freudsche Mythos genau den Erlebnissen der frühen und basalen Einwirkungen aufs Individuum entspricht. Der Vater der eigenen Lebensgeschichte ist der Urhordenvater – als ReLorenzer schreibt: »Ich brauche wohl kaum anzumerken, daß diese Mythen, die Freud als berechtigte, nur wenig fragliche Rekonstruktionen der Vorgeschichte nahm, in dieser Geltung längst zureichend widerlegt sind. Es sind Phantasien« (Lorenzer, 1988, S. 66). 12
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präsentant jenes Brutal-Väterlichen, von dem die Autoritätshörigkeit der Erwachsenen noch zehrt. Wenn Freud in seinen Spekulationen schreibt: ›Es ist möglich, daß die egoistische eifersüchtige und rücksichtslose Natur, die wir […] dem Urvater der Menschenhorde zuschreiben, nicht von Anfang an vorhanden war, sondern sich im Laufe der schweren Eiszeiten als Resultat der Anpassung an die Not herausgebildet hat‹ (Freud 1985, S. 76), so ist lediglich die Zuschreibung zu ändern. Es ist die Eiszeit unserer gesellschaftlichen Gegenwart als Hintergrund allen individuellen Verhaltens zu erkennen« (Lorenzer, 1988, S. 71).
Beide Szenen machen insofern auf die Notwendigkeit der Rebellion aufmerksam wie auch auf die Hindernisse; Hindernisse, die wir mit Lorenzer als gesellschaftliche und zugleich ins Individuum aufgenommene erkennen können. Es steht außer Frage: Die Rebellion gegen einen starken tyrannischen Vater verlangt Stärke und das Aushalten der Vergeltungsangst. Vergessen wir darüber nicht, wie anstrengend die Überwindung eines schwachen Vaters ist, weil sie starke Schuldgefühle weckt.
Wie eine freiheitliche Wendung der Erschütterung der Autorität befördern? Vernehmen wir den »Schrei der fundamentalistischen Jugend« (Mernissi, 1992), bevor es so weit kommt, dass verzweifelte Jugendliche und Adoleszente nur noch in einem Gewaltakt eine Befreiung aus unerträglichen Verhältnissen sehen? Dies ist für mich die zentrale Frage, denn wenn jemand bereits auf dem Weg des Fanatismus ist, ist es schon zu spät, ihn zurückzuholen. Hoffnung muss sein, wenn der Sprung gelingen soll, mit dem sich jemand ins Neue wagt. Ich möchte nun eine Szene zitieren, in der mir eine bemerkenswerte Verknüpfung von altem und neuem Leben angedeutet zu sein scheint. Sie entstammt dem Buch »Yesterday, Tomorrow. Stimmen aus der somalischen Diaspora« von Nuruddin Farah, Schriftsteller und vor langem ins Exil getriebener Somalier. Er dokumentiert seine Gespräche mit nach Europa geflohenen Somaliern. Ein Vater und Ehemann hat mit seiner Familie vor dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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großen Zusammenbruch Somalias in Schweden Asyl gesucht, und dabei eine soziale Degradierung erlitten. Er erzählt über die große Veränderung seines Lebens: »›Ich habe ein Bataillon von dreitausend kommandiert‹, sagte er. ›Jetzt bin ich Fabrikarbeiter, und darüber hinaus halten die Schweden mich für einen Schmarotzer.‹ Wie es sei als Fabrikarbeiter? ›Die Arbeit in der Fabrik fällt mir äußerst schwer«, sagte er, »insbesondere der Umgang mit ungebildeten schwedischen Arbeitern. Ich bin hier nur wegen meiner Kinder, ansonsten würde ich keinen Tag länger hier bleiben!‹ Was mit seiner Frau sei? Seine Frau besuchte eine weiterführende Schule, was sie in Somalia nie getan hätte. Dann lachte er lauthals los, als er darauf kam, wie sehr sich die häuslichen Beziehungen geändert hatten, seit sie nach Schweden gehen mussten, wo sie keine Bediensteten haben, wo sie beide am Abend heimkommen und sich die Hausarbeit teilen müssen. […] ›Daheim war eine Frau eine Frau und ein Mann ein Mann‹, sagte er. […] ›Wir müssen unsere Lage begreifen und gemeinsam arbeiten […]‹ (Farah, 2003, S. 289).
Die Passage macht uns auf verschiedene Konsequenzen der Veränderung aufmerksam, die ein Leben außerhalb des Herkunftslandes für Erwachsene mit sich bringt: Eine Veränderung des sozialen Status – hier eine Degradierung –, die im täglichen Leben fühlbar wird. Der im Ausland Lebende verliert an Achtung im sozialen Umfeld, ja, er wird verachtet: ein »Schmarotzer«. Die Unbill der Veränderung wird in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft hingenommen. Im Beispiel wird die bessere Zukunft nicht mehr vom Sprecher selbst erreicht, sondern sie liegt in der nächsten Generation: Die Kinder werden es besser haben. Eine Veränderung ergreift auch die Beziehung von Mann und Frau: Die vertrauten Geschlechterrollen des Heimatlandes werden am neuen Ort fundamental erschüttert. Deutlich benennt der Sprecher den Verlust, den die männliche Rolle erleidet: Der »Mann [war daheim] ein Mann«, und hier übernimmt er Frauen- oder Bedienstetenarbeit. Auch die Rolle der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Frau hat sich am neuen Ort verändert: Sie bleibt nicht länger im Haus, wie in der alten Heimat eine sozial höher Gestellte, sondern sie macht Hausarbeit und nimmt darüber hinaus die Möglichkeiten der Weiterbildung wahr. Der Befragte nimmt das Lebensschicksal an und versucht, das Beste daraus zu machen. Er findet zu einer ebenso schlichten wie revolutionären Wendung, die seine Haltung zu der unleugbaren Veränderung der äußeren Realität charakterisiert: »Wir müssen unsere Lage begreifen und gemeinsam arbeiten.« Mit Erdheim und Nadig können wir dies als einen produktiven Prozess des Umgangs mit dem eigenen »sozialen Tod« verstehen, der aus den Fallstricken des »sozialen Tods« – entweder Anpassung oder Abschottung – herausführt. Das Beispiel zeigt: Es gibt die Möglichkeit für Einzelne, sich ihren eigenen Weg zu suchen und so zu einer Balance zu finden, die im Alltag Entwicklung freisetzt.13 Das erleben wir auch in der psychoanalytischen Arbeit in bewegender Weise.14 Doch geht es genauso um ein gesellschaftliches Problem, für das auch gesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten gesucht werden müssen. Es ist nicht zuletzt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, denn wer möchte schon in unwirtlichen Städten leben, in denen sich keiner 13
Wer in der eigenen Gesellschaft verwurzelt ist, findet leichter in die neue. Darauf machen Parin, Morgenthaler und Parin-Matthy (1983, S. 595 f.) aufmerksam. Salman Akhtar verweist auf ein vergleichbares Phänomen, als er über die zunehmende Orthodoxie von Mohammad Ali Jinnah, des Begründers Pakistans, spricht, der sich erst spät als Muslim verstanden hat. Dagegen trat der aus einer stark vom Glauben geprägten Familie stammende Präsident des indischen Nationalkongresses von 1940 bis 1946, Maulana Azad, für einen säkularen Staat ein (vgl. Akhtar u. Kumar, 2008, S. 357 f.). 14 Vgl. hierzu meine Darstellung der Behandlung von Herrn U., in »Zwischenwelten als Heimat? Bildet der islamische Glaube eine Barriere gegen das Ankommen?« Die überarbeitete Fassung des Vortrags, gehalten auf dem Symposium »Entwicklungsprozesse und Identitätsbildung in muslimischen Zuwandererfamilien« des gleichnamigen Arbeitskreises der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung am 31. Mai 2008 in Frankfurt am Main, erscheint 2010 in der Zeitschrift »Psychoanalyse im Widerspruch«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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mehr unbefangen nachts auf die Straße traut? Und es verursacht gesamtgesellschaftliche Kosten, wenn die Folgen von Vandalismus oder anderer Formen des Herausfallens aus dem gesellschaftlichen Alltag getragen werden müssen. Dass es möglich ist, etwas zu tun, um gesellschaftliche Gruppen, die unter einem besonderen Druck stehen, zu erreichen und zu aktivieren, zeigen viele Projekte ganz unterschiedlicher Art. Ich denke hier an den »Deutsch-Sommer«, ein bereits Ende der 1970er-Jahre durch die Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt begründetes Förderprojekt, das sich an zugewanderte Grundschüler und ihre Eltern richtet; ich denke an die WartburgGrundschule in Münster, in der sich die Rektorin mit den Lehrern die Mühe macht, die Schule für die Eltern zu öffnen, und damit auch das schulische Engagement der Kinder fördert (vgl. Süddeutsche Zeitung, 2008); ich denke an künstlerische Projekte wie sie im Umfeld Simon Rattles entstanden sind: Der Film »Rhythm is it!« zeugt davon; ferner denke ich an Begegnungsmöglichkeiten von Konfliktpartnern, wie sie öffentlich besonders bekannt werden im West-Eastern Divan Orchestra, das Daniel Barenboim und der inzwischen verstorbene Literaturwissenschaftler Edward Said, gebürtiger Palästinenser, begründet haben. Solche Projekte zeugen vom Schaffen eines Raumes der Begegnung und des Sprechens, der Voraussetzung für Entwicklung ist. Winnicott sprach vom Möglichkeitsraum, der unerlässlich ist, soll es in Psychotherapien zur Veränderung kommen. Wenn wir viele solche Orte des Austauschs und der Erprobung schaffen, dann tragen wir dazu bei, dass sich aus Destabilisierung oder erstarrtem Festhalten am Alten eine neue, lebendige Stabilität entwickeln kann. Von dieser zeugt der Satz des nach Schweden ausgewanderten Somaliers, den ich noch einmal wiederholen möchte: »Wir müssen unsere Lage begreifen und gemeinsam arbeiten« (Farah, 2003, S. 289). Schaffen wir Orte des Austauschs, damit viele sagen können, was Feridun Zaimoglu ans Ende seiner zuvor zitierten Rede stellt, und von einer gefundenen lebendigen Stabilität zeugt: »Es gilt, als Chronist Zeugnis davon abzulegen, denn später wird es heißen: Die Geschichte der Zuwanderer, ihrer Kinder und Kindes© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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kinder, ist die Geschichte von herkunftsfremden Deutschen, die trotz Kränkung und Demütigung, trotz Politikerpopulismus und Fremdenhaß geblieben sind. Sie sind geblieben, weil es sich lohnte zu bleiben in diesem Land« (Zaimoglu, 2000).
Wenn wir uns dem Leiden der Zugewanderten, die sich im analytischen Alltag an uns um Hilfe wenden, nicht verschließen wollen, dann sollten wir auch eine Vorstellung von ihrer alten und aktuellen Lebenswirklichkeit haben. Bei Deutschen unseres Milieus ist diese in hohem Maße gegeben. Hier habe ich mich auf die Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität konzentriert. Freilich greift der Prozess der Migration zugleich in basale Lebensentwürfe, und eben auch in nicht sprachlich-diskursiv symbolisierte Lebenspraxis ein. Dem weiter nachzugehen, hätte den Rahmen gesprengt. Abschließend möchte ich sagen: Wenn wir uns in der Intimität des analytischen Raums auf die Fantasien, Konflikte und Bedrängnisse der zu uns Kommenden einlassen, dann begreifen wir auch mehr von den gesellschaftlichen Konfliktpotenzialen. Ich hoffe, Sie konnten meinen in die Gesellschaft ausgreifenden Überlegungen etwas abgewinnen.
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Der Umgang mit dem eigenen Körper Aus der psychoanalytischen Therapie einer türkischen Patientin
Wenn es um psychoanalytische Arbeit mit Zuwanderern aus muslimischen Ländern geht, wird immer wieder die Frage gestellt, welche kulturellen Kenntnisse für die Behandlung dieser Klientel notwendig seien, ob eine klassisch-psychoanalytische Behandlung überhaupt möglich sei oder ob modifizierte Techniken zur Anwendung kämen. Während wir innerhalb des christlich-jüdischen Kulturraums viele unterschiedliche psychoanalytische Theorien akzeptieren, scheinen kulturelle Unterschiede, die dem Islam zugeschrieben werden, Ausschlussreaktionen hervorzurufen und nicht kreatives Denken zu provozieren, wie wir die psychoanalytische Arbeit mit Muslimen angehen können. Gerade diese Arbeit kann aber eine Chance bieten, sich sowohl eigener Theorien und Techniken in der analytischen Praxis als auch persönlicher Vorannahmen und Voreingenommenheit bewusst zu werden. Denn so, wie der Zuwanderer im Einwanderungsland in der Begegnung mit Einheimischen mit seiner Herkunftskultur konfrontiert wird, wird der westliche Psychoanalytiker in der Arbeit mit Zuwanderern mit seiner psychoanalytischen Identität und gesellschaftlichen Idealvorstellungen, denen auch er selbst unterliegt, konfrontiert. Wenn die Verunsicherung, die die Begegnung mit dem Fremden hervorruft, nicht ein reflexartiges Bedürfnis nach sich zieht, das Eigene schützen zu müssen, kann sie zu neuen Erkenntnissen führen, die weit über die psychoanalytische Arbeit mit Zuwanderern hinaus nützlich sein können. Vor allem die Diskussion der Rolle der Frau in westlichen und muslimischen Gesellschaften provoziert häufig starke Emotionen und führt manchmal zu Fremdzuschreibungen, die mitunter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sogar diejenigen selbst überraschen, die sie vornehmen. Dabei scheint vor allem die Vielschichtigkeit des Fremden Aggressionen hervorzurufen, weil sie gewohnte Denkschemata als unzureichend entlarvt und Idealvorstellungen in Frage stellt. Christina von Braun und Bettina Mathes (2007) begründen die Art, wie die Diskussion um die Rolle der muslimischen Frau im Westen geführt werde, damit, dass die westliche Frau die ihr selbst zugefügte symbolische Gewalt, die unsichtbar und unbeweisbar sei, auf den Körper der muslimischen Frau projiziere, um sie dort zu enthüllen. Indem sie dort die Macht des Patriarchats benenne, versichere sie sich der eigenen kulturellen Überlegenheit gegenüber dem Orient und behaupte sich als Subjekt gegenüber dem abendländischen Mann (von Braun u. Mathes, 2007, S. 215 f.). Diskussionen über muslimische Zuwanderer bewegen sich immer wieder zwischen zwei Polen: Der Verurteilung gewaltgeprägter männlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Sanktionen, die mit religiösen Normen begründet werden auf der einen und der Idealisierung stärkerer Verbundenheit in muslimischen Familien auf der anderen Seite. Das Wegsehen von Eltern, die streng über ihre Kinder wachen, ruft Verwunderung hervor, weil es den Anschein erweckt, als ob sie den Kindern Gelegenheit geben wollten, ihre eigenen Verbote zu übertreten. Über erfolgte Übertretungen zu sprechen scheint dabei tabuisiert zu sein, sodass das Verhalten doppelbödig wirkt, was nach westlichem Verständnis als pathologisch eingestuft wird. Einer der häufigsten Fehler in der Beschäftigung mit muslimischen Zuwandererfamilien ist aber sicher, dass Schwierigkeiten der aus armen und ungebildeten ländlichen Regionen ihrer Heimatländer kommenden Zuwanderer mit Vorstellungen der deutschen Mittelschichtintellektuellen angegangen werden (Mannitz, 2006). In der psychoanalytischen Praxis begegnen wir seltener türkischen Arbeitern als sozialen Aufsteigern oder Studenten, die aus intellektuellen Kreisen einer türkischen Großstadt stammen. Sie wirken nicht nur nach außen ebenso westlich wie unsere deutschen Patienten, sondern distanzieren sich häufig bewusst von ihrer Herkunftskultur und ihren bildungsfernen Landsleuten. Den westlichen Analytiker stellen diese Patienten vor die Schwierigkeit, sie auf die eigenen kulturellen Wurzeln © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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hinweisen oder sie mit diesen konfrontieren zu müssen, um die persönlicher oder kollektiver Traumatisierung entstammende Verleugnung auflösen zu können. Nur wenn der Analytiker bereit ist, sich selbst als jemanden zu erleben, der den Patienten aus der deutschen Gesellschaft ausschließt, wird er dabei in der Lage sein, dessen Kränkung und Gefühl des Ausgeschlossenseins zu erkennen. So kann das Thema der zusätzlichen Getrenntheit, die durch jeweils unterschiedliche kulturelle Erfahrung gegeben ist, aufgenommen werden. Erst die Anerkennung der Differenz wird den Weg in die persönliche Problematik eröffnen, der bei traumatisierten weiblichen Patienten häufig schambesetzt ist. Eine besondere Thematik, die in letzter Zeit in den Medien diskutiert wird, ist die Rekonstruktionsplastik, die junge muslimische Frauen unter dem starken Druck ihrer Familien, jungfräulich in die Ehe einzugehen, zur Revirginisierung vornehmen lassen. Welche Stellung müssen wir als Psychoanalytiker gegenüber solchem Vorgehen einnehmen? Handelt eine Frau, die sich zu einer solchen Operation entschließt, kompetent im Umgang mit unsinnigen gesellschaftlichen Verboten oder vermeidet sie die psychische Verarbeitung ihres bewussten Übertretens kultureller Verbote und ersetzt diese durch konkrete Manipulation am eigenen Körper? Kann die Funktion, die der Körper einnimmt, wenn symbolische Inhalte konkret an ihm abgehandelt werden, resymbolisiert werden und sind unterschiedliche psychische Auswirkungen zu erwarten, je nachdem, ob eine Frau sich selbst zu einer solchen Operation entschließt oder von ihren Eltern dazu gezwungen wird? Wie sind das Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen und die analytische Neutralität einzuschätzen, wenn Analytikerin und Analysandin gleiche moralische Werte teilen und sich gegen anders gewichtete moralische Werte der Eltern oder der Herkunftsgesellschaft der Analysandin verbünden? Die folgende Fallgeschichte soll die praktische Bedeutung zukünftiger psychoanalytischer Forschung zur Arbeit mit Muslimen aufzeigen, die nachweislich immer häufiger therapeutischanalytische Hilfe suchen. Oft bevorzugen Patientinnen bewusst kulturfremde Therapeuten, weil sie Bekanntschaften zwischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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einem Therapeuten gleicher Herkunft und eigenen Bekannten oder Verwandten innerhalb der eigenen Community fürchten. Frau S., eine 25-jährige türkischstämmige Patientin, wurde mir mit der Begründung, dass sie eine Therapeutin brauche, die sich mit dem kulturellen Hintergrund auskenne, von einer Beratungsstelle zugewiesen. Im Erstgespräch wirkte sie äußerst kratzbürstig, weil sie sich, wie sich herausstellte, zu einer türkischen Therapeutin abgeschoben fühlte. Die Kollegin in der Beratungsstelle nachäffend machte sie deutlich, dass sie die »Nase gestrichen voll« davon habe, ihre persönlichen Schwierigkeiten mit ihrem »Migrationshintergrund« erklärt zu bekommen. Die akute depressive Reaktion, wegen der sie Hilfe gesucht hatte, war dadurch ausgelöst, dass sie sich im Rahmen ihrer Promotion mit dem betreuenden Professor zerstritten hatte. Er hatte die inhaltliche Qualität ihrer Arbeit angezweifelt, sprachliche Mängel moniert und gefragt, ob sie nicht in Deutschland Abitur gemacht habe. Frau S. hatte sich mit Beginn des Studiums in die Punk-Szene begeben, war aber gleichzeitig von einem konservativen jungen Mann schwanger geworden. In der Vorstellung eines gemeinsamen Lebens mit diesem hatte sie die Schwangerschaft austragen wollen, hatte aber, nachdem der Freund sich vehement gegen eine feste Verbindung wehrte, unter Gewissensbissen einen Abbruch vornehmen lassen. In der nachfolgenden Depression hatte sie eine Psychotherapie aufgenommen, hatte aber im gleichen Jahr begonnen Drogen zu nehmen. Ein Jahr nach Beginn der Einzeltherapie hatte sie auf Vorschlag der Therapeutin in eine Gruppentherapie gewechselt, die von derselben Therapeutin geleitet wurde. In der Gruppe hatte Frau S. immer wieder zu hören bekommen, dass sie »nicht authentisch« sei, und die Frauen hatten darauf bestanden, dass sie »zugeben« sollte, dass sie während ihrer Ehe von ihrem türkischen Ehemann »vergewaltigt« worden sei. Ganz beiläufig erfuhr ich in ihrer Erzählung, dass sie verheiratet gewesen war. Ich verstand, wie empfindlich und schmerzhaft dieses Thema für sie sein musste und dass ich zuhören, aber keine Fragen stellen sollte. Meine Überraschung konnte Frau S. mir sicher ansehen, wahrscheinlich auch meine Erwartung, später mehr davon zu erfahren. In der Gruppentherapie hatte sie sich so bedrängt gefühlt, dass sie diese abgebrochen hatte. Frau S. war Älteste von vier Kindern muslimischer Eltern, die aus dem Osten der Türkei abstammten. Der Vater kam als Arbeiter nach Deutschland und ließ Frau und Kinder bei seinem Bruder zurück, wo © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sie schlecht behandelt wurden. Ihren Unmut ließ die Mutter häufig an Frau S. aus, indem sie mit ihrem Hausschuh nach ihr warf oder ihr Ohrfeigen versetzte. Einmal sei sie so weit weggelaufen, erzählte Frau S., dass die Polizei sie nach Hause zurückgebracht habe. Da sie ihre jüngere Cousine mitgenommen hatte, habe ihr Onkel sie verprügelt. Meine Fantasie bei dieser Erzählung war, dass Frau S. sich auf den Weg gemacht hatte, um nach ihrem Vater zu suchen, damit dieser sie vor ihrer Mutter schützen sollte. Von ihr hatte sie sich immer abgewiesen gefühlt. Sie erinnerte sich an einen Blutfleck an der Zimmerwand in der Türkei, der dadurch entstanden war, dass sie in ohnmächtiger Wut den Kopf dagegen geschlagen hatte. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter wurde mir erst verständlich, nachdem ich die Lebensgeschichte der Mutter gehört hatte. Als einziges Mädchen von vier Kindern einer Familie, die aus dem Osten in die Türkei eingewandert war, wurde diese im Alter von sechs Jahren an eine reiche Familie abgegeben, weil ihr Vater plötzlich verstarb und ihre Mutter nicht wusste, wie sie die Kinder durchbekommen sollte. Die Adoptiveltern hätten das Kind nach sechs Monaten zurückgebracht, weil es die ganze Zeit geschrien habe. Die Beziehung zwischen Mutter und Großmutter schien sich nie von dieser Geschichte erholt zu haben. Die Mutter der Patientin hasste die Großmutter – so, wie sie auch ihre Tochter zu hassen schien. Sie pflegte Frau S. zu sagen, dass sie hässlich und behaart wie ein Affe sei. Im Gegenzug liebte und bewunderte Frau S. ihre Großmutter, weil diese immer ihren eigenen Kopf gehabt habe. Sie hatte mit über siebzig Jahren noch geheiratet, woraufhin alle ihre Kinder den Kontakt mit ihr abgebrochen hatten. Frau S. war fünf Jahre alt, als sie mit Mutter und zwei Brüdern dem Vater nach Deutschland folgte. Sie erinnerte sich, dass der ältere Bruder damals nicht mit dem Vater sprechen wollte und dass sie dem Vater einen Kuss auf die Backe gegeben hatte, obwohl sie sich davor ekelte; um dem Bruder zu zeigen, dass es gar nicht schwierig war, fügte sie hinzu. Der Vater blieb fremd – er arbeitete den ganzen Tag und konnte weder mit seiner Frau noch mit seinen Kindern etwas anfangen. Seine Freizeit verbrachte er im türkischen Café, wo er mit anderen Türken Karten spielte. Frau S. wuchs in einem Mietsblock auf, in dem vorwiegend ausländische Familien wohnten. Mit ihren türkischen Freundinnen spielte sie auf der Straße. Einmal wurde sie von einem Auto erfasst, als sie über die Straße laufen wollte. Anwohner riefen eine Ambulanz, in der sie von einer Ärztin untersucht wurde. Ihre Mutter bekam von all dem nichts mit und schimpfte nur mit ihr, als sie wieder zu Hause
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war. Abends riet ihr die Mutter, sich in der Vorratskammer zu verstecken, damit der Vater sie nicht finde. Dennoch erzählte sie dem Vater von dem Ereignis und dieser holte Frau S. aus der Kammer heraus und verprügelte sie. Leise und von Weinen unterbrochen erzählte Frau S., er habe so stark zugeschlagen, dass sie »durch das Zimmer geflogen« sei. Nach der Realschule wechselte Frau S. ins Gymnasium, wo sie die einzige Türkin war und von den deutschen Jugendlichen geschnitten wurde. In ihrem Umkreis war sie das einzige türkische Mädchen, das eine weiterbildende Schule besuchte. Im Bekanntenkreis der Eltern war sie zuständig für das Ausfüllen deutscher Formulare und für das Dolmetschen beim Arzt. Ihre sexuelle Aufklärung verdankte sie den Arztbesuchen der Nachbarinnen beim Gynäkologen. Als Frau S. fünfzehn Jahre alt war, wurde ihre Mutter wieder schwanger und fragte die Tochter, was sie tun sollte. »Stellen Sie sich vor«, erzählte sie, »da sitzt die eigene Mutter und fragt einen, ob sie das Geschwisterkind totmachen soll.« Sie riet der Mutter, das Kind zu bekommen. Während die Mutter zur Entbindung im Krankenhaus war, musste der Vater plötzlich operiert werden. Frau S. besuchte abwechselnd beide Eltern, versorgte ihre Geschwister und erledigte den Haushalt, ohne in der Schule zu fehlen. Je älter sie wurde, desto schwieriger wurde es, mit den deutschen Klassenkameraden Schritt zu halten. Sie durfte nicht ausgehen, nicht auf Klassenfahrt fahren, obwohl die Lehrerin nach Hause kam, um die Eltern um Erlaubnis zu bitten. Sie bekam teure Kleider, durfte aber nicht anziehen, was sie wollte: Einmal bekam sie Prügel, weil sie dem Vater in Bermudashorts die Tür geöffnet hatte. Sie konnte den Unterschied zu deutschen Gleichaltrigen immer weniger aushalten. Sie empfand Hassgefühle gegen ihre Eltern und wollte abhauen, um ihrem als Gefängnis erlebten Zuhause zu entkommen. Mit siebzehn Jahren entwickelte sie den Plan, sich entjungfern zu lassen, um von ihren Eltern aus dem Haus geworfen zu werden. Nur dann, meinte sie, würde sie vom Jugendamt Unterhalt bekommen. Sie ließ sich von einem fremden Mann in ein Hotel mitnehmen und ertrug die schmerzvolle Prozedur, ohne dabei Lust zu empfinden. Danach verriet sie ihrer Mutter, dass sie keine Jungfrau mehr war, und erwartete ihren Rauswurf. Die Eltern reagierten aber anders: Sie sprachen nicht mehr mit ihr, behandelten sie wie Luft und sahen durch sie hindurch. Eines Tages sagte die Mutter zu Frau S., sie solle sich anziehen, sie gingen in die Stadt. Sie habe sich gewundert, erzählte Frau S., und habe gedacht, dass die Eltern sicher gemerkt hätten, wie sehr sie
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darunter litt, ignoriert zu werden, und dass sie ihr in der Stadt etwas Schönes zur Entschädigung kaufen wollten. In der Stadt habe der Vater vor einem Haus angehalten, die Mutter habe sie, nachdem sie ausgestiegen waren, in einen Hauseingang geschubst. Sie habe das Praxisschild eines Gynäkologen gesehen und habe gedacht, das sei typisch für ihre Eltern: Sie glaubten ihr nicht einmal, dass sie keine Jungfrau mehr sei, und wollten es vom Arzt überprüfen lassen. Der Gynäkologe habe sie aufgefordert, sich auf den Untersuchungsstuhl zu legen, und habe, als sie lag, ohne Vorwarnung und ohne Betäubung ihr Jungfernhäutchen zugenäht. Das Schlimmste sei jedoch gewesen, dass ihre Mutter dabei gestanden und alles beobachtet habe, ohne ihr beizustehen. Kurze Zeit später verkündeten die Eltern, dass Frau S. einen Cousin in der Türkei heiraten sollte. Sie hatte keine Kraft, sich dagegen zu wehren, handelte allerdings aus, ihr Abitur abschließen zu dürfen. Nach der Eheschließung verbrachte sie alle Schulferien bei der Familie ihres Mannes in der Türkei. Der Mann, der nichts von ihrer Vorgeschichte wusste, gab sich große Mühe, sie für sich zu gewinnen. Sie versuchte mit ihm zu schlafen, doch war der Introitus durch die Narbenzüge so eng, dass keine Penetration möglich war. Schließlich brachte ihr Mann sie zu einem Gynäkologen. Als dieser die Ursache erkannt habe, habe er sie voller Abscheu verächtlich angesehen, berichtete Frau S. Er habe einen kleinen Schnitt vorgenommen und habe sie ohne Kommentar wieder wegschickt. Wenigstens habe er ihrem Mann nichts verraten, was sie die ganze Zeit gefürchtet habe. Der Ehemann liebte Frau S. und sie bedauerte, nicht tiefer für ihn empfinden zu können. Sie litt darunter, dass er unglücklich war, aber sie konnte sich nicht verstellen. Er nahm immer weiter ab und sie fühlte sich schuldig. Auch sie wurde krank und überlegte, wie sie der Ehe entkommen könnte. Nach zwei Jahren versuchte sie ihren Eltern deutlich zu machen, dass die Ehe ihr Leben und das ihres Mannes kaputt machte. Die Eltern ertrugen inzwischen ihrerseits nicht mehr, dem Leiden ihrer Tochter zuzusehen. Sie erklärten sich mit der Scheidung einverstanden, mussten aber, um der Sitte zu genügen, den Ältestenrat der Familie einschalten. Als die Onkel und Großonkel nicht mit der Scheidung einverstanden waren, widersetzte sich der Vater und hielt zu seiner Tochter. Frau S. wurde geschieden und durfte in eine andere Stadt ziehen, wo sie das Studium aufnahm.
Ich möchte einen kurzen Einblick in die erste Zeit der Therapie mit Frau S. geben. In den damaligen Stunden hatte ich häufig das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Gefühl, mit meinem analytischen Handwerkszeug nicht weiterzukommen und fühlte mich überfordert. Als ich Frau S. kennen lernte, wirkte sie auf mich wie ein wildes Tier, das man nicht anfassen durfte. Sie nahm keine Drogen mehr, konnte aber manchmal nach einem Alkoholexzess ohne Erinnerung neben einem fremden Mann aufwachen. Sie schien auf übliche Benimmregeln zu pfeifen und wollte sich nichts und niemandem unterordnen. Die längste Partnerbeziehung hatte sie mit einem fest liierten Mann, der sich nicht von seiner Frau trennen wollte. Wenn sie von ihrem Alltag erzählte, war ich häufig ratlos und wusste ihr Verhalten nicht zuzuordnen, so zum Beispiel, als sie stolz berichtete, dass sie ihrem Chef ihren Ärger über ihn gezeigt hätte, indem sie den Stinkefinger erhoben und dazu »ficken« gesagt hätte. Solches Benehmen war mir fremd. Es war sicher weder deutsch noch türkisch. In meinem Wunsch zu verstehen dachte ich oft verzweifelt: »So wie sie ist man einfach nicht!« Schließlich ging ich immer mehr dazu über, Frau S.’ sonderbares Benehmen als Nichtwissen zu verstehen und ihr wie einem Kind Alltagsgegebenheiten zu erklären. Das konnte sie lange Zeit sehr viel besser annehmen als Deutungen. Deutungen machten ihr Angst, weil sie auf Unbewusstes abzielten, und Unbewusstes war nicht kontrollierbar und insofern in seiner Gefahr nicht einschätzbar. Ebenso gefährlich war es, über unsere Beziehung zu sprechen. Wenn ich nur eine Anspielung machte, dass sich etwas, das Frau S. von ihrem Leben draußen erzählte, auch in unserer Beziehung abbildete, zog sie meine Rede ins Lächerliche und alberte: »Ah, da ist es wieder, da ist wieder dieses Uns!« Dass ich türkischer Abstammung war, machte mich genauso wenig vertrauenswürdig wie die Tatsache, dass ich im Alter ihrer Eltern war. Auch türkische Ärzte hatten ihr bisher keinen Grund gegeben, ihnen zu vertrauen. Im Vergleich mit der Behandlung meiner deutschen Patientinnen habe ich im Verlauf meiner klinischen Erfahrung den Eindruck gewonnen, dass die Symptomatik der türkischen Patientinnen, die von den eigenen Eltern in der beschriebenen Weise geschädigt wurden, der der deutschen Patientinnen ähnelt, die manifest sexuell missbraucht wurden. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist jedoch, dass die deutschen Patientinnen ihre Eltern als sadistisch beschreiben, während die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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türkischen Patientinnen ihre Eltern trotz aller Anklagen entschuldigen, weil diese nicht aus eigenem Antrieb gehandelt hätten, sondern selbst einer höheren Macht unterworfen waren. Die Verpflichtung der Eltern, die eigenen Kinder, die der Sitte zuwider handelten, hart zu bestrafen, ohne selbst hinter dem eigenen Tun zu stehen oder auch selbst unter der Bestrafung zu leiden, erklärt aus meiner Sicht das Wegsehen der Eltern. Ihr als doppelbödig erscheinendes Verhalten hilft ihnen selbst, der gefürchteten göttlichen Strafe zu entkommen. Auch wenn Frau S. eine Borderline-Symptomatik zeigte, wirkte die Beziehungsdynamik, die sie von Anfang an herstellte, deutlich reifer. Die depressive Position musste nicht unter Mühen erarbeitet, sondern von traumatischem Geröll freigelegt werden. Gleichzeitig kam aber ein emotionales Defizit zu Tage, das in der therapeutischen Beziehung sozusagen aufgefüllt werden musste. Dabei spielte die größte Rolle, wie authentisch ich in der therapeutischen Beziehung war, was Frau S. ständig überprüfte. Frau S. wollte unsere Beziehung weder als therapeutische noch als Übertragungsbeziehung anerkennen. Die therapeutische Qualität der Beziehung war kränkend, weil die Tatsache, dass Behandlung notwendig war, an das Trauma erinnerte, das ihre Eltern ihr zugefügt hatten. Die Übertragungsbeziehung dagegen rief Angst hervor, weil Frau S. die Abhängigkeit fürchtete als konkrete Gefahr, körperlich geschädigt zu werden. Wir mussten daher lange Zeit Ich-stärkend in der Realität arbeiten, bevor die eigentliche analytische Arbeit aufgenommen werden konnte und ihre eigenen Gefühle zur Sprache kommen konnten. Erst dann konnte sich Frau S. an starke Hassgefühle gegen die Eltern und Neidgefühle gegen die deutsche Umwelt heranwagen, was eine lang anhaltende Suizidalität aufdeckte. Nach deren Überwindung schien sie endlich Sinn für ihr eigenes Leben zu entwickeln, für ihr eigenes Ich, wonach die Individuations- und Separationsproblematik angegangen werden konnte. In der Arbeit mit muslimischen Patientinnen erscheint mir die Bedeutung des Konkreten im Hinblick auf die Symbolisierung von besonderer Bedeutung. In ihrer Arbeit »Reality as defense« zitieren Inderbitzin und Levy (1994, S. 767) aus einem Werks von Otto Fenichel (1945), dass die äußere Realität die Abwehr forme © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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und ein neurotischer Konflikt erst dann ausgebildet werden könne, nachdem ein Konflikt, der ursprünglich zwischen dem Es und der äußeren Realität bestand, in einen Konflikt zwischen dem Es und dem Ich transformiert worden sei. In aktuellen psychoanalytischen Arbeiten sind wir nicht mehr gewohnt, auf das Strukturmodell hingewiesen zu werden. In der Arbeit mit Patienten aus einem anderen Kulturkreis müssen wir aber nicht nur in der äußeren Realität der Patienten »Wechselwirkungen von historischer Entwicklung, sozioökonomischen Bedingungen, sozialer Organisation und normativen Werten« (Saller, 2003, S. 73) beachten, sondern auch in unserer eigenen. Dabei können wir nicht nur etwas über unsere eigene Übertragung und unsere eigene Abwehr herausfinden, sondern ein eigenes, von den Normen unterschiedlicher psychoanalytischer Schulen unabhängiges psychoanalytisches Ich entwickeln.
Literatur Braun, C. von, Mathes, B. (2007). Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin: Aufbau. Fenichel, O. (1945). Psychoanalytische Neurosenlehre, Bd. I. Olten: Walter. Inderbitzin, L. B., Levy, S. T. (1994). On grist for the mill: External reality as defence. Journal of the American Psychoanalytic Association, 42, 763 – 788. Mannitz, S. (2006). Die verkannte Integration. Kultur und soziale Praxis. Bielefeld: Transcript. Saller, V. (2003). Wanderungen zwischen Ethnologie und Psychoanalyse. Tübingen: edition diskord.
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Vera Kattermann
Religiöse Diskurse gegen fanatische Ideologie? Nachdenken über das Beispiel der südafrikanischen Wahrheitskommission
Religiöser Fanatismus nimmt nicht nur unter ultraorthodoxen Gläubigen verschiedener Weltreligionen zu, er beschäftigt auch Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit zunehmender Dringlichkeit: Welche psychosozialen Dynamiken wirken als Nährboden für religiös bedingten Terrorismus und welche verschärfen ihn? Die Bedeutung und Hintergründe des religiösen Fanatismus noch umfassender zu beforschen, erscheint spätestens seit den Anschlägen auf die New Yorker Twin Towers unumgänglich. Ebenso wichtig stellt sich aber auch die Frage nach Möglichkeiten der Prävention. Welche Rolle können hierbei religiöse Diskurse spielen? Können sie gesellschaftliche Toleranz und Verständigung fördern anstatt Feindbilder zu schaffen und Misstrauen zu schüren? Das Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (im Folgenden kurz: Wahrheitskommission) hat in diesem Zusammenhang weltweit Aufsehen erregt und gilt als besonders gelungenes Beispiel für die Integration sozialer und ethnischer Konflikte. Sie charakterisierte sich auch durch ihre explizite Ausrichtung an religiösen Werten – nicht zuletzt bedingt durch ihren charismatischen Vorsitzenden Desmond Tutu. In diesem Beitrag möchte ich untersuchen, wie die Wahrheitskommission versuchte, die gesellschaftlichen Spaltungen der Apartheidzeit zu überwinden. Welche Rolle spielte hierbei der christlich-religiös geprägte Diskurs?
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Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission Zunächst möchte ich kurz den historischen und institutionellen Rahmen der Wahrheitskommission skizzieren. Ihre Einrichtung beruht auf einer politischen Kompromissbildung für die Frage der Amnestierungen. Die alte Apartheidregierung wollte einen Persilschein für ihre an den systematischen Menschenrechtsverletzungen beteiligten Sicherheitskräfte erwirken. Aber auch der ANC und die anderen Befreiungsbewegungen waren auf die Zusicherung von Amnestie für ihre Befreiungskämpfer angewiesen. Der hart ausgehandelte Amnestierungskompromiss, der die Amnestie im Gegenzug für ein umfassendes Geständnis jeweils einzelner Täter in Aussicht stellte und schließlich zur Einrichtung der Wahrheitskommission führte, bildet eine wesentliche Voraussetzung der bis heute weitgehend friedlichen Demokratisierung Südafrikas. Der Einbezug der Aussagen von Opfern war dabei ein wichtiger, aber auch brisanter Akzent. Die Wahrheitskommission glich einem gesellschaftlichen Versuch, dessen Ausgang gänzlich offen stand: Bislang gab es keinerlei vergleichbare Erfahrungen mit Anhörungen von Tätern und Opfern. Gerade deswegen schien es wichtig, die Zeit der Bearbeitung auf drei Jahre zu begrenzen: Ihre Kernarbeitszeit war von Dezember 1995 bis Oktober 1998. Institutionell gliederte sie sich vorrangig in drei Untergremien: Das Komitee für Menschenrechtsverletzungen nahm über 20.000 Aussagen von Opfern zu Protokoll, circa 10 % davon wurden öffentlich an über fünfzig Anhörungstagen in unterschiedlichsten südafrikanischen Gemeinden angehört. Ebenso entschied es über die Qualifikation der aussagenden Opfer in Bezug auf finanzielle und symbolische Wiedergutmachungsleistungen. Das Amnestierungskomitee bearbeitete über 7.000 Amnestierungsanträge; davon wurden knapp 2.000 öffentlich angehört, circa 5.000 Anträge wurden abgelehnt wegen Formfehlern oder Nicht-Erfüllen der Amnestierungskriterien. Die von einer Gewalttat betroffenen Opfer konnten gegen den Am© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nestierungsantrag eines Täters Widerspruch einlegen und hierfür auch Prozesskostenhilfe beantragen. Insgesamt wurde in circa 70 % der für ein Verfahren qualifizierten Fälle Amnestierung gewährt, circa 20 % der Anträge wurde abgelehnt und circa 10 % wurde nur teilweise anerkannt (Theissen, 2006). Das Komitee für Wiedergutmachung: Es erarbeitete symbolische und gemeindeorientierte Wiedergutmachungsleistungen und sprach eine Empfehlung für eine Opferentschädigungsrente aus.
Der Versöhnungsdiskurs In den öffentlichen Anhörungen lässt sich vielfach die Verwendung spezifischer diskursiver Bausteine identifizieren, die eine Haltung von Verständigung, Vergebung und Versöhnung propagieren. Ich habe dies als »Versöhnungsdiskurs« beschrieben (Kattermann, 2007), der häufig gerade dann artikuliert wurde, wenn sich in den Anhörungen Wut, Hass, Neid oder andere spaltende Emotionen zeigten. Seine unmittelbare Ausrichtung an christlich-religiösen Grundwerten war unübersehbar und bot in der öffentlichen Diskussion immer wieder Anlass zu massiver Kritik (z. B. Meiring, 2000). Sehen wir uns einige seiner zentralen Botschaften im Hinblick auf die Funktion der gesellschaftlichen Befriedung und der Überwindung des Apartheidrassismus näher an. Sie zeigen sich beispielsweise in Tutus Worten, die er in dieser oder ähnlicher Form häufig äußerte: »We are all wounded people, traumatized, all of us, by the evil of apartheid. We all need healing and we […] must pour balm on the wounds inflicted by this evil system. Let us be channels of love, of peace, of justice, of reconciliation. Let us declare that we have been made for togetherness, we have been made for a family, that, yes, now we are free, all of us, black and white together, we, the Rainbow People of God. And let us make a success of this democracy. And we are going to make it. For we have a tremendous country, with tremendous people. Our God, who makes all things new, will make us a new people, a new united people in a new South Africa« (Tutu, 1994, S. 262). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Südafrika als ein Kollektiv von Opfern Eine wesentliche Auffassung dieses Diskurses propagiert eine die Gemeinsamkeit des Leidens hervorhebende Grundhaltung: »Ganz Südafrika, Stadt und Land, Schwarz und Weiß, Männer, Frauen und Kinder – war beherrscht von Unterdrückung und Widerstand, und niemand ist mit sauberen Händen daraus hervorgegangen. Alle brauchen Versöhnung, denn alle müssen gesund werden« heißt es dazu im Abschlussbericht der Wahrheitskommission (Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrika, 2000, S. 374). Hier erscheint das südafrikanische Volk geeint durch die quälende und zerstörerische Erfahrung der Apartheid. Faszinierend ist, dass in diesem diskursiven Kunstgriff die Akteure der Gewalt auf wundersame Weise von der Bildfläche verschwinden. In der einenden Bewegung, aus der heraus auch die Täter brutaler und systematischer Gewaltübergriffe als traumatisiert und heilungsbedürftig gelten, wird allzu schnell die trennende Kluft zwischen Opfer und Täter übersprungen. Interpretiert man Täter als hilfebedürftig, so bleibt ihre Verantwortung ausgeklammert, das Machtgefälle und die Gegensätzlichkeit der Positionen sind nicht mehr unterscheidbar. Dabei ist das Anerkennen von Schuld und Verantwortung von zentraler Bedeutung in einem Prozess von gegenseitiger Annäherung oder Versöhnung. Eine vorschnelle Einfühlung in mögliche ohnmächtige Anteile trägt dazu bei, die Auseinandersetzung der Täter mit ihrer Schuld vorschnell abzubrechen oder zu verhindern. Gerade der konfrontative Teil der Integrationsarbeit wird im Versöhnungsdiskurs ausgeklammert. Man muss sich hier erst mühselig in Erinnerung rufen, dass in der Figur des traumatisierten Kollektivs eigentlich auf einen massiven gesellschaftlichen Konflikt Bezug genommen wird. Ich verstehe diese diskursive Figur als Beitrag zur gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit nach Erdheim (1984). Mit dem sozialen Konflikt einhergehende spaltende Emotionen können so aus der öffentlichen Auseinandersetzung verbannt werden. Zudem zeichnet die diskursive Formel auch einen Abwehrmechanismus vor, der diese Emotionen qua Reaktionsbildung verdrängt. Dieser reaktionsbildende Umgang mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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den Aggressionen gegenüber den Tätern kann ein Gefühl moralischer Größe oder gar Überlegenheit vermitteln und so eine maximale Distanz zu den von der Apartheid propagierten Werten herstellen. Dabei steht diese Interpretation in auffallendem Widerspruch zu der auf institutioneller Ebene nicht vorgesehenen psychologischen Hilfe für die Täter – für die Amnestierungen war ein ausschließlich juristischer Bearbeitungszugang vorgesehen. Im Hinweis auf die Kollektivität des Traumas wird zudem das massive ökonomische Gefälle zwischen Reichen und Armen verleugnet ebenso wie die Heterogenität der Positionen von Betroffenen, Mitläufern und Nutznießern des Systems. An welcher Stelle für weiße, privilegierte Familien als Nutznießer der Apartheid eine Traumatisierung auszumachen sein sollte, bleibt ungewiss – doch wird schnell deutlich, wie gut diese diskursive Formel dazu dient, eben diese Vielschichtigkeit realer ökonomischer Unterschiede zu verschleiern, welche mit einer ganzen Reihe spaltender Emotionen wie beispielsweise Neid und Gier verbunden sind.
Die narzisstische Gratifikation der Versöhnungsbereitschaft Ebenso wird im Versöhnungsdiskurs der Verzicht auf spaltende Emotionen wie Wut, Hass und Rache narzisstisch aufgewertet. Das südafrikanische Volk wird als einzigartig in seiner Fähigkeit zur Vergebung gepriesen. So beendete Desmond Tutu die erste von der Wahrheitskommission überhaupt durchgeführte Opferanhörung mit dem Hinweis darauf, wie stolz er auf die Bereitschaft der Anwesenden zu vergeben sei und interpretierte die Nation an anderer Stelle als göttlich auserwählte: »God does have a sense of humour. Who in their right mind could ever have imagined South Africa to be an example of anything but awfulness […]. We South Africans were the unlikeliest lot and that is precisely why God has chosen us. […] God intends us that others look at us and take courage« (Tutu, 1999, S. 229). Die hier artikulierte narzisstische Überhöhung der Versöh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nungsbereitschaft hat eine faszinierende Wirkung. Auch als Leserin fühle ich mich von der Idee einer gesellschaftlichen Vorbildrolle angezogen. Aber ein damit verbundenes Unbehagen bezieht sich auf das Auslöschen all jener Stimmen, die dieser moralischen Auffassung entgegenstehen. Tutu hält der Gesellschaft einen Zerrspiegel vor, der das Bild eines harmonisch verbundenen und fast von heiligem Schein umglänzten Volk zeichnet. Hier findet keine Berücksichtigung, dass in den Anhörungen keinesfalls durchgängig Vergebungsbereitschaft signalisiert wurde und vielmehr auch Forderungen nach Verurteilung und Bestrafung artikuliert wurden. Das Bild eines vergebenden Kollektivs hat also eher die Qualität eines Mythos, der zur Abwehr tatsächlich vorhandener aggressiver Strebungen beitragen konnte. Die Verlockung der Zugehörigkeit zu einem von Gott auserwählten Volk schuf zunächst einen Sog der Identifizierung und dann der Bereitschaft, entgegenlaufende Emotionen eher zu verdrängen: Wer würde nicht gerne jenem Volk zugehören, das der Welt als Beispiel moralischer Größe dient? Diese diskursive Formel kann natürlich auch deswegen so gut greifen, weil die südafrikanische Gesellschaft während der Apartheidzeit international geächtet wurde. Zudem bedeutet der Verweis auf die Bereitschaft zur Vergebung auch einen indirekten Rekurs auf das Konzept des ubuntu als Quintessenz schwarzafrikanischer Spiritualität (Krog, 1998; Posel u. Simpson, 2002). In seiner Betonung zwischenmenschlicher Verbundenheit wurde ubuntu im Kontext der Wahrheitskommission häufig als Schlüsselwert für die gesellschaftliche Versöhnung zitiert. Es verheißt die Befreiung von gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikten durch seine Moral der Verständigung und Harmonie und bildet so einen markanten Kontrapunkt zur einstigen Apartheidideologie. Symbolisch werden so auch die in kolonialer Diskriminierung wurzelnden Entwertungen schwarzafrikanischer Kultur angesprochen und aufgelöst.
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Von der Spaltung der Gesellschaft zur Spaltung der Geschichte Schließlich wird im Kontext des Versöhnungsdiskurses auch auf die Vorstellung eines grundlegenden Neuanfangs Bezug genommen, innerhalb dessen die Regenbogengesellschaft die Verbindung zur Apartheidgesellschaft radikal durchbrochen hat: »Our God, who makes all things new, will make us a new people, a new united people in a new South Africa« (Tutu, 1994, S. 262), wie es in dem oben bereits zitierten Appell Tutus formuliert wird. Gesellschaftliche Kohärenz wird propagiert indem eine andere Spaltung etabliert wird, die Spaltung im zeitlichen Kontinuum. Natürlich ist die Vorstellung eines gesellschaftlichen Neuanfangs deswegen so erleichternd, weil darin die Spannungen der historischen Konflikte entsorgt sind. In dem Maße, wie eine Verbindung zwischen dem Apartheidstaat und der neuen Regenbogengesellschaft nicht mehr (an)erkannt wird, sind auch die einstigen Täter nicht mehr identifizierbar, die Opfer verlieren ihre Identität als Opfer, die Fragen nach Mitläufertum und Privilegiengenuss haben sich erübrigt, alle sind gleich unschuldig und schuldfrei. Eine Abgrenzung von einer dunklen und geisterhaft-bedrohlichen Welt der Vergangenheit wird beschworen: »Having looked the beast of the past in the eye […] let us shut the door on the past – not in order to forget it but in order not to allow it to imprison us. Let us move into the glorious future of a new kind of society where people count […]. Let that society be a new society […]. My appeal is ultimately directed to us all, black and white together, to close the chapter on our past and to strive together for this beautiful and blessed land as the rainbow people of God« (Truth and Reconciliation Commission 1998, Vol. 1, chap. 1, § 92 – 93).
Die gesellschaftliche Gewalt erscheint hier nicht mehr ausgeübt von konkreten Tätern aufgrund einer konkreten Ideologie, sondern als unheimliche Bestie, als bedrohliches, animalisch-gewalttätiges Wesen, das die von zahllosen Einzeltätern ausgeübte Gewalt entpersonalisiert. Abgrenzung und Gegenüberstellung von Einst und Jetzt, von bösen, fremden Monstern und dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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neuen, von ubuntu beseelten, südafrikanischen Wir-Kollektiv sind markant. Damit ist auch der Konflikt um Verantwortung und Schuld, um Reue und Wiedergutmachung ein Phänomen der Vergangenheit. Die Illusion eines Neuanfangs verheißt die Befreiung vom historischen Konfliktpotenzial. Adam weist darauf hin, dass solcherlei Formulierungen einem Mythos Vorschub leisten, der dem deutschen Mythos »der Stunde Null« nahe kommt (Adam, 1998, S. 362).
Zusammenschau und Diskussion Insgesamt war der Versöhnungsdiskurs überraschend wirkmächtig darin, gesellschaftliche Harmonie zu propagieren und zu fördern. Die Institution der Wahrheitskommission ist in diesem Zusammenhang mit einem gesellschaftlichen Lautsprecher zu vergleichen, der es ermöglichte, machtpolitisch erwünschte oder auch benötigte kollektive Einstellungen zu verbreiten. Die zentralen Bausteine des Diskurses werden verständlich als politisch erwünschte Vorschläge an die einzelnen Subjekte, spezifische Abwehrmuster für die Bewältigung der mit den gewalttätigen Konflikten verbundenen Emotionen zu wählen, wie zum Beispiel Verleugnung, Reaktionsbildung und Verkehrung ins Gegenteil, ebenso sowie spezifische Muster von Idealisierung und Entwertung. Als bedeutsamste Abwehrform sind die Spaltungsprozesse zu werten, die zwar vergangene gesellschaftliche Spaltungen aufheben sollten, zugleich aber neue einführten: die Spaltung zwischen Südafrikanern und Bestien, die Spaltung zwischen Einst und Jetzt sowie die Spaltung zwischen dem von Gott auserwählten Kollektiv und all jenen, die nicht vergeben wollen oder können. Die hier vorgestellten Beispiele des Versöhnungsdiskurses verstehe ich als eine Art psychische Plombe, welche die im Rahmen der Anhörungen aufreißenden gesellschaftlichen Spannungen zu überdecken half. Im Wiederholen der diskursiven Schablonen konnte sich das Bild einer Nation durchsetzen, welche die brutalen und gewaltgeprägten Konflikte der Vergangenheit hinter sich lassen kann. In den Anhörungen lässt sich ein breites Spektrum des indi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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viduellen Umgangs mit diesem Diskurs beobachten (Kattermann, 2007). Einerseits zeigen sich Anpassungsbewegungen, die auf eine möglichst korrekte Präsentation der notwendigen Vokabeln und diskursiven Formeln achten, andererseits finden sich Gegenbewegungen, die diesen Diskurs für eigene, auch widerständige Interessen nutzen konnten. Insofern dürfte die Bedeutung des Diskurses als plombenartiges Füllmaterial für einen paradox aufgeladenen gesellschaftlichen Konflikt auch in einer gleichsam elastisch dehnbaren Qualität liegen, die Spannungen überbrücken kann, ohne sie zu zementieren. Der Diskurs bietet sich somit dem Einzelnen in einem politischen Wandlungsprozess mit noch unklaren gesellschaftlichen Werten als eine Art Schutzmantel an und kann so Zugehörigkeit verheißen. Er ist für eigene Interessen instrumentalisierbar, er ist mitgestaltbar, aber auch offen für Kritik oder Zweifel. Somit hat der Versöhnungsdiskurs zweifelsohne dazu beitragen können, das politische Klima Südafrikas zu stabilisieren und die fortbestehende Gewaltbereitschaft einzudämmen. Verglichen mit den häufig blutigen Systemwechseln nach Gewaltherrschaft in anderen Staaten der Welt ist die von der Wahrheitskommission mitgestaltete friedliche Transition fast beispiellos. Tutus Lobpreisung von Vergebung und Versöhnung wirkte verführerisch auf viele und lud dazu ein, die psychische Integration einer solchen Haltung in Verbindung mit den damit vorgegebenen Abwehrmechanismen zu versuchen. Anders als im religiös fanatischen Diskurs, der versucht, in Gläubigen eine paranoide und hasserfüllte Stimmung auszulösen, die sich aufheizt und dann zu Gewaltexzessen führt, wurde hier die Sogwirkung einer Art öffentlichen Euphorie spürbar, eine Euphorie darüber, die abgründigen und hasserfüllten Seiten des Menschseins zu überwinden und zu einer am Miteinander interessierten Grundhaltung zu finden. Aber wäre Südafrika nicht doch zu mehr Konflikt und kontroverser Diskussion in der Lage gewesen? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist sicherlich wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass die südafrikanische Gesellschaft auf keinerlei demokratische Tradition zurückgreifen konnte, die vermocht hätte, die Ängste und Sorgen in Bezug auf die Folgen einer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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allzu unbegrenzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu besänftigen. Südafrika verfügte über keinen bereits etablierten demokratischen Grundkonsens und hatte keinerlei Erfahrungen mit demokratischen Formen öffentlicher Auseinandersetzung. Es war im Vorfeld unklar, wie tragfähig das noch hauchdünne, frische Eis der erzielten politischen Verständigung wohl sein würde. Zudem war ja die Geschichte des Landes von jahrhundertealtem kolonialen Hass und von Gewalt geprägt und Gewalt und Gewaltbereitschaft schwelten in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen fort. Der Wunsch nach einem wirkungsvollen Garanten für gesellschaftlichen Frieden ist also verständlich. Noch ist es zu früh zu beurteilen, ob die Wahrheitskommission auch auf längere Sicht hin dazu beitragen konnte, die gesellschaftlichen Spannungen zu mildern. Von der Forschung zu psychosozialen Folgewirkungen des NS-Regimes ist bekannt, dass rassistische und fanatische Überzeugungen nicht einfach per Dekret und durch politischen Beschluss aus der Welt geschafft werden. Gerade im kollektiven Unbewussten können sie sich in Legierung mit persönlichen Konfliktdynamiken fortschreiben – die transgenerationelle Tradierung von Traumata ebenso wie von Schuld und Scham von Gewalttätern wird wissenschaftlich vielfach diskutiert (Bohleber, 1998; LeuzingerBohleber, 2003). Ein Anzeichen dafür, dass die gesellschaftliche Befriedung Südafrikas bei weitem nicht als abgeschlossen oder vollendet angesehen werden kann, ist nicht nur die nach wie vor grassierende Gewalt im südafrikanischen Alltag – es zeigt sich zudem in fremdenfeindlichen Ausschreitungen gegenüber Migrantinnen und Migranten aus anderen schwarzafrikanischen Ländern im Frühjahr 2008. Es könnte sein, dass die diskursiv geförderten Abwehrmechanismen allenfalls eine Verschiebung der nun öffentlich tabuisierten Aggressionen auf neue Feindbilder bewirkt haben. Der Versöhnungsdiskurs der Wahrheitskommission bot insofern zwar einen wirkungsvollen Anreiz für gesellschaftliche Verständigung, für Toleranz und Versöhnung, möglicherweise war dies aber nur ein erster Schritt. Um bei dem Bild der Eisdecke zu bleiben: Sie kann sich nur dann zu einer tragfähigen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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haltenden Grundlage ausbilden, wenn sie von weiteren und nachhaltigeren politischen Prozessen getragen wird (Volkan, 1998).
Literatur Adam, H. (1998). Widersprüche der Befreiung: Wahrheit, Gerechtigkeit und Versöhnung in Südafrika. In H. König, M. Kohlstruck, A. Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Leviathan – Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 18, 350 – 367. Bohleber, W. (1998). Täterschaft und Verleugnung. Über Tabus und Tradierung zwischen den Generationen. In T. Wirth-Haland, N. Spangenberg, H. Wirth (Hrsg.), Unbequem und engagiert. Horst-Eberhard Richter zum 75. Geburtstag (S. 28 – 42). Gießen: Psychosozial-Verlag. Erdheim, M. (1984). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kattermann, V. (2007). Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika. Ein psychoanalytischer Verständnisversuch der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Gießen: Psychosozial-Verlag. Krog, A. (1998). Country of my skull. Johannesburg: Random House. Leuzinger-Bohleber, M. (2003). Transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen. Einige Beobachtungen aus einer repräsentativen Katamnesestudie. In M. Leuzinger-Bohleber, R. Zwiebel (Hrsg.), Trauma, Beziehung und soziale Realität (S. 107 – 135). Tübingen: edition diskord. Meiring, P. (2000). The baruti versus the lawyers: the role of religion in the TRC process. In C. Villa-Vicencio, W. Verwoerd (Eds.), Looking back, reaching forward: reflections on the Truth and Reconciliation Commission of South Africa (pp. 123 – 131). Cape Town: University of Cape Town Press. Posel, D., Simpson, G. (Eds.) (2002). Commissioning the past: understanding South Africa’s Truth and Reconciliation Commission. Johannesburg: Witwatersrand University Press. Theissen, G. (2006). Chancen und Grenzen von Wahrheitskommissionen: Das Beispiel Südafrika. In A. Kenkmann, H. Zimmer (Hrsg.), Nach Kriegen und Diktaturen: Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem; Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert (S. 49 – 68). Essen: Klartext. Truth and Reconciliation Commission (1998). Final Report of the Truth and Reconciliation Commission. Vol. 1 – 5. Cape Town: Juta & Co. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Religiöse Diskurse gegen fanatische Ideologie?
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Tutu, D. (1994). The rainbow people of God: the making of a peaceful revolution. Edited by John Allen. New York: Doubleday. Tutu, D. (1999). No future without forgiveness. New York: Doubleday. Volkan, V. D. (1998). Traumatized societies and psychological care: Expanding the concept of preventive medicine. In Y. Danieli (Ed.), International handbook of multigenerational legacies of trauma (pp. 177 – 194). Berlin: Springer. Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrika (2000): Das Schweigen gebrochen. Geschichte – Anhörungen – Perspektiven. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Mahrokh Charlier
Macht und Ohnmacht Religiöse Tradition und die Sozialisation des muslimischen Mannes
»Tausend Jahre Tyrannei sind besser als ein Tag Anarchie« Ibn Taymiyya, Theologe und Rechtsgelehrter, 1263 – 1328
Vorbemerkung Die Veränderungen der westlichen Gesellschaften durch die Immigration von Muslimen sowie internationale Spannungen zwischen der säkularisierten westlichen Moderne und den islamisch geprägten Gesellschaften haben Fragen nach dem Verhältnis von Tradition und Fortschritt, Religion und Rationalität in das Zentrum politischer und wissenschaftlicher Debatten geführt. Aus westlicher Sicht wird dabei insbesondere die Frage der gegenseitigen Toleranz diskutiert, aber auch, ob im Islam überhaupt ein Prozess der Reformation möglich, in islamisch geprägten Gesellschaften also eine Säkularisierung denkbar ist. Dieser Diskurs wird jedoch nur in einer Sprache geführt, nämlich der westlich-säkularen, der Sprache des Rationalismus. Sie betrachtet die westliche Tradition der Moderne mit ihrer Domäne der Rationalität und des technologischen Fortschritts als universal gültig und als einzig mögliche Form der zivilisatorischen Entwicklung. Fortschrittskritiker nicht nur aus dem islamischen Lager haben allerdings schon früh darauf verwiesen, dass Fortschritt hier quasi als säkulare Religion fungiert. Wissenschaft und Technologie entzaubern die Welt und werden gleichsam auf den leeren Thron Gottes gesetzt. Der sich ständig beschleunigende göttliche Fortschritt geht mit einer zunehmenden Individualisierung einher, deren Kehrseite in Vereinzelung und einem Verlust überindividueller, gemeinsamer Werte besteht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Trotz der humanistischen und poetischen Tradition der muslimischen Rationalisten im Mittelalter, wie der Mo’taziliten, Averroes, al-Ma’arri und anderen, ist die Sprache der muslimischen Zivilisation heute eine andere. Sie hat im Gegensatz zur säkularen westlichen Moderne bis heute eine ausdrückliche religiöse Kodierung, die sich darüber hinaus bei genauerer Betrachtung trotz gemeinsamer religiöser Wurzeln vom mosaischen und christlichen Monotheismus unterscheidet. Aus westlicher Sicht glaubt man häufig, die derzeitige Verfassung der islamischen Gesellschaften durch einen Rückgriff auf die eigene Vergangenheit erklären zu können: mit der Vorstellung einer eigentlichen Parallelität beider Kulturen, deren Unterschiedlichkeit letztendlich nur in einer Art von Zeitverschiebung verstanden wird. Damit werden meines Erachtens wichtige Unterschiede übersehen, die auch aus Differenzen der zugrunde liegenden monotheistischen Religionen resultieren. Aus der Position einer aus dem islamischen Kulturkreis stammenden Migrantin und mit meiner klinischen Erfahrung als Psychoanalytikerin mit Patienten beider Kulturen bin ich dazu angehalten, mich meinen Erfahrungen beider Kulturen sowohl als Subjekt wie auch als Objekt introspektiv zuzuwenden. Für beide Kulturen empfinde ich eine tiefe Verbundenheit, die mich zu einer intensiven Beschäftigung mit ihnen motiviert. Wie in jeder Beziehung sind auch hier Differenzen und Fremdheit unvermeidbar. Ich möchte mich der Einstellung des Psychoanalytikers Joachim Küchenhoff (2008) anschließen, dass wir uns darum bemühen sollten, nicht vor der Erfahrung von Differenzen und kulturellen Grenzen anzuhalten. Deshalb ist es wichtig weiterzugehen, weiterzufragen, neugierig zu bleiben, sich den eigenen Fragen anzuvertrauen. Die Wahrnehmung und das Verstehen kulturspezifischer und religiöser Unterschiede der islamischen und der westlich säkularen Kultur ist meines Erachtens Voraussetzung eines Dialogs mit dem Ziel, eine Balance zwischen kulturellen Besonderheiten und universalen Prinzipien der Moderne zu finden. Um der religiös-kulturellen Kodierung der muslimischen Zivilisation und der psychischen Struktur der Muslime näherzukommen, müssen wir in eine religiös strukturierte Zeit eintauchen, die im Westen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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weitgehend der Vergangenheit angehört, während sie in den islamischen Gesellschaften seit Mohammed (570 – 630 n. Chr.) im Großen und Ganzen unverändert fortbesteht.
Säkularisierung und Aufklärung Der Historiker Dan Diner versteht Säkularisierung nicht nur unter dem Aspekt des Religiösen, sondern gibt ihr eine umfassende Bedeutung, weil sie eine Tendenz zur Verwandlung beinhaltet, die alle Lebensbereiche berührt. Säkularisierung meint, so Dan Diner, einen »nicht endlichen Prozess ständiger Interpretationen, Verhandlung und Verwandlung dessen […], was entweder ins Innere der Person verlegt oder nach außen hin entlassen und durch etablierte Institutionen reguliert wird. Mit Säkularisierung ist auch die kognitive Durchdringung und intellektuelle Aneignung der Lebenswelten gemeint, die den Menschen ansonsten fremd und unverstanden gegenüberstehen« (Diner, 2005, S. 34).
In der westlichen Kultur hat dieser Säkularisierungsprozess in der intensiven Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Ordnung in Renaissance, Reformation und Aufklärung begonnen. Die Auseinandersetzung galt nicht nur der Frage der religiösen Fundierung, sondern umfasste alle Lebensbereiche, von der Pädagogik über die Politik bis hin zum Rechtswesen, und führte zu gesellschaftlichen Umwälzungen und Demokratisierungsprozessen, die auch Neubewertungen von gesellschaftlicher und familiärer Autorität und das Verhältnisses der Geschlechter nach sich zogen. Sobald wir uns aber von dem hiesigen und derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung weg bewegen, hinein in von patriarchalischer Autorität geprägte Gesellschaften, werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass die uns in westlichen Gesellschaften selbstverständlich gewordene Freiheit und Beweglichkeit des Denkens, die Allgegenwart von Veränderung in diesen Gesellschaften alles andere als selbstverständlich ist. Der Begriff Zeitgeist wird dort mit Sündhaftigkeit in Verbindung gebracht, und wir treffen auf eine Tra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dition, die nicht als Vorbild oder Abschreckung im Dienste der Vernunft wirkt, sondern als nackte Bewahrung der Vergangenheit, als unbedingte Unveränderbarkeit verteidigt wird. Für LviStrauss ist das charakteristische traditioneller Gesellschaften, dass sie bemüht sind, gegen »jede Veränderung ihrer Struktur, die ein Eindringen der Geschichte ermöglichen würde, verzweifelt Widerstand zu leisten«. Hierfür prägte er den Begriff der »kalten Gesellschaften« (Lvi-Strauss zit. n. Erdheim, 1984, S. 288). Meine Frage lautet: Wie sind die psychischen Mechanismen des Patriarchats in den islamisch-religiösen Gemeinschaften beschaffen, damit die Tradition der Unveränderbarkeit als eine feste Konstante von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch verewigt wird? Ist dies nur eine Folge der islamischen Theologie, die Unveränderbarkeit verlangt, oder geht es um die weitergehende Absicherung der Macht des Patriarchats – oder ein Zusammenwirken beider? Sufi Qushayri (986 – 1072) schrieb einen Vers über die Versuchung Adams im Garten Eden: »Nachdem er (Adam) den Einflüsterungen des Dämons erlegen war, sagte Adam wütend, weil in seiner Reinheit befleckt, zu ihm: Verfluchter, du hast mich in Versuchung geführt und ich bin nur Deinen Aufwiegelungen gefolgt. Darauf antwortet der Dämon: Gewiss Adam, ich war der Dämon, der Dich inspirierte, aber weißt Du wer mein Dämon ist?« (Meddeb, 2002, S. 86). Der Dämon als Keim der Veränderung, als Gegenpart des Konstanzprinzips des Paradieses, wird in der islamischen Theologie bekämpft, auch wenn er selbst von Gott geschaffen ist. Denn mit dem Dämon hält die Ambivalenz Einzug in Adams Welt. Auf der Suche nach den Ursachen des Kampfes gegen den »Dämon der Veränderung« und des Beharrens auf der Unveränderbarkeit des Paradieses in der islamischen Welt möchte ich die These vertreten, dass die Tradition der patriarchalisch-islamischen Kultur durch die Sozialisation des Knaben tradiert und durch die islamische Religion »versiegelt« (Diner, 2005) wird. Versiegelt in dem Sinne, dass die islamischen Erziehungspraktiken aus dem Koran abgeleitet und damit als unveränderliche Wahrheiten geltend gemacht werden. Die islamische Erziehung lässt infolge ihrer religiösen Fundierung – psychoanalytisch ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sprochen – dem Subjekt in seinen Beziehungsmodalitäten zu den primären Objekten keine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten im Sinne einer autonomen Ich-Bildung, sondern fordert eine kollektive Identität und Unterwerfung unter das patriarchalische Prinzip. Des Weiteren sehe ich eine Parallelität in der Unterwerfung unter die religiöse Autorität und der Unterwerfung des Knaben unter die väterliche Herrschaft.
Das Ideal und der Glaube an den Ursprung Im Zentrum der islamischen Theologie steht der absolutistische Glaube an und die Unterwerfung unter einen einzigen Gott. Die Rückkehr zum ursprünglichen Prinzip und seine Anbetung lassen den Islam zur Religion an sich werden. Der Prophet Mohammed bezeichnete sich als »Siegel der Propheten«, das heißt, dass nach ihm kein weiterer Prophet kommen wird. Die Unterwerfung gilt den von Mohammed und seinen Nachfolgern als Ideal vorgegebenen Werten und Gesetzen im Koran und den an ihn angelehnten Hadithe. Der Koran enthält danach keine Interpretationen, sondern er enthält Gottes Wort in reiner Form, »ipsissima verba«. Dadurch hat Gott nie aufgehört zu sprechen, auch wenn er nichts Neues mehr sagt. In der transzendenten Beziehung zu Gott und durch die Nachahmung des Verhaltens in der Gemeinschaft des Propheten (umma) erleben die Muslime ihre Erfüllung (Küng u. van Ess, 1994). Insofern ist das Streben nach den Idealen eine zeitlich rückwärtsgerichtete, regressive Bewegung, die konkret mit der Vergangenheit in Verbindung steht. Eine progressive Bewegung in der Gegenwart und die Vorstellung einer Veränderung in der Zukunft bedeuten für die islamische Theologie gleichsam einen Abfall vom Glauben, weil damit die Bewahrung des Ideals und des idealen Objekts der Vergangenheit in Frage gestellt wird. Das Lebensbestreben der Muslime gilt folglich nicht der Gegenwart und der Zukunft, sondern der Vergangenheit, der Unveränderbarkeit der Prophetentradition. Zur Illustration verweise ich auf die Journalistin Loretta Napoleoni, die Abu Rummans Bericht über Al-Sarkawi zitiert, wo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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nach dieser sich während seiner Gefängnisjahre zum Positiven verändert habe: »Trotz des Heiligenscheins [im Sinne einer patriarchalischen Erhabenheit, M. C.], der ihn (Sarkawi) umgab, wirkte er sanft, hatte sehr gute Umgangsformen, lebte und dachte romantisch und idealistisch und strebte immer danach, des Vertrauens seiner Gefährten würdig zu sein. […] Er ist, kurz gesagt, im Hinblick auf sein Gebaren, seine Erscheinung und seine Hoffnung ein Mann aus dem 1. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung, der ins 21. Jahrhundert mit all seinen Abnormitäten, Sünden und Erniedrigungen geworfen wurde« (Napoleoni, 2006, S. 46, Hervorhebung M. C.).
Hier äußert sich meines Erachtens ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Weltanschauung der westlichen Moderne und jener der islamischen Gesellschaften. Das Ideal des Westens liegt in der Vorstellung eines stetigen Wandels und einer Progression. Die gläubigen Muslime hingegen sehen ihr Ideal in der Vergangenheit, nämlich in der Offenbarung Mohammeds. Zur Funktion kultureller Ideale schreibt Freud, dass sie den Menschen eine Befriedigung narzisstischer Natur bieten: »Zu ihrer Vervollständigung bedarf sie des Vergleichs mit anderen Kulturen, die sich auf andere Leistungen geworfen und andere Ideale entwickelt haben. Kraft dieser Differenzen spricht sich jede Kultur das Recht zu, die andere gering zu schätzen. Auf solche Weise werden die Kulturideale Anlass zur Entzweiung und Verfeindung zwischen verschiedenen Kulturkreisen, wie es unter Nationen am deutlichsten wird« (Freud, 1927, S. 334).
Kulturelle und religiöse Ideale bieten die Möglichkeit der Fantasie von absoluter Macht und eignen sich von daher zur Kompensation real erlebter Ohnmacht. In diesem Zusammenhang weist Jos Brunner, Senior Lecturer an der Universität Tel Aviv darauf hin, »dass Freuds Analyse der Religion stets politisch oder politisierend war« und »der Mann, den Freud in seinen Schriften über die Religion beschreibt – die geschlechtsbestimmte Terminologie ist hier angebracht, da Freud in diesem Zusammenhang auf den Mann und nicht die Frau verwies –, immer als ein grundsätzlich politisches Wesen erscheint, dessen Hauptsorge in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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der Beherrschung und der Kontrolle als Heilmittel für Ängste liegt, die aus dem allgegenwärtigen Ohnmachtgefühl stammen« (Brunner, 1996, S. 787 f.).
Die religiöse Autorität Der Religionswissenschaftler Theo Sundermeier schreibt: »[…] der Islam versteht sich nicht als eine neue Religion, sondern als die älteste der Menschheit, die mit Adam begann, in Abraham ihre Erneuerung fand, von Moses und Jesus auf ihre Weise reformiert und von Mohammed zur Vollendung geführt wurde« (Sundermeier, 1996, S. 124). Die Gesetze im Islam sind alle von Gott selbst erlassen. Durch seine Überbringer sind die Menschen verpflichtet, diese Gesetze vorbehaltlos einzuhalten. Durch die Beachtung der Gesetze kann der Mensch als Kreatur Gottes seine Glückseligkeit sowohl im diesseitigen als auch im jenseitigen Leben sichern. Immer wieder betont der Koran die Güte und Gnade Gottes und dass die Schöpfung auf den Menschen hin geordnet ist. Gott wird ihm seine Sünden vergeben, wenn er ehrlich bereut, und wird ihn belohnen, wenn er ein gottgefälliges Leben führt. Neben der Betonung der Barmherzigkeit Gottes enthält der Koran jedoch auch eine Unzahl von Drohungen gegenüber demjenigen, der sich nicht nach den Gesetzen des Korans beziehungsweise Islam richtet. Dem Gläubigen verheißt er paradiesische Belohnungen, dem Ungläubigen, als Frevler bezeichnet, droht er ungeheure Qualen an. Der Unglaube gilt als Undankbarkeit gegenüber Gott und seinen erwiesenen Wohltaten und eine Fürsprache durch den Propheten ist nur möglich, wenn Gott selbst es zulässt. Insofern sind die Menschen in gute Gläubige und böse Ungläubige aufgeteilt; die einen werden von Gott belohnt, die anderen bekämpft. So schreibt der Islamwissenschaftler und Orientalist Josef van Ess, dass Menschenrechte im Islam nichts Neues, sondern schon immer von Gott geschenkt sind. »Denn Gott gegenüber kann man nicht Recht behalten; da ist die einzig adäquate Haltung der Gehorsam. Mehr als ein Abendländer begreift der Muslim darum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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die Menschenrechte als Komplement zu den Menschenpflichten; das islamische Recht ist seit jeher eine Pflichtenlehre gewesen« (Küng u. van Ess, 1994, S. 75). Damit ist auch die Autorität des religiösen Überbringers, der nicht selbst als Verfasser, sondern nur als Übermittler des Gesetzes fungiert, unüberwindbar mächtig und kompromisslos. Der Verweis auf den göttlichen Befehl macht sowohl Gott als auch seinen Überbringer unantastbar. Freud verknüpfte in »Totem und Tabu«, den Ursprung der Religionen mit dem Schuldgefühl, das aus dem »Urverbrechen«, der Ermordung eines grenzenlos mächtigen und grausamen Urvaters durch die Brüderhorde, hervorgeht. Die Ermordung des Urvaters brachte den Söhnen zwar nicht die erwünschte Befriedigung, führte jedoch zum Schuldgefühl, einer »moralischen Reaktion«, die zur Grundlage des zivilisatorischen Prozesses wurde. Das Verbrechen gegen den Vatergott verfiel zwar der Verdrängung, die Rebellion gegen den Vater wurde im Laufe der menschlichen Kultur stets aufs Neue wiederholt (Freud, 1912 – 13a, S. 426). Aus der Freud’schen Beschreibung des Urvaters als Anführer einer Urhorde leitet Ruth Stein (2006) ihre Vorstellung der Imago eines primären, archaischen Vaters ab. Sie vergleicht diesen primären, archaischen Vater mit der patriarchalischen Version des jüdisch-christlich-islamischen Gottes. Ein imaginärer Vater, der eine machtvolle, unangreifbare und idealisierte Figur darstellt, der Schutz verspricht, Bestrafungen ausführt und selbst außerhalb jedes Gesetzes steht. In Anlehnung an Stein möchte ich eine wesentliche Unterscheidung zwischen dem islamischen Monotheismus auf der einen und dem mosaischen sowie christlichen Monotheismus auf der anderen Seite treffen. Im Islam als dem radikaleren Monotheismus gibt es keinen Raum für eine ambivalente Gefühlseinstellung Gott/Vater gegenüber. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied dar mit Folgen auch für das Schicksal der Verdrängung, die sich in unserem psychoanalytischen Verständnis ja wesentlich aus der Ambivalenz speist. In Bezug auf die jüdische Religion zeigt Karl Abraham den Ambivalenzkonflikt gegenüber Jahwe anhand der alttestamentarischen Geschichte auf: »Der ewige Wechsel des Abfalls von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Jahwe und der Rückkehr zu ihm zeigen die Ambivalenz der Einstellung der Volksseele zum väterlichen Gotte aufs deutlichste« (Abraham, 1920, S. 118). Die jüdische Religion fordere, so Abraham, immer strengere Hingabe und die Treue des Volkes, um eine Auflockerung des Verdrängten nicht aufkommen zu lassen. Der Psychoanalytiker Jihad Jiko beschäftigt sich anhand der Geschichten von Hiob und Abraham, die sowohl in der Bibel als auch im Koran zu finden sind, mit den Unterschieden in der »unbewussten Rezeption der Vater-Sohn-Beziehung«. In der Koranischen Version stellt er eine »islamische Lösung des Ambivalenzkonflikts zwischen Vater und Sohn in Form einer entschiedeneren Machtposition des Vaters beziehungsweise eines strengeren Monotheismus« fest und spricht von der »Verleugnung der Ambivalenz« (Jiko, 2004, S. 26). Hiobs Hadern mit Gott, warum dieser zulasse, dass ihm ohne Schuld soviel Unheil zustoße, kommt im Koran nicht vor. Der Hiob des Korans bringt das Unheil, das ihm widerfahren ist, überhaupt nicht mit Gott in Verbindung. Für ihn steht außer Frage, dass dies ein Werk Satans ist. Dieser Spaltungsmechanismus ermöglicht es ihm, nicht mit Gott zu hadern, sondern ihn stattdessen um Hilfe gegen Satan anzurufen. Die zentrale These Jikos lautet, »dass der Islam nach einer Zwischenphase der christlichen Religion, während der der Monotheismus in der Dreifaltigkeit und als Sohnes- und Mutterreligion eine deutliche Lockerung erfuhr, einen strengeren Monotheismus als sein Vorbild eingeschlagen hat. Nach dem Übergang von der Vaterreligion zur Sohnes- und Mutterreligion kehrte der Vater in strengerer Form in den Islam zurück« (Jiko, 2004, S. 27). Die innere Entwicklungsdynamik im Vater-SohnVerhältnis ist im islamischen Monotheismus eine radikalere, die Vaterposition wird als zentral, mächtig und unüberwindbar erklärt (Jiko, 2004, S. 28). Die Vermeidung des Ambivalenzkonflikts durch den Gehorsam kann auch am Beispiel der Geschichte von Abraham und Ismael verdeutlicht werden. In der biblischen Version der Opferung Isaaks sagt Abraham seinem Sohn nicht, dass er geopfert werden soll, und auch Isaak äußert seine Ahnung nicht; vielleicht weiß er davon auch nichts. Demgegenüber sagt Abraham im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Koran seinem Sohn: »Ich sah im Traum, dass ich dich schlachten werde. Überleg jetzt was du (dazu) meinst! Er sagte: ›Vater! Tu, was dir befohlen wird! Du wirst, so Gott will, finden, daß ich (einer) von denen bin, die (viel) aushalten können‹« (Der Koran, 2004, Sure 37/102).
Die väterliche Autorität Das Geschlecht männlich ist in einer auf den Islam ausgerichteten Gesellschaft mit der Vorstellung von Überlegenheit und Stärke besetzt. Die Geburt eines Sohnes bedeutet bewusst oder unbewusst für die gesellschaftlich entwertete Frau die Geburt eines Erlösers und für den Mann ein Zeugnis seiner Potenz. Damit werden dem Knaben schon vor der Geburt Funktionen zugewiesen, die an den geschlechtsspezifischen elterlichen Erwartungen und der gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet sind. Die primären Bezugspersonen für das Kind in den ersten Lebensjahren sind ausschließlich weiblich, die Mutter und/oder andere weibliche Familienmitglieder. Den Vater erlebt der Knabe zunächst überwiegend über die Mutter und ihre Beziehung zum Vater: als Besitzer der Mutter, als deren Beschützer und Versorger, als Instanz, die Gehorsam verlangt und grenzenlos grausam sein kann, wenn sie nicht gehorsam ist (Charlier, 2006). Aus Berichten von Patienten, die eine Misshandlung der Mutter durch den Vater erlebt haben, wissen wir, dass die Angst der Kinder nicht nur auf die Angst vor dem drohenden Objektverlust hinweist, sondern auch auf Todesangst, Angst vor der eigenen Vernichtung. Der Schweizer Psychoanalytiker MüllerPozzi schreibt in seinem Artikel »Identifikation und Verzicht auf Individuation«, dass es im Fall einer übermäßig versagenden, beziehungsweise ängstigenden Mutter beim Kind zu einer undifferenzierten, nicht selektiven Identifizierung kommen kann. Dies bezeichnet er als globale Identifizierung. Identifizierung wird hier als Abwehr eingesetzt, um einen Konflikt, einen drohenden Objekt- oder zumindest Liebesverlust zu vermeiden. »Der Mensch, der zum Mittel der Abwehr durch Identifizierung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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greift, erlebt die Drohung des Liebesentzuges als tief und existenziell« (Müller-Pozzi, 1985, S. 885 u. S. 901). Nach meiner Ansicht, kann das Abwehrkonzept der globalen Identifizierung in unserem Zusammenhang auch für die psychische Entwicklung des Knaben und sein Verhältnis zum Vater verwendet werden. Um der Todesangst vor und den Todeswünschen gegenüber dem Vater zu entgehen und seine Liebe nicht zu verlieren, wird durch die globale Identifizierung eine ambivalente und damit konflikthafte Beziehung zum Vater vermieden, was aber gleichzeitig mit einer Hemmung der Individuation einhergeht. Der für den Knaben in der Frauenwelt eher schattenhafte Vater konturiert sich im Alter von circa sieben bis neun Jahren als realer Vater. In diesem Alter wird das männliche Kind aus der Frauenwelt zunehmend herausgelöst, nimmt ab jetzt mit dem Vater und/oder männlichen Familienmitgliedern an Reinigungs- und religiösen Zeremonien teil, wird in die Männerwelt eingeführt. Der Weg des Knaben zur Männlichkeit liegt aus der Sicht des Vaters – entsprechend dem gesellschaftlichen Bild vom männlichen Habitus – im Gehorsam und in der Unterwerfung unter ihn und die religiösen Autoritäten. Hierbei spielt die Angst eine wesentliche Rolle. Die Fähigkeit, Angst zu erzeugen, verschafft Achtung und Respekt und gilt als Tugend von Autoritäten. Man kann vermuten, dass das archaische Bild des Vaters, wie oben beschrieben, auch in der weiteren Entwicklung des Knaben keine Korrektur findet. Für den Knaben bleibt die Unterwerfung unter den Vater, die durch den Mechanismus der globalen Identifizierung innerpsychisch geleistet wurde, die Voraussetzung seiner physischen und psychischen Existenz. Der palästinensische Psychoanalytiker Gehad Mazarweh schreibt zum Verhältnis des Sohnes zum Vater in der arabischen Welt: »Der Hass auf den Vater und die Todes- und Mordwünsche werden aus Angst- und Schuldgefühlen verdrängt. Die Ängste der Knaben in vielen arabischen Familien werden bestätigt durch die Gewalttätigkeit der Väter, die Angst bleibt nicht nur im Bereich der Fantasie, sondern ist eine Realität, von der das Kind physisch und psychisch vergewaltigt wird. […] Die Furcht vor dem Vater zwingt die Söhne, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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ihre Hassgefühle zu verdrängen, den Hass nicht bewusst werden zu lassen. Kaum ein arabischer Sohn würde mit einem bewussten Hass gegen den Vater leben können. Der Sohn zieht sich zurück« (Mahzarweh, 2005, S. 82).
Diese Beschreibung kann ich durch meine klinischen Erfahrungen mit Patienten aus diesem Kulturkreis sowie meine eigene Kenntnis des kulturellen Hintergrundes bestätigen. Nach meinem psychodynamischen Verständnis sehe ich hier jedoch nicht den Abwehrmechanismus der Verdrängung am Werk im Sinne der Freud’schen Theorie über die Verdrängung als Erbe des fantasierten Vatermordes und dadurch entstandener Schuldgefühle, sondern es handelt sich hier um eine Abwehr durch (globale) Identifizierung, die an die bereits von Anna Freud (1936, S. 85 ff.) beschriebene Identifizierung mit dem Angreifer erinnert. Der Knabe identifiziert sich mit den versagenden Aspekten des Vaters und insbesondere mit dem Wunschbild, das der Vater von seinem Sohn hat. Das kommt einer Unterwerfung unter die Bedürfnisse des Vaters gleich und macht aus dem Sohn einen Diener des Vaters. Dies bedeutet, dass die allmähliche Desillusionierung des Vaters nicht voranschreiten kann. In Anlehnung an Müller-Pozzi könnte man sagen, dass statt einer wirklichen Objektbeziehung die Einheit mit dem Vater durch Identifikation nur vorgetäuscht wird (vgl. Müller-Pozzi, 1985, S. 885). Die Unmöglichkeit der Integration der libidinösen und aggressiven Empfindungen dem Vater gegenüber lassen der Ambivalenz keinen Raum. Die Intensität der durch globale Identifizierung verleugneten aggressiven Affekte einerseits und das Ausmaß des Verlangens nach Liebe und Anerkennung andererseits können dazu führen, dass der Knabe später im Extremfall bereit ist, sich für den Vater, beziehungsweise für die Gewinnung seiner Liebe, zu opfern. Dies findet ihren Ausdruck am stärksten im Mythos des Opfertods und Märtyrertums als Beweis von Männlichkeit, religiöser Treue und Unterwerfung, was bis hin zur Selbst- und Objektvernichtung als Zeichen von Liebe und Stolz führen kann. Hier verliert die Signalangst ihre Funktion als Warnung vor den mit Gewalt und Destruktivität verknüpften Gefahren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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In meiner klinischen Erfahrung mit Männern aus dem islamischen Kulturkreis begegnete ich extrem selten explizit kritischen Äußerungen in Bezug auf die Väter. Sie wurden in aller Regel hinter inhaltsleeren Idealisierungen als unantastbar verbrämt. Die individuationsfördernden Möglichkeiten von Pubertät und Adoleszenz können vor dem Hintergrund der bisherigen psychischen Entwicklung ebenfalls nur begrenzt wirksam werden. Dies ist ein Grundpfeiler dessen, was Erdheim als die zyklische Struktur der Tradition in kalten Gesellschaften beschreibt: Wenn nur die Erfahrungen der ersten Jahre, die man im Rahmen der Familie gemacht hat, für das Leben in der Gesellschaft maßgebend sind, reproduziert jede Generation von neuem nur die elterlichen Erfahrungen (Erdheim, 1984, S. 276). Die Vermeidung einer adoleszenten Bewegung kann auch als eine Verleugnung der Endlichkeit, der Trennung beziehungsweise des Todes und damit eines Neubeginns verstanden werden. Dadurch werden die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits durchlässig. Freud sah in der Weigerung der Akzeptanz von Endlichkeit und Sterblichkeit die »unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung« (Freud, 1912 – 13a, S. 109). Die Intoleranz gegenüber Ambivalenz durchzieht meines Erachtens auch die historische und religiöse Struktur des Islam. Wer sich nicht nach den strengen Gesetzen des Islam richtet, das heißt, sich nicht bedingungslos den Autoritäten (Gott, religiöse Führer etc.) unterwirft, wird als »Kafer« (Kufr), als jemand, der vom Glauben abfällt, bezeichnet. Er wird verstoßen, im Extremfall getötet (vgl. Abou-Taam u. Bigalke, 2006). Der Kafer leistet also einen Widerstand gegen die Autorität, was nach psychoanalytischer Terminologie als Ausdruck adoleszenten Verhaltens, eines Neins und eines Versuches der Separation verstanden werden kann. Genau das steht aber unter Androhung schwerster Strafe. Die Gedanken und die Taten des Kafers werden als abtrünnig und schändlich angesehen und das autonome Handeln des Kafers damit praktisch dem Tod zugesprochen. Durch solche projektiven Mechanismen, mit denen die eigenen aufbegehrenden Wünsche auf den Kafer, der ausgestoßen wird, wird die Gruppenkohäsion der islamischen Gemeinschaft gestärkt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Der Arabist Tilman Nagel beschreibt, wie es im Verlauf der frühen Geschichte zu einer Verschiebung eines Verständnisses des Islam als »einer Neugestaltung der Lebensweise des Menschen von innen heraus« kommt, also von einer individuellen Sicht hin zu einer Betonung des Gehorsams, der äußerlichen Befolgung des Gesetzes. Das Heil der Gläubigen ist dann in der Gemeinschaft der Gläubigen verankert und gesichert. Die Gemeinde »ist nicht mehr so sehr eine Gruppe von im Innern umgestalteten Einzelnen, die sich zum rituellen Gebet vereinen und damit jeden Tag ihre innere Wende aufs Neue unter Beweis stellen«. Sie ist »vielmehr eine Gemeinschaft, die bereits das Heil besitzt« (Nagel, 1994, S. 34). Dadurch kommt dem Menschen keine Individualität zu, sondern er ist als Kreatur Gottes von der Gemeinschaft allumfassend abhängig. Deshalb ist die Entwicklung des Knaben nicht wie in den westlichen Gesellschaften von Differenzierung zu und einer nur partiellen Identifizierung mit dem Vater geprägt, sondern durch eine globale Identifizierung mit ihm und der religiös-patriarchalischen Struktur von Familie und Gesellschaft. Dies fördert Zusammenhalt und Solidarität in Familie und Gesellschaft, allerdings auf Kosten von Individualität und Veränderbarkeit. Auch Ulrich Oevermann (2006) charakterisiert in seiner Arbeit über Modernisierungspotenziale und Modernisierungsblockaden der monotheistischen Religionen den Islam als eine Gehorsamsreligion, die eine Hemmung von Autonomisierung und Individuierung zugunsten der Konformität mit der Gemeinschaft beinhaltet. In der Vermeidung einer Entwicklung von Individualität sieht Abdelwahab Meddeb ein Charakteristikum der islamischen Gesellschaft, »die in den sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Zurückhaltung, wenn nicht der Auslöschung des Ich, aufbaut« (Meddeb, 2002, S. 217). Nur Unterwerfung und völliger Gehorsam bleiben als Weg für den Wunsch nach Anerkennung und Liebe, sowohl für den Muslim im Verhältnis zu Gott als auch für den Knaben in der Beziehung zu seinem Vater. Mit Jessica Benjamins Worten kann man die Gedanken des Knaben wie folgt beschreiben: »Wenn er [der Vater] so weit über mir steht, dass ich durch nichts, was ich tun mag, seine Haltung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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mir gegenüber verändern kann, dann kann ich mich nur noch unterwerfen. Mein Begehren und meine Selbsttätigkeit finden kein Ventil – außer in Form des Gehorsams« (Benjamin, 1988, S. 68).
Schlussfolgerung Ich habe in meiner Arbeit versucht, den absolutistischen Anspruch der islamischen Theologie, die Idealisierung der Vergangenheit und die Wechselwirkungen zwischen der autoritärpatriarchalischen Gesellschaft und der Familienstruktur, insbesondere der Beziehung zwischen Vater und Sohn, nachzuzeichnen. Meines Erachtens besteht hier eine grundsätzliche Differenz zu den westlichen Gesellschaften, die wesentlichen Anteil an den derzeitigen Konflikten zwischen dem muslimischen und dem westlichen Wertesystem hat. Der Autoritätsverlust des Mannes in der westlichen Welt und der zunehmende Bedeutungsverlust des Patriarchats stellen eine Bedrohung für die männliche Autorität im patriarchalisch-islamischen Wertesystem dar, und zwar nicht nur bezüglich der religiösen Dimension, sondern auch für die mit ihr festverbundene männliche Identität. Dadurch wird ein Raum eröffnet, in dem destruktive Affekte wie Neid, Hass und Aggressivität entfesselt und in der Folge auf – aus Sicht strenggläubiger Muslims – Ungläubige projiziert werden. Dieser Hass kann, wie wir erfahren, eine Dimension annehmen, die die Welt in Angst und paranoide Zustände versetzt. Handelt es sich hier nicht auch um jene Affekte des Sohnes aus seiner erlebten Angst und Ohnmacht im Verhältnis zum Vater, die keinen Raum in einer ambivalenten Beziehung finden konnten? Sufi Qushayris Vers über die Versuchung Adams im Garten Eden lässt mich fragen: Wie lange muss Adam noch wegen seiner verlorenen paradiesischen Reinheit wüten und den Dämon außerhalb von sich bekämpfen, anstatt ihn als gottgeschaffen und Bestandteil seiner selbst anzuerkennen? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Fakhri Khalik
Gruppenpsychotherapeutische Erfahrungen mit Ärzten aus dem Nahen Osten
Historisch betrachtet führte das Bekenntnis zum Islam Völker heterogener Kulturen zusammen und vermochte auch Kulturen zu integrieren, die der arabischen überlegen waren. Ausschlaggebend waren dabei religiöser Eifer und Missionsethik der Gläubigen und nicht wirtschaftliche oder politische Motivation (Becker, 1967, S. 14). Gardet (1968, S. 41) erwähnt, dass über Glaubensdogmen und Kultusvorschriften hinaus dem Islam ein weiteres vereinheitlichendes Element innewohnt, das in seinem Pragmatismus liegt. Dadurch, dass der Islam das Geistliche mit dem Weltlichen verbindet, werden religiöse Dogmen zugleich Handlungsanweisungen. Der Glaube wird verinnerlicht und institutionalisiert; so verbindet der Islam Theorie und Praxis und ermöglicht eine Identifikation von Denken und Handeln. Das religiös orientierte Denken motiviert die Gläubigen zur Selbstkontrolle ihres Handelns. Diese Synthese brachte einen neuen Menschentypus hervor, einen »homo religiosus«, »homo collectivus«, wie es Abdulkader Irabi nennt (1989, S. 11), einen Idealtypus, dessen Handeln ebenso inner- wie außerweltlich orientiert ist. Seine Weltzugewandtheit findet ihren Ausdruck darin, dass er das Sinnlich-Weltliche apperzipiert und sich gegenüber weltlichen Genüssen nicht verschließt, jedoch findet sie ihren Ausdruck weniger in einer innerweltlichen Askese, einer Steigerung der Arbeitsethik, also nicht primär im ökonomischen Bereich, sondern in einem gesinnungsethischen Verhalten. Hervorgerufen wird das gesinnungsethische Handeln durch die Grundprinzipien und Dogmen des Islams, die den Gläubigen zur Selbstdisziplin und -kontrolle und auch zum Kampf (gihad) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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für die Ausbreitung des Islams aufrufen. Dies bedeutet, dass das Handeln des Menschen seinen Ausdruck in der Befolgung religiöser Vorschriften und der Verbreitung des Islam findet. Dabei impliziert die islamische Lehre eine Balance zwischen inner- und außerweltlichen Elementen, was der Ausbildung einer innerweltlichen Askese entgegensteht, wie sie Max Weber in seiner »Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung« von 1920 als Aspekt protestantischer Ethik herausgearbeitet hat. Im Gegensatz zum Christentum, das vor der Reformation überwiegend außerweltlich orientiert war, vereint der Islam inner- und außerweltliche Askese. Außer- und Innerweltlichkeit halten sich die Waage. Während aber in der frühislamischen Phase die Außerweltlichkeit die Oberhand gewann, indem der Islam den Aspekt des gihad (heiliger Kampf) akzentuierte, wurde später nach Vollendung der islamischen Eroberungen die Innerweltlichkeit betont. Beide Varianten bilden eine Synthese und sind spezifisch für das Wesen des Islam.
Strukturwandel der arabischen Familie Ein weiteres Problemfeld der Soziologie ist die Familie. Die arabische Familie hat ihre Tradition als Großfamilie, die ihre Kohäsion durch Endogamie stärkt, relativ bis in die Gegenwart hinein gerettet. Die aus der landwirtschaftlichen Produktionsweise herrührende Großfamilie mit ihren mehrfachen Generations- und Verwandtschaftsverflechtungen hat sich trotz der gesellschaftlichen Veränderungen weitgehend erhalten, jedoch ihre ökonomischen und rechtlichen Funktionen mehr oder weniger verloren. Als traditionelle Familie bildet sie einen Kosmos für sich; sie weist eine patriarchalische Struktur auf. Neben ihrer Bedeutung als Produktions- und Rechtseinheit nimmt sie sozialisatorische Aufgaben wahr, indem sie für die Erziehung der Kinder ebenso wie für Alte und Kranke sorgt. Sie fungiert nicht nur als moralische und kulturelle Sozialisationsinstanz, sondern prägt auch das Gesellschaftsbild ihrer Mitglieder. Die Großfamilie, die sich durch eine starke Familienkohäsion auszeichnet, lässt wenig Raum für Autonomie und Individualität. Ihre Be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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deutung als Sozialisations- und Versorgungsagentur artikuliert sich in ihrer immer noch unentbehrlichen Funktion für ihre Mitglieder ; was moderne soziale Einrichtungen im Westen leisten, übernimmt hier nach wie vor die Großfamilie. Dementsprechend steht ihr eine uneingeschränkte Autorität über ihre Mitglieder zu. Sie fungiert als soziales Kontrollorgan und sorgt für Zusammenhalt. Im Unterschied zur Kernfamilie, die so gut wie vollkommen privatisiert ist, bleibt die arabische Familie in ihrer vielseitigen Verflechtung Element der Sozialstruktur und Politik. Die Verknüpfung von familiären und politischen Interessen ist in den meisten arabischen Ländern ein Fundament der Gesellschaftsstruktur. Der Einfluss der Familie reicht über die Schicht- und Klassenstrukturen hinaus. Die Familie übt Zwänge auf ihre Mitglieder aus und determiniert ihr gesellschaftliches Verhalten. Die traditionelle arabische Familie ist eher familien- als partnerorientiert, bei der Ehe geht es weniger um die Interessen der Partner als um die der Familie. Bei diesem Idealtypus erhalten die Kinder den Status des Vaters. Es herrscht Familienendogamie vor, die Verwandtschaftsehe ist die Regel. Es gilt als Verstoß gegen das Familienrecht, außerhalb der Familie zu heiraten. Nur sozial Benachteiligte und materiell Minderbemittelte heiraten außerhalb ihrer Familie. Als integrierender Faktor der Sozialstruktur fungiert die paternale Deszendenz. Die Familie baut auf der väterlichen Verwandtschaft auf. Die maternale Deszendenz spielt trotzdem in Bezug auf die Reinheit des Blutes eine nicht unerhebliche Rolle. Sie ist zwar nicht äquivalent zur paternalen, aber sie ist relevant für die Einheit der Familie. Daher kommt es, besonders in ländlichen Gebieten, selten vor, dass eine Frau außerhalb der Großfamilie heiratet. Reintjens begründet diesen Vorgang folgendermaßen: »Die ‘ahl- und Stammesendogamie finden ihren Entstehungsgrund in dem Bestreben, die Kohäsion der kleinen operativen Gruppen in der Person einer Frau intakt zu halten. Desintegrierenden Tendenzen wird durch die bint‘amm-Ehe entgegengewirkt. Die bint‘amm ist das Bindeglied und der integrierende Faktor für das soziale und wirtschaftliche ‘ahl- und Stammesleben« (Reintjens, 1975, S. 156 f.). Die Funktion der Endogamie besteht in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Stärkung der sozialen Kohäsion des Familienverbandes. Hinzu kommt ein weiteres Moment: Es ist eines Familienverbandes unwürdig, dass die eigenen Frauen außerhalb des Stammes heiraten, zumal die Frau die Ehre der Verwandtschaftsgruppe symbolisiert. Die Frau als Ehre, als Symbol für das »Heilige« und »Tabu«, bleibt geheimnisvoll. Viele der arabischen Wertvorstellungen wie Ehre, Rache oder Endogamie hängen damit zusammen. Die Ehre der Araber wird in der Person der Frau gesehen; damit diese vor Verletzung geschützt bleibt und um sie zu verteidigen, wird die Frau ghettoisiert. »Ihre Person ist haram und daher ein absolutes Asyl« (Reintjens, 1975, S. 158).
Die Bedeutung der Religion zur Konfliktlösung in der islamischen Kultur Im Juni 2003 wurde das Ausmaß des dritten Golfkrieges im Irak sichtbar. Besonders die Kinder litten unter der immer schlimmer werdenden Situation. Die Knappheit an Nahrungsmitteln und die Verwüstung in den Städten versetzten die Menschen in eine katastrophale physische und psychische Lage. Viele der Kinder im Irak sind dadurch traumatisiert. Krieg ist immer auch Krieg gegen Kinder. Aufgrund dieser menschenunwürdigen Situation im Irak entwickelte sich bei mir das Bedürfnis, zu helfen und ein Projekt für psychisch traumatisierte Kinder in Bagdad ins Leben zu rufen. In Kooperation mit Herrn Professor Riedesser der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Hamburg und der IPPNW gründete sich bereits im September 2003 der Verein »Children of Baghdad«, der sich aus einer kleinen aktiven Gruppe aus Kinder- und Jugendpsychiatern, Psychotherapeuten, Psychoanalytikern und Kinderärzten zusammensetzte. In intensiver Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Hamburg, der Universität Baghdad, der Universität Al-Mustansirijah in Bagdad sowie dem irakischen Sozialministerium entwickelten wir ein Konzept für ein Behandlungszentrum in Bagdad. Auch das UNICEF-Büro in Bagdad bot uns seine Unterstützung an. Leider verschlimmerte sich die Sicherheitslage im Irak enorm, so dass wir gezwungen waren, die geplante Um© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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setzung des Projektes zu ändern. Wir beschlossen, das ursprüngliche Projekt in ein Projekt mit dem Ziel Hilfe zur Selbsthilfe umzuwandeln. Dieses Projekt hat nunmehr seit drei Jahren Bestand. Inhalt ist die Ausbildung von Psychiatern und Psychologen aus dem Nahen Osten in psychodynamischer Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Die erste teilnehmende Gruppe hat im November 2007 die Fortbildung erfolgreich mit einem Zertifikat der Universität Hamburg beendet. Fast die Hälfte dieser Teilnehmer stammte aus dem Irak und nahm unter schwierigsten Bedingungen an den Fortbildungen teil, die an unterschiedlichen Veranstaltungsorten im Nahen Osten stattfanden, je nachdem in welchem Land die Sicherheitslage eine Lehrveranstaltung dieser Art zuließ. Außer den Irakern beteiligen sich Kolleginnen und Kollegen aus Palästina, Syrien und Jordanien. Zu Beginn der Fortbildungen im Jahr 2004 fanden sich 25 Teilnehmer in der Gruppe ein. Den Abschluss erreichten zwanzig von ihnen. Das Projekt war auf drei Jahre konzipiert, zweimal jährlich für jeweils zwei Wochen. Das erarbeitete Curriculum des Projektes ist angelehnt an das deutsche sowie das europäische Curriculum für psychotherapeutische Ausbildung unter Berücksichtigung der kulturellen Dynamik der arabischen Gesellschaft. Neben der intensiven Selbsterfahrung in Gruppen (dreimal täglich) sowie in Einzelsitzungen lagen die Arbeitsschwerpunkte in der Theorievermittlung und in den Supervisionen, die täglich zweimal stattgefunden haben. Die Kollegen aus dem Nahen Osten stellten ihre eigenen Fälle vor. Die Supervisionen orientierten sich vor allem an der Frage, wie es in therapeutischen Prozessen zu Veränderungen kommt und wie diese zu verstehen sind. Das Interesse an der Psychotherapie von den arabischen Kollegen war sehr groß. Es wurden die verschiedensten Fragen von den Teilnehmern in die Gruppe getragen, unter anderem zum Beispiel die Frage, ob eine Einzeltherapie bei einer arabischen Frau durchführbar ist. Die arabischen Kollegen haben diese Frage mit »nein« beantwortet und den Lösungsvorschlag formuliert, eine dritte Person an der Sitzung teilnehmen zu lassen, zum Beispiel eine Schwester, Mutter oder Freundin. Es wurden kulturelle Mach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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barkeiten in der Psychotherapie gesucht und oft auch gefunden. Ein wichtiger Akzent bei den Fortbildungen lag auf der Behandlung traumatisierter Kinder, die angesichts der dramatischen Ereignisse in der arabischen Welt und besonders im Irak nach dem Krieg 2003 notwendig geworden ist. Welche seelischen Folgen die politische Situation im Irak mit sich gebracht hat, zeigte sich immer wieder in den Selbsterfahrungsgruppen, in denen die irakischen Kollegen zunehmend offener über ihre Erfahrungen während der Herrschaft der Baathpartei, des Krieges und letztlich während der Besatzung sprachen. Die meisten der teilnehmenden irakischen Psychiater waren unter Saddam Hussein Militärärzte gewesen. Die zweiwöchigen Seminare waren sehr intensiv, sowohl für die Teilnehmer als auch für die Dozenten. Die Fortbildungen gingen täglich von acht Uhr morgens bis 18 Uhr am Abend mit einer Stunde Mittagspause. Oftmals wurden jedoch spezielle Themen auch am späten Abend noch in kleineren Gruppen lebhaft diskutiert. Die Zusammenkunft unterschiedlichster Ärzte aus dem Nahen Osten führte auch zu lebhaften und humorvollen Gesprächen, aus denen sich sogar Freundschaften entwickelten. Zu Beginn des Projektes, der ersten Fortbildung, machte ich mir Gedanken über die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und der arabischen Welt, da die Psychotherapie sowie die Psychoanalyse ein Produkt der westlichen Kultur sind. Ich stellte mir die Frage, ob die Psychotherapie folglich als solche ein europäisches Produkt in ihren Zügen überhaupt in die arabische Welt übertragbar sei, denn die sprechende Medizin ist dort so gut wie unbekannt. Indem die Teilnehmer in den Selbsterfahrungsgruppen diese psychotherapeutische Methode ausprobierten und ihre eigenen Erfahrungen sammelten, öffneten sie sich dieser neuen und ihnen unbekannten Therapiemöglichkeit. Oft waren die Selbsterfahrungsgruppen und Einzelgespräche der erste Ort in ihrem Leben, an dem sie ohne Angst, ohne Kontrolle und frei über ihr Erlebtes sprechen konnten. Ich möchte die Arbeit in den Selbsterfahrungsgruppen in drei Teile aufteilen. Ich werde nur die Vignetten aus der ersten Phase einbringen, weil in der ersten Phase die Bedeutung der Religion in der Verarbeitung der aktuellen Konflikte deutlich sichtbar © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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geworden ist. Es ging hauptsächlich um die Bedeutung der Ohnmacht und die Abhängigkeit in Bezug auf die Religion.
Die erste Phase (wir können vieles aushalten) In dieser Phase klagten die Iraker die Welt an, besonders den Westen, und ich war der Vertreter des Westens. Sie versuchten mir immer zu vermitteln, dass ich, der als Mensch im Westen lebt, mir nicht die Macht der Unterdrückung und die alltäglichen Nöte vorstellen könnte, sie seien ein stolzes Volk und könnten eine Menge im Leben aushalten. Dafür benutzten sie ein Wort namens »adi«, welches soviel wie »normal« oder »üblich« bedeutet. Ich zeigte Empathie und Verständnis für sie und ihre Situation. Dadurch merkten sie, dass ich die Gleichberechtigung mit ihnen suchte. Einige Mitglieder der Gruppe benutzten Suren aus dem Koran um sich der Beteiligung an der Gruppenarbeit zu entziehen. Ich verstand das als Widerstand. Im Gegensatz dazu unterstützte ein syrischer Kollege die Arbeit in der Gruppe, indem er ebenfalls Suren oder die »Hadith« (Aussagen des Propheten Mohammed) zitierte. Zum Beispiel führte er an, dass Mohammed versuchte durch die Sprache, den Dialog, die Seele des Menschen aus der Enge zu befreien und sich zu entfalten. Er wollte somit die Menschen dazu bringen ihren Horizont zu erweitern. Er versuchte durch die Aufklärung des Einzelnen einen Wandel in der Gruppe zu bewirken und somit die Gesellschaft zu verändern. Der syrische Kollege bezeichnete Mohammed als einen Psychotherapeuten seiner Zeit. Er erzählte weiter, es gehe im Islam auch um die Befreiung der Seele. Wer die Seele eines anderen säubern will, muss selbst eine reine Seele haben. Dazu zitiere ich die Sure »Die Dichter«, Absatz 89: »Das heißt, Gott ist mit den Menschen, die reinen Herzens sind.« Ein irakischer Teilnehmer, 38 Jahre alt, niedergelassener Psychiater in Bagdad, erzählte: »Ich war unterwegs zu den Behörden, um die Formalitäten für die Reise nach Amman, um an dem Projekt teilzunehmen, zu erledigen, als circa fünfzig Meter vor mir ein Auto in die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Luft flog. Diese Straße ist eine sehr belebte Straße in Bagdad. Überall lagen Verletzte, Tote und abgerissene Körperteile auf der Straße. Mit taten die Ohren sehr weh und ich hatte Angst, mein Trommelfell sei geplatzt. Ich ging weiter, um rechtzeitig bei den Behörden zu sein.« Er lächelte und sagte mit einer Handbewegung »das ist adi (dies ist zum Alltag für uns geworden), alles liegt in Gottes Hand, das macht uns nichts aus, wenn Gott will, dann sterben wir, wenn Gott will dann leben wir«. Dabei zitierte er eine Sure aus dem Koran. »Gott hat uns geschaffen und wir kehren zu ihm zurück.« Die Iraker und ein syrischer Teilnehmer nickten zustimmend mit dem Kopf. Ich war sehr betroffen, die Reaktion der Gruppe war unterschiedlich, die Jordanier und ein Teil der Syrer waren ebenfalls erschrocken, aber die Iraker saßen ruhig und gelassen da, affektisoliert. Ein irakischer Kurde spielte unberührt mit seiner Gebetskette weiter. Ich dachte zuerst, sie dürften keine Reaktionen zeigen, um nicht als schwach dazustehen. Ich dachte, ich muss schweigen und nicht deuten, da ich ja nicht Gottes Wille in Frage stellen kann. Mich beschäftigte die Frage, warum er als Arzt nicht geholfen hatte. Ich verstand es so: Gott entscheidet zwar über Leben und Tod, aber was ist mit der Vernunft als Mensch sowie als Arzt? Dies bedeutet, sich Gott vollständig zu unterwerfen, weil Gott das absolute, gute, beschützende Objekt ist, was geschieht, ist sein Wille. Dieses Empfinden verschafft ein beruhigendes Gefühl in der Bewältigung solcher belastenden Situationen. Ein zweiter irakischer Kollege, 51 Jahre alt, Psychiater und Hochschullehrer in Bagdad erzählte: »Ich möchte über ein Ereignis sprechen, über das ich bis jetzt mit niemandem gesprochen habe. Als die Iraner Fao erobert haben, waren wir als Militärärzte an der Front. Alle Ärzte mussten irgendwann an die Front. Ich sollte mit einem Kollegen und guten Freund Verwundete aus den Sümpfen behandeln und retten. Wir mussten auf Befehl des Offiziers mit einem kleinen Motorboot alleine in die Sümpfe fahren. Wir fanden auch Verletzte und versuchten ihnen zu helfen, als plötzlich eine Salve aus einem Maschinengewehr meinen Freund in die Brust traf, und er kippte halb aus dem Boot ins Wasser. Im gleichen Moment erwischte es mich am rechten Arm und ich fiel ins Boot. Gott sei Dank habe ich nicht stark geblutet. Nach dem es ruhig war, stand ich auf und versuchte meinen Freund zurück ins Boot zu ziehen. Es ist mir aber nicht gelungen. Ich hatte keine Kraft mehr und setzte mich ins Boot. Ich legte mein Schicksal in Gottes Hand. Als ich diesen Gedanken hatte, ging es mir viel besser, ich fühlte mich irgendwie nicht mehr allein und schlief ein oder wurde ohnmächtig, daran kann ich
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mich nicht mehr erinnern. Als ich aufwachte war es dunkel, ich legte mich wieder hin und wartete, bis es hell wurde. Ich dachte unter anderem ich werde eventuell sterben, aber noch lebte ich. Ich beobachtete, wie die Fische an den Augen meines Freundes pickten, dies tat mir sehr weh gleichzeitig dachte ich jedoch, er hat es gut, er ist jetzt im Paradies. Nach 28 Stunden wurde ich mit Gottes Hilfe gerettet.« »Als du dein Schicksal in Gottes Hand gelegt hast, warst du erleichtert?«, fragte ein syrischer Kollege. Er antwortete: »Ich habe mein Schicksal in seine Hand gelegt. Er konnte mich holen oder es lassen, ja ich war erleichtert.«
Ich zitiere die Sure »Kuh«, Absatz 154 aus dem Koran: »Wer für Gott stirbt, ist nicht tot, sondern lebendig und lebt im Paradies.« Ich denke, für beide Kollegen war ihr Schicksal in Gottes Hand zu legen eine große Erleichterung. Erstens besteht nach meiner Meinung kaum ein Unterschied zwischen dem Medium Leben und dem Medium Tod. Ich zitiere Freud aus der Abhandlung »Die Zukunft einer Illusion«: »Der Tod selbst ist keine Vernichtung keine Rückkehr zum anorganisch, leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf dem Wege der höheren Entwicklung liegt« (Freud, 1927/1980, S. 153). Der Tod ist für Gläubige sogar das Tor zum Paradies und besser als das Leben. Ich zitiere die Sure »Spinne«, Absatz 64 aus dem Koran: »Das Leben ist minderwertig, es besteht aus Ausschweifung und Spiel, wie das Leben der Kinder, sie spielen unbekümmert zusammen und trennen sich danach. Das wirkliche ewige Leben ist in dem ewigen Haus.« Zweitens: Die Frage die sich stellt, ob bei diesen Extremsituationen, aus der chronisch psychischen Belastung eine ÜberIch- als auch eine Ich-Schwäche resultiert und somit das ÜberIch sowie das Ich als Regulatoren für die Realität nicht ausreichend adäquat funktionieren. Diese beiden psychischen Instanzen werden mindestens teilweise an eine höhere Macht Gott abgegeben. Aus diesem Grund wird die Psyche entlastet und das Denken wird vom Gefühl abgespalten, wie es in der ersten Vignette deutlich wird. Gottes Wille steht im Vordergrund. Wenn er sie beschützt, zeigen sie sich dankbar und bringen Opfer »Sadaga«. Als Zeichen der Dankbarkeit werden Schafe geschlachtet, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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als »abrahamistisches Ritual«, und das Fleisch wird an Bedürftige verteilt. Ich zitiere die Sure »Kuh«, Absatz 156 aus dem Koran: »Wenn euch ein Unglück geschieht, sagt – wir sind von Gott und wir gehen zu Gott zurück. Seid mit dem Leben, mit dem Tod und der Auferstehung zufrieden.« Alle drei Medien werden gleichgestellt. Die Grenzen und die Differenzen zwischen ihnen werden verwischt. Dadurch wird die Hoffnungslosigkeit zu scheinbarer Hoffnung und die Ohnmacht zu scheinbarer Macht. Ein 62 Jahre alter Psychiater und Hochschullehrer, der einen Teil seines Medizinstudiums und seine Facharztausbildung in Deutschland absolviert hat, erzählte: »Um zu meiner Ambulanz zu kommen, muss ich über eine Brücke in Bagdad fahren, die sehr oft von Scharfschützen beschossen wird. Jeden Tag verabschiede ich mich von meiner Familie, als wäre es das letzte Mal. Wir lesen zuerst die Sure »Alfathia« (die Öffnung). Diese Sure wird bei Bestattungen rezitiert. Anschließend hält meine Frau den Koran über meinen Kopf und ich gehe unter ihm zur Tür und verlasse das Haus. Ich lege mein Leben in Gottes Hand. Ich muss sagen, ich gehe oft ohne Angst über die Brücke. Ich möchte meine Patienten nicht im Stich lassen.« Dann sagt er: »Wir kommen von Gott und gehen zu Gott zurück.« Ich merke, wie groß die Bedeutung von Gott bei der Bewältigung der alltäglichen Schwierigkeiten ist und die Religion als Konfliktbewältigung verwendet wird. Hier erfährt der Kollege in der zweiten Vignette dadurch mehr Lebenskraft und Mut (eine Art Ich-Stärke), um die Brücke zu überqueren.
Ich zitiere die Sure »Kuh«, Absatz 45 aus dem Koran. Dies ist eine Sure, die eine zentrale Rolle zur Bewältigung der Angst und der Ohnmacht spielt: »Haltet euch an das Gebet und die Geduld, dadurch könnt ihr euren Kummer ertragen.« Aus dieser Position entsteht in der Notsituation eine tiefe Zufriedenheit und Genügsamkeit. Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Sind dadurch die Leute trotzdem noch in der Lage, ihre Situation selbst zu verändern? Ich möchte hier zwei Frauen erwähnen, die trotz dieser tiefen religiösen Zufriedenheit viel verändert haben. Die 42-jährige Psychologin aus Mosul erzählte den folgenden Traum: »Ich stand mit meiner Familie, mein Mann und meine Mutter © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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waren auch dabei, irgendwo, ich weiß nicht genau, wo. Ich habe drei Kinder auf die Welt gebracht. Die ersten zwei waren Frühgeborene, das dritte Kind kam ohne Arme zur Welt. Die Kinder lagen in Säcken, ich habe um Hilfe gerufen, aber niemand kam.« Die Gruppe konnte erarbeiten, dass K. Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern hat, weil sie das Gefühl habe, sich nicht genug um diese zu kümmern. K. bestätigte dies und sagte, sie sei verzweifelt. Sie trage die ganze Last der Familie. Ihr Mann wurde entführt und gegen Bezahlung einer hohen Summe frei gelassen. Er habe sich stark verändert, er sei depressiv, ängstlich und aggressiv geworden, er sitze zu Hause und verlasse dies nicht mehr. Sie sei selbst oft aggressiv, ungeduldig und wütend, aber sie sei nicht in der Lage, die Situation zu verändern, sie sei machtlos, die Angst beherrsche die Familie. Sie erzählte weiter, sie habe es später geschafft, ihren Mann mit Hilfe ihres Schwagers in die Türkei zu bringen, um von dort aus nach Europa zu gelangen. Er fand einen Schlepper, der ihn über die Grenze nach Griechenland bringen sollte. Er wurde jedoch an der Grenze festgehalten und verhaftet. K. fuhr alleine in die Türkei, fand unter großen Schwierigkeiten den Schlepper ihres Mannes, der letztendlich anonym lebte, also seine Identität verbarg und sich im kriminellen Untergrund aufhielt. Sie zwang ihn, ihr zu helfen ihren Mann zu finden, und holte diesen dann aus dem Gefängnis.
Hier wurde die Ohnmacht von K. sehr deutlich und wurde nicht durch religiöse Inhalte ungeschehen gemacht. In der nächsten Sitzung erzählte sie von ihren Plänen, wie sie ihrem Mann und den Kindern zur Flucht ins Ausland verhelfen wolle. Ich hörte später, dass ihr dies gelungen sei. Sie blieb wegen ihrer allein stehenden Mutter im Land. Ich sehe hier einen Unterschied zwischen K. und den anderen religiösen Kollegen. Die Ohnmacht hier bewegt das Ich zu einem kreativem Handeln. Ich denke, die Beseitigung der Ohnmacht durch religiöse Inhalte führt zwar zur Erleichterung, aber auch zu einer Beeinträchtigung der Ich- und Über-Ich-Funktion. Die zweite Frau, N. ist 48 Jahre alt, Kinderärztin und leitet eine Kinderklinik in Bagdad. Sie erzählte: »Ich habe keinen Flug von Bagdad nach Amman bekommen, um das Curriculum zu besuchen. Ich beschloss, ein Taxi zu nehmen. Ich wusste, dass die Autobahn von Bagdad nach Amman sehr gefährlich ist, aber ich fuhr trotzdem. In der Nähe von Rumadi wurde der Wagen, der vor uns fuhr, von Auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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ständischen gestoppt und die Leute wurden gezwungen auszusteigen. Ich dachte bei mir, ich werde jetzt entführt. Ich sagte dem Fahrer, er solle langsam an dem Geschehen vorbeifahren. Gott sei Dank, die Rebellen reagierten nicht auf uns und wir konnten weiterfahren und entkommen.« Obwohl N. Morddrohungen erhalten hat, ist sie als Kinderärztin in Bagdad an der Kinderklinik geblieben. Ihre Kollegen sind geflüchtet, ihr Vorgesetzter und sein Stellvertreter wurden ermordet. »Ich wollte die Kinder nicht im Stich lassen«, begründet sie ihre lebensgefährliche Situation. Um zu überleben, wechselt sie jede Nacht ihr Quartier, um die Chance zu verringern von den Rebellen ausfindig gemacht zu werden. Sie sagte: »Mit Gottes Hilfe und mit Geduld schaffen wir vieles.«
Ich hatte den Eindruck, dass sie Gottes Hilfe als Verstärkung ihrer Lebenskraft im Sinne von Ich-Stärkung annimmt, und dadurch bleibt sie aktiv. Im Gegensatz zu den anderen drei oben genannten männlichen Kollegen, die ihre Schicksale ganz in Gottes Hand gelegt haben, werden diese beiden Frauen trotz ihrer Frömmigkeit aktiv.
Psychodynamische Überlegungen Im Fall der zwei Kolleginnen wird Gott als ein gutes Objekt zur besseren Bewältigung der Angst und der Aggressionen, die durch die Ohnmacht produziert werden, verwendet. Hier funktioniert die Ohnmacht als ein Motor für eigene dynamische Aktivitäten, die zu Veränderungen führen. Bei den drei Männern ist der Umgang mit der Ohnmacht anders lokalisiert als bei den oben genannten Frauen. Gott wird im Umgang mit der Ohnmacht nicht objektal verwendet, sondern sie (die Ohnmacht) wird an ihn (Gott) abgegeben, als beschützender Vater. Die eigene Leistung in der intrapsychischen Dynamik hier ist viel geringer als bei den weiblichen Kollegen. Ich denke, dabei spielen auch die psychischen Entwicklungslinien eine besondere Rolle. Geben einzelne Individuen ihre Ohnmacht an Gott ab, sind sie in der Lage, auf belastende Situationen affektisoliert zu reagieren, wie die erste Vignette zeigt. Indem sich das Denken vom Fühlen abspaltet, kommt es zu einer deutlichen Erleichterung, indem die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Gruppenpsychotherapeutische Erfahrungen
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Ich- und Über-Ich-Instanzen entlastet werden. Dies wird auch deutlich am Beispiel der Bootssituation des irakischen Kollegen. Nachdem er sein Schicksal in Gottes Hände gelegt hatte, fiel er in Ohnmacht beziehungsweise in einen tiefen Schlaf. Trotz seiner Schwäche wäre er theoretisch in der Lage gewesen, mit einer Hand den Motor des Bootes zu aktivieren um sich selbst zu helfen. Mir scheint, in der Konfliktverarbeitung spielt der Umgang mit der Ohnmacht in Bezug auf Gottes Hilfe eine zentrale Rolle. Bleibt die Ohnmacht virulent, wie bei den beiden oben genannten Kolleginnen, führt sie zu einem aktiven Handeln und letztendlich zu einer Veränderung. Wird die Ohnmacht an Gott abgegeben und damit ungeschehen gemacht, resultiert daraus eine Regression, die nicht im Dienste der Progression stattfindet, sondern die Beharrung in der Inaktivität bedeutet. In beiden Situationen gibt die Religion beziehungsweise Gott als Beschützer den Menschen, durch Verstärkung der Verdrängungsmechanismen, die Möglichkeit, sich sicher zu fühlen. Der Islam ist hier nicht nur als Ich-Hilfsfunktion zu verstehen, sondern er ist eine Lebensweise, die sich insgesamt um die Bedürfnisse der Menschen von der Wirtschaft bis zur Triebregelung kümmert und zur Geduld mahnt. Die Geduld ist eine wichtige Säule der Frömmigkeit im Islam. »Die Geduld stammt von der Frömmigkeit. Je frommer der Mensch ist, desto geduldiger ist er auch. Gott ist mit den Geduldigen« (Koran, Sure »Kuh«, Absatz 153). Dies ist eine Strategie, um Konflikte zu lösen, die jedoch die Gefahr einer passiven Haltung in sich trägt, die ihrerseits die Kraft der Vernunft beinträchtigen könnte.
Literatur Becker, C. H. (1967). Islamstudien: Vom Werden und Wesen der islamischen Welt. Hildesheim: G. Olms. (Nachdr. d. Ausg. Leipzig, 1924) Freud, S. (1927/1980). Die Zukunft einer Illusion. Studienausgabe. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Gardet, L. (1961). Der Islam. Aschaffenburg: Pattloch. Irabi, A. (1989). Arabische Soziologie. Studien zur Geschichte und Gesellschaft des Islam. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Reintjens, H. (1975). Die soziale Stellung der Frau bei den nordarabischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Beduinen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Ehe- und Familienverhältnisse. Dissertation, Bonn. Weber, M. (1920/1988). Zwischenbetrachtung: Theorien der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1 (S. 536 – 573). Tübingen: MohrSiebeck.
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Kerstin Weike-Bierbüsse
Schule als ein Möglichkeitsraum für Adoleszenzkonflikte? Psychoanalytische Anregungen einer institutionellen Herausforderung
Vorbemerkung Gewalt bei Jugendlichen, besonders unter dem Fokus auf Schule, ist ein Thema, das seit langem mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt, immer wieder aktualisiert durch extreme Vorfälle und unfassbare Amokläufe. Nachfolgend wird eine Frage aufgeworfen, die innerhalb der groß angelegten Schulgewaltuntersuchungen Ende der 1990er-Jahre (vgl. Heitmeyer, Collmann, Conrads, Matuschek, Kraul, Kühnel, Möller u. Ulbrich-Herrmann, 1996; Fuchs, Lamnek u. Luedtke, 1996, 2001; Tillmann, Nowitzki, Holtappels, Meier u. Popp, 1999) offen geblieben ist. Sie bezieht sich zum einen auf die Genese von Gewalt mit einer differenzierten Betrachtung zugrunde liegender Konflikte und ihrer individuellen Verarbeitung. Zum anderen geht es um die Herausforderung, die Erkenntnisse zum komplexen Ursachengefüge von Gewalt stärker in Bezug zu einem Schulkonzept zu setzen, das die Konflikte von Schülerinnen und Schülern handlungstheoretisch fruchtbar zu machen versucht.1 Dieser Beitrag geht zurück auf ein Forschungsprojekt mit einer vorwiegend qualitativen, psychoanalytisch durchdrungenen Erhebung bei 13- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern (Weike, 2004).2 Folgende Forschungsfragen standen dabei im Zentrum: In Anlehnung an Combe und Helsper (1994, S. 210 ff.), die dafür plädieren, über das Fallverstehen einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung die Pädagogik als Handlungstheorie zu konzeptualisieren. 2 Befragung von Jugendlichen eines 8./9. Jahrgangs in zwei unterschied1
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Wie verarbeiten Jugendliche entwicklungsbedingte und von gesellschaftlich-institutionellen Spielräumen beeinflusste Konflikte als Mädchen und Jungen und als Angehörige verschiedener Sozio-Kulturen (und tragen dies in der Schule entsprechend aus)? Welche Möglichkeiten hat und nutzt Schule, um diese Konflikte als wichtige Lebensthemen aufzugreifen, Hilfestellungen zu ihrer konstruktiven Bearbeitung zu geben und im Gegenzug Gewalt zu verhindern? An dieser Stelle können dazu nur einige sehr grobe Einschätzungen wiedergegeben werden: Mädchen und Jungen haben in Abhängigkeit von ihrer Herkunft unterschiedliche Spielräume, dabei beeinflusst ihre jeweilige Interpretation der gemachten biografischen und schulischen Erfahrungen die Art und Weise, wie sie mit Konflikten umgehen – dieser subjektive Sinn wurde in elf Falldarstellungen herausgearbeitet (Weike, 2004, S. 247 ff.). Der subjektive Faktor trifft auf den gruppenspezifischen Kontext in der Klasse, wodurch eine je eigene Dynamik entsteht. Beobachtet werden konnten Mobbingkonflikte oder Beleidigungen als Ritual einer ganzer Klasse (Weike, 2004, S. 465). Die Schulen haben ihrer Organisationsform gemäß Möglichkeiten für den Umgang mit diesen Konflikten entwickelt, stoßen in der Großgruppe der Klasse aber auch auf Grenzen (vgl. dazu Weike, 2004, S. 497 ff.). Ein wichtiges Moment für das Vertrauen von Schülerinnen und Schülern zu Lehrkräften ist die Kontinuität der Beziehung. Das Modell einer der beiden untersuchten Schulen sieht ein festes Jahrgangsteam von der Klasse fünf bis zur Klasse zehn vor, in dem die Klassenlehrerin und der Klassenlehrer nicht wechseln. Die Erfahrung, von der Lehrkraft ernst genommen zu werden, ist dabei ein wichtiger Maßstab für die Qualität der Beziehung. Lehrerinnen und Lehrer können – neben den Eltern – alternative erwachsene Bezugspersonen für die Jugendlichen sein. Sie bieten lich (integrativ und additiv) organisierten Gesamtschulen mit Hilfe eines Tests zur Erhebung des psychosomatischen Beschwerdedrucks (GBB-KJ), Gruppeninterviews und Einzelinterviews mit projektivem Verfahren (ORT). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sich den Adoleszenten damit als ein Gegenüber für die Bearbeitung von Sinnfragen und Lebensthemen an. Heterogenität und Leistungsmischung wirken sich auch im Erleben der Jugendlichen positiv auf die Klassengemeinschaft und das eigene Wohlbefinden aus. Diese Ansicht teilen integriert unterrichtete Jugendliche ebenso wie einige der befragten Hauptschülerinnen und -schüler aus der additiven Gesamtschule, die sich noch an die »Mischung« in der Grundschule beziehungsweise Orientierungsstufe erinnern. Versuchs- und Reformschulen sehen in der heterogen zusammengesetzten Klasse die Chance, den Anspruch auf einen individualisierten Unterricht einzulösen, da die Illusion einer Homogenität gar nicht erst aufkommt (vgl. Kahl, 2005). »Störungen haben Vorrang« (Cohn, 1975, S. 122). Haben diese Raum und werden zum Anlass genommen, die pädagogische Arbeit zu hinterfragen, können daraus für die Schule und die Adoleszenten Entwicklungsmöglichkeiten erwachsen (Rauschenberger, 1998). Werden diese schon im Alltag bemerkt und anerkannt, muss es nicht erst zum Hilferuf des gesamten Lehrerkollegiums kommen. Was trägt dazu bei, dass Lehrkräfte ausbrennen oder gar eine ganze Schule überfordert ist und abdankt? Bei einer Häufung individueller Konfliktlagen in einer Klasse wie in Haupt- und Sonderschulen besonders in sozialen Brennpunkten, die durch hohe Fluktuation und Sitzenbleiber verschärft wird, kann es bei den Lehrkräften zu der Wahrnehmung kommen, dass »nichts mehr geht«. Der Versuch, Unterrichtsstörungen zu unterdrücken, gelingt noch an der Oberfläche – die Dynamik der Klasse kann jedoch wie Sprengstoff wirken, der jederzeit »unter der Bank« explodiert und so auch wieder öffentlich sichtbar wird (vgl. Weike, 2004, S. 465 ff.). Sanktionen werden als das vermeintlich letzte pädagogische Mittel eingesetzt. Werden diese isoliert und häufig verwendet, verstrickt sich die Lehrkraft in einen Machtkonflikt mit den Schülerinnen/ Schülern, in dem beide verlieren: an Vertrauen, Selbstachtung, Ehrlichkeit und einer inhaltlichen Auseinandersetzung als Sache der Schule selbst. Massive Ausgrenzung und Mobbing einzelner Kinder und Jugendlicher stoßen auch bei erprobten Selbstregulierungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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maßnahmen auf Grenzen. Dies gilt für den Klassenrat der untersuchten integrierten Gesamtschule, der wöchentlich auf dem Stundenplan steht, aber vermutlich auch für andere Streitschlichtermodelle auf der Ebene der Schüler. Obwohl der Klassenrat von den befragten Jugendlichen als wichtiges Mittel der Streitschlichtung und Interessenvertretung eingeschätzt worden ist, gelingt es trotz jahrelanger Bemühungen nicht, die Situation einer gemobbten Schülerin zu durchbrechen (Weike, 2004, S. 480 ff.). Hier braucht es zusätzlich eine konsequente Regelung und Hilfestellung von Seiten der Erwachsenen in der Schule. Gerade in der Adoleszenz ist die Identität noch unsicher und erträgt Ambivalenzen nur schwer – weshalb bestimmte Schülerinnen/Schüler einer Projektionsfläche gleich diese nicht aushaltbaren Anteile und Ängste der Klasse aufnehmen müssen. Dieser Beitrag erläutert zunächst den intermediären Bereich nach Winnicott und seine Bedeutung für das Verständnis von Gewalt in der Schule. Ein Fallbeispiel illustriert Chancen und Risiken des Umgangs mit Konflikten in der Schule. Abschließend werden Perspektiven eines schulischen Möglichkeitsraumes aufgezeigt.
Die Entstehung eines Möglichkeitsraumes in der frühen Kindheit Die Arbeiten des britischen, 1971 verstorbenen Psychoanalytikers Donald W. Winnicott haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, wenn es darum geht, die Nöte von Kindern und Jugendlichen zu verstehen (vgl. Winnicott, 1974, 1989, 1990, 1996 sowie Abram, 1997; Davis u. Wallbridge, 1995). Für ein differenziertes Verständnis der sogenannten »schwierigen« Jugendlichen und Impulse für den (schul-)pädagogischen Umgang mit ihnen erscheinen sie daher vielversprechend. Winnicott knüpfte in seiner Arbeit als Leiter des Evakuierungsprogramms, welches in England während des Zweiten Weltkriegs zum Schutz der Stadtkinder und -jugendlichen vor der Bombardierung durchgeführt wurde, theoretisch auch an die Bindungstheorie Bowlbys sowie die Psychoanalyse Freuds und Melanie Kleins an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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und beeinflusste diese selbst nachhaltig. Er nutzte diese Ansätze vor allem für die psychiatrische Begleitung von Jugendlichen in den von ihm initiierten Heimen. Es waren besonders auffällige Jungen, die keine Chance in den ländlichen Pflegefamilien hatten oder zum Teil bereits in ihnen gescheitert waren. Winnicott betont den Einfluss einer »haltenden« und »ausreichend guten« Umwelt in der Entwicklung des genetisch ausgestatteten Menschen. Eine besondere Bedeutung hat für ihn die primäre Aggression zur Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich in der frühkindlichen Beziehung. Aggression in diesem Sinne ist die Quelle von Energie und Bewegung und muss integriert werden. Entscheidend für die Integration aggressiver Impulse ist, ob die Primärbeziehung in der frühen Phase ausreichend gut war, um die zunächst noch magische Zerstörung des Säuglings zu überleben und damit zu einer Selbst- und Objektkonstanz und zu einem reifen Umgang mit Aggression beizutragen (Winnicott, 1989, S. 103). Der Ursprung aktiver Gewalttätigkeit Jugendlicher ist fast immer eine frühere passive Gewalterfahrung (Kränkung, Verletzung, Verlust). Winnicotts Szenario der Objektbeziehung, Objektzerstörung und Objektverwendung3 stellt sich folgendermaßen dar : Das erste Liebesobjekt des Säuglings ist seine primäre Bezugsperson, in der Regel also die Mutter. Nach Winnicott existiert für den Säugling die Mutter zunächst lediglich auf der Wahrnehmungsebene. In der Realität lernt der Säugling (Subjekt), dass die Mutter (Objekt) der eigenen Kontrolle nicht unterworfen ist, das heißt, die Objektzerstörung in der Fantasie geht mit dem 3
Mit dem Begriff Objektbeziehung bezeichnet Winnicott die Beziehung zu einem subjektiven Objekt – der junge Säugling sei noch nicht in der Lage, die symbiotische Wahrnehmung zu verlassen. Objektverwendung meint, anders als die leicht negativ gefärbte Konnotation vermuten lässt, einen kreativen Prozess des Profitierens vom Anderen. Objektzerstörung ist im Sinne Winnicotts zu verstehen als Negierung des Anderen zum Beispiel durch das Schließen der Augen. Da die Mutter aber noch da ist, wenn das Kind die Augen wieder öffnet, kann sie als äußere, unabhängige Person anerkannt werden. Damit sei, so Winnicott die Faszination kleiner Kinder für Guck-Guck-Spiele zu erklären (vgl. Winnicott, 1989, 1996; Benjamin, 1990, S. 39 f.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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»Überleben« des Objekts einher. Das Objekt kann jetzt – im produktiven Sinn – verwendet werden. Das Kind kann sein aggressives Verhalten, das vom Objekt überlebt wird, integrieren und bewältigen. Das Ausdrücken von Aggression ist demnach ein Fortschritt, da der Säugling die Welt nun nicht mehr magisch zu vernichten glaubt, ihm die Begrenztheit seiner Zerstörungskraft deutlich wird.
Abbildung 1: Winnicotts Vorstellung von der Entstehung des Übergangsraumes
Die durch die Objektverwendung vollzogene Trennung des Objektes vom Subjekt in der Fantasie des Säuglings ist jedoch nie abgeschlossen, sondern kann durchbrochen werden. Einen ausreichend guten Anfang vorausgesetzt, können Beziehungen der Gegenseitigkeit aufgrund von Empathie und Perspektivwechsel im Möglichkeitsraum (auch: intermediärer Bereich, engl.: potential space) erprobt werden. Zur frühen Erlebniswelt des Säuglings gibt es weitere bekannte psychoanalytische Theorien beispielsweise von Klein, Mahler und Bowlby sowie neuere Erkenntnisse vor allem aus der empirischen Säuglingsforschung. Dort werden je unterschiedliche Ansichten über eine Zeit der Symbiose oder eine angeborene Fähigkeit zur Differenzierung zwischen Selbst und Objekt ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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treten (Überblick in Diem-Wille, 2003). Diem-Wille betont aber, dass keiner der vorgestellten Ansätze einen direkten Einblick in die Gefühls- und Wahrnehmungswelt des Säuglings hat. Ob der Säugling wie in Winnicotts Vorstellung also anfangs noch nicht zwischen äußerer und innerer Mutter unterscheiden kann oder ob er selbst und die Mutter schon »im Auftauchen« begriffen sind, wie es die Säuglingsforschung postuliert, ist für ein notwendigerweise konstruiertes Verständnis früher Erfahrungen nicht so wichtig. Der potential space bedeutet für Winnicott (1989, S. 121) einen »Ort, an dem wir leben«, als dritter Bereich zwischen Innen und Außen. Damit ist ein Zustand gemeint, in welchem die Menschen die meiste Zeit ihres Lebens verbringen, ohne ihn weder zur einen Seite hin, auf der Ebene des äußeren Verhaltens, oder zur anderen, der des inneren Erlebens, auflösen zu können. Die »Beziehung zwischen dem objektiv Wahrnehmbaren und dem subjektiv Vorgestellten« bleibt eine lebenslange Aufgabe (Winnicott, 1989, S. 21 f.) und ein notwendigerweise spannungsgeladener Balanceakt.
Die antisoziale Tendenz und das falsche Selbst In der ausreichend gut verlaufenden Entwicklung kann sich ein integriertes Selbst, eine innere Realität bilden, die dann zu einer gemeinsam geteilten Erfahrung mit anderen befähigt; aus Außenkontrolle wird allmählich Selbstbeherrschung, die für Winnicott gleichbedeutend ist mit Autonomie (vgl. Davis u. Wallbridge, 1995, S. 217 ff.). Wenn das Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Anerkennung jedoch nicht (mehr) innerpsychisch ausgehalten werden kann, entsteht eine intersubjektive Dynamik. Nach Winnicott wird die demokratische Gesellschaft durch Menschen bedroht, die Konflikte nicht in sich austragen können. »Unterwerfung wird zur ›reinen Form‹ der Anerkennung, je mehr Gewalt zur ›reinen Form‹ der Selbstbehauptung wird« (Benjamin, 1990, S. 63). Aus Selbstbehauptung wird Herrschaft und aus Anerkennung wird Unterwerfung (Abb. 2). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Abbildung 2: Verschiebung des innerpsychischen Spannungsverhältnisses (Benjamin)
Auf Erziehung übertragen bedeutet das: Rein permissive Erziehung und zu nachgiebige Eltern nähren den Sadismus und das Befangensein in Allmachtsfantasien ihrer Kinder ; strafende, abwehrende und rein autoritäre Erziehung ruft den Masochismus des Kindes hervor, sein Selbst hofft nicht mehr, anerkannt zu werden, das Kind richtet Wut und Zerstörungsfantasien gegen sich selbst (Benjamin, 1990, S. 70 ff.). Kindern und Jugendlichen, die durch keine ausreichend gute Umwelt gehalten worden sind, die daher auch nicht in der Lage waren, die Sicherheit eines Rahmens – durch das Vorhandensein verlässlicher Bezugspersonen – in ihr eigenes Inneres zu integrieren und somit sichere Objektrepräsentanzen auszubilden, muss ein stabiler äußerer Rahmen bereitgestellt werden. Eine geeignete Hilfe für das sich antisozial verhaltende Kind liegt für Winnicott deshalb in der Fürsorge und nicht in der Therapie. Dort versucht es, den Rahmen wiederzufinden, den es verloren hat, und wird in den Phasen der (neu aufkeimenden) Hoffnung ständig die Grenzen ausprobieren, um zu prüfen, ob sie auch stabil genug sind – mit anderen Worten, ob die Anderen psychisch »überleben«. Clos (1991) berichtet von ihren leid- und zugleich hoffnungsvollen Erfahrungen an einer Schule für Lernbehinderte mit dem »Austesten« der Kinder, bei denen Hoffnung bereits so massive Ängste – und den abgewehrten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Schmerz des Verlustes – auslöst, dass sie versuchen, Hoffnung durch die Zerstörung jeder Form des ihnen angebotenen Dialoges gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die antisoziale Tendenz kann sich wie beschrieben einerseits in antisozialem Ausagieren aufgrund fehlender oder noch unsicher internalisierter Grenzen der äußeren Realität, andererseits aber auch »versteckt antisozial« in einer Identifikation mit der Autorität äußern. Das Kind bildet dann ein »falsches Selbst« aus, welches das »wahre Selbst« sch ützt und verbirgt. Streeck-Fischer (1998, S. 161 ff. , S. 189 ff.), die sich intensiv mit schwer traumatisierten Jugendlichen befasst hat, veranschaulicht das »Ringen an den Grenzen« im einerseits »leeren Raum« der Jugendlichen, die vordergründig aufgrund ihrer Mimikry (von Winnicott als falsche Selbstentwicklung beschrieben) angepasst wirken, im andererseits »zerstörten Raum« der Jugendlichen, die keine schützenden Grenzen um sich herum haben und daher nicht zwischen Fantasie und Realität unterscheiden können. Die wichtigsten Merkmale des Umgangs mit diesen Kindern sind nach der Trias von Winnicotts Behandlung : »holding, handling, and object-presenting« – ein stabiler, verlässlicher Rahmen, die Aufrechterhaltung der Beziehung mit einer unterstützenden, ausreichend guten Reaktion und die Konfrontation mit den Empfindungen des Anderen (dem Grenzübertritt, der Realität). Das Verhalten der Bezugs- und Erziehungspersonen muss haltend, fürsorglich, abgrenzend und nein-sagend sein.
Aktualisierung der Objektzerstörungsfantasien in der Adoleszenz Wie allgemein bekannt entstehen in der Adoleszenz neue Auseinandersetzungsbereitschaften. Es entsteht eine neue Fähigkeit der Heranwachsenden, zu zerstören und zu töten, eines Potenzials, welches dem Kind bei Wutausbrüchen oder Hassgefühlen in diesem Umfang noch nicht zur Verfügung stand (Winnicott, 1989, 1996). Es ist wichtig, dass die Umwelt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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(wie in der frühen Kindheit) die Zerstörungsfantasie überlebt, indem sie die Herausforderung der Jugendlichen annimmt und die Konfrontation aushält. Die antisoziale Tendenz in dieser Lebensspanne ist eine entwicklungspsychologische Notwendigkeit, die nicht als adoleszente Gewalt pathologisiert, abgespalten und bekämpft werden sollte. Auchter (1994) fordert eine Differenzierung jugendlicher Aggressivität in das, was »altersspezifisch normativ« und was »individuell pathologisch« ist. Wie können wir mit Winnicott Konflikte heutiger Jugendlicher besser verstehen? Fallbeispiel Jana Jana ist eine Schülerin aus der neunten Klasse einer integrierten Gesamtschule. Sie stammt aus einer Migrantenfamilie und lebt in ärmlichen Verhältnissen (vgl. Weike, 2004, S. 334 ff.). Nach Einschätzung der Klassenlehrerin wird sie die zehnte Klasse mit dem Hauptschulabschluss beenden. Sie fällt mir durch ihren rüden Umgangston schon früh auf. Zum Beispiel bekomme ich mit, wie sie einem anderen Jugendlichen im Flur sexuelle Beschimpfungen hinterherruft. Auch ist sie öfter in körperliche Auseinandersetzungen mit anderen Mädchen verwickelt, die sich um die Verletzung ihrer persönlichen oder familiären »Ehre« aufgrund von angeblichen wie tatsächlichen Beleidigungen mit zumeist sexueller Anspielung drehen. Janas Motivation zum Schlagen ist dann die (Wieder-)Herstellung von Respekt, aber auch ein Gefallen an dem Gefühl von Macht und Stärke. In ihrer Klasse wird sie eher abschätzig behandelt. Ihre Versuche, mit coolen Bemerkungen und Störungen Aufmerksamkeit zu erregen, scheinen die anderen zu nerven. Janas Klassenlehrerin, Frau Beier, macht sich Sorgen um sie, da sie sie für sehr gefährdet hält. Auch sei Jana schon in der Schule und ihrem Freizeitkontext auffällig geworden. Im Interview wird deutlich, dass sie sich außerhalb der Schule, beispielsweise auf Klassenfahrten oder im Praktikum, am wohlsten fühlt. Das Schulgelände, die Schule als Institution mit ihren Regeln, Räumen und Abläufen sind ihr zu eng und zu klein. Für Jana liegt deshalb eine Chance vor allem in der offenen Struktur ihrer Schule. Dies soll das folgende Zitat deutlich machen. Jana schildert Beziehungen zu verschiedenen Lehrerinnen: Interviewerin: Hattest du mal Konflikte mit Lehrern? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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»Ja, mit Frau Schanze. Ich kann diese Lehrerin nicht leiden und sie kann mich wahrscheinlich auch nicht leiden. Ich habe Hausaufgaben gemacht in der Stunde und das war sehr unordentlich geschrieben, aber es war richtig und da hat sie mir eine Fünf aufgeschrieben. […] Seitdem mache ich auch nicht gerne mit der Unterricht. Die ist nämlich ganz anders wie Frau Beier. Frau Beier würde das respektieren, dass man so wenig Zeit hatte. […] Frau Schanze gibt Hausaufgaben auf, ich mache sie. Ich sage so ›Frau Schanze, hier ist meine Hausaufgabe.‹ Sie so ›Ja warte, ich mache das gleich‹ und dann vergisst sie das andauernd und dann meckert sie andauernd nur rum. […] Frau Holm kann man alles erzählen. Mit der kann man über alles reden. Die ist aber im Siebener-Jahrgang. Mit der kann man über alles reden. Die hilft auch. Also hier im Jahrgang habe ich keine Vertrauenslehrer, weil es könnte ja sein, dass die Lehrer dann zu denen hinrennen und sagen ›Was hast du gemacht ?‹ und da oben im Siebener kennt die Frau Holm ja keinen hier unten. Da kann man alles erzählen. Meine Cousine ist auch da oben und die hat auch Probleme und die geht auch zu ihr. Die erzählt ihr immer alles, mit der kann man am besten reden. In den Ferien waren wir auch früher immer bei der und haben so Gruppen gemacht, Mädchentreffs. Wir haben gekocht bei der und haben uns auch unterhalten, ihre Fenster gestrichen. Das war eigentlich gut. Mit der kann man über alles reden und die sagt es auch keinem weiter. Hier habe ich gar kein Vertrauen in die Lehrer. […] Die meisten Lehrer denken, ach was ist denn das für eine, und sagen einem ›jaja gut jaja‹ und Frau Holm sagt ihre wirkliche Meinung, das finde ich gut an der Lehrerin. […] Ich würde auch zu ihr gehen, wenn ich Probleme hätte, weil mit der kann man reden. Sie versteht einen, die ist so wie ein normales Kind, nur sie hat ein bisschen mehr im Kopf und lernt den Schülern so Aufgaben. Für mich ist das so eine Schülerin, so ähnlich. Der kann man alles erzählen wie einer Videokassette, was man alles erzählen kann, die aber dann beantworten tut auf die Probleme.«
Exemplarisch lassen sich einige gelungene und verhinderte Entwicklungsmöglichkeiten schulischen Einflusses aufzeigen. Die Bedeutung einer haltenden, fürsorglichen und zugleich abgrenzenden Haltung wird daran sichtbar (s. Tab. 1).
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Tabelle 1: Entwicklungsperspektiven im Einflussbereich der Schule am Fallbeispiel von Jana Pädagogische Chancen
Pädagogische Risiken
Sanktion durch eine schlechte Note Respektieren persönlicher Umstände (wenig Zeit) als Zeichen für ohne tragfähige Beziehung zur eine vorhandene Beziehung zu Frau Lehrerin Frau Schanze Beier Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, die Lehrerin übersieht bzw. vergisst die gemachten Aufgaben Angst, dass die unterrichtenden »über alles reden können«, Vertrauen aufgrund der Stellung der Lehrkräfte Anvertrautes untereinLehrerin Frau Holm außerhalb des ander weitergeben; Jahrgangs (»sie sagt es keinem weiter«); Beziehung über schulische Inhalte hinaus mit Treff-, Kochangeboten u. Ä. wird innerhalb der offenen Schule mit ihren Mädchen- und Jungengruppen möglich – Identifikation mit der Lehrerin »wie ein normales Kind« und ihren versorgenden Anteilen – wichtig v. a. für deprivierte Kinder/Jugendliche
(Problem Rollenambiguität: Förderung und Selektion als zu bearbeitendes Paradoxon für jede Lehrerin, für jeden Lehrer, denn für viele Schülerinnen und Schüler ist besonders der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin Ansprechpartner bei Konflikten)
»Frau Holm sagt ihre wirkliche Vorurteile werden angedeutet, Meinung« – Konfrontation mit den Lehrkräfte denken, »was ist denn das für eine«, sagen es aber nicht Empfindungen des Anderen
Was bedeutet das Konzept des potential space für Schule und Unterricht? Der potential space ist ein imaginärer Raum, in den »in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen« und miteinander in Beziehung gesetzt werden (Winnicott, 1989, S. 11). Eine einfache Übertragung auf Schule ist schon allein deshalb nicht möglich. Als Metapher – nicht für den realen, äußeren Raum der Schule, sondern für ihre dialektische Aufgabe, die in© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dividuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse insbesondere von konfliktauffälligen Jugendlichen mit den gesellschaftlich-institutionellen Herausforderungen in Balance zu bringen – liefert das Konzept wichtige Impulse. Das Verhältnis zwischen »selbstbehauptendem Ich« und »anzuerkennender Welt« in der Schule birgt Konfliktpotenzial für die Jugendlichen: einerseits Ermöglichung von Entwicklung, andererseits Einschränkungen und Risiken des Scheiterns. Dennoch ist Schule als Mittler gut geeignet. Sie bietet vertraute Elemente innerhalb stabiler Rahmenbedingungen, Regeln und Rituale ebenso wie Distanzerlebnisse und den Verweis auf Zukünftiges (vgl. Winterhager-Schmid, 1993). Für Heranwachsende aus schwierigen familiären Verhältnissen ist Schule oft der einzige Fixpunkt, der diese Orientierung bietet. Lehrkräfte haben dementsprechend eine triangulierende Funktion (WinterhagerSchmid, 1993). Ein intermediärer Bereich von Schule (genauer zwischen Schule und Schülern) ist also immer nur subjektiv vorstellbar, also da, wo das Individuum die schulische Realität mit dem inneren Erleben in Beziehung setzt. Schule in ihrer Komplexität kann und soll damit nicht gefasst werden. Schule und Unterricht unter der Metapher eines Möglichkeitsraums zu sehen bedeutet: Schule aus der Perspektive des einzelnen Schülers/der einzelnen Schülerin zu betrachten und zu analysieren, ob und inwieweit Schule einen entwicklungsförderlichen Raum für die Konfliktverarbeitung anbieten kann. Das Wissen um und die Berücksichtigung subjektiver Voraussetzungen bedeutet, dass die Schulpädagogik ihre Bildungsaufgabe in gewisser Hinsicht mit jedem Schüler, jeder Schülerin und jeder neuen Klasse ausloten und begründen muss. Das Interesse an den Schülerinnen und Schülern über das Curriculum hinaus und ihre sorgsame Beobachtung sind eine Voraussetzung für das Verstehenkönnen. Das Verstehen des latenten Sinns von Konflikten in der Schule, daraus resultierender Lernprobleme, Klassenstörungen, Ausgrenzungsdynamiken … kann Einblicke ermöglichen: Welche unbewussten Hoffnungen und Befürchtungen drücken sich mit einem konflikthaften Verhalten aus? Winnicott (1996, S. 313) spricht von der Aggression © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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als »Hilferuf«, als Potenzial, auf die eigene Not aufmerksam zu machen. Das Verständnis von Schule als Lern- und Entwicklungsraum ist zugleich Gewaltprävention. Wenn Hartmut von Hentig (1993) als Aufgabe der Schule formuliert: »Die Menschen stärken, die Sachen klären«, so nennt er ganz bewusst die Menschen vor den Sachen. In diesem Sinne scheinen partielle Reaktionen auf Gewalt in der Schule durch vorgefertigte und standardisierte »Gewaltpräventionsprogramme« verkürzt; wichtiger ist die Zuwendung zu den Schülerinnen und Schülern als ernstzunehmende Gegenüber im Alltag, die auch Zumutung zum Beispiel einer anderen Meinung, eines vom Lehrer festgelegten Themas und Ähnliches einschließt. Die Vermittlung von Inhalten auf der Grundlage gelingender Beziehungen ist besonders dort wichtig, wo Kinder und Jugendliche keinen ausreichenden familiären Schutzraum mitbringen. Anders als Grundschulkinder grenzen sich Adoleszente von den Lehrkräften ab. Deshalb müssen für die latenten Themen und Konflikte eher symbolische Formen der Bearbeitung und Herausforderungen (z. B. Boxen, Theaterspiel …) gefunden werden. »Gewalt braucht Halt« – Diese einfach anmutende Aussage wird leider immer noch im Sinne einer pädagogischen Unterdrückung von Konflikten fehlinterpretiert. Grenzen dürfen nicht vorrangig dem Unterbinden von Aggression durch Sanktionen dienen, sondern sollten zur Integration aggressiver Impulse in die Persönlichkeit beitragen. Die äußere Regulation muss allmählich überflüssig und durch innere Regulation ersetzt werden. Ein stabiler Rahmen und die Identifikation mit dem konstruktiven Vorbild ausreichend guter Bezugspersonen dienen der Verinnerlichung – nach Winnicott eine Grundvoraussetzung für den demokratiefähigen Menschen. Strafen sind deshalb auch nur sinnvoll im Sinne einer Wiedergutmachung, die dem aggressiven Kind/Jugendlichen die Möglichkeit bietet, etwas zurückzugeben und Dekonstruktion in Rekonstruktion umzuwandeln – hier gibt es Parallelen zum Täter-Opfer-Ausgleich: Die Entfremdung und Abstraktion zwischen Täter und Opfer werden zugunsten einer Beziehung und personalen Konfliktregelung abgebaut. Die Schule arbeitet jedoch in einem schwierigen Spannungs© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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feld von Ich und Gruppe, erzieherischen und curricularen Aufgaben, die miteinander verbunden werden müssen. Die heterogene Klasse bietet sowohl Chancen in ihrer Vielfalt von Individualität wie auch Risiken durch gehäufte Problemlagen: massivere Konflikte benötigen einen schulischen Raum (Team, Kollegium), in dem die Lehrkräfte selbst ausreichend unterstützt werden – Einzelkämpfer können dies nicht leisten. Da viele Lehrkräfte nicht auf gut funktionierende Teams oder Co-Teaching-Modelle zurückgreifen können, ist es unerlässlich, sich einen professionellen Umgang mit Überforderung anzueignen (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2000) und sich möglichst bereits in der Ausbildung praktische Erfahrungen im Umgang mit sogenannten »schwierigen Schülerinnen und Schülern« anzueignen (vgl. z. B. das Schülerhilfeprojekt, Garlichs, 2000), die dann in Begleitveranstaltungen produktiv aufgearbeitet werden können. Die Integration dieser Schülerinnen und Schüler scheint pädagogisch und letztlich auch wirtschaftlich allemal sinnvoller als ein »Durchreichen« nach unten. »Eingrenzung der Gewalt, nicht Ausgrenzung der Jugendlichen« fordert Auchter (1994) im Anschluss an Winnicott. Die Grenzen der Schulpädagoginnen und -pädagogen liegen bei einem quasi-therapeutischen Vorgehen. Dafür sind sie nicht ausgebildet. Zudem geht es nicht um eine Ausweitung und Aufweichung der Lehrerrolle, sondern um eine gute Vernetzung zwischen Schule, Elternhaus und beraterisch-therapeutischen Institutionen. Dazu kann der Dialog von Pädagogik und Psychoanalyse beitragen, wie ich in meinem Beitrag zu zeigen versucht habe.
Literatur Abram, J. (1997). The language of Winnicott: A dictionary and guide to understand his work. Northvale, New Jersey : Jason Aronson Inc. Auchter, T. (1994). Der entgleiste Dialog. Zur Theorie der Jugendgewalt bei Donald W. Winnicott. Wege zum Menschen, 46 (2), 53 – 72. Benjamin, J. (1990). Die Fesseln der Liebe: Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Basel u. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern. Clos, R. (1991). Offener Unterricht an der Schule für Lernbehinderte – Di© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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daktik oder Therapie? In C. Büttner, U. Finger-Trescher (Hrsg.), Psychoanalyse und schulische Konflikte (S. 51 – 78). Mainz: MatthiasGrünewald-Verlag. Cohn, R. (1975). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion: Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle. Stuttgart: Klett-Cotta. Combe, A., Helsper, W. (1994). Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Davis, M., Wallbridge, D. (1995). Eine Einführung in das Werk von D. W. Winnicott (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Diem-Wille, G. (2003). Das Kleinkind und seine Eltern. Perspektiven psychoanalytischer Babybeobachtung. Stuttgart: Kohlhammer. Fuchs, M., Lamnek, S., Luedtke, J. (1996). Schule und Gewalt: Realität und Wahrnehmung eines sozialen Problems. Opladen: Leske + Budrich. Fuchs, M., Lamnek, S., Luedtke, J. (2001). Tatort Schule: Gewalt an Schulen 1994 – 1999. Opladen: Leske + Budrich. Garlichs, A. (2000). Schüler verstehen lernen. Donauwörth: Auer Verlag. Heitmeyer, W., Collmann, B., Conrads, J., Matuschek, I., Kraul, D., Kühnel, W., Möller, R., Ulbrich-Herrmann, M. (1996). Gewalt: Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus (2. Aufl.). Weinheim u. München: Juventa. Hentig, H. von (1993). Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. München u. Wien: Carl Hanser Verlag. Kahl, R. (2005). Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen (2. Aufl.). Beltz (Archiv der Zukunft, DVDs mit Dokumentation). Leuzinger-Bohleber, M. (2000). Lernen am Einzelfall. Eine Chance zur Professionalisierung und Identitätsentwicklung. In A. Garlichs (Hrsg.), Schüler verstehen lernen (S. 159 – 185). Donauwörth: Auer Verlag. Rauschenberger, H. (1998). Gedanken zur Öffnung der Schule. In S. Popp (Hrsg.), Grundrisse einer humanen Schule (S. 58 – 70). Innsbruck u. Wien: Studien-Verlag. Streeck-Fischer, A. (Hrsg.) (1998). Adoleszenz und Trauma. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Tillmann, K.-J., Holler-Nowitzki, B., Holtappels, H. G., Meier, U., Popp, U. (1999). Schülergewalt als Schulproblem. Verursachende Bedingungen, Erscheinungsformen und pädagogische Handlungsperspektiven. Weinheim u. München: Juventa. Weike, K. (2004). Adoleszenzkonflikte in der Schule. Eine empirische Studie mit Überlegungen zu Schule als »potential space«. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Winnicott, D. W. (1974). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler. Winnicott, D. W. (1989). Vom Spiel zur Kreativität (5. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Winnicott, D. W. (1990). Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums. Stuttgart: Klett-Cotta. Winnicott, D. W. (1996). Aggression: Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Winterhager-Schmid, L. (1993). Jugendzeit in der Schule. Eine angemessene Entwicklungsförderung? Pädagogik, 45 (1), 35 – 39.
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Reinhard Nolle
Biografische Spielfilmarbeit mit jugendlichen Straftätern und dissozialen Jugendlichen
Kontext Die biografische Spielfilmarbeit ist eine neue, sozialkognitive personenzentrierte Methode, die an der Universität Kassel am Institut für Erziehungswissenschaft und am Institut für Sozialpädagogik in den letzten acht Jahren entwickelt wurde. Sie basiert auf den Ergebnissen verschiedener interkultureller pädagogischer Handlungsforschungen in außerschulischen und internationalen schulischen Projekten sowie im Jugendstrafvollzug. Nicht die Technik der Medien und die Medien als Instrumente für technische Reproduzierbarkeit stehen im Mittelpunkt der biografischen Spielfilmarbeit. Im Kontext dieser Methode sollen Medien zur Vermittlung von Botschaften dienen, als Spiegelbild, als Mittler zum Erzählen von Geschichten, als Vehikel zum Bearbeiten der eigenen biografischen Erfahrungen und Prozesse. Leitende Fragestellung war : Wie können pädagogische Prozesse initiiert und gestaltet werden, die förderlich sind, Mentalisierungsfähigkeit zu entwickeln, das heißt, reflexive Funktionen zu ermöglichen, um sich selbst und andere verstehen zu lernen sowie die eigenen und die mentalen Aktivitäten der anderen wie Wünsche, Hoffnungen, Absichten und Gefühle wahrzunehmen und absichtsvoll mit ihnen umzugehen? (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002/2008; Dornes, 2004, S. 175). Zumeist können wir uns unser Verhalten selbst erklären. Wir können uns vorstellen, wie es ist, wenn wir ärgerlich sind, warum wir es sind und wie wir uns beruhigen können. Wir ahnen aber auch, was im Kopf unseres Gegenübers vorgeht. Wir können uns vorstellen, was es sich wünscht, welche Gefühle und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Überzeugungen es hat, ob es die Wahrheit sagt oder lügt – und verstehen auch das. Diese Fähigkeit, uns mentale Zustände in uns selbst und in anderen vorzustellen, heißt Reflexionsfunktion oder auch Mentalisierungsfunktion (Resch et al., 1999). »Diese Fähigkeit zum Denken über das Denken, die Metakognition, entsteht mit etwa vier Jahren. Dann verfügt das Kind nicht nur über ein mentales, sondern auch über ein repräsentationales Weltbild, in dem es den subjektiven Charakter seiner geistigen Hervorbringungen durchschaut« (Dornes, 2004, S. 176). Mentalisierungsfähigkeit ist der Schlüssel für ein gewaltfreies Miteinander und gegenseitiges Respektieren. Die reflexive Einbeziehung der Alltagserfahrungen und Sozialisationsprozesse aus Familie, Umwelt und Peergroup stehen thematisch im Zentrum der biografischen Spielfilmmethode und dienen auch der Selbstorganisation sowie der Kontrolle von Impuls- und Affektregulation, um ein tolerantes und soziales Miteinander in Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft zu gestalten. Die Projekte vermitteln Film- und Fernsehkompetenz auf der inhaltlichen, technischen und dramaturgischen Ebene. Sie sollen zur intensiven Mitarbeit motivieren, Spaß und Freude machen, witzig und spannend sein und helfen, Erfolgserlebnisse zu erleben. Die Teilnehmer müssen in ihrem Tun für sich einen Sinn erkennen können, einen lohnenden Weg, ein Erfolg versprechendes Ziel. Ein wesentliches Ergebnis aus mehrjährigen interkulturellen Forschungsprojekten mit Jugendlichen war der konsequente biografische Ansatz und der intensive tägliche Arbeitsrhythmus von sechs bis acht Stunden täglich in der Theater- und Spielfilmmethode, der plötzlich nicht gekannte Motivationen und unglaubliche Emotionen entfachte. Jugendliche drehen mit Hilfe professioneller Spielfilmteamer in nur drei bis vier Wochen einen spannenden realistischen Kurzspielfilm, der auf ihren selbst erlebten Erfahrungen und oft traumatischen Geschichten basiert. Die konsequente Haltung für jeden Teilnehmer, die eigene Biografie in das Zentrum zu stellen, eine Geschichte zu schreiben, sie vorzulesen, zu reflektieren und daraus mit den anderen eine gemeinsame Geschichte zu entwickeln, ist der Auslöser für re-
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flexives Verhalten, für das Interesse und Kennenlernen ähnlicher Erfahrungen der anderen, das Erleben der eigenen Emotionen und die der anderen, der erste Schritt zum Beginn von Mentalisierung. »Handlungsorientierte aktive Medienarbeit, die konzeptionell thematisch an der Alltagsrealität und den Alltagserfahrungen der Schüler anknüpft, metatheoretische Reflexionsprozesse unterstützt, eine gemeinsame Medienproduktion und öffentliche Präsentation zum Ziel hat, fördert im Prozess der Zusammenarbeit positive Einstellungsänderungen, die auch nach einem längeren Zeitraum noch verifizierbar sind« (Nolle, 2002, S. 137). Besondere bildungspolitische Bedeutung erhält dieses Forschungsergebnis angesichts der dringenden Forderung, sich in der Curriculumdiskussion für Methoden gewaltfreien Zusammenlebens einzusetzen und gegenseitiges Verständnis und Toleranz zu entwickeln. Im Folgenden stelle ich die biografische Spielfilmarbeit zur Gewaltreflexion mit jugendlichen Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden dar sowie die pädagogischen Grundannahmen zu biografischen Spielfilmworkshops zur Gewaltreflexion mit Schülern in Hauptschulen, Schub-Klassen und Berufsschulen in Nordhessen.
Reflektieren statt zuschlagen Seit Mai 2001 werden mit jugendlichen Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Wiesbaden Kurzspielfilme gedreht, die die eigenen Alltags- und Taterfahrungen in das Zentrum stellen. Für jeweils 14 Tage kommt drei- bis viermal im Jahr ein Zwei-Personen-Filmteam von der Uni Kassel. Sie arbeiten dann täglich mit den Gefangenen von 9 bis 19 Uhr, ohne Wochenende: eigene Geschichten schreiben, Dialoge schreiben, gemeinsames Drehbuch entwickeln, Szenen drehen, einen Viertelstundenfilm schneiden. Das pädagogische Ziel ist anspruchsvoll: Die Gefangenen sollen ihre Einstellungen, ihre Werte und ihr Verhalten ändern; ihr Verhalten zu anderen Menschen, ihrer Familie, zu Frauen und Freunden kritisch reflektieren. Das bedeutet, dass sie © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sich bei diesen Prozessen selbst ändern müssen. Die zehn Teilnehmer, die meisten sind Gewalttäter, sollen lernen, ihre Affekte zu kontrollieren; nachzudenken statt zuzuschlagen, wenn es Stress gibt. Dazu müssen sie eine neue Lebenseinstellung und -perspektive entwickeln. Sie müssen an sich selbst glauben, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Daran, dass auch sie es ohne Gewalt, Drogen und Diebstähle schaffen können. In einer Gesellschaft, in der solche wie sie, Schulabbrecher und Ausländerkinder zumeist, bisher die Loser waren, die Überflüssigen. Viele der inhaftierten Gewalttäter sind in ihrer Kindheit massiv verletzt worden. Viele kennen von klein an Prügel, sexuellen Missbrauch oder Demütigung an sich selbst oder in ihrer Familie. Sie sind gefühlstaub geworden, um sich zu schützen. Sie spüren kaum Schmerzen, wenn sie Schläge einstecken, und sie spüren kaum Mitgefühl, wenn sie Schläge austeilen. Nur wenn sie lernen, sich selbst zu fühlen, dann können sie auch die Gefühle anderer erkennen und Empathie, vielleicht sogar Mentalisierung entwickeln. Fühlen lernen sie im Rollenspiel vor laufender Kamera. Alles wird aufgezeichnet, sodass man sich später wieder und wieder sehen kann. Manchmal macht es dann klick, wenn der Schläger selbst als Geprügelter am Boden liegt. Durch die Filmpremiere vor anderen Mitgefangenen verspreche ich ihnen Erfolg, legalen Erfolg, etwas, was die meisten bislang nicht kennen, weder in der Schule noch zu Hause in der Familie. Sie können erleben, dass sie nicht immer den Dicken machen müssen, sich nicht immer gleich zu prügeln brauchen, um im Mittelpunkt zu stehen, sondern dass sie das auch über ihre Sprache und ihr Spiel, das Erzählen ihrer Geschichten, über Kreatives erreichen können. Sie können das, weil sie gelernt haben, sich auszudrücken, andere zu verstehen und im Team zu arbeiten, weil sie wissen, was sie wollen. Um zu wissen, was man will und wohin man geht, muss man wissen, woher man kommt : das Zuhause, die Familie. Deshalb sollen sie mitmachen. Sie erleben, dass sie es selbst schaffen können, dass sich ihr Mühen und ihr Engagement lohnen, wenn zum Schluss der Applaus der Mitgefangenen kommt. Jeder ist am Ende stolz auf den Film, und er ist stolz auf sich als Filmstar. Einige sagen hinterher, es sei das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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allererste Mal gewesen, dass sie eine Sache bis zum Ende durchgehalten haben oder mit anderen zusammengearbeitet haben, die sie vorher nicht leiden konnten. Ich halte nichts von autoritärer Pädagogik für Jungs, die mit Prügel und Befehlen aufgewachsen sind. Im Knast herrscht eine strenge Hierarchie : Es gibt die Bosse, die Knallharten sowie die Smarten und es gibt die Pikos, die oft dafür zahlen müssen, in Ruhe gelassen zu werden. Es hilft nichts, den Jungs permanent zu sagen, was sie tun und was sie lassen sollen. Das kennen sie ihr ganzes Leben schon. Die schalten einfach ab, es sei denn es drohen unangenehme Strafen. Ich glaube nicht an Pawlow’sche Konditionierung, an eine Art Hundeschule für böse Jungs in Erziehungscamps mit Kollektivstrafen. Wenn sie dann wieder draußen sind, und die Kontrolle weg ist, fällt alles zusammen. Sie müssen sich aus Einsicht ändern, weil sie es wollen. Von außen können sie nicht geändert werden, nur der Weg dorthin wird ihnen aufgezeigt. Und sie müssten wissen, dass man ihnen hilft. Die Gefangenen müssen ein gutes Ziel haben. Das Ziel muss einen Sinn haben, es muss sich lohnen, sich dafür zu engagieren. Wenn ich Respekt von ihnen erwarte, muss man sie auch respektvoll behandeln. Dann kann man auch von ihnen erwarten, dass sie ohne Gängelung etwas schaffen – aus sich heraus. Ein Spielfilm ist in ihren Augen total cool – das verspricht Erfolg. Es ist ein gutes Ziel, für das es sich lohnt, Unbequemes zu erdulden. Und sie geben ihr Bestes. Vor allem weil sie bei der Premiere am Ende der 14 Tage bestehen müssen. Die Zuschauer sind einhundert Mitgefangene. Das ist der Ernstfall und die absolute Härte. Da will sich keiner blamieren.
Lernen, die eigenen Affekte zu kontrollieren Zum ersten Workshoptag bringt jeder eine selbst geschriebene, selbst erlebte Geschichte mit. Das vorgegebene Thema wie Respekt, Angst, Würde, Beziehung, Eitelkeit soll starke Gefühle und Erinnerungen auslösen. In den folgenden Tagen, in denen die Gruppe die gemeinsame Geschichte und das Drehbuch erarbei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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tet, entwickeln sich zahlreiche Diskussionen und Reflexionen über ihre Taten und ihre Werte, über Raub, Mord und Ehrenmord, illegale Autorennen, Drogen und Dealerei. Wann und wo kann man mit diesen Jungs mal über diese Themen reden? Kann mit ihnen streiten, diskutieren, schimpfen, lachen, nachdenklich sein, sie dazu bringen, auch mal die Perspektive zu wechseln, an ihre Opfer zu denken, die Verletzungen, die sie ihnen zugefügt haben? Aus dem Filmteam darf nichts nach außen dringen. Für Jeden gilt die Schweigepflicht. Die Kerngeschichte des Films wird die sein, die die größten Emotionen und Betroffenheit ausgelöst hat. Die übrigen Geschichten werden in Bildern, Szenen und Charakteren drum herum gestellt. Wenn man mit den Gefangenen ein neues soziales Verhalten erlernen will, dann muss man mit ihnen über etwas arbeiten, was mit ihnen zu tun hat: ihre Familie, ihre Taten, ihre Themen. Nur wenn ich erkannt habe, wer ich war und bin, habe ich die Chance zu erkennen, was ich ändern sollte, kann ich fragen, wer ich sein möchte, und beginnen, es zu werden, in kleinen Stücken und von mir selbst aus. Das ist biografisches Lernen. Fast alle Szenen werden mehrmals gedreht, aus verschiedenen Perspektiven, total, halb total, nah, anders betont, ohne Versprecher, ohne Kontrollblick in die Kamera oder ohne das Mikrofon, das leicht ins Bild gerät. Deshalb darf der Regisseur sie immer wieder Schlüsselszenen wiederholen lassen – manchmal ist es gewollt, manchen Gefangenen tun bestimmte Dialoge, beispielsweise in einer aggressiven Szene, die friedlich ausgehen soll, sehr gut. Das ist Arbeit an den Emotionen, Affektregulation durch Wiederholungen im Dienste filmischer Perfektion. Die Teilnehmer sollen neue soziale und empathische Erfahrungen machen, die Fähigkeit zur Teamarbeit entwickeln und die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Verhaltens. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen Lernen. Häufig lassen sich die Teilnehmer frustrieren oder ablenken und sind nicht in der Lage, ihre eigene Arbeit kritisch zu bewerten. Wesentliche Voraussetzung dafür, diese Fähigkeiten zu entwickeln, sind die Spiegelung, die Fragen und Antworten, die Reflexion in der Gruppe, der Perspektivenwechsel, der dadurch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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eingenommen wird, dass man aus einer neuen Position guckt. Dass sich diese Situationen ergeben, ihnen Raum und Zeit zu lassen, sich zu entwickeln, erklärt die Notwendigkeit der zeitlichen und mentalen Intensität dieser Gruppenarbeit. Dass die Projekte tatsächlich den Ausstieg aus der Delinquenz fördern, ist kein Wunschdenken. Von den ersten 74 Filmteilnehmern sind gerade mal ein Drittel nach der Entlassung erneut wieder rückfällig geworden, wie eine interne Erhebung zeigt. Das ist nicht viel. Im Schnitt werden etwa doppelt so viele der Gewalttäter wieder rückfällig. Die Gruppe, die eine Peerfunktion bekommen hat, kann zu einem wesentlichen Teil die psychosozialen Kompetenzen der Teilnehmer fördern. Sozialkompetenz kann ich mir in der Gruppe anschauen, nachmachen, als positiv erfahren und daraus lernen. Es sind die Gruppe, die Resonanz der Gruppe, die psychosoziale Wirkung und der Druck auf den Einzelnen, die durch Anpassung positive Veränderungen in den persönlichen Einstellungen und Wertehaltungen erzeugen. In der Metareflexion schwebt die Premiere als Erfolgserlebnis und als Damoklesschwert immer wieder über ihnen, spornt sie an, diszipliniert sie, zeigt ihnen die Grenzen ihrer Frustrationstoleranz, lässt sie zurückkommen und lernen.
Resonanz der Peers – die Kraft der Gruppe Ein großer Teil psychosozialer Kompetenzen wird in der frühen Kindheit angelegt. Ein weiteres wichtiges Sozialisationsfeld wirkt auf der Ebene der Peers. Diese Nachsozialisation wirkt, wenn die Intensität der neuen emotionalen Erfahrungen stark genug ist. Das ist von vielen Faktoren abhängig, vor allem aber von der sinnstiftenden emotionalen Bedeutung, die wir einem Ereignis beigeben können. Spielfilmworkshops, die spannende, realitätsnahe Geschichten zum Ziel haben, die auf Alltagserfahrungen aufbauen, starke Erinnerungen auslösen, bieten sich ideal für emotionale Erfahrungen an. Peers, die sich aufgrund gemeinsamer Bedürfnisse, Ziele, Vorlieben, generativer Themen, gleichen Alters treffen und länger zusammenbleiben, haben eine Eigenresonanz. Sie beeinflussen, fördern und fordern Einstellungen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Wertehaltungen gemeinsamer Handlungen. Die tägliche intensive zeitliche und mentale Zusammenarbeit mit dem hochgesteckten Ziel einer Filmpremiere erzeugt einen starken Gruppenzusammenhalt und bietet Rückhalt, Anerkennung, Erfolg, Vertrauen, neue Vorbilder. Der Wirkfaktor der Peers: Es geht um die Kraft der Gruppe, um größere Resonanz, die genutzt werden soll. Die Resonanz überzeugt und setzt Veränderungen der Einstellungen in Gang. Es geht dabei nicht vordergründig um die singuläre individuelle Bewertung einzelner Teilnehmer. Regeln kann man hören und sie sagen was man tun soll. Doch sie geben nicht die Kraft dazu, wie man es tun soll. Soziale und seelische Prozesse kann man nur gesund gestalten, in ständiger Begleitung, persönlichem Wohlwollen, Zuwendung, Verstehen und Akzeptanz. Jeder muss seine Identität selbst finden, das heißt auch eine klare Stellung zu sich selbst entstehen zu lassen und sich Stellungnahmen zu anderen Menschen erlauben.
Achtsamkeit und Wertschätzung – Pädagogik der Anerkennung Die offene Wertschätzung einer Person ohne Vorurteil steht den traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen der jungen Straftäter oft konträr gegenüber. Der persönliche Umgang im Projekt unter den Teilnehmern soll in rücksichtsvoller Gruppenatmosphäre zu einer Bereitschaft zum Aufbau von Normalität und friedlichem Zusammenleben führen. Wichtig sind unterstützende, mitfühlende Orientierungen zur Lösung von Einzel- oder Gruppenkonflikten und Ereignissen, die während der gemeinsamen Arbeit auftreten. Viele der Gefangenen lassen sich ihre Gefühle nicht mehr spüren und versuchen sie zu verdrängen. In ihrem Innersten sind die jungen Gefangenen hochsensibel, auch wenn sie sich völlig cool geben. Die gemeinsame Arbeit am Spielfilm wirkt oft wie ein Trigger, die coole Fassade bricht zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sammen. Auslöser können Dialoge oder Spielfilmszenen sein, beispielsweise eine Trennungsszene oder eine Szene, in der ein anderer zusammengeschlagen oder verbal gedemütigt wird. Im Vordergrund steht die pädagogische Notwendigkeit, die Gefangenen ohne Wertung anzuerkennen, wie sie sind, sie wertzuschätzen, Gleichheit unter ihnen zu schaffen, ihre individuellen Stärken zu erkennen, auf das Liebenswerte bei ihnen zu bauen. Eine Pädagogik der Anerkennung, der Wertschätzung, hier und ohne Vorurteil und Bedingungen und konsequent demokratisch untereinander – das ist die Grundvoraussetzung für kreative, effektive und freudvolle Arbeit in einer Gruppe, egal ob in der Justizvollzugsanstalt oder in der Schule. Das Gefühl zu entdecken, dass ich stark bin, etwas leisten kann, ist genauso entscheidend wie die Sicherheit zu wissen, dass im Notfall jemand da ist, der mir hilft. Es braucht viel Kraft, es braucht den Willen und ein großes Selbstvertrauen, um sich aus dem Teufelskreis der Kriminalität zu befreien. Es gilt, alte Bekannte zu meiden, es gilt, neuen zu beweisen, dass man mehr ist als ein Knacki. Obwohl das zentrale Ziel der Jugendstrafe die Förderung der (Re-)Integration in die Gesellschaft ist und gerade die Kontinuität derjenigen sozialen Bindungen, die dies unterstützen können, ein wichtiger Faktor für den erfolgreichen Ausstieg aus der Kriminalität darstellt, gefährdet die Haft den Fortbestand und die Beziehungsqualität persönlicher und familiärer Bindungen (Das Magazin, 2005). Ein erreichbares Ziel im Jugendstrafvollzug kann es von daher nur sein, ausreichend Qualifizierungsangebote bereitzustellen, die soziale Kompetenzen fördern. Wenn ich mich nicht anerkenne, kann ich auch mein Gegenüber nicht anerkennen. Die Fähigkeit zur Selbstanerkennung impliziert zweierlei: dass ich mich selbst wertschätze, weil ich etwas geleistet habe, und dass ich mich wertschätze, weil ich ich bin. Erfährt ein Mensch die unterstützende äußerliche Anerkennung, die er braucht, versetzt ihn dies in die Lage, Kraft und Mut zu schöpfen, um neue höhere Ziele erreichen zu können. Er kann das in sich wachrufen, was er vorher von sich nicht kannte (Dauber, 2007). Anerkennung löst eine wichtige Steigerung dessen im Menschen aus, was der Mensch selbst von sich glaubte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zu sein. Sie ist der Grundbaustein für einen gesunden Lernprozess. Nachhaltige Lernprozesse finden dann statt, wenn sie einen Sinn haben für den Lernenden, sinnstiftend sind, in der Art zu korrespondieren, alle Sinne ansprechen, ganzheitlich angelegt sind, die Subjektivität des Einzelnen betonen, seine eigene Wirklichkeit zu schaffen aus seinen subjektiven Erfahrungen und Erwartungshaltungen (Dauber, 2009). Die Teilnehmer des Projektes sollen Teil eines gemeinschaftlichen Prozesses werden, der Selbstregulationsfähigkeit, Eigeninitiative, Problemlösungsfähigkeit, soziale Kompetenzen wie Stressbewältigungsfähigkeiten verlangt und fördert. Es ist das Ziel, Fehler nicht nur als Misserfolge oder als Versagen zu betrachten, sondern als Herausforderung und Lernchance zu verstehen (Wustmann, 2004, S. 129). Hier setzt die Frustrationstoleranz an. So gewendet, stellt sich nicht die Frage, was mich daran hindert, die Lösung eines Problems zu finden, sondern eher positiv gedreht stellt sich die Frage, was mich dazu bringt, die Situation zu bewältigen, sie für mich positiv zu beeinflussen. Misserfolge als Chance zu betrachten, dabei Neues zu erfahren, die Denkperspektive zu wechseln.
Resilienz – was stärkt mich Diese Bewältigung fordert, dass ein Mensch lernt, die salutogenen Faktoren zu erfahren: Selbstkompetenz, Lebenszufriedenheit, psychische Gesundheit, soziale Unterstützung, um positiv nach vorn zu schauen, optimistisch zu sein, an sich selbst zu glauben und gesund mit Risikosituationen umzugehen (Margraf u. Poldrack, 2000; Schmolke, 2003). Auf der direkten Beziehungsebene bedeutet Resilienzförderung, jemanden dazu zu ermutigen, seine Gefühle zu benennen und ein konstruktives Feedback anzunehmen. Es bedeutet auch, Lösungsoptionen anzubieten, Vertrauen und Aufmerksamkeit zu schenken und Verantwortung zu übertragen. Wenn sich junge Strafgefangene ein verändertes soziales Ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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halten aneignen, andere Werte akzeptieren lernen, muss der Lernprozess mit ihnen selbst zu tun haben, mit ihrer Biografie, mit ihrem Stolz, ihrem Wunsch nach Anerkennung, ihrer Angst vor Scham und Gesichtsverlust. Ihre Erfahrungen müssen gewürdigt werden. Anerkennung löst eine wichtige Steigerung dessen im Menschen aus, was der Mensch selbst von sich glaubt zu sein. Es ist der Grundbaustein für einen gesunden Lernprozess. Das braucht er sein Leben lang. Durch Anerkennung kann er gesund lernen, sich entwickeln und reflektieren (Nolle u. Bauer, 2008). Das darf nicht ohne Kritik und Intervention stattfinden und auch nicht durch Brechen gemeinsamer Regeln. Die psychischen Grundbedürfnisse müssen anerkannt und akzeptiert werden. Es handelt sich dabei um die Grundbedürfnisse nach Kontrolle/Orientierung (die relevante Umwelt verstehen, vorhersehen und beeinflussen können), nach Bindung (das Erleben lang andauernder emotionaler Beziehungen zu nicht auswechselbaren Bezugspersonen), nach Selbstwertstabilisierung/Selbstwerterhöhung (sich selbst als gute Person sehen) und nach Lustgewinn/Unlustvermeidung (Erleben von angenehmen und Vermeiden von unangenehmen Zuständen). Menschen streben danach, durch ihr Verhalten in allen vier Grundbedürfnissen Befriedigung zu erleben. Sie zeigen also normalerweise Annäherungsverhalten hinsichtlich der Grundbedürfnisse, das heißt, sie versuchen sich so zu verhalten, dass sie Kontrolle, Bindung, Lust und Selbstwerterhöhung erleben (Borg-Laufs u. Menzel, 2008). Indem ich sie einlade, einen gemeinsamen Spielfilm zu drehen, leite ich bei ihnen einen Prozess ein, in dem ihre gemeinsamen Geschichten, Gefühle und Ängste im Mittelpunkt stehen. Ich muss ihre Biografie und ihre Erwartungshaltungen, ihre Grundbedürfnisse mit in diesen Prozess des Lernens integrieren. Erst dann kann ich auf strikte Regeln und Grenzen pochen, weil der Platz zum Zuhören und Akzeptieren von Regeln und Grenzen nun geebnet ist. Das geforderte authentische, unangestrengte Spielen vor der Kamera mit und im Beisein der anderen Teilnehmer und die Aufnahmetechnik dicht vor dem Gesicht bedeuten für viele dennoch eine große Anstrengung und Konzentration. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Biografische Spielfilmarbeit mit Jugendlichen
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Das Authentische ist das Besondere an diesen Spielfilmen, die ihnen eine andere Perspektive auf ihre Vergangenheit und ihr Verhalten eröffnen, beispielsweise auf ihre Gewalterfahrungen. Es kommt immer wieder vor, dass ein Mitspieler am Ende einer langen dramatischen Dialogszene sagt, dass es ihm eiskalt den Rücken hinuntergelaufen sei und er sich sehr gut vorstellen könne, was da gerade beim Gegenüber im Kopf abgelaufen sei.
Literatur Borg-Laufs, M., Menzel, A. (2008). Psychische Grundbedürfnisse bei gesunden und bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. Zeitschrift für die psychosoziale Praxis, 4 (2), 89 – 98. Das Magazin (2005). Wissenschaftskontakte Nordrhein-Westfalen – Israel, 1. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Dauber, H. (2007). Achtsamkeit in der Pädagogik. Dialektik von Selbstverwirklichung und Selbsthingabe. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Dauber, H. (2009). Grundlagen Humanistischer Pädagogik. Leben lernen für eine humane Zukunft (2. Aufl.). Bad Heilbrunn: Klinkhard. Dornes, M. (2004). Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. Forum der Psychoanalyse, 20 (2), 175 – 199. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2002/2008). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Margraf, J., Poldrack, A. (2000). Angstsyndrome in Ost- und Westdeutschland: Eine repräsentative Bevölkerungserhebung. Zeitschrift für Klinische Psychologie, 29, 157 – 169. Nolle, R. (2002). Aktive Medienarbeit: Interkulturelle Dialoge in Projekten handlungsorientierter Pädagogik. Kassel: kassel university press. Nolle, R., Bauer, M. (Hrsg.) (2008). Junge Gefangene – Wir sagen aus. Biografische Geschichten, Gedichte und Rap-Songs, Bd. 4. Kassel: kassel university press. Resch, F., Parzer, P., Brunner, R., Haffner, J., Koch, E., Oelkers, R., Schuch, B., Strehlow, U. (1999). Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters. Ein Lehrbuch (2. Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union. Schmolke, M. (2003). Das Gesunde im Patienten entdecken. Eine saluto© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Reinhard Nolle
genetisch orientierte Untersuchung mit schizophrenen Patienten. Verhaltenstherapie, 13, 102 – 109. Wustmann, C. (2004). Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim u. Basel: Beltz.
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Religion und Gewalt im Christentum
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Ilse Müllner und Luise Schottroff
Der Gewalt widerstehen
Alt- und neutestamentliche Eindrücke Gewalt ist in unterschiedlichem Maß und mit verschiedenen Schwerpunkten ein Thema der gesamten Bibel. Wir gehen davon aus, dass das Vorurteil vom gewalttätigen Alten und friedliebenden Neuen Testament1 in unserer Kultur fest verankert ist – gegen die biblischen Texte selbst, die eine andere Sprache sprechen. Deutlich wird dieses Vorurteil etwa im Begriff »alttestamentarisch«, der im deutschen Sprachraum gerne in Zusammenhang mit Brutalität, Zorn oder Rachedurst verwendet wird. Aber auch die Diskussionen der biblischen Wissenschaft zeigen, dass Gewalt zunächst als Thema des Alten Testaments wahrgenommen wird. Während die alttestamentliche Exegese seit den 1980er-Jahren heftig um das Thema der Gewalt ringt, hat sich die neutestamentliche Wissenschaft kaum an dieser Debatte beteiligt. »Was der [gegen das Christentum vorgebrachten] Kritik standhalten sollte, wurde im Neuen Testament verortet, wovon man sich distanzieren wollte, wurde im Alten Testament fixiert«
1 Die Auseinandersetzung mit dem Antijudaismus innerhalb der christlichen Theologie hat zur Kritik an der herkömmlichen Begrifflichkeit von »Altem« und »Neuem« Testament geführt, weil mit dieser Gegenüberstellung häufig eine Abwertung des »Alten« und damit einhergehend des Judentums verbunden wird. Vorschläge für andere Formulierungen sind etwa »Erstes Testament« oder »Hebräische Bibel« (was allerdings für den Kanon der katholischen Kirche nicht ganz korrekt ist). Siehe dazu Zenger, 2004, S. 14 – 16. Wir verwenden um der Verständlichkeit willen in diesem Artikel die Bezeichnungen »Altes« und »Neues Testament«.
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Ilse Müllner und Luise Schottroff
(Leutzsch, 2006, S. 2). Dass das Liebesgebot aus dem Alten Testament stammt (Lev 19,18), wird dann ebenso gerne übersehen wie die durchaus gewalthaltigen Texte des Neuen Testaments (wir denken da z. B. an Mt 10,34 f. oder Offb 8,6 ff.). In der bibelwissenschaftlichen Auseinandersetzung (s. dazu v. a. Baumann, 2006, S. 37 – 79) haben sich folgende Themen im Umkreis der Gewaltfrage als besonders drängend herausgestellt: Die Frage nach den gewalttätigen Zügen im biblischen Gottesbild (s. Baumann, 2006; Zenger, 1994), die mögliche innere Verbindung von monotheistischen Religionen mit Gewalt (s. dazu den Beitrag von Tom Kleffmann in diesem Band), die Gewaltsamkeit des Todes Jesu (s. dazu den Beitrag von Paul-Gerhard Klumbies in diesem Band), geschlechtsspezifische, insbesondere sexuelle Gewalt (s. Müllner, 1997, 1999), Gewalt gegen Kinder (s. Michel, 2003, 2006). Die Omnipräsenz des Themas ist erschreckend. Beginnend mit dem ersten Mord im vierten Kapitel der Genesis bis zu den bedrohlichen Szenarien der Apokalypse: Die Texte der Bibel sind voller Gewaltdarstellungen. Die Anfragen, denen sich das Christentum ebenso wie andere Religionen stellen muss, betreffen aber nicht das Maß, in dem Gewalt in den Texten vorkommt, sondern das Ausmaß der Gewalt in der gelebten Wirklichkeit. Diese Kritik wirft auch die Frage auf, was die Bibel mit dieser faktisch vorkommenden Gewalt zu tun hat. »War imitates war story imitating war« (zit. n. Grünenfelder, 2005, S. 195). Dieser Slogan der amerikanischen Friedensbewegung benennt ein zweifach mimetisches Verhältnis zwischen Gewalt repräsentierenden Texten und gewalttätigem Handeln. Biblische Texte bringen Gewalterfahrungen ins Wort. Diese Ebene der Mimesis ist schon kein simpler Abbildungs-, sondern ein interpretatorischer Vorgang. Unabhängig von der historischen Wahrheitsfrage ist jeder Text mimetisch (vgl. Ricoeur, 1988). Jeder Gewalttext deutet wirkliche Gewalterfahrung. Das ist die erste Ebene der Mimesis. Dazu kommt eine zweite: Biblische Texte wurden und werden zur Legitimation von Gewalt herangezogen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Der Gewalt widerstehen
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Es ist der eigentliche Skandal der Gewaltdarstellung, dass sie in einem – genauer zu bestimmenden – Verhältnis zur gewaltförmigen Realität steht. Uns kommt es im Folgenden auch darauf an, dieses Verhältnis näher zu beleuchten.
Gewalt benennen 2 Sam 13: Gegen das Schweigen erzählen »Nun meine Schwester, sei still! Er ist ja dein Bruder« (2 Sam 13,20).2 Das Schweigegebot gehört auch heute noch zu den zentralen Strategien sexueller Gewalt. Bei allen Unterschieden zwischen dem, was in der biblischen Erzählung dargestellt wird, und gegenwärtigen Erfahrungen: Maßgebliche Züge der Gewalt sind der biblischen Darstellung und gegenwärtiger Lebenswelt gemeinsam. 1
Danach geschah Folgendes: Abschalom, der Sohn Davids, hatte eine schöne Schwester namens Tamar. Amnon, der Sohn Davids, liebte sie. 2Dies bedrückte Amnon so, dass er wegen seiner Schwester Tamar krank wurde. Sie war ja eine Jungfrau, und es schien Amnon unmöglich, ihr etwas anzutun. 3Nun hatte Amnon einen Freund namens Jonadab, der Sohn Schimas, des Bruders Davids. Jonadab war ein sehr kluger Mann. 4Der sagte zu ihm: »Warum bist du, ein Sohn des Königs, Morgen für Morgen derart elend? Willst du mir das nicht erzählen?« Da sagte Amnon zu ihm: »Ich liebe Tamar, die Schwester meines Bruders Abschalom.« 5Jonadab sagte zu ihm: »Lege dich in dein Bett und stelle dich krank! Wenn dann dein Vater kommt, um nach dir zu sehen, sagst du zu ihm: Meine Schwester Tamar soll kommen und mich mit Nahrung stärken; sie soll vor meinen Augen die Krankenkost zubereiten, damit ich es sehe und es dann von ihrer Hand gereicht bekomme.« 6So legte sich Amnon hin und stellte sich krank. Als der König kam, um nach ihm zu sehen, sagte Amnon zum König: »Meine Schwester Tamar soll doch kommen und vor meinen Augen zwei Stück Herzkuchen formen; dann will ich mich von ihrer Hand stärken.« 7Da schickte David zu Tamar ins Haus und ließ sagen: »Geh doch ins Haus deines Bruders Amnon 2
Wörtliche Zitate nach der Bibel in gerechter Sprache (Bail et al., 2007). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Ilse Müllner und Luise Schottroff und bereite ihm die Krankenkost!« 8So ging Tamar ins Haus ihres Bruders Amnon. Der lag im Bett. Dann nahm sie den Teig, knetete und formte ihn vor seinen Augen und buk die Herzkuchen. 9Hierauf nahm sie das Blech und richtete vor ihm an. Er aber weigerte sich zu essen. Amnon sagte: »Schickt alle weg von mir!« Da gingen alle hinaus. 10Dann sagte Amnon zu Tamar : »Bring die Krankenkost ins Zimmer, damit ich mich von deiner Hand stärke!« Da nahm Tamar die Herzkuchen, die sie gemacht hatte, und brachte sie ihrem Bruder Amnon ins Zimmer. 11Und sie reichte ihm das Essen. Da packte er sie und sagte zu ihr : »Komm, schlaf mit mir, meine Schwester!« 12Sie aber sagte zu ihm: »Nicht doch, mein Bruder! Vergewaltige mich nicht! So etwas tut man nicht in Israel. Begeh nicht diese Untat! 13Ich, wohin soll ich mit meiner Schande? Und du, du wirst wie einer von den Verbrechern in Israel dastehen. Rede doch mit dem König, er wird mich dir nicht verweigern!« 14Aber er wollte nicht auf ihre Stimme hören. Er überwältigte sie, vergewaltigte sie und schlief mit ihr. 15Aber dann hasste Amnon sie mit sehr großem Hass, ja der Hass, mit dem er sie hasste, war größer als die Liebe, mit der er sie geliebt hatte. Und Amnon sagte zu ihr : »Los, hau ab!« 16Sie sagte zu ihm: »Nicht doch! Es wäre eine noch schlimmere Tat als die erste, die du mir angetan hast, wenn du mich jetzt auch noch wegschickst.« Aber er wollte nicht auf sie hören, 17sondern rief den jungen Mann, der ihn bediente, und sagte: »Schickt doch die da fort von mir! Raus! Und schließ die Tür hinter ihr zu!« 18Sie aber trug ein langärmeliges Kleid; denn solche Gewänder zogen die Töchter des Königs an, solange sie jungfräulich waren. Als nun sein Diener sie nach draußen führte und die Tür hinter ihr zuschloss, 19tat Tamar Staub auf ihren Kopf, zerriss das langärmelige Kleid, das sie trug, legte die Hand auf ihren Kopf und ging laut schreiend davon. 20Da sagte ihr Bruder Abschalom zu ihr : »War dein Bruder Amnon bei dir? Nun, meine Schwester, sei still! Er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen!« So blieb Tamar völlig zerstört im Haus ihres Bruders Abschalom wohnen. 21Als der König David von all diesen Vorfällen hörte, wurde er sehr zornig. 22Und Abschalom redete kein Wort mehr mit Amnon, weder im Guten noch im Bösen. Denn Abschalom hasste Amnon dafür, dass er seine Schwester Tamar vergewaltigt hatte.
Sexuelle Gewalt ist eingebettet in ein System von Macht und Herrschaft. Das Verbrechen des Königssohns an seiner Schwester ist keine singuläre Handlung, sondern Teil des Familien- und Gesellschaftssystems, das mit dem analytischen Begriff »Patri© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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archat« beschrieben werden kann. Das Leben der Menschen in dieser Gesellschaftsform, »ihr Selbstbestimmungsrecht und die Verfügungsgewalt über andere Menschen, ist abhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Lebensalter, ihrem Status, ihren ökonomischen Bedingungen und ihrer Herkunft, religiös wie ethnisch« (Gerber u. Vieweger, 2009, S. 437). Diese Grundzüge kontextualisieren sich in den verschiedenen Gesellschaften. Die biblische Erzählung 2 Sam 13 hat ihre Plausibilität zunächst in einer sozialen Situation, in der erste Erfahrungen mit einem zentralen Königtum in Israel zu einem dynastiekritischen Blick auf die Königsfamilie geführt haben. Amnons Angriff auf seine Schwester wird als Teil eines durch und durch gewaltvollen Familiensystems dargestellt, in dem der Vater – David – durch seine Gewalttaten den Ausgangspunkt bildet (2 Sam 11 – 12) (s. dazu ausführlich Müllner, 1997). Sexuelle Gewalt ist primär gegen die betroffene Frau gerichtet; sekundär (und das ist ebenso intendiert) trifft sie die Männer, in deren Verfügungsbereich diese Frauen leben. In der biblischen Erzählung ist es König David und auch Abschalom als Bruder. Amnon macht mit seinem Übergriff auf die Schwester seinen Anspruch auf den Königsthron deutlich. Vergleichbares geschieht auch, wenn Abschalom nach der Ermordung des Konkurrenten Amnon mit den Nebenfrauen seines Vaters »vor den Augen von ganz Israel« (2 Sam 16,22) schläft (was gemäß heutigem Verständnis ebenfalls als Vergewaltigung verstanden werden muss). Das Schweigegebot ist Teil des Gewaltsystems. Das Verbot, das ihr Angetane in Sprache zu fassen, beschneidet Tamars Ausdrucksmöglichkeit, die wesentlich zum Mensch-Sein gehört (s. Sverre Varvin in diesem Buch). Jede Beziehung, die eine Frau mit dem Mann, der ihr Gewalt antut, verbindet, ist ein Grund, das Schweigegebot zu befolgen. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit und die Macht des Chefs, die Angst vor der sozialen Ächtung und die Macht des Kollegen, die Angst vor dem Verlust der Bruderliebe, Vaterliebe und auch der Liebe der Mutter und der Schwester. Die Gewalt wird zum Geheimnis, das Opfer und Täter in eine verschworene Gemeinschaft verwandelt (vgl. Müllner, 2001). Diese Erzählung wendet sich gegen ein Schweigegebot, das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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einer ihrer Protagonisten formuliert. Das ist zunächst eine literarische Technik; die Erzählstimme und die Stimme des Aktanten treten radikal auseinander. Mit dieser Technik schafft es die Erzählung, sowohl die gesellschaftliche Gewalt zu benennen als auch aufzuzeigen, dass die Opfer von Gewalt vom Verstummen und die Gewaltverhältnisse vom Verschweigen bedroht sind. Dabei thematisiert 2 Sam 13 kunstvoll die Frage nach der Öffentlichkeit der sexuellen Gewalttat: Sie findet im chaedaer statt, also im hintersten, verborgensten Teil des Hauses. Tamar geht nach der Vergewaltigung direkt auf die Straße, an die Öffentlichkeit (chuz). Abschalom verbietet ihr das Wort, woraufhin sie »trostlos verdorrt« (2 Sam 13,20) im Haus ihres Bruders. Dieser selbe Bruder vergewaltigt die Nebenfrauen seines Vaters in aller Öffentlichkeit auf dem Dach des Palasts, um seinen Machtanspruch deutlich zu machen. Diese Erzählung macht, ebenso wie vergleichbare Erzählungen Gen 34 und Ri 19, deutlich, dass sexuelle Gewalt ein Machtphänomen ist. Hier geht es nicht um irregeleitete »Triebe«, sondern um handfeste politische Machtverhältnisse, in denen Sexualität als Mittel (eigentlich als Waffe) benutzt wird. Die Bibel spricht von Gewalt, weil Gewalt im Leben der Menschen vorkommt und dort eine existenzielle Rolle spielt. Ihre Art und Weise von Gewalt zu sprechen kann dabei helfen, historische und aktuelle Gewaltverhältnisse besser zu verstehen und zu analysieren.
Mt 22,1 – 14: Ist der König wirklich ein Abbild Gottes? In den Evangelien des Neuen Testaments sind Worte Jesu überliefert; ein Drittel davon hat eine besondere literarische Form: Sie sind Gleichnisse (hebr. maschal; griech. parabole). Ein Gleichnis erzählt eine kurze stilisierte Geschichte aus dem Leben der Menschen. Wir wählen ein Beispiel: Mt 22,1 – 14. 1
Und Jesus fuhr fort und sprach wieder zu ihnen in Gleichnissen: »2Die gerechte Welt Gottes ist mit der Wirklichkeit in der folgenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Geschichte von einem Menschenkönig zu vergleichen, der ein Hochzeitsmahl für seinen Sohn veranstaltete. 3Und er schickte seine Sklaven, um die Eingeladenen zum Hochzeitsmahl zu rufen, und sie wollten nicht kommen. 4Da schickte er noch einmal andere Sklaven und sagte: ›Richtet den Eingeladenen aus: Hört her! Ich habe mein Mahl vorbereitet, meine Stiere und die gemästeten Tiere sind geschlachtet, und alles ist bereit. Kommt her zum Hochzeitsfest.‹ 5Sie aber gingen weg, ohne sich beeindrucken zu lassen, einer zu seinem eigenen Ackerland, ein anderer zu seinen Geschäften. 6Die übrigen Eingeladenen überwältigten die Sklaven des Königs, misshandelten sie und töteten sie. 7Da wurde der König zornig und schickte seine Truppen und vernichtete diese Mörder und verbrannte ihre Stadt. 8Dann sagte er zu seinen Sklaven: ›Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, doch die Eingeladenen waren es nicht wert. 9Geht zu den Stadtausgängen der Straßen und ladet alle, die ihr findet, zum Hochzeitsmahl ein.‹ 10Und diese Sklaven gingen hinaus auf die Straßen und sammelten alle ein, die sie fanden, böse und gute. Und der Hochzeitssaal war gefüllt mit Menschen, die zu Tisch lagen. 11Der König kam herein, um die zu Tisch Liegenden zu besichtigen, und sah dort einen Mann, der trug keine der Hochzeit angemessene Kleidung. 12Und er sagte zu ihm: ›Mein Lieber, wie bist du hier hereingekommen ohne festliche Kleidung?‹ Der aber blieb stumm. 13Da sagte der König zu seinen Bediensteten: ›Bindet ihm Füße und Hände zusammen und werft ihn hinaus an einen Ort, an dem absolute Finsternis herrscht. Dort wird er schreien und vor Todesangst mit den Zähnen knirschen.‹ 14Gott ruft alle Völker, aber das schwächste liebt er besonders.«
Dieses Gleichnis gehört wie viele andere zu den meist verlesenen Texten in christlichen Gottesdiensten und an anderen Orten christlicher Selbstvergewisserung und christlichen Lernens. Wie wird es verstanden? Wir sprechen jetzt zunächst von der interpretatio christiana dieses Jesusgleichnisses. Sie ist mehr oder weniger gleich lautend auf allen Ebenen der Deutung: in der akademischen Forschung und in Predigten, auch im sogenannten populären Verständnis. Die christliche Deutung sieht folgendermaßen aus: Der König im Gleichnis sei eine bildliche Darstellung Gottes, das Wort »König« eine Metapher. Im Gleichnis werde bildlich die Heilsgeschichte nacherzählt. Gott habe Boten, die Propheten, zum Volk Israel gesandt, um das Volk © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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in sein Heil einzuladen. Das Hochzeitsmahl sei Abbild des messianischen Heiles. Das Volk Israel habe Gottes Heilseinladung ausgeschlagen, es habe Propheten abgelehnt oder gar getötet. Da sei Gottes Zorn gegen Israel entbrannt und er habe Jerusalem, die Mörder und ihre Stadt, vernichtet. Die historische Eroberung Jerusalems durch die römische Armee im Jahr 70 n. Chr. sei diese im Gleichnis abgebildete Strafaktion Gottes gegen Israel. Die römische Armee und ihre Mordbrennerei wird hier als Vernichtung von Menschen und Stadt im Auftrag Gottes gedeutet. Diese Deutung begegnet schon bei Chrysostomos (gestorben 407), einem Kirchenvater, und wird auch in den neuesten wissenschaftlichen Kommentaren (Luz, 1997, S. 230 – 251; Fiedler, 2006, S. 333 – 335) als Meinung des Textes angesehen. Mit dieser Deutung wird in diesem Text der vom römischen Militär verübte Massenmord an der Jerusalemer Bevölkerung im Jahr 70 n. Chr. theologisch legitimiert: Gott habe die römische Armee geschickt, er habe die Hände geführt, als sie die engen Altstadtstraßen in Brand setzten. Gott habe die römische imperiale Eroberungspolitik gewollt, denn er habe Israel strafen wollen. Wir vermissen bis heute eine nennenswerte christliche Selbstkritik an dieser Legitimation von Gewalt gegen das jüdische Volk. Auch nach dem Holocaust ist dieses Gottesbild weiter zentraler Teil unserer christlichen Theologie. Gott rottet die Bevölkerung einer Stadt aus, um die Ablehnung der Propheten, meist wird auch gesagt, um die Ablehnung Jesu Christi zu bestrafen. Gewalt prägt die Gottesvorstellung unserer christlichen Tradition und – was in unseren Augen noch schlimmer ist – es gibt keine kritische Tradition, die fragt: Ist das wirklich Gott – dieser gewalttätige König? Dieser gewalttätige Gott ist so sehr Teil der christlichen Tradition, dass die Gläubigen sich daran gewöhnt zu haben scheinen. Es ist an der Zeit, kritische Fragen zu stellen: Beinhaltet Mt 22,1 – 14 tatsächlich eine Abbildung Gottes, seiner Einladung an Israel und seiner blutigen Strafaktion? Solche kritischen Fragen können nur zum Ziel führen, wenn Christinnen und Christen bereit sind, das, was sie für Tradition halten, in Frage zu stellen. Ein einfacher Weg wäre zu sagen: Dies steht zwar im Neuen Testament, aber es ist nicht mehr Wort Gottes für uns © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Gläubige. Wir wollen Gewalt nicht mehr legitimieren und Gott nicht mehr als Gewalttäter verstehen. Also lehnen wir das Neue Testament/die Bibel (oder wesentliche Teile daraus, die Dokument einer gewalttätigen Religion sind) ab. Diese Lösung ist nicht unser Weg. Wir haben gelernt, die Gewalttradition innerhalb des Christentums kritisch zu sehen und die Bibel als historisches Dokument in ihrem eigenen historischen Kontext zu lesen. Wir wenden uns jetzt dem historischen Kontext der Worte Jesu zu. Sie stammen aus dem jüdischen Volk im jüdischen Mutterland zur Zeit der frühen römischen Kaiserzeit. Sie sind zwischen circa 30 und 100 n. Chr. entstanden beziehungsweise haben in dieser Zeit ihre gewachsene Überlieferungsgestalt erhalten. Sie stammen aus einer Kultur mündlicher Tradition. Die nächsten Sachparallelen zu Jesu Gleichnissen finden sich in rabbinischen Gleichnissen, deren reicher Schatz zu dieser Zeit seine Wurzeln entwickelt hat. Jesu Gleichnisse gehören zu den frühesten Dokumenten der jüdischen Gleichniskultur. Die Lebenswelt der Menschen in dieser Zeit ist bis in den Alltag hinein vom gesellschaftlichen Herrschaftssystem Roms bestimmt: Die bäuerliche Bevölkerung verliert durch Verschuldung ihr Land, wird zu abhängiger Landarbeit, Fronarbeit und Sklaverei gezwungen. Arbeitslosigkeit, Migration der Arbeitsfähigen, Hungersnöte und Armutskrankheiten zerstören zunehmend die Lebensmöglichkeiten – und zwar nicht nur in Judäa, sondern in allen Herrschaftsbereichen des Römischen Reiches (s. dazu Kreuzer u. Schottroff, 2009, S. 524 – 530; Schäfer-Lichtenberger u. Schottroff, 2009, S. 22 – 26). Die Gleichnisse Jesu erzählen sehr detailliert von diesen Erfahrungen: Landlos gewordene Bauern stehen vor Sonnenaufgang auf dem Markt, um sich im Tagelohn zu verdingen. Sklavinnen und Sklaven werden geschlagen und nach Belieben ihrer Besitzer grausam getötet: durch Zerhacken ihrer Körper, durch Folter, durch Verhungern in dunklen Verliesen. Witwen bekommen vor Gericht kein angemessenes Verfahren, Frauen und Kinder müssen durch Prostitution überleben, sie leisten schwere Feld- und Hausarbeit. Frauenlöhne betragen weniger als die Hälfte von Männerlöhnen, die schon ihrerseits nur knapp das Existenzminimum decken. Wenn die Gleichnisse Jesu also nicht als Bilder für Gott, son© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dern als Geschichten aus dem Leben gelesen werden, zeichnen sie ein erschütterndes Bild der alltäglichen Gewalt. Deshalb kommen wir nun mit dieser sozialgeschichtlichen Perspektive wieder auf das Gleichnis Mt 22,1 – 14 zurück. Es erzählt von der Einladung eines Königs an die politischen Repräsentanten seiner Herrschaftsgebiete und Städte. In der außerbiblischen römischen Geschichtsschreibung werden solche herrscherlichen Festmahleinladungen immer wieder berichtet. Sie dienen der politischen Festigung der Herrschaft: Die unterworfenen Regionalherren sollen zum Mahl erscheinen und damit ihre Loyalität gegenüber dem Herrscher ausdrücken. Lehnen sie die Teilnahme ab, ist dies ein Akt offenen Aufruhrs. Es stimmt, dass Jerusalem 70 n. Chr. von der römischen Armee durch Brand und Mord zerstört worden ist. Die Zerstörung von Städten, die Quelle von Widerstand gegen Rom waren, gehört zur römischen Strategie der Herrschaftssicherung. Korinth ist zum Beispiel im Jahr 146 v. Chr. vollständig zerstört und unbewohnbar gemacht worden. Das Gleichnis erzählt von römischer Machtpolitik und Brutalität im ersten Jahrhundert n. Chr. Auch der zweite Teil des Gleichnisses, den wir bisher noch nicht besprochen haben, spricht von Methoden römischer Herrschaft. Der König lädt Ersatzgäste ein, als die ursprünglich Geladenen nicht erscheinen: das Volk von der Straße, hungrig und arm. Im Römischen Reich wurden immer wieder Massenfestmähler veranstaltet für die arme Bevölkerung, die ruhig gehalten werden sollte. Panem et circenses/Brot und Spiele wurden den Massen von Zeit zu Zeit geboten. Sie sollten der Herrschaft Roms zustimmen, besser zujubeln. Auch der Schluss des Gleichnisses erzählt von imperialer Politik. Der König inspiziert die Gäste im voll besetzten Festsaal. Er sieht einen Gast, der nicht angemessen gekleidet ist. Das Gleichnis erzählt hier keine Details. Sie sind aus anderen Quellen bekannt, beispielsweise wurden saubere Kleider vor solchen Massengastmählern an die Armen verteilt. Die unangemessene Kleidung des Gastes wird vom König als Verweigerung der Loyalität verstanden und sofort bestraft: Der unbotmäßige Gast wird an Händen und Füßen gefesselt in ein fensterloses Gefängnis gesperrt, um dort zu sterben. Dieses Gleichnis ist ein Beispiel dafür, wie Jesus und die Je© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sustradition durch Erzählen Gewalt benannt haben. Die Erzählung spiegelt das Entsetzen der Erzählenden und ihre Absicht, Gewalt und Unrecht erkennbar zu machen. Diese Benennung von Unrecht und Gewalt in der Erzählung wird vor allem deshalb deutlich, weil Gottes gerechte Welt mit diesem Unrecht konfrontiert wird. Das Gleichnis beginnt mit folgender Einleitung: »Die gerechte Welt Gottes ist mit der Wirklichkeit in der folgenden Geschichte von einem Menschenkönig zu vergleichen […].« Die Zuhörenden sollen vergleichen: Gottes gerechte Welt und die Gewaltstrukturen, von denen Jesus erzählt. Dieses Vergleichen heißt, sich an die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel zu erinnern. Gott hat das Volk aus der Sklaverei befreit. Das ist so etwas wie das Urevangelium. Es geschah in grauer Vorzeit, aber Generation um Generation erinnert sich an die Befreiung und erkennt so die Spuren der Liebe Gottes in dieser Welt. Gott ist da, Gottes Name ist »Ich bin da« (Ex 3,14; 6,2). Durch das Vergleichen der Liebe Gottes mit der Realität der Herrschaft, der jedes Mittel der Gewalt recht ist, entsteht Hoffnung. Die Bibel nennt diese Hoffnung Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der Unrecht und Gewalt ein Ende haben. Den Zuhörenden werden die Augen geöffnet in der Gleichniserzählung, sie erkennen die Gewalt, weil sie die Alternative kennen: Gott ist nicht so, Gott ist anders. Das ist der Grundton, der diesen Gleichnissen zugrunde liegt (zu dieser Gleichnisdeutung s. Schottroff, 2007). Das Christentum hat eine lange Geschichte hinter sich. Sehr häufig wurde durch christliche Menschen Gewalt ausgeübt und Gewalt gerechtfertigt, natürlich vor allem immer die Gewalt von oben. Ich (Luise Schottroff) habe noch lebhafte Erinnerungen an die schweren Diskussionen in meinem Elternhaus, einem evangelischen Pfarrhaus, dass Christen der Widerstand gegen Hitler eigentlich von der Bibel verboten sei. Die Kollegen meiner Eltern beriefen sich für ihre Anpassung an die Nazigewalt auf die Bibel. Meine Eltern mussten über ihren Schatten springen, alles hinter sich lassen, was ihnen als christlich beigebracht worden war, als sie begannen, ihren Widerstand gegen das Naziregime öffentlich zu vertreten. Ich stehe heute dafür ein, als Christin die Verantwortung für die christliche Gewaltgeschichte und die jahrhundertealte Er© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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ziehung zur Obrigkeitstreue zu übernehmen. Ich kann nicht so tun, als gehöre die Gewalt im Namen Christi einer fernen Vergangenheit an. Dies kann ich nur tun, indem ich für ein gewaltfreies Christentum und gewaltfreien Widerstand arbeite. Es ist unverantwortlich, wenn sich Christinnen und Christen so ganz selbstverständlich als Angehörige einer Religion der Liebe sehen und sich als solche von der Gewalt im Namen anderer Religionen meilenweit entfernt denken. Die Gleichnisse Jesu werden heute noch jeden Sonntag als Bilder eines gewalttätigen Gottes gelesen und damit als Legitimation von Gewalt hingenommen. Es ist Zeit, etwas Grundlegendes an der christlichen Theologie zu ändern. Glücklicherweise hilft dabei die biblische Tradition.
Widerstand und Friedenssehnsucht Im Alten Orient ebenso wie im Kontext der griechisch-römischen Antike ist Krieg eine Selbstverständlichkeit, brutalste Gewaltausübung gängige Praxis. Die Entstehungsbedingungen beider Teile der christlichen Bibel sind von einer politischen Großwetterlage geprägt, in der kriegerische Auseinandersetzungen nicht nur zur schmerzlichen Realität, sondern auch zur ideologischen Selbstdarstellung der jeweils herrschenden Mächte gehören. Schon ägyptische und dann auch assyrische, babylonische, persische und griechische Quellen stellen sich selbst als siegreich dar. Insbesondere die assyrischen Quellen (zu denken wäre hier beispielsweise an die im British Museum ausgestellten Palastreliefs aus Ninive) zeigen ein Selbstbild, das ganz massiv von kriegerischen Bildern geprägt ist. Und für das Neue Testament ist es die pax romana als Propagandabild der imperialen Herrschaft Roms, auf deren Hintergrund die Friedensaussagen zu verstehen sind (Oeming u. Wagener, 2009, S. 172). Die Kriegsgräuel, die Soldaten und Zivilbevölkerung in unterschiedlichem Maß betrafen, werden in den biblischen Schriften immer wieder offen gelegt. Dass Frauen und Männer gerade vom kriegerischen Geschehen auf ganz unterschiedliche Weise betroffen sind, zeigt einerseits die Selbstverständlichkeit, mit der ein Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Kampf herge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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stellt wird (1 Sam 4,9), und andererseits die Benennung sexueller Gewalt (»Einen Schoß, zwei Schöße pro Kopf jeden Mannes!« Ri 5,30) und Gewalt gegenüber schwangeren Frauen (Am 1,13) als gängige Kriegspraktiken. Verschleppung und Vertreibung gehören zu den Zentralerfahrungen des Volkes Israel, das nie zu den großen und dominanten Völkern des Alten Orient gehört hat. Es verdankt seiner Lage als Durchgangsland eine militärische Zentralposition; selbst aber ist Israel immer eher Spielball im Kampf der Großmächte um die Vorherrschaft gewesen. Vor allem Assyrer und Babylonier haben die Verschleppung unterlegener Völker als ökonomisches und als militärisches Machtmittel eingesetzt. Die Friedensbilder, die die hebräische Bibel entwirft, sind auf dem Hintergrund der gelebten Geschichte Israels eher als Hoffnungsbilder denn als Beschreibung langfristig erfahrener Wirklichkeit zu verstehen. Wie ein rückwärtsgewandtes Sehnsuchtsbild wird die Herrschaft des idealen Königs Salomo beschrieben: »Und die Frauen und Männer in Juda und Israel wohnten in Sicherheit, ein jeder unter seinem Weinstock, eine jede unter ihrem Feigenbaum, von Dan bis Be rscheba, solange Salomo lebte« (1 Kön 5,5). Die Friedenssehnsucht des Alten Testaments spricht sich in einer Fülle von Bildern aus, die folgendermaßen systematisiert werden können: »a) ein ›innenpolitisches Modell‹: Israel, besonders Jerusalem/Zion ist der Ort, an welchem sich gegen vielerlei Anfeindungen von außen eine Art ›Gegengesellschaft‹ als Friedensreich paradigmatisch realisiert (Ex 18; Jes 9; 11; 54; Ps 46; 48; 85); b) ein ›imperialistisches Modell‹: ein großer König (›Messias‹) erobert und beherrscht die ganze Welt; wenn alle Völker in sein Königreich eingegliedert sind, hört der Krieg auf (Ps 72); c) ein ›weisheitliches Modell‹: indem alle Menschen die Weltordnung beachten, ihre Hierarchien und Gesetze respektieren, entsteht Frieden (bes. Ps 34); d) ein ›kultisches Modell‹: die Schuld/Sünde, die der Mensch auf sich geladen hat und die sich nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang verheerend auf den Menschen auswirkt, kann weggenommen werden; der Kreislauf der Vergeltung kann durch Sühneriten (Lev 16) und durch stellvertretende Sühne aufgebrochen werden (Jes 53); e) ein ›eschatologisches Modell‹: allein Gottes endzeitliche Umwandlung und Neuschöpfung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Ilse Müllner und Luise Schottroff der Welt kann zu dauerndem Frieden führen (Jes 26,12; 32,17; 60,17; Tierfrieden Jes 65 f)« (Oeming u. Wagener, 2009, S. 174).
Das Feindesliebegebot Jesu Mt 5,43 – 48 kann als Beispiel für die Widerstandslehre der Jesustradition gelesen werden: 43Ihr habt gehört, dass Gott gesagt hat: Liebe deine Nächste und deinen Nächsten und hasse die feindliche Macht. 44Ich lege das heute so aus: Begegnet denen, die euch Feindschaft entgegenbringen, mit Liebe und betet für die, die euch verfolgen. 45So werdet ihr Töchter und Söhne Gottes, eures Vaters und eurer Mutter im Himmel, die ihre Sonne über Böse und Gute aufgehen lässt und es über Gerechte und Ungerechte regnen lässt. 46Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn wird Gott euch geben? Tun das nicht auch die Zöllnerinnen und Zöllner? 47Und wenn ihr nur eure Geschwister grüßt, was tut ihr Großartiges? Tun das nicht auch die Menschen aus den Völkern? 48Seid nun vollkommen, wie euer Gott im Himmel vollkommen ist.
Jesus beruft sich auf das Nächstenliebegebot aus dem Alten Testament (Lev 19,18). Leider haben wir in den gängigen Bibelübersetzungen von Mt 5 die antijudaistische Lesetradition: »Ich aber sage euch« – als bringe Jesus eine neue Botschaft, die die Tora weitgehend außer Kraft setzt. Diese Deutung ist der Jesustradition völlig unangemessen. Jesus tut hier das, was jeder Toralehrer und jede Toralehrerin seiner Zeit tun. Er legt die Schrift aus für seine Zeit. Menschen sind in ihrem Alltag Feinden ausgesetzt, die ihnen die Lebensgrundlage zerstören wollen. Sie sind nicht nur von Nächsten umgeben, sondern auch von Gewalttätern, meist im Dienst Roms, mit denen es keine gemeinsame Glaubensbasis gibt. Das Nächstenliebegebot der Tora, sagt Jesus, bedeutet, in der Konfrontation mit Gewalt die Gewalt zu unterbrechen, und sei es nur für einen Augenblick. In den vorangehenden Versen nennt Jesus Beispiele: Wenn einem Mann ins Gesicht geschlagen wird, soll er nicht zurückschlagen, sondern die andere Backe hinhalten. Wenn einem Mann vor Gericht sein Untergewand gepfändet wird, soll er freiwillig noch sein Obergewand dazulegen. So wird das Unrecht wenigstens für einen Moment sichtbar, denn die Tora verlangt, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dem Armen, auch wenn er verschuldet ist, das Obergewand nicht zu nehmen. Die Toraauslegung Jesu ist nicht als zeitlose Ethik gedacht, sondern als Hilfestellung bei der Bewältigung konkreter Lebenssituationen. Je deutlicher die Bevölkerung der Gewalt Roms widerstand, desto härter und sichtbarer wurde die Konfrontation mit Soldaten, Verwaltung und Handlangern der imperialen Macht. Menschen wurden vor Gericht gestellt oder zur Fronarbeit für die Armee gezwungen – davon reden die Evangelien immer wieder. Doch angesichts der Gewalt und Übermacht waren die Menschen nicht wehrlose Opfer, denn sie verstanden sich als Kinder Gottes, die die Vision der gerechten Welt Gottes auf dieser Erde vor Augen haben. Feindesliebe im Sinne Jesu drückt eine Vision aus, die Vision einer Welt, in der Menschen sich nicht mehr hassen, in der Feindschaft zu Freundschaft werden kann (s. oben das »eschatologische Modell«). Feindesliebe beruht auf der Hoffnung, dass auch ein Feind Gottes zu einem Kind Gottes werden kann. Es gehört Fantasie dazu, in der Konfrontation mit der Gewalt vor römischen Gerichten und römischem Militär ein Verhalten zu entwickeln, das das Gegenüber zum Nachdenken über die Gewalt bringt und die eigene Bereitschaft, den Zirkel der Gewalt zu unterbrechen, ausdrückt.3 Der jüdische Historiker Josephus (ca. 37 – 100 n. Chr.) erzählt in seinen »Antiquitates« (18 § 261 – 268) eine Geschichte vom gewaltfreien Widerstand des jüdischen Volkes zur Zeit des römischen Kaisers Gaius (Caligula) aus dem Jahre 40 n. Chr. Der römische Kaiser war fest entschlossen, den Widerstandsgeist des jüdischen Volkes, der aus seiner Gottesbeziehung genährt wurde, endgültig zu brechen. Er schickte einen Legaten, der mit militärischer Gewalt die Aufstellung eines Standbildes des Kaisers im Tempel erzwingen sollte. Tausende ziehen dem Legaten Petronius nach Tiberias entgegen »und baten ihn flehentlich, sie doch nicht in solche Not zu versetzen und nicht durch Aufstellung der Bildsäule ihre Hauptstadt zu entweihen. ›Wollt ihr denn also 3 Dazu s. Schottroff, 1990, S. 12 – 35; weitere Informationen zum Thema: Dietrich u. Mayordomo, 2009.
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wirklich‹, fragte Petronius, ›mit dem Caesar Krieg führen, ohne seine Rüstungen und eure Schwäche in Betracht zu ziehen?‹ Sie aber erwiderten ihm: ›Keineswegs wollen wir Krieg führen, sondern wir wollen lieber sterben als unsere Gesetze übertreten.‹ Damit warfen sie sich zur Erde, boten ihren Nacken dar und erklärten sich bereit, augenblicklich den Tod zu erleiden. So taten sie vierzig Tage lang und unterließen sogar, das Land zu bestellen, obwohl es hohe Zeit zur Aussaat war, indem sie fest bei ihren Entschlusse verharrten, eher zu sterben als die Aufrichtung des Standbildes mit ansehen zu müssen« (Clementz, 1967, S. 552 – 553).4 Dieser Aufstand der kleinen Leute im jüdischen Volk war also begleitet von einem bäuerlichen Streik, der Roms ökonomische Interessen schädigen konnte, »weil die Entrichtung der Abgaben dadurch unmöglich gemacht werde«. Die jüdische Oberschicht, die eigentlich im Sinne Roms das Volk leiten sollte, war durch diesen Aufstand weitgehend machtlos geworden, wie Josephus erzählt. Das aufständische Volk drückte seine Bereitschaft, eher zu sterben als den Tempel entweihen zu lassen, mit seinen Körpern aus: Sie boten ihren Nacken dar. Sie machten klar, dass sie nicht bereit seien, sich militärisch zu wehren. Sie haben durch ihr Handeln das System von Gewalt und Gegengewalt bewusst gestört und außer Kraft gesetzt. Sie haben ausgedrückt, was es heißt, Kinder Gottes zu sein. In diese Tradition gehört die Praxis der Feindesliebe in der Lehre Jesu. Die Jesusworte, die die Feindesliebelehre weiter ausmalen, beschreiben Unterbrechungen eines Systems, das auf Gewalt und Gegengewalt beruht: Gedemütigt werden, ins Gesicht geschlagen werden, fordert die Männerehre heraus zurückzuschlagen. Hass erzeugt Hass. Fluch will die Verfluchten durch göttliches Einwirken vernichten. Dagegen gibt es im System der Gewalt nur Gegenwehr mit denselben Mitteln. Die Tradition der Unterbrechung der Gewalt durch Handlungen der Liebe zieht sich durch die Bibel hindurch. Doch diese Tradition ist immer wieder von christlicher Gewaltpraxis und 4 Vgl. die Parallelüberlieferung in seiner Schrift über den jüdischen Krieg II § 184 – 203; Michel u. Bauernfeind, 1962, S. 219 – 221.
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Gewaltideologie vereinnahmt oder unsichtbar gemacht worden. Als Christinnen und Christen sind wir für diese Gewaltgeschichte und leider auch Gewaltgegenwart mitverantwortlich. Wir können sie nicht verschweigen. Wir nehmen diese Verantwortung wahr, wenn es uns gelingt, heute die Praxis befreienden Widerstandes zu leben. Es ist Zeit, die Bibel neu lesen zu lernen.
Gewalttexte lesen lernen Wir wollen noch einmal auf die Frage zurückkommen, die wir zu Beginn gestellt haben, als wir die gewalthaltige Wirklichkeit als das eigentliche Skandalon benannt haben: Welche Bibellektüre braucht es für eine Praxis, die der Gewalt zu widerstehen imstande ist? Inwieweit fördert die Lektüre biblischer Texte gewalttätiges Verhalten oder aber Verhalten, das sich der Gewalt gegenüber widerständig verhält? Von welchen Faktoren hängt das ab? Zunächst heißt es, das Verhältnis zwischen Text und Wirklichkeit anzudenken. »Gott wurde nicht nur Mensch, seine Geschichte wurde auch Text. Der Menschlichkeit seiner Offenbarung entspricht die Menschlichkeit ihrer Interpretation« (Reinmuth, 2006, S. 52). Religionen, die sich auf ein Buch als zentrales Medium der Identitätsstiftung berufen, können ebenso wie falsch verstandene postmoderne Literaturwissenschaft in eine Falle geraten: die theoretische Auslöschung der Referentialität. Im religiösen Kontext geschieht das in bestimmten Ausformungen des Fundamentalismus, indem Referentialität als einfacher Abbildungsprozess banalisiert und so die Textualität der Texte nicht ernst genommen wird. In der Literaturwissenschaft und auch der modernen Geschichtswissenschaft sind das Ende der Referentialität und die Auflösung aller Wirklichkeit in schriftkonstituierten Text wohl eher ein Schreckgespenst. Dennoch kann es passieren, dass der Hinweis auf historische Realität als platter Realismus abgetan wird (die Zuspitzung der einen Seite) oder dass andererseits die Betonung der Narrativität von Geschichte als Infragestellung der Existenz historischer Welten polemisch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zurückgewiesen wird. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung von Fiktionalität und Fiktivität. Fiktionalität bezieht sich auf die Darstellungsweise, Fiktivität auf das Verhältnis von Text und Wirklichkeit (Iser, 1993; Schmitz, 2006; Müllner, 2008). Diese Verhältnisbestimmung wird besonders dringend da, wo Gewalt in ihrem weitesten Sinn als Gefährdung der körperlichen und geistig-seelischen Integrität von Personen zum Thema gemacht wird. Wenn jemand um Hilfe ruft, ist es moralisch geboten, ein Verhältnis zwischen dem Text und der physischen Realität vorauszusetzen, selbst wenn sich dieses als gebrochen herausstellt. Die Wirklichkeit von Gewalt nimmt uns in die Pflicht, das Verhältnis von dargestellter und ausgeübter Gewalt klar zu untersuchen. Dabei hat die real ausgeübte und erlittene Gewalt ethische Priorität. Hätte Gewalt keinen Raum in der Lebenswelt, wäre ihre Darstellung kein ethisches Problem. Die biblischen Darstellungen von Gewalt machen besonders deutlich, dass die Theologie eine praktische Wissenschaft ist, insofern sie von der Lebenswelt der Menschen her betrieben werden muss und dieser verantwortlich ist. Es ist zu fragen, wo die Entscheidung für oder gegen Gewalt stattfindet: im Text, in der richtigen Auswahl normativer Texte, in der Verweigerung gegenüber einem Kanon …? Es gibt eine Menge Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Wir stellen als katholische und evangelische Theologinnen einen der Wege vor, der innerchristlich gangbar ist. Dazu gehört für uns die Akzeptanz des biblischen Kanons in seinem jetzigen Umfang (vgl. Müllner, 2006) – das ist in der innerchristlichen Diskussion nicht selbstverständlich (s. z. B. Schüssler Fiorenza, 1994). In keinem Fall kann es um die Entwicklung einer wasserdichten Apologetik gehen, in der das Problem der biblischen Gewalttexte wegerklärt würde. Auf der Seite des biblischen Texts bleiben Anstöße und Anstößigkeiten bestehen. »Eine pragmatische, wohl konsensfähige Prämisse dürfte darin festzuhalten sein, dass religiöse Offenbarungstexte sich nicht dahin auswirken dürfen, dass sie menschliche Gewalt motivieren und legitimieren, verschärfen und potenzieren« (Fuchs, 2004, S. 444). Die Option für Gewaltfreiheit lässt sich weder aus den biblischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Texten heraus- noch in sie hineinlesen. Diese Option wird von Menschen und Gemeinschaften im Gespräch mit biblischen Texten, aber unter Heranziehung anderer textueller und lebensweltlicher Faktoren getroffen. Das bedeutet auch, dass die auf Praxis zielende theologische Auslegung von Gewalttexten nicht einfach ergebnisoffen sein kann, sondern bestimmte handlungsleitende Interpretationen von vornherein ausschließt. »Krieg von den Friedensvisionen her zu lesen« (Grünenfelder, 2005) und nicht umgekehrt ist eine theologische Option, die ein hermeneutisches Vorverständnis formuliert. Für die Auslegung von Einzeltexten können auf dem Hintergrund des bisher Gesagten folgende Grundlinien formuliert werden: Gewaltaffirmation und Gewaltkritik müssen genau herausgearbeitet werden. Viele Erzählungen nehmen eindeutig eine kritische Haltung zur ausgeübten Gewalt ein. Diese äußert sich unter anderem dadurch, dass die Lenkung der Perspektive immer wieder die Opfer der Gewalt in den Mittelpunkt stellt (so Eder, 2008, S. 229 f., zu Ri 4). Identifikationslenkung: Es ist darauf zu achten, mit wem im Text die Identifikation gefördert wird. Ein Beispiel wäre die Erzählung von Kain und Abel. Mit allen nur denkbaren Mitteln wird die Identifikation mit dem Täter gefördert und gleichzeitig die Tat moralisch verurteilt. So wird den Lesenden ihr eigenes Gewaltpotenzial vor Augen geführt, um sie in einen Lernprozess gegen die Gewalt hineinzunehmen (Müllner, 2002). Brechung durch den historischen Kontext: Von vielen heroischen Gewalterzählungen wissen wir, dass sie keine historischen Verhältnisse abbilden, sondern im Gegenteil in Situationen extremer Ohnmacht Mut geben sollen. Ähnliches gilt für viele Psalmen, in denen den »Feinden« des Beters/der Beterin gewünscht wird, Gott möge gewalttätig an ihnen handeln. Solches Beten ist Ausdruck von Ohnmacht und gleichzeitig Delegation der Gewalt. Es reicht auch im Kontext der Bibelauslegung nicht aus, einzelne Texte zu beachten, sondern diese müssen eingebettet sein in den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Kanon (so schon Zenger, 1994). So kann etwa mit Gegenstimmen gearbeitet werden, die zunächst einmal zeigen, dass es nicht nur diese eine, sondern auch andere Stimmen innerhalb der Bibel gibt (vgl. Baumann, 2006). Das biblische Gottesbild steht in der Spannung zwischen dem Entwurf JHWHs als Krieger, der sein Volk aus Ägypten befreit (Ex 15), und jenem Gott, der den Kriegen ein Ende setzt und dessen Handeln durch den Arm einer Frau gegen die gesammelte Streitmacht der Assyrer steht (Jdt 9). Die Vielstimmigkeit muss zunächst einmal wahrgenommen werden. Die intertextuelle Verknüpfungsleistung und damit auch die Entwicklung von Kriterien für den Umgang mit den verschiedenen Traditionen liegt auf Seiten der Lesenden. Die interpretierende Gemeinschaft ist es, die die Entscheidung für Gewaltfreiheit zu treffen hat und sich zur Vielstimmigkeit verhält. Es sind die aktuellen Leserinnen und Leser, die sich mit einer gewaltkritischen Option in ein Gespräch mit den Texten begeben. Diese gewaltkritische Option ist dem aktuellen Interpretationsakt vorgängig und in Auseinandersetzung mit der Lebenswelt und auch mit kulturellen Produkten (also auch mit biblischen Texten und ihren Rezeptionen) gewachsen.
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Paul-Gerhard Klumbies
Gewalt im Zentrum der christlichen Religion Die Hinrichtung Jesu
Die Thematik im Kontext gegenwärtiger Debatten Ein Gewaltakt steht am Anfang der Geschichte des christlichen Glaubens. Jesus aus Nazareth wird am 14. Nisan, im Frühlingsmonat des Jahres 30, in Jerusalem von Soldaten der römischen Besatzungsmacht gekreuzigt. Der Hingerichtete wird kurze Zeit darauf von seinen Anhängern als Auferweckter verkündigt. Er sei der Christus, der Gottessohn. In ihm habe sich Gott selbst offenbart. Hat mit diesem ersten Karfreitag die Gewalt selbst Einzug in das Christentum gehalten? Wenn schon im Kern Gewalt steckt, könnte man dann die weitere Geschichte nicht als ein ebenso fatales wie eindrucksvolles Zeugnis dafür lesen, dass die Saat aufgegangen ist? Gewalt zieht bekanntlich Gewalt nach sich. Wie sollte nicht nach der initialen Leidens- und Gewalterfahrung Jesu und vieler seiner Nachfolger das Pendel umgeschwungen sein! Die Opfer könnten logischerweise ein paar Generationen später zu Tätern geworden sein. Diese Deutung hat durchaus Karriere gemacht. Häufig begründet sie auch die Distanzierung von der christlichen Religion. Das Christentum sei eben die Religion der Kreuzzüge. Es habe in der Geschichte eine Spur der Gewalt hinterlassen. Damit habe das Christentum historisch den Anspruch verwirkt, als Anwalt für Frieden und Gerechtigkeit aufzutreten. Nicht fern von diesem Zugang steht eine heute verbreitete Monotheismuskritik. Ihr zufolge ist es der Exklusivitätsanspruch des Monotheismus, der das Gewaltpotenzial bereitstellt. Die Intoleranz sei mit dem eifersüchtigen Anspruch eines Gottes ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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setzt, der beansprucht: Ich bin der Herr, dein Gott, ich allein bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben (vgl. Ex 20,2 – 6 und Dtn 5,6 – 10). Die Ursache für die Verbindung von Monotheismus und Gewalt liege in der »Mosaische(n) Unterscheidung« »zwischen wahr und unwahr in der Religion«. »Monotheistische Religionen […] lehnen alle älteren und anderen Religionen als ›Heidentum‹ oder ›Götzendienst‹ ab« (Assmann, 1998, S. 17.24).1 Gegenüber dem Vorwurf, sich selbst unerlaubterweise das Gewaltmonopol ihres Gottes angeeignet zu haben, erhalten die Christen – freilich ebenfalls in kritischer Zuspitzung – Schützenhilfe durch eine Attacke von Peter Sloterdijk. Sloterdijk setzt die Christen neben die Psychoanalytiker auf die Anklagebank. Beide unterdrückten in fahrlässiger Weise gerade die Zornespotenziale Gottes beziehungsweise der Menschen. Die einen täten dies moralisch, die anderen therapeutisch. Die Folgen dieses verwerflichen Treibens seien in gleicher Weise zerstörerisch. Sie führten zu einem Zornesstau, zu Zornesbanken, auf denen gewaltige Zorneskapitale aufgehäuft worden seien. Diese warteten nur darauf, eines Tages abgehoben zu werden. Laut Sloterdijk liegt das Problem der Christen gerade darin, dass sie das Gewalt- und Aggressionsmonopol Gott selbst überließen. Das führe zu Sublimierungen, die langfristig verheerende Entladungen nach sich zögen (Sloterdijk, 2006, S. 32, 154). Dem Vorwurf, dass der christliche Glaube selbst einer der großen Gewaltproduzenten der Weltgeschichte ist, wird hier die These entgegengestellt: Christlicher Glaube führt nicht zur Entstehung der Gewalt, die im Namen und unter dem Deckmantel des Christentums geschichtlich tausendfach verübt wurde. Die Geschichte der Gewalt im Christentum ist nicht die Fortsetzung und Weiterentwicklung eines Impulses, der durch die Hinrichtung des Protagonisten dieser neuen Religion, Jesus, entstanden 1
Vgl. auch Assmann, 2003, S. 95: »Mit der monotheistischen Wahrheit kam zwar nicht ›der‹ Haß, aber eine neue Art von Haß in die Welt, der ikono- bzw. theoklastische Haß der Monotheisten auf die zu Götzen erklärten alten Götter und der antimonotheistische Haß der durch die Mosaische Unterscheidung ausgegrenzten, zu Heiden erklärten Anderen.« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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wäre. Vielmehr betritt der christliche Glaube im Verlauf einer Jahrtausende alten Gewaltgeschichte unter den Menschen die Bühne der Weltreligionen und wird von Anfang an in die Dynamik gewalttätiger Verstrickung hineingerissen. Das Aufregende dabei ist, dass der christliche Glaube insofern nicht vor der Gewalt zurückweicht, als er keine Tabuzone schafft und sich nicht als Hort der Gewaltlosigkeit geriert. Vielmehr sind Gott selbst und sein Repräsentant Jesus, der Christus, von Anfang an in die Spirale der Gewalt, die die Signatur der gesamten Menschheitsgeschichte darstellt, hineingezogen. Jesus aus Nazareth wird, obwohl aus heutiger Betrachtung persönlich unschuldig, zum Verbrechertod am Kreuz verurteilt und hingerichtet. Der nachösterliche Christusglaube verkündet den Gekreuzigten als seinen Kultherrn. Das offenkundige Scheitern des Nazareners wird zum Ausdruck seines Triumphes. Das Kreuz steigt zum Ort und Medium der Erlösung aller derer auf, die an ihn glauben. Die Niederlage gilt der christlichen Verkündigung als der Sieg. Der christliche Glaube besticht ausgerechnet mit diesem Paradox durch sein Realitätsbewusstsein. Religion umfasst ja häufig ein utopisches Element. In Abbreviatur gesprochen lässt sich mit aller Vorsicht als ein verbreitetes Kennzeichen von Religion die Konstruktion von Gegenwelten zu jeweils bestehenden Ordnungen auffassen. Angesichts einer Welt des Unfriedens und der Lebensfeindlichkeit werden in Gedanken wie zeichenhaften Modellen Vorstellungen eines Friedensreiches ohne Gewalt als Gegenwelt konstruiert. Darin werden die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmolzen (Jes 2,4 und Mi 4,3),2 die Wölfe wohnen bei den Lämmern, und Löwen fressen Stroh wie die Rinder (Jes 11,6 – 7). Auch wenn solchen prophetischen Hoffnungen ihre tröstende und stabilisierende Qualität unter den jeweiligen zeitgeschichtlichen Bedingungen zuzubilligen ist, lässt sich für die christlichen Quellen der ersten beiden Jahrhunderte feststellen, dass sie im Großen und Ganzen darauf verzichten, sich an Fantasien von paradiesischen Zuständen zu orientieren. In den zentralen Denkbewegungen und den Hauptschriften des Neuen 2
Vgl. aber auch die Umkehrung des Appells in Joel 4,10. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Testaments wird den Vorstellungen einer ungetrübten Zukunft oder eines idealen Jenseits keine motivierende Kraft für die Bewältigung der Gegenwart und des Diesseits zugeschrieben. In dieser Hinsicht ist das frühe Christentum in hohem Maße illusionsfrei. Stattdessen kommt den alltäglichen Erfahrungen von Gewalt, Leiden, Sterben und Tod und den mit ihnen verknüpften existenziellen Bewegungen wie Behauptungswille, Ehrgeiz, Streben nach Ruhm und Ansehen ebenso wie Sicherheitsbedürfnissen eine zentrale Rolle zu. Gewalt wird von den frühen Christen als konstitutiver Bestandteil des Lebens wahrgenommen. Weder die Christen noch Jesus oder Gott selbst bleiben von ihr verschont. Der Gottesglaube wird der Gewalterfahrung ausgesetzt. Indem Gott von der Hinrichtung Jesu her bestimmt wird, entsteht ein spannungsvolles Verhältnis. In den Gottesgedanken zieht eine Ambivalenz zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt ein. Ein lupenreiner Monotheismus traditioneller Ausprägung nimmt die Gewalt entweder komplett in den Gottesgedanken hinein. Gott gilt dann als der Alleinverursacher jeder Gewalt wie auch jeder Rettung vor Gewalt. Oder er spaltet die Gewalt von Gott ab. In diesem Fall wird die Gewalt einem widergöttlichen Prinzip zugeschrieben, und Gott selbst bleibt eindeutig auf der Seite der Gewaltlosigkeit.
Die Hinrichtung Jesu – der historische Hintergrund Zu den historischen Hintergründen der Hinrichtung Jesu lässt sich wahrscheinlich machen, dass Jesus an einem Freitag vor dem Passafest auf Anordnung des römischen Präfekten Pontius Pilatus außerhalb der westlichen Stadtmauer Jerusalems an einem Ort namens Golgotha gekreuzigt wurde. Die Römer verübten seit der Übernahme ihrer Herrschaft in Palästina 63 v. Chr. bis zum Beginn des Jüdischen Kriegs 66 n. Chr. Kreuzigungen soweit bekannt nur an politischen Aufrührern und ihren Sympathisanten. Daher ist es wahrscheinlich, dass auch Jesus unter eine politische Anklage gestellt wurde. Pilatus als Präfekt Judäas entscheidet über Jesus, einen Juden ohne römisches Bürgerrecht, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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im Rahmen seines Ermessensspielraums mittels einer cognitio extra ordinem, einer Untersuchung außerhalb der Ordnung, das heißt, nach kurzem Verhör, dessen Rechtsgrundlagen nicht der römischen Prozessordnung entstammen, sondern von ihm selbst definiert werden. Die Geißelung nach dem Schuldspruch war üblich; anschließend lässt er Jesus zur außerhalb der Stadtmauern gelegenen Hinrichtungsstätte abführen. Aufschlussreich für des Pilatus Einschätzung der Situation ist sein Verhalten danach. Die Freigabe der Leiche Jesu zur Bestattung vor dem Passafest entspricht der römischen Verhaltensweise in Palästina. Pilatus vermeidet, dass es zu Unruhe in der Stadt kommt. Dass er Jesus hinrichten lässt, aber nicht auch dessen Anhänger, signalisiert: Er sieht durch die Person Jesu allenfalls ein mittleres Bedrohungspotenzial gegeben, und dies, obwohl Jesus im Unterschied zu anderen Personen, die von den Römern als Einzeltäter verhaftet wurden, Anhänger besaß. Er lässt den Anführer hinrichten, aber er sieht keinen Anlass, die ganze Bewegung aufzuspüren und auszurotten (vgl. Reinbold, 2006, S. 96 – 99). Ein brisantes Thema ist die Frage der Schuld und der Mitverantwortung am Tod Jesu. Die christlichen Evangelien weisen sie der jüdischen Bevölkerung oder deren Führung zu. Allerdings ist die Darstellung des Prozesses Jesu vor den Hohepriestern und Schriftgelehrten in Mk 14 als unhistorisch anzusehen. Zu gewaltig sind die Abweichungen von der damaligen jüdischen Rechtspraxis, zu deutlich die erkennbaren christlichen Erzählperspektiven. Aus der Sicht des ausgehenden 1. nachchristlichen Jahrhunderts wird bereits in der ältesten christlichen Evangelienschrift rückschauend die Differenz zwischen früher Kirche und Synagoge in die Nacht der Verhaftung Jesu zurückprojiziert. War also die Verurteilung Jesu allein eine Sache des römischen Präfekten, hatten die jüdischen Autoritäten nichts damit zu tun? Manche haben so geurteilt, und das ist im Zeichen eines neuen Dialogs zwischen Christen und Juden auch nachvollziehbar. Zu beachten ist freilich dennoch ein Zeugnis des jüdischen Schriftstellers Josephus. Dieser vermerkt im 1. Jahrhundert n. Chr. die Beteiligung jüdischer Oberer an der Verurteilung Jesu mit den Worten: »Auf Anzeige unserer führenden Männer« (Antiquitates 18,64) habe Pilatus Jesus mit dem Kreuz bestraft. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Ohne dass letzte Sicherheit zu gewinnen und der hypothetische Charakter des Gedankens zu betonen ist, spricht einiges dafür, dass eine Polizeitruppe des Hohenpriesters Jesus verhaftete. Zumindest historisch möglich wäre dann, dass Jesus im Haus des Hohenpriesters verhört und anschließend bei Pilatus angezeigt wurde. Pilatus tat schließlich, was seines Amtes als Präfekt war. In seinen Augen war Jesus ein potenzieller Aufrührer, jemand, der zur politischen Gefahr hätte werden können. Pilatus verhielt sich so, wie er es »als römischer Präfekt nach der Rechtslage zu tun hatte« (Reinbold, 2006, S. 137).
Die Sterbeszene Jesu nach Markus Die Schilderung der letzten Minuten im Leben Jesu, die der älteste Evangelist, Markus, bietet, ist durch eine soteriologische, das heißt, heilvolle Deutung des Geschehens bestimmt. Markus schreibt in Kapitel 15, Verse 33 – 39: Und als die sechste Stunde war, entstand eine Finsternis über die ganze Welt bis zur neunten Stunde. 34Und in der neunten Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: Eloi, Eloi, lema sabachthani, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen? 35Und einige der Dabeistehenden sagten, als sie es hörten: Siehe, er ruft Elia. 36Einer aber lief, füllte einen Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und tränkte ihn, wobei er sagte: Lasst uns sehen, ob Elia kommt und ihn herabnimmt. 37Jesus aber ließ einen lauten Schrei und hauchte (den Geist) aus. 38Und der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Teile von oben bis unten. 39Als aber der Centurio, der ihm gegenüber dabeistand, sah, dass er so aushauchte, sagte er : Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn. 33
Mittels dreier Fragen sollen wichtige Zentralaussagen dieser ältesten erzählerischen Darstellung des Neuen Testaments vom Tod Jesu vergegenwärtigt werden: 1. Welche Lichtverhältnisse herrschen zum Zeitpunkt des Todes Jesu (V. 33/34)? 2. Worauf deuten die letzten Worte Jesu in V. 34? 3. Wohin entweicht der Geist im Moment des Todes Jesu (V. 39)? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Auffällig ist die doppelte Zeitangabe in V. 33 und V. 34. Zunächst wird ein Zeitraum von drei Stunden angegeben. Dann wird literarisch eine Zäsur gesetzt, indem ein exakter Zeitpunkt genannt wird: in der neunten Stunde. Die Lichtverhältnisse bilden mythischen Erzählgepflogenheiten entsprechend die inneren Realitäten der Szene ab. Es ist dunkel auf Golgotha – wer hier unter modernen Gesichtspunkten nach der Faktizität fragt, gerät in eine Sackgasse. Weder ist in dem fraglichen Zeitraum eine Sonnenfinsternis zu rekonstruieren. Noch kann irgendjemand definitiv beantworten, welchen Raum die Wendung die ganze Welt umreißt. Ist Jerusalem gemeint? Judäa im Süden? Ganz Israel? Die gesamte damals bekannte Welt? Solche Rationalismen zerschellen an einer einfachen mythischen Einsicht. Die Menschen stehen gerade im Begriff, den Gottessohn umzubringen. Sie verüben eine finstere Tat. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes die dunkle Stunde der Menschheit! Niemanden kann es wundern, dass es auf der Erde schwarz aussieht. Inhaltlich ebenso aufschlussreich ist im Blick auf die Person Jesu der Umschwung der Lichtverhältnisse. Beim letzten Ausruf Jesu im Augenblick seines Todes ist es hell. Der Erzähler schildert mythischen Regeln folgend den Tod Jesu als ein lichtes Geschehen. Die Beleuchtung zeigt den inneren Charakter der Geschehnisse an. Dem dunklen Treiben der Menschen steht das helle Ereignis des Todes Jesu gegenüber. Der Erzähler liefert mittels seiner Beschreibung der Szenerie die Deutung des Geschehens. Der Tod Jesu ist ein heilsames Ereignis. Diese Tendenz ist in den letzten Worten Jesu aufgenommen. Die finale Formulierung: Mein Gott, wozu, woraufhin, mit welchem Ziel hast du mich verlassen?, zeigt: Mag der Sterbende die Antwort auf seinen Schrei auch nicht mehr vernommen haben – für die Leserinnen und Leser ist die Chance zu einer sinnstiftenden Antwort gegeben. Während die bekannte kausale Übersetzung: Mein Gott, warum hast du mich verlassen, die Möglichkeit eines Todes Jesu in Verzweiflung in Erwägung ziehen muss, eröffnet die in ihrer Finalität erkannte Frage einen nach vorn hin offenen Horizont. Ein dritter Zug der Szene erschließt eine heilvolle Brücke aus der erzählten Welt in die Realität der Leserschaft. Jesus hatte zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Beginn seines Wirkens bei der Taufe den Geist Gottes vom Himmel her empfangen. Die Frage ist, wohin dieser Geist im Moment seines Todes entweicht. Die Antwort lautet: Der in Jesus eingegangene Geist beginnt, sich horizontal auszubreiten. Anders als in der Lukaspassion, in der Jesus die Worte aus Psalm 31,6 betend stirbt: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist (Lk 23,46), geht der Geist nach markinischer Überlieferung gerade nicht vertikal in die göttliche Welt zurück (Klumbies, 2004, S. 144 – 147, 158 – 162). Woraus lässt sich das entnehmen? Kaum ist Jesus verstorben, öffnet ausgerechnet der römische Centurio unter dem Kreuz seinen Mund und bekennt: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn. Wie kommt er dazu? Nichts qualifiziert den Römer für die Aussage. Er ist der Leiter des Hinrichtungskommandos, ausländischer Soldat und wahrscheinlich fremdreligiöser Herkunft. Die Darstellung des Markus bringt eine Regel christlicher Lehrüberlieferung zur Anwendung. Ihr zufolge gilt: Wo ein Bekenntnis gesprochen wird, da wirkt der Geist Gottes; und nur wo der Geist Gottes gegenwärtig ist, kann es zu einem christlichen Bekenntnis kommen. Geist und Bekenntnis bilden die zwei Seiten einer Medaille (Klumbies, 2009, S. 138 – 139). Daraus ergibt sich das Fazit: In mehrfacher Hinsicht sieht der Evangelist Markus ausgerechnet im gewaltsamen Ende Jesu ein heilsames Potenzial für die Menschen, die das Geschehen in entsprechender Weise zu deuten bereit sind. Im Herzen der Gewalt, gerade da, wo ihre Zerstörungskraft zum Ziel kommt, sieht der Erzähler neue Lebensperspektiven erwachsen.
Gewalterfahrung als Bestandteil des trinitarischen Monotheismus Gott von der Hinrichtung Jesu her zu bestimmen, erkennt Gewalt als eine bleibende Realität des Lebens an. Damit ist die Möglichkeit ausgeschlossen, heile Welten zu erfinden. Dies gilt für die Konstruktion einer moralisch intakten Welt ebenso wie für den Versuch einer ethisch motivierten Negierung beziehungsweise Stigmatisierung von Gewalt oder deren utopische Eliminierung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Der christliche Glaube integriert die Erfahrung von Gewalt in sein Gottesverständnis. Das Christentum steht in der Tradition des Monotheismus. Diesen entwickelt es zu einem trinitarischen Modell weiter. Die trinitarische Entfaltung Gottes setzt voraus, dass die Gewalterfahrung, der Jesus in seiner Hinrichtung ausgesetzt war, nicht übersprungen, sondern in den Gottesgedanken hineingedacht wird. Das wurde im interreligiösen Gespräch lange Zeit als Handicap angesehen. Gegenüber dem Judentum und dem Islam verfüge das Christentum über eine weniger stabile monotheistische Basis. Es vertrete einen weichen Monotheismus. In der Folge empfanden auch viele Christen an dieser Stelle einen Mangel in der eigenen Religion und waren bereit, von Jesus lieber als dem menschlichen Bruder und Vorbild zu reden als von Jesus Christus als einer Person der göttlichen Trinität. Als zusätzliche Bürde erweist sich, dass die Trinitätslehre auch innerchristlich als kompliziert und schwer vermittelbar gilt. Der trinitarische Monotheismus nimmt die Erfahrung von Gewalt als Signatur menschlichen Lebens in den Gottesgedanken unmittelbar hinein. Er besitzt seinen Ansatzpunkt darin, dass Gottes Gottheit mit der Hinrichtung Jesu zusammengedacht wird. Das Sterben und der Tod Jesu werden zu einem Kennzeichen Gottes selbst. Mit der Vernichtungserfahrung Jesu ist das menschliche Scheitern in den Gottesgedanken eingegangen. Im Blick auf den Vergleich mit anderen Religionen lässt sich sagen: Diejenigen monotheistischen Religionen, die einen sogenannten reinen Gottesbegriff in den Mittelpunkt stellen, kennen zwar auch Offenbarungsmittler. Dies betrifft die Rolle des Mose für die israelitische und jüdische Religion, dies gilt für die Funktion Muhammeds im Islam. Aber Mose wie Muhammed bleiben außerhalb und unterhalb des von ihnen verkündeten Gottes. Für ihren Gott ist exklusiv eine Göttlichkeit reserviert, die das Gegenteil der todgeweihten Existenz des Menschen darstellt. Eine vergleichbare Tendenz ist im Christentum immer dann zu beobachten, wenn Jesus unter dem Gesichtspunkt seines Menschseins zum Propheten, zum sozialen Aktivisten oder zum ethischen Maßstab stilisiert wird. Das hat häufig Sympathien geweckt, weil dieser Jesus nicht hoheitlich göttlich und damit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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fern, sondern menschennah erscheint. Aber der Preis für diese vermeintliche Distanzüberwindung ist hoch. Denn die einem solchen Jesus zugeschriebene Gottesverkündigung steht unter dem Risiko, zum Einfallstor für menschliche Projektionen zu werden. Die aus prophetischer Verkündigung entspringenden Gottesvorstellungen stehen in der Gefahr einer Aufspaltung beziehungsweise Aufteilung der Wirklichkeit, indem sie Gott alle Vorstellungen gelingenden Lebens und vollendeten Daseins zuweisen und die Erfahrungen von Vorläufigkeit, Vergeblichkeit und Endlichkeit ausschließlich mit der menschlichen Existenz verknüpfen. Dies birgt die Problematik in sich, dass menschliche Ohnmachts- und Unwertempfindungen in Projektionen göttlicher Idealität umschlagen und die Vorstellungen von Gott Spiegelbilder der Größenfantasien seiner Verehrer darstellen. Ein solcher Gott bleibt menschlicher Durchschnittserfahrung – gemeint sind das Erleiden von Gewalt, das Erleben von Niederlagen und die Sterbeerfahrung als der finale Zwang zum Abschiednehmen – gerade enthoben. Ein derartiges Gottesverständnis führt zudem in dem Augenblick zu einer gefährlichen Eigendynamik, in dem die Gläubigen sich mit der ihrem Gott beigemessenen Größe identifizieren und seine Interessen, seine Ehre, seinen Willen zu ihrer Sache machen und innerweltlich durchzusetzen beginnen. Geradezu notwendigerweise muss Kritik an der Größe ihres Gottes von seinen Gläubigen als Kränkung der eigenen Person wahrgenommen werden. Die Folge sind die ebenso bekannten wie fatalen aggressiven Reaktionen auf den erlittenen Schmerz. Vorgeblich dienen sie dem Schutz und der Verteidigung der Ehre Gottes, in der Sache handelt es sich um das Ausagieren der Wut über den erlittenen Schmerz. In dieser Hinsicht ist eine Monotheismuskritik, die sich gegen die unkritische Identifikation der Gläubigen mit der Größe Gottes und die Aneignung der göttlichen Machtmittel richtet, angebracht und sachgemäß. Nach christlicher Überzeugung erschließt sich Gott von den Tiefpunkten des Lebens her. Indem der christliche Glaube den nach menschlichem Maßstab scheiternden Jesus in die Gottesvorstellung integriert, erhebt er paradoxerweise die offenkundige Nichtgöttlichkeit Gottes zur Signatur Gottes. Den gekreu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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zigten Jesus aus Nazareth zum Ort und Mittler der Offenbarung zu erklären, ist ein Plädoyer, Gott im Erleiden und bei den Opfern von Gewalt ausfindig zu machen. Dieser scheinbar verquere Vorschlag, von Gott zu sprechen, wurde von Anfang an als anstößig empfunden. Bereits der Apostel Paulus sieht sich in 1 Kor 1,18 – 25 vor der Notwendigkeit, ein solches Gottesverständnis gegenüber Kritikern zu rechtfertigen, die seine Auffassung für skandalös oder töricht halten.
Literatur Assmann, J. (1998). Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München u. Wien: Carl Hanser. Assmann, J. (2003). Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München u. Wien: Carl Hanser. Klumbies, P.-G. (2004). Weg vom Grab! Die Richtung der synoptischen Grabeserzählungen und das ›heilige Grab‹. In M. Ebner u. a. (Hrsg.), Leben trotz Tod (S. 143 – 169). Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. Klumbies, P.-G. (2009). Das Raumverständnis in der Markuspassion. In I. Baumgärtner, P.-G. Klumbies, F. Sick (Hrsg.), Raumkonzepte. Disziplinäre Zugänge (S. 127 – 144). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Reinbold, W. (2006). Der Prozess Jesu. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sloterdijk, P. (2006). Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Religionsphilosophische und theologische Überlegungen zur Debatte um Monotheismus und Gewalt
Die These, die im Anschluss an die Arbeiten des Ägyptologen und Kulturtheoretikers Jan Assmann diskutiert wird, lautet vereinfacht: Der exklusive Monotheismus, den die Mosaische Unterscheidung von wahrer und falscher Religion ursprünglich markiert, führte in der Religionsgeschichte zu religiöser Intoleranz und tendenziell totalitärer Gewaltbereitschaft. Doch wird die These in dieser Form eher von Epigonen vertreten (z. B. Wälchli, 2007). Assmanns eigene, in jüngerer Zeit zunehmend differenzierten Überlegungen sind schwerer zu fassen. Deshalb wird im Folgenden zunächst versucht, sie unverkürzt und doch kompakt (d. h. auch: systematisierend) darzustellen. Es schließt sich eine kritische Würdigung an, die auf fünf Thesen hinausläuft. Ohne einige andeutende Bemerkungen dazu, was eine theologische Hermeneutik bedeutet, kann es dabei nicht abgehen. Die Debatte, an der sich Assmann selbst fortlaufend beteiligt, geht auf die Mitte der 1990er-Jahre zurück. Zur jüngeren Vorgeschichte gehört aber auch Odo Marquards im Gespräch mit Jacob Taubes inspiriertes Lob der »Polymythie« (Marquard, 1981). Seit Erscheinen von Assmanns Buch »Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus« (2003) hat die Debatte an Heftigkeit, Breite, aber auch Präzision zugenommen und längst die Feuilletons der großen überregionalen deutschen Zeitungen erreicht. Dass sich Religionswissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Philosophen und Theologen in einem Gespräch über den Monotheismus zusammenfinden, ist für sich schon bemerkenswert © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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und auch theologisch zu begrüßen. Gerade der aktuellen Relevanz entspricht allerdings zunächst eine durchaus eingeschränkte Perspektive auf das Thema des Gottesbegriffs. Diese Relevanz scheint allgemein im Phänomen der sogenannten Wiederkehr der Religion zu liegen, sofern diese in Gestalt eines tendenziell totalitären Fundamentalismus auftritt und als Subjekt eines möglichen Kampfes der Kulturen zu erwägen ist. Die Absicht, dies aus seinen historischen Wurzeln zu erklären, speist sich insofern (so jedenfalls Markschies) aus einer westlichen Sorge um dem Pluralismus und scheint sich bisweilen am »altbundesrepublikanischen Schema des Wettstreits zwischen offener und totalitärer Gesellschaft« zu orientieren (Markschies, 2007, S. 295). Doch wenn Assmann die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion überhaupt kritisch historisiert, gibt es auch eine Affinität zu der eher im englischsprachigen Raum vertretenen These eines radikalen theologischen Pluralismus (John Hick, Paul Knitter), dass interreligiöse Wahrheitsansprüche überhaupt unmöglich sind. Konkreter aber liegt die Relevanz der Debatte, auch wenn dies aus Furcht vor dem Anschein religiöser Parteilichkeit bisweilen nur verklausuliert ausgesprochen wird, im Phänomen islamistischer Intoleranz und dem islamistischen Streben, mit Gewalt einen totalitären Gottesstaat zu errichten. Dazu kommt ein Nebenton, der nicht leicht zu bestimmen ist. Dieser Nebenton der Debatte ist angezeigt in dem Verdacht, eine antisemitische Interpretation der Assmann’schen These sei möglich (vgl. Schäfer, 2004; Assmann, 2004, S. 25; 2009, S. 19 f.) – bis hin zu der Andeutung, das Judentum habe mit seinen alttestamentlichen Schilderungen der physischen Ausrottung des gottlosen Volkes den gewalttätigen Antisemitismus erst mit ermöglicht. Dagegen bemüht sich Assmann zuletzt sichtlich, gerade die Toleranz des Judentums im Vergleich mit Christentum und Islam hervorzuheben (vgl. Assmann, 2007, S. 47 – 51, S. 41). Aber auch abgesehen von diesem Nebenton der Debatte ist eine Kehrseite ihrer Aktualität eine Engführung in Begrifflichkeit und hermeneutischem Horizont, der religionsphilosophisch und theologisch zu widersprechen ist.
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Assmanns Thesen zum Verhältnis von Monotheismus und Gewalt Assmann interpretiert eine relativ kleine Reihe von allerdings zentralen Texten der hebräischen Bibel, die ganz überwiegend dem Deuteronomium und der deuteronomistischen Literatur angehören – zum Beispiel Abschnitte aus Ex 20 (Bund und Dekalog am Sinai), Ex 34 (das goldene Kalb), Num 25 (der Eifer des Pinhas), Dtn 13 (die Strafe für Verführer zum Götzendienst) und Dtn 28 (Segen für Gehorsam, Fluch für Ungehorsam). In ihnen inszeniert sich nach Assmann der das Denken und Leben umfassende normative, revolutionäre Anspruch der Religion des exklusiven Monotheismus: Der wahre, einzige und allein wahre Gerechtigkeit verbürgende Gott wird von den falschen, selbstgemachten Göttern der Umwelt und der eigenen (kanaanitischen) Vergangenheit unterschieden. Diese Mosaische Unterscheidung wird von Assmann im Sinne einer »menschheitsgeschichtlichen Wende« (2007, S. 31), einer Jasper’schen Achsenzeit verstanden (vgl. Keel, 2004). Darin folgt er ausdrücklich der Mosesinterpretation S. Freuds, steht aber auch in der Tradition des Gedankens einer im mosaischen Judentum verorteten ursprünglichen Umwertung, wie er sich in Nietzsches Genealogie der Moral findet. Verstärkt wird der Gedanke einer kulturgeschichtlichen Achsenzeit durch die Parallelisierung dieser mosaischen Unterscheidung zur etwa zeitgleich stattfindenden, ebenfalls am Gedanken der Einheit orientierten parmenideischen Unterscheidung von wahrem und falschem Wissen (vgl. Assmann, 2004, S. 23 ff.). Die Tatsache ist unbestreitbar, dass in den angeführten Texten im Namen Gottes die physische Ausrottung der Fremdkulte sowie die Ermordung der Götzendiener im eigenen, zum Bund auserwählten Volk verlangt beziehungsweise angedroht wird – in einer durchaus oft unbarmherzigen und brutalen Sprache. Dieses Gebot erscheint hier als Kehrseite des Bundes und der Wahrheit des einzigen Gottes. Dieser Befund wird von Assmann zu der These von der »monotheistischen Gewalt« (2007, S. 46) oder »strukturellen Intoleranz« des ur-
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sprünglichen Monotheismus (2004, S. 26 ff.) generalisiert : Die in »der Bibel« dokumentierte »Sprache der Gewalt«, die »kulturelle Semantik« der Ausgrenzung und Intoleranz, sei jedenfalls für das Entstehen der neuen Religion des exklusiven Monotheismus »unausweichlich« gewesen. Zwar betont Assmann, dass es dabei nicht um Gewalt als historische Tatsache, sondern eine »sinn- und gedächtnisgeschichtliche Perspektive« gehe (Assmann, 2007, S. 30 f. , S. 46 f. , S. 50), also um die Frage nach einer Struktur im kollektiven Selbstverständnis dieser Religion. Andererseits versucht er nicht nur historische Realisierungen jener Sprache der Gewalt zu verifizieren – so sei beispielsweise der Makkabäerkrieg entsprechend als eine Art jüdischer Dschihad zu verstehen (Assmann, 2009, S. 42 – 45) –, sondern kann pauschal eine solche Realisierung monotheistischer Gewalt dem Christentum anlasten : »Hier wird eine Art von semantischem Vernichtungskrieg geführt, den das Christentum dann ja auch gewonnen hat.« Gleichwohl sei Gewalt keine »notwendige Konsequenz« des Monotheismus beziehungsweise der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion (Assmann, 2007, S. 36, S. 50 ; vgl. Assmann, 2004, S. 22). Freilich versucht Assmann in seiner Darstellung der monotheistischen Revolution durchaus, einen anthropologischen Fortschritt zu würdigen. Er schildert sie im Anschluss an Theo Sundermeier als den Widerspruch einer »Sekundärreligion« gegen eine »Primärreligion« (vgl. Assmann, 2004, S. 156). Leider verzichtet er dabei auf eine Auseinandersetzung mit differenzierteren theologischen Konzepten von Religionsgeschichte, wie sie sich beispielsweise bei Tillich (1958, S. 158 ff.) findet. In Assmanns Primärreligion fungieren Göttergestalten und Kult gruppen- und situationsspezifisch affirmativ. Die im Widerspruch konstituierte, monotheistische Sekundärreligion dagegen ist universal und total: Der als einzig wahr verkündete Gott, indem er die Bekehrung vom falschen zum wahren Leben verlangt, fordert den ganzen und inneren Menschen. Konstitutiv ist nach Assmann dafür ein ganz neues Prinzip der Schriftlichkeit: Erst die Fixierung und Kanonisierung als Gesetz Gottes kann die geforderte Bekehrung verobjektivieren. Der Transzendenz Got© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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tes entspricht die allgemeingültige Objektivität der Schrift, deren Gesetz im Leben umzusetzen ist, im Widerspruch zur sittlichen und (im Sinne immanenter Heiligkeit) religiösen Evidenz der Welt (vgl. Assmann, 2009, S. 46 – 48; 2007, S. 49 f.). Dabei entspricht freilich dem Anspruch der Wahrheit und Einzigkeit Gottes sowie seiner Transzendenz die neue Möglichkeit eines sich vor Gott findenden, in sich reflektierten oder gar autonomen Individuums – »eine neue, gesteigerte Form von Subjektivität« (vgl. Assmann, 2009, S. 54 f.; 2004, S. 62). Gerade in diesem Bezug von Gottesverhältnis und innerem Menschen und in der darin angelegten, potenziellen Universalität aber liegt überhaupt erst die Möglichkeit einer reflektierten Toleranz, die es vermag, den religiös begründeten, polytheistischen Ethnozentrismus zu überwinden und den Anderen als solchen anzuerkennen (vgl. Angenendt, 2005, S. 324 f.; Angenendt, 2006). Assmann bietet nun verschiedene, ja disparate Ansätze an, die monotheistische Sprache der Gewalt zu erklären. Der erste geht von einer konkreten historischen Bedingung aus: Der exklusive Anspruch des einzigen Gottes auf Gerechtigkeit bedeutet, dass dem weltlichen, das heißt königlichen Anspruch auf absolute Treue in seiner eigenen Sprache zu widersprechen ist. Im Fall des assyrischen Königsrechts, dessen Treueforderung und Sanktionsandrohungen das Deuteronomium zitiert, um ihm durch Übertragung auf Gott zu widersprechen, ist das die Sprache der Gewalt. Die Sprache der Gewalt ist also politische Sprache der damaligen Zeit, die gebraucht werden musste, um den befreienden Widerspruch des wahren Gottes, seinen Anspruch auf wahre Gerechtigkeit in dieser Zeit auszusprechen (vgl. im Anschluss an Keel Assmann, 2007, S. 40 – 42). Dazu kommt eine negative Bedingung – durch sie wird die Übertragung der Gewaltandrohung zeitgenössischer politischer Herrschaft auf das Verhältnis des Gottes Israels zu den Religionen der Umwelt erst möglich: Durch den Anspruch der Einzigkeit Gottes ist die interkulturelle Übersetzbarkeit der Götter und Kulte nicht mehr gegeben (vgl. Assmann, 2003, S. 19). Assmanns Hauptargumentation aber, die auch allein die behauptete Unausweichlichkeit begründen können muss, besteht darin, sich die Sprache der Gewalt psychologisierend »aus der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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antagonistischen Kraft« der neuen Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion zu erklären. Der geforderte radikale Bruch in der Lebensorientierung, die psychische, innere Gewalt einer totalen Lebenswende äußert sich in der Androhung physischer Gewalt gegen die Anderen, die Vertreter der alten Lebensorientierung sind – eine im geschichtlichen Moment der Krise unvermeidliche Übertragung, die nach Assmann aber überflüssig wird, wenn der Bruch kulturell vollzogen ist (vgl. Assmann, 2007, S. 47, S. 50; 2009, S. 50 – 53). Ein letzter Argumentationsstrang schließlich führt die alttestamentliche Sprache der Gewalt auf eine Näherbestimmung Gottes zurück, die als kontingent erscheint, aber auch als theologische Projektion jener antagonistischen Kraft verstanden werden könnte: Der »biblische Gott« sei »nun einmal ein eifernder Gott«, ein strafender Gott, der auch das Eifern des Menschen für ihn verlangt. Insbesondere Israel verstehe sein exklusives Gottesverhältnis nach dem Modell der Ehe: Untreue wird eifersüchtig bestraft (Assmann, 2007, S. 42 – 44).
Zur geschichtlichen Wahrheit Gottes, der die Liebe ist Den Theologen, der versucht, den Wahrheitsanspruch der christlichen Verkündigung in der Sprache eines gegenwärtigen, vernünftigen Fragens zu rekonstruieren, kann diese Diskussion zunächst ratlos machen. Denn in ihr wird der Gottesbegriff ausdrücklich nur funktional betrachtet. Dieselbe funktionale Betrachtungsweise gilt für die Interpretation von Texten, in denen sich der Wahrheitsanspruch des Glaubens an den einzigen Gott ursprünglich dokumentiert. Es wird die Funktion der entsprechenden Religion für das menschliche Leben untersucht, etwa ihr Friedenspotenzial, ihre Toleranz gegenüber anderer Religion, auch ihre Bedeutung für die Entwicklung eines Bewusstseins von Menschheit oder individueller Lebensgestaltung. Ob und wie sich der Gedanke des einzigen Gottes denken lässt, interessiert nicht. Das ist zwar im Sinne einer positiven Wissenschaft der Kultur oder Religion völlig in Ordnung. Doch sollte, so meine 1. These, auch die kulturwissenschaftliche (oder auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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religionssoziologische, religionspsychologische) Forschung im weiteren Horizont des religionsphilosophischen Bewusstseins stehen, dass der religiöse Wahrheitsanspruch selbst und seine Relevanz mit der Betrachtung bestimmter Funktionen von Religion noch gar nicht diskutiert werden (vgl. Kleffmann, 2006). Die politische und kulturelle Option etwa für Frieden und Toleranz bedarf ja selbst einer philosophischen oder religiösen Begründung. Fehlt dieser religionsphilosophische Horizont, droht die kulturwissenschaftliche Perspektive willkürlich zu werden. Das ist auch in der gegenwärtigen Diskussion der Fall, sofern sie vor allem darauf zielt, islamistisch motivierte Intoleranz und Gewalt der Gegenwart zu erklären. Da aber das in diesem Zusammenhang Naheliegende inopportun zu sein scheint, nämlich den Koran und seine islamistische Auslegung zu untersuchen, wird die – in ihren philologischen Beobachtungen ja zutreffende und auch notwendige – Interpretation einer bestimmten Schicht alttestamentlicher Texte zur Konstruktion eines allgemeinen Phänomens Monotheismus überhöht – schon mittels pauschalisierender Redeweisen wie die von der »biblischen Religion«, von der »Religion des Monotheismus« oder von der Christentum, Judentum und Islam begründenden »neuen Religion«. Der Nachweis dieser Einheit durch einen Vergleich von Altem Testament, Neuem Testament und Koran fehlt. Wenn aber ein wahrhaft religionsphilosophischer Horizont auch die kulturwissenschaftliche Perspektive mitleitet, dann wird es vielleicht auch möglich sein, dass in einer solchen Diskussion auch eine bald 2000-jährige Tradition christlich-theologischen Nachdenkens fruchtbar werden kann – ein Nachdenken über das Selbstsein und die Einheit Gottes, über die Erkenntnis dieser Einheit und ihr Verhältnis zur Vernunft, über das Verhältnis von Gottesverständnis und Ethos, über das Verhältnis zwischen dem Geist der Nächstenliebe und politischer Gewalt, über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament und über die Geschichtlichkeit der Wahrheit Gottes. Ein Nachdenken, welches nicht nur in der Neuzeit im vollen Gesprächskontext der Aufklärung steht, sondern sich in seinen Spitzen stets der Herausforderung der (ihrerseits geschichtlichen) Vernunft gestellt hat, also auch in Antike und Mittelalter. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Eine solche religionsphilosophische Offenheit für die Wahrheitsfrage könnte dann auch das Verständnis für den christlichtheologischen Grundsatz einschließen, dass die Wahrheit Gottes selbst eine Geschichte hat. Genau diese Grundeinsicht aber bestimmt nicht nur den christlichen Gedanken der lebendigen Einheit des ewigen Gottes, sondern zuvor auch den christlich-theologischen Umgang mit dem Alten Testament, mit der heiligen Schrift überhaupt, und dann auch mit den genannten Texten. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Wahrheit Gottes ist also theologisch besonders wichtig, weil diese Geschichtlichkeit die Möglichkeit einer hermeneutisch reflektierten Systematik begründen muss. Aus dem christlichen Gedanken einer Kondeszendenz Gottes zum wirklichen, geschichtlichen Menschen ergibt sich, dass Gott selbst, seine Einheit, nicht überzeitlich ist, sondern sich in der Geschichte bestimmt. Er vollzieht seine ewige Wahrheit und Einheit für uns in der Geschichte, in der geschichtlichen Gemeinschaft mit uns – antizipatorisch vollendet in Christus. Das hat verschiedene Konsequenzen. Zunächst bedeutet es, dass in christlichem Verständnis die heilige Schrift, anders als der Koran für den Islam, wesentlich zu interpretieren ist – aus den Bedingungen ihrer Geschichte in die Gegenwart hinein. Denn es gibt ihren Gegenstand überhaupt nur in Gestalt geschichtlicher Bedingtheit. Der Anspruch der Wahrheit Gottes in der Bibel, so wie er gegenwärtig zu verstehen ist, ist also von seiner unmittelbaren geschichtlichen Bedingtheit zu unterscheiden. Auch wenn zur Zeit der Entstehung eines Textes der Anspruch des wahren Gottes zum Beispiel im Namen der Gerechtigkeit der geschichtlichen Realität despotischer Machtansprüche widersprach, so reflektiert doch dieser Widerspruch nicht die damalige geschichtliche Realität überhaupt, sondern er tut dies nur in der damals sprachlich überhaupt möglichen Differenziertheit der die Identität entscheidenden Antagonismen und Negativitäten. Insofern bleibt er für uns unmittelbar geschichtlich bedingt und nicht übertragbar. Die Übertragung des Anspruchs in die Gegenwart aber ist ohne ein divinatorisches Moment nicht denkbar. Vielmehr kann sich die theologische Interpretation nur so denken, dass sie dem Vollzug der Wahrheit und Einheit in der geschichtlichen Gemeinschaft mit uns entspricht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Die Praxis der Interpretation, die diese Unterscheidung von Anspruch und unmittelbarer geschichtlicher Bedingtheit trifft, zeigt schon das Neue Testament im Verhältnis zum Alten, etwa wenn es im Bewusstsein des zum leidenden Menschen gekommenen, den Gottlosen rechtfertigenden Gottes, also im Bewusstsein der geschenkten Gottesgemeinschaft, das Gesetz als zugleich erfüllt und in eschatologischer Freiheit zur Nächstenund zur Feindesliebe überboten versteht. Aber auch schon im Alten Testament selbst gibt es ein religiöses Wissen um ein geschichtliches Gefälle seiner Texte und so auch ein Wissen um ihre geschichtliche Bedingtheit – es ist in sich schon, wie die Bibel insgesamt, ein Interpretationszusammenhang. Insofern liegt das Kriterium für eine theologische Interpretation eines Textes, die seinen Anspruch von seiner unmittelbaren geschichtlichen Bedingtheit unterscheidet, zunächst schon in Texten innerhalb des Kanons, die ihrerseits diesen Text interpretieren. Das heißt im Blick auf die von Assmann diagnostizierte »Sprache der Gewalt« des ursprünglichen Monotheismus (2. These): Sofern sie in bestimmten Texten der hebräischen Bibel bestimmend ist und dies bereits von späteren Interpretationen im Kanon überholt wird, so sind diese Anteile aus den unmittelbaren historischen Bedingungen zu erklären – zum Beispiel im Anschluss an Assmann und andere durch die Realität eines entsprechend gewaltandrohenden weltlichen Königsrechts. Dass aus dem in der Tat revolutionären Gottesverständnis der hebräischen Bibel zur Zeit der Entstehung der entsprechenden Texte notwendig oder auch nur wahrscheinlich Intoleranz oder Gewaltbereitschaft folgten, die es vorher nicht gab, ist nicht nachzuweisen; vielmehr lässt sich annehmen, dass gerade die Übertragung des höchsten Gewaltrechts vom politischen Herrscher auf den einzigen Gott eine erste Depotenzierung darstellt – denn seine Funktion besteht nun nicht mehr darin, faktische menschliche Herrschaft zu begründen, sondern wird auf die Erkenntnis und Gerechtigkeit des in seiner Einzigkeit unverfügbaren Gottes übertragen. Nicht Gewalt im Namen Gottes ist der Skopus, sondern die Einzigkeit Gottes, die alles menschliche Recht relativiert. Dann aber besteht sogleich die hermeneutische Notwendig© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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keit, die Texte im gesamten relevanten Kontext des Alten und dann auch Neuen Testaments wahrzunehmen. Dazu könnte beispielsweise die Wahrnehmung gehören, wie der absoluten, deuteronomistischen Forderung des Gesetzes in spätexilischer Zeit die Verheißung eines eschatologischen, in Gottes eigener, geschenkter Präsenz gestifteten Friedensreiches korrespondiert. Wenn aber in späterer Zeit Texte wie die zitierten aus dem Kanon herausgegriffen und benutzt werden, um Gewalt zu legitimieren, so widerspricht das dem geschichtlichen Sinn, in dem sie allein zu verstehen sind. Die These, dass sich Judentum, Christentum und Islam zwar von Intoleranz und Gewalt entfernt hätten, doch da diese den »Grundtexten der neuen Religion […] notwendigerweise eingeschrieben« seien, sie als Möglichkeit ihrer fundamentalistischen Ausprägung bestehen blieben (vgl. Assmann, 2007, S. 31) – diese These ist dann zwar nicht einfach falsch, aber sehr beschränkt. Sie beschränkt sich in ihrem Wahrnehmungshorizont weitgehend auf eben dieses fundamentalistische Niveau, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Das Gesagte schließt freilich ein, dass es kein theologischer Ausweg sein kann, den in der Tat biblischen Anspruch auf die Einzigkeit und Wahrheit Gottes historisierend wegzudiskutieren. Im Blick darauf lautet meine 3. These: Die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Gott ist theologisch notwendig. Entsprechend liegt die mögliche, vom geschichtlichen Sinnganzen des Kanons aus verstandene Gegenwartsbedeutung der von Assmann zitierten Texte für das christliche Selbstverständnis darin, dass sie eine Entscheidung des menschlichen Lebens am Gottesverhältnis beanspruchen – denn das wahre Leben sehen sie im Bund Gottes, das Gegenteil (den Tod) behaupten sie als Konsequenz der Verkehrung, die wesentlich darin besteht, dass der Mensch sich selbst Gott oder Götter, das heißt, Identität vermittelnde Instanzen einsetzt. Wenn (mit Luther) ein Gott das ist, worauf man traut, woran man glaubt, woran man sein Herz hängt, dann ist eben die entscheidende Frage, ob ich es dabei mit dem Anderen oder mit einer menschlichen Fiktion zu tun habe. Doch wie ist die Wahrheit Gottes und die Nichtigkeit des falschen Gottes zu realisieren? Zu zeigen wäre, dass im neutestamentlichen Verständnis, dem aber auch eine breite, aufsteigende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Linie im Alten Testament entspricht, die Nichtigkeit der falschen Götter nicht durch Gewalt, sondern durch Erkenntnis vollzogen wird – und zwar durch eine existenzielle Erkenntnis, denn der Nichtigkeit der fingierten, Identität vermittelnden Instanzen entspricht gleichursprünglich die Nichtigkeit (der Illusionscharakter) des entsprechenden menschlichen Selbstverständnisses. Der Tod des alten Menschen als Wahrheit seiner Getrenntheit wird nicht physisch realisiert, sondern als Selbsterkenntnis. So verstehe ich beispielsweise Röm 6: Am Kreuz Christi realisiert der Gläubige seine tödliche Getrenntheit – aber als die, die Gott aufhebt. Entsprechend wird neutestamentlich die Tatsache, dass der wahre Gott Glauben findet, nicht als geforderter Gehorsamsakt verstanden, sondern so, dass Gott sich eben in jener Nichtigkeit durch die Verkündigung seines vergebenden Kommens mitteilt und so die Menschen zu einer Liebe befreit, die alles Gesetz überbietet. Also ist im christlichen Sinn das Kriterium für den wahren Gott das Kreuz: seine Identifikation mit dem ohnmächtigen, leidenden Menschen. Daraus beziehungsweise aus der christlich verstandenen Geschichtlichkeit der Wahrheit Gottes folgt etwas für das neutestamentliche Verhältnis zu den anderen Religionen. Zum einen folgt aus dem Bewusstsein, dass der eine Gott sich mit dem Menschen überhaupt identifiziert hat, dass dies auch alle Menschen angeht und ihnen um der Gemeinschaft willen in ihrer Sprache zu predigen ist. Zum anderen folgt aus dem Bewusstsein der Geschichtlichkeit und Universalität, dass dabei durchaus an frühere Offenbarungen Gottes auch unter den Völkern (oder auch an eine Verehrung des unbekannten Gottes) anzuknüpfen ist. Zugleich ist dem Götzendienst zu widersprechen, der als Verkehrung solcher ursprünglichen Offenbarung zu verstehen ist. Schließlich aber wird alle frühere Offenbarung als durch die Menschwerdung Gottes beziehungsweise durch die mit der Auferstehung Jesu geglaubte letzte Gemeinschaft von Gott und Mensch überboten verstanden (vgl. Apg 14,8 ff., 17,16 ff.; Röm 1,19 ff., 2,2 ff.). In der christlichen Religionsgeschichte schloss das die Möglichkeit ein, die Götter der Völker depotenziert als Dämonen oder Engel zu verstehen – was durchaus eine relative Übersetzbarkeit bedeutete. Teilt Gott sich in seiner Identifikation mit dem leidenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Menschen mit, so kulminiert darin der Gedanke der Geschichtlichkeit seiner Wahrheit. Die entsprechende Radikalität, in der das Neue Testament und die nachfolgende christliche Theologie die Einheit Gottes neu bestimmt, lässt, so meine 4. These, den Begriff des Monotheismus überhaupt als abstrakten Oberbegriff von Judentum, Islam und Christentum als zweifelhaft erscheinen. Dieser Einwand gilt erst recht, wenn pauschal von der Religion des Monotheismus die Rede ist, und schließt auch Assmanns entsprechend einseitiges, an Gesetzlichkeit orientiertes Verständnis von heiliger Schrift ein. Solche Pauschalierungen sind hermeneutisch fahrlässig. Anstelle einer Auseinandersetzung mit dem neutestamentlichen Gottesverständnis findet der Leser bloße Versicherungen der Kontinuität, etwa der »Idee des eifersüchtigen Gottes« (vgl. Assmann, 2009, S. 33). Über den Begriff beziehungsweise die Begründung der Einheit Gottes wird wenig nachgedacht. Schon indem aber der Begriff der Einheit Gottes unreflektiert von der Logik abstrakter Negation bestimmt wird, wird die Logik von Herrschaft geradezu in ihn hineinprojiziert (vgl. Ringleben, 2007, etwa S. 160). Dagegen wird christlich die Einheit Gottes als eine gedacht, die er selbst lebendig vollzieht. Indem sie sich in sich und für uns in Kommunikation vollzieht, setzt sie in sich und in Gestalt der Schöpfung Andersheit voraus: in sich die trinitarische Selbstunterscheidung Gottes in den Vater und den Sohn, die zugleich schöpferisch ist, indem sie auf Gemeinschaft mit dem Menschen zielt (vgl. auch die Diskussion bei Lüning, 2009). Seine Einheit aber vollzieht Gott als Geist, indem er kommuniziert: zugleich ewig in sich und geschichtlich mit dem Menschen. Indem er er selbst ist, ist er auch seine Identität mit dem Anderen. Deswegen kann er auch die Liebe heißen. Dass aber Gott sich seiner abstrakten Einheit entäußert und in die Gemeinschaft mit dem Anderen in seine Negativität begibt – für nichts anderes steht das Kreuz als Symbol des Christentums (vgl. Phil 2,5 – 11) –, das bedeutet die Freiheit des Menschen, auch den Feind zu lieben: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel (Mt 5,43 – 45). Im Übrigen, das ist meine 5. und letzte These, entspricht dem mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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der Mosaischen Unterscheidung angezeigten Gedanken des einzigen, welttranszendenten Gottes eine anthropologische Notwendigkeit. Das heißt nicht, dass er selbst anthropologisch notwendig heißen könnte – aber er markiert das Erreichen einer notwendigen Stufe in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins oder Geistes. Das sieht auch Assmann so. Dem Gedanken der Transzendenz des einen Schöpfers gegenüber der gegenständlichen Welt entspricht eine menschliche Reflexion in sich aus der Vielheit der Welt überhaupt. Eine unmittelbar vielfältige Göttlichkeit in der Welt verhindert das, ja es fehlt der Begriff von Welt, die als solche auch möglicher Gegenstand einer einheitlichen, methodischen Erkenntnis sein kann. Dem Gegenüber des einzigen Gottes zur vielfältigen Welt entspricht das Gegenüber einer in sich reflektierten menschlichen Subjektivität zur Welt. In diesem Sinn ist der Mensch nach Gen 1 dazu bestimmt, Bild Gottes, Gegenüber Gottes zu sein. Die pauschale Redeweise von einer strukturellen Intoleranz des Monotheismus oder einer monotheistischen Sprache der Gewalt ähnelt in ihrer hermeneutischen Dürftigkeit dem Fundamentalismus, den sie bekämpfen will. Dem entspricht, dass der christliche (aber bereits alttestamentlich vorbereitete) Gedanke von der lebendigen, auf Gemeinschaft zielenden und deshalb Andersheit voraussetzenden Einheit Gottes nicht wahrgenommen wird. Und dem entspricht doch wohl auch der mangelnde Mut der Konkretion, den Koran als Grundtext eines gewaltbereiten, religiös-politischen Totalitarismus zu interpretieren, der real ist.
Literatur Angenendt, A. (2005). Gewalttätiger Monotheismus – humaner Polytheismus? Stimmen der Zeit, 5, 319 – 328. Angenendt, A. (2006). Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Münster : Aschendorff. Assmann, J. (2003). Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (4. Aufl.). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Assmann, J. (2004). Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus (2. Aufl.). München: Hanser. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Assmann, J. (2007). Gott und die Götter. In G. Palmer (Hrsg.), Fragen nach dem einen Gott (S. 29 – 51). Tübingen: Mohr Siebeck. Assmann, J. (2009). Monotheismus und die Sprache der Gewalt (5. Aufl.). Wien: Picus. Keel, O. (2004). Monotheismus – ein göttlicher Makel? Über eine allzu bequeme Anklage. Neue Zürcher Zeitung vom 30. 10. 2004, S. 68. Kleffmann, T. (2006). Religion als menschliche Deutung – über Sinn und Grenze eines aktuellen religionsphilosophischen Ansatzes. In I. U. Dalferth, H. P. Großhans (Hrsg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe (S. 285 – 300). Tübingen: Mohr Siebeck. Lüning, P. (2009). Trinität und Gewalt. Ist die Lehre von der Dreieinigkeit der Schlüssel zur Klärung des Gewaltproblems in der Religion? Trierer Theologische Zeitschrift, 3, 181 – 200. Markschies, C. (2007). Was kostet der Monotheismus? Einige neue Beobachtungen zu einer aktuellen Debatte aus der Spätantike. In G. Palmer (Hrsg.), Fragen nach dem einen Gott (S. 283 – 296). Tübingen: Mohr Siebeck. Marquard, O. (1981). Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam. Ringleben, J. (2007). »Der Eine – und nicht die Vielen.« Konkreter Monotheismus. In G. Palmer (Hrsg.), Fragen nach dem einen Gott (S. 147 – 161). Tübingen: Mohr Siebeck. Schäfer, P. (2004). Das jüdische Monopol. Jan Assmann und der Monotheismus. Süddeutsche Zeitung vom 11. 8. 2004. Tillich, P. (1958). Systematische Theologie I. Berlin u. New York: de Gruyter. Wälchli, M. (2007). Fundamentalismus im Lichte der mosaischen Unterscheidung. In G. Palmer (Hrsg.), Fragen nach dem einen Gott (S. 191 – 216). Tübingen: Mohr Siebeck.
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Religiöse Erziehung als Schwarze Pädagogik Beobachtungen und Überlegungen zum destruktiven Potenzial religiöser Erziehung
»Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn bald«, heißt es schon im Alten Testament (Spr 13,24). Unter Schwarzer Pädagogik (Rutschky, 1977; Mallet, 1987) versteht man auf dieser Linie die Schatten- und Nachtseite von Erziehung, also Erziehungstheorien und -praktiken, die Heranwachsende rigorosen Gehorsamsdiktaten unterwerfen, sie abrichten und mit entsprechenden Sanktionen belegen, sie also letztendlich (mehr) destruieren, statt ihnen fördernd und fordernd auf ihrem Weg in das Leben zu helfen. Die mich im Folgenden leitende Fragestellung lautet: Ist religiöse Erziehung Schwarze Pädagogik beziehungsweise wie sieht es mit ihrem destruktiven Potenzial aus? Darauf möchte ich eine differenzierte Antwort geben und mit dem Willen zur Objektivität einige mir relevant erscheinende Aspekte dieses Themas abschreiten. Dabei sind meine Ausführungen – niemand kann ernsthaft voraussetzungslos zu diesem Thema Stellung nehmen – die eines Theologen und Religionspädagogen, der sich berufsmäßig mit religiöser Erziehung, Sozialisation und Bildung beschäftigt. Meine Vorgehensweise im Weiteren sieht so aus: In einem ersten Abschnitt führe ich einiges wenige Grundsätzliche zu Erziehung und religiöser Erziehung an. Ein zweiter Abschnitt soll exemplarisch Beispiele problematischer, negativer religiöser Erziehung (samt ihrer Bedingtheit) vor Augen führen und in einem dritten Abschnitt werde ich einen Blick auf religiöse Erziehung heute und morgen werfen.
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Einige grundsätzliche Anmerkungen zu Erziehung und religiöser Erziehung Während von Bildung seit vielen Jahren fast alle reden – Medien, Erziehungswissenschaftler, Pädagogen und Bildungstheoretiker –, ist von Erziehung erheblich weniger die Rede. Ausnahmen (Bueb, 2006; Herman, 2006; Winterhoff, 2008) und reißerische Aufmacher in der Boulevardpresse bestätigen die Regel, und das obwohl Erziehung für die Subjekt- beziehungsweise Personwerdung des Menschen fundamental ist (Hentig, 2009). Unsere deutschen Wörter erziehen, Erziehung wie die lateinischen Äquivalente educare, erudire (rudis = roh) erinnern uns daran, dass wir als Menschen gleichsam un-fertig zur Welt kommen. Nicht instinktgebunden beziehungsweise -gesichert wie die Tiere müssen wir eine Zeit lang an der Hand genommen und geführt werden, sind also fundamental auf entsprechende Erziehungs- und Lernvorgaben seitens der Älteren angewiesen. Diese als persönlichkeitsfördernde »Autoritäten« (lat. augere) vermehren durch vielfältige Anregungen die Lebensmöglichkeiten von Heranwachsenden, fördern sie durch Bestärkung und Begrenzung, je jünger Heranwachsende sind, desto mehr – je älter, desto weniger. Ziel der Erziehung muss allemal die Freigabe der Heranwachsenden sein, die selbst in ihre Bestimmung und Individualität hineinfinden sollen. Erziehung hilft also dabei, dass wir unsere animalische Existenz transzendieren und zu Subjekten werden können. Da wir ferner – ebenfalls im Unterschied zu den Tieren – nicht von Anbeginn unseres Lebens an über eine fertige Sinnformel, Weltanschauung oder Religion verfügen, sind wir als für die ganze andrängende Wirklichkeit offene Lebewesen (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen), überlebensnotwendig auf entsprechende Vor-Gaben seitens der Älteren beziehungsweise der Eltern angewiesen. Im Rahmen dieser Weltoffenheit und einer fundamentalen Sinnbedürftigkeit sind Heranwachsende auch für (christliche) Religion und religiöse Erziehung offen. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka, der in den 1970er-Jahren eine radikal kritische Erziehungswissenschaft vertrat, in welcher die Wert-
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und Sinnfrage als unwissenschaftlich ausgeklammert war, formuliert in den 1990er-Jahren, »daß es zum seelischen Existenzminimum des Menschen gehört, religiöse und/oder weltanschauliche Glaubensüberzeugungen zu haben, oder zumindest haben zu dürfen« (Brezinka, 1992, S. 88). Man kann es daher mit dem amerikanischen Kinderpsychologen Bruno Bettelheim (1903 – 1990) als eine der wichtigsten, schwierigsten, aber auch schönsten Aufgaben der Erziehung erachten, Kindern dabei zu helfen, »einen Sinn im Leben zu finden« (Bettelheim, 1977, S. 9). Speziell unter religiöser Erziehung verstehe ich als evangelischer Theologe und Religionspädagoge näherhin formal alle gerichteten und ungerichteten (intentionalen wie nichtintentionalen) Einwirkungen seitens Erziehender (Eltern/Älterer) auf Kinder und Heranwachsende im Sinne deren Hineinnahme in ein komplexes Lebens- und Wirklichkeitsmodell, das Kennen- und Erlernen dieses Modells, wozu auch so etwas wie eine »religiöse Muttersprache« (Richard Schröder) gehört. Inhaltlich gesehen meine ich mit religiöser Erziehung im christlich-abendländischen Kontext die Erschließung und Begehung (Christoph Bizer) einer Welt-Anschauung aus dem Reservoir des christlichen Glaubens mit allen Sinnen. Christliche Religion liefert Erziehern für die religiöse Erziehung Bilder, Vorstellungen, Geschichten, Visionen (wie z. B. in Gestalt von Gleichnissen, Wundergeschichten, Psalmen und Schöpfungsliedern), die den Heranwachsenden dabei helfen können, selbst zu einer religiösen WeltAnschauung zu kommen und zu gebildeten religiösen Subjekten zu werden.
Drei Beispiele Schwarzer religiöser Erziehung Beispiele für destruktive Schwarze religiöse Erziehung gibt es in Vielzahl. Da ich mich jedoch mit der Thematik »Religiöse Erziehung als Schwarze Pädagogik« grundsätzlich auseinandersetzen und mich nicht nur auf eine Auflistung von Negativa konzentrieren möchte, beschränke ich mich im Folgenden auf drei Exempla. Die beiden ersten zeigen zwei Menschen des 20. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Jahrhunderts, die als Objekte religiöse Erziehung an Leib und Seele erlitten haben. Das dritte ältere Beispiel führt einen »Täter« beziehungsweise Theoretiker problematischer religiöser Erziehung vor Augen. 1. In der Form einer direkten Gottesanrede beschreibt der Psychoanalytiker Tilmann Moser (*1939) die Geschichte seiner destruktiven religiösen Erziehung, die er im Nachhinein als »Gottesvergiftung« (Moser, 1976) empfindet. Am Anfang seines Buches findet sich folgende massive »negative« Confessio: »Ich habe unter niemandem so gelitten in meinem Leben wie unter deiner mir aufgezwungenen Existenz. Indem ich dir zeige, wie du als Krankheit in mich eingezogen bist, und als Krankheit fast über mich hinweggewachsen wärst, hoffe ich, mich ein Stück weit von dir heilen zu können. Ich weiß, daß du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreiben kann, bis zu meinem Tode hausen wirst. Sie werden mich beißen, und du wirst mich noch mit Phantomschmerzen quälen, wenn du längst wegamputiert bist« (Moser, 1976, S. 11).
Moser schildert sodann verschiedene Details der ihm zuteil gewordenen religiösen Erziehung: »Aber weißt du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, daß du alles hörst und alles siehst und auch die geheimen Gedanken erkennen kannst. Hier hakte es sehr früh aus mit der Menschenwürde; doch dies ist ein Begriff der Erwachsenenwelt. In der Kinderwelt sieht das dann so aus, daß man sich elend fühlt, weil du einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusiehst und zuhörst und mit Gedankenlesen beschäftigt bist« (Moser, 1976, S. 13). »Ganz wahllos fallen mir ein paar Sachen ein, die dich traurig gemacht haben, und das war ja immer das Schlimmste: dich traurig machen – ja, die ganze Last der Sorge um dein Befinden lag beständig auf mir, du kränkbare, empfindliche Person, die schon depressiv zu werden drohte, wenn ich mir die Zähne nicht geputzt hatte […] ›Herr, erhebe dein Antlitz über uns […]‹, so haben wir am Ende jedes Gottesdienstes gefleht, als gäbe es keine größere Sehnsucht, als immerzu dein ewig-kontrollierendes big-brother-Gesicht über uns an der Decke zu sehen« (Moser, 1976, S. 14). »Fast zwanzig Jahre lang war es mein oberstes Ziel, dir zu gefallen. Das bedeutet nicht, daß ich besonders brav gewesen wäre, sondern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Werner H. Ritter daß ich immer und überall Schuldgefühle hatte« (Moser, 1976, S. 16). »Du hast mir so gründlich die Gewissheit geraubt, mich jemals in Ordnung fühlen zu dürfen, mich mit mir aussöhnen, mich o. k. finden zu können« (Moser, 1976, S. 17).
Pointiert formuliert: Das destruktive Potenzial solcher Art religiöser Erziehung ist – wie insbesondere das letzte Zitat zeigt – gewaltig und wirkt lange, womöglich dauerhaft nach.1 2. Der Sänger und Poet Konstantin Wecker (*1947) gibt seinem autobiografischen Rückblick auf seine religiöse Erziehung die bezeichnende Überschrift »Sieht Gott wirklich alles, Papa?« (Wecker, 2004). In der Erinnerung verbleibt ihm dies als Haupteindruck: »Fast alle meine Religionslehrer machten mir Angst. Nicht, dass sie selbst so Furcht einflößend gewesen wären, aber der liebe Gott, von dem sie mir erzählten und von dem ich doch so viel wissen wollte, war nicht lieb. Er schaute mahnend unter die Bettdecke, drohte bei jeder Gelegenheit mit dem Jüngsten Gericht und den Qualen der Hölle und war sehr, sehr streng. Und mir kam er damals auch ganz traurig vor, denn wer so streng ist, der ist auch ganz allein. Heute ist mir klar, dass es kein bequemeres Erziehungsmittel gibt für aufsässige kleine Jungs und Mädchen, als diesen unsichtbaren, bösen alten Mann aus der Trickkiste zu holen, der einen auch da noch beobachtet, wo die Eltern oder die Lehrer nicht hinsehen können« (Wecker, 2004, S. 11).
Quintessenz: Für Wecker ist religiöse Erziehung ein Erwachsenen willkommenes repressives Erziehungsmittel zur Disziplinierung »aufsässiger« Kinder – big brother is watching you! 1 Interessant erscheint mir in dem Zusammenhang Folgendes: Tilmann Moser hat fast 30 Jahre nach seiner »Gottesvergiftung« (1976) in veränderter religiöser Landschaft eine neue, anders gelagerte Publikation zur Sache mit dem Titel vorgelegt »Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott« (Moser, 2003). Hier zeigt er sich »offen […] für das Transzendente, für Gotteserfahrungen meiner Patienten, seien sie nun destruktiver oder heilsamer Natur« (Moser, 2003, S. 18). Diese veränderte Sicht Mosers wird durch meine Ausführungen im 3. Teil meines Beitrags verständlich.
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3. August Hermann Francke (1663 – 1727), Professor für Pädagogik in Halle und Begründer der späteren Francke’schen Anstalten für vernachlässigte Kinder und Jugendliche (Welp, 1977; Obst, 2002) ging es als Vertreter des lutherischen Pietismus (eine protestantische Frömmigkeitsrichtung) vor allem um eine der Frömmigkeit dienende Erneuerung der Erziehung. Sein erklärtes Ziel war es, Kinder zur Gottseligkeit zu erziehen; Gottes Wort und Gottes Ehre sollten für ihr Leben alleinige Richtschnur sein. Dafür waren ihm Gehorsam – für ihn »die eigentliche Tugend« –, Wahrheitsliebe, Demut, Willfährigkeit, Bescheidenheit und Fleiß wichtig. Um Erziehung beziehungsweise Zucht mit Erfolg auszuüben, geht es nach Francke nicht ohne Prügel ab, was er zu seiner Zeit nicht weiter begründen muss, vielmehr kann er sich im Sinne des Zeitgeistes auf die Erfahrung als besten Lehrmeister berufen: Man kann die Rute nicht aus der Kinderzucht verbannen. Das wohl Schlimmste an den entsprechenden Prügelanweisungen Franckes ist dabei, dass er sie mit biblischen Versen untermauert, wobei sich der Zögling schlussendlich bei dem zu bedanken hat, der ihn bestraft und schlägt. Prügel waren indes nur ein Teil des Francke’schen Erziehungsprogramms. Entscheidender und der eigentliche Nerv der Erziehung ist die sogenannte Inspektion. Sie ist kritisch gesehen nichts anderes als eine Dauerüberwachung von Kindern und Jugendlichen, damit diese nichts Böses anstellen (konnten). Dementsprechend werden Zöglinge von Inspektoren in den Francke’schen Anstalten dauerhaft kontrolliert: »ein Aug’, das alles sieht«! – (Religiöse) Erziehung im Sinne einer Kontrollinstanz »von oben«, die Heranwachsende klein hält – das ist durchaus Schwarze Pädagogik! Die angeführten drei Beispiele religiöser Erziehung muten uns Heutige in der Rückschau spätestens seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in ihrer Destruktivität als problematisch an. Man muss jedoch, um den geschichtlichen Verhältnissen gerecht zu werden, darauf hinweisen, dass sie zu ihrer Zeit (weithin) als richtig und positiv empfunden wurden, da sie (mehrheitlich) dem damaligen Zeitgeist entsprachen: Als Kind ihrer jeweiligen Zeit partizipiert (religiöse) Erziehung an deren Gepräge und normativen Vorstellungen. Genauer heißt das: Mit ursächlich für die von uns heute als destruktiv empfundene Gestalt der drei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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religiösen Erziehungsbeispiele sind zum einen (a) eine traditionale, jahrhundertelang übliche Unterordnungs- und Gehorsamskultur, in die religiöse Erziehung als Kind ihrer Zeit massiv involviert ist, und (b) bestimmte biblische Erziehungsvorstellungen. (a) Bis in die 1960er-Jahre hinein sind in Erziehung und Kultur des deutschen Sprachraums Gehorsam und Unterordnung vorherrschend, geschichtlich zwar unterbrochen von Strömungen der Aufklärungspädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts – man denke an Friedrich A. W. Diesterweg (1790 – 1866) – und von der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts, die liberal und kindorientiert war. Gleichwohl zeichnet die vergangenen Jahrhunderte seit dem Mittelalter eine massive Untertanenmentalität aus, die sich natürlich auch in Erziehung generell, religiöser Erziehung speziell zeigt. »Ein gutes Kind gehorcht geschwind« heißt es in diesem Sinne in einem weit verbreiteten Religionsunterrichtsbuch aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das bis weit in die 1960er-Jahre hinein Verwendung fand (Veit, 1938, S. 6). Offensichtlich partizipieren Kirche und religiöse Erziehung in traditionalen Zeiten am gesellschaftlich weit verbreiteten Wunsch nach braven, willigen, sich unterordnenden Kindern (Bucher, 1997), ein Umstand, der sich erst in den 1960er-, 1970er-Jahren ändern wird. (b) Für religiöse Erziehung ist selbstverständlich auch die Bibel als Ur-Kunde des christlichen Glaubens von hoher Bedeutung (Ritter, 2006a, S. 121 ff.). Nun ist eine einheitliche biblische Erziehungslehre oder -theorie zwar schon deswegen nicht zu erwarten, weil die Bibel eine Sammlung von Gelegenheitsschriften ist, weswegen sich in ihr durchaus unterschiedliche Aussagen zur Erziehung finden. Gleichwohl lassen sich, wie für den altorientalischen und antiken Zeitraum generell charakteristisch, in der Bibel idealtypisch härtere und weichere Erziehungsvorstellungen erkennen. Während die härtere auf Zucht, Ordnung, Gehorsam und Unterordnung achtet, orientiert sich die weichere an Liebe, Herzlichkeit und Freundlichkeit gegenüber Kindern (vgl. Ritter, 2006a, S. 122 – 125). Differenziert betrachtet kommt dieses ambivalente Verständnis von Erziehung im Allgemeinen und von religiöser Erziehung im Besonderen, welches in den biblischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Schriften aufscheint, nicht von ungefähr, sondern ist meines Erachtens in einem doppelpoligen Gottesverständnis begründet: Gott, wie er uns im Alten und Neuen Testament dargestellt wird, wird dort sowohl als nah, barmherzig, gnädig, gütig und Menschen zugewandt gezeichnet, er hat aber auch andere Seiten wie die des fordernden, auf Gehorsam bestehenden Gottes, der straft, der die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht und als ferner, sperriger, unnahbarer Gott erscheint (Ritter, 2006b). Blickt man, soweit das möglich ist, auf die Geschichte der christlichen Erziehung in ihrer Gänze, dann hat sich, wie ich meine, der von mir sogenannte härtere Typ biblischer Texte zur Erziehung als wirkungsgeschichtlich einflussreicher gezeigt. Das heißt nicht, dass christliche Eltern und Erzieher ihre Kinder nicht auch liebevoll (religiös) erzogen hätten, aber die dunkleren, destruktiven Komponenten haben sich wohl immer wieder als stärker erwiesen. Einer genaueren Untersuchung wert wäre die Frage, ob das Zusammentreffen einer speziell deutschen Neigung zu Untertanentum und Gehorsam mit den auch im biblischen Gedankengut anzutreffenden Gehorsams- und Unterordnungsvorstellungen jenes problematische Amalgam destruktiver religiöser Erziehung gefördert und geschaffen hat, wie es immer wieder bis in die Gegenwart hinein aktenkundig geworden ist: Drohbotschaft statt Frohbotschaft! Nichtsdestotrotz bieten die biblischen Texte, wie ich meine, auch reiches Anregungspotenzial für einen liebe- und achtungsvollen Umgang mit Heranwachsenden, der in der religiösen Erziehung heute nutzbar gemacht werden kann.
Religiöse Erziehung heute und morgen Mittlerweile hat der gesellschaftliche Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts neue Lebensstile – religiöse Lebensstile inklusive – hervorgebracht, die bis heute nachwirken und sich auch in der religiösen Erziehung der Gegenwart bemerkbar machen. Wichtige Merkmale hierfür sind : Institutionen, Traditionen und Autoritäten allgemein – religiöse im Besonderen – wurden, zum Teil recht pauschal, als unmenschlich, frei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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heitsverhindernd und antiemanzipatorisch wahrgenommen und entsprechend kritisiert. Ein plakatives Beispiel für diese geschichtliche Entwicklung stellt der nachfolgende Text dar, der in den 1940er, 1950er-Jahren völlig undenkbar gewesen wäre : Lob des Ungehorsams Sie waren sieben Geißlein Und durften überall reinschaun, Nur nicht in den Uhrenkasten, Das könnte die Uhr verderben, Hatte die Mutter gesagt. Es waren sechs artige Geißlein, Die wollten überall reinschaun, Nur nicht in den Uhrenkasten, Das könnte die Uhr verderben, hatte die Mutter gesagt. Es war ein unfolgsames Geißlein, Das wollte überall reinschaun, Auch in den Uhrenkasten, Da hatte es die Uhr verdorben, Wie es die Mutter gesagt. Da kam der böse Wolf. Es waren sechs artige Geißlein, Die versteckten sich, als der Wolf kam, Unterm Tisch, unterm Bett, unterm Sessel, Und keines im Uhrenkasten, Sie aber fraß der Wolf. Es war ein unartiges Geißlein, Das sprang in den Uhrenkasten, Es wusste, dass er hohl war, Dort hat’s der Wolf nicht gefunden, So ist es am Leben geblieben. Da war die Mutter Geiß aber froh. (F. Fühmann, in: Fritz, Munz u. Tachau, 1976, S. 96)
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Erzählt wird eine Anti-Geschichte der Sieben Geißlein, die – gemäß dem Märchen der Brüder Grimm – traditionell als brav und gehorsam gelten. Vorliegender Text lobt nun in kritischer Relektüre jener alten Geschichte eines der Geißlein ausdrücklich, weil es etwas getan hat, was man besser nicht tut, nämlich ungehorsam sein – was ihm letztlich das Leben rettet. Dieser Text von Franz Fühmann, der in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: »Nein-Buch für Kinder« (Kilian u. Stiller, 1973) steht, ist – man lese und staune – auch in einem Religionsbuch der 1970erJahre für 5. und 6. Klassen (Fritz, Munz u. Tachau, 1976) abgedruckt. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich die massive Veränderung, die sich mit den 1970er Jahren und folgenden Jahrzehnten vollzieht: Die Relativierung einer Gehorsams- und Unterdrückungskultur zugunsten einer Befreiungs- und Selbstständigkeitskultur, die sich auch im Kontext von Religion produktiv auswirkt und die traditionale religiöse Erziehung mit ihren destruktiven Potenzialen zurückdrängt. Unterstützt wird dies durch weitere Indikatoren gesamtgesellschaftlicher Veränderungen wie Individualisierung, Pluralisierung und Privatisierung, die religiöse Erziehung vielgestaltiger und individueller ausfallen lassen. All dies zusammen genommen setzt im ausgehenden 20. Jahrhundert eine – durchaus positiv zu verstehende – liberale, ja »weichere« religiöse Erziehung in Gang, die jenseits von Unterdrückung und Destruktivität freundlich und freiheitlich an den Heranwachsenden orientiert ist und in deren Zentrum ein »lieber« Gott steht, der (ausschließlich) barmherzig und den Menschen verständnis- und liebevoll – »biophil« mit Erich Fromm gesprochen – zugewandt dargestellt wird. Dabei bleiben dessen »dunkle Seiten« weithin, nicht unproblematisch, ausgespart, was wiederum die »Weich«-Zeichnung religiöser Erziehung befördert. Insgesamt fällt zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Unterschied zu den 1970er-Jahren und folgenden Jahrzehnten im Sinne eines (positiven) Paradigmenwechsels auf, dass entgegen allen teilweise überkommenen Vorbehalten gegenüber Religion und religiöser Erziehung generell, den Vorwürfen destruktiver religiöser Erziehung speziell offensichtlich ein gesellschaftlicher wie individueller Bedarf an religiöser Erziehung besteht. Zwar gibt es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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auch heute Eltern beziehungsweise Erwachsene, die aufgrund negativer Erfahrungen mit ihrer eigenen religiösen Erziehung sich mit der religiösen Erziehung von Kindern schwer tun; gibt es Erwachsene beziehungsweise Eltern, die aus ganz unterschiedlichen Gründen familiale religiöse Erziehung lieber aussparen und an religiöse Experten in Betreuungseinrichtungen und Schulen delegieren wollen; gibt es auch heute Eltern und Erzieher, die Angst haben, durch Erziehung allgemein, religiöse Erziehung insbesondere, Kinder zu beeinflussen und zu manipulieren, sie also auf etwas hin zu erziehen, was diese gar nicht wollen. Daher rührt bis heute die Neigung mancher Eltern, dem Kind religiös nicht vorgreifen zu wollen, sondern es im Sinne von Rousseau sich entwickeln und später selbst entscheiden zu lassen. Nur nebenbei angemerkt: So sehr diese Angst verständlich und zu achten ist – kann man Erziehung allgemein und religiöse Erziehung speziell wirklich aussparen? Ist Nicht-Erziehung nicht auch ein erzieherischer Vorgriff und damit eben doch wieder Erziehung? Und muss man nicht das, worüber man als Kind oder Heranwachsender entscheiden soll, vorher lebensprozessual durch »learning by doing« kennen gelernt haben? Wie Entscheidung nicht auf das punctum mathematicum des kognitiven Entscheidungsaktes zu beschränken ist, so beginnt das Leben des Menschen nicht mit Denken und freiem Entscheiden, sondern mit der Übernahme von Verhaltensmustern. Das heißt, das Kind muss sich eine Orientierungs- und Verhaltensbasis erwerben, bevor es selbstständig denken und entscheiden kann (Fraas, 1978). Aus diesem Grund ist die Gefahr einer Manipulation, auch wenn sie nicht zu leugnen ist, kein wirklich zwingendes Argument, auf Erziehung im Allgemeinen, religiöse Erziehung im Besonderen zu verzichten. Ganz in diesem Sinne zeigen Umfragen (Zinnecker u. Silbereisen, 1996) und qualitativ empirische Untersuchungen (Schwab, 1995) überraschend deutlich, dass es in sehr vielen Familien ein beachtliches Interesse an religiöser Erziehung gibt, sich diese »Familienreligiosität« aber anders konkretisiert als die, die heute die Kirchen erwarten. Diese (Familien-)Religiosität ist stark individualisiert und pluralisiert und Eltern legen dabei großen Wert auf eigene Entscheidungen der Kinder ; zwar steht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Religion hier nicht im Lebensvordergrund, bildet aber den unverzichtbaren Rahmen und Horizont des Lebens und wird zwischen den Generationen mit deutlicher Prägekraft tradiert, weil man aus seiner religiösen (Familien-)Biografie nicht einfach aussteigen kann oder will. Wenn dem Bertelsmann-Religionsmonitor 2008 (Bertelsmannstiftung, 2007) zufolge über 70 % der erwachsenen Deutschen und 74 % der Kinder an Gott glauben, muss einen dieser Bedarf an Religion nicht wundern. Es sieht also ganz danach aus, dass gerade Heranwachsende für Religion offen sind und sie sich hier, weil es ihnen wichtig ist, orientieren wollen. Diese religiöse Ansprechbarkeit heutiger Kinder und Jugendlicher ist immer wieder erstaunlich; ganz offensichtlich sind sie nämlich – auch in Sachen Religion – weniger Freiheitssucher wie in den 1970er-Jahren als vielmehr Ordnungs- und Orientierungssucher (Zinnecker, Behnken, Maschke u. Stecher, 2002). Von daher ist es nur folgerichtig, wenn die Religionspädagogik seit etlichen Jahren davon spricht, dass Kinder ein »Recht auf Religion« haben (Schweitzer, 2000) und sie nicht um Religion und Gott betrogen werden dürfen (Biesinger, 1994a), auch nicht angesichts elterlicher Unsicherheiten und der Gefahr problematischer religiöser Erziehung. Wer Kindern religiöse Erziehung vorenthält, beraubt sie, so ein markanter religionspädagogischer Common Sense heute, einer wichtigen Entwicklungsmöglichkeit, die entscheidend zur Selbstwerdung und Orientierungsfähigkeit inmitten religiöser Vielfalt beiträgt. Deswegen ist dem katholischen Religionspädagogen Albert Biesinger zufolge eine »Trendwende in der Begründung religiöser Erziehung« beziehungsweise »eine Trendwende religiöser Erziehung« angesagt: Weg von der Defensive hin zur Überzeugung: »Wer seinem Kind die Beziehung zu Gott eröffnet, erschließt ihm neue Räume von Weltdeutung und Hoffnung für das eigene Leben« (Biesinger, 1994b, S. 652 ff.). Will sagen: Heute nur vor den Gefahren einer »Gottesvergiftung« zu warnen und auf negative Beispiele religiöser Erziehung zu verweisen, reicht angesichts der massiven Veränderung im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und des Wandels religiöser Erziehung in den letzten Jahrzehnten nicht mehr aus. Kann es nicht sein, dass die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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»gesunde« Entwicklung von Kindern auch dann gefährdet ist, »wenn nicht zu viel, sondern zu wenig religiös erzogen wird und wenn religiöse Erfahrungen sprachlos bleiben und nicht mehr mit anderen geteilt werden können« (Schweitzer, 2000, S. 43)? Muss, wer von »Gottesvergiftung« und destruktiver religiöser Erziehung spricht, nicht auch die Gefahr religiöser Unbehaustheit sehen und vor einem religiösen »Kaspar-Hauser«-Syndrom warnen? Kaspar-Hauser-Syndrom als Konkretionsgestalt problematischer Kindheit, wenn und wo Kindern die fundamentale und elementare, auch religiöse, Begleitung und Unterstützung beim Aufwachsen in seiner Komplexität vorenthalten wird. Was ist hinsichtlich der Zukunft religiöser Erziehung zu sagen? Ich beschränke mich auf einige wenige Fragen beziehungsweise Anmerkungen. Brauchen Kinder und Jugendliche künftig religiöse Erziehung? Sicher nicht alle, aber für eine Mehrzahl wird dies weiterhin der Fall sein, was mit der condition humaine (s. meinen 1. Abschnitt) zusammenhängt. Freilich machen Schnelllebigkeit und -taktigkeit unserer Zeit, Multimedialität und Dauermobilität sowie die Priorisierung von Machbarkeit, rascher Bewältigung, schneller Verwertbarkeit und Konsumierbarkeit religiöser Erziehung zu schaffen und stellen eine Herausforderung für alle dar. Was, wenn inne- und stillehalten, staunen und danken immer seltener gelernt werden? Welche religiöse Erziehung brauchen Heranwachsende künftig? Meines Erachtens wird uns nicht wieder die traditionale, unterordnende und destruktive religiöse Erziehung leiten können, da unsere Erziehungskultur nicht in Zeiten zurück sollte, in denen Kinder als Objekte dem Zugriff der Erwachsenen ausgeliefert waren (Carle, 2001). Wer künftig religiös erzieht, hat Heranwachsende als Subjekte wertzuschätzen, wie das nach dem Zeugnis der Evangelien Jesus getan hat (vgl. Mk 10,13 – 16). Religiöse Erziehung soll Kindern und Jugendlichen die »herrliche Freiheit der Kinder Gottes« (Röm 8,21) und den »aufrechten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Gang« lehren und vorleben, weil Heranwachsende eine unveräußerliche Würde haben. Zur jüdisch-christlichen Erinnerungskultur gehört ja fundamental die Vision eines herrschaftskritischen Gottes (vgl. Ex 20,2; Gal 5,1), der Menschen davor bewahren will, sich unterjochen zu lassen. Ein freier Gott will freie Menschen, keine Untertanen. Freilich: Ohne menschliche Selbstbegrenzung – der Mensch ist nicht das Maß aller Dinge – und ohne Unterordnung unter diesen Gott und Hörbereitschaft auf ihn, werden Religion und religiöse Erziehung nicht zu haben sein. Für biblisches Denken gibt es Freiheit nur »in Bindung an« (Ps 31,9) etwas. Ein herren- oder bindungsloser Mensch ist nicht frei, sondern gefährdet. Das ist das eine, das in Erinnerung gerufen werden muss, das andere aber auch: Christliche Religion und christliche Erziehung sind ein Ruf in die Freiheit der Kinder, der Söhne und Töchter Gottes. Beides im Blick zu haben, darauf kommt es bei künftiger religiöser Erziehung an. Alles andere ist – ein Kinderspiel. Mit welchen religiösen (Gottes-)Vorstellungen soll religiöse Erziehung arbeiten? Thema und zugleich Problem künftiger religiöser Erziehung ist vermutlich nicht, dass – wie bis in die 1960er-Jahre hinein – zu massiv mit gefährlichen, destruktiven (Gottes-)Bildern und religiösen Vorstellungen gearbeitet (werden) wird. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist Gott im Kontext religiöser Erziehung, wie oben schon angesprochen, vorwiegend »lieb« und »weich« gezeichnet worden, was eine Vereinseitigung des Gottesbildes im Sinne von »der Papa wird’s schon richten« (Peter Alexander) zur Folge hatte, aber sehr häufig den realen Erfahrungen von Heranwachsenden mit einem nicht eingreifenden, helfenden Gott widersprach (vgl. Ritter, Hanisch, Nestler u. Gramzow, 2006). Seit gut einem Jahrzehnt besinnen sich Theologen und in der Folge auch für religiöse Erziehung Verantwortliche darauf, dass gleichsam die »dunklen Seiten Gottes« (Dietrich u. Link, 1995) nicht aus Religion und religiöser Erziehung ausgespart werden dürfen. Vielmehr wird es künftig darauf ankommen, wenn Gott das Zentrum religiöser © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Erziehung ist, sowohl dessen Nähe, Zuwendung und Barmherzigkeit als auch dessen Ferne, Verborgenheit und Abwesenheit im Blick zu haben (vgl. Jer 23,23) und sich erzieherisch zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Damit sollen gewiss nicht einfach (immer) mögliche destruktive Potenziale religiöser Erziehung reaktiviert, wohl aber die Reduktion religiöser Erziehung auf einen »Eia-popeia-Gott« (Heinrich Heine) vermieden werden. Mit welchem Ziel religiös erziehen? Es gehört zur religiösen Erziehung, dass wir Kinder und Jugendliche zu Gewohnheiten, Überzeugungen und Haltungen anregen wollen. Die große Gefahr und Versuchung jeglicher – auch religiöser – Erziehung ist, dass wir Erwachsene Kinder und Jugendliche nach unserem Bild formen wollen. Das aber kann nicht Ziel künftiger religiöser Erziehung sein, sondern (nur) dies: Heranwachsende zu befähigen, sich zunehmend selbst religiös zu positionieren. Wenn sie – wie alle Menschen – Ebenbilder (des freien) Gottes sind (vgl. Gen 1,26 f.), schiebt dies jedem erzieherischen Zugriff, der sie zum verfügbaren Objekt degradieren will, einen Riegel vor.
Fazit Ich wollte zeigen, dass es in der Tat genug Beispiele missbräuchlicher, destruktiver religiöser Erziehung gibt, mutmaßlich mehr als gute. Wobei man annehmen darf, dass Beispiele guter, »gelungener« religiöser Erziehung nicht so »aktenkundig« geworden sind wie die negativen, da letztere einfach Schlagzeilen trächtiger sind. Nicht plausibilisieren lässt sich jedoch mit zahlreichen guten Gründen die Auffassung, dass religiöse Erziehung per se Schwarze Pädagogik ist. Vielmehr hat religiöse Erziehung von ihren Potenzialen her das Zeug, produktiv zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beizutragen. Vor destruktivem Gebrauch ist sie freilich ebenso wenig gefeit wie jede andere Erziehung auch. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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Reiner Anselm
Polemogene Religion Überlegungen zur Domestizierung von religiös induzierten Konflikten
Nicht nur Engel, sondern auch Dämonen: Die vergessene dunkle Seite der Religion Religionen sind ambivalente Gebilde. Sie faszinieren und stoßen ab, ihnen eignet die Fähigkeit zur Integration des Verschiedenen, aber sie können auch desintegrierend wirken. Neben den Mythen von Engeln und Heiligen erzählt die Religion auch von Teufeln und Dämonen. Religion kann nicht nur aus Feinden Freunde, aus Konkurrenten Brüder machen. Ihr eignet nicht nur ein befriedendes, sondern immer auch ein polemogenes Element, das Bürger zu Gegnern und Gegner zu Todfeinden werden lässt (vgl. Graf, 2007). Dieser Doppelcharakter religiöser Kulturen ist in der jüngsten Vergangenheit mit Vehemenz in Erinnerung gerufen worden, nachdem insbesondere in Westeuropa im 20. Jahrhundert die Religionen vor dem Hintergrund ihres Engagements nach den beiden Weltkriegen vornehmlich als Beförderer und Garanten eines friedlichen Zusammenlebens gesehen worden waren. Unbeschadet der Frage, ob es sich bei all den Konflikten, die derzeit mit der Religion assoziiert werden, tatsächlich um Auseinandersetzungen handelt, die in ihren Wurzeln auf religiöse Überzeugungen zurückgehen, ist jedenfalls offenkundig, dass die Religionen, ihre Vorstellungswelt und ihr Vokabular, geeignet sind, Aggression zu motivieren; die sozialen Organisationsformen der Religion können zudem als Transmissionsriemen für die Umsetzung entsprechender Programmatiken in konkrete Handlungsformen dienen. Auf der anderen Seite verfügen Religionen über ihren Transzendenzbezug und die damit mögliche
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Relativierung des Irdischen auch über ein Potenzial zur Entschärfung innen- und außenpolitischer Konflikte, sind es eben auch die Vertreter der Religion, die nachhaltig zum Dialog mit friedlichen Mitteln aufrufen und ihre Institutionen in den Dienst positionenübergreifender Verständigung stellen. Samuel Huntingtons These vom »Clash of Civilisations« und Hans Küngs »Projekt Weltethos« können sich eben beide auf den besonderen Charakter der Religion berufen. Blickt man auf die Formierungsphase der modernen Religionsforschung an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert, so fällt auf, dass diese Doppelstämmigkeit der Religion zwar zunächst noch präsent ist, jedoch die dunkle Seite der Religion zugunsten ihrer positiven Aspekte für das Zusammenleben zurücktritt. So spricht, offenkundig durch Vorstellungen von Martin Luther beeinflusst, Rudolf Otto in seiner 1917 erstmals veröffentlichten Religionsanalyse »Das Heilige« von der Doppelstruktur des fascinosum et tremendum. Die Transzendenz Gottes, der sich der menschlichen Rationalisierung entzieht, lasse diesen als ebenso anziehend wie bedrohlich erscheinen. Otto erhielt so ein Instrumentarium, mit dem er die verschiedenen Dimensionen insbesondere der christlichen Überlieferung beschreiben konnte, etwa den zürnenden und den versöhnenden Gott oder die Gedanken von Verdammnis und ewigem Leben. Eben jene Doppelstruktur hätte man auch für die gesellschaftlichen Wirkungen der Religion fruchtbar machen können und somit in Erinnerung behalten, dass unter Rekurs auf den Zorn Gottes denen gegenüber, die ihn missachten, Angehörige gerade auch christlicher Konfessionen den Gottesglauben zur Konfliktverschärfung, nicht zur Deeskalation eingesetzt hatten. Dies gilt keineswegs nur für die Zeit der frühneuzeitlichen Religionskonflikte im Umfeld der Konfessionskriege. Gerade die nationalprotestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg, bediente sich einer ähnlichen Argumentationsfigur. Hier operierte etwa Reinhold Seeberg mit einem voluntaristisch zugespitzten Gottesgedanken: Die Legitimität göttlichen Handelns – und damit auch eines menschlichen Handelns, das sich, wie weite Kreise des deutschen Protestantismus es taten, auf den Willen Gottes berief –, liege allein in der Tatsache begründet, dass Gott © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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dieses Handeln intendiere, unabhängig welche für den Menschen möglicherweise als problematisch erscheinenden Konsequenzen dies zeitige. Dementsprechend konnte dann auch der Feldzug gerade gegen das katholische beziehungsweise laizistische Frankreich trotz aller von einem Standpunkt der Humanität aus zu formulierenden Bedenken als Einwilligen und Einstimmen in den Willen Gottes bezeichnet werden (vgl. Brakelmann, 1974). In der durch die neu entstehende Soziologie dominierten Religionsforschung wurde dieser Aspekt allerdings kaum berücksichtigt und trat so für die nachfolgenden Religionsanalysen weiter in den Hintergrund. Hier konzentriert man sich stark auf die Funktion, die die Religion für die Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaft ausfüllt, und hier sehen die Vertreter der soziologischen Klassik Religion vorrangig als ein Integrationsinstrument. Spätestens seit mile Durkheim gilt Religion als eine »im wesentlichen kollektive Angelegenheit«, die vor allem durch ein »System von Überzeugungen und Praktiken« gekennzeichnet ist und die eine »moralische Gemeinschaft« entstehen lassen kann (Durkheim, 1981, S. 64). Über Max Weber bis hin zu Talcott Parsons lässt sich diese Interpretationslinie weiter verfolgen. In einer solchen Zugangsweise bleibt aber unterbestimmt, dass moralische Gemeinschaft nicht erst unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralisierung nur auf dem Weg fortwährender Segregierung erreicht werden kann, dass, um es in der Terminologie Ernst Troeltschs zu sagen, Kirche und Sekte beständig aufeinander verwiesene soziale Formationen darstellen. Ihre Integrationsfunktion übt die Religion gerade dadurch aus, dass sie immer auch zum Ausdruck bringt, wer eben nicht zu ihrer Gemeinschaft dazugehört. Dies gilt selbst für die inklusivistischsten Religionstheorien, insofern hier die Exklusion dann denjenigen gilt, die sich das inklusivistische Paradigma nicht zu eigen machen. In Korrektur dieser klassischen religionssoziologischen Position wird man also sagen müssen, die Attraktivität der Religion besteht darin, Inklusion und Exklusion gleichermaßen leisten zu können. Wenn dennoch der polemogene Charakter der Religion und damit auch die Strategien zur Eindämmung der daraus resultierenden problematischen Strukturen im Bereich der Religions© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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forschung der Theologie nur am Rande thematisch wurden, so dürfte dies aus einer Kombination verschiedener, einander ergänzender und überlagernder Faktoren resultieren: Zum einen operiert die religionssoziologische Klassik – ebenso wie auch Rudolf Otto – ganz selbstverständlich auf der Grundlage der Aufklärung, die die bleibende Bedeutung der Religion auch nach dem Ende der Metaphysik und unter den Bedingungen des modernen kritischen Bewusstseins in ihrem Bezug auf die Ethik gegeben sah. Das bedeutet zugleich, dass die Religion sich daran messen lassen musste, inwieweit ihre Lehren und Praktiken der Beförderung von Moral dienlich sein konnten. Diese Sicht dominiert spätestens im Kaiserreich auch in der Theologie, und zwar nicht nur im Umfeld des sog. Kulturprotestantismus. Selbst die Vertreter des konservativen Kulturluthertums vertreten die Ansicht, dass die zentrale Bedeutung des Protestantismus für das neu entstandene Reich in der Beförderung der Sittlichkeit liege (vgl. Anselm, 2003). Und Paul Tillichs berühmtes, 1919 formuliertes Diktum, »es war die dogmatische Fragestellung, welche bisher die Kirche bewegte; von nun an wird es die ethische sein« (Tillich, 1962, S. 13), zeigt, dass diese Sicht auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter von Bedeutung war. Nach 1945 wiederholt sich dies; so formuliert Gerhard Ritter auf der Treysaer Kirchenkonferenz programmatisch, dass »nur da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung gewahrt bleibt« (Merzyn, 1960, S. 3). Die Religion ist das Remedium gegen die Dämonie, dass sie selbst auch zum Dämonischen werden kann, bleibt dabei außer Acht. Interessanterweise dürfte diese Sicht auch durch die religionskritische Spielart aufklärerischen Denkens befördert worden sein: Wo, wie bei Marx und später auch bei Nietzsche, die Religion vorrangig als ein Konstrukt der Herrschenden zur Befestigung etablierter Machtstrukturen, zur Befriedung des systemverändernden Potenzials der ihrer Freiheitsrechte und Ansprüche gewahr werdenden Bürgerschaft, wo also die Prozesse des Umsturzes gegen die stabilisierende Funktion der Religion profiliert werden mussten, dort wurde stillschweigend – und in überraschender Konkordanz mit eben den Kritikern aller revo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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lutionären Bestrebungen im Namen der Religion – der befriedende Charakter der Religion in Anspruch genommen und diese Sicht des Religionskomplexes weiter befestigt. Schließlich übernahmen die Nationalstaaten in zunehmendem Maße die Absolutheitsansprüche der Religion. Zugleich mit ihrer inneren Homogenisierung und Befestigung kam es zu einer Exklusion und zunehmend offensiven Bekämpfung des Anderen, ein Prozess, der sowohl in die kolonialistisch-imperialistischen Bestrebung des 19. Jahrhunderts als auch, in vielfach gesteigertem Maß, in die totalitären Entwicklungen des 20. Jahrhunderts führte. Der moderne Machtstaat fungiert nun als absoluter Souverän, der allein über die Legitimität des eigenen Handelns bestimmt. Hier kommt es zu den für das 19. und frühe 20. Jahrhundert charakteristischen Prozessen, die von Carl Schmitt und seinen Nachfolgern unter dem Paradigma der »politischen Theologie« untersucht worden sind (vgl. Adam, 2006; Taubes, 1983 – 1987). In diesem Zusammenhang gehen die polemogenen Strukturen auf den Staat über, der in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, insbesondere im nationalsozialistischen Deutschland, ein in einer bislang nicht gekannten Weise totalitäres Potenzial entwickelt. In diesem Zusammenhang bleibt im Blick auf die gesellschaftlichen Folgewirkungen zunächst unbeachtet, dass sich im Bereich des deutschsprachigen Protestantismus als Reaktion auf die Moderne und ihre neuen, menschengemachten Totalitarismen und Absolutheitsansprüche eine Strömung etabliert, die die Verbindung von Religion und Aufklärung kappt und den Absolutheitsansprüchen des Staates neu den Absolutheitsanspruch Gottes gegenüberstellt. Zwar unterzog die sich neu formierende Dialektische Theologie auch die – menschengemachte – Religion einer schneidenden Kritik, dennoch verfügte diese neue Spielart des Protestantismus durchaus über das Potenzial zu fundamentalistischen und darin gesellschaftlich problematischen Konsequenzen (vgl. Rendtorff, 1975). Dass dies nicht geschah, dürfte zum einen der Konfrontation mit dem terroristischen Regime des Nationalsozialismus geschuldet sein, dem gegenüber sich allein diese Spielart des Christentums als Widerlager gegen dessen verbrecherisches Po© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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tenzial zur Wehr setzen konnte. Zum anderen aber war es nach dem Zusammenbruch die feste Einbettung der Religion in ein System staatlicher, vor allem rechtlicher Regulierung, die problematische Auswirkungen sich selbst absolut setzender Religionen einhegen konnte. In Deutschland wurden die Spannungen zwischen Religion und Politik zwar von Anfang an thematisch, so etwa in den Auseinandersetzungen im Parlamentarischen Rat, in den Kontroversen um die Westintegration der Bundesrepublik und die Wiederbewaffnung, allerdings wurden diese fundamentalen Kontroversen stets durch die Rechtsordnung entschärft. Faktisch bleibt die Religion unter der Kontrolle staatlicher Allmachtsansprüche. Dementsprechend ist es auch die staatliche Ordnung, die über das Religionsverfassungsrecht den Religionsgemeinschaften die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihres Engagements vorgibt. Das Recht, insbesondere die Verfassungsordnung, tritt sodann mehr und mehr an die Stelle der Religion und gibt die gesellschaftskonstitutiven Grundwerte vor. In der hohen Achtung des Bundesverfassungsgerichts als der obersten Rechtsinstanz spiegelt sich diese Zentralstellung wider. Der Rechtsordnung gelingt es dabei, auch die komplizierten Kontroversen wie den Umgang mit den Heimatvertriebenen und die Veränderungen der Lebensstile in Sexualität, Ehe und Familie zu befrieden. Diese Struktur wird weitgehend von den Religionsgemeinschaften und Kirchen in Deutschland akzeptiert, sogar so weit, dass auch Entscheidungen, die sich gegen die Religionsgemeinschaften richten, von diesen hingenommen und nicht für eine Delegitimierung der Rechtsordnung verwendet werden. Lediglich dort, wo der Staat sich im Zusammenhang der atomaren Aufrüstung anzumaßen droht seine Souveränität auch zur Vernichtung seiner Grundlagen zu missbrauchen, kommt es zu einem entschiedeneren Protest im Namen der Religion gegen die Staatsmacht.
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Recht und Religion: Bedingungen für ein konstruktives Wirken der Religion in der Gesellschaft Die Depotenzierung des politischen Elements der Religion als Folge ihrer Einbettung und Eingrenzung durch die und im Gegenüber zur Staatsmacht, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann in zunehmendem Maße die Regulierung der gesellschaftlichen Aktivitäten der Religion durch das Recht – diese beiden Elemente sind es, die, teils bewusst herbeigeführt, teils aber auch gegen die Intentionen der einzelnen Agierenden, zu einer Domestizierung der problematischen Seite der Religion führen. Auf die komplizierten gegenseitigen Beeinflussungsverhältnisse, die zu dieser Entwicklung geführt haben, kann dabei hier nicht näher eingegangen werden. Erinnert sei lediglich an die vielschichtige Beziehung zwischen dem Christentum und dem modernen Menschenrechtsgedanken; in das Konzept der Menschenrechte sind zweifelsohne Elemente des Christentums eingegangen, gleichwohl gibt es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch eine breite Strömung innerhalb des Christentums, die das Konzept der Menschenrechte aus religiöser Überzeugung ablehnt. In gewisser Weise ist die seit einiger Zeit in den christlichen Kirchen geradezu formelhaft gebrauchte Wendung, die Gedanken von Menschenwürde und Menschenrechten resultierten aus der biblischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen, ein Indikator für dieses lange Zeit problematische Verhältnis zum Menschenrechtsgedanken: Über diesen Leitsatz wird der Menschenrechtsgedanke »indigenisiert« so dass er jetzt als legitimes Erbe des Christentums gelten kann; auch das gerade in Kirchenkreisen vielzitierte Diktum ErnstWolfgang Böckenfördes, der moderne Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne (Böckenförde, 1991), ist in diesem Zusammenhang zu interpretieren. Auch hier handelt es sich um eine irenische Formel, in der über den Entstehungszusammenhang eine Verbindung zwischen Christentum und Rechtsordnung hergestellt wird. In diesem Kontext ist es darüber hinaus auch von Interesse, dass etwa zeitgleich auch dasjenige Spektrum der politischen Kultur in Deutschland, das
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seine Wurzeln ursprünglich im religionskritisch-antikirchlichen Milieu hat, nämlich die Sozialdemokratie, mit dem Godesberger Programm von 1959 ihren Frieden mit dem Christentum und der Religion schließt. Aus diesem problemgeschichtlichen Rückblick ergibt sich nun zweierlei: Es lässt sich verstehen, warum die Gewaltexzesse im Namen der Religion nach dem Ende der Blockkonfrontation zunahmen und warum diese gerade für die westlichen intellektuellen Eliten eine überraschende Herausforderung darstellten: Mit dem Ende der Blockkonfrontation, dem Entstehen einer multizentrischen Welt und vor allem der Schwächung der Staatsgewalten im Umfeld von Globalisierungsprozessen – völlig neue Möglichkeiten der internationalen Kommunikation und Mobilität lassen staatliche Totalitarismen, die auch die Religion einhegen und domestizieren können, schwieriger werden – treten die Strukturen zurück, die das destruktive Potenzial der Religion einhegen konnten und sie zugleich auf den apolitischen Bereich des Privaten zurückdrängten. Zudem entdecken in dieser Situation diejenigen, die auf eine Ablösung der ja durchaus repressiven staatlichen Systeme drängen, die Motivationskraft der Religion. Erstmalig und mit enormen Konsequenzen ist dies bei der islamischen Revolution im Iran der Fall. Gleichzeitig aber fehlen die äußeren Bedingungen, die über eine auch von den Religionen akzeptierte Rechtsordnung konfliktentschärfende Strukturen aufbauen könnten. Neben dieser deskriptiv-analytischen Konsequenz ergibt sich jedoch auch eine normative Schlussfolgerung: Nur dort, wo es zu einem konstruktiven Verhältnis zwischen Religion und Rechtsordnung kommt, sind Strukturen gegeben, die das destruktive Potenzial der Religionen im Blick auf das gesellschaftliche Zusammenleben entschärfen können. Mehr noch: Wo es gelingt, die Religion umgekehrt für eine Stabilisierung einer säkularen Rechtsordnung zu gewinnen, dort lassen sich die konstruktiven Kräfte der Religion für die Gesellschaftsgestaltung nutzen. Exakt dies dürfte Jürgen Habermas in seinen neueren Arbeiten zur Religion vor Augen gehabt haben, wenn er auf der einen Seite davon spricht, in modernen Gesellschaften müssten sich die Religionen notwendig »auf Prämissen eines Verfassungsstaates © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet«. Denn »ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential« (Habermas, 2001, S. 14). Auf der anderen Seite aber müsse man eben auch zur Kenntnis nehmen, dass das Reservoir der Religion notwendig sei für das Verständnis von Moral, nicht freilich um daraus spezifische Geltungsansprüche abzuleiten, wohl aber um das semantische Feld, die Vorstellungen vom guten Leben also, die in moralischen Aussagen immer bereits mitschwingen, zu tradieren. Darum sei er etwa im Blick auf den europäischen Kontext skeptisch, ob eine Moral ganz ohne die Tradition der Religion möglich sei. Vielmehr dürften wir, so Habermas, die Grundbegriffe unseres moralischen Denkens nicht »ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens der jüdisch-christlichen Tradition anzueignen« (Habermas, 1988, S. 23). Am Beispiel der Stellung und dem Bedeutungsgehalt der Menschenwürde in modernen Gesellschaften lässt sich das Gemeinte gut verdeutlichen: Als Fundamentalnorm fungiert die Menschenwürde in modernen Gesellschaften als das säkulare Äquivalent des Heiligen, das auch von den Religionen nicht mehr in Frage gestellt werden kann und darf. Als Äquivalent des Heiligen ist Menschenwürde allerdings immer nur annäherungsweise fassbar. Sie lässt sich nicht abschließend bestimmen, sondern bedarf steter Interpretation. Eine wichtige Quelle für diejenigen Vorstellungen vom richtigen und guten Leben, die den Begriff der Menschenwürde interpretieren müssen, damit er seine integrative Funktion für eine Gesellschaft erfüllen kann, ist die Tradition des Christentums und dabei insbesondere der biblischen Schriften. Sie gilt es, in den Aushandlungsprozess über die adäquate Interpretation des Menschenwürdebegriffs einzubringen, ohne aber eben die eigene Sicht absolut zu setzen. Daran, dass sich eine Religion auf diesen Prozess einlässt und sich dabei an die Verfahrensregeln demokratischer Gesellschaften hält, entscheidet sich, ob sie eine konstruktive oder eine destruktive Rolle für die Gesellschaft einnimmt. Darum verdienen, wie Habermas ebenfalls zu Recht herausgestellt hat, »aus der Sicht des liberalen Staates […] nur die Religionsgemeinschaften © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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das Prädikat ›vernünftig‹, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten Verzicht leisten« (Habermas, 2001, S. 14). Dabei führt das Attribut »vernünftig« zurück zu den eingangs nachgezeichneten Bedingungen für das Zurücktreten des polemogenen Elements der Religion in der Aufklärung. Möchte man Strategien entwickeln, um die religiösen Konflikte auch von morgen zu domestizieren, so dürfte dem genaueren Verständnis der Relation zwischen Religion und Aufklärung eine Schlüsselfunktion zukommen – eine freilich auch in der protestantischen Tradition nur stiefmütterlich behandelte Thematik. Dabei gilt zunächst für das Christentum, dass seine Traditionen und Institutionen sowohl aufklärungsbefördernd als auch aufklärungshemmend gewirkt haben; ein Vorgang, der sich durchaus auch für den Prozess gesellschaftlicher Modernisierung als dem Integral von Rationalisierung, Individualisierung und Differenzierung als Ganzem aussagen lässt. Ähnliches lässt sich aber auch, wenn auch epochenverschoben, für die anderen großen Religionstraditionen aussagen, für den Islam ebenso wie für das Judentum oder den Buddhismus. In den nach wie vor maßgeblichen Arbeiten von Max Weber und Ernst Troeltsch zum Zusammenhang von (christlicher) Religionstradition und gesellschaftlicher Modernisierung bildet sich dabei die Ambivalenz der Religion in der Weise ab, dass die angesprochenen retardierenden und akzelerierenden Auswirkungen der Religion als Ausfluss bestimmter, konfessionelle Identität schaffender Hintergrundüberzeugungen auf dem Gebiet der Religion gedeutet werden.
Von der Einhegung zum konstruktiven Miteinander : Das Erbe der Aufklärung für die Rolle der Religion in der Gesellschaft Religionen sind strukturell intolerant, die Berufung auf religiöse Grundsätze garantiert noch nicht automatisch eine humane Ordnung. Dieser Grundzug gilt dabei für alle Religionen – zumindest für die monotheistischen Schriftreligionen. Es ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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keineswegs so, dass das Christentum per se toleranter wäre als etwa der Islam. Der entscheidende Differenzpunkt liegt nicht direkt im Lehrsystem der jeweiligen Religion begründet. Vielmehr ist es die Bereitschaft der jeweiligen Religion, ihre Ansprüche auf Weltgestaltung kritisch zurückzunehmen, die die unabdingbare Voraussetzung bildet für eine lebensdienliche Ausgestaltung der kulturell-gesellschaftlichen Außenwirkung der Religion. Das aber bedeutet letztlich nichts anderes, als dass eben die Religion sich selbst in ihrer Reichweite beschränkt und sich allen Versuchungen widersetzt, die mit der Religion einhergehenden Vorstellungen letzter Gewissheit in Glaubensfragen unmittelbar auf die Weltgestaltung zu übertragen. Eine solche Begrenzung der Gewissheit der Religion ist im Kontext des Christentums allein in der europäischen Aufklärung entstanden. Der Menschenrechtsgedanke der Aufklärungszeit, der, um es noch einmal zu betonen, gegen den erbitterten Widerstand auch der christlichen Kirchen durchgesetzt werden musste, ist die Voraussetzung dafür, dass die Religion nicht in einen menschenverachtenden Fundamentalismus im Namen letzter Wahrheiten umschlägt. Dementsprechend heißt es auch in Küngs »Projekt Weltethos«: »Darf religiöses Gebot sein, was als unmenschlich erscheint, was den Menschen offenkundig schädigt, verletzt, vielleicht gar zerstört ?« (Küng, 2008, S. 111). Küng gelangt von dieser rhetorischen Frage aus zu der Feststellung, dass Religionen nur dann mit dem Anliegen des Projekts Weltethos vereinbar sind, wenn sie sich am Humanum ausrichten, wie es in dem Menschenrechtsgedanken formuliert wird. Diese Argumentation liegt dabei auf einer Linie mit der Wendung, mit der Immanuel Kant die alttestamentliche Geschichte von Isaaks Opferung zu bearbeiten sucht: Abraham hätte auf diese vermeinte Stimme antworten müssen: »daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß, und kann es auch nicht werden, wenn sie (sic!) auch vom (sichtbaren) Himmel herab schallete«. In der Bibel tradierte Gebote könnten dann – so Kants Argumentation im »Streit der Fakultäten« – für den Einzelnen keine besondere Autorität beanspruchen, »wenn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist« (Kant, 1798/1983, S. 333). Insofern gilt, in Variation einer Formel Schleiermachers zur Bedeutung Heiliger Schriften für den individuellen Glauben, auch für das Verhältnis von Religion und einer konstruktiven Gestaltung gesellschaftlicher Ordnungen: Wer aus der Religion einen Nutzen für die dienliche Gestaltung der Gesellschaft ziehen möchte, muss eine bestimmte Ausprägung der Ethik immer schon voraussetzen, nämlich die einer im aufklärerischen Ideal von Humanität und Menschenrechten gegründeten Rechtsordnung. Sie ist das selbstständige Ergebnis einer christlichen Kultur, zu der allerdings neben der Philosophie auch die anderen monotheistischen Religionen, insbesondere das Judentum und seine aufklärerischen Spielarten, einen wesentlichen Beitrag geleistet haben und noch leisten. Nur in der Kombination von religiösen Traditionen und einem aufklärerischen Ethos, das insbesondere dem modernen Rechts- und Verfassungsstaat und seiner Hochschätzung der individuellen Freiheit sowie deren Bewahrung und Beförderung durch alle sozialstaatlichen Elemente dienen soll, entfalten Religionen ihr konstruktives Potenzial für die Gesellschaft. Dabei ist aber darauf zu achten, dass es sich hier nicht um einen einseitigen Korrekturprozess handelt, wie es manche vereinfachende Säkularisierungsmodelle nahelegen möchten. Es bedarf gerade der wechselseitigen Kritik und gegenseitigen Beeinflussung. Ebenso wie Religion erst durch die Begegnung mit den Idealen der Aufklärung, vor allem durch die Zurückweisung von Absolutheitsansprüchen im Gebiet der Lebensgestaltung, wie sie etwa im Menschenrechtsgedanken der Aufklärung zum Ausdruck kommt, so transformiert wird, dass sie nicht mehr zur Gefährdung einer menschengerechten Gesellschaftsordnung fundamentalistischer Provenienz entarten kann, ebenso bedarf auch das Ethos der Aufklärung der Begegnung mit der Religion und deren kritischem Gegenüber, damit nun nicht umgekehrt die relativen Überzeugungen menschlicher Lebensgestaltung selbst in nicht diskutable, ethische Fundamentalismen überführt werden. Denn es darf nicht übersehen werden, dass die Aufklärung selbst mittlerweile zu einer Hintergrundüberzeugung geworden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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ist, an deren Akzeptanz oder Ablehnung sich weltanschaulich motivierte Konflikte entzünden: »Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«, konstatierten bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Beginn ihrer »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer u. Adorno, 1947/1985, S. 7). Der Fundamentalismus ist darum eben in jeder Hinsicht das »Gespenst der modernen Welt«, sein Integrationspotenzial besteht gerade in der nachhaltigen Abgrenzung von den mit der Aufklärung verbundenen Modernisierungsprozessen. Es dürfte die besondere kulturgeschichtliche Leistung des evangelischen Christentums – nicht unbedingt der evangelischen Kirchen – sein, dass es in den Transformationsprozessen seit der Aufklärung gelungen ist, aus dem Gegeneinander zwischen dem Humanitäts- und Menschenrechtsideal auf der einen, der Religion auf der anderen Seite ein kritisch-solidarisches Nebeneinander zu machen und dabei darauf hinzuweisen, dass im Blick auf die Gestaltung einer lebensdienlichen, menschengerechten Gesellschaft beides vonnöten ist: die Begrenzung der Religion durch Recht und Humanität, sowie Interpretation, Fundierung und Korrektur von säkularer Moral und Recht durch die Religion. Der Weg zu dieser Einsicht war in Europa außerordentlich mühsam und blutig, und gerade im Blick auf die Akzeptanz von Recht und Demokratie dauerte er bis in die 1980er-Jahre. Erst mit der Demokratiedenkschrift 1985 (Evangelische Kirche, 1985) ist dieser Prozess zu einem Ende gekommen. Umso mehr ergibt sich daraus die Verpflichtung, dieses Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln, insbesondere gegenüber allen Bestrebungen, die meinen, auf eines der beiden Elemente verzichten zu können.
Literatur Adam, A. (2006). Politische Theologie. Eine kleine Geschichte. Zürich: Pano-Verlag. Anselm, R. (2003). Lutherische Leitkultur. Kirche und Gesellschaft in der Sicht des konservativen Kulturluthertums im Kaiserreich. In A. Grözinger, G. Pfleiderer, G. Vischer (Hrsg.), Protestantische Kirche und moderne Gesellschaft. Zur Interdependenz von Ekklesiologie und Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
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sellschaftstheorie in der Neuzeit (S. 169 – 190). Zürich: Theologischer Verlag. Böckenförde, E.-W. (1991). Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967). In Ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (S. 92 – 114). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brakelmann, G. (1974). Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus. Bielefeld: Luther-Verlag. Durkheim, . (1981). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie (1985). Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Hannover. Graf, F. W. (2007). Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (3. Aufl.). München: Beck. Habermas, J. (1988). Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (2001). Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2001. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Horkheimer, M., Adorno, T. W. (1947/1985). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer. Huntington, S. P. (1997). Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (5. Aufl.). München: Europa-Verlag. Kant, I. (1798/1983). Der Streit der Fakultäten. In Ders., Werke in 10 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 9. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Küng, H. (2008). Projekt Weltethos (11. Aufl.). München: Piper. Merzyn, F. (Hrsg.) (1960). Kundgebungen. Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945 – 1959. Hannover : Verlag des Amtsblatts der Evangelischen Kirche in Deutschland. Otto, R. (1917). Das Heilige. München: Beck. Rendtorff, T. (Hrsg.) (1975). Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths. Gütersloh: Mohn. Taubes, J. (Hrsg.) (1983 – 1987). Religionstheorie und Politische Theologie, 3 Bde. München: Fink. Tillich, P. (1962). Der Sozialismus als Kirchenfrage (1919). In Ders., Gesammelte Werke, Bd. II: Christentum und soziale Gestaltung (2. Aufl.). Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk.
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Die Autorinnen und Autoren
Reiner Anselm, Dr. theol., Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Werner Bohleber, Dr. phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis, Lehr- und Kontrollanalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Herausgeber der Zeitschrift »Psyche«. Jorge Canestri, Prof. Dr., Lehranalytiker und Supervisor der Italian Psychoanalytical Association und der Argentine Psychoanalytic Association, Mitglied des Gremiums der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA), Professor für Psychologische Gesundheit an der Roma 3 Universität, Italien, Direktor des Instituts für Psychoanalyse der Italian Psychoanalytical Association. Mahrokh Charlier, Dipl. Psych., Psychoanalytikerin (DPV) in eigener Praxis. M. Fakhry Davids, Mitglied des Institute of Psychoanalysis, London, und der Tavistock Society of Psychotherapists. Psychoanalytiker in eigener Praxis. Mario Erdheim, PD Dr. phil., Psychoanalytiker, Lehrbeauftragter, Supervisor. Vera Kattermann, Dr. phil., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin in eigener Praxis (Einzel- und Gruppenanalyse) in Berlin. Fakhri Khalik, Dr. med., Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker in eigener Praxis. Tom Kleffmann, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Universität Kassel.
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Die Autorinnen und Autoren
Paul-Gerhard Klumbies, Dr. theol., Professor für Biblische Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung des Neuen Testaments am Institut für Evangelische Theologie der Universität Kassel. Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil., Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin, Professorin für Psychoanalytische Psychologie am Institut für Psychoanalyse der Universität Kassel, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt a. M. Ilse Müllner, Dr. theol., Professorin für Katholische Theologie/Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Altes Testament an der Universität Kassel. Reinhard Nolle, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter und Dozent für Medienpädagogik und Mediendidaktik am Institut für Erziehungswissenschaft und Institut für Sozialpädagogik an der Universität Kassel. Leiter der Medienwerkstatt. Aydan Özdaglar, Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Vorsitzende des Psychoanalytischen Seminars Freiburg. Werner H. Ritter, Dr. theol., Dr. phil. habil., Professor für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und -didaktik an der Universität Bamberg. Sigrid Scheifele, Dr. phil., Diplom-Soziologin, Diplom-Psychologin, Psychoanalytikerin. Luise Schottroff, Dr. theol., Professorin für Neues Testament in Mainz, Kassel und Berkeley, USA (bis 2005). Charles B. Strozier, Professor für Geschichte am John Jay College und Graduate Center, City University of New York. Niedergelassener Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker am TRISP in New York. Sverre Varvin, MD, Dr. phil., Psychiater, Psychoanalytiker eigener Praxis; Lehr- und Kontrollanalytiker der Norwegischen Psychoanalytischen Gesellschaft. Kerstin Weike-Bierbüsse, Dr. phil., Dozentin am Ev. Fröbelseminar, Fachschule für Sozialpädagogik, Kassel; Koordinatorin des Studiengangs »Bildung und Erziehung in der Kindheit«.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Wenn Sie weiterlesen möchten ... Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung Mit einem Vorwort des Dalai Lama
Der Dalai Lama schreibt im Vorwort zu diesem Buch, dass jedes menschliche Wesen nach Glück verlangt und ein Recht darauf hat. Doch Disharmonie, Streit und Gewalt bringen dem Menschen immer wieder Leid. Unversehens geraten wir in Prozesse der Dämonisierung des Anderen, der anderen Gruppe, des anderen Volkes. Wir nehmen das Gegenüber nur noch in negativem Licht wahr, machen es zum Monster, das es mit aller Macht zu bekämpfen gilt. Die psychotherapeutisch tätigen Autoren erklären, wie es dazu kommt, und zeigen – auch anhand überzeugender Fallbeispiele – Wege der Deeskalation und Entdämonisierung. »So beeindruckend die theoretischen Hintergründe und weit zurückreichenden ideengeschichtlichen Wurzeln beider beschriebenen Sichtweisen sind, so bestechend konsequent und klar sind die therapeutischen Konsequenzen der Autoren ... Ich habe das Buch mit sehr viel Gewinn gelesen und empfehle es uneingeschränkt.« Cornelia Tsirigotis, Systeme »Es richtet sich ... vornehmlich an Psychotherapeuten und Sozialpädagogen. Dessen ungeachtet liest auch der Nicht-Fachwissenschaftler die mit vielen anschaulichen Beispielen versehene Abhandlung, die sich durch verständliche Sprache, unkomplizierte Formulierungen und eine übersichtliche Gliederung auszeichnet, mit großem Gewinn.« Thomas Widera, Totalitarismus und Demokratie
Rolf Haubl / Volker Caysa Hass und Gewaltbereitschaft Philosophie und Psychologie im Dialog, Band 3.
Hass ist ein facettenreiches Gefühl absoluter und tiefer Antipathie. Es führt zu Benachteiligung, Verachtung, Diskriminierung, Misshandlungen bis hin zu Völkermorden und Kriegen. Es gibt ihn in vielfältigsten Formen – Selbsthass, Frauenhass, Fremdenhass – und aus verschiedensten Gründen – Neid, Angst, Unsicherheit. Zwar ist viel über den Hass geschrieben worden, über diese dunkle Seite der menschlichen Natur, die in ihrer Stärke und Unbeirrbarkeit oft der Liebe entgegengesetzt wird. Richtig zu erklären ist er jedoch bis heute nicht. Der Psychologe Rolf Haubl und der Philosoph Volker Caysa begeben sich in diesem Band in das Reich des Hasses und durchstreifen es bis in den letzten Winkel. Dabei wird deutlich: Wer für ein friedfertiges Zusammenleben – von Einzelnen, Gruppen und Nationen – eintritt, muss um die Notwendigkeit des Hasses wissen und die physische und psychische Not verstehen lernen, die Hassende mitunter gewaltbereit werden lässt.
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Tobias Müller / Karsten Schmidt / Sebastian Schüler (Hg.) Religion im Dialog Interdisziplinäre Perspektiven – Probleme – Lösungsansätze
Die Autoren beleuchten den zu einem dominant gewordenen Schlagwort des Dialoges aus der Perspektive von Philosophie, Theologie, Religionswissenschaft, Soziologie und den Naturwissenschaften. Die zunehmende Pluralisierung des Geistes- und Gesellschaftslebens bringt eine potenzierte Konfrontation mit Anders- und Fremdsein mit sich. Das trifft in besonderem Maße auch auf den Bereich der Religion zu. In dieser Situation nimmt der Begriff des Dialogs eine zentrale Rolle ein. Die Herausgeber fragen in dem vorliegenden Sammelband, was es heißt, wenn Religion im Dialog steht und versuchen dabei die Probleme nicht nur zu benennen, sondern auch nach Lösungsansätzen zu suchen.
André Karger (Hg.) Trauma und Wissenschaft Psychoanalytische Blätter, Band 29.
Die wissenschaftliche und kulturelle Beschäftigung mit den psychosozialen Folgen extremer Gewalt hat zu einem erweiterten, differenzierten Konzept von Trauma geführt. Traumaspezifische psychische Krankheiten sind inzwischen als Posttraumatische Belastungsstörung anerkannt, die Psychotraumatologie hat sich als eigene Disziplin etabliert. Die Autoren setzen sich aus interdisziplinärem Blickwinkel kritisch mit dem Traumadiskurs auseinander. Dabei geht es nicht zuletzt darum, wie sich die Psychoanalyse in diesen Fragen positioniert oder überhaupt erst wieder eine Position gewinnen muss.
Michael Klöpper / Reinhard Lindner (Hg.) Destruktivität Wurzeln und Gesichter
Der Lauf der Geschichte zeigt, dass der Versuch der Konfliktlösung mittels Gewalt immer scheitern muss – stattdessen hat er immer wieder unbeschreibliches Leid über die Menschen gebracht. Täglich werden wir Zeugen von der Destruktivität anderer oder erleben sie in uns selbst. Oft macht sie krank – körperlich und seelisch. Die in diesem Band versammelten Arbeiten untersuchen Destruktivität aus den Perspektiven der Triebtheorie, der Selbstpsychologie, der Objektbeziehungstheorie, der Kulturpsychoanalyse und eines historisch-kritischen Ansatzes. Neben Antworten zur Entstehung und Entwicklung von Destruktivität werden behandlungstechnische Implikationen aufgezeigt.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Schriften des Sigmund-FreudInstituts Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Band 10: Klaus Röckerath / Laura Viviana Strauss / Marianne LeuzingerBohleber (Hg.) Verletztes Gehirn – Verletztes Ich Treffpunkte zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften 2009. 269 Seiten mit 32 Abb. und 3 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45183-0
Psychoanalytische Konzepte verhelfen zu einem vertieften Verständnis von neurologischen Krankheitsbildern und sind der klinischen Arbeit mit hirngeschädigten Patienten dienlich.
Band 9: Gisela Greve Bilder deuten Psychoanalytische Perspektiven auf die Bildende Kunst 2009. 171 Seiten mit 30 farb. Abb. und 6 s/w Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45182-3
In Kunstwerken schlummern unbewusste Dimensionen, die während der Entstehung wie auch bei der Betrachtung wirksam werden. Die Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Kunstwissenschaft erhellt dieses Phänomen.
Band 8: Stephan Hau Unsichtbares sichtbar machen 2008. 326 Seiten mit 13 Abb. und 10 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45181-6
Dieses Buch ist ein Streifzug durch psychoanalytische Forschungszusammenhänge, der die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen deutlich macht.
Band 7: Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.) Freud neu entdecken Ausgewählte Lektüren 2008. 231 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45167-0
»Die Vielfalt der Perspektiven und der Felder, von denen sie handeln, spiegelt nicht nur die Aktualität und Gegenwärtigkeit der Psychoanalyse wider, sondern in fast nonchalanter Weise auch deren noch immer beispiellose interdisziplinäre Reichweite und Wirkmächtigkeit und macht die Lektüre zu einem reinen Lesevergnügen.« Lilli Gast, Luzifer-Amor
Band 6: Timo Hoyer (Hg.) Vom Glück und glücklichen Leben Sozial- und geisteswissenschaftliche Zugänge 2007. 275 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45180-9
Die Sehnsucht nach Glück ist für jeden Menschen eine existentielle Fragestellung, für die eine vielschichtige Betrachtungsweise angemessen ist.
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848
Schriften des Sigmund-FreudInstituts Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Band 5: Ralf Zwiebel / Annegret Mahler-Bungers (Hg.) Projektion und Wirklichkeit Die unbewusste Botschaft des Films 2007. 235 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45179-3
Überblick über die Filmpsychoanalyse, ihre Theorien, Methoden, Deutungsansätze. Filmbeispiele verdeutlichen diese aktuelle Standortbestimmung.
Band 4: Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung Theorie, Forschung, Kontroversen 2. Auflage 2006. 306 Seiten mit 14 Abb. und 3 Tab., kart. ISBN 978-3-525-45178-6
»Das Buch gehört ... zum Besten, was man zu ADHS heute lesen kann. Auch, weil es den naheliegenden Vereinfachungen entgeht und stattdessen dem Leser zutraut, den Forschungsstand verstehen zu wollen.« E. von Thadden, Die Zeit »Es ist zu hoffen, dass diese reichhaltige Publikation dazu beitragen kann, fruchtlose konfrontative Debatten zu überwinden und die ausserordentlich komplizierte Problematik mit der nötigen kritischen Distanz anzugehen.« Schw. Archiv für Neurologie und Psychiatrie
Band 3: Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-45177-9
Nur durch das Zusammenarbeiten von Experten unterschiedlicher Fachgebiete kann das Phänomen zunehmender Aggressivität und Gewaltbereitschaft bei Kindern in seinen komplexen Ursachen analysiert werden und Prävention erfolgreich sein.
Band 2: Klaus Herding / Gerlinde Gehrig (Hg.) Orte des Unheimlichen Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst 2006. 300 Seiten mit 70 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45176-2
Band 1: Ulrich Moser Psychische Mikrowelten – Neuere Aufsätze Herausgegeben von Marianne LeuzingerBohleber und Ilka von Zeppelin. 2005. 498 Seiten mit 10 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45165-6
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525451847 — ISBN E-Book: 9783647451848