Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys: Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage. Dissertationsschrift 9783161563140, 9783161563157, 316156314X

'Deuten', 'Interpretieren', 'Auslegen' und 'Verstehen' bilden in der Moderne nic

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German Pages 405 [423] Year 2019

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Titel
Vorwort
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik in der Preisschrift
1. Diltheys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher
a. Die Preisaufgabe der Schleiermacherstiftung
b. Diltheys thematische Ausweitung der Aufgabenstellung der Preisaufgabe
c. Die Entstehung der Hermeneutik
d. Die entscheidenden Umformungsstationen
i. Die grammatisch-historische Interpretation
ii. Die psychologische Interpretation
iii. Die allgemeine Hermeneutik
iv. Die Überwindung des unkritischen Kanonprinzips
v. Die ästhetische Interpretation
vi. Die moralische Interpretation
2. Diltheys Rekonstruktion der philosophischen Grundlagen von Schleiermachers Hermeneutik
a. Die Theorie der geschichtlichen Welt
b. Die Sprachphilosophie
c. Die Individualitätskonzeption
d. Die Grenzen des Schleiermacherschen Denkens
3. Diltheys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher
a. Die Aufwertung der Hermeneutik als Wissenschaft
b. Die Begründung der Polarität von Sprache und Autor
c. Die Bedeutung individueller Produktivität
d. Schleiermachers mangelnde historische Auslegung
III. Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion
1. Die erkenntnispsychologische Basis
a. Die Phänomenalität der Wirklichkeit
b. Die Unterscheidung von Selbst und Außenwelt
c. Die Kategorialität der Erfahrung
d. Der interpretative Charakter aller Wirklichkeitsauffassung
2. Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens
a. Die Identifikation fremder Lebensäußerungen
b. Elementares und höheres Verstehen
c. Fremdverstehen als Ausdrucksverstehen
d. Erleben und Ausdruck
3. Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen
a. Die Begriffe von Kultur und Gesellschaft
b. Interpretative und objektivationstheoretische Aspekte
c. Die Aneignung des ‚objektiven Geistes
d. Die bedeutungstheoretische Vertiefung des Kulturbegriffs
4. Das Geschichtsverstehen
a. Methodologische Grundlagen der Geschichtswissenschaft
i. Der konstruktive Charakter von Historie
ii. Verstehen und Erklären von Geschichte
iii. Die Rolle der Biographie
iv. Grundzüge des biographischen Verstehens
b. Das biographische Selbstverstehen
i. Biographie und Autobiographie
ii. Die Frage nach der Einheit des eigenen Lebensverlaufs
iii. Die verstehende Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte
iv. Die geschichtswissenschaftliche Begründungsfunktion der Autobiographie
5. Religion als Fall und Objekt von Verstehen
a. Die religiöse Wirklichkeitsdeutung
i. Die Theorie des religiösen Bedürfnisses
ii. Das religiöse Verstehen im engeren Sinn
iii. Die geschichtlich-kulturelle Dimension der Religion
iv. Die Rationalisierung der Religion und ihre Grenze
b. Die Hermeneutik der Religionsgeschichte
i. Die religionstypologische Grundunterscheidung
ii. Der pantheistisch-panentheistische Typus
iii. Der Typus personalistischer Freiheitsreligion
iv. Religionsphilosophische Konsequenzen
Schluss
Literaturverzeichnis
1. Quellen
a. Wilhelm Dilthey
b. Andere Autoren
2. Sekundärliteratur
a. Wilhelm Dilthey
b. Allgemein
Namenregister
Sachregister
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Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys: Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage. Dissertationsschrift
 9783161563140, 9783161563157, 316156314X

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

188

Constantin Plaul

Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage

Mohr Siebeck

Constantin Plaul, geboren 1981; 2002–09 Studium der Ev. Theologie; 2009–10 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik und Religionsphilosophie in Halle (Saale); 2010–13 Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung; 2013–14 Wiss. Mitarbeiter am Landesforschungsschwerpunkt »Auf klärung – Religion – Wissen«; 2015–18 berufsbegleitender Vikar der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland; seit 2015 Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik in Halle (Saale); 2017 Promotion.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort ISBN 978-3-16-156314-0 / eISBN 978-3-16-156315-7 DOI 10.1628/978-3-16-156315-7 ISSN 0340-6741 / eISSN 2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abruf bar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzu­lässig und straf bar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Bembo gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Meinen Eltern

Vorwort In der Moderne hat hermeneutisches Denken einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren. Ursprünglich hatte der Begriff ‚Hermeneutik‘ für den Titel einer Disziplin gestanden, der es ausschließlich um die Ref lexion und Praxis methodisch geleiteten Auslegens und Verstehens schriftlicher Texte gegangen war. Im Verlauf der modernen Wissenschaftsdiskurse wurden die damit gesteckten Grenzen dann aber programmatisch und konzeptionell in Richtung eines allgemeinen Konzepts von Verstehen überschritten. Im philosophischen Bereich kam es zur Herausbildung einer philosophischen Hermeneutik bzw. einer hermeneutischen Philosophie. Auf dem Feld der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften formierte sich eine Bewegung, die in der gegenwärtigen Forschung unter dem Oberbegriff ‚interpretative Kulturtheorien‘ verhandelt wird. Es gibt kaum einen Bereich mehr, der ohne Begriffe wie Auslegen, Deuten, Interpretieren oder Verstehen auszukommen vermag. Auch die Theologie bildet einen Teil dieses Wissenschaftsfeldes. So ist es nicht verwunderlich, dass sich jener Sachverhalt auch bei ihr beobachten lässt. Neben der Relevanz einer hermeneutischen Methodologie in den historisch-exegetischen Fächern hat sich die allgemeine Konjunktur hermeneutischen Denkens und Fragens auch anderen theologischen Disziplinen mitgeteilt. Diesbezüglich ist vor allem an die Entstehung der Hermeneutischen Theologie zu erinnern. Jene Ausweitung des Hermeneutischen über den philologischen Bereich hinaus auf nahezu alle Facetten der geistes- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung setzt bereits im 19. Jahrhundert ein. Wie gerade die neuere Forschung gezeigt hat, kommt Wilhelm Dilthey innerhalb jenes Transformationsprozesses eine Schlüsselstellung zu. Die Bedeutung seines Werks für gegenwärtige Fragestellungen kann äußerlich schon daran abgelesen werden, dass das Interesse an seinem Denken in den letzten Jahren wieder sichtbar zugenommen hat. Erste Anzeichen einer solchen Rückbesinnung finden sich auch innerhalb der Theologie. Eine ausführlichere Beschäftigung hat hier bisher allerdings nicht stattgefunden. Dabei verspricht die Auseinandersetzung mit diesem Autor für die theologische Arbeit erheblichen Orientierungsgewinn, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Dilthey die Religionsthematik konsequent auf dem Boden eines interpretativen Kulturmodells entwickelt. Dieser Problematik nachzugehen, ist das Ziel der vorliegenden Dissertationsschrift. Sie wurde im Wintersemester 2016/17 von der Theologischen Fakultät

VIII

Vorwort

der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen. Für den Druck ist der Text geringfügig überarbeitet worden. Die Begutachtung haben Prof. em. Dr. Ulrich Barth, Prof. Dr. Jörg Dierken und Prof. Dr. Rochus Leonhardt übernommen, denen ich dafür herzlich danke. Den Anstoß für meine Beschäfigung mit Dilthey gab mein Doktorvater ­Ulrich Barth, an dessen Lehrstuhl ich auch meine erste Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter innehatte. Im weiteren Fortgang hat er die Entstehung und ­Entwicklung des Projektes mit großer Anteilnahme und steter kritisch-konstruktiver Gesprächsbereitschaft begleitet. Dafür bin ich ihm zu tiefem Dank verpflichtet. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Personen, die auf unterschiedliche Weise zum Gelingen dieses Unternehmens beigetragen haben und bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Die Teilnehmenden des Doktorandenkolloquiums in der Wittekindstraße haben mir durch ihre Hinweise und Kritiken wichtige Impulse gegeben. Stellvertretend möchte ich Frau Dr. Marianne Schröter nennen. Auch auf die vielen Gesprächen mit Jörg Dierken gehen wesentliche Anregungen zurück, die sich in vorliegender Arbeit merklich niedergeschlagen haben. Darüber hinaus hat er mir in der Arbeit am Lehrstuhl immer die nötigen Freiräume gelassen, um die eigene Sache voranbringen zu können. Die Diskussionen innerhalb seines Hallenser Forschungskolloquiums gehören ebenfalls hierher. Stellvertretend für die Teilnehmenden sei mein ehemaliger Kollege Prof. Dr. Malte Dominik Krüger genannt. An ein Seminar zu Diltheys Weltanschauungstypologie, das Rochus Leonhardt im Wintersemester 2013/14 an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig gehalten hat, denke ich ebenfalls sehr gerne zurück. Mit Prof. em. Dr. Gunter Scholtz hatte ich mehr als ein weiterführendes Gespräch über Dilthey. Darüber hinaus hat mich der Austausch mit Prof. Dr. Andreas Kubik an entscheidender Stelle weitergebracht. In der Schlussphase habe ich wertvolle Hilfe erfahren durch die Kommentare von Herrn Dr. Karsten Holste, Herrn PD Dr. Georg Neugebauer, Herrn Prof. Dr. Christian Papilloud sowie Herrn apl. Prof. Dr. Christian Senkel, die sich allesamt die Mühe gemacht haben, unterschiedliche Kapitel zu lesen. Das erste Mal begegnet ist mir der Name Wilhelm Dilthey in einer Troeltsch-Übung von Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar im Wintersemester 2003/04 in Göttingen. Ihre spätere Unterstützung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass mein Projekt in der Anfangsphase von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanziell gefördert wurde. In ähnliche Weise habe ich zu Beginn Hilfe von Herrn Prof. Dr. Reiner Anselm erfahren. Frau Dr. Jutta Noetzel, die Mentorin meines berufsbegleitenden Vikariats, hat mir in der Phase der Fertigstellung und Verteidigung durch freundliche Nachsicht sehr geholfen. Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der „Beiträge zur Historischen Theologie“. Herr Dr. Henning Ziebritzki und Frau Dr. Katharina Gutekunst vom Verlag Mohr Siebeck haben mich sehr gut begleitet. Die Frauen stud. theol. Lea Hähnel-

Vorwort

IX

Bremer und Friederike Schmidt haben bei der Korrektur des Manuskripts mitgewirkt, ebenso Frau stud. theol. Maike Hoffmann und Herrn stud. theol. Jakob Simon. Herr Simon hat darüber hinaus die Erstellung des Namensregisters übernommen. Nicht zuletzt hat meine Frau, Jennifer Plaul, einen bedeutenden Anteil am Gelingen dieses Projekts. Über viele Fragen und Probleme meines Forschungsprojekts habe ich mich zuerst mit ihr ausgetauscht. Im familiären Zusammenleben und in der gemeinsamen Lebensgestaltung ist sie mir so weit entgegengekommen, dass keine Worte des Danks dafür hinreichen. Halle (Saale), im Februar 2019

Constantin Plaul

Inhalt Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

I. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Der philologische Entdeckungszusammenhang der ­Verstehensproblematik in der Preisschrift  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher  . . . . . . . . . . 21 a. Die Preisaufgabe der Schleiermacherstiftung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 b. Dil­theys thematische Ausweitung der Aufgabenstellung der Preisaufgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 c. Die Entstehung der Hermeneutik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 d. Die entscheidenden Umformungsstationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 i. Die grammatisch-historische Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . 32 ii. Die psychologische Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 iii. Die allgemeine Hermeneutik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 iv. Die Überwindung des unkritischen Kanonprinzips  . . . . . . . . . 51 v. Die ästhetische Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 vi. Die moralische Interpretation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Dil­theys Rekonstruktion der philosophischen Grundlagen von Schleiermachers Hermeneutik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a. Die Theorie der geschichtlichen Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b. Die Sprachphilosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c. Die Individualitätskonzeption  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d. Die Grenzen des Schleiermacherschen Denkens  . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a. Die Aufwertung der Hermeneutik als Wissenschaft  . . . . . . . . . . . . 98 b. Die Begründung der Polarität von Sprache und Autor  . . . . . . . . . 101 c. Die Bedeutung individueller Produktivität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 d. Schleiermachers mangelnde historische Auslegung  . . . . . . . . . . . . 110

XII

Inhalt

III. Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion  . . 115 1. Die erkenntnispsychologische Basis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a. Die Phänomenalität der Wirklichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b. Die Unterscheidung von Selbst und Außenwelt  . . . . . . . . . . . . . . 131 c. Die Kategorialität der Erfahrung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d. Der interpretative Charakter aller Wirklichkeitsauffassung  . . . . . . . 147 2. Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a. Die Identifikation fremder Lebensäußerungen  . . . . . . . . . . . . . . . 154 b. Elementares und höheres Verstehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c. Fremdverstehen als Ausdrucksverstehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 d. Erleben und Ausdruck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen  . . . 179 a. Die Begriffe von Kultur und Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b. Interpretative und objektivationstheoretische Aspekte  . . . . . . . . . . 191 c. Die Aneignung des ‚objektiven Geistes‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 d. Die bedeutungstheoretische Vertiefung des Kulturbegriffs  . . . . . . . 208 4. Das Geschichtsverstehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a. Methodologische Grundlagen der Geschichtswissenschaft  . . . . . . . 215 i. Der konstruktive Charakter von Historie  . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 ii. Verstehen und Erklären von Geschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 iii. Die Rolle der Biographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 iv. Grundzüge des biographischen Verstehens  . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b. Das biographische Selbstverstehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 i. Biographie und Autobiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 ii. Die Frage nach der Einheit des eigenen Lebensverlaufs  . . . . . . 250 iii. Die verstehende Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte 256 iv. Die geschichtswissenschaftliche Begründungsfunktion der Autobiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5. Religion als Fall und Objekt von Verstehen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 a. Die religiöse Wirklichkeitsdeutung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 i. Die Theorie des religiösen Bedürfnisses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 ii. Das religiöse Verstehen im engeren Sinn  . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 iii. Die geschichtlich-kulturelle Dimension der Religion  . . . . . . . 292 iv. Die Rationalisierung der Religion und ihre Grenze  . . . . . . . . 294 b. Die Hermeneutik der Religionsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 i. Die religionstypologische Grundunterscheidung  . . . . . . . . . . . 299 ii. Der pantheistisch-panentheistische Typus  . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Inhalt

XIII

iii. Der Typus personalistischer Freiheitsreligion  . . . . . . . . . . . . . . 328 iv. Religionsphilosophische Konsequenzen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Schluss  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 1. Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 a. Wilhelm Dil­they  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 b. Andere Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 2. Sekundärliteratur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 a. Wilhelm Dil­they  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 b. Allgemein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Namenregister   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Sachregister   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Abkürzungen Aufbau: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) Auffassung und Analyse: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891) Beiträge zur Lösung: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) Beiträge zum Studium: Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96) Breslauer Ausarbeitung: Ausarbeitungen zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, viertes Buch, erster Abschnitt (1880/1887) Einbildungskraft und Wahnsinn: Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn (1886) Einleitung: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, erster Band (1883) Erfahren und Denken: Erfahren und Denken. Eine Studie zur erkenntnistheoretischen Logik des 19. Jahrhunderts (1892) Grundformen: Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1898) Hermeneutik: Die Entstehung der Hermeneutik (1900) Ideen: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) Leben Schleiermachers: Leben Schleiermachers, erster Halbband (1870) Leben und Erkennen: Leben und Erkennen. Ein Entwurf zur erkenntnistheoretischen Logik und Kategorienlehre (ca. 1892/93) Novalis: Novalis (1865) Pantheismus: Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1900) Poetik: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887) Preisschrift: Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1859) Psychischer Strukturzusammenhang: Der psychische Strukturzusammenhang (1905) Spinoza-Studien: Aus der Zeit der Spinoza-Studien Goethes (1894) Strukturzusammenhang des Wissens: Der Strukturzusammenhang des Wissens (1905) Studium: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875) System: Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892/93) Typen: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) Versuch: Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins (1864) Wesen: Das Wesen der Philosophie (1907) Die Zitate aus Diltheys Gesammelten Schriften werden in der Regel direkt im Fließtext belegt, wobei die vorangestellte römische Ziffer die Bandnummer und die nachfolgende römische oder arabische Zahl die Seitenzahl bezeichnet.

I. Einleitung Wilhelm Dil­they gehört zweifellos zu den Klassikern der Geistes- und Kulturwissenschaften. Seine Theorie der Geisteswissenschaften, sein Entwurf einer nichtnaturwissenschaftlichen Psychologie, seine Sammlung literarhistorischer Studien sowie seine Konzeptualisierung einer Typologie der Weltanschauungen wurden schon zu seinen Lebzeiten über die Philosophie hinaus diskutiert und beeinflussten nachhaltig das geistige Klima der akademischen Welt.1 Posthum wirkte sein Denken – vor allem vermittelt über seine Schüler – in so unterschiedlichen Gebieten wie dem der Autobiographietheorie (Georg Misch), der Literaturwissenschaft (Rudolf Unger), der Pädagogik (Herman Nohl, Eduard Spranger), aber auch der Psychologie bzw. Psychopathologie (Eduard Spranger, Karl Jaspers). Hieraus erwuchsen wissenschaftliche Bewegungen, deren Spuren sich bis in die Gegenwart hinein verfolgen lassen. Seiner wissenschaftlichen Qualifikation entsprechend sei die dezidiert philosophische Auseinandersetzung mit seinem Werk eigens hervorgehoben, zu deren frühesten und bekanntesten Repräsentanten – neben Misch und Jaspers – Erich Rothacker, Martin Heidegger, aber auch Helmuth Plessner gehören. Später wurde sie von Hans-Georg Gadamer fortgeführt. Matthias Jung hält in seiner Einleitung zu Dil­they diesbezüglich fest: „Wo immer die Philosophie unseres [sc. des 20.] Jahrhunderts sich Themen wie dem geisteswissenschaftlichen Methodenproblem, der geschichtlichen Verfaßtheit von Rationalität und Lebenspraxis gewidmet hat, war Dil­theys Denken ein unentbehrlicher Bezugspunkt“.2 Eine Dil­they-Forschung im engeren Sinne des Worts setzte allerdings erst vergleichsweise spät ein. Das hatte mehrere Gründe: Einerseits hatte Dil­they viele wissenschaftliche Projekte zugleich in Angriff genommen, einen Großteil von ihnen aber nicht zum Abschluss gebracht. Die entsprechenden Manuskripte blieben der akademischen Öffentlichkeit lange Zeit unbekannt. Das brachte es mit sich, dass die innere Systematik seines Denkens nicht ohne weiteres bzw. nur ansatzweise identifiziert werden konnte. Andererseits lagen seine publizierten Arbeiten zunächst lediglich verstreut vor, was ihre Zugänglichkeit erschwerte. Beides begann sich mit der Herausgabe der Gesammelten Schriften zu ändern, deren erster Band im Jahre 1914 erschien. Allerdings muss im Hinblick auf den wenige 1  Zu

dieser Aufzählung vgl. H.‑U. Lessing: Dil­they, Wilhelm, 854. Dil­they zur Einführung, 7.

2  M. Jung:

2

I. Einleitung

Jahre nach Dil­theys Tod gefassten Plan einer Gesamtausgabe berücksichtigt werden, dass dieser sich als ein Jahrhundertprojekt entpuppen sollte.3 Gleichwohl zeitigte der – wenn auch nur sehr langsam voranschreitende – Publikationsfortschritt den erwünschten Effekt eines zunehmenden Interesses an Dil­theys Werk, das sich gerade in den letzten Jahren in einer ganzen Reihe von Tagungen und Publikationen niedergeschlagen hat.4 Auch das Thema der Religion trat innerhalb der philosophischen Dil­theyforschung auf den Plan.5 Wiederholt ist darauf hingewiesen worden, dass das Thema der Religion in Dil­theys Denken fest verankert war.6 Der Pfarrerssohn und Theologe – Dil­they studierte von 1852–1856 in Heidelberg und Berlin Theologie – nimmt sich zeitlebens dieses Themas immer wieder an und schreibt ihm in nahezu allen systematischen Bereichen seines Denkens eine wichtige Funktion für den Aufbau individuellen und soziokulturellen Lebens zu. Deshalb hat er sich sowohl in theoretischer als auch in historischer Hinsicht wiederholt mit der Religionsproblematik befasst. Allerdings liegen für diese Zusammenhänge nur vergleichsweise wenige konzentrierte Studien vor und seine entsprechenden Überlegungen finden sich – häufig auch in Nebenbemerkungen – im ganzen Œuvre verstreut. Angesichts beider skizzierten Aspekte – der Bedeutung Dil­theys für die intellektuelle Signatur der Moderne und dem von innen heraus gegebenen Bezug zum „Problem der Religion“7  – drängt sich Dil­they als Gesprächspartner der Theologie geradezu auf. Umso mehr erstaunt es, dass er innerhalb derselben heute ein Schattendasein führt. Von einer breiteren Aufnahme seines Denkens kann keinesfalls gesprochen werden. Die gegenwärtige Rezeptionsaskese lässt sich dabei als Ergebnis einer längeren Entwicklung betrachten. So war Dil­they in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch in der Theologie durchaus präsent. Ab Mitte des Jahrhunderts indes ging das Interesse spürbar zurück. Dies soll im Folgenden durch einen Forschungsüberblick illustriert werden. Dafür beschränken wir uns zum einen auf den Bereich der evangelischen Theologie im deutschsprachigen Gebiet. Zum anderen wird auch diesbezüglich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Vielmehr soll es um einen repräsentativen Überblick 3  Der letzte der 26 Bände zählenden Gesamtausgabe erschien 4 Vgl. exemplarisch: G. Kühne-Bertram/F. Rodi (Hg.):

erst 2005. Dil­they und die hermeneutische Wende in der Philosophie (2008); G. Scholtz (Hg.): Dil­theys Werk und die Wissenschaften (2013); G. D’Anna/H.  Johach/E. S. Nelson (Hg.): Anthropologie und Geschichte (2013). 5  Diesbezüglich sei vor allem auf die Arbeiten von Gunter Scholtz und Matthias Jung verwiesen, die sich – neben anderen wesentlichen Aspekten von Dil­theys Philosophie – wiederholt mit Dil­theys Religionsdenken auseinandergesetzt haben. 6 Vgl. exemplarisch H. Richert: Dil­ they als Religionsphilosoph; U. Herrmann: Dil­ they, Wilhelm; G. Scholtz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung in der Sicht Dil­ theys. 7 So der Titel eines posthum erschienenen Fragments, in dem Dil­ they Teile seiner geschichtlich-philosophischen Religionsauffassung zur Darstellung gebracht hat (vgl. VI 288–305).



I. Einleitung

3

über die wesentlichen Rezeptionslinien gehen. Aufgrund des vergleichsweise spärlichen Befunds, seien die einzelnen Positionen etwas ausführlicher dargestellt. a)  Als einer der ersten Theologen, die sich mit Dil­they befasst haben, kann der sog. Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule, Ernst Troeltsch, gelten. Er dürfte auch derjenige sein, der sich am ausführlichsten mit ihm beschäftigt hat – freilich in den Grenzen des damals zugänglichen Materials. Bezugnahmen auf Dil­they sind bei ihm schon früh zu greifen8 und begegnen bis in seine Spätzeit hinein. Dabei hat er selber nachdrücklich hervorgehoben, dass Dil­they für ihn nicht bloß irgendeinen Autor neben anderen darstellte, sondern dass er in ihm einen wesentlichen Impulsgeber für sein eigenes Werk erblickte. Ihren pointierten Ausdruck hat diese Einschätzung zum einen in Troeltschs Rede „von meinem Lehrer Dil­they“ gefunden –9 die in seinen Schriften wiederholt begegnet.10 Zum anderen ist daran zu erinnern, dass er sein letztes großes Hauptwerk – Der Historismus und seine Probleme (1922) – an erster Stelle Wilhelm Dil­they gewidmet hat. Seine Auseinandersetzung mit dem Philosophen berührt wesentliche Theorieschneisen von Troeltschs Werk. Insbesondere drei Problemkreise sind hervorzuheben: seine methodologischen Reflexionen zur Theologie, die religions- und kulturhistorischen Untersuchungen zur Entstehung der modernen Ideenwelt sowie die geschichts- und kulturphilosophische Gegenwartsdiagnose mit dem Ziel praktischer Zukunftsgestaltung.11 Obwohl es Stimmen gibt, die Dil­theys Einfluss auf Troeltsch stark zu relativieren suchen,12 hat die neuere Forschung die klassische Sichtweise13 im Grundsatz doch bestätigt, wonach jene Rede Troeltschs durchaus Anhalt in der Sache hat.14 Gehen wir jene Problemkreise durch, wobei wir mit den methodologischen Reflexionen beginnen. Einer der frühesten Belege findet sich in Troeltschs Aufsatz Die Selbständigkeit der Religion (1895/96). Hinsichtlich des von ihm favorisierten Problemzugriffs hält er fest, „daß ich von keinem bestimmten philosophischen oder sonstigen System ausgehe, sondern nur von einer im allgemeinen idealistischen Grundanschauung 8 Vgl.

H. Siemers: „Mein Lehrer Dil­they“?.

11  Zu

Wirklichkeitswissenschaft, 54. jenen Theoriefacetten bei Troeltsch vgl. F. W. Graf: Troeltsch, Ernst Peter Wil-

9  E. Troeltsch: Zur Frage des religiösen Apriori, 754. 10  Vgl. die Nachweise bei G. Pfleiderer: Theologie als

helm, 630. 12  H. Siemers: „Mein Lehrer Dil­they“?. Mir scheint die Abgrenzung bei Siemers etwas zu scharf geraten zu sein. Das ließe sich unter anderem mit Blick auf einige seiner Beschreibungen Dil­theys zeigen, durch die eine Differenz zwischen beiden Denkern markiert werden soll, die sich bei genauerem Hinsehen jedoch als partielle Missverständnisse in der Dil­they-Auffassung erweisen: wie etwa die Meinung, Dil­they könne die Religion nicht als selbständiges Phänomen beschreiben, das sich von anderen Sphären des soziokulturellen Lebens unterscheidet (aaO., 221), oder auch die Behauptung, Dil­they kenne keinen Fortschritt der Religionsgeschichte (aaO., 223). Unbeschadet dessen bietet Siemers’ materialreicher Überblick eine gute Hilfestellung für die hier interessierende Fragestellung. 13  Vgl. exemplarisch W. Köhler: Ernst Troeltsch, 3. 14  Vgl. G. Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 54.

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aus die psychologischen und geschichtlichen Erscheinungen der Religion rein für sich zu analysieren versuche, etwa in dem Sinne, wie es Dil­they in seiner bisher erschienenen Einleitung zu einer ‚Einleitung in die Geisteswissenschaften‘ andeuten zu wollen scheint“.15 Damit bezieht er sich vor allem auf das zweite Buch von Dil­theys Einleitung, das wesentliche Elemente einer Phänomenologie des religiösen Lebens bietet. Mit dem hier angestellten Unternehmen einer psychologisch-geschichtlichen Analyse der Religion weiß Troeltsch sich in Kontinuität.16 Unter Verweis auf Dil­theys Studie Die Glaubenslehre der Reformatoren (1894)17 zieht Troeltsch ihn als Gewährsmann gegen eine solche Form von Theologie heran, die meint, ein Entwicklungsgesetz der Religionsgeschichte aufstellen zu können, um damit das Christentum als deren Vollendungsgestalt zu beweisen. In seinen methodologischen Bemühungen um eine modernitätskompatible Konzeption christlicher Theologie hat Troeltsch sich auch später an Dil­they orientiert. Drei Gesichtspunkte können hierbei hervorgehoben werden. Zunächst ist auf Troeltschs große Sammelrezension zu verweisen, die unter dem Titel Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (1896–1899)  – ab 1897 im zweiten Teil verändert zu principielle Theologie – erschienen ist. Troeltsch bezieht sich unter anderem auf die beiden Studien Dil­theys: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) sowie Beiträge zum Studium der Individualität (1896). Er lässt erkennen, dass er dessen wissenschaftstheoretischer Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften offen gegenübersteht und sie vom Grundsatz her für sinnvoll erachtet. Der zweite Gesichtspunkt hängt damit aufs Engste zusammen. Denn im selben Kontext, in dem Troeltsch auf Dil­theys „Grundlegung einer Methode der Geschichte und der Geisteswissenschaften“18 zu sprechen kommt, hält er fest, dass in diesen Abhandlungen zugleich „ein wichtiger Beitrag für die Grundlegung der Methode auch der Religionswissenschaft“19 zu erblicken ist. Schließlich kann ein indirekter Dil­they-Einfluss vermutet werden, wenn Troeltsch in seinem Aufsatz Über historische und dogmatische Methode der Theologie (1900) sich eindeutig gegen letztgenannte Methode entscheidet und stattdessen klar für eine konsequent historische Betrachtungsweise in der Theologie votiert. Freilich verstehen beide unter ‚Historie‘ nicht das Gleiche, da letztere nach Troeltsch – im Gegensatz zu Dil­they – nicht ohne metaphysische Voraussetzungen auskommt.20 15  E. Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, 420 f., Hvh. v. Verf. 16 Auf die Verbindungslinien von Dil­ they zu Troeltsch hinsichtlich der

psychologischen Grundlegung verweisen auch: W. Köhler: Ernst Troeltsch, 137; W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, 106; K.‑E. Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft, 87; G. Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 54. 56. 58. 85; H. Assel: Der andere Aufbruch, 36, Anm. 88, 40, Anm. 104. 17  E. Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, 487. 18  E. Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, 258. 19  AaO., 259. 20  AaO., 227.



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Vor dem bisher beschriebenem Hintergrund erweist sich Troeltsch auf vielfältige Weise durch Dil­theys Arbeiten angeregt. Allerdings gilt es darauf hinzuweisen, dass er sich in einem wesentlichen Punkt entschieden von ihm abgrenzt. Er betrifft beider Einschätzung von der wissenschaftlichen Leistungskraft der Metaphysik. Für Dil­they hat dieselbe ihre Geltung im Zuge der Neuzeit verloren. Troeltsch hingegen gesteht ihr weiterhin eine wichtige Funktion zu, so dass hier in der Tat ein „grundsätzlicher Unterschied zwischen ihren philosophischen Ansätzen auf[fällt]“.21 Dessen ist sich auch Troeltsch von Anfang an bewusst. So kritisiert er etwa in jenem zuerst herangezogenen Aufsatz Dil­theys erkenntnistheoretische Restriktion aller Wirklichkeitsauffassung auf subjektive Bewusstseinsvollzüge als „irreführende[ ] Konsequenz[ ] einer kantianisierenden Grundanschauung“.22 Die damit gegebene Differenz macht sich auch auf der Ebene der Geschichtsauffassung geltend. So hält Troeltsch Dil­they bei aller Zustimmung zur Forderung nach historischer Methode in der Theologie kritisch vor, die in ihr enthaltenen metaphysischen Implikationen aus „Scheu vor der Metaphysik“23 nicht zu entfalten. Diese kritische Sichtweise hält sich bei Troeltsch dann durch und ist in einer späten Studie von ihm nochmals mit besonderem Nachdruck formuliert worden.24 Kommen wir nun auf Troeltschs Auseinandersetzung mit Dil­theys geistesgeschichtlichen Abhandlungen zu sprechen. In seinen Schriften des Zeitraums von 1897–190025 geht Troeltsch wiederholt auf sie ein.26 Dabei bezieht er sich auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Studien Dil­theys: Über Gotthold Ephraim Lessing (1867);27 Das Leben Schleiermachers (1870);28 Friedrich Daniel Schleiermacher (1890);29 Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891/92);30 Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892/93);31 und schließlich Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus nach ihrem Zusammenhang im 17. Jahrhundert (1893).32 Dil­they bietet in diesen Texten ein perspektivenreiches Bild der Ent21  H. Siemers:

„Mein Lehrer Dil­they“?, 220. Die Selbständigkeit der Religion, 422; vgl. dazu auch schon: W. Köhler: Ernst Troeltsch, 353 ff. 23  E. Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, 259. 24 Vgl. E. Troeltsch: Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie I., 432–453. 25 Vgl. H. Siemers. „Mein Lehrer Dil­they“?, 225. 26  Vgl. zum Folgenden aaO., 230f, Anm. 117. 27  E. Troeltsch: Der deutsche Idealismus, 551. 28  AaO., 532. 549. 580. 29  AaO., 580. 30  Vgl. die 1898 verfasste Rezension von E. Troeltsch: Carl Güttler: Eduard Lord Herbert von Cherbury, 488. 31 Ebd.; E. Troeltsch: Die Aufklärung, 338; ders.: Der Deismus, 430. 433. 454. 32 Vgl. E. Troeltsch: Carl Güttler: Eduard Lord Herbert von Cherbury, 488; ders.: Die Aufklärung, 338. 341. 347. 349. 357; ders.: Der Deismus, 430. 437. 22  E. Troeltsch:

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stehung und Entwicklung von Wissenschaft und Kultur in der Neuzeit. Troeltsch macht in seinen Besprechungen deutlich, dass er sie als „vorzügliche[ ] […] Abhandlungen“33 betrachtet. In der Folgezeit hat Troeltsch sich weiter mit Dil­theys geistesgeschichtlichen Arbeiten auseinandergesetzt, wobei sich seine im Prinzipiellen zustimmende Haltung durchhält. So bezieht er sich etwa auch in den Soziallehren überaus wertschätzend auf Dil­theys Untersuchungen zur Geistesgeschichte Europas, die als „wichtige Arbeiten“34, als „bedeutende[ ] Aufs[ä]tz[e]“35 und als „schöne Darstellungen“36 gewürdigt werden. In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Rezension Troeltschs aus dem Jahr 1916 hinzuweisen. Darin bespricht er den zwei Jahre zuvor erschienenen zweiten Band von Dil­theys Gesammelten Schriften, der einen wichtigen Teil seiner – bis dato verstreut veröffentlichten – Studien zur europäischen Geistes- und Kulturgeschichte gebündelt zugänglich machte. Am Schluss der kurzen Besprechung heißt es geradezu hymnisch, „daß dieser Band zum Wertvollsten gehört, was die neuere Geistes- und Kulturgeschichte hervorgebracht hat“, wobei Troeltsch nicht davor zurückschreckt zu bekennen, „[w]ieviel ich selber diesem erlesenen Geist verdanke“.37 Kommen wir zum letzten Problemkreis, in dem Troeltsch sich auf Dil­they bezogen hat. In seinem Spätwerk hatte Dil­they im Blick auf die moderne Geisteslage eine „Anarchie der philosophischen Systeme“ (VIII 75) bzw. eine „Anarchie des Denkens“ (VIII 224) diagnostiziert. Troeltsch schloss sich dieser Einschätzung voll und ganz an und spricht dann selbst von einer ‚Anarchie der Werte‘.38 Allerdings macht sich auch hier wieder ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Denkern geltend. Denn Troeltsch wirft Dil­they vor, es nicht geschafft zu haben, jenem kritischen Befund etwas normativ Gehaltvolles entgegen gesetzt zu haben39 – eine Aufgabe, deren Lösung er nun für sich beansprucht.40 b) Auch unter den Vertretern der Lutherrenaissance im weiteren Sinne  – die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1918–1935) als Alternative zu theologischem Liberalismus, Historismus und dialektischer Theologie ins Spiel brachte –41 lässt sich ein bemerkenswertes Interesse an den Schriften Dil­theys feststel33  E. Troeltsch: 34  E. Troeltsch:

Zur Entwicklung des englischen Deismus, 803. Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 422, Anm. 196. 35  AaO., 795, Anm. 433. 36  AaO., 861. 37  E. Troeltsch: Wilhelm Dil­they: Gesammelte Schriften, II. Band, 94 f. 38  E. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, Anm. 121; vgl. Ders.: Wilhelm Dil­they: Gesammelte Schriften, II. Band, 91; ders.: Die Krisis des Historismus, 448; ders.: Der Historismus und seine Überwindung, 96. 39  Dil­they endet „im vollen Relativismus, in der Anarchie der Werte“, E. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, Anm. 121. 40 Vgl. E. Troeltsch: Antrittsvorlesung (zit. nach F. W. Graf/M.  Schlossberger: Einleitung, 22). 41 Vgl. H. Assel: Lutherrenaissance, 606; vgl. auch ders.: Der andere Aufbruch.



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len. Die Forschung hat auf unterschiedliche Verbindungslinien hingewiesen, die sich diesbezüglich ziehen lassen. So bezieht sich etwa Karl Holl in seinen Arbeiten direkt und indirekt mehrfach auf Dil­they;42 im von Carl Stange verfassten Geleitwort zur neugegründeten Zeitschrift für Systematische Theologie lässt sich in der Begriffswahl Dil­theyscher Einfluss ausmachen;43 Friedrich Brunstäd44 wurde geradezu als Dil­they-Schüler apostrophiert;45 an Rudolf Hermann kann erinnert werden;46 und nicht zuletzt weist das Werk Emanuel Hirschs entsprechende Bezugnahmen auf.47 Die Grundzüge des Verhältnisses der Lutherrenaissance zum in Frage stehenden Philosophen lassen sich bereits gleichsam bei ihrem Urheber, Karl Holl, ablesen. Darum sei dessen Rückgang auf Dil­they im Folgenden etwas näher skizziert, um daran exemplarisch zu zeigen, wo jene theologischen Denker an den Philosophen anschlossen und worin sie sich von ihm distanzierten. Eine große Nähe gibt es auf dem Feld des Methodischen. Die Distanz hat mit inhaltlichen Fragen zu tun. Zunächst zu Ersterem. Um den fraglichen Punkt deutlich machen zu können, ist kurz ein wenig auszuholen.48 Holl zeigt schon frühzeitig ein Interesse an Luthers Rechtfertigungslehre. Der tiefere Grund hängt mit seiner Diagnose einer religiösen Legitimationskrise des modernen Individuums zusammen. Der Rückgang auf die reformatorische Rechtfertigungslehre soll Abhilfe schaffen, indem dem „meist nur vage bestimmten individualistischen Lebensgefühl eine tragfähige Grundlage“49 verliehen werde. Das damit verbundene Aktualisierungsprogramm hat seines Erachtens aber nur dann Aussicht auf Resonanz, wenn es der ganz anders geprägten Bewusstseinslage der Gegenwart Rechnung trägt. Als aneignungsfähig stellen sich nach Holl nur noch solche Gehalte dar, die gleichsam durch das Nadelöhr subjektiven Erlebens hindurchzugehen vermögen. Soll die reformatorische Rechtfertigungslehre in der Gegenwart zur Geltung gebracht werden können, so gelte es daher methodisch, sie nicht allein als theoretisches Konstrukt zu begreifen, sondern als Ausdruck zugrundeliegenden Erlebens zu verstehen. Es ist nun genau dieser sachliche Zusammenhang, in dem Dil­they wichtig wird. Drei Aspekte sind zu nennen. Zunächst steht Dil­they für die Auffassung, dass metaphysische und theologische Begriffssysteme ihren letzten Ursprung 42 Vgl.

U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 21 f. Dort heißt es gleich im Einleitungssatz: „Die Fragen der Religion und der Weltanschauung sind unter dem Einfluß der Weltereignisse in überraschender Weise in den Vordergrund gerückt worden“, C. Stange: Geleitwort, 3. Heinrich Assel weist von hier aus auf Verbindungslinien zum damals „gängigen ‚Weltanschauungsbegriff‘ und seinen Dil­theyschen Wurzeln“ hin, vgl. H. Assel: Der andere Aufbruch, 35, Anm. 84. 44  Zur Einordnung Brunstäds in die Lutherrenaissance, vgl. H. Assel: Brunstäd, Friedrich. 45  Vgl. C. H. Ratschow: Brunstäd, Friedrich, 249. 46 Vgl. H. Assel: Der andere Aufbruch, 317. 319. 482. 47 Vgl. U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 212. 223 ff. 405. 48  Vgl. zum Folgenden aaO., 19–25. 49  AaO., 20. 43 

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im religiösen Erleben besitzen.50 Auf Basis dieser Voraussetzung wird es prinzipiell möglich, alle Theologumena – mithin auch die reformatorische Rechtfertigungslehre – auf ihre Erlebnisgrundlage hin zu befragen.51 Sodann hat Dil­they kontinuierlich an einem hermeneutischen Modell nacherlebenden Verstehens gearbeitet, das er nicht zuletzt auch für die Erschließung vergangenen Lebens zur Anwendung zu bringen suchte. Darin fand Holl das methodische Rüstzeug, dessen es bedarf, um der prinzipiellen Ermöglichungsbedingung der Aneignung überkommener Ideengehalte in der Moderne gerecht werden zu können. So hat er am Ende seines bekannten Aufsatzes zu Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst (1920) festgehalten: „[F]ür die Theologen das wichtigste“ sei doch „das innerliche Nacherleben“.52 Schließlich hat Holl sich an Dil­they noch in einem anderen Sinne orientiert. Für den Nachvollzug der mit dem Auftreten geschichtlicher Personen verknüpften neuen Ideen hat Dil­they der Betrachtung von dessen Frühgeschichte eine herausgehobene Stellung zugebilligt. Dieser Grundsatz spiegelt sich bei Holl insofern wider, als er in seiner Beschäftigung mit dem Reformator konsequent auf den jungen Luther zurückgreift.53 Eine analoge Behandlung hat er auch anderen Autoren zuteilwerden lassen.54 Neben und nach Holl lässt sich die verstehenstheoretische Orientierung an Dil­they auch bei anderen Vertretern der Lutherrenaissance beobachten, so etwa bei Hermann55 und Hirsch. Vor dem Hintergrund seiner Idealismus-Studien vertieft letzterer die entsprechende Auseinandersetzung darüber hinaus um einen wichtigen Punkt, indem er Dil­theys Verdienst um die Entdeckung der Rolle der Einbildungskraft im historischen Verstehen herausarbeitet.56 Soviel zum Methodischen. Wie angedeutet, gibt es auf inhaltlicher Sicht dann aber eine erhebliche Differenz. Holls Unternehmen, mittels nacherlebenden Verstehens die vortheoretische Grundlage der Rechtfertigungslehre bloß zu legen, ist von der Überzeugung getragen, dass die auf diesem Weg zu erreichende religiöse Lebensbasis sich auch in der Moderne noch als anschlussfähig erweist. Dil­theys Einschätzung fällt hier – wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird –57 diametral entgegengesetzt aus. Angesichts des oben Gesagten ist klar, dass dies bei Holl nicht auf Zustimmung stoßen konnte. In seiner Studie Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus (1906, 21922) kommt er ausdrücklich auf Dil­theys Auffassung und Analyse und das dortige kritische Urteil 50  Wirkmächtig zum Ausdruck gebracht findet sich diese Einschätzung etwa im zweiten Buch der Einleitung. 51 Zur Relevanz dieses Aspektes für Holl vgl. U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 21. 52  K. Holl: Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, 582, Anm. 2. 53  Vgl. dazu: U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 21 f. 54  Vgl. aaO., 22, Anm. 6. 55 Vgl. H. Assel: Der andere Aufbruch, 317. 56  Siehe dazu unten Abschnitt III.4.a. i. 57  Siehe dazu unten Abschnitt III.5.b.iii.



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zu sprechen,58 freilich nur, um es – im Verbund mit anderen ähnlich gelagerten Thesen – zu widerlegen. c) Eine bemerkenswerte Variante theologischer Dil­they-Rezeption, ist in Dietrich Bonhoeffers Werk zu erblicken. In der einschlägigen Forschung ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass sich dessen christlich-theologische Anschauung in wichtigen Punkten durch die Begegnung mit dem Denken des Philosophen geprägt erweist.59 Dabei hat er sich offensichtlich schon früh mit Dil­they beschäftigt, wie aus seiner 1929 verfassten Habilitationsschrift Akt und Sein hervorgeht.60 Hier wird Dil­they als Gewährsmann nachidealistischer Philosophie gewürdigt, die nicht mehr beanspruche, die Wirklichkeit mithilfe gedanklicher Prinzipien erklären zu können, sondern mit der Einsicht in die je eigene Geschichtlichkeit ernstgemacht habe. Bonhoeffer verhandelt dies unter dem Stichwort einer durch „die Geschichte bestimmte[n] Philosophie des Lebens“.61 Das Interesse an Dil­theys Denken hat sich Bonhoeffer dann bewahrt und sein Studium desselben in der Spätzeit sogar noch intensiviert. Zum einen macht er sich Dil­theys Kritik der Metaphysik zueigen.62 Zum anderen zeigt er sich in seiner „Affinität zu einem lebensphilosophischen Monismus der reinen Immanenz“63 und der damit verbundenen Konzeption von Wirklichkeit als eines einzigen einheitlichen Zusammenhangs maßgeblich von Dil­they beeinflusst.64 Von hier aus lassen sich gewisse Linien ziehen zu Bonhoeffers Konzept eines areligiösen Christentums und dem mit ihm verbundenen Abschied aller Auffassungen, nach denen dasselbe als Jenseitsreligion zu begreifen sei, die sich auf einen außerhalb der Welt liegenden Gott ausrichten würde. Schließlich hat Bonhoeffer vor allem im Spätwerk den Gedanken der Autonomie und Mündigkeit der Welt nachdrücklich bejaht. Ralf Wüstenberg hat gezeigt, dass letzterer mit hoher Wahrscheinlichkeit aus intensiver Auseinandersetzung mit den im zweiten Band von Dil­theys Gesammelten Schriften publizierten Studien zu Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation hervorgegangen ist.65 Bonhoeffer geht dann aber insofern andere Wege, als er Dil­theys Lebensphilosophie im Sinne einer christus-mystischen Konzeption zu interpretieren sucht. So wird 58 Vgl.

525 f.

59  Vgl. 60 Vgl.

K. Holl: Die Rechtfertigungslehre im Licht der Geschichte des Protestantismus,

zuletzt Chr. Gremmels: Bonhoeffer, Dietrich, 1684. R. K. Wüstenberg: Eine Theologie des Lebens, 261 f. 61 D. Bonhoeffer: Akt und Sein, Bd. 2, 49 (zit. nach. R. K. Wüstenberg: Eine Theologie des Lebens, 261). Zu Bonhoeffers Anknüpfung an Dil­theys Lebensbegriff vgl. auch T. R. Peters: Die Präsenz des Politischen in der Theologie Dietrich Bonhoeffers, 133ff; K. Bartel: Theologie und Säkularität, 204; H.‑J. Abromeit: Das Geheimnis Christi, 125f; R. K. Wüstenberg: Eine Theologie des Lebens, 261. 263. 268 f. 62 Vgl. R. K. Wüstenberg: Eine Theologie des Lebens, 268. 63 Vgl. K. Bartel: Theologie und Säkularität, 198. 64  Vgl. aaO., 198 ff. 65 Vgl. R. K. Wüstenberg: Eine Theologie des Lebens, 263–266.

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der „lebensphilosophische Erkenntnisgrund W. Dil­theys, der in der Frage nach dem Rätsel des Lebens gründet, […] bei Bonhoeffer lebenschristologisch zum Rätsel des christlichen Lebens als der Teilnahme am Sein Jesu“.66 d) Ein weiterer Rezeptionszweig, der sich schon von außen her nahelegt, ist im Blick auf Rudolf Bultmann zu erkennen. Ihm kommt das Verdienst zu, die Verstehensfrage als solche in der theologischen Debatte des 20. Jahrhunderts stark gemacht und damit späteren Generationen bis heute unabgegoltene Fragestellungen mit auf den Weg gegeben zu haben. Dass sich von hier aus Bezüge zu Dil­they ergeben, ist von vornherein zu erwarten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Bultmanns eigene Verstehenskonzeption maßgeblich auch von Dil­they beeinflusst zeigt.67 Wie sieht dieser Einfluss näher betrachtet aus? Erstmals greifbar ist er in seiner Habilitation Die Exegese des Theodor von Mopsuestia (1912).68 Gleich im einleitenden Abschnitt hält Bultmann fest: Sowohl im Blick auf „die exegetische Technik“ als auch in Bezug auf „ihr Vermögen, sich in den Geist eines literarischen Objekts zu vertiefen“ seien „[s]ehr anregend […] die Ausführungen von W. Dil­they ‚Die Entstehung der Hermeneutik‘“.69 Damit rekurriert er auf dessen bekannten im Jahr 1900 veröffentlichten Aufsatz zur Hermeneutik, dem er hinsichtlich seines eigenen Projekts offensichtlich eine wesentliche Orientierungsfunktion zuschreibt. Im Blick auf das Ganze jenes Bultmann-Textes lassen sich dann eine ganze Reihe von Berührungspunkten mit Dil­they ausmachen,70 wie etwa die Frage nach der Möglichkeit von Objektivität in der Auslegung schriftlicher Texte, die der Notwendigkeit eines kunstmäßigen Verfahrens, die Vertiefung in den Geist des literarischen Gegenstands, oder auch die Auffassung von Texten als Lebensäußerungen.71 Kann hier auch nicht in jedem einzelnen Punkt klar entschieden werden, inwieweit ein direkter Dil­ they-Einfluss vorliegt, so ist eine prinzipielle Anknüpfung Bultmanns doch unverkennbar. Eine Bestätigung findet diese Sichtweise durch briefliche Äußerungen aus der Spätzeit, in denen Bultmann nachdrücklich hervorgehoben hat, sich schon früh intensiv mit Dil­theys Philosophie beschäftigt zu haben.72 66  AaO., 261. 67 Vgl. W. Pannenberg:

Wissenschaftstheorie und Theologie, 171; G. Sinn: Christologie und Existenz, 142–146; U. Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, 54; H. Hübner: Bultmanns „existentiale Interpretation“; K. Hammann: Rudolf Bultmann, 78. 182 f. 68 Vgl. M. Evang: Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, 230ff; Hammann: Rudolf Bultmann, 49. 69  R. Bultmann: Die Exegese des Theodor von Mopsuestia, 18 f. 70 Vgl. M. Evang: Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, 231. 71  Insbesondere im Blick auf letztgenannten Punkt kann von entscheidenden „Anregungen, die Bultmann von Dil­they erfahren hat“, gesprochen werden, C. Bartels: Kierkegaard receptus, 271, Anm. 815. 72  So schreibt Bultmann am 11. 1. 1917 an Helene Feldmann: „Hoffentlich kann ich später einmal mit Dir wieder eins oder das andere wichtige Buch von Cohen oder Natorp oder auch Dil­they lesen“, zit. nach M. Evang: Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, 26.



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Ein Niederschlag seiner damaligen Dil­they-Lektüre kann auch in Bultmanns Buch Jesus (1926) gefunden werden. Dafür73 ist der Blick zum einen auf die in der Vorrede begegnende Unterscheidung von ‚Natur‘ und ‚Geschichte‘ zu lenken: So konstatiere der Mensch im Blick auf natürliche Begebenheiten ein Vorhandenes, das nicht mit ihm identisch sei, wohingegen er sich im Bereich des geschichtlichen Lebens auf etwas ihm zutiefst Verwandtes beziehe. Zum anderen beschreibt Bultmann jene Verwandtschaft auf eine Weise, die sich offensichtlich an Dil­they anlehnt. So heißt es: Wendet der Mensch sich „zur Geschichte, so muß er sich sagen, daß er ja selbst ein Stück der Geschichte ist, und sich also einem Zusammenhang (‚Wirkungszusammenhang‘) zuwendet, in dem er selbst mit seinem Sein verflochten ist“.74 Indem Bultmann diesen Sachverhalt mithilfe des Dil­theyschen ‚Wirkungszusammenhangs‘ auf den Begriff bringt, macht er unmissverständlich deutlich, dass er sich in seiner Geschichtsauffassung dem Geschichtsdenken Dil­theys prinzipiell verpflichtet weiß.75 Eine von Bultmann selbst vorgenommene Bestimmung seines Verhältnisses zu Dil­they findet sich schließlich in seinem Aufsatz Das Problem der Hermeneutik (1950). Sie ist geprägt von partieller Zustimmung und Abgrenzung. Gleich zu Beginn macht er klar, dass das ‚Problem‘, um das es ihm zu tun ist, von Dil­theys spätem Hermeneutik-Aufsatz übernommen ist, in dem letzterer die Frage aufgeworfen hatte, inwiefern das Verstehen geschichtlicher Singularität und fremder Individualität eigentlich Objektivität zu beanspruchen vermag. Bultmanns Antwort auf diese Frage weist zwei Seiten auf. Zum einen macht er deutlich, dass ‚Objektivität‘ im Sinne naturwissenschaftlicher Geltung durch kein hermeneutisches Vorgehen erreicht werden kann. Zum anderen bedeutet diese Feststellung aber nicht etwa, dass dort, wo ausgelegt und verstanden wird, völlige Willkür herrschen würde. Denn seines Erachtens führt schon die methodische Durchführung des Interpretationsvorgangs „zu eindeutigem, objektivem Verständnis“.76 Darüber hinaus weist Bultmann nachdrücklich darauf hin, dass alles Verstehen eines Textes vom ‚Woraufhin‘ einer bestimmten ‚Fragestellung‘ bedingt ist, die der Interpret immer schon mitbringt. Für Bultmann ist nun entscheidend, dass die heranzutragende Fragestellung zwar vom Interpreten gewählt werden muss, 73 Vgl. 74 Vgl.

H. Hübner: Bultmanns „existentiale Interpretation“, 288 f. R. Bultmann: Jesus, 7 f. 75 Vgl. H. Hübner: Bultmanns „existentiale Interpretation“, 288. Später hat Bultmann darauf hingewiesen, jenen Begriff Dil­theys auf Anraten Heideggers eingefügt zu haben (aaO., 286). Er hat sich aber stets dagegen verwahrt, wenn seine Dil­they-Rezeption auf den Einfluss Heideggers zurückgeführt wurde. So hält er in einem Brief vom 1. März 1964 an Friedrich Wolfgang Sticht ausdrücklich fest, schon vor seiner Begegnung mit Heidegger Dil­they studiert zu haben, vgl. F. W. Sticht: Die Bedeutung Wilhelm Herrmanns für die Theologie Rudolf Bultmanns, 96, Anm. 317; vgl. dazu auch G. Sinn: Christologie und Existenz, 142; H. Hübner: Bultmanns „existentiale Interpretation“, 282. So „ist zu vermuten […], daß Bultmann Dil­theys Begriff ‚Wirkungszusammenhang‘ kannte und deshalb gern auf Heideggers Vorschlag einging“ (aaO., 298). 76  R. Bultmann: Das Problem der Hermeneutik, 229.

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dass diese Wahl jedoch nicht völlig willkürlich erfolgt. Dies begründet er damit, dass sie „ja nicht aus individuellem Belieben [erwächst], sondern aus der Geschichte selbst, in der jedes Phänomen, seiner komplexen Natur entsprechend, verschiedene Aspekte darbietet“.77 Grundvoraussetzung ist dabei freilich, dass ein „Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache“ besteht, „die im Text – direkt oder indirekt zu Wort kommt“.78 So gesehen kann der Ausleger sich dann von den ihn selbst umtreibenden Fragen leiten lassen und gerade dadurch darauf vertrauen, ein lebendiges Verhältnis zu der im Text ausgesagten Sache zu besitzen und zu vertiefen. Dil­they spielt hierbei insofern eine wichtige Rolle, als Bultmann ihm das Verdienst zuschreibt, unter Rückgriff auf Schleiermacher die Engführungen des ‚Historismus‘ aufgebrochen zu haben. Denn während letzterer den Texten keinen eigenen Wert mehr beigemessen, sondern sie nur noch als Quelle zur Rekonstruktion eines Bildes vergangener Zeiten funktionalisiert habe, habe schon Dil­they das Interesse gehabt, die „echte Fragestellung der Interpretation […] für die Texte und Denkmäler […] zurück[zu]gew[i]nnen“.79 Darüber hinaus habe er mit der Entdeckung der „Verwandtschaft zwischen Autor und Ausleger als […] Bedingung der Möglichkeit des Verstehens […] in der Tat die Voraussetzung aller verstehenden Interpretation aufgedeckt“.80 Allerdings sieht Bultmann jenen Neuaufbruch bei Dil­they lediglich angebahnt. Denn seine Art der Problembehandlung zeige gleichwohl erhebliche Schranken. Zum einen habe Dil­they zwar erkannt, dass Verstehen auf einer übersubjektiven Voraussetzung aufruhe. Diese Voraussetzung dürfe aber nicht im Ausgang der Relation von Interpret und Autor gesucht werden. Stattdessen müsse sie, wie gesehen, als Verhältnis des Interpreten zur im Text ausgesagten Sache begriffen werden.81 Zum anderen ziele Verstehen bei Dil­they letztlich allein auf den Nachvollzug seelischer Vorgänge. Damit sei zwar in der Tat eine wichtige Verstehensperspektive eingenommen. Sie erweise sich aber angesichts der Vielfalt möglicher ‚Fragestellungen‘ als zu einseitig.82 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass bei Bultmann – unter dem Einfluss Kierkegaards – der Existenzbegriff an die Stelle des ‚Erlebens‘ tritt. Unter dem Stichwort der ‚hermeneutischen Theologie‘ fand Bultmanns Theologieverständnis als eines fundamental auf Verstehen ausgerichteten Vollzugs in seinen Schülern Fortsetzung und Weiterentwicklung. Insbesondere Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs sind hier zu nennen. Auch für Ebeling spielt Dil­they – 77  AaO., 78  AaO.,

229 f. 217. 79  R. Bultmann: Das Problem der Hermeneutik, 222. 80  AaO., 217. 81  Vgl. ebd. Damit soll zugleich die von Bultmann als zu unbestimmt kritisierte Voraussetzung des Verstehens fremder Individualität in der ‚allgemeinen Menschennatur‘ konkretisiert werden, vgl. aaO., 219. 82  Vgl. aaO., 215 f.



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neben Luther und Schleiermacher – noch eine wichtige Rolle.83 So beschäftigte er sich bereits während seines Studiums mit ihm, wie sich unter anderem mit Blick auf die Erarbeitung seines Hegel-Verständnisses zeigen lässt.84 Darüber hinaus hat er sich hinsichtlich der Einsicht in die radikale Historizität des Christentums geradezu emphatisch auf Dil­they bezogen.85 Wenn Ebeling sein theologisches Programm schließlich als ‚Theologie des Lebens‘ bezeichnen konnte, so dürfte darin auch ein Einfluss Dil­theys zu sehen sein. Für Fuchs spielt Dil­they letztlich nur noch als Wegbereiter Bultmanns eine Rolle.86 Ansonsten sind die Bezugnahmen rar. Bei den späteren Vertretern der ‚hermeneutischen Theologie‘ ist Dil­they als Gesprächspartner kaum noch anzutreffen.87 Der philosophische Referenzpunkt verlagert sich hin zu Gadamer. e) In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt Wolfhart Pannenbergs konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Dil­theys Werk schließlich eine der wichtigsten Etappen von dessen theologischer Rezeptionsgeschichte dar. Pannenberg hat auf Dil­theys Denken in unterschiedlicher Hinsicht – und häufig positiv – rekurriert. So hat er ihn zum einen als entscheidenden Vertreter derjenigen wissenschaftstheoretischen Denker gewürdigt, die im 19. und 20. Jahrhundert an einer Begründung der Eigenständigkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften arbeiteten.88 Zum anderen hat er ihn nicht nur als Protagonisten wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen ins Auge gefasst, sondern sich darüber hinaus auch an Dil­theys historiographischen Arbeiten orientiert. In seinem großen Buch Anthropologie in theologischer Perspektive verweist er diesbezüglich ausdrücklich auf dessen Analysen zum Wandel der Auffassung des Humanen in der Neuzeit, wonach letzteres nicht mehr primär im Rückgang auf Theologie und Metaphysik, sondern  – unter Aufnahme stoischer Gedanken – empirisch im Zusammenhang der Natur bestimmt worden sei.89 Pannenberg hebt insbesondere Dil­theys Darstellung Über die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts (1904) hervor, in der Dil­they jenen Wandel glänzend beschrieben und zugleich deutlich gemacht habe, inwiefern dieser mit einer Ausbildung des ‚natürlichen Systems‘ in den Geisteswissenschaften zusammenhänge.90 Darüber hinaus hat Pannenberg zu verstehen gegeben, dass er Dil­theys Neuzeitdarstellung nicht nur in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch im Blick auf die Wandlungsprozesse in Gesellschaft und Kultur 83 Vgl.

U. Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, 67. Ebeling, 15.

84  A. Beutel: Gerhard 85  Vgl. aaO., 191. 86 Vgl. 87  Vgl.

E. Fuchs: Marburger Hermeneutik, 31. etwa L. Oswald/W. Strolz (Hg.): Die hermeneutische Frage in der Theologie. In diesem Band kommt Dil­they nur noch ganz am Rande vor. 88 Vgl. W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, 74–82. 86. 98 passim. 89 Vgl. W. Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, 17, Anm. 5. 90  Vgl. aaO. 474.

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insgesamt für maßgeblich erachtet.91 Schließlich hat Pannenberg sich in einem entscheidenden Punkt seiner eigenen Konzeption auch in systematischer Hinsicht auf Dil­they bezogen, wobei die damit berührten Gesichtspunkte direkt ins Zentrum von Pannenbergs eigener Konzeption führen. In seiner Systematischen Theologie hat er als entscheidenden Anknüpfungspunkt „Dil­theys Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung“92 hervorgehoben. Dabei verweist er auf seinen bereits ca. 20 Jahre zuvor erschienenen Aufsatz Über historische und theologische Hermeneutik (1967), in dem er den fraglichen Sachverhalt erstmals und in gültig bleibender Weise erläutert habe.93 Um Pannenbergs Anschluss nachvollziehen zu können, sei ein kurzer Blick auf diese kleine Studie geworfen. Die Grundfrage, die Pannenberg hier aufwirft und die den gesamten Gedankengang strukturiert, ist bereits im Titel enthalten. Es geht um nichts anderes als das Verhältnis von historischer und theologischer Hermeneutik, wobei sich die Frage darin konkretisiert, ob diesbezüglich eine prinzipielle Differenz bezeichnet ist oder ob sich beide Auslegungshinsichten lediglich als Varianten innerhalb einer umgreifenden Gemeinsamkeit aufweisen lassen. Pannenbergs Beweisziel besteht darin zu zeigen, dass letzteres der Fall ist.94 In der neueren theologischen Debatte habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine bloße Ausrichtung theologischer Hermeneutik an der „direkte[n] Applikation des Text‚wortes‘, des Kerygma, auf die Gegenwart“ nicht hinreichend sei, sondern dass es darüber hinaus eines „Umweges über die von den urchristlichen Schriften ausgesagte Sache“ bedürfe.95 In einem solchen Sachbezug aber sollen sich „der historische und der theologische Aspekt nicht ausschließen“.96 Seine Begründung dieses Postulats erfolgt wesentlich unter Anlehnung an Dil­they. Pannenberg sucht nämlich zu zeigen, dass die „der Geschichte Jesu zugeschriebene[  ] Bedeutung […], Offenbarung Gottes [zu sein]“97 gerade in ihrem Ausgriff auf die „Ganzheit der Geschichte“98 eine Korrespondenz in der ‚historischen Hermeneutik‘ habe, und zwar in dem notwendig beanspruchten universalgeschichtlichen Ausgriff. Dil­they kommt in Pannenbergs Augen das Verdienst zu, der Notwendigkeit eines solchen Ausgriffs eine philosophische Begründung zuteilwerden gelassen zu haben. Er bezieht sich dabei auf die vom spä91  Vgl. aaO., 17, Anm. 5; W. Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, 27. 92 Vgl. W. Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 2, 343, Anm. 92; vgl. auch ders.: Systematische Theologie, Bd. 1, 64. 93  Ebd.; vgl. W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, 286. 94  Den Hintergrund dessen bildet die Aufgabe der Theologie, „den universalen Wahrheitsanspruch des Gottesgedankens des christlichen Glaubens zu explizieren“, Chr. Axt-Piscalar: Was ist Theologie?, 308. 95  W. Pannenberg: Über historische und theologische Hermeneutik, 133. 96  AaO., 134. 97  AaO., 137. 98  AaO., 139.



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ten Dil­they ausgearbeitete Konzeption der Bedeutungskategorie.99 Indem Dil­ they sie als ein Verhältnis von Teil und Ganzem definiert und dieses Verhältnis aus dem philologischen Bereich auf die Sphäre von Kultur und Geschichte übertragen habe, habe er der Einsicht zum Durchbruch verholfen, dass geschichtliche Ereignisse nur in ihrer interpretativen Verbindung zu einer größeren Einheit verstanden werden könnten, als deren Teil sie fungieren. Da jede Einheit aber wiederum als Teil einer größeren Einheit fungiert, ergebe sich ein unhintergehbarer Zug ins Universale. Dil­they wird für Pannenberg dadurch zum Gewährsmann für die These, dass alles Geschichtsverstehen mindestens implizit auf Universalität hin tendiere, so dass sich auch der für die ‚theologische Hermeneutik‘ charakteristische Bezug auf die ‚Ganzheit der Geschichte‘ keineswegs mehr als prinzipieller Sprung aus dem Bereich historischer Hermeneutik erweise. Dasselbe Problem hat Pannenberg anhand der Begriffe ‚Einzelsinn‘ und ‚Gesamtsinn‘ diskutiert – deren Verhältnis für seine Auffassung von Religion als Sinnerfahrung grundlegend ist. An beiden Fassungen des Problems hat Pannenberg zeitlebens festgehalten. In zwei Punkten ist Pannenberg laut eigener Auskunft dann aber über Dil­they hinausgegangen. Dil­they habe zwar zurecht darauf hingewiesen, dass jede historische Einzeltatsache erst dann als verstanden gelten kann, wenn sie vor dem Hintergrund der Ganzheit, der sie zugehört, betrachtet wird. Angesichts dessen, dass diese Ganzheit innerhalb des geschichtlichen Verlaufs letztlich aber immer noch aussteht, kann bei Dil­they „das Verständnis der Teile selbst keinen festen Boden gewinnen“, so dass er am Ende doch in die von Gadamer kritisierten „Aporien des Relativismus“ gerate.100 Pannenberg versucht dem dadurch zu entgehen, dass er das Theorem der hypothetischen „Vorwegnahme“101 jener Ganzheit einbaut. Aber noch in einem anderen Punkt markiert Pannenberg bei Dil­they ein Defizit: Die von ihm herausgearbeitete Bedeutungsstruktur sei nämlich anhand einer Beschreibung menschlichen Erlebens gewonnen. Wie Pannenberg vor allem in späteren Texten betont hat, bedürfe es aber einer „ontologischen Aufwertung“ des Bedeutungs- bzw. Sinnbegriffs „über Dil­theys Eingrenzung auf das ‚geistige Leben‘ und seine Erfahrung hinaus“.102 Soviel zu unserem knappen Durchgang durch die theologische Dil­they-Rezeption. In ihm sind einige wesentliche Punkte hervorgetreten, in denen die evangelische Theologie an Dil­they angeknüpft hat. Die wesentlichen Aspekte seien nochmals kurz zusammengefasst. Ganz überwiegend waren es methodologische Gesichtspunkte, die aufgegriffen und diskutiert wurden. So diente er sowohl für Troeltsch 99  Vgl. aaO., 142 ff. 100  AaO., 144. 101  AaO.,

146.

102  W. Pannenberg:

Systematische Theologie, Bd. 1, 181, Anm. 129. Pannenberg verweist diesbezüglich wiederum auf seinen einige Jahre zuvor erschienenen Aufsatz: Sinnerfahrung, Religion und Gottesfrage.

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als auch für die Vertreter der Lutherrenaissance als Repräsentant einer historistischen Wirklichkeitssicht, die als genuines Merkmal der geistigen Signatur der Moderne angesehen wurde. Auch bei Bultmann und Pannenberg spielte Methodologisches eine große Rolle, wobei jener den Begriff des Verstehens fokussierte, während letzterer vor allem bedeutungstheoretische Überlegungen aus Dil­theys Spätzeit ins Auge fasste. Außerdem ließen sich Bultmann und Bonhoeffer gerade auch von lebensphilosophischen Elementen des Dil­theyschen Werks inspirieren. Darüber hinaus fokussierte die Beschäftigung mit Dil­they aber auch inhaltliche Aspekte, wobei ganz unterschiedliche Akzente gesetzt wurden. Bei Holl etwa fand die materiale Auseinandersetzung vor allem im Blick auf Dil­theys religions- und theologiegeschichtliche Einschätzung der reformatorischen Rechtfertigungslehre statt. Bei Troeltsch, Bonhoeffer und Pannenberg dominierten hingegen Dil­theys geistes- und kulturgeschichtliche Neuzeitanalysen. An dem hier dargelegten Literaturüberblick lässt sich eine bestimmte Entwicklung beobachten. Anfänglich suchte die Theologie durchaus die Auseinandersetzung mit Dil­they. Prominente Denker ganz unterschiedlicher theologischer Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich mit den Elementen seiner Philosophie und eigneten sie sich in Teilen konstruktiv an. In den folgenden Jahrzehnten trat dieses Interesse immer weiter zurück. In Pannenbergs Werk erfuhr es zwar nochmals einen gewissen Aufschwung. Seitdem aber findet keine tiefere Auseinandersetzung mehr statt. Auch diejenige Bewegung, die qua Titel eine mögliche Verbindung nahelegen könnte – die ‚hermeneutische Theologie‘ –, kommt auf Dil­they allenfalls noch in historischer Distanzierung zurück. Zum Bildungskanon gehört er in der gegenwärtigen evangelischen Theologie definitiv nicht mehr. Im Vergleich zur Philosophie geht sie damit einen Sonderweg. Denn wie gesehen, hat hier in den letzten Jahren ein Umschwung stattgefunden, den man geradezu als eine kleine Dil­they-Renaissance bezeichnen könnte. Indem die Theologie diesen nicht mit vollzieht, lässt sie sich einen hochkarätigen Autor entgehen, der auch für die gegenwärtige Befassung der Religionsproblematik wichtige Einsichten bereithält. Dil­they ist vor allem deshalb so interessant, weil es ihm gelingt, die Religionsthematik konsequent auf dem Boden eines interpretativen Kulturmodells zu entwickeln. Dies soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden. Sie gliedert sich grob wie folgt. Der erste Hauptteil (I.) ist Dil­theys frühester Studie, der sogenannten Preisschrift (1859), gewidmet. Die Gründe für ihre ausführliche Rekonstruktion sind unterschiedlicher Art. Wie zu zeigen sein wird, erarbeitet Dil­they in ihr ein Bild von Genese und Geschichte neuzeitlicher Hermeneutik. Jene Schrift stellt somit Dil­theys erste ausführliche Untersuchung der Verstehensproblematik dar. Letztere wird freilich in einer bestimmten Perspektive thematisch, nämlich in der Betrachtung der Entstehung und Entwicklung der Lehre von der Auslegung schriftlich artikulierten Sinns. Im philologisch-sprachlichen Verstehen wird man daher geradezu Dil­theys Entdeckungszusammenhang der Verstehensfrage über-



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haupt sehen können. Die Auseinandersetzung mit der Preisschrift gibt zugleich Aufschluss über Motive und Einflüsse, die Dil­they zu Beginn seiner intellektuellen Entwicklung bestimmten und die sich dann auch auf sein späteres Werk ausgewirkt haben. Der zweite Hauptteil (II.) wird der Ausweitung nachgehen, die Dil­they dem Verstehensbegriff in seinem späteren Werk zuteilwerden ließ. Dabei wird sich zeigen, dass der philologische Rahmen konsequent überschritten wird, so dass ‚Verstehen‘ schließlich auf allen Ebenen der Sozial- und Kulturphilosophie Anwendung finden kann: So bietet Dil­they eine erkenntnispsychologische Grundlegung der Verstehensproblematik; er arbeitet Grundzüge geschichtlich-kulturellen Verstehens am Beispiel des Interpersonalitätsverstehens heraus; er geht der Verwobenheit individueller und kultureller Dimensionen im Selbst- und Fremdverstehen nach; und er analysiert die interpretativen Aspekte geschichtlicher Wirklichkeitsauffassung. Seine philosophisch-geschichtliche Religionsanschauung wird vor dem Hintergrund dieser kulturphilosophischen Konzeption entfaltet.

II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik in der Preisschrift Innerhalb der Dil­theyschen Historiographie neuzeitlicher Hermeneutikgeschichte kommt Schleiermacher eine besondere Stellung zu. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden ist Dil­theys Einschätzung über seinen Aufsatz zur Hermeneutik aus dem Jahre 1900. Aber schon in seiner Preisschrift spricht er den entscheidenden Gedanken klar aus: So habe erst Schleiermacher „eine wahre, allgemeine Hermeneutik […] auf[ge]stellt[  ]“ (XIV 698), so dass durch ihn die „Hermeneutik […] zum ersten Male im strengen Sinn des Wortes Wissenschaft“ (XIV 715) geworden sei. Nachdem dieses Urteil die allgemeine Sicht auf die Geschichte der Hermeneutik lange Zeit geprägt hatte, ist es in jüngerer Zeit massiv in die Kritik geraten. Besonders seitdem die Hermeneutik-Forschung den Blick verstärkt auf die Zeit der Aufklärung gelenkt hat,1 hat sich vielerorts die Ansicht herausgebildet, dass eine sachgerechte Beurteilung der Hermeneutikgeschichte geradezu im Gegensatz zu Dil­theys Grundthese zu entwerfen sei. Ihm wird dabei der Vorwurf gemacht, Schleiermachers Selbstinszenierung auf den Leim gegangen zu sein und diese unkritisch übernommen zu haben.2 Denn bereits die Aufklärungshermeneutik habe über ein Konzept allgemeiner Hermeneutik verfügt, und ebenso sei der Drang nach Systematisierung und Verwissenschaftlichung dieser Disziplin bereits vor Schleiermacher festzustellen.3 So berechtigt solche kritischen Rückfragen an Dil­theys Darstellung prinzipiell sind: Zum Teil werden sie ihr doch nicht ganz gerecht. Denn trotz aller „Erstmaligkeitsemphase“4, die er in Bezug auf Schleiermacher bietet: Es stand ihm durchaus vor Augen, dass schon früher bedeutende Hermeneutik-Konzeptionen entwickelt worden waren. Auch dass es in diesem Zusammenhang bereits zur Ausbildung einer ‚allgemeinen Hermeneutik‘5 gekommen war, stellt er ausdrücklich in Rechnung. Dies herauszuar1 Vgl. vor allem W. Alexander: Hermeneutica Generalis; A. Bühler: Unzeitgemäße Hermeneutik; H. Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Aus jüngster Zeit vgl. vor allem M. Beetz/G. Cacciatore (Hgg.): Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung; J. Schönert/F. Vollhardt (Hgg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methode der textinterpretierenden Disziplinen. 2  Vgl. etwa L. Danneberg: Siegmund Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik, 97. 3 Vgl. beispielsweise O. R. Scholtz: Hermeneutische Billigkeit; ders.: Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier. 4  W. Hübner: Schleiermacher und die hermeneutische Tradition, 567. 5 Vgl. XIV 620. 621. 624.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

beiten, ist Ziel des ersten größeren Abschnittes (I. 1). Im Anschluss daran sollen die Gründe erwogen werden, die Dil­they zu jener emphatischen Schleiermacher-Würdigung veranlasst haben. Da diese eng mit den Grundlagen der Schleiermacherschen Philosophie zusammenhängen, soll dafür zunächst Dil­theys Sicht auf dessen gleichsam vorhermeneutisches Fundament dargestellt werden (I. 2), um sodann seine Auffassung der von Schleiermacher geleisteten Begründung der Hermeneutik in den Blick zu nehmen (I. 3). Es wird zu fragen sein, ob seiner These nicht mindestens eine teilweise Berechtigung zuerkannt werden kann.

1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher a.  Die Preisaufgabe der Schleiermacherstiftung Die Abfassung von Dil­theys Preisschrift fällt in das Jahr 1859, zeitlich gesehen also etwa in die Mitte zwischen sein Examen (1856) und seine Promotion bzw. Habilitation (1864). Motiviert wurde sie durch eine Ausschreibung der – nach Schleiermachers Tod 1835 ins Leben gerufenen – Schleiermacher-Stiftung. Diese hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Andenken an ihren Namensgeber unter anderem dadurch zu erhalten und zu fördern, dass sie jährlich einen Wettbewerb auslobte, für den Themen zur Bearbeitung gestellt wurden, die sich auf Schlüsselprobleme des Schleiermacherschen Werks bezogen. 1859 rückte die Problematik der Hermeneutik in den Fokus, wobei die ausgegebene Preisfrage lautete: „Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil, ins Licht zu setzen“.1 Dem Preisträger sollte ein jährliches Stipendium zugesprochen werden.2 Dil­they fühlte sich von der Anfrage durchaus angesprochen, und zwar sowohl aus einem wissenschaftlichen als auch aus einem lebenspraktischen Interesse heraus. Schleiermacher galt ihm schon früh als einer der bedeutendsten Theologen der Neuzeit.3 Nach seinem Studienortswechsel nach Berlin hatte er seine Beschäftigung mit dessen Werk vertieft, was durch die Bekanntschaft mit Personen, die Schleiermacher in unterschiedlicher Weise nahegestanden hatten, dann noch verstärkt wurde. Als er von der Preisausschreibung Kenntnis nahm, war er also bereits zu einem erheblichen Grade mit Schleiermachers Werk vertraut und besaß ein inneres Interesse an der Bearbeitung der Fragestellung. Daneben tritt noch ein äußeres, das sich aus seiner damaligen prekären Lebenssituation erklärt.4 So stellte das Stipendium zwar sicherlich nicht den wesentlichen, 1  In einem Brief vom 4. März 1860 an seine Eltern zitiert Dil­they den genauen Wortlaut, vgl. G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: Briefwechsel, Bd. 1, 131. Die damals von Dil­they verfasste Studie findet sich in ihrer ursprünglichen Gestalt – abzüglich der Seiten 612–615 – in XIV 597–787. 2  Vgl. den Brief vom 23. Februar 1860 an den Vater, G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: Briefwechsel, Bd. 1, 128. 3  In einem Brief aus dem Sommer 1853 spricht er von Luther und Schleiermacher als „unsere[n] beiden größten Theologen“ (aaO., 3). 4 Nachdem er im Anschluss an seine Schulamtsprüfung zunächst als Hilfslehrer am Königlichen Französischen Gymnasium in Berlin und bald darauf als ordentlicher Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium tätig gewesen war, hatte er bereits im September des Folgejahres

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

aber vielleicht doch einen zusätzlichen Anreiz dar, sich der Sache anzunehmen. Nachdem im Februar 1859 die Ausschreibung erfolgt war, wurde Dil­theys Bewerbung um die Teilnahme im März vom Kuratorium der Stiftung angenommen. Im November reichte er seinen Text ein. Am 22. Februar des folgenden Jahres wurde ihm von der Stiftung der Preis zuerkannt.5 Aus der Themenstellung der Stiftung lässt sich ein gewisses Anliegen extrapolieren. Im Allgemeinen wird offensichtlich ein Beitrag zur Erschließung von Schleiermachers hermeneutischer Konzeption erwartet. Das Charakteristische seines Standpunktes soll ermittelt und dargestellt werden. Dies kann freilich nicht auf rein immanentem Wege geschehen, sondern bedarf einer vergleichenden Betrachtung, damit die spezifischen Konturen deutlich werden. Die Absicht der Aufgabensteller zielte vor allem darauf, das Problem nicht allein durch einen systematischen Vergleich auf synchroner Ebene zu bearbeiten, vielmehr wird der Akzent auf eine problemgeschichtliche Einordnung gelegt. Schleiermachers Beitrag auf dem Feld der Hermeneutik soll dadurch gewürdigt werden, dass er zu den Bemühungen seiner Vorgänger in Beziehung gesetzt wird. Nun waren Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Hermeneutik bereits durchaus vorhanden.6 Aber in der Aufhellung der theoriegeschichtlichen Hintergründe des Schleiermacherschen Entwurfs selber, gewissermaßen von diesem aus betrachtet, erblickte die Stiftung offenbar ein entscheidendes Forschungsdesiderat. Dabei lenkte sie den Fokus auf zwei Referenzautoren: Johann August Ernesti (1707– 1781) und Karl August Gottlieb Keil (1754–1818). Dass Ernesti als erster Bezugspunkt zu stehen kommt, besitzt seinen vornehmlichen Grund sicherlich darin, dass Schleiermacher sich in seinen eigenen Ausführungen selbst wiederholt auf ihn bezogen hat. Am klarsten kommt das in seinen handschriftlichen Notizen zum Ausdruck, die zur Zeit der Preisausschreibung allerdings noch nicht ediert vorlagen und dem wissenschaftlichen Publikum somit nicht zugänglich waren – wenn auch der kundige Leser die Anspielungen in den von Friedrich Lücke herausgegebenen Texten zur Hermeneutik7 durchaus finden konnte. Vor allem aber hatte Letzterer, der die nicht veröffentlichten Manuskripte kannte, im Anmerkungsapparat seiner Ausgabe die Beziehung zu Ernesti deutlich markiert.8 Dass Schleiermacher sich in seiner Konzeption an den Schuldienst aufgegeben, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen zu können. Dieser Umstand brachte eine ungesicherte Existenzweise mit sich, die sich auch in Geldfragen niederschlug. 5 Vgl. J. Rütsche: Das Leben aus der Schrift verstehen. Wilhelm Dil­theys Hermeneutik, 483. 6  Besonders prominent war etwa die 1841 erschienene Hermeneutik des Neuen Testaments von Henrik Nikolai Clausen, die ein Gesamtbild der Entwicklung von der apostolischen Zeit bis in die eigene Gegenwart zeichnete. Dil­they hat Clausens Entwurf gekannt, vgl. 723, Anm. 105. 7  F. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. 8  Vgl. aaO., 7, Anm. 1.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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dessen Theorie kritisch-konstruktiv abarbeitet, war im Blick auf seine eigenen Schriften offenkundig und mit Sicherheit auch den Verfassern der Preisaufgabe hinlänglich bekannt. Damit war der Bezug zu einem Autor gegeben,9 der als typischer Vertreter der frühen Neologie betrachtet werden kann, wobei unter Neologie bekanntlich derjenige Abschnitt der theologischen Aufklärung zu verstehen ist, in dem sich die Idee einer vernünftigen historisch-kritischen Erklärung des kirchlichen Überlieferungsgutes zunehmend durchzusetzen beginnt. Ernesti war Leipziger Professor, zunächst für Beredsamkeit, später auch in der Theologie. Im Urteil seiner Zeitgenossen wurde ihm das Verdienst zugeschrieben, einen philologischwissenschaftlichen Betrieb geschaffen zu haben, der der holländischen Schule (Hemsterhuis, Valckenaer, Ruhnken) in nichts mehr nachstand. Hinsichtlich des Verfahrens der Texterschließung verband ihn mit letzterer die Akzentuierung des grammatisch-kritischen Standpunktes, den er sich bereits im Zusammenhang klassisch-philologischer Studien erarbeitet hatte und den er auch für theologisch-hermeneutische Probleme in Anschlag zu bringen suchte. Angesichts dessen wurde ihm die Durchführbarkeit des traditionellen Verfahrens der Bibelexegese mit ihrem Anspruch auf eine vermeintliche Sonderauslegung der biblischen Schriften (hermeneutica specialis) zunehmend fraglich. In seinen Augen hat sich prinzipiell auch die Heilige Schrift der profan-wissenschaftlichen Erklärungsweise unterzuordnen, wobei die Erhebung des ‚sensus grammaticus‘ zur eigentlichen Aufgabe des Auslegers erklärt wird. Trägt der damit bezeichnete Ansatz im Programmatischen einen durchaus progressiven Grundzug, so gelangte dieser jedoch nicht völlig zur Geltung. Denn Ernesti sah sich zwar prinzipiell den neuen wissenschaftlichen Methodenidealen verpflichtet, wollte daneben aber die traditionelle kirchliche Lehre unangetastet lassen. Diese Einstellung brachte dann gewisse Modifikationen seiner auslegungswissenschaftlichen Grundsätze mit sich. So soll die Bibel zwar wie jedes andere Buch auch interpretiert werden. Sofern infolge dessen aber sachlich oder logisch Vernunftwidriges sich einstellen mag, wird dies nun etwa nicht als Gegenstand der Kritik aufgefasst, sondern der Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft zu Buche geschlagen. Der altprotestantische Begriff der Schriftoffenbarung bleibt somit letztlich in Kraft, trotz der bereits veränderten methodologischen Anlage. Der Position Ernestis ist somit ein spannungsvoller Charakter eigen, indem er einerseits zwar die wissenschaftlichen Neuerungen durchaus begrüßte, die Fundamente des lutherischen Kirchentums aber gleichzeitig bewahrt wissen wollte. Im Hinblick auf die Auslegungslehre ist die Institutio Interpretis Novi Testamenti von 1761 sein wichtigstes Werk. Durch die Herausstellung von Schleiermachers Verbindung zu Ernesti war also ein Bezug zur sogenannten Leipziger Schule aufgegeben, deren Gründer und 9 Vgl. G. Heinrici: Ernesti, Johann August; E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, 10–14; C. Plaul: Ernesti, Johann August.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

zeitweiliges Haupt letzterer gewesen war. Nun musste freilich in Rechnung gestellt werden, dass dieselbe bei dessen Position nicht stehen geblieben war, sondern eine eigene Entwicklung durchgemacht hatte. Dabei kann als ein bedeutender Repräsentant dieser Weiterbildung der andere der beiden oben genannten Autoren, Karl August Gottlieb Keil, genannt werden.10 Auch für ihn war Leipzig zum Ort seines Wirkens geworden. Hier hatte er Philologie, Philosophie, Mathematik, Physik und Theologie studiert. Seine wichtigsten Lehrer waren Ernesti sowie dessen Schüler Samuel Morus (1736–1792). Nachdem er zunächst außerordentlicher Professor der Philosophie und Theologie gewesen war, wurde er schließlich zum ordentlichen Professor der Theologie berufen (1793). In seinen eigenen Arbeiten wandelte er ganz in den Bahnen seines Lehrers Morus, der den vornehmlich an der grammatischen Interpretation orientierten Ansatz Ernestis stärker mit der historischen Auffassung Johann Salomo Semlers zu verknüpfen gesucht hatte. Das dadurch gesteckte Programm wurde auch für Keil maßgeblich, der infolge dessen die von Ernesti noch gebrauchten dogmatisch-theologischen Einschränkungen nicht mehr akzeptierte. Die bahnbrechenden Einsichten Semlers in das geschichtliche Gewordensein des biblischen Kanons11 wirkten dafür zu stark. Von hier aus wird nun deutlich, inwiefern die Stiftung auch nach Schleiermachers Bezug zu Keil fragen konnte – obwohl sich Schleiermacher selbst in der von Lücke herausgegebenen Hermeneutik nicht explizit auf ihn bezogen hat. Sein Name steht für eine Vertiefung der kritisch-aufklärerischen Impulse, die bei Ernesti noch nicht voll zum Durchschlag gekommen waren. Wenn das spezifisch Neue der Schleiermacherschen Konzeption bestimmt werden sollte, so konnte von dem hier erreichten Stand der Debatte nicht abgesehen werden. Allerdings wird die zusätzliche Wahl Keils nicht nur von solchen Erwägungen geleitet gewesen sein. Denn auch in Lückes Vorrede zu Schleiermachers Hermeneutik findet sich eine Bemerkung, in der er eine Verbindungslinie von diesem zu Keil zieht: Lücke stellt dort im Hinblick auf einen wesentlichen Grundzug der Hermeneutik Schleiermachers – der bereits im Titel der Lücke’schen Ausgabe angezeigt ist: die Unterscheidung und relative Selbstständigkeit von Hermeneutik und Kritik – Keil als einen entscheidenden Vorläufer hin. Eine solche Einschätzung im Rücken, verwundert es folglich nicht, dass in der Themenstellung durch die Stiftung neben Ernesti auch Keil in prominente Stellung einrückte.

b.  Dil­theys thematische Ausweitung der Aufgabenstellung der Preisaufgabe Dil­they sah sich also anfänglich vor die Aufgabe gestellt, den Konnex der Schleiermacherschen Hermeneutik zu zwei typischen Ausgestaltungen aufgeklärter 10 Vgl.

W. Schmidt: Keil, Karl August Gottlieb; E. Plümacher: Keil, Carl August Gott-

11  Vgl.

dazu M. Schröter: Aufklärung durch Historisierung.

lieb.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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Auslegungswissenschaft herzustellen. Dabei zeigt er aber von Anfang an einen freien Umgang mit der Forderung, vornehmlich auf diese Autoren einzugehen. Symptomatisch kommt dies etwa schon darin zum Ausdruck, dass er in einem Brief an seinen Bruder vom 19. Mai 1859 – also noch zu einem frühen Zeitpunkt der Abfassung – seine Absicht erklärt, die Bedeutung des Schleiermacherschen Standpunktes „in Verbindung mit Schlegel’s und Wolf ’s Weise zu erklären“.12 Die beiden von der Stiftung genannten Autoren finden sich in der brieflichen Schilderung seines Vorhabens gar nicht genannt. Dil­they fasst die Aufgabenstellung also von Anfang an in einer konstruktiven Weise auf und versucht, sich einen eigenen Weg in die Problematik zu bahnen. Im Zuge dessen entwickelt er dann die Einsicht, dass zur Erhellung des theoriegeschichtlichen Hintergrundes eine Hinblicknahme auf Ernesti und Keil nicht ausreichen kann. Denn letztere stehen selbst in traditionsgeschichtlichen Verweisungszusammenhängen, als deren Ergebnis ihre Werke angesehen werden können. Sowohl das Modell der grammatischen als auch das der historischen Interpretation besitzen eine wesentlich längere Vorgeschichte. Darüber hinaus erscheint es fraglich, ob überhaupt alle Einflüsse, die auf Schleiermacher gewirkt haben, anhand dieser beiden Entwürfe erfasst werden können. Angesichts der immensen Komplexität der neuzeitlichen Entwicklung der Hermeneutik vor Schleiermacher ergab sich für Dil­they somit die Herausforderung, den vergleichsweise engen Fokus der Preisaufgabe auf die Hochphase der Aufklärungshermeneutik auszuweiten, da es nur so möglich war, ein hinreichend differenziertes Bild zeichnen zu können. Für ihn ist es sonach „[n]atürlich, daß man auf die ganze frühere Entwicklung zurücksehen muß“.13 Gemessen an der relativ kurzen Zeit, die ihm für die Abfassung zur Verfügung stand – Februar bis November –, hat er einen Text von beträchtlichem Umfang und enormer historischer Weite vorgelegt: Im Erscheinungsbild seiner Gesammelten Schriften, in denen die Preisschrift erst 1966 von Martin Redeker als zweiter Teil des XIV. Bandes veröffentlicht wurde, erstreckt sich die Untersuchung auf knapp 200 Seiten. Die Zahl der primär und sekundär aufgeführten Autoren ist immens.14 Dem Interpreten seiner Schrift hat es Dil­they dabei nicht ganz leicht gemacht. Besonders hervorzuheben ist etwa der Sachverhalt, dass Dil­they seiner Arbeit weder eine Einleitung noch eine Schlussbemerkung beigefügt hat, wodurch jede übergeordnete Verständigung darüber fehlt, worum es ihm insgesamt zu tun ist. Hinsichtlich seines methodischen Vorgehens lässt sich vorab aber mindestens das 12  G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: 13  AaO., 79, Hvh. v. Verf.

Briefwechsel, Bd. 1, 100.

14  Die Möglichkeit zur Bewältigung dieser Aufgabe dürfte Dil­they nicht zuletzt durch die philologischen Elemente seines Theologiestudiums erwachsen sein. So kommt er etwa in einem Brief an seinen Vater vom 17. März 1854 auf Collegien zu sprechen, die er bei dem berühmten Philologen August Boeckh gehört hat (vgl. Br. I, 14). In einem autobiographischen Rückblick, den er in einem Brief im Mai 1870 an Wilhelm Scherer gegeben hat, bestätigt Dil­they diesen Einfluss nochmals (vgl. Br. I, 548).

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Folgende festhalten: Neben dem durch die Preisaufgabe vorgegebenen, gleichsam problemgeschichtlichen Verfahren bedient sich Dil­they für seine Schleiermacher-Darstellung zudem einer werkgenetisch-systematischen Methode, im Zuge derer er zwischen frühem und reifem Schleiermacher scharf unterscheidet. Aus alledem erwächst eine dreifache Gliederung: In einem ersten Abschnitt wird die „Hermeneutik vor Schleiermacher“ (XIV 597 ff.) behandelt, die Dil­they in enger Anbindung an die Entwicklung der protestantischen Bibelhermeneutik nachvollzieht.15 Dafür stellt Dil­they in einer wissenschaftsgeschichtlichen Überschau zur Entstehung und Entwicklung der neuzeitlichen Hermeneutik eine Vielzahl von Autoren vor, deren zeitliche Aufeinanderfolge als sukzessive Genese der wissenschaftlichen Gestalt dieser Disziplin gelesen wird. Im zweiten Abschnitt setzt Dil­ they direkt bei Schleiermacher ein. „Schleiermachers Hermeneutik nach ihrer Entstehung“ (XIV 660 ff.) schildert den Entdeckungszusammenhang und die daran anschließende Entwicklung seines hermeneutischen Problembewusstseins. Im dritten Abschnitt, der mit „Vergleichende Darstellung der Hermeneutik Schleiermachers im Verhältnis zu den älteren Systemen“ (XIV 691 ff.) überschrieben ist, werden beide methodischen Grundansätze näher zusammengeführt: Nachdem die werkgenetische Reflexion gleichsam von sich aus auf Schleiermachers Reifezeit und seine dortige Gestalt der Hermeneutik zuläuft, werden hier von Dil­they wieder verstärkt Rückbezüge auf die hermeneutische Vorgeschichte vorgenommen. Damit soll Schleiermachers hermeneutikgeschichtliche Bedeutung teils zum Leuchten gebracht, teils aber gerade auch relativiert werden – und zwar sowohl hinsichtlich bloß vermeintlicher Innovationen durch ihn als auch in Bezug auf Defizite seines hermeneutischen Systems.

c.  Die Entstehung der Hermeneutik „Nicht exegetische Kunst oder Versuche der Reflexion über dieselbe, aber wohl die hermeneutische Wissenschaft beginnt erst mit dem Protestantismus.“ (XIV 597) Mit dieser weitreichenden These setzt Dil­theys Abhandlung unmittelbar ein.16 Geistes- bzw. theologiegeschichtlich hat er die protestantische Re15  Von daher ist die vom Herausgeber gewählte Überschrift der Preisschrift in den Gesammelten Schriften treffend gewählt: „Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik“, XIV 595. 16  Dil­they schreibt dies als selbstbewusster Protestant, vgl. dazu auch die während der Abfassung der Preisschrift niedergelegte Tagebuch-Notiz: „Ich habe einen freudigen Stolz, den die Gegenwart versagt, in dem Gedanken empfunden, welcher Hebel wissenschaftlicher Entdeckungen damals die Theologie gewesen ist.“ (C. Misch: Der junge Dil­they, 89). Ob seine historiographische Darstellung deshalb von vornherein als verfehlt angesehen werden muss, – wie dies insinuiert wird von D. Thouard: Wie Flacius zum ersten Hermeneutiker der Moderne wurde – kann bezweifelt werden. Bereits im selben Band, in dem Thouards Beitrag erschien, schreibt Michael Titzmann – auf Basis eigener Forschungen – Dil­theys These der Sache nach fort (M. Titzmann: Herausforderungen der biblischen Hermeneutik in der Frühen Neuzeit, 119. 121). Vgl. dazu G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 476.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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aktion auf das Tridentinum vor Augen. Hier wurden neben einer Vielzahl strittiger Einzelfragen vor allem die Grundpositionen der katholischen Glaubenslehre formuliert, was als Reflex auf die Reformation auch die Verhältnisbestimmung von Bibel und Tradition beinhaltete. Nach reformatorischer Lehre sollte allein die Berufung auf die Heilige Schrift hinreichender Grund für die Beantwortung aller kirchlich-religiösen Fragen sein. Diese Auffassung bestritten die katholischen Theologen rundheraus und verfolgten in Form wissenschaftlicher Abhandlungen und Streitschriften einen forcierten Angriff auf jene protestantische Lehre. Unstrittig war, dass der Glaube eine sichere Grundlage benötige. Der katholische Haupteinwand kulminierte deshalb darin, zwar nicht die Autorität der Bibel infrage zu stellen, wohl aber ihre hermeneutische Unzulänglichkeit zu erweisen, um ihr die Autorität der Tradition als notwendige Ergänzung zur Seite stellen zu können. Die evangelischen Theologen sahen sich deshalb herausgefordert, den methodischen Ermöglichungsgrund des von ihnen behaupteten Fundamentes des christlichen Glaubens darzulegen und argumentativ zu verteidigen. Es musste gezeigt werden, dass den biblischen Texten durchaus ein verständlicher Sinn abgewonnen werden könne und dass die Gewinnung dieses Sinnes methodisch sichergestellt sei. So wurde das allgemeine hermeneutische Problem, wie überhaupt zu einem gesicherten Verstehen zu gelangen sei, gewissermaßen zu einem Grundproblem des Protestantismus. Seine exklusive Fixierung auf den biblischen Textsinn erzwang eine auslegungswissenschaftliche Selbstbesinnung, wie sie – Dil­they zufolge – zuvor nirgends geschehen war. Diese Leistung verbindet sich in Dil­theys Sicht auf geradezu repräsentative Weise mit dem Namen Matthias Flacius Illyricus (1). Allerdings kann er dann auch zentrale Kritikpunkte hinsichtlich dessen Auslegungslehre markieren (2). Beide Aspekte seien im Folgenden kurz geschildert. (1) Angesichts des Sachverhaltes, dass der wissenschaftlichen Ausgestaltung der hermeneutischen Disziplin durch die protestantische Lehrbildung eine lange Tradition von Fragen zur Schriftauslegung vorausgegangen ist,17 und angesichts dessen, dass Dil­they selber auf diesen Umstand explizit hinweist,18 stellt sich die Frage, was seine These eigentlich besagen soll. Hierfür ist zunächst Dil­theys an Schleiermacher erinnernde Unterscheidung zwischen den Begriffen einer ‚exegetischen Kunst‘, einer ‚Reflexion über dieselbe‘ und einer Hermeneutik in ‚wissenschaftlicher Bearbeitung‘ zu beachten. Während erstere für denjenigen 17  Dafür braucht man bloß daran zu erinnern, dass schon Aristoteles eine eigene Schrift – Peri Hermeneias – zu dieser Problematik verfasst hat. Darüber hinaus kann verwiesen werden auf die unterschiedlichen Bemühungen um eine allegorische Interpretation in der Antike (Sophistik, Stoa, alexandrinisches Judentum), die Tradition der juristischen Auslegung im römischen Recht oder auch die Weiterentwicklung der Allegorese in der patristischen und mittelalterlichen Exegese. Aus alledem geht klar hervor, dass hermeneutisches Fragen nicht erst in der frühen Neuzeit begonnen hat, vgl. H.‑G. Gadamer: Hermeneutik. 18 Vgl. XIV 597. 601 f.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Interpretationsvollzug steht, der zwar nach Regeln verfährt, sich darüber aber keine Rechenschaft gibt, würden diese in der zweiten ausdrücklich Thema. Die dritte und hinsichtlich der Apostrophierung als Wissenschaft entscheidende Stufe sei aber erst dort erreicht, wo es gelinge, ein „bindendes Prinzip“ (XIV 597) für den Zusammenhang der Regeln zu formulieren, das als jedem Auslegungsvorgang zugrunde liegend gedacht werden und von dem ausgehend deren systematische Erfassung erfolgen könne. Demzufolge behauptet Dil­they nicht, dass es vor der Reformation und zur Zeit der Reformation selbst keine hermeneutischen Bestrebungen – im weitesten Sinne – gegeben hätte. So kann er mit Bezug auf erstere Phase auch durchaus von einer „älteren hermeneutischen Reflexion“ (XIV 604) sprechen. Den Titel einer Wissenschaft aber reserviert er allein für eine prinzipienbasierte Form dieser Disziplin, die in der protestantischen Theologie der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ihre Ausgestaltung erfahren habe. Dabei ist nun danach zu fragen, inwiefern die protestantische Auslegungslehre über ein Prinzip verfüge und worin dieses eigentlich bestehe. Der entscheidende Referenzautor für Dil­they ist Matthias Flacius Illyricus. Dieser sei zwar keineswegs der Erfinder der neuen Auslegungsweise, da dieselbe bereits mit der Reformation in Kraft trete. Aber erst er habe sie in mustergültiger Weise auf den Begriff gebracht. Flacius Illyricus war ein ursprünglich aus Istrien stammender Gelehrter, der schließlich seinen Weg nach Wittenberg fand, um sich dort der neuen religiösen Bewegung anzuschließen.19 Als theologischer Forscher und Schriftsteller ist er auf unterschiedlichen Gebieten hervorgetreten: sowohl in der Kirchen- und Theologiegeschichte als auch auf dem Gebiet der Exegese. Dil­theys Interesse richtet sich ganz auf letzteren Aspekt, insbesondere auf dessen 1567 erschienene Schrift Clavis Scripturae Sacrae.20 Darin suche Flacius die Grundthese zu erhärten, dass die mögliche Unverständlichkeit der Schrift nicht in dieser selbst begründet liege, sondern immer auf einen Mangel des Exegeten zurückgehe. Im Zuge der Ausarbeitung des damit verbundenen Programms habe er dem „Prinzip der reformatorischen Hermeneutik“ seinen „theoretischen Ausdruck“ (XIV 600) verliehen.21 Dil­they zieht diesbezüglich eine Stelle aus der Einleitung in die Clavis heran, in der sich Flacius „herrlich“ (ebd.) darüber ausspreche. In Abgrenzung zu den Übersetzern der Schrift und den Kirchenvätern schreibt Flacius dort: „dass niemals der wahre Sinn erreicht werden kann, wenn die Gestalt in Unordnung gebracht wird und zur Zersplitterung der Schrift führt. Der wahre Sinn wird aus den heiligen Schriften, wie auch bei allen anderen Schriften, meistens aus Teilen, 19  Zu Flacius’ Leben und Werk vgl. immer noch W. Preger: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit; J. Matešić (Hg.): Matthias Flacius Illyricus. 20  Der vollständige Titel lautet: Clavis Scripturae Sacrae, seu de Sermone Sacrarum literarum. Dil­they bedient sich der Ausgabe Basel 1580. 21  Mit der letzten Einschätzung folgt Dil­they einer zu seiner Zeit verbreiteten hermeneutikgeschichtlichen Grundthese, vgl. H. N. Clausen: Hermeneutik des Neuen Testaments, 236; J. L. S.  Lutz: Biblische Hermeneutik, 21 f.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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aus dem Kontext, aus dem Skopus und gleichsam aus dem Verhältnis und dem Zusammenhang der Teile zueinander wie bei Körperteilen entnommen“.22 Das besagt, dass jede gelungene Interpretation von der Voraussetzung getragen ist, im Auslegungsgegenstand gleichsam ein organisches Ganzes vorzufinden, dessen einzelne Teile miteinander in einem allseitigen Wechselverhältnis stehen. Diesen Zusammenhang gilt es aufzuspüren, indem von der jeweiligen Einzelstelle ausgegangen wird und diese sowohl in ihrer kontextuellen Situierung als auch in ihrer Verbindung mit dem Skopus der gesamten Schrift sowie in ihrem Verhältnis zu allen übrigen Stellen betrachtet wird. Das Resultat dieses Vorgangs ist das Verständnis des wahren Sinnes des jeweiligen Textes. Das von Dil­they für die hermeneutischen Regeln geltend gemachte verbindende Prinzip erscheint somit als die methodische Konsequenz eines neuen Textverständnisses. Bemerkenswert ist an dieser von Dil­they herangezogenen Stelle, dass hier kein Unterschied zwischen ‚litterae sacrae‘ und ‚alia scriptura‘ geltend gemacht wird. Das angegebene Verfahren bezeichnet somit das sinnermittelnde Vorgehen in der Auslegung von schriftlichen Texten überhaupt. Die damit beschriebene hermeneutische Operation fasst Dil­they unter dem Stichwort der „synthetisch verfahrende[n] Interpretation“ (XIV 603) zusammen: Aus der Totalität aller einzelnen Bestandteile soll das Ganze einer Schrift ermittelt werden. Dabei bediene sich die Hermeneutik der „sich aus der Vernunft ergebenden allgemeinen Auslegungsregeln“23 (XIV 604).24 Damit ist nun zugleich Dil­theys eigentliches Argument genannt, warum der protestantischen Hermeneutik  – zumindest ansatzweise  – das Prädikat der Wissenschaftlichkeit zugebilligt werden könne. Denn durch den Rekurs auf vernünftige Allgemeinheit macht Dil­they deutlich, dass er durch Flacius ein Auslegungsverfahren auf den Weg gebracht sieht, das insofern auf universale Gültigkeit zielt, als es den Auslegungsprozess an eine allgemein ausweisbare Methode bindet.25 Damit sind natürlich in gar keiner Weise die theologischen 22  „[U]t nunquam vera sententia, ita instar dissolutarum scoparum dissipatae Scripturae, haberi potuerit. Vera enim sententia in Sacris litteris, sicut etiam in omnibus aliis scriptis, non minima ex parte ex contextu, scopo ac quasi proportione et congruentia inter se partium, ac ceu membrorum, plerumque accipitur”, Clavis Scripturae Sacrae, Bd. 2, 3, zit. n. XIV 600, Anm. 15 (Übers. v. Verf.). 23  Der Text ist im Original gesperrt gedruckt. Hervorhebungen solcher Art werden hier und im Folgenden nicht übernommen. 24  Dil­they bezieht sich damit auf Flacius: Clavis Sricpturae Sacrae, Bd. 2, 16, wo die Rede von Regeln ist, die entnommen sind „nostro arbitrio collectis aut excogitatis“, zit. n. XIV 602 f. 25  Ohne dass Dil­ they darauf zu sprechen käme, impliziert diese Rekonstruktionshinsicht zugleich die Annahme einer Ermäßigung des sola-scriptura-Prinzips durch Flacius. Denn im Hinblick auf die Auslegungslehre kenne zwar auch er „Regeln, die aus der heiligen Schrift selbst entnommen sind“ (Flacius: Clavis Sricpturae Sacrae, Bd. 2, 6, zit. n. XIV 602 (Übers. v. Verf.). Aber durch den Rekurs auf Vernunft und Allgemeinheit werden die Grenzen der theologischen hermeneutica specialis an dieser Stelle überschritten. Denn so betrachtet lasse Flacius zumindest im Blick auf das Auslegungsverfahren – wenn auch nicht für die Auslegungsergebnisse – zu, dass Gesichtspunkte geltend gemacht würden, die sich nicht den innerbiblischen Aussagen selbst verdankten.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Prämissen relativiert. Das bedeutet für Dil­they, dass alle theologische Hermeneutik einen – wie er an späterer Stelle festhält – „doppelten Ausgangspunkt“ (XIV 726) besitze, der zum einen durch die wissenschaftlichen Forderungen der allgemeinen Hermeneutik, zum anderen durch die spezifischen Herausforderungen der Theologie bezeichnet sei.26 Diese für letztere entscheidende Einsicht besitze ihren ersten Anfangspunkt bei Flacius. (2) Dil­they konstatiert allerdings auch, dass Flacius eine zufrieden stellende Verhältnisbestimmung der beiden Seiten noch nicht gelungen sei. Die hier auffallende Ambivalenz von positiver Würdigung und kritischer Relativierung stellt in Dil­theys Darstellung keinen Einzelfall dar, sondern markiert einen methodischen Grundzug in Dil­theys Hemeneutikgeschichtsschreibung – der auch hinsichtlich seiner Darstellung der späteren Entwicklungsstufen wieder begegnen wird: Stets sucht Dil­they in seinen geschichtlichen Würdigungen bestimmter theoretischer Positionen, das Innovative des betrachteten Standpunktes insoweit in den Blick zu nehmen, als durch ihn für die Folgezeit maßgebliche Impulse gesetzt werden, selbst dann – und das ist entscheidend –, wenn das als progressiv zu Würdigende in der historischen Gestalt des Entdeckungszusammenhanges noch von anderen Einflüssen überlagert ist. Dil­they ist darum bemüht, den die Entwicklung vorantreibenden Punkt auszumachen, selbst wenn seine Realisierung in vollem Umfang erst später erreicht wird. Aus einer solchen Perspektive heraus erfolgt auch seine Wertschätzung der protestantischen Hermeneutik. Sie wäre missverstanden, wenn man sie als kritiklose Emphase frühprotestantischer Bibelhermeneutik auffassen würde: „Auch damals bestand diese Wissenschaft noch nicht, als das neue Schriftprinzip einen entschiedenen und zusammenhängenden Angriff von Seiten der katholischen Kirche erfuhr […] In diesen Kämpfen entstand sie nun aber“ (XIV 597, Hvh. v. Verf.). Dil­they geht folglich keineswegs davon aus, die Hermeneutik habe hier ihre wissenschaftlich letztgültige Fassung gefunden – wenn auch dasjenige, was in der weiteren Entwicklung auf die Entstehung einer wirklich allgemeinen Hermeneutik führen wird, hier schon zu finden sei. Deshalb ist seine Darstellung des Flacianischen Werkes zugleich von einer scharfen Kritik durchzogen, die vor allem dessen Anwendung des protestantischen Hermeneutikprinzips auf die Heilige Schrift als ganze betrifft. Das Modell einer ‚synthetischen Interpretation‘ werde von Flacius nämlich mit einer „synthetischen Behandlung des Schriftganzen“ (XIV 602) verbunden. So steht im Hintergrund die „störend[e] Tendenz der Clavis […], die Vollkommenheit und Suffizienz des Schriftganzen zu beweisen“ (XIV 607 f.). Der Skopus der Einzelschrift, 26  An späterer Stelle hält Dil­ they im Kontext der „spezielle[n] Hermeneutik des Neuen Testaments“ bei Schleiermacher fest: Dieselbe „hat einen doppelten Ausgangspunkt: nicht nur der allgemeinen Hermeneutik, sondern auch der theologischen Wissenschaft ist sie untergeordnet […] Und nur wenn die eigentümlichen Schwierigkeiten, die in diesem Doppelverhältnis liegen, gleich in der Voraussetzung bei ihrer Wurzel ergriffen werden, kann die Auslegung des Neuen Testaments sich auf gesicherter Grundlage bewegen“ (XIV 726).



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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der den Interpretationsvollzug gewissermaßen leite, werde dadurch überlagert vom Gedanken des einheitlichen Sinns des Kanons, wodurch der individuelle Zusammenhang jedes einzelnen Buches nicht mehr angemessen gewürdigt werden könne. Und so gehe der Zusammenhang des Schriftganzen „mitten durch die einzelnen Bücher der Schrift, wenig bekümmert um ihren Zweck und ihre innere Form“ (XIV 605). Das habe dann Konsequenzen bis auf die Auslegung jeder einzelnen Stelle einer Schrift. So werde die grammatische Beziehung auf den nähren Kontext von der „sachlichen Beziehung auf das Ganze [sc. der Bibel]“ (XIV 603) gleichsam verdrängt, was besonders durch die Anwendung der Auslegungsmittel der Analogia fidei und der Sachparallelen zum Ausdruck komme. Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung bekanntlich in der altprotestantischen Lehre von der Verbalinspiration der Schrift. In diesem Punkt vermag, so könnte man sagen, die protestantische Auslegungslehre nicht die Konsequenzen aus ihrem pogrammatischen Neuansatz zu ziehen. Und so „tritt der Mangel dieser Exegese, welche in der unhistorischen und abstrakt logischen Fassung des Prinzips des Schriftganzen oder Kanons liegt, offen zutage. Das Extrem der protestantischen und das der katholischen Exegese begegnen sich hier“ (ebd.). Im Hinblick auf Dil­theys These, dass die Entstehung der Hermeneutik mit der Anfangszeit des Protestantismus zusammen falle, darf diese kritische Stoßrichtung gegen Flacius nicht übersehen werden.

d.  Die entscheidenden Umformungsstationen Wie gesehen, hat der Protestantismus der Wissenschaftsgeschichte nicht zuletzt die Idee einer selbständigen Hermeneutik eingestiftet. Diese Idee sei eingebettet gewesen in die Fragen der korrekten Bibelauslegung. Sie finde sich anfänglich jedoch in Verbindung gebracht mit dem dogmatischen Gedanken einer vollständigen sinnkonsistenten Einheit des biblischen Kanons. Dieser Sachverhalt bezeichne nicht nur den kontigenten Entstehungsort der Theorie, sondern markiere auch eine wirkliche Schranke in der Ausbildung zur vollen wissenschaftlichen Gestalt. Angesichts dessen ist der weiteren Entwicklung in Dil­theys Sicht ein doppelter Grundzug eigen. Zum einen habe es gegolten, die dogmatischen Prämissen zu überwinden, die sich der Erfassung des authentischen Sinnes der biblischen Schriften in den Weg stellten. Zum anderen habe das Potential zu einer allgemeinen Theorie der Interpretation gehoben werden müssen, indem der universale Charakter der in Verbindung mit der Bibelauslegung gewonnenen Einsichten herauszuarbeiten gewesen sei. Da der historische Hintergrund der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte also zunächst in der biblischen Philologie zu suchen ist, ist es für Dil­they auch nicht verwunderlich, dass die Entdeckung vieler der entscheidenden Auslegungsmomente dann ebenso in unmittelbarer Nähe zu Fragen der Bibelauslegung erfolgt sei, ehe sie sich schließlich als Grundprinzipien einer Theorie von Auslegung überhaupt durchzusetzen vermocht hätten.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Für seine Rekonstruktion der weiteren Entwicklung hermeneutischer Fragestellungen nimmt Dil­ they zunächst nicht die Hauptlinien der kirchlichen Theologie, sondern gleichsam Außenseiter in den Blick, von denen die weitere Problemgeschichte entscheidend vorangetrieben worden sei. Eine Schlüsselrolle billigt er den geistesgeschichtlichen Entwicklungen im Spannungsfeld von Humanismus und Frühaufklärung zu, die erst allmählich auch in Deutschland ihre Durchsetzung gefunden hätten. Aufgrund des Zielpunktes der Preisschrift besitzen die Veränderungen im Debattenzusammenhang der deutschen Aufklärung zwar Priorität. Deren westeuropäische Vorgänger werden hinsichtlich ihrer problemgeschichtlichen Bedeutung aber explizit gewürdigt. In einem Brief aus dem Jahre 1870 hat Dil­they das Programm seiner Untersuchung sogar dahingehend lapidar zusammenfassen können, dass es ihm um die Darstellung des Einflusses der großen epochalen Werke der Hermeneutikgeschichte – von Siegmund Jakob Baumgarten bis Friedrich August Wolf – als „eine Übertragung der englisch-französischen Methoden auf Deutschland“27 zu tun gewesen sei. Dieser Hintergrund der deutschen Debatte wird von ihm in der Tat in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederholt herausgestellt. Vor allem die Ausbildung der grammatischen, der historischen sowie der ästhetischen Interpretation sei ohne ihre Vorgänger in Frankreich, Holland, der Schweiz und England nicht zu verstehen. Eine herausragende Stellung nimmt dabei derjenige Einfluss ein, den Dil­they mit dem Stichwort „Die Bewegung unter den Reformierten, besonders den Remonstranten“ (XIV 615) zusammenfasst. Zwar sind seine Ausführungen hierzu äußerst knapp gehalten, aber der zugewiesenen Bedeutung wird dadurch nichts genommen. Denn diese geistig-religiöse Strömung des 17. Jahrhunderts bereitet in Dil­theys Gesamtbild überhaupt erst die Basis für einen Großteil derjenigen Neuerungen, wie sie sich im Zuge der Aufklärung dann vollzogen haben. Hier ist in besonderem Maße an die ersten beiden der eben genannten Auslegungshinsichten – die grammatische und die historische Interpretation – zu denken. Zunächst zu ersterer. i.  Die grammatisch-historische Interpretation Dil­they zieht hier vier Autoren heran, mit deren Namen die Entstehung dieser hermeneutischen Perspektive verbunden sei: Hugo Grotius (1583–1645), Jean le Clerc (1657–1736), Jean Alphonse Turretini (1671–1737) und Johann Jakob Wettstein (1693–1754). Ersterer gilt ihm dabei jedoch als der eigentliche Initiator. Deshalb seien zunächst einige Beobachtungen zu Dil­theys Auffassung von dessen hermeneutikgeschichtlicher Bedeutung angestellt (1). Sodann soll es um Dil­theys Sicht der Entstehung der später sogenannten ‚grammatischen Interpretation‘ (2) sowie der ‚historischen Interpretation‘ gehen (3). 27  Brief vom Mai 1870 an Wilhelm Scherer, G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: Briefwechsel, Bd. 1, 549.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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(1) In Holland geboren,28 dort in Literatur, Philosophie und Jurisprudenz ausgebildet, hatte Grotius im Jahre 1613 zunächst eine politische Laufbahn als Pensionaris von Rotterdam begonnen. Im Zusammenhang des Remonstrantenstreits (1618) musste er aus Holland fliehen, um nahezu seine gesamte weitere Lebenszeit im Ausland zu verbringen. Nach mehrjähriger Arbeit als schwedischer Gesandter in Frankreich starb er schließlich während einer Reise in Rostock. Neben seiner politischen Aktivität zeigte Grotius auch auf literarischem Gebiet enorme Produktivität, wobei er eine große Bandbreite an unterschiedlichen Disziplinen abdeckte (Jurisprudenz, Philologie, Geschichte, Poetologie). Die ideengeschichtlich breiteste Wirkung hat er sicherlich mit seinen naturrechtlichen Arbeiten – etwa zu Fragen des gerechten Kriegs oder des Völkerrechts  – gezeitigt. Er tat sich aber auch dezidiert in der Theologie hervor, und zwar sowohl im Hinblick auf Fragen der christlichen Lehre als auch hinsichtlich der Probleme der Bibelauslegung. Dil­they interessiert natürlich vor allem letzteres, wobei er aus Grotius’ Verbindung von urbaner Gelehrtheit und theologischem Nachdenken ganz neue Impulse erwachsen sieht, insofern dieser „alle Freiheit und Eleganz seines umfassenden, in Jurisprudenz und weltlichen Geschäften geübten Geistes […] in die Exegese“ (XIV 616) übertragen habe. Grotius’ wichtigste Schriften auf dem Gebiet der Exegese sind seine Annotationes ad Novum Testamentum (1641–45) und Annotationes ad Vetus Testamentum (1644),29 in denen er einen bereits sehr weit gehenden philologisch-kritischen Umgang mit den biblischen Schriften zeigt: Der Abstand zwischen weltlichen und sakralen Texten wird stark ermäßigt, und die Bücher der Bibel werden letztlich so behandelt, wie die gelehrte humanistische Philologie der damaligen Zeit sich der antiken Werke zu bemächtigen suchte. Aus der Überzeugung heraus, dass der Textbestand der biblischen Überlieferung durch etliche Fehler und Verunreinigungen beschädigt worden war, entwickelte Grotius ein Verfahren des Vergleichs textlicher Variationen. Hierfür zog er sowohl die Vulgata als auch den hebräischen Text, die Septuaginta sowie andere Übersetzungen heran, um darüber ein besseres Verständnis der Bibel herbeizuführen. Dass damit auch Ergebnisse traditioneller Exegese in Frage gestellt wurden, stellte für ihn kein Hindernis dar.30 Grotius beschränkte seine kritische Bearbeitung aber nicht auf das Alte 28  Die Literatur zu Grotius’ hermeneutischen bzw. exegetischen Schriften ist immer noch sehr überschaubar, vgl. jetzt H. C. Rogge: Grotius, Hugo; E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. 1, 225–236; H. Graf Reventlow: Humanistic Exegesis; H. J. M.  Nellen: Growing Tension between Church Doctrines and Critical Exegesis of the Old Testament, 808–817. 29  Vgl. ebd.; E. Hirsch, aaO.; H. J. M.  Nellen, aaO. 30 Mit diesem philologischen Ansatz befindet sich Grotius in großer Nähe zu den kritisch-hermeneutischen Arbeiten seines Zeitgenossen Louis Cappel (1585–1658), von denen man weiß, dass Grotius sie intensiv zur Kenntnis genommen hat. Cappels Bemühungen gipfelten 1650 in der Veröffentlichung seiner mehrbändigen Critica Sacra, in denen er die Lehre von der Unversehrtheit der Textüberlieferung des Alten Testaments als unhaltbar nachwies und somit

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Testament, sondern suchte die philologische Methode auch im Blick auf die neutestamentlichen Schriften zur Geltung zu bringen, indem er beispielsweise die Worte Jesu oder auch die neutestamentliche Briefliteratur mittels Vergleichs aus alten griechischen und lateinischen Schriftstellern erklärte. Dil­they nimmt vor allem die Konsequenzen dieses Verfahrens für die Erarbeitung des Neuen Testamentes in den Blick: „Seine [sc. Grotius’] Benutzung der Septuaginta und besonders des Philo und Josephus förderte die Bestimmung des engeren Sprachund Ideenkreises des Neuen Testaments.“ (XIV 616) Mit Blick auf die Unvoreingenommenheit im Bemühen um eine kritische Erschließung des Wortsinnes der Schrift kann Dil­they dann auch von der „grammatisch-historischen Interpretation des Grotius“ (XIV 725) sprechen. Grotius’ Werk und die mit ihm verbundene Wirkungsgeschichte perspektiviert Dil­they nach zwei Hinsichten: Auf der einen Seite habe sich hier diejenige hermeneutische Richtung entwickelt, die im 18. Jahrhundert dann unter dem Titel ‚grammatische Interpretation‘ verhandelt wird. Auf der anderen Seite sei daraus die ‚historische Interpretation‘ hervorgegangen. Zunächst zu ersterem Zusammenhang. (2) Grotius steht für die Einsicht, dass keine Auslegung ohne Besinnung auf die geschichtliche Einbettung bzw. konventionelle Geprägtheit sprachlicher Ausdrücke auszukommen vermag. Die nähere wirkungsgeschichtliche Entfaltung besitze ihren Ort innerhalb der reformierten und da besonders der remonstrantischen Bewegung. Hier hinein ordnet Dil­they die übrigen oben genannten Autoren chronologisch ein. Zunächst habe sich der Gelehrte Le Clerc – ein von der Genfer Orthodoxie zur Richtung der Arminianer übergegangener Theologe, der schließlich als Professor am Remonstrantengymnasium in Amsterdam lehrte  – das Verdienst erworben, die vornehmlich auf dem Gebiet der Exegese getätigten Neuerungen des Grotius „zuerst“ in „hermeneutische Grundsätze“ (XIV 616) überführt zu haben. In gewisser Analogie dazu, wie in der Anfangszeit des Protestantismus durch Flacius die theoretische Formulierung dessen gegeben worden sei, was eine Generation vor ihm bereits praktiziert wurde, habe auch Le Clerc in seiner Ars Critica (1697) den neuen Interpretationsansatz zu einer hermeneutischen Theorie vertieft. Sodann verdeutliche die Schrift des Genfer Theologieprofessors Turretini, De sacrae scripturae interpretandae methodo tractatus bipartitus (1728), die wirkmächtige Fortsetzung der von Grotius gewiesenen Richtung. So gehe auch Turretini davon aus, dass „[a]us dem Sprachgebrauch der Zeit, der Sekte, des Volkes […] jede Schrift zu erklären“ (ebd.) sei. Der Schweizer Bibelwissenschaftler Wettstein, dem das Verdienst zukommt, eine textkritische Neu-

zugleich die Lehre von der Verbalinspiration scharf angriff. Vgl. H. J. M.  Nellen: Growing Tension between Church Doctrines and Critical Exegesis of the Old Testament, 811 f. Auf die Verbindung von Grotius zu Cappel geht Dil­they aber nicht weiter ein.



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ausgabe des Neuen Testaments samt Kommentar besorgt zu haben, habe schließlich eine Art methodischer Konzentration geleistet, insofern bei ihm in „nur wenige[n] Regel[n] […] im Keime alle Bestrebungen der grammatisch-historischen Methode“ (XIV 617) enthalten seien. (3) Das historische Element spielt also schon hinsichtlich der Frage nach einer angemessenen Bestimmung des grammatischen Sinns eine wesentliche Rolle. Unbeschadet dessen hebt Dil­they im Blick auf die reformiert-remonstrantische Bewegung aber auch ihre geschichtliche Bedeutung für die Entwicklung der ‚historischen Interpretation‘ hervor. Grotius kommt wiederum als Ahnherr zu stehen. Dessen Leistung beschränke sich nämlich nicht auf Probleme der grammatischen Sinnerhebung, sondern erstrecke sich darüber hinaus auch auf andere zentrale Auslegungshinsichten. So lägen die „Anfänge der historischen Interpretation“ vor allem „[i]n seiner Behandlung der Psalmen und Propheten“ (XIV 616). Was steht Dil­they hier vor Augen? Grotius hatte sich in vielen seiner Werke in unterschiedlicher Weise mit der historischen Bedeutung des Alten Testaments befasst. Schon in seiner Schrift De iure belli ac pacis (1625/1646) hatte beispielsweise die Frage nach der Bedeutung der alttestamentlichen Gesetzgebung in ihrem Verhältnis zum Naturrecht eine entscheidende Rolle gespielt.31 Eine eingehendere Exegese des Alten Testaments unternahm er dann in den bereits erwähnten Annotationes ad Vetus Testamentum. Dabei beginnt Grotius,32 die Bibel  – entgegen der orthodoxen Lehre von der Einheit der Heiligen Schrift – in ihrem geschichtlichen Gewordensein zu verstehen, indem er die alttestamentlichen Schriften aus ihrem jeweiligen historischen Kontext zu erklären sucht und sie in die Geschichte Israels einordnet. Welche weitreichenden Folgen diese Sichtweise mit sich brachte, tritt besonders hervor, wenn man auf Grotius’ Behandlung der Propheten und Psalmen schaut, worauf auch Dil­they hinweist. Das Bahnbrechende lag vor allem in Grotius’ Problematisierung der typologischen Deutung. In altevangelischer Schriftauslegung waren die verschiedenen messianischen Weissagungen als direkte Verweise auf die Erscheinung Christi ausgelegt worden. Hier setzt Grotius kritisch an. Er verneint zwar nicht völlig, dass Jesus im geistlichen Sinne als Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen verstanden werden kann. Aber er betont, dass die verschiedenen Prophetenworte ursprünglichen einen durchaus anderen Sinn gehabt haben.33 Eine analoge Korrektur fordert Grotius auch im Hinblick auf die Psal31  In ihr hat er eine Konzeption des Naturrechts vorgelegt, das als Grundlage allen – göttlich oder menschlich – gesetzten Rechtes behauptet wird, vgl. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. 1, 14–30. 32 Vgl. H. J. M.  Nellen: Growing Tension between Church Doctrines and Critical Exegesis of the Old Testament. 33  Statt auf Christus beziehe sich Jes 7,14 auf den Sohn Jesajas, richte sich Jes 53 auf den Propheten Jeremia hin aus, meinen Jer 23,5, Ez 34,23 und 37,22 den rechtschaffenen Zweig der Davidfamilie und ziele Mi 5 auf den Statthalter Serubabel ab.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

men.34 Nach der gängigen Ansicht seiner Zeit waren die David zugeschriebenen Lieder als Gebete Christi zu verstehen. Grotius aber sucht die Einsicht stark zu machen, dass es sich bei ihnen um das literarische Produkt der geschichtlichen Person Davids handelt, der in seinen Liedern von seinen Taten und seinem Schicksal erzählt.35 Diese Aspekte einer historisch-kritischen Lesart alttestamentlicher Texte hat Dil­they vor Augen, wenn er Grotius als den ersten Vertreter der historischen Interpretation hinstellt. Im Unterschied zur grammatischen Interpretation, für die Grotius in Dil­ theys Darstellung beinahe allein als entscheidender Autor fungiert, lenkt er die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang zudem auf eine weitere Entwicklungsstufe, die er mit Blick auf den etwa hundert Jahre nach Grotius auftretenden Johann Jakob Wettstein erläutert.36 In seinem Werk artikuliere sich dann die grundlegende Einsicht, dass man „sich in der Vorstellung bei der Lektüre völlig in Zeit und Denkart der Leser versetzen“ solle, „ihre Sitten, ihre Meinungen, ihre Methode der Beweisführung und Überzeugung, ihre Redeweise, ihre Bilder – alles das soll man gegenwärtig haben; dagegen jede Erinnerung an gegenwärtige Systeme von sich abtun“ (XIV 618). Gefordert sei sonach das Sichhinein-Empfinden in die vergangene Situation. Die historischen Stoffe sollten vergegenwärtigt werden, wobei eigene Meinungen und Vorstellungen, die letztere bloß verstellen würden, dezidiert auszuschließen seien. Indem Dil­they Wettsteins Anschauung in dieser Weise reformuliert, macht er ihn zum Vordenker des sogenannten Einfühlungstheorems, das dann bekanntlich ein basales Aufbaumoment historistischer Geschichtshermeneutik bildete. Damit ist ein erheblicher Abstand zur orthodoxen Auslegungslehre bezeichnet, die die Bibel restlos als überzeitlich gültige Offenbarungsmitteilung des göttlichen Autors versteht und entsprechend keinerlei Sinn für zeitkolorierte Modifikationen in den biblischen Schriften besitzt. Die historische Auslegungsgestalt, in der sich dieser Umbruch vollzogen habe, ist die Theorie der „Akkomodation“ (XIV 617). Dil­they verweist damit auf ein wichtiges Auslegungstheorem der Aufklärung,37 das sich im 17. Jahrhundert auszubilden beginnt und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinen Zenit erreicht. Motiviert wurde seine Einführung durch die aufklärerische Forderung nach einer vernünftigen Bibelauslegung, im Zuge derer die jeweils verschiedene geschichtliche Einbettung der biblischen Bü34  Vgl. jetzt P. Lombardi: Die intentio actoris und ein Streit über das Buch der Psalmen, 48–52. 35  Eine solche Perspektive war nicht völlig neu. Schon der 1536 gestorbene Humanist Lefèvre erwähnt eine solche Ansicht – und lehnt sie als judaisierend ab. Grotius aber macht sie sich ganz zu eigen, was ihm von Seiten mancher Zeitgenossen den Spottnamen „Grotius judaicans“ einbrachte, zit. nach H. C. Rogge: Grotius, 201. 36  Dil­they bezieht sich hierbei auf die 1766 von Semler edierten Libelli ad crisin atque interpretationem N. T. 37 Vgl. R. Hofmann: Accomodation; G. Wehrung: Akkomodation Jesu; U. H. J.  Körtner: Akkomodation.



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cher zunehmend zu Bewusstsein kam. Damit entstand zugleich eine gewisse Distanz zu einer Vielzahl der darin enthaltenen Vorstellungen, wie etwa gegenüber den messianischen Weissagungen, der Engel- und Teufels- oder auch der Versöhnungslehre. Dieser genuin aufklärerische Impuls bedeutete aber nicht etwa den gänzlichen Verzicht auf den Gedanken der Inspiriertheit der Heiligen Schrift. Denn an einem gewissen Ausgleich zwischen Inspirationsannahme und kritischer Reflexion wurde durchaus festgehalten. Genau diese Vermittlung zu leisten, war die Funktion der Akkomodationsannahme: Die nicht mehr einleuchtenden Aussagegehalte der Heiligen Schrift wurden als Anpassungen des göttlichen Autors bzw. der biblischen Schriftsteller an die Zeitgebundenheit ihrer ursprünglichen Zuhörer aufgefasst, wodurch das als irritierend empfundene Abweichen vom überzeitlich gültigen Lehrinhalt der Schrift einsichtig gemacht werden kann.38 Insofern steht die Akkomodationstheorie gewissermaßen für ein Doppeltes: das bereits starke Aufkommen eines historisch-kritischen Bewusstseins bei dem gleichzeitigen Versuch, die Inspirationsannahme zu retten. Einen ebenso zweiseitigen Befund erhebt Dil­they im Hinblick auf Wettstein. Denn zum einen habe dessen Ziel zwar darin bestanden, „[d]ie biblischen Schriftsteller […] aus den Begriffen der Zeit zu interpretieren“ (XIV 617). „Aber“, so fügt Dil­they kritisch an, „noch wird aus einer Akkomodation an diese Begriffe das erklärt, was der Leser der Inspiration nicht würdig findet.“ (XIV 617 f.). Auch für Wettstein bleibe „[d]er Inspirationsbegriff […] unberührt“ (XIV 618). Im Versuch, sich über die Entstehungsbedingungen der biblischen Schriften ins Klare zu setzen, trete hier dennoch ein kritisch-methodisches Bewusstsein zu Tage, das für die weitere Entwicklung einen entscheidenden Beitrag geleistet habe. Angesicht dessen kann es dann geradezu heißen: „Die erste Form der historischen Interpretation ist die Akkomodationstheorie“ (XIV 618), wie sie durch Wettstein entwickelt worden sei. ii.  Die psychologische Interpretation Im Zuge der ersten Ausbildung von grammatischer und historischer Interpretation sieht Dil­they die entscheidenden Einsichten gewonnen, die der Hermeneutikgeschichte von den reformierten Auslegungslehren her zugewachsen sind. Der Blick auf die westeuropäische Aufklärung erschöpft die erste Phase der neuzeitlichen Hermeneutikgeschichte für ihn aber nur zum Teil: „So charakteristisch 38 Georg Wehrung weist darauf hin, dass diese Auslegungsmethode mit Herder und Schleier­macher zunehmend an Plausibilität verlor, da etwa die geschichtliche Gebundenheit z. B. auch der Lehre Jesu – deren Überzeitlichkeit durch die Akkomodationsannahme ja gerade sichergestellt werden sollte – immer mehr zu Bewusstsein kam. Dadurch leuchtete beispielsweise der Gedanke, Jesus habe sich messianischer Weissagungen nur bedient, um seine jüdischen Zeitgenossen zu überzeugen, immer weniger ein, vgl. G. Wehrung: Akkomodation Jesu. Demgegenüber wird man den entscheidenden Umschlagpunkt aber sicherlich schon bei Semler ausmachen können.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

wie für die vielseitige Beweglichkeit der reformierten Länder diese Richtung der Hermeneutik ist, ist für Deutschland die Umbildung derselben durch Pietismus und die Wolffische Philosophie“ (XIV 618). In hermeneutisch-problemgeschichtlicher Einstellung verbindet er mit der hier genannten deutschen Entwicklung im Wesentlichen zwei Entdeckungen: die psychologische Auslegung sowie die Ausbildung einer ‚hermeneutica generalis‘. In diesem Abschnitt wird die zuerstgenannte Interpretationsperspektive im Vordergrund stehen. Für deren Genese besitzt der Begründer des Halleschen Pietismus, August Hermann Francke, in Dil­theys Augen herausragende Bedeutung (1). Die durch ihn angestoßene Entwicklung habe sich aber bald schon Bahn auf dem Feld der Philosophie gebrochen, wofür insbesondere auf die Philosophie Christian Wolffs und seiner Schüler zu verweisen sei (2). Zunächst zu erstgenanntem Punkt. (1) Mit Francke „beginnt die Richtung auf die psychologische Interpretation“ (XIV 619). Dil­they fasst sich hier wiederum äußerst kurz, so dass einige einleitende Worte vorausgeschickt seien. Francke39 hatte sich im Juli 1685 an der Philosophischen Fakultät zu Leipzig mit einer Schrift zur hebräischen Grammatik habilitiert und dort auch seine ersten exegetischen Vorlesungen abgehalten, um später einem Ruf nach Halle zu folgen, wo er zunächst als Professor für klassische und orientalische Sprachen, ab 1698 auch als Ordinarius der Theologie lehrte.40 Bereits fünf Jahre zuvor hatte Francke eine Schrift zur biblischen Hermeneutik verfasst, die Manuductio ad lectionem scripturae sacrae. Im Zuge der fortdauernden Arbeit an diesem Thema erfolgten mehrere Auflagen und weitere lateinische und deutsche Veröffentlichungen, wobei sich eine weitgehende Konstanz in seinen grundlegenden Auffassungen zeigt. Hier sind besonders die Praelectiones hermeneuticae (1717) hervorzuheben, die auch von Dil­they – neben der Manuductio – herangezogenen werden. Hinsichtlich des Interpretationsvorgangs geht Francke dabei von sieben unterschiedlichen Schritten aus,41 von denen sich für Dil­theys hier verhandelte Fragestellung der vierte als besonders einschlägig erweist. Nachdem, erstens, Einleitungsfragen zu klären sind (lectio historica), zweitens der sensus litterae zu ermitteln ist (lectio grammatica) und drittens eine Rekonstruktion des logischen Aufbaus von Einzelstelle, Einzelschrift und Bibel insgesamt zu erfolgen hat (lectio analytica), schließt sich als vierter Schritt die lectio exegetica an. Das vorläufige Ziel dieser Lektion besteht in der Erschließung des sensus litteralis, der im Unterschied zum sensus litterae für den vom Verfasser gemeinten und in der 39  Vgl. dazu E. Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, bes. Bd. 2, 13–126. 40 Zu dieser Lebens- und Schaffensphase Franckes vgl. auch: V. Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. 41 Vgl. E. Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 2, 16–31; C. Plaul: August Hermann Francke.



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Rede ausgedrückten Mitteilungssinn steht.42 Francke nennt in diesem Zusammenhang mehrere Hilfsmittel: die Betrachtung des Skopus, die Betrachtung des Kontextes, die Parallelen, das Analogia-fidei-Prinzip, die Betrachtung der Affekte, die Betrachtung der Ordnung sowie die Betrachtung der Umstände. Für Dil­theys Problemzusammenhang ist das fünfte von besonderer Bedeutung, in dessen Zusammenhang sich Francke unter anderem auf Luther, Franzius, Flacius und Danhauer beruft. Francke zufolge ist es deshalb notwendig, die Affekte des jeweiligen Schriftstellers aufzuhellen, weil die jeweils herrschenden affektiven Zustände des Autors einen unterschiedlichen Sinn desselben Wortes bedingen können, so dass erst deren spezifische Kenntnis sicherstellt, die intentio auctoris wirklich zu treffen. Trotz oder gerade wegen der Annahme der Inspiration der biblischen Schriftsteller durch den Heiligen Geist ist es für Francke eine unabdingbare hermeneutische Forderung, dass die affektive Einstellung derselben erforscht werde, um so zu einem angemessenen Verstehen des mitgeteilten Sinnes gelangen zu können.43 Obwohl Francke selbst sich mit diesen Überlegungen, wie erwähnt, in einen größeren geistesgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang gestellt hat, wird für Dil­they erst in seinen Schriften ein solcher Grad der expliziten Bearbeitung erreicht, der es gestattet von ‚psychologischer Interpretation‘ zu sprechen. Denn „hier zum ersten Male wurde es unternommen, aus dem inneren Zustande der heiligen Schriftsteller diese Schriften zu erklären“. Der wissenschaftliche Entstehungsort dieser hermeneutischen Problemperspektive fällt so gesehen in den Bereich der theologischen Hermeneutik. Nichtsdestoweniger ist für Dil­ they damit zugleich eine allgemeine hermeneutische Einsicht zumindest angelegt, da Francke seine entsprechende Einsicht nicht nur in Bezug auf die Auslegung der Heiligen Schrift behaupte. Vielmehr habe „[j]ede Rede – so lehrt Francke – […] von ihrem Ursprung im Innern her einen Affekt in sich. Dieser Affekt aber ist der Nerv, die Seele der Rede selbst“ (XIV 619). Mit direktem Blick auf Francke formuliert Dil­they also die hermeneutische Grundüberzeugung: „Die Hermeneutik bedarf […] einer Theorie dieser Affekte“ (XIV 619).44 Anders als man auf 42  U. Barth:

Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips, 171. Überlegungen zu einer hermeneutischen Theorie der Affekte reichen werkbiographisch relativ weit zurück und waren von ihm bereits während seiner Leipziger Zeit ausgearbeitet worden. Nachdem ihm nämlich dort nach einem Eklat mit den Vertretern der Theologischen Fakultät 1689 das Halten biblisch-philologischer Collegia untersagt worden war, hatte er eine philosophische Vorlesung angeboten, die eben jener Lehre von den Affekten gewidmet war. In diesem Zusammenhang entstand eine Abhandlung, die als die erste detaillierte – knapp sechzig Seiten umfassende – Darstellung von Franckes Auffassung der Affekte anzusehen ist und die er später unter dem Titel Delineatio doctrinae de affectibus den Praelectiones beifügte. 44  Dil­theys These, dass hier die Keimzelle der später ‚psychologisch‘ genannten Interpreta­ tion zu finden ist, findet in der neuesten Forschung eine klare Bestätigung. „Wenn Francke dem Rekurs auf die einem Text zugrunde liegenden Affekte ein so starkes Gewicht beimißt, daß er im Rahmen seiner Auslegungstheorie […] eine förmliche Affektenlehre entwickelt, dann will er damit […] auch in hermeneutisch grundsätzlicher Weise dem Rechnung tragen, was man seit 43  Franckes

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den ersten Blick vermuten könnte, sieht Dil­they die ‚psychologische Interpretation‘ nicht erst durch Schleiermacher konzipiert, sondern findet sie der Sache nach bereits bei Francke vor. Bei aller hermeneutikgeschichtlicher Betonung des Franckeschen Verdienstes um die Ausbildung der psychologischen Interpretation äußert Dil­they sich dessen allgemeiner Affekttheorie gegenüber jedoch überaus kritisch. Denn in seien Augen ist diese noch als gänzlich „unwissenschaftlich“ (XIV 619) anzusehen. Um dieses Urteil einordnen zu können, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass Francke letztlich ganz in der Tradition einer hermeneutica sacra stand, was sich unter anderem daran zeigt, dass ab der vierten Lektion offenbarungstheologische Prämissen explizit zugrunde gelegt werden (Verbalinspiration, dogmatisches Kanonprinzip, analogia fidei und Präsupposition des durchgängig christologischen Gehaltes auch des Alten Testaments). Auf Basis der Inspirationsannahme kann Francke dann den in der lectio exegetica zu erarbeitenden autorintentionalen Sinn nach dessen eigentlicher Bedeutung auch und vor allem als Mitteilung des Heiligen Geistes verstehen (sensus mysticus). Diese Vertiefung der Auslegung ist ihm zufolge aber nur demjenigen Interpreten möglich, der qua religiöser Disposition zu solch einem Umschwung im Interpretationsvollzug befähigt ist. Im Hintergrund steht Franckes aus seinem Lüneburger Bekehrungserlebnis resultierende theologische Grundanschauung. Der Erfahrung von der Wiedergeburt kommt demzufolge nicht bloß religiös-theologische Bedeutung für die menschliche Lebensführung insgesamt zu, sondern auch der Auslegungsprozess müsse in Analogie zu ihr beschrieben werden. Das hierbei implizierte anthropologische Schisma – von Wiedergeborenen und Nichtwiedergeborenen – wirkt sich aber nicht nur auf seine hermeneutische Gesamtanlage aus, sondern besitzt zugleich seine Grundlage in der affekttheoretischen Konzeption.45 Dil­they hat diesen Sachverhalt im Blick, wenn er festhält, dass deren „Ausgangspunkt […] der Gegensatz des natürlichen Seelenzustandes und des gläubigen Gemüts [ist]“ (XIV 619). Menschliche Affekte lassen sich für Francke demnach in bloß natürliche und in geistliche unterteilen, wobei der natürliche Mensch ausschließlich erstere besitzt, während der Gläubige überwiegend durch letztere bewegt ist. Insofern sich in den biblischen Büchern selbst allerdings überhaupt keine Mischung von guten und bösen Affekten finde, da bei den inspirierten Schriftstellern lediglich übernatürliche Affekte anzutreffen sind, kann für Francke ein Nichtwiedergeborener überhaupt keinen Zugang zum eigentlichen Sinngehalt der Heiligen Schrift haben. Allein der Wiedergeborene vermag deren wahren Sinn aufzufinden, dem der geistliche Fundamentalaffekt der Liebe zugeordnet ist. Schleiermacher unter dem Begriff der psychologischen Interpretation zu erörtern gewohnt ist“ (U. Barth: Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips, 172). 45  Zu Franckes Affekttheorie vgl. E. Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 2, 97–110.



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Stellt man diese Überlegungen in Rechnung, so wird deutlich, worin Dil­theys Urteil einer unwissenschaftlichen Bearbeitung der Psychologie und damit auch der psychologischen Interpretation bei Francke begründet liegt. Dessen wichtige Einsicht, dass ohne eine Beachtung der psychischen Zustände eines Autors dessen Sinnintention nicht hinreichend bzw. überhaupt nicht erfasst werden könne, kommt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewissermaßen nicht zur Entfaltung, insofern sie auf Grundlage eines offenbarungstheologischen Prämissengefüges entfaltet wird. Sowohl auf den auszulegenden Gegenstand als auch auf den Ausleger selbst bezogen, wird eine religiös-theologische Sondereigenschaft in Anschlag gebracht, wodurch die Hermeneutik insgesamt und mit ihr die psychologische Interpretation in Abhängigkeit von wissenschaftlich nicht explizierbaren und methodisch unkontrollierbaren Zusatzannahmen gerät. So sehr „der Pietismus durch seine Klassifikation der Affekte“ also auch die „psychologischen Bestrebungen [förderte] […] so unsäglich unpsychologisch [war sie]“ (XIV 704). (2) Nichtsdestoweniger habe die Bewegung auf eine zunehmende Beachtung des psychologischen Momentes und die daraus folgende methodische Erweiterung mit ihr in der theologischen Auslegungslehre ihren Ausgang genommen. Die bald schon erfolgende Überführung in eine allgemeine philosophische Behandlung des Problems sucht Dil­they mittels eines säkularisierungstheoretischen Arguments zu beschreiben: Die bei Francke erstmals sich abzeichnende Einsicht habe nämlich „durch die philosophische Bewegung gefördert, sich bald von der ursprünglich religiösen Tendenz befreit[ ]“ (XIV 619) und sei dadurch zu einem basalen Element der Hermeneutik überhaupt avanciert.46 Denn es „verband sich […] in Deutschland mit [d]er aufkommenden pietistischen Richtung der Exegese die Methode Wolffs“ und „[m]an darf sich nicht wundern, daß selbst die Hermeneutik von dem Einflusse dieses Systems berührt wurde“ (XIV 620). Im Hintergrund der nicht mehr dezidiert theologischen Bearbeitung des psychologischen Auslegungsproblems kommt für Dil­they zunächst „[d]iese psychologische Manier überhaupt“ zu stehen, „wie sie in der Wolffschen Philosophie Pflege fand“ (XIV 622). Damit spielt er auf die bedeutende Stellung der Psychologie im Denken Christian Wolffs an.47 Sie wird von letzterem mittels einer Grundunterscheidung konzeptualisiert, deren beide Seiten später auch in unterschiedlichen Schriften ihre jeweilige Darstellung gefunden haben: Psychologia Empirica (1732) und Psychologia Rationalis (1734). Geistesgeschichtlich bedeutsam 46 Obwohl nicht im Hinblick auf eine hermeneutische Fragestellung vorgetragen, ist in unterschiedlicher Weise immer wieder auf die grundlegende Bedeutung der pietistischen Psychologie für die moderne Geisteslage hingewiesen worden, vgl. u. a. Fr. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, 581; F. Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. 47  O.‑P. Rudolph/J.‑F. Goubet: Einleitung; R. Barth: Von Wolffs ‚Psychologia empirica‘ zu Herders ‚Psychologie aus Bildwörtern‘; E. Scherer: Psychologie, 1599–1606; H. W. Arndt: Psychologie, rationale.

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ist an diesem Sachverhalt, dass Wolff der klassischen metaphysischen Behandlung des Seelenthemas eine erfahrungsbasierte psychologische Wissenschaft zur Seite stellt, die der rationalen methodisch sogar voranzugehen hat. Denn jene stellt dieser überhaupt erst deren erfahrungsmäßiges Fundament bereit, indem sie eine Deskription derjenigen Bewusstseinsphänomene vornimmt, wie sie einer selbstbeobachtenden Einstellung zugänglich sind. Die rationale Psychologie verfolgt dann die Aufgabe, mittels Hypothesenbildung die Begründung für die Möglichkeit der psychischen Phänomene zu leisten,48 wobei die Theorie von der Seele als Vorstellungskraft die letzte Fundierungsebene bildet.49 Für Dil­they habe die hierdurch bezeichnete systematische Aufwertung der empirischen Psychologie aber nicht nur maßgeblich zur Herausbildung der Psychologie als eigener Wissenschaft insgesamt beigetragen, sondern war auch „für die Auslegung von entscheidendem Einfluß“ (XIV 622).50 Trotz dieser gleichsam katalytischen Funktion könne Wolff aber nicht als Repräsentant der psychologischen Interpretation angesehen werden. Denn die Ausbildung der entsprechenden Potentiale in der Hermeneutik seien aufgrund seines „logische[n] Enthusiasmus“ (ebd.)51 verhindert worden. Deshalb sucht Dil­they die hermeneutische Wirkung der Wolffschen Psychologie nicht in dessen eigenen Arbeiten auf, sondern begibt sich dafür in den Umkreis von dessen weiterer Schülerschaft. Der entscheidende Autor ist für ihn Johann Martin Chladenius, bei dem es zu einer Verbindung von „logische[m] und psychologische[m] Element[ ]“ (XIV 621) gekommen sei. Auch wenn er jenes nicht völlig abzuschütteln vermocht habe, so könne er immerhin als einer der ersten Repräsentanten angesehen werden, bei dem die psychologische Interpretation außerhalb einer dogmatisch-theologischen Betrachtungsweise zur Darstellung gekommen sei. Der 1742 in Leipzig zum Ordinarius für Kirchenaltertümer berufene und ab 1748 als Professor für Theologie, Beredsamkeit und Dichtkunst in Erlangen lehrende Chladenius52 hat sowohl auf dem Gebiet der Hermeneutik als auch auf dem der noch im Entstehen befindlichen Geschichtswissenschaft eine wichtige 48  Wie dieser in seiner Deutschen Metaphysik (1719) herausgestellt hat, bildet sie, zusammen mit Kosmologie und natürlicher Theologie, einen Teil der speziellen Metaphysik, welche wiederum auf der Ontologie als prima philosophia aufbaut. 49  Der Ausgangspunkt aller philosophischen Selbst- und Weltreflexion im phänomenalen Bewusstsein lässt eine von Descartes beeinflusste mentalisitische Grundoption erkennen. Die Ausdifferenzierung der empirischen Psychologie zeigt eine große Nähe zu Lockes Konzeption der reflection als eigenständiger Erfahrungsquelle, worauf auch Dil­they hinweist, vgl. XIV 704. 50  Wie Dil­they später in seinen Ideen festhält, ist in der Wolffschen Unterscheidung von rationaler und empirischer Psychologie bereits die für Dil­theys eigene psychologische Arbeiten so bedeutende Differenz von erklärender und beschreibender Psychologie vorgebildet, vgl. V 154. 51  Damit nimmt Dil­they ein Stichwort auf, das sich ursprünglich Friedrich Heinrich Jacobis kritischer Kommentiertung der Fichteschen Philosophie verdankt, vgl. F. H. Jacobi: Werke, 27. 52 Vgl. H. Müller: Johann Martin Chladenius (1710–1759).



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Rolle gespielt.53 Aber obwohl Dil­they dessen hermeneutische Stellung gerade anhand „[s]eine[r] Auslegungsregeln für historische Schriften, in denen Wolff so unbeschreiblich dürftig war“ (XIV 621) veranschaulicht, zieht er Chladenius hinsichtlich seiner Überlegungen zur historischen Interpretation nicht heran. Es geht ihm ausschließlich um die „psychologische Auslegung des Chladenius“ (XIV 724).54 Sein werkgeschichtlicher Bezugspunkt ist dessen 1742 erschienene Schrift: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. In den allgemeinen Auslegungslehren des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Hermeneutik als ein Teil der Logik behandelt.55 Auch Chladenius steht in dieser Tradition.56 Dennoch macht er in seiner hermeneutischen Konzeption in besonderer Weise auf das Problem aufmerksam, dass eine logische Texterschließung alleine für eine Vielzahl von Schriften nicht ausreichen kann.57 Er bezieht sich dabei auf die Gattung der ‚sinnreichen Schriften‘: Vortragswerke, Dichtungen und Historien, von denen er in seiner eigenen Auslegungslehre – neben den dogmatischen – aber nur die historischen Schriften behandelt. Insofern diese mitunter sinnkonstituierende Bestandteile aufweisen, die gerade nicht dem Bereich der Logik entstammen, wird für sie eine Interpretationsweise erforderlich, die über eine bloß rationale Rekonstruktion weit hinausgeht. Und genau an diesem Punkt kommen Chladenius’ psychologische Erwägungen ins Spiel. Diese sind doppelter Art und betreffen einerseits die bedeutungstheoretische Grundlage im Allgemeinen, andererseits die Aufstellung bestimmter hermeneutischer Regeln. In seiner Bedeutungskonzeption geht Chladenius von einem differenzierten Modell aus, dessen Oberbegriff er unter dem Titel des ‚vollkommenen Verstandes‘ verhandelt. Dieser wird dreifach differenziert und seine jeweiligen Momente mit verschiedenen Seelenvermögen koordiniert. So unterscheidet er zwischen dem ‚unmittelbaren Verstand‘‚ dem die Aufmerksamkeitsfähigkeit zugeordnet ist, dem ‚mittelbarem Verstand‘, dem mehrere Seelenkräfte beigestellt werden (höhere Erkenntnisvermögen, Gemütsregungen, Triebe) sowie der ‚Ausschweifung‘, der die schöpferische Einbildungskraft korrespondiert. Der erste Begriff beschreibt die in einem Text direkt zum Ausdruck gebrachte Sachebene. Der zweite zielt auf ein Doppeltes, nämlich auf die damit verbundenen impliziten verstandesmäßigen Vorstellungen und auf die willentlichen Einstellungen, die sich im Blick auf den ermittelten Gehalt zwingend ergeben. Synonym zu ‚mittelbarem Verstand‘ kann Chladenius hier deshalb auch von den ‚notwendigen Anwendungen‘ sprechen, andere traditionelle Begriffe hierfür wären ‚Emphase‘ oder 53  Chr. Friederich: Sprache und Geschichte. 54  Daneben spielt Chladenius für ihn auch eine

wichtige Rolle hinsichtlich der Entwicklung der allgemeinen Hermeneutik, worauf im nächsten Abschnitt zurück zu kommen sein wird. 55 Vgl. W. Alexander: Hermeneutica Generalis. 56  AaO., 186–276. 57  Zum Folgenden über die zuletzt genannten Forschungsbeiträge hinaus vgl. L. Geldsetzer: Vorwort und Einleitung.

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‚Fruchtbarkeit des Verstandes‘. Diese beiden Hinsichten zusammen genommen konstituieren die Meinung des Autors, die vom Ausleger idealiter vollkommenen erreicht werden kann. Der dritte Begriff zielt in eine andere Richtung, da er für diejenige Bedeutungssphäre steht, die sich aus der individuellen Assoziationskraft des Lesers oder Zuhörers ergibt und der deshalb für die Auslegung ‚vernünftiger‘ Reden und Schriften keine größere Relevanz besitzt. Damit ist der psychologische Zug aber nicht erschöpft. Er hat daneben auch eine technische Seite hinsichtlich der Formulierung von Auslegungsregeln. Denn das Verstehen einer Schrift ist gewissen Hindernissen ausgesetzt, die interpretative Anstrengungen verlangen. In klassischer Terminologie spricht Chladenius in diesem Zusammenhang von ‚Dunkelheiten‘. Dabei denkt er nicht etwa an verderbte Textstellen, Sprachdefizite des Autors oder per se zweideutige Worte.58 Ihm geht es vielmehr um solche Schwierigkeiten, die ausschließlich durch Wissensdesiderate aufseiten des Interpreten entstehen. Deshalb wird der Auslegungsvorgang von ihm als pädagogischer Prozess aufgefasst und zugleich weiterbestimmt als das Beibringen derjenigen Begriffe, die zu einem vollen Verständnis nötig sind. Seiner Auslegungstheorie entsprechend, können die Dunkelheiten sowohl hinsichtlich der Sachebene als auch im Blick auf die ‚notwendigen Anwendungen‘ auftreten. Zur Unterscheidung von gerechtfertigten und ungerechtfertigten Verstehensannahmen bei dem Versuch ihrer Behebung dient in beiden Fällen die Besinnung auf die Absicht des Autors, für deren Ermittlung dann Erwägungen ins Spiel kommen, die sich sowohl mit den allgemein geschichtlichen als auch mit den persönlichen Umständen desselben zu befassen haben, um dessen Meinung richtig ermitteln zu können. Diese Überlegungen hat Dil­they im Blick, wenn er auf die von Chladenius behauptete Vertiefung der logischen Auslegungslehre mittels psychologischer Interpretation hinweist. Dil­they hebt besonders hervor, dass letzterer sich bei ihm bereits auf der Sachebene geltend macht, wobei er insbesondere auf dessen Lehre des ‚Sehepunktes‘, des ‚verjüngten Bildes‘ und der ‚Spuren‘ zielt (vgl. XIV 621, Anm. 87). Ersterer steht bei Chladenius bekanntlich für die Unhintergehbarkeit einer perspektivischen Konstruktivität in allen Geschichtserzählungen. Ist bereits damit eine besondere Herausforderung für Auslegung und Verstehen benannt, so kommt es Chladenius zufolge darüber hinaus nochmals dadurch zu einer Verschärfung, dass jede Historie von vielerlei Vorstellungen durchzogen ist, deren Bedeutungshintergrund aufseiten des Autors wesentlich breiter sein kann, als er durch die bloßen Worte angezeigt wird. Für diesen Sachverhalt steht der zweite Begriff. In den ‚verjüngten Bildern‘ ist zwar eine Kürzung des Stoffes geleistet, gleichzeitig aber bringen sie einen Verlust an Deutlichkeit mit sich. Folglich besteht das hermeneutische Ziel in der Eruierung der Absicht des Geschichts58  Diese klammert er aus dem Gebiet der Hermeneutik aus und übergibt sie dem Kritiker und Philologen.



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schreibers, die dieser bei ihrer Verwendung im Sinne gehabt hat. Dafür dient der heuristische Zugang, sie als Indizien – bzw. als ‚Spur‘ – aufzufassen, anhand derer ermittelt werden kann, was der Autor selbst zwar deutlich eingesehen, aber nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Aus beiden Problemhinsichten, sowohl des Sehepunktes als auch der verjüngten Bilder, erhellt folglich die Notwendigkeit einer psychologischen Durchdringung, die bei Chladenius – wie Dil­they sagt – bereits auf „die innersten Absichten, Gesichtspunkte und Gemütsbewegungen“ (XIV 621) gerichtet ist. Darin, als einer der ersten von der psychologischen Interpretation in einer nicht-theologischen Weise Gebrauch gemacht zu haben, erblickt Dil­they eine wichtige Seite seiner hermeneutikgeschichtlichen Bedeutung.59 Die Grenze seiner Konzeption besteht für Dil­they darin, dass das psychologische Moment – aufgrund der Ausrichtung an den ‚vernünftigen Reden und Schriften‘ – dem ‚logischen Enthusiasmus‘ Wolffs letztlich weithin verpflichtet blieb und noch wenig Sinn für die überlogische Bedeutungsartikulation eines Autors besitze. iii.  Die allgemeine Hermeneutik Mit der Thematisierung der Entstehung der allgemeinen Hermeneutik verbindet Dil­they ein zweifaches Interesse. Zum einen ist es ihm im Rahmen einer genetischen Betrachtung darum zu tun, den problemgeschichtlichen Entstehungsort anzugeben, an dem diese erstmals Verwirklichung gefunden hat. Es ist ein bemerkenswerter Umstand, dass er dafür nicht etwa erst auf Schleiermachers Arbeiten verweist, sondern bereits wesentlich früher ansetzt, nämlich im frühen 18. Jahrhundert. Zum anderen verbindet Dil­they mit der Thematik von vornherein einen systematischen Gesichtspunkt, indem hier in bestimmter Hinsicht ein Grundproblem der Hermeneutik überhaupt in den Blick tritt. Um dies vor Augen zu führen, soll zunächst Dil­theys Würdigung von Wolff als Vertreter einer allgemeinen Hermeneutikkonzeption rekonstruiert werden (1). Sodann werden weiterführende Überlegungen Dil­theys zu deren allgemeiner Grundstruktur geboten (2), die zugleich zentrale Kritikpunkte an letztgenanntem Denker beinhalten (3). (1) Den ersten entscheidenden Niederschlag einer ‚hermeneutica generalis‘ erblickt Dil­they im Werk Christian Wolffs. Seine hermeneutikgeschichtliche Einschätzung erwächst dabei aus einer allgemeinen Betrachtung der Grundzüge von dessen philosophischer Position insgesamt. Diese lässt sich durch ein Dreifaches charakterisieren:60 die Ausbildung der Philosophie nach dem Methodenideal der Mathematik, zweitens die Anwendung dieser wissenschaftlicher Kritierien auf 59  Auf die andere, allgemein-hermeneutische werden wir im Verlauf des nächsten Abschnittes zu sprechen kommen. 60 Im Folgenden vgl. H. W. Arndt: Einleitung; E. Hirsch: Geschichte der neuern Theologie, Bd. 2, 48–91; H.‑J. Birkner: Christian Wolff.

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sämtliche Disziplinen und Unterdisziplinen des akademischen Lehrbetriebs, drittens die Etablierung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Hinsichtlich des ersten Aspekts ist auf das von Wolff geübte Grundverfahren hinzuweisen, welches abgekürzt durch das Stichwort der ‚demonstrierenden Methode‘ bezeichnet ist. Es ruht auf der Überzeugung, dass die Philosophie erst durch die Übertragung der in der Mathematik geübten Verfahren eine wissenschaftlich hinreichende Sicherheit zu gewinnen vermag.61 Der zweite Punkt bezieht sich auf den Sachverhalt, dass die deutsche Sprache hier erstmals in vollem Umfange zum Medium philosophisch-wissenschaftlicher Darstellungen avancierte, und zwar sowohl in Wolffs Vorlesungen als auch in seinen Schriften.62 Es war durchaus auch dieser Umstand, der schon zu Lebzeiten die Wirkung seiner Philosophie immens verstärkte, was unter anderem dazu führte, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Großteil der philosophischen Professuren an deutschen Universitäten von Anhängern Wolffs besetzt war. Umgekehrt wurde dadurch die allgemeine Durchsetzung der von ihm geprägten Terminologie maßgeblich gefördert. Dil­they hat sowohl den philosophisch-methodologischen als auch den sprachlich-wirkungsgeschichtlichen Gesichtspunk vor Augen, wenn er feststellt, dass hier „[z]um ersten Male […] eine auf allen Kathedern herrschende Philosophie das Denken der deutschen Nation in die Schule [nahm]. Und eine Philosophie, welche, wie nur eine neuere, den Anspruch machte, alle Einzelbücher mit ihrer ‚mathematischen‘ Methode zu durchdringen“. Sein letztgenannter Hinweis rekurriert auf den enzyklopädischen Anspruch der Philosophie Wolffs. Für Dil­ they stehen diesbezüglich freilich diejenigen Überlegungen im Vordergrund, in denen er sich mit den Fragen der Hermeneutik beschäftigt hat. Und angesichts des Gesamtrahmens von dessen Denken sei es nicht verwunderlich, dass „der Gedanke einer auf Prinzipien gegründeten, wissenschaftlich demonstrierenden Hermeneutik entstehen [mußte]“ (XIV 620).

61  Dieser Sachverhalt schlägt sich in drei Forderungen nieder: erstens die Arbeit mit deutlichen Begriffen, zweitens die richtige schlussfolgernde Aneinanderreihung der einzelnen Sätze, drittens die Vollständigkeit in der Verknüpfung aller Sätze und damit die Vermeidung der Einführung unausgewiesener Präsuppositionen. Wird auf diesem Wege zwar keine konkrete historische Erkenntnis erwiesen, so ist damit dennoch eine Grundlegung alles realwissenschaftlichen Wissens behauptet. Demzufolge stellt die Philosophie die Wissenschaft alles Möglichen als solchen dar, wodurch sie letztlich zur alleinigen Leitdisziplin erhoben wird. 62  Zusammen etwa mit Thomasius zählt Wolff zu den ersten Professoren, die überhaupt auf Deutsch lasen. Dasselbe gilt hinsichtlich seiner Schriften. Zwar war er nicht der erste, der wissenschaftliche Texte in seiner Muttersprache veröffentlichte, in der Regel war dann aber auf terminologischer Ebene das Latein beibehalten worden. An dieser Stelle ist Wolff wesentlich weiter gegangen, indem er – Terminologie teils durchsetzend, teils neubildend – eine allseitige Verdeutschung der philosophischen Gelehrtensprache unternahm. Diese Bestrebung wird auch nicht dadurch relativiert, dass Wolff ab der Marburger Zeit seine großen Werke in Latein veröffentlicht. Dieser Umstand war lediglich dem Bemühen um breitere internationale Wirksamkeit geschuldet und darf nicht als Preisgabe des Deutschen verstanden werden.



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Es gilt allerdings darauf hinzuweisen, dass Wolff selbst kein Lehrbuch der Hermeneutik geschrieben hat, sondern sich vergleichsweise kurz damit befasst, was zu einer gewissen Diskrepanz zwischen publikatorischer Relevanz und systematischer Bedeutung des Themas geführt hat. Im Blick auf Wolffs entsprechende Überlegungen sind seine bekanntesten Werke die Deutsche Logik (1713) und die Lateinische Logik (1728), die beide jeweils Abhandlungen auch zu hermeneutischen Fragen enthalten, mitsamt Vorschlägen zur Neugestaltung dieser Disziplin auf Basis seines neuen Wissenschaftsverständnisses, sowie sein Ius Naturae (1740– 48).63 Mindestens zweitgenanntes Werk steht auch Dil­they  – in seiner dritten Auflage von 1740 – vor Augen. Werkbiographisch setzt er zunächst jedoch früher an, indem er sich auf Wolffs weniger bekannte kurze Schrift Methodus demonstrandi veritatem Religionis Christianae bezieht. Diese hatte Wolff 1707,64 kurz nach der Übernahme des Halleschen Lehrstuhls für Mathematik, in der Wissenschaftszeitschrift Acta eruditorum veröffentlicht. Wie schon aus dem Titel hervorgeht, handelt es sich dabei um einen Beitrag, in dem Wolff seine eigene Anschauung der Theologie kurz darzulegen sucht. Nachdem er, wie zu erwarten war, die Anwendung der mathematischen Methode auch auf die Theologie fordert, die darin gewonnene Gewissheit  – der cartestianischen Anlage seines Systems gemäß – anhand der inneren Erfahrung des Menschen ausweist und in alledem die Übereinstimmung mit dem Inhalt der christlichen Lehre herausstellt, kommt er auf die vermeintlichen Widersprüche zwischen Vernunft und Heiliger Schrift zu sprechen. Diese fasst er jedoch – und das ist im Blick auf Dil­theys Fragestellung das Entscheidende – als bloßes Ergebnis einer unzureichenden Hermeneutik auf. Dabei negiert er weder das Gegebensein offenbarungstheologischer Begriffe, noch den Umstand, dass diese lediglich mit Blick auf die biblischen Worte erklärt werden können. Allerdings sieht er dadurch nicht schon eine richtige Auslegungsweise gewährleistet. Ihm zufolge bedarf es dafür der ‚Methode eines Interpretierens mit Beweisführung‘, d. h. eines auf Demonstration beruhenden Verfahrens. Für Dil­they ist in diesen Überlegungen „die erste Spur“ (XIV 620) einer prinzipienbasierten, wissenschaftlich demonstrierenden Form der Hermeneutik zu finden. Zwar bleibe letztere mit den Fragen der Bibelinterpretation verschränkt. Nichtsdestotrotz werde hier erstmals die Idee einer ‚hermeneutica generalis‘ wirkmächtig formuliert: „Sie [sc. die Bibelhermeneutik] ist hier dem Philosophen wie ehedem dem Theologen ein Organon der Bildung der Dogmatik aus der Exegese; aber als Glied der demonstrativen Wissenschaft will er sie auf allgemeine Hermeneutik gegründet wissen“ (ebd.). Insofern die Hermeneutik der Bibel wie alle anderen Wissenschaftsdisziplinen auch bloß einen Teilaspekt des 63  Zur Hermeneutik Wolffs vgl. L. C. Madonna: Die unzeitgemäße Hermeneutik Christian Wolffs. 64  Vgl. im Folgenden: U. Barth: Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion, 151 ff.

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philosophischen Gesamtsystems darstelle, habe auch sie sich den allgemeinen Vorgaben desselben unterzuordnen. Daraus erwächst aber sogleich der Umstand, dass eine Spezialform nach Art der traditionellen theologischen Hermeneutik nicht mehr möglich ist, da sich auch ihre wissenschaftliche Gestalt im Blick auf die demonstrative Methode ausweisen lassen können muss. Dil­they zufolge habe Wolff damit im Grundsatz bereits denjenigen hermeneutischen Standpunkt eingenommen, der dann auch in der Folgezeit für ihn bestimmend geblieben sei.65 (2) In verstreuten Nebenbemerkungen stellt Dil­they interessante Überlegungen dazu an, worin die formale Struktur einer Hermeneutik erblickt werden kann, die als ‚allgemeine‘ gelten können soll. Dafür muss die Auslegungstheorie „auf irgendeine Einheit […] gerichtet sein“ (XIV 639, Hvh. v. Verf.). Für Dil­they sind hier durchaus unterschiedliche Einheitskonzeptionen denkbar, von denen Wolffs Grundlegung nur eine Variante darstellt. Darauf wird unten zurück zu kommen sein. Wolff kommt in Dil­theys Augen das Verdienst zu, der Erste gewesen zu sein, der eine solche einheitliche Grundlage in Anschlag gebracht habe, um von ihr aus die Hermeneutik aufzubauen. Die von ihm dann gebotene Durchführung des Programms einer allgemeinen Hermeneutik – und damit gerät nun der positive Gesichtspunkt in den Blick – fußt auf dem Gedanken der „Einheit […] eines Systems“ (XIV 639), womit Dil­they in Bezug auf die Wolff-Darstellung dessen Annahme eines logisch-metaphysischen Ganzen von Wissen überhaupt meint.66 Diese bilde für Wolff die geistig-philosophische Voraussetzung, von der her alle einzelnen Methodenschritte der Auslegung sowohl ihre Begründung als auch ihre Zielbestimmung empfangen, weswegen Dil­they diesbezüglich etikettierend auch von „logische[r] Interpretation“ (XIV 703) sprechen kann. Sie wird für ihn somit zur ersten Verwirklichung der Struktur einer jeden allgemeinen Hermeneutik, mit der sich die bleibende Einsicht verbindet, dass eine solche Ausgestaltung der Hermeneutik nur auf Basis einer dieser noch vorausliegenden positiven Einheitsidee erfolgen kann. Die die historiographische Darstellung vorantreibende Frage besteht dann allerdings darin, ob jene Einheitsidee den Objekten der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt angemessen ist oder nicht. 65  Dieses Urteil spricht Dil­they zwar nicht explizit aus, es kommt aber implizit darin zum Ausdruck, dass er die zuletzt zitierte Einschätzung sowohl auf die hermeneutischen Erwägungen von 1707 als auch auf das siebte Kapitel aus der Lateinischen Logik von 1740 bezogen wissen will, das mit De interpretatione Scriptura Sacra überschrieben ist. Zur Triftigkeit dieses Urteil vgl. U. Barth: Von der Theologia naturalis zur natürlichen Religion, 153. 66  Dil­they kann von System in einem zweifachen Sinne sprechen: hinsichtlich „der Wolffschen Metaphysik und der Dogmatik der Orthodoxie“ (XIV 627).Von letzterem sehen wir an dieser Stelle ab, da für ihn damit lediglich Einschränkungen der Hermeneutik von Seiten der Dogmatik bezeichnet sind, während erstere – trotz aller noch zu erörternder Kritik hinsichtlich ihrer negativen, einschränkenden Wirkung auf die psychologische und historische Auslegung – die Hermeneutik gleichsam erst auf eigene Füße gestellt habe. Für Dil­they gilt das hermeneutische System Siegmund Jacob Baumgartens als Synthesegestalt beider Systemauffassungen, vgl. dazu den Baumgartenabschnitt (XIV 622–626) sowie die kurze Stellungnahme auf Seite 735.



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Dil­theys Hervorhebung Wolffs wirft zugleich ein etwas anderes Licht auf seine im Blick auf Schleiermacher vorgebrachte und heute vielfach der Kritik unterzogene „Erstmaligkeits-Emphase“.67 In der Forschung zur Hermeneutikgeschichte ist es gewissermaßen zum Allgemeinplatz geworden, Dil­they vorzuwerfen, er habe die Schleiermachersche Selbsteinschätzung – der erste gewesen zu sein, der die Hermeneutik auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt habe – unkritisch übernommen und insofern zugleich den Wissenschaftsanspruch vorausliegender Entwürfe übersehen.68 Für die weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein reichende weitgehende Unkenntnis hinsichtlich der Hermeneutik der Aufklärung wird Dil­they – neben Gadamer – häufig ebenfalls maßgeblich verantwortlich gemacht.69 An dieser verzerrten Wahrnehmung ist er selbst freilich nicht ganz unschuldig. Denn es finden sich in der Tat Formulierungen der Art, dass erst Schleiermacher „der Hermeneutik eine wissenschaftliche Gestalt zu geben“ (XIV 684) und sie als „eine wahre, allgemeine Hermeneutik“ (XIV 698) aufzustellen vermocht habe. Über diesen – nicht unmissverständlichen – Sätzen darf aber nicht übersehen werden, dass sich Schleiermachers Position für Dil­they bei genauerem Hinsehen nur als die Vollendung eines Entwicklungsprozesses darstellt, dessen Grundgedanke erstmals bereits durch Wolff formuliert worden ist und hinsichtlich seines strukturellen Gehaltes dann der gesamten weiteren Entwicklung eine dauerhafte Prägung verliehen hat.70 Allerdings hat die neuere Hermeneutikgeschichtsforschung gezeigt, dass die Konzeption einer ‚hermeneutica generalis‘ keineswegs erst bei Wolff, sondern bereits im 17. Jahrhundert bei Clauberg und Dannhauer zu finden ist.71 Diesen Umstand scheint Dil­they übersehen zu haben, genauso wie den Sachverhalt, dass es neben der theologischen Spezialhermeneutik auch eine juristische Spezialhermeneutik gab.72 Was sich in der Folgezeit dann freilich geändert habe, sei die materiale Fassung der gleichsam vorhermeneutischen Fundierungsebene. Diesbezüglich wäre zunächst die „allgemeine Hermeneutik Chladenius“ (XIV 621) zu nennen, den Dil­they folglich nicht bloß als ersten Repräsentanten einer säkularisierten psy67  W. Hübener:

Schleiermacher und die hermeneutische Tradition, 565. H. Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert, 5–10. 180. 69  Vgl. etwa Axel Bühler: Einleitung, 4. 70 Analoges könnte man im Blick auf Dil­ theys Baumgarten-Bild zeigen. Innerhalb von dessen Darstellung findet sich die kritische Aneignung eines Semler-Zitats durch Dil­they, demzufolge in Baumgartens Hermeneutik der „erste deutsche wissenschaftliche Entwurf der Hermeneutik“ zu finden sei (J. S.  Semler, Lebensbeschreibungen, 208 (zitiert nach XIV 622)). Das Prädikat der Wissenschaftlichkeit beschränkt Dil­they also bei weitem nicht auf Schleiermacher und hat  – wie unsere gesamte bisherige Rekonstruktion seiner Darstellung zeigt  – die dessen Werk vorausliegenden Bestrebungen um eine szientifische Ausgestaltung der Hermeneutik durchaus im Auge. 71 Vgl. W. Alexander: Hermeneutica Generalis. 72  H.‑G. Gadamer: Hermeneutik, 1068 f.; G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 475. 68 Exemplarisch

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chologischen Interpretation betrachten, sondern dessen Hermeneutik er gewissermaßen doppelt kodieren kann. So steht Chladenius zugleich für eine andere Form der Durchführung des ‚allgemein-hermeneutischen‘ Programms, die ihre Begründungsbasis nun aber nicht mehr vornehmlich in einem mathematisch-logischen System, sondern in der „Einheit […] des Autors“ (XIV 639) besitzt. Auch wenn man „ihm zwar überall Wolffs Schule an[merkt]“, so ist in seiner Ausrichtung an der psychologischen Betrachtung des Schriftstellers ein neuer Ausgangspunkt der Begründung gewonnen, aufgrund dessen die hermeneutischen Regeln als in einem durchgehenden Zusammenhang stehend zu entwickeln möglich wird und es somit zum Aufbau eines einheitlichen Ganzen kommen kann. Die von Dil­they benannten einzelnen Aspekte müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden.73 Es ist aber offensichtlich, dass er in dieser Version allgemeiner Hermeneutik eine Vertiefung derselben erblickt. Denn sie ist insofern wesentlich „reicher und eingehender“ (XIV 621) als die Wolffsche Konzeption, dass Verstehen hier nicht allein am Paradigma der systematischen Wissenschaft verhandelt, sondern auf eine lebendigere Erfassung der Produktion schriftstellerischer Werke hin geöffnet wird. Damit ist die Entwicklung der Grundlage der Hermeneutik aber bei weitem nicht erschöpft. Denn neben Logik und Psychologie komme es im Zuge der Aufklärung schließlich zu einer dritten Variante, die für die moderne Wirklichkeitsauffassung von entscheidender Bedeutung ist. Denn der Ausleger muss nicht nur auf eine „Einheit, sei es eines Systems oder des Autors“, sondern er kann auch auf die „Einheit […] der geschichtlichen Entwicklung […] gerichtet sein“ (XIV 639). Es ist nicht ganz klar, wie Dil­they sich die Ausbildung dieser Trias denkt, etwa als sukzessive Verabschiedung des einen durch den nächst folgenden Einheitskandidaten oder aber – und das wäre im Blick auf Dil­theys spätere Theorie der Geisteswissenschaften nicht unwahrscheinlich – als eine stetige Vertiefung und Ausweitung der Grundlagendimension.74 Dieses Problem muss an dieser Stelle offen bleiben. Wie dem auch sei, der Betrachtung der unterschiedlichen Ansätze zur Vertiefung der geschichtlichen Anschauung ist dann zu einem beträchtlichen Teil derjenige Abschnitt von Dil­theys Preisschrift gewidmet, den er überschrieben hat mit „Die Bewegung der grammatischen, historischen und ästhetischen Hermeneutik“ (XIV 627 ff.) und in dem es zur unmittelbaren Vorbereitung der Schleiermacherschen Hermeneutik kommt. Wie unten noch zu zeigen ist, stellt letztere dann keine Änderung im logischen Grundaufbau der Hermeneutik dar, sondern steht vielmehr für die Schaffung einer der geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit angemessenen Grundlage.

73  Siehe oben Abschnitt II.1.d.ii. 74  Dafür spricht etwa das in der

Einleitung vorgestellte Programm einer Begründung der (historischen) Geisteswissenschaften mittels einer psychologisch-logischen Grundlegung.



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(3) Genau hinsichtlich letzteren Aspektes ist dann auch Dil­theys scharfe Kritik an Wolff einzuordnen. Denn so sehr er diesen auch als den Initiator der allgemeinen Hermeneutik herausstellt und ihm damit das Verdienst zuschreibt, den formalen Grundzug der wissenschaftlichen Gestalt dieser Disziplin als erster formuliert zu haben, so kritisch steht er dessen gleichsam logischer Verkürzung des philosophischen Fundaments gegenüber. Denn auf einer solchen Basis allein entworfen, muss die Auslegung unabwendbar zu einer „logisch systematisierende[n] Methode der Exegese“ (XIV 630, Hvh. i. O.) geraten. „Grammatik, Hermeneutik, alles wird hier rein logisch behandelt […]. Die ‚historischen Schriften‘ […] werden halb mitleidig abgefertigt. Den ‚dogmatischen Schriften‘ aber wird unter der Tortur der analytischen Methode ein vollständiger Vortrag mit Definitionen und normalen Schlüssen abgezwungen. Und diese Mißhandlung ist nun Verstehen, da es kein anderes Verstehen einer Gedankenreihe gibt als durch die logische Form.“ (XIV 620 f.). In formal-abstrakter Hinsicht ist die Wolffsche Hermeneutikskizze geradezu von epochaler Bedeutung. Im Blick auf die durch sie implizierte Art der programmatischen Durchführung jedoch ist sie in Dil­theys Augen überaus mangelhaft. Denn auf Basis des allein logischen Geistes der Gesamtanlage können nicht alle auslegungsrelevanten Fragen einbezogen werden, so dass das entstehende Methodenarsenal für eine Vielzahl derjenigen Schriften, um die es einer hermeneutischen Durchdringung im Besonderen zu tun ist, überhaupt nicht ausreicht.75 Der Blick für diejenigen Faktoren, die die Darstellung neben dem logischen Aufbau mindestens ebenso beeinflussen  – herrschende Sprachauffassung, psychische Disposition eines Autors, historische Umstände einer Rede –, ist weitgehend verstellt. Von Herder und Schleiermacher aus zurückgeschaut könnte man den Vorwurf auch dahingehend zuspitzen, dass bei Wolff noch jedes Gespür für individuelle Gestaltungen und Produktionen gänzlich außerhalb des Blickfeldes bleiben. Und so hält Dil­they abschließend fest: „Diese Wissenschaft auszubilden, hat er nun selbst einen unglaublich dürftigen Versuch gemacht“ (XIV 620). iv.  Die Überwindung des unkritischen Kanonprinzips Die Besprechung Semlers nimmt im Abschnitt zur Schleiermacherschen Vorgeschichte der Hermeneutik neben der des Flacius den breitesten Raum ein. Daraus wird ersichtlich, dass Dil­they der Auseinandersetzung mit ihm ein großes Gewicht hinsichtlich des Verständnisses dieser Disziplin beimisst, und zwar – wie zu zeigen sein wird – sowohl nach einer konstruktiven wie nach einer kritischen Seite. Darstellungstechnisch geht er so vor, dass er zunächst ein Gesamtbild der 75  Die Dominanz der logischen Interpretation verdankt sich aber nicht nur der metaphysisch-logischen Gesamtanlage seiner Philosophie, sondern resultiert zudem daraus, dass Wolff den Objektbereich seiner Auslegungslehre bewusst auf ‚mit Verstand geschriebene Schriften‘ eingeschränkt hat (Deutsche Logik § 13f).

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Semlerschen Wissenschaftsbiographie zeichnet, indem er sich auf dessen relativ spät erschienene, autobiographische Lebensbeschreibungen, von ihm selbst abgefaßt (1781/82) stützt. Hierbei sucht Dil­they die wesentlichen Motive von Entstehung und Entwicklung des Semlerschen Denkens zu identifizieren und verortet dann vor diesem Hintergrund dessen bekanntestes Werk Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons (1771–1775). Im Anschluss daran setzt er nochmals neu ein und schlägt eine Art werkbiographische Schneise, angefangen bei De daemoniacis quorum in Evangeliis fit mentio (1760)76 über die Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik (4 Bde., 1760–1769) bis hin zu der Schrift Neuer Versuch, die gemeinnützige Auslegung und Anwendung des Neuen Testaments zu befördern (1786). Die Schrift über die Dämonen stellt eigentlich jedoch die Disputation eines Schülers von Semler, Christian Edzard Betke, dar, die dieser im Auftrag desselben angefertigt und darin den philologischen Nachweis geführt hatte, dass der Ausdruck ‚dämonische Menschen‘ nach hellenistischem Verständnis nicht etwa Personen bezeichnete, die durch nichtmenschliche Wesen besessenen sind, sondern lediglich dem Phänomen geistiger Verwirrtheit galt.77 Der etwas überraschende Befund, dass Dil­they die „Abhandlung über die Dämonischen als Ausgangspunkt der hermeneutischen Aufgabe“ (XIV 636) einführt, erklärt sich wohl daher, dass er diese Schrift als ein Werk Semlers selbst zu betrachten scheint und in der Durchführung bereits dasjenige Verfahren angewandt sieht, dessen Grundsätze Semler mit der Vorbereitung dann explizit dargestellt habe. Möglicherweise ist er in dieser Einschätzung durch Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) beeinflusst.78 Im Folgenden soll zunächst Dil­theys geistesgeschichtliche Semler-Würdigung im Vordergrund stehen (1), ehe im Anschluss daran seine durchaus massive Kritik an dessen Konzeption verhandelt werden wird (2). (1) In der Darstellung von Semlers genuinem Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik verschränkt Dil­they eine problemgeschichtliche Verortung mit der Feststellung von dessen wesentlichem Verdienst. Letzteres sei darin zu erblicken, dass es Semlers „Aufgabe […] für unsere Disziplin gewesen [ist], die alte logisch systematisierende Methode der Exegese, wie sie in der Hermeneutik, die er vorfand, vorlag, durch systemfreie historische Forschung zu durchbrechen“ (XIV 630). Das Stichwort ‚Systemfreiheit‘ hat Dil­they an anderer Stelle indirekt erläutert. 76  Dil­they zitiert den Titel der zweiten Auflage von 1769 Commentatio de Daemoniacis quorum in NT fit mentio, nennt aber als Erscheinungsjahr das der Ersterauflage von 1760. 77 Vgl. M. Schröter: Aufklärung durch Historisierung, 295. 78 Vgl. J. G. Eichhorn: Geschichte der Literatur von ihrem Anfang bis auf die neueste Zeit, Bd. 3, 504 f.: „Erst Semler, als er (1760) seine Abhandlung über die Dämonischen im N. T. herausgab, fühlte eine ferne Ahnung von einer historischen Interpretation, und je mehr sich dieselbe bis zu einer richtigen Einsicht in die historische Auslegung bey ihm entwickelte, desto lebhafter drang er darauf, den Sinn des N. T. aus der Denk- und Vorstellungsart der Zeit seiner Abfassung zu erläutern, und die Zeitmäß eingekleideten Sätze auf unsre Vorstellungsart zurückzubringen“.



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Dort spricht er davon, dass die „Engländer“ einerseits „frei von jedem System in ihrer historischen Untersuchung [waren]“, dass sie darin andererseits „Leute wie Semler und Michaelis ermutigt [haben], die Fesseln der Wolffschen Metaphysik und der Dogmatik der Orthodoxie abzustreifen“ (XIV 627). Diese beiden geistesgeschichtlichen Bewegungen bilden den problemgeschichtlichen Hintergrund der oben zitierten Aufgabenbeschreibung. Dabei wird deutlich, dass Semlers hermeneutikgeschichtliche Leistung für Dil­they unterbestimmt wäre, wenn man sie lediglich in der Emanzipation der Hermeneutik von den altprotestantischen Voraussetzungen hinsichtlich der Natur der biblischen Schriften bzw. der daraus folgenden Auslegungsprinzipien erblicken würde. Gleichzeitig habe Semler nämlich auch schulphilosophische Engführungen aufgebrochen, auf die Dil­ they bereits in seinem Wolff-Abschnitt hingewiesen hatte. Dass er die beiden ihrer geistigen Signatur nach auf den ersten Blick relativ verschiedenen Denkhaltungen, Schulphilosophie und orthodoxe Dogmatik, unter einen gemeinsamen Oberbegriff subsumieren kann, ist nicht nur von daher begründet, dass beide in der Tat jeweils einen Anteil an der Ausbildung des neuzeitlichen Systemgedankens haben. Darüber hinaus dürfte diese Zusammenstellung auch daraus resultieren, dass Dil­they ein bestimmter Autor vor Augen steht, der beide Strömungen in sich vereinigt hat. Die Rede ist von Siegmund Jacob Baumgarten, der gleichermaßen an „der hergebrachten Orthodoxie“ (XIV 622) festgehalten sowie die „logische[ ] Kraft der Wolffschen Schule“ (XIV 625) sich zueigen gemacht habe. Baumgartens Hermeneutik bilde daher den entscheidenden Bezugspunkt für die hermeneutikgeschichtliche Einordnung Semlers. Zwar sei Baumgarten sowohl im Blick auf dessen intellektuelle Biographie im Ganzen als auch hinsichtlich dessen hermeneutischen Denkens als geistiger Vater anzusehen. Dieser Sachverhalt schließt den Aspekt mit ein, dass es Baumgarten gewesen war, der seinen Schülern ja überhaupt erst die Mittel an die Hand gegeben hatte, den Standpunkt der traditionellen Hermeneutik – die Dil­they mit Semler als „kirchliche Hermeneutik“ (XIV 625) bezeichnet – zu überwinden. Erinnert sei diesbezüglich an die Übersetzungsarbeit der englischen Universal History sowie an Baumgartens Nachrichten von einer Hallischen Bibliothek, durch welche das historischkritische Denken erstmals nach Deutschland gelangt sei. Trotz der wichtigen Orientierungsfunktion, die Baumgarten für Semler besessen habe, erweise sich dessen hermeneutischer Standpunkt dann aber als vollkommen anders gelagert: Zum einen verabschiede Semler eine Interpretation der Bibel, die letztere als Darstellung einer doctrina sacra auffasst und von der Bibelauslegung letztlich nur eine Bestätigung des bereits vorausgesetzten Lehrstandpunktes erwartet; hierin erblickt Dil­they eine Aporie der klassischen Bibelhermeneutik, auf die erstmals Richard Simon hingewiesen habe79 und die für Dil­they ein Grundproblem

79 Vgl.

XIV 608.

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protestantischer Bibelhermeneutik von Flacius bis Baumgarten darstelle.80 Zum anderen mache Semler gegenüber dem Verfahren einer vornehmlich rational geleiteten Interpretation den Umstand geltend, dass die einzelnen Schriften als historische Größen aufzufassen seien, weshalb sich die „Übertragungen scholastischer Distinktionen auf den biblischen Gegenstand“ (XIV 632) als unsachgemäß erwiesen. Die „Abneigung gegen die herrschende Systematik und die Hervorhebung der historischen und kritischen Schriftauslegung“ stellen für Dil­they die „beiden Punkte“ dar, „die ihn [sc. Semler] sogleich, als er diese Wissenschaft in Angriff nahm, von den älteren Bearbeitungen trennten“ (XIV 633). Von hier aus sei es dann freilich nicht weit gewesen zu demjenigen Schritt, mit dem man den Namen Semlers bekanntlich zuvorderst verbindet. Anders gesagt, die historische Kritik habe sich schließlich in einer neuen Verhältnisbestimmung zum Kanon verdichtet. In der Tat hatte diese Auseinandersetzung eines der zentralen Anliegen in Semlers wissenschaftlichem Lebenswerk dargestellt. Allerdings hatte er die Kanonfrage nicht bloß hinsichtlich ihres dogmatischen Aspektes verhandelt, dem gegenüber er eine äußerst kritische Haltung einnahm. Daneben hatte Semler durchaus auch ein Bewusstsein für die Problemdimension der Entstehung des historischen Kanons, dem er seine Geltung durchaus nicht absprach.81 Auf diesen Zusammenhang geht Dil­they jedoch nicht ein. Sein Interesse gilt ausschließlich der anderen Fragestellung, da er hierin den Hauptnerv des hermeneutischen Umschwunges erblickt. Semler sei der erste gewesen, der den dogmatischen Begriff des Kanons aufgehoben habe, indem er die neue historische Anschauungsweise konsequent auf die Heilige Schrift angewandt habe.82 Der traditionelle Standpunkt der kirchlichen Hermeneutik hatte die Bibel als „eine[ ] einzige[ ], keiner Zeit angehörige[ ] Schrift“ (XIV 634) aufgefasst und unter Kanon einen kohärenten und konsistenten Zusammenhang verstanden, dessen Einheit nicht etwa bloß aus einer inneren Verwandtschaft der unterschiedlichen Bücher oder einer äußerlichen Zusammenstellung derselben zu erklären, sondern auf göttlicher Inspiration gegründet sei. Das habe es dann zugleich möglich gemacht, die unterschiedlichen Schriften und Textstellen nach Maßgabe einer systematisierenden Methode zu erschließen und den biblischen Gesamtgehalt anhand dogmatischer Locis zu rekonstruieren, ohne die jeweils verschiedenen Kotexte und Kontexte der betreffenden Texte in Rechnung zu stellen (analogia fidei). Diesen Voraussetzungen der biblischen Hermeneutik sei durch Semlers Arbeit der Boden entzogen worden, insofern „historische Aus80  Dil­ they bezeichnet es als einen „Widerspruch“ der „flacianische[n] Auslegungslehre“, „die Suffizienz der heiligen Schriften [zu behaupten] und […] ihre Auslegung doch den protestantischen Glaubensformen [zu unterwerfen] (XIV 608). Und „hier“, d. h. bei Baumgarten, ist „der Zirkel, in dem sich schon die Hermeneutik des Flacius bewegt, geradezu hingestellt. Die Hermeneutik ruht auf Lehnsätzen der Dogmatik und begründet diese wiederum.“ (XIV 624). 81 Vgl. M. Schröter: Aufklärung durch Historisierung, 109–112. 82  Michaelis noch habe „die Voraussetzungen der alten Hermeneutik, wie sie im Begriff des Kanons lagen, gar nicht berührt[ ]“ (XIV 629).



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legung“ (XIV 629) der Bibel für ihn die „wissenschaftliche[ ] Auffassung“ derselben als unterschiedliche „christliche[ ] Schriften“ (XIV 630) bedeutet habe. Dieser Punkt erscheint Dil­they letztlich sogar als die eigentliche „Einheit aller seiner [sc. Semlers] Bestrebungen um die biblischen Schriften. Man sieht wie eng seine Hauptschrift [sc. Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons] mit seinen hermeneutischen Arbeiten zusammenhängt“ (XIV 634). Für Dil­they verweisen konsequente historische Forschung und Außerkraftsetzen der dogmatischen Kanonvorstellung somit wechselseitig aufeinander: In werkbiographischer Einstellung führt zwar erstere zu letzterem; sachlich aber muss der traditionelle Kanonbegriff insgeheim bereits suspendiert sein, damit das geschichtsbewusste Fragen überhaupt anzugreifen vermag. So gesehen wird es dann auch verständlich, dass Dil­they in seiner Darstellung zunächst den Weg von der „Erweiterung der historischen und kritischen Bestandteile“ (XIV 632) zur „Aufhebung der Einheit des Kanons“ (XIV 634) nachzeichnet  – dem auch die tatsächliche werkgenetische Entwicklung Semlers entspricht. Umgekehrt aber habe „die neuere Exegese und Hermeneutik“ Dil­they zufolge „auf ihrer [sc. der biblischen Schriften] Scheidung“ bzw. auf deren „historische[r] und philologische[r] Einzelbehandlung […] beruht“ (XIV 634 f.). Hinsichtlich dieses gesamten Problemkomplexes rühmt Dil­they Semler schließlich dafür, „der wissenschaftlichen Auffassung der christlichen Schriften einen Anstoß, und zwar den gewaltigsten, der zwischen Leibniz und Kant liegt, gegeben zu haben“, so dass Semlers hermeneutik- und theologiegeschichtliches Verdienst stets zum „Andenken“ einer jeden „wahre[n] Geschichtsschreibung der Wissenschaften“ (XIV 630) wesentlich hinzugehören wird. Die vielfachen Innovationen, die sich mit Semlers „[E]rweiter[ung]“ des „Gesichtskreis[es] der Hermeneutik“ (XIV 633) im Einzelnen verbinden, entwickelt Dil­they dann nicht systematisch, sondern kommt an verschiedenen Stellen, die nahezu über den gesamten Semler-Abschnitt verstreut sind, darauf zu sprechen. In der von ihm gebotenen Reihenfolge wären hier zu nennen: die Unterscheidung von moralischer und historischer Religion,83 der Einbezug einer geographischen Betrachtungsweise,84 die programmatische Auffassung des Verstehens als historisches Verstehen,85 der Versuch einer allgemeinen wissenschaftlichen Begründung der Hermeneutik,86 die Aufnahme der Auslegungsgeschichte in die 83  Es war eine „exegetische Anschauung“, die „alles über den moralischen Gehalt Hinausgehende aus äußerem Einfluß ableitete“ (XIV 635). 84  „Es ist eine Art von geographischer Perspektive, wie sie in jenem Zeitalter so beliebt war“ (XIV 635). 85  Dil­they spricht davon „wie seine [sc. Semlers] Methode der Interpretation nur von dem allgemeinen Zug historischen Verstehens geleitet war“ (XIV 636). 86  So ist die Rede von der „formale[n] Aufgabe dieser Disziplin, wie sie [sc. Semlers Schrift Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik (1760–1769)] diese selbst bestimmt, die hermeneutischen Regeln voneinander abzuleiten und so eine wissenschaftliche Kenntnis möglich zu machen“ (XIV 636).

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hermeneutische Darstellung,87 das Studium der alten Sprachen,88 die methodische Differenz zwischen Erarbeitung der vergangenen historischen Umstände und deren vorstellungsmäßigen Aneignung durch den Interpreten,89 sowie schließlich die aus heutiger Sicht soziologisch zu nennende Vertiefung der Unterscheidung historisch/moralisch in privat/öffentlich, die nicht nur die Religion betrifft, sondern alle Bereiche der Kommunikation.90 (2) Angesichts dieser geschichtstheoretischen und hermeneutischen Einsichten Semlers erstaunt es zunächst, dass Dil­theys Einschätzung der wissenschaftlichen Tragfähigkeit von dessen Gesamtentwurf in wesentlichen Punkten dann doch überaus kritisch ausfällt. Seine entsprechenden Bemerkungen stehen dabei nicht im Vordergrund seiner Darstellung, sondern sind an unterschiedlicher Stelle gleichsam im Vorbeigehen geäußert. Wir wollen sie dennoch ausführlicher betrachten. Denn zum einen ist seine Kritik an Semler gemessen an dessen Leistungen auf dem Gebiet der historischen Interpretation mitunter durchaus überraschend. Zum anderen aber  – und darauf kommt es vor allem an  – verweist Dil­theys Negativurteil über Semler implizit bereits auf entscheidende Momente seines eigenen konzeptionellen Ansatzes. Dabei wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Dil­theys Kritik letztlich bis auf die philosophischen Grundlagen von Semlers Geschichtstheorie hinabreicht. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt Dil­they in Semlers Grundverfahren, die biblischen Bücher im Zusammenspiel von ‚historischer‘ und ‚moralischer Interpretation‘ daraufhin zu untersuchen, welche Sinngehalte eines Textes sich lediglich den geschichtlichen Entstehungsbedingungen verdanken und in welchen Bestanteilen überzeitliche Wahrheiten zum Ausdruck kommen. Als historisch-kontingent habe für Semler all dasjenige gegolten, dem nicht die Bedeutung einer moralischen Wahrheit zugesprochen werden könne. Ziel der ‚his87  Vgl. die Überschrift XIV 637: „Semlers geschichtliche Darlegung der bisherigen Auslegungsweisen“. 88  Dil­ they zitiert aus J. S. Semler: Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, Bd. 1, 160: „Das Wichtigste kommt kurz in der hermeneutischen Fertigkeit darauf an, daß einer […] den Sprachgebrauch der Bibel recht gewiß und genau kennt“ (zitiert nach XIV 638f). 89  J. S. Semler: Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, 160f: Es ist wichtig, dass man „die historischen Umstände einer biblischen Rede genau unterscheidet und sich vorstellen kann; und nun auch imstande ist, von diesen Gegenständen auf eine solche Weise jetzt zu reden, als es die veränderte Zeit und andere Umstände der Menschen neben uns erfordern“ (zitiert nach XIV 638f). 90  „[A]uch Semler hatte zwischen der Privat(moralischen)-Religion und der öffentlichen statuarischen unterschieden“ (XIV 651); „der Gegensatz der moralischen Vernunftreligion und der statutarischen [sc. bei Kant] ist in der Tat kein anderer, als der Semlerische der moralischen Privat-Religion und des öffentlichen Kirchenglaubens“ (XIV 654). Aufgrund des im letzten Zitat hergestellten Kantbezugs scheint es, dass Dil­they ‚moralisch‘ – entgegen Semlers Auffassung – auf das Ethisch-Moralische beschränkt. Zur wesentlich weiteren Bedeutung dieses Begriffs bei Semler, nämlich sowohl ‚sittlich-vernünftig‘, ‚sittlich-religiös‘, als auch ‚geistig-persönlich‘, vgl. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, 55, Anm. 1.



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torischen Interpretation‘ ist es darum, diese Elemente zu identifizieren, ihre genetischen Hintergründe zu erhellen, ihre historische Relativität aufzuzeigen und so eine Erfassung des überzeitlichen Gehalts zu ermöglichen. „So erwuchs nun die nächste hermeneutische Aufgabe, die einzelnen Schriften in ihrem Lokalcharakter zu begreifen […]. Hieraus ergab sich als Zweck der Exegese, dieses Temporelle in den einzelnen Schriften zu verfolgen […]. Diese exegetische Anschauung aber […] [leitete] alles über den moralischen Gehalt Hinausgehende aus äußerem Einfluß ab[ ]“ (XIV 635). Für Dil­ they basiert dieses Verfahren auf einer geschichtsphilosophischen Grundanschauung, die mit einem vergleichsweise starren Hiatus von Geschichte und Vernunft rechnet. „Semler hatte zwischen der Privat(moralischen)-Religion und der öffentlichen statuarischen unterschieden […]. Wie vieles war von hier aus als der Moral nicht dienstliche Zeitmeinung, als Akkomodation beseitigt worden!“ (XIV 651) Dil­they kann diesbezüglich auch von einem „Gegensatz […] der moralischen Privat-Religion und des öffentlichen Kirchenglaubens“ (XIV 654) sprechen. Denken und Historie erschienen für Semler einander entgegengesetzt: Auf der einen Seite komme die ideelle Einheit übergeschichtlicher Vernünftigkeit zu stehen, auf der anderen Seite die bloß empirische Faktizität historisch individuierter Sachverhalte. Der „Überschuß aus Zeitmeinungen“ werde „zusammenhanglos neben jenes [sc. das moralische Element] [ge]stellt[ ]“ (XIV 653) und dies habe weitreichende Konsequenzen. Denn das Historische werde dadurch zur bloßen Faktensammlung degradiert, das den Status eines Aggregats nicht übersteige. Ihr stehe eine Einheit einer Vernunft gegenüber, die letztlich ahistorisch aufgefasst wird. Diese defizitäre Anschauung der geschichtlichen Wirklichkeit korrespondiert Dil­they zufolge mit einem mangelhaften Sinn für individuelle Produktivität.91 Angesichts dessen kann er dann festhalten, dass Semlers exegetische Anschauung, die alle Elemente einer Schrift, die keinen moralischen Sinn aufwiesen, bloß aus äußerem Einfluss ableitete, „konsequent durchgeführt bis in das Innere der biblischen Schriften mit der geschichtlichen Kategorie der Lokal- und Zeitideen dringen [mußte]. Die innere Einheit und Gliederung der Werke […] zerging vor dieser Betrachtung. Von außen wurden die Bestandteile konstruiert. Ihr Zusammensein blieb zufällig“ (XIV 635). Und weiter heißt es: „[A]n diesem Punkt der Geschichte [ist] gerade der Sinn für die Macht der Eigentümlichkeit und für den inneren Zusammenhang der Gedanken am notwendigsten […]. Seine [sc. Semlers] gewaltsame Natur vermochte nicht, den Wendungen eines schriftstellerischen Produktes feinsinnig nachzugehen. Sein Sinn für innere Form war so wenig entwickelt wie sein eigener Stil, der selbst für jene Zeit ohnegleichen ist“ (XIV 638).

91  Siehe

dazu unten die Abschnitte II.2.a und II.3.c.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Von hier aus zieht Dil­they dann zwei kritische Konsquenzen im Blick auf Semlers hermeneutisches Unternehmen. Die eine zielt auf die Frage, ob Semler den Zweck seines Unternehmens eigentlich erreicht hatte. Dil­they konstatiert unmissverständlich: „So mißlingt Semler die Aufgabe, welche er doch sehr ernsthaft gemeint hatte, die Meinungen und die Religion durch historische Interpretation zu scheiden“ (XIV 638). Dies kann Dil­they zufolge auch daran abgelesen werden, dass Semler nicht dazu in der Lage gewesen sei, ein Kriterium dafür anzugeben, was eigentlich als moralisch bedeutsam und was lediglich als historisch kontingent anzusehen sei. „Wo ist nun aber die Grenze zwischen diesen Bestandteilen jeder heiligen Schrift [sc. den natürlichen Erkenntnissen und Meinungen und den geoffenbarten Wahrheiten]?“ (ebd.) Semler selbst hatte bewusst darauf verzichtet, eine apriorische Festlegung dessen zu geben, was moralisch-religiös bedeutsam sei und die Erkenntnis desselben der Einsicht eines jeden Auslegers anheimgestellt. Dil­they aber kann darin nur die Folge einer wissenschaftlich nicht tragfähigen Konzeption von Geschichte erblicken. Die andere kritische Konsequenz betrifft Semlers System einer historiographischen Hermeneutik. Diese nun „vermochte er nicht zur ausgebildeten Methode zu erheben, ja dieselbe hat etwas Unmethodisches in ihrem Wesen. Denn auf irgendeine Einheit, sei es eines Systems oder des Autors oder der geschichtlichen Entwicklung, muß der Ausleger gerichtet sein, soll er die Hermeneutik systematisch gestalten.“ Und weiter heißt es: „Semler nun hatte eine Anschauung bewegender Hauptrichtungen als diese Einheit im Sinn, aber diese Richtungen vermochte er nicht einem zusammenhängenden Verlauf einzuordnen, und so zerfiel ihm die geschichtliche Einheit immer wieder in eine Summe lokaler und temporeller Einheiten“ (XIV 639). Es ist Dil­theys Grundüberzeugung, dass eine Hermeneutik nur dann in einer systematischen Form konzipiert werden kann, wenn sie auf einer positiven Einheitsidee aufruht. Im Falle der allgemeinen Hermeneutik Wolffs etwa war diese Grundlage durch die Annahme eines logisch-metaphysischen Ganzen von Wissen gegeben (‚Einheit des Systems‘) und durch Chladenius dann stärker psychologisch akzentuiert worden (‚Einheit des Autors‘). Im Falle einer sich dezidiert als historische Hermeneutik verstehenden Auslegungslehre hätte, so Dil­they, die ‚Einheit der geschichtlichen Entwicklung‘ zugrundegelegt werden müssen. Diese Forderung habe Semler zwar erkannt. Aus den bereits erörterten Gründen sei er jedoch nicht zu einer einheitlichen Geschichtsanschauung vorgedrungen. Dadurch sei es ihm dann aber unmöglich gewesen, die formalen Kriterien an eine systematische Gestaltung der Hermeneutik zu erfüllen. Denn ohne eine einheitliche Grundanschauung von der geschichtlich-kulturellen Wirklichkeit ist es auch nicht möglich, ein einheitliches Verfahren zu entwerfen, mit dem diese Wirklichkeit erfasst und verstanden werden kann.



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v.  Die ästhetische Interpretation Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, inwiefern Dil­they die hermeneutische Bewegung der historischen Interpretation am Beispiel Semlers charakterisierte und in diesem Zusammenhang nicht nur eine wissenschaftsgeschichtliche Würdigung bot, sondern zugleich eine überaus kritische Perspektive in Anschlag brachte. Seine Einschätzung gipfelte in der Diagnose einer mangelhaften Anschauung von Geschichte, deren defizitären Charakter er wiederum auf eine verkürzte Auffassung der Dimension individuellen Lebens zurückführte. Gemessen daran, worum es Dil­they in seiner positiven Darstellung Schleiermachers später zu tun sein wird, böte die Darstellung des bis hierher erreichten Debattenstandes eigentlich ein gutes Absprungbrett, um dessen hermeneutikgeschichtliches Verdienst ins rechte Licht zu rücken. Denn derjenige Aspekt, an dem sich für Dil­ they der Fortschritt bei Schleiermacher im Besonderen festmachen wird, lässt sich unschwer als Überwindung der namhaft gemachten Desiderate lesen. Allerdings ist er sich zugleich dessen bewusst, dass sich bereits vor Schleiermacher eine hermeneutische Auffassungsweise herauszubilden begonnen hatte, die in zunehmendem Maße gerade jenes von Dil­they eingeforderte Moment eigentümlicher Produktivität in Rechnung zu stellen begann. Der Obertitel für die anvisierte Bewegung lautet: „ästhetische Interpretation“ (XIV 705). Als historische Vertreter dieser Richtung nennt Dil­they eine ganze Reihe von Autoren, wie etwa Hugo Grotius, Robert Lowth, Thomas Percy, Christian Gottlob Heyne und Johann Gottfried Eichhorn. Der bedeutendste Repräsentant ist für ihn jedoch zweifelsohne Johann Gottfried Herder, dem er zuerkennt, „der wahren Hermeneutik näher als irgendein anderer vor Schleiermacher gekommen“ (XIV 650) zu sein. Die Gründe für diese emphatische Würdigung seien zunächst geschildert (1), ehe im Anschluss daran auch kritische Punkte benannt seien, die Dil­they im Blick auf Herders Konzeption markiert (2). (1) Für seine Herder-Besprechung verweist Dil­they zunächst auf dessen Beschäftigung mit biblischen Schriften. Die Werke, anhand derer sich Herders bibelhermeneutisches Vorgehen studieren lässt, sind vielzählig. Um hinsichtlich seiner Beschäftigung mit dem Alten Testament nur zwei der bekanntesten anzuführen – die Dil­they aber nicht direkt erwähnt –, könnten etwa die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774–1776) oder auch Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782/83) genannt werden. Für die Interpretationen, die Herder zum zweiten Teil der Bibel vorgelegt hat, genügt der Hinweis auf dessen Erläuterungen zum Neuen Testament (1775) oder entsprechende Überlegungen in Briefe, das Studium der Theologie betreffend (1780).92 Beide letztgenannten Schriften stellen zugleich die einzigen von Dil­they explizit als Quelle herangezogenen Texte dar. Es geht 92  Zu Herders Hermeneutik des Neuen Testaments vgl. M. Bunge: Johann Gottfried Herders Auslegung des Neuen Testaments, 249–262.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

ihm aber nicht allein um Herders Umgang mit den Schriften der Bibel. Der vornehmliche Zielpunkt liegt vielmehr  – wie noch zu zeigen ist  – in dessen allgemeinem Beitrag für die Genese eines neuen Verfahrens und einer spezifischen Grundlegung der Auslegung. Dass Dil­they auf Herders allgemeine Hermeneutik zielt, den Ausgang der Betrachtung jedoch in dessen Auslegung der Bibel nimmt, ist keineswegs illegitim. Denn bekanntlich hat Herder seine entsprechenden Anschauungen nie in einer geschlossenen Darstellung präsentiert, sondern seine diesbezüglichen Überlegungen an vielen Orten seines Werks quasi nebenbei mit einfließen lassen. Damit verbindet sich zugleich der Umstand, dass seine Auffassung von Methode und Prinzip des Interpretierens nicht auf ein bestimmtes literarisches Gebiet beschränkt ist, sondern von der Überzeugung einer allgemeinen Anwendbarkeit auf ganz unterschiedliche Literaturgattungen getragen ist.93 Trotz des damit verbundenen prima-facie-Eindrucks einer disparaten Konzeption kann durchaus von einer im Hintergrund stehenden hermeneutischen Gesamtanschauung Herders ausgegangen werden.94 Wenn Dil­they Herders Hermeneutik, wie gesehen, auch unter der Überschrift der ‚ästhetischen Interpretation‘ verhandelt, so besitzt der Begriff ‚ästhetisch‘ für ihn eine doppelte Bedeutung. Zum einen fungiert er – zusammen mit dem Epitheton ‚historisch‘95 – gleichsam als Etikette für den hermeneutischen Ansatz Herders insgesamt, zum anderen verbindet sich damit für Dil­they der kritische Aufweis eines spezifischen Problems, dessen Lösung erst durch spätere Konzeptionen erbracht worden sei. Bevor wir auf letzteres zu sprechen kommen, kurz eine Bemerkung zu erstgenanntem Punkt. Herders Interpretationsmodell wird von Dil­they als ein Auslegungsverfahren charakterisiert, das „auf das Ganze gerichtet [ist], auf den inneren Geist des Werkes und des Kreises, aus welchem derselbe hervorgegangen ist“ (XIV 650). Die Eigenart von dessen Hermeneutik trete darin zutage, dass Herder darauf dringe, den Zusammenhang zu erfassen, der zwischen Inhalt und Form eines Werkes auf der einen und dessen geschichtssituativem Kontext auf der anderen Seite besteht, wobei die erste dieser beiden Seiten durch eben jene Hinwendung auf den Geist eines Werkes vollzogen werde. Dil­they bezieht sich damit zum einen auf einen Aspekt des Herderschen Auslegungsverfahrens, den man mit einem Begriff der neueren Literaturwissenschaft als ‚immanente Methode‘ bezeichnen kann.96 Im Blick auf Herder ist damit gemeint, dass es ihm um eine solche Erschließung schriftstellerischer Werke zu tun ist, die nicht klassifizierend vorgeht und vorgegebene Regeln und Gattungsbegriffe für die Beurteilung einfach vo-

78.

93 Vgl. 94 Vgl. 95  Vgl.

H. D. Irmscher: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders,

H. D. Irmscher: Grundzüge der Hermeneutik Herders, 177 ff. die Rede von „Herders historisch-ästhetische Richtung“ (XIV 627). 96 Vgl. E. Krückeberg: Interpretation, immanente.



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raussetzt.97 Vielmehr geht es um den Versuch, ein Verständnis für ein Werk in seiner Ganzheit zu gewinnen, d. h. für dessen eigentümliche Struktur, Gestalt und Kraft.98 Diese Auffassung erfordert vom Ausleger eine nicht geringe innere Mobilität, insofern konventionelle literarische Schemata zu diesem Zweck nicht hinreichen.99 Dil­they selbst spricht diesbezüglich von der „kongeniale[n] Nachempfindung Herders“ (XIV 650).100 Zum anderen sei ein solches Nachbilden für Herder aber mit- oder wechselbedingt vom ‚Ganzen des Kreises, aus dem ein Werk hervorgegangen ist‘. Dil­they markiert somit den Umstand, dass der Begriff des Ganzen bei Herder eine verschiebliche Kategorie darstellt, die nicht nur für den zum Ausdruck kommenden Geist einer Dichtung oder Erzählung bzw. für den komplexen Zusammenhang aller literarischen Details steht. Darüber hinaus umgreift er auch die realen geschichtlichen Faktoren, die die Produktion des fraglichen Werkes mehr oder weniger direkt bedingt haben. Zu der oben als ‚immanent‘ bezeichneten Methode gesellt sich daher eine zweite historisch-genetische Betrachtungsweise hinzu. So gesehen kann der individuelle Zug einer kulturellen Schöpfung nur dann nachempfunden werden, wenn sich der Interpret zugleich in die geschichtliche Lebenswelt des Autors hinein versetzt, um davon ausgehend die Dinge wie dieser aufzufassen und nachzufühlen sich bemüht. Auch wenn bei Herder das geschichtlich Besondere in seiner bleibenden  – ästhetischen  – Wirkmächtigkeit in den Blick zu treten vermöge, so sieht Dil­ they durchaus, dass dessen Einfühlungshermeneutik nicht das Bewusstsein für die Distanz zwischen Ausleger und Gegenstand aus dem Blick verliert. Herder überfrachte den Ertrag der Interpretationstätigkeit nicht in normativer Weise, indem er ihn einfach als unmittelbar maßgebend für die eigene Gegenwart behaupte. Trotz aller gefühlsmäßigen Überbrückung bleibe der historische Abstand gewahrt. Anders etwa als in der kirchlichen Hermeneutik gehe es nicht um die Erhebung eines direkt verbindlichen Sinnes, sondern Herder wolle – wie Dil­ they an anderer Stelle betont – „mit seinen Reproduktionen die Produktionen neu hervor[ ]rufen“ (XIV 670). Die Beschäftigung mit kulturellen Objektivationen vergangener Zeiten erfolge vornehmlich mit dem Ziel, die eigene Kreativität anzuregen. Allerdings stellt dieser Aspekt für Dil­they dann nicht mehr ­eigentlich 97  H. D. Irmscher: 98  AaO., 199.

Grundzüge der Hermeneutik Herders, 178.

99  In dieser Hinsicht konnte Herder sich dann auch überaus kritisch gegenüber der philologischen Zunft seiner Zeit äußern, der er eine gelehrte Behandlung der Einzelstellen bei gleichzeitigem Verlust des Gespürs für den Zusammenhang vorwarf. Auch Dil­they geht auf diesen Sachverhalt ein und veranschaulicht ihn anhand von Herders Polemik gegenüber Michaelis (vgl. XIV 650), der von diesem bekanntlich als bloßer Sprachmeister verspottet wurde. Freilich will Herder damit nicht die Bedeutung philologischen Wissens insgesamt in Frage stellen, dieses jedoch auf eine bloß notwendige, d. h. nicht hinreichende Grundvoraussetzung beschränken. 100  Nach eigenem Bekunden orientiert er sich dafür an einer Sprachschöpfung des Göttinger Altertumsforschers Karl Otfried Müllers (vgl. XIV 718).

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

ein hermeneutisches Problem dar, weswegen er ihn auch nur am Rande erwähnt.101 (2) Damit sind diejenigen Grundzüge von Herders hermeneutischer Anschauung entfaltet, die für Dil­they dessen entscheidenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte ausmachen. Es ist deutlich geworden, dass Herders ‚ästhetische Interpretation‘ für Dil­they missverstanden wäre, wenn sie gegen die historische ausgespielt würde. Denn, wie gesehen, schließt sie geschichtliche Erwägungen dezidiert mit ein. Angesichts dessen dürfte der entscheidende Punkt für Dil­ they darin bestehen, dass hier die Einsichten der grammatischen und historischen Interpretation aufgenommen werden, dass sie aber zugleich mit einer individualitätstheoretischen Perspektive verschränkt werden, die ein Sensorium für den unableitbaren Eigenwert kultureller Sinngrößen besitzt. Dil­theys hohe Wertschätzung der Herderschen Position hält ihn jedoch nicht davon ab, auch Probleme zu markieren. Diese Anzeige bewegt sich dabei auf den zwei Ebenen: der philosophischen Grundlegung einerseits, und einer methodologischen Reflexion andererseits. Letztgenannte lässt sich an jener oben erwähnten negativen Konnotation des Stichwortes ‚ästhetisch‘ festmachen und ist auf Herders Art der praktisch-theoretischen Gewinnung des Begriffs des Ganzen bezogen. Denn Dil­they zufolge „vermag [er] denselben doch noch nicht anders als in der Form des ästhetischen Eindrucks zu erfassen“ (XIV 650).102 Damit zielt er auf einen Punkt in Herders Verfahren, der in der Tat eine gewisse Schwierigkeit darstellt. Denn wie Herder besonders deutlich im Blick auf die Ganzheitserfassung des individuellen Geistes eines Werkes herausgestellt hat, wird diese allein durch das Gefühl geleistet, was sich wiederum aktualiter einstellen müsse und als Evidenzbewusstsein in seiner unbezweifelbaren Gewissheit methodisch nicht weiter aus- bzw. beweisbar sei.103 Für Dil­they ist damit aber eine bloß „ästhetische Nachempfindung“ bezeichnet, „welche das Ganze im Gefühl ergreift und doch sich unfähig fühlt, es zum nachbildenden Verständnis zu bringen“ (XIV 650). Dil­they bestreitet freilich 101  Seit den Arbeiten von Irmscher ist es Gemeinplatz der Forschung geworden, darauf hinzuweisen, dass Herders Interpretationsverständnis nicht allein auf einfühlende Rekonstruktion vergangener Zeiten verkürzt werden dürfe, sondern zugleich die Gegenwartsrelevanz geschichtlichen Verstehens mit einschließe. Dazu gehöre insbesondere auch das Umschlagen der Reproduktionsarbeit in eigene Produktivität, die von Herder statt als ‚Nachahmen‘ als ‚Nacheifern‘ begriffen wird. Stellt man sich angesichts dessen die Frage, ob Dil­they die Herdersche Konzeption des Verstehens in unzulässiger Weise auf ein gleichsam historistisches Verfahren verkürze, wenn er das kongeniale Nachempfinden als das Zentrum von Herders Hermeneutik herausstellt, so hängt die Antwort davon ab, wie weit der Umfang des Begriffs Hermeneutik gefasst wird. Dil­they geht hier von einem engeren Begriffsumfang als etwa Irmscher aus und würde das Fortwirken des Geistes eines Werkes in neuer künstlerischer Produktivität nicht ohne weiteres mit darunter subsumieren. 102  Im Original teilweise hervorgehoben. 103 Vgl. H. D. Irmscher: Grundzüge der Hermeneutik Herders, 179.



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nicht, dass eine Art Gesamteindruck aller Einzelanalyse vorausgehen muss, will aber auf den Umstand aufmerksam machen, dass ein solcher Ausgriff eines methodischen Verfahrens bedarf, wenn es als wissenschaftlich soll auftreten können. Das fehlende Methodenelement, das er bei Herder vermisst, ist – wie wiederum erst aus späteren Überlegungen seiner Darstellung erschlossen werden kann – das Verfahren vorläufiger Ganzheitsunterstellung in Form von Hypothesenbildung. In der weiteren Entwicklung der Hermeneutik sei dieses durch den Schellingschüler Friedrich Ast entdeckt104 und dann durch Schleiermacher weiter ausgearbeitet worden.105 Der andere Kritikpunkt hängt damit zusammen, zielt aber auf eine tiefere Ebene. Wie gesehen steht Herders Auslegung für ein Verfahren, dem es um das Aufspüren der inneren Struktur eines jeweiligen Werkes zu tun ist. Darin erblickt Dil­they dessen wesentliches Verdienst. Denn über den Gedanken, dass eine Erfassung von Sinn nicht über den Vollzug bloßer Gedankenanalyse erreicht werden kann, habe Herder einen erheblichen Beitrag zur Überwindung jedweder Form starrer Regelhermeneutik geleistet. Was aber bei Herder Desiderat bleibe, ist eine Theorie, die auch den Ursprung solch eigentümlicher Gebilde begreiflich zu machen imstande ist. Anders gesagt: Dil­they vermisst bei Herder die Formulierung einer Konzeption, die den Vorgang der individuellen Produktion – und entsprechend damit auch den der Reproduktion – schriftstellerischer Werke philosophisch zu begründen vermag. Problemgeschichtlich vorausblickend heißt es dann: Erst „[i]ndem […] die kongeniale Nachempfindung Herders sich mit der konstruktiven Methode der Philosophie [sc. Kants und Fichtes] verband, wurde der Grund zu der wahren Methode der Auslegung und einer wissenschaftlichen Hermeneutik gelegt.“ (XIV 650) Damit erst habe „[d]iese Richtung auf synthetische [sc. nachschaffende]106 Behandlung der Exegese […] einen festen Anhaltspunkt“ (XIV 706) erhalten. Und erst auf dieser Basis sei es dann auch möglich geworden, ein Auslegungsverfahren zu konzipieren, das das Ganze einer vorliegenden Schrift nachkonstruierend und nicht mehr allein intuitiv-ahnend zu erfassen in der Lage gewesen wäre. Wir werden darauf im Schleiermacher-Teil zurückkommen. vi.  Die moralische Interpretation In Dil­theys Semler-Darstellung findet sich eine bemerkenswerte Einschätzung. Auf Semlers Scheidung der biblischen Bücher beruhe zwar die gesamte neuere Exegese und Hermeneutik. Unbeschadet dessen wird aber zugleich herausstellt, 104  „Alles Verstehen beginnt, wie es Ast nannte, mit einer Ahndnung, nämlich mit einer verschiebbaren Hypothese über den Zusammenhang“ (XIV 708, vgl. 659). 105  Er hat dabei vor allem den Schleiermacherschen Gedanken vor Augen, „daß alle Auslegung mit einer verschiebbaren Hypothese beginnt“ (XIV 734). 106 Vgl. XIV 705.

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„[w]ie wesentlich […] später die Wiedererfassung des inneren Zusammenhanges dieser Schriften war“ (XIV 634). Beim ersten Hinsehen überrascht diese Feststellung, hatte Semlers Verdienst Dil­they zufolge doch gerade in der Auflösung des Kanons bestanden. Angesichts dessen wäre es völlig widersinnig, für eine Restitution des dogmatischen Bibelkanons zu plädieren. Darum geht es Dil­they freilich auch nicht. Worauf er zielt, das ist die Ausbildung einer solchen Gesamtperspektive, die es erlaubt, die jeweiligen Bücher nicht nur in ihrer jeweiligen Vereinzelung, sondern sie darüber hinaus ebenso in ihrem inneren Gesamtzusammenhang zu begreifen. Eine solche Zugangsweise sei im Gefolge Semlers zunächst weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden, erweise sich für eine Gesamtanschauung der christlichen Religion aber als unerlässlich. Dil­theys problemgeschichtliche These ist es nun, dass diese Problematik  – auf dem Boden aufklärerisch-kritischen Denkens  – erst durch Kants „moralische[ ] Interpretation“ (XIV 652) wieder in Angriff genommen worden sei. Darauf wird gleich zurück zu kommen sein. Bevor wir das tun, ist zunächst nochmals auf Dil­theys Flacius-Darstellung einzugehen, da er bereits hier ein Problem identifiziert, auf das in der Bibelhermeneutik später eine Antwort gefunden werden musste (1). Sodann wird es um die Bewegung der ‚biblischen Theologie‘ gehen, die Dil­they diesbezüglich ins Spiel bringt, und der er überraschender Weise auch Kant zuordnet (2). Um die Frage nach dem möglichen Motiv für diese etwas eigenwillige Eingemeindung wird es im dritten Schritt gehen (3). Schließlich ist zu zeigen, inwiefern die spätere Entwicklung über Kant hinausgegangen sei (4). (1) Wie an anderer Stelle gesehen, erblickt Dil­they bei Flacius den Anfang der Hermeneutik als Wissenschaft. Dabei charakterisierte er dessen Konzeption grundsätzlich durch Zweierlei: eine ‚synthetisch verfahrende Interpretation der [sc. biblischen] Einzelschriften‘ sowie eine ‚synthetische Behandlung des [sc. biblischen] Schriftganzen‘. Als bahnbrechend für die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der allgemein-hermeneutischen Disziplin erachtete er bei Flacius vor allem erstere. Dem gegenüber setze dessen Umgang mit dem Ganzen der Heiligen Schrift den dogmatischen Begriff des Kanons voraus, was sich an dessen selbstverständlicher Anwendung der Auslegungsprinzipien der Analogia fidei und der Parallelstellen ablesen ließ.107 Hier trat daher „der Mangel dieser Exegese, welche in der unhistorischen und abstrakt logischen Fassung des Prinzips des Schriftganzen oder Kanons liegt, offen zutage“ (XIV 603). Trotz dieser kritischen Inblicknahme besitzt für Dil­they aber nicht nur jener erste Interpretationsansatz eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Darüber hinaus schreibt er auch der eben vorgestellten Differenz der beiden Betrachtungshinsichten einen wesentlichen Wert zu. Zwar werde Flacius’ Auslegungsverfahren, das das Bibelganze als einheitliche, in sich konsistente Größe betrachtet, nicht den Standards neuzeitlicher Hermeneutik gerecht – und zwar müsse sein 107 Vgl.

XIV 602 f.



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Vorgehen, „mit passenden und unpassenden Bibelstellen seine hermeneutischen Regeln zu belegen“ und für die Behandlung des Schriftganzen einfach „recht viele Stellen zusammenzubringen, […] erhebliche Bedenken erregen“. Nichtsdestoweniger hält Dil­they fest, dass „sich dann die faktische Gruppierung seiner Regeln der Beobachtung eines wichtigen Unterschiedes [nähert]“ (XIV 602f). Nach ihrer positiven Seite hin bietet Flacius nämlich die Einsicht, dass die einzelnen biblischen Bücher zwar jeweils für sich einer dezidiert philologischen Perspektive zu unterstellen und in ihrer jeweiligen Eigenart zu würdigen sind, dass der Bibel darüber hinaus aber zugleich in ihrer Ganzheit eine eigene Ausdrucksqualität zukomme. Einer tragbaren Anschauung des letztgenannten Aspekts hat sich Flacius in Dil­theys Augen allerdings nur ‚genähert‘. Dil­theys Kritik läuft zunächst auf die Frage hinaus, ob Flacius vor dem Hintergrund seiner theoretischen Grundannahmen überhaupt in der Lage gewesen wäre, die beiden von ihm „gesonderten Massen der hermeneutischen Operation“  – die Interpretation des Schriftganzen und die Auslegung der Einzelschriften – „wissenschaftlich zu verknüpfen“ und „in eine haltbare Beziehung“ (XIV 605) zu bringen. Dies wird von Dil­they klar verneint, und zwar sei er dazu deshalb nicht in der Lage gewesen, weil sich beide Auslegungshinsichten, wie sie Flacius konzipiert, letztlich als inkompatibel erweisen. So suche er zwar den Umstand zur Geltung zu bringen, dass einzelne Schriften und so auch die unterschiedlichen biblischen Bücher als solche nur dadurch in ihrem jeweiligen Sinngehalt erschlossen werden könnten, dass man auf ihren Zweck, ihre Konzeption, ihre Disposition und die in ihnen vorfindliche Verteilung von Haupt- und Nebengedanken achte. Wenn er jedoch von der „dogmatische[n] Voraussetzung“ (XIV 605) ausgehe, die Bibel würde eine Sinneinheit darstellen, deren Sinnganzes mittels Glaubensanalogie und Sachparallele erfasst werden könne, dann impliziere dies, dass er die „Auslegung“ – wie Dil­ they im direkten Anschluss an Richard Simon sagen kann – „doch den protestantischen Glaubensformeln [unterwirft]“ (XIV 608). Damit ist ein Interpretationsverfahren gegeben, das „mitten durch die einzelnen Bücher der Schrift [geht], wenig bekümmert um ihren Zweck und ihre innere Form“. Diese Methode und jene andere schließen sich also insofern wechselseitig aus, als jeweils die eine ein der anderen entgegengesetztes Verfahren betätigt. Der eigentliche Grund für das Misslingen einer angemessenen Verhältnisbestimmung beider Auslegungshinsichten ist Dil­they zufolge aber in Flacius Kanonauffassung zu erblicken: Denn „die Art, wie er den Begriff des Schriftganzen faßte, mußte ihm dies [sc. die Verschmelzung der beiden Elemente] unmöglich machen“ (XIV 605). (2) Mit Blick auf die flacianische Bibelhermeneutik markiert Dil­they demnach das problemgeschichtliche Desiderat, dass die Aufgabe, beide Auslegungsperspektiven in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, unerledigt geblieben ist. „Es sollte noch lange dauern und gewaltiger exegetischer Arbeit bedürfen, ehe das

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

richtige Zwischenglied zwischen der hermeneutischen Operation und der dogmatischen […] auch nur geahnt wurde.“ (XIV 605) Bemerkenswert ist nun, welcher Kandidat von ihm hierbei als Lösungsansatz ins Feld geführt wird, nämlich die „biblische Theologie“ (ebd.). Es überrascht zunächst, dass Dil­they gerade dieses theologiegeschichtliche Programm als Lösung des von ihm diagnostizierten Problems heranzieht. Denn ursprünglich ist darunter eine Richtung zu verstehen, die zwar aus der begründeten Einsicht hervorgegangen war, dass kirchliches Dogma und Inhalt der Bibel nicht einfach gleichgesetzt werden können. In ihrer Absetzung von der ‚dogmatischen Theologie‘ stand sie zunächst gleichwohl für ein Programm, das von der altprotestantischen Inspirationslehre abhing, so dass der als Lehre begriffene biblische Stoff nach Maßgabe dogmatischer Dispositionen zusammengestellt wurde.108 Diese Form der ‚biblischen Theologie‘ wird man Dil­theys Wertschätzung mit Sicherheit nicht unterstellen können. Im 18. Jahrhundert setzte dann eine Wandlung der ‚biblischen Theologie‘ von einer mehr oder weniger versteckt dogmatischen in eine historische Wissenschaft ein.109 Als bedeutender Impulsgeber dieses Transformationsprozesses firmierte etwa der Theologe Johann Philipp Gabler, auf den auch Dil­they in einer kurzen – allerdings kritischen – Äußerung verweist.110 Aber auch hierin ist nicht der Bezugspunkt von Dil­theys Rekurs auf die ‚biblische Theologie‘ zu erblicken. Dieser wird erst deutlich, wenn man zu dem eingangs genannten Autor übergeht. Denn Dil­they hat diesbezüglich keinen anderen als Kant bzw. dessen Schrift Die Religion innerhalb der bloßen Vernunft im Visier. Bei ihm trete wieder „das Verständnis des N. T. als eines Ganzen von Hauptbegriffen und Grundlehren hervor, jene Richtung, aus der die biblische Theologie hervorging“ (XIV 656). ‚Biblische Theologie‘ steht bei Dil­they also für eine Bewegung, die erst im Zusammenhang mit der Philosophie Kants hervorgetreten sei. Dabei wird letzterer selbst von Dil­they geradezu Vertreter dieser Bewegung apostrophiert: „Diese Schrift Kants bezeichnet einen entscheidenden Wendepunkt der Auffassung der Heiligen Schrift“ und „indem der gewaltigste Geist seit Leibniz mit dem Ideengehalt der Schrift ringt, erhebt sich hier zum ersten Male wieder seit der Reformation eine Grundanschauung der Schrift, die biblische Theologie des Idealismus[,] auf Grund des Gegensatzes des radikalen Bösen und der Heiligkeit des Sittengesetzes. Zum ersten Male wird wieder das Ganze der Schrift aus einem das Ganze durchdringenden Geist erklärt. Diese Richtung der Exegese aber, die Schrift als ein organisches, aus einer einheitlichen Substanz erwachsendes Ganzes zu erfassen, tritt als die zweite und ebenbürtige neben die auf die philologische Behandlung der Einzelschriften.“ (XIV 651 f., Hvh. v. Verf.)111 Die im Rahmen seiner 108 Vgl. 109 Vgl.

H. Gunkel: Biblische Theologie und biblische Religionsgeschichte. M. Dibelius: Biblische Theologie und biblische Religionsgeschichte. 110 Vgl. XIV 735. 111  Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass sich damit eine gewisse Verschiebung gegenüber



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Fla­cius-Besprechung hervorgehobene Bedeutung der ‚biblischen Theologie‘ bezieht sich also nicht auf die unter diesem Namen firmierende historische Bewegung, sondern steht in erster Linie für den durch Kant praktizierten Bibelumgang. Von der Geschichte der biblischen Theologie her würde es sich freilich nicht so sehr nahelegen, Kant in dieser Weise einzuordnen. Vor allem würde man von Kants Religion innerhalb her eigentlich nicht auf die Idee kommen, hier von ‚biblischer Theologie‘ zu sprechen. Denn schaut man sich dessen eigene Verwendung des fraglichen Begriffs bzw. den des ‚biblischen Theologen‘ an – wobei die Sache klarer wird, wenn man das Traktat vom Streit der Fakultäten (1798) mit hinzuzieht –,112 so mutet Dil­theys Synthese geradezu erstaunlich an. Kant reklamiert für seinen eigenen Standpunkt nämlich keineswegs den genannten Titel, im Gegenteil. Dieser ist ausschließlich für die in den oberen Fakultäten angesiedelte Theologie reserviert, die – gleich der Jurisprudenz – den ihrer Wissenschaft eigentümlichen Lehrgehalt ausschließlich unter Bezugnahme auf eine positiv vorgegebene Schrift gewinne. Dem stellt Kant das Konzept einer ‚philosophischen Theologie‘ gegenüber. Dabei geht er nicht so weit, die konkrete Religion in ihrem vollen Gehalt aus der Vernunft herleiten zu wollen. Er beansprucht aber, auf dem Wege einer vernünftigen Überprüfung diejenigen Elemente erheben zu können, die allein in moralischem Sinne von Belang sind. Dabei bildet der ‚reine Religionsglaube‘ diejenige Auslegungsinstanz, die den bloßen ‚Kirchenglauben‘ bzw. ‚statuarischen‘, ‚historischen‘ oder auch ‚Geschichtsglauben‘ auf die in ihm enthaltenen Vernunftmomente hin aufschließt.113 Kant hat also seine eigene religionsphilosophische Arbeit in keinster Weise als Spielart ‚biblischen Theologie‘ verstanden wissen wollen, so dass Dil­they ihn hier zumindest terminologisch ziemlich gegen den Strich bürstet. (3) Worin besteht Dil­theys Motiv? Zum einen dürfte es sich von daher erklären, dass er den Umstand hervorheben will, dass hier auf dem Boden aufklärerisch-kritischen Denkens einer holistischen Bibelauslegung wieder zu ihrem Recht verholfen worden ist. Denn in diesem allgemeinen Sinne gibt es durchaus Ähnlichkeiten von Kant zu jener Bewegung. Zum anderen erschließt sich Dil­theys Einordnung weiter, wenn man das philosophische Fundament mit in den Blick nimmt, das Kants hermeneutischem Programm zugrunde liegt und dieses überhaupt erst möglich gemacht hat. Um dies deutlich machen zu können, sei an Dil­theys Gegenüberstellung von Kant und Semler erinnert, auf die wir bereits anderenorts zu sprechen gekommen sind.114 Dil­they sieht insofern dem Begriffsgebrauch im Flacius-Abschnitt ergeben hat. Denn während er dort für die Verbindung von gesamtbiblischer Betrachtungsweise und philologischer Einzelschriftbearbeitung stand, so fungiert er hier lediglich für eine der beiden Seiten. 112 Vgl. O. Höffe: Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung. 113 Vgl. T. Rendtorff: Kirchenglaube. 114  Siehe dazu oben Abschnitt II.1.d.iv.

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bedeutende Parallelen zwischen beiden Autoren, als für beide gelte, dass „das historische System […] schlechterdings auf das moralische Vernunftsystem zurückgeführt werden [müsse]“ (XIV 651). Kant stimme „mit Semler in der ausschließlichen Wertschätzung des moralischen Elementes im Christentum überein.“ (XIV 653). Insofern historisches und moralisches Element auseinanderfallen, könne Semler in den historischen Bestandteilen schriftstellerischer Werke zunächst nicht viel mehr erblicken als die gleichsam bloß zeitbedingte Einkleidung überzeitlicher Vernunftgehalte. Wenn aber allein der moralische Bestandteil vernünftige Bedeutung besitze, so werde die Historie zu einem zusammenhanglosen Aggregat geschichtlich bedingter Einflüsse und Motive degradiert. Bei Semler konnte Dil­they, wie gesehen, überhaupt keine konzeptionellen Elemente ausmachen, die diesen Hiatus in irgendeiner Weise zu überbrücken imstande gewesen wären. Und hier nun kommen wir zu dem tiefer liegenden Grund für Dil­ theys Wertschätzung Kants. Denn „wenn jener [sc. Semler] den Überschuß aus Zeitmeinungen ableitete, ihn somit zusammenhanglos neben jenes [sc. moralische] Element stellte, so wird dasselbe bei Kant Mittelpunkt einer zusammenhängenden Erklärung der ganzen Schrift, indem jener Überschuß aus gewissen, dem Geist innewohnenden Formen des Vorstellens moralischer Ideen abgeleitet wird“ (XIV 653). In der letzten Äußerung sind zwei Elemente enthalten. Wenn Dil­they zunächst das moralische Element als das Zentrum einer zusammenhängenden Erklärung der Schrift hervorhebt, so hat er dabei nichts anderes vor Augen als Kants moralphilosophische Basisunterscheidung eines guten und eines bösen Prinzips. Deren beiderseitige Teilhaftigkeit an der menschlichen Natur bildet den Gegenstand des ersten Stücks von Kants Religionsschrift, deren Kampf den des zweiten und die Vorstellung des Sieges von jenem über dieses schließlich den des dritten Stückes. Die Unterscheidung zwischen guten und bösen Willensmaximen findet sich bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und in der Kritik der praktischen Vernunft (1788). In beiden Schriften hatte Kant aber noch keine Anstalten gemacht, diese Differenz mittels einer hermeneutischen Besinnung auf die biblischen Texte darzustellen. Genau dasjenige Theorieelement aber, das ihm diese Brücke zu schlagen erlaubt, bildet das zweite Element von Dil­theys Würdigung. Dil­they zufolge operiert Kant ähnlich wie Semler mit einem Gegensatz von moralischer und positiver Religion. Auch Kant schreibe nur jener eigentliche Bedeutung zu. Und auch Kant ziele letztlich darauf, den moralischen Gehalt der Religion von seiner historischen Einkleidung zu unterschieden und das eigentlich vernünftige an ihr aufzuzeigen. Aber – und das ist das Entscheidende – Kant könne auf Basis seines philosophischen Grundansatzes plausibel machen, wieso es zu einer Verbindung beider Seiten kommen muss, indem er von einer Notwendigkeit, die moralischen Ideen nicht nur als Vernunftbegriffe zu besitzen, sondern sie zugleich auch vorstellen zu müssen, ausgehe. In Dil­theys Augen vermag



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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Kant dadurch in negativer Hinsicht ein Doppeltes zu vermeiden: die vorkritische Annahme einer übernatürlichen Offenbarung auf der einen sowie ein vollkommenes Auseinanderfallen von historisch-positiven Überlieferungsgestalten und bleibenden Vernunftideen auf der anderen Seite. In positiver Hinsicht werde es ihm dadurch möglich, den inneren Zusammenhang der unterschiedlichen biblischen Bücher zu erfassen, da sie – sofern nicht völlig widervernünftig – als „religiöse Verwandlung des intelligiblen moralischen Verhältnisses“ in eine anschauliche Form angesehen werden können, die wiederum „aus einem psychologischen Gesetz“ (XIV 653) entspringt. Um die zuletzt zitierte Einschätzung Dil­theys einordnen zu können, ist auf diejenige Stelle der Religion innerhalb hinzuweisen, in der Kant eine Brücke zur Kritik der Urteilskraft (1790) schlägt. Die Rede ist von der bekannten Anmerkung aus dem ersten Abschnitt des Zweiten Stückes, in der Kant auf die Unterscheidung eines ‚Schematismus der Analogie‘ und eines ‚Schematismus der Objektbestimmung‘ zu sprechen kommt, wodurch er eine Verbindung zu der in § 59 seiner dritten Kritik entfalteten Differenz von direkter und indirekter Begriffsdarstellung zieht. Wie er dort ausführt, verdanken sich beide Verfahren dem Erfordernis, die Sachhaltigkeit (Realität) von Begriffen darzutun, indem man ihnen sinnliche Anschauungen unterlegt (Hypotypose). Jedoch ist dies, so Kant, nur bei empirischen oder reinen Verstandesbegriffen in einer objektiv-bestimmenden Weise möglich, d. h. in einer direkten Darstellung (Beispiel, Schema). In Anbetracht von Vernunftbegriffen ist eine solche Art der Versinnlichung unmöglich, da diesen per se keine sinnliche Anschauung korrespondieren kann. Dennoch bleibt auch ihnen gegenüber der Anspruch auf anschauliche Darstellung erhalten, dessen letzter Grund in der Zweistämmigkeit des menschlichen Bewusstseinslebens zu suchen ist. Soll also auch hier eine Versinnlichung geleistet werden, so ist dies nur in einer symbolischen Gebrauchsweise möglich, d. h. mittels Analogiebildung, genauer: mittels der Bildung einer Proportionsanalogie. Als Symbol vermag dann eine solche empirische Vorstellung zu fungieren, zu der die Urteilskraft in einem ersten Schritt einen Verstandesbegriff aufsucht, um in einem zweiten Schritt die hierin in Anschlag gebrachte Regel der Reflexion auf einen solchen Gegenstand zu übertragen, von dem eigentlich überhaupt kein anschaulicher Begriff gebildet werden kann. Bereits in der KdU weist Kant darauf hin, dass alle sog. Erkenntnis Gottes – wie etwa die Rede von dessen Verstand oder Wille – nur symbolischer Natur ist und in einem ‚schematischen‘ Verständnis unweigerlich in dogmatische Anthropomorphismen hineinführt. Diese kritische Restriktion religiöser Vorstellungen nimmt er in der Religionsschrift wieder auf, wobei der Begriff des Schemas nun als Oberbegriff beider Darstellungsweisen firmiert. Deren sachliche Grunddifferenz bleibt aber erhalten. Auch hier verweist Kant darauf, dass aufgrund der Beschränktheit der humanen Vernunft deren moralische Ideen auf menschliche Weise vorgestellt werden müssen. Aufgrund jener Einschränkung aber sind solche Veranschaulichungen eben nicht

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

anders als in analogischer Form darstellbar (Schematismus der Analogie). Diese Einschränkung werde dort übersehen, wo nach Art eines Schematismus der Objektbestimmung geurteilt werde. Dann kommt es zu jener Ausbildung anthropomorpher Scheinerkenntnisse, die sich, wie Kant betont, gerade in moralisch-religiöser Absicht als besonders schädlich erweisen. In jener positiven Bedeutung aber stellt das Schematisieren eine für den wirklichen Vollzug menschlicher Freiheit nachgerade unhintergehbare Funktion dar. Der Heiligen Schrift weist Kant hierbei die Bedeutung zu, eben jene Veranschaulichungsfunktion mannigfach zu bedienen, deren tieferer Sinn sich freilich erst und nur demjenigen erschließe, der die Bibel mittels philosophischer Interpretation auslegt. Dil­they lässt zwar nicht erkennen, inwieweit er den Hintergrund von Kants dritter Kritik vor Augen hat. Aber auf dessen Anwendung der ursprünglich dort entfalteten Symbolkonzeption auf die Auslegung der Heiligen Schrift, mithin auf die ästhetisch-philosophische Grundlage der Religion innerhalb bezieht er sich ausdrücklich und unmissverständlich.115 Hierin ist dann auch der tiefere Grund seiner Wertschätzung Kants auf dem Feld der Bibelauslegung zu suchen. Denn durch diesen transzendentalphilosophischen bzw. – nach Dil­theys Verständnis – psychologischen Hintergrund sei es Kant möglich gewesen, die Bibel in einer Weise auszulegen, für die „selbst die äußersten Schärfen des Dogmas hinabreichten in das Ganze der moralischen Ideen“, so dass in der „Aufgabe, sie aus diesem zu begreifen, das Ziel aller Schriftauslegung liege“. Diese „Gedanken machten Epoche in der Geschichte der Exegese“ (XIV 655).116 Wenn Dil­they die ‚biblische Theologie‘ also „als das höchste Produkt des schöpferischen Triebes der neueren Exegese“ (XIV 656) würdigt, so steht ihm auch und vor allem dieser Aspekt der kantischen Religionstheorie vor Augen. (4) Die Grenze von Kants Konzeption erblickt er allerdings darin, dass dessen Konzeption letztlich noch immer durch einen vergleichsweise harten Gegensatz von Vernunft und Geschichte gekennzeichnet ist. So hält er schon an jener bereits zitierten Stelle im Flacius-Abschnitt fest, dass es nicht nur lange dauern sollte, bevor der Ansatz einer ‚biblischen Theologie auch nur geahnt werden sollte‘, sondern, dass es noch „länger dauern [sollte]“ bevor es zur „Fortbildung der biblischen Theologie zur inneren Geschichte des Christentums“ (XIV 605) kommen sollte. Diesbezüglich steht ihm vor allem Martin Leberecht de Wette vor Augen. Letzterer hatte sich sowohl auf dem Feld der biblischen Kritik und der Einleitungswissenschaft Verdienste erworben,117 darüber hinaus aber auch ein Lehrbuch der christlichen Dogmatik (1813/16) in zwei Teilen verfasst, deren erster Teil den 115 Vgl. XIV 653. 116  Der letzte Satz

ist eine Verstärkung von Dil­theys bereits an früherer Stelle geübten Kritik gegenüber Johann Lutz. Dieser hatte Kants Religionsschrift als „eine gewaltige Diversion“ und lediglich „Episode“ im Verlauf der Hermeneutikgeschichte bezeichnet (J. S. L.  Lutz: Biblische Hermeneutik, 139, zit. nach Dil­they XIV 651). „Nicht mit Recht“ (ebd.), wie Dil­they festhält. 117 Vgl. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, 45–50, 52–55.



1.  Dil­theys Sicht auf die Hermeneutik vor Schleiermacher

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Titel Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments (1813) trägt. Auf diesen ersten Teil verweist auch Dil­they.118 De Wette entwickelt hierin eine  – auf Gedanken von Fries  – aufbauende Konzeption von Religion und Religionsgeschichte. Religion steht dabei für die glaubende Ahnung von Ideen einer übersinnlichen Ordnung, die dem Menschen im Gemüt aufgehen, und sich – auf Basis der innermentalen Einheitsstiftung des Gefühls – in vordiskursiven Urteilen mit Endlich-Gewusstem verbinden, um dadurch zu einer Artikulation in Sinnbildern zu gelangen.119 Da dieser Vorgang aber nicht bei allen Menschen in der gleichen Stärke zum Austrag kommt, sondern nur in bestimmten dafür disponierten Einzelnen, werden diese für alle Übrigen zu Vermittlern der religiösen Ideen. In diese Fluchtlinie wird dann auch das Christentum eingeordnet und die biblischen Schriften daraufhin gelesen, inwiefern sie sich als die Geschichte zunehmender Offenbarung religiöser Ideen verstehen lässt.120 Dil­they selbst macht zu seiner Auffassung dieser Konzeption keine weiteren Angaben. Wenn er aber von den „Anfänge[n] der biblischen Theologie, wie sie doch schon in de Wettes biblischer Dogmatik in einer geistvollen Form vorlagen“ (XIV 736), spricht, so macht er deutlich, dass er hierin eben jene ‚Fortbildung der biblischen Theologie zur inneren Geschichte des Christentums‘ gegeben sieht. Von hier aus sei es dann möglich geworden, „die stetige Entwicklung der Ideen und Tatsachen der Geschichte und Offenbarung zu erfassen. Aus der Erkenntnis aber bildete sich die neuere biblische Theologie, in der das Verhältnis der Exegese zur Lehrdarstellung des Christentums seine adäquate Form gefunden hat“ (XIV 736). Schleiermacher weist Dil­they in diesem Zusammenhang übrigens keine größere Bedeutung zu, da dieser jene „Anfänge der biblischen Theologie […] nicht in den Organismus seiner Theologie aufgenommen“ (ebd.) habe.

118 Vgl. XIV 736. 119  E. Hirsch: Geschichte 120  AaO.,

360.

der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, 359.

2.  Dil­theys Rekonstruktion der philosophischen Grundlagen von Schleiermachers Hermeneutik Im Rückblick auf Dil­ theys Rekonstruktion der Hermeneutikgeschichte vor Schleiermacher lassen sich drei grundsätzliche Überlegungen ausmachen, die nicht nur historische Relevanz besitzen, sondern zugleich von systematischer Bedeutung sind: Erstens muss jede allgemeine Hermeneutik von einer positiven Einheitsidee getragen sein, die dem wissenschaftlichen Aufbau dieser Disziplin zugrunde liegt und die Sammlung und Anordnung der Interpretationsregeln in einheitliche Gestalt zu überführen ermöglicht. Zweitens muss sich eine solche Grundlegung offen zeigen gegenüber der Dimension des Historischen, da der vom Menschen gemachte Wirklichkeitszusammenhang maßgeblich durch geschichtliche Entwicklung bestimmt ist. Gesucht ist also eine geschichtsbewusste Grundlagentheorie, die Dil­theys zufolge aber nur dann angemessen gebildet ist, wenn sie, drittens, dem Sachverhalt der Individualität Rechnung zu tragen weiß. Die letzten beiden Forderungen nicht erfüllt zu haben, hatte für ihn das Defizit aufklärerischer Hermeneutik dargestellt. Denn zwar waren schon lange vor Schleiermacher Ansätze zu allgemeinen-hermeneutischen Konzeptionen aufgekommen. Aber entweder hatten sich dieselben der historischen Problemdimension gegenüber unempfänglich gezeigt (Wolff) oder sie hatten ihre avisierte geschichtstheoretische Grundlegung nicht einzulösen vermocht, weil sie nicht über einen ausreichend fundierten Geschichtsbegriff verfügten. Diesbezüglich hatte der Mangel für Dil­they darin bestanden, dass kein angemessenes Verständnisses für die individuelle Tiefendimension geschichtlicher Objektivierungen vorhanden gewesen war, was sich darin äußerte, dass Vernunftreflexion und geschichtliche Besinnung in kein inneres Verhältnis gesetzt werden konnte (Semler). Um beides miteinander vermitteln zu können, habe erst die Einsicht in die Bedeutung eigentümlicher Produktivität ausgebildet werden müssen. Ansätze hierfür hatten sich zwar finden lassen. Eine philosophische Fundierung war zunächst aber noch ausgeblieben (Herder). Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund bringt Dil­they Schleiermacher nun in Stellung. Den entscheidenden Fortschritt erblickt er in dessen „Verknüpfung von Philosophie und Geschichte, aus der eine wahre, allgemeine Hermeneutik, wie sie erst Schleiermacher aufstellte, […] entspringen“ (XIV 698) konnte. Damit ist indes noch nicht hinreichend deutlich, worin die Fundierungsleistung für die hermeneutische Problematik eigentlich zu erblicken ist. Diesbezüglich hält Dil­they spezifizierend



2.  Dil­theys Rekonstruktion der Grundlagen Schleiermachers Hermeneutik

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fest: „[A]ls das Hauptverdienst der Hermeneutik Schleiermachers erscheint es uns, daß sie auf eine zusammenhängende philosophisch-historische Anschauung von Sprache und Geist […] gebaut wurde“ (XIV 709). Ausgehend hiervon soll es im Folgenden zunächst um Dil­theys Auffassung von Schleiermachers Theorie der geschichtlich-kulturellen Welt gehen (a.), um im Anschluss daran sein Verständnis von Schleiermachers Sprachphilosophie (b.) und dessen Theorie der Individualität (c.) zu schildern. Er hat das Schleiermachersche Unternehmen aber nicht bloß affirmativ beurteilt. Die von ihm geltend gemachten Kritikpunkte bilden das Thema des letzten Abschnittes (d.). In allen vier Hinsichten soll Dil­theys Sicht auf die Grundlage – ‚aus der eine wahre allgemeine Hermeneutik entspringen konnte‘ – als solche ins Auge gefasst werden, weswegen der Bezug auf die hermeneutische Fragestellung im engeren Sinne zunächst noch ausgeklammert bleiben wird.

a.  Die Theorie der geschichtlichen Welt Zunächst gilt es zu klären, auf welchen Aspekt von Schleiermachers Werk Dil­ they Bezug nimmt, wenn er im Zusammenhang der von diesem geleisteten Ausarbeitung einer geschichts- bzw. kulturtheoretischen Konzeption von einer ‚Verknüpfung von Philosophie und Geschichte‘ spricht. Eine Antwort lässt sich hierauf geben, wenn man beachtet, dass Dil­ they in diesem Zusammenhang wechselbegrifflich auch von einer „philosophische[n] Durchdringung des geschichtlichen Stoffes“ (XIV 700), einer „philosophisch behandelten Geschichtswissenschaft“ (XIV  700.702), einer „philosophisch-historische[n] Anschauung“ (XIV 709), oder auch von einer „philosophischen Geschichtsforschung“ (XIV 715) sprechen kann. Damit steht ihm nichts anderes vor Augen als die kategoriale Grundlagenreflexion, wie Schleiermacher sie im güterethischen Teil seiner Philosophischen Ethik ausgearbeitet hat.1 Angesichts dessen wollen wir uns im Folgenden seiner Sicht hierauf zuwenden. Dil­theys Argumentation ist dabei überaus voraussetzungsreich. Im Folgenden soll darum zunächst Schleiermachers ethische Theorie skizziert werden (1), ehe Dil­theys entsprechende Einschätzung zur Sprache kommen wird (2).2 1  Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass Dil­they auf der einen Seite festhält: „auch sie [sc. die Hermeneutik] gehört zu den Disziplinen, die durch eine philosophische Durchdringung des geschichtlichen Stoffes erst wissenschaftliche Gestalt erhalten haben“ (XIV 700), so dass geradezu von einer „Abhängigkeit der Hermeneutik von der philosophisch behandelten Geschichtswissenschaft“ (XIV 702) ausgegangen werden kann. Auf der anderen Seite heißt es, dass „das hermeneutische Prinzip“ aus den „Resultate[n] der Ethik […] entspringt“ und dass die „Ethik“ als „allgemeine Wissenschaft der Hermeneutik [die Aufgabe] überliefert“ (XIV 706, Hvh. v. Verf.). Schließlich bildet die „Ethik […] das Fundament der hermeneutischen Systematik“ (XIV 720, Hvh. v. Verf.). 2  Dil­theys erste große Auseinandersetzung mit Schleiermachers Ethik fällt nicht etwa erst in die Zeit seiner etwa fünf Jahre später erfolgenden Promotion und Habilitation. Bereits im

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

(1) Um zu verstehen, inwiefern Schleiermachers Ethik3 zugleich als Geschichtsbzw. Kulturtheorie anzusprechen ist, muss man sich zunächst klar machen, was für ein Ethikkonzept er vertreten hat.4 Dessen Konturen lassen sich dadurch beschreiben, dass die negative Gegenfolie in Betracht gezogen wird, von der er sich abgrenzt. Die von ihm abgelehnte Form ethischer Theoriebildung, der gegenüber er seine eigene Konzeption kritisch in Stellung bringt, ist die einer Sollens- bzw. ausschließlich normativ gefassten Pflichtenethik, als deren prominente Vertreter Kant und Fichte zu stehen kommen. Diese haben bekanntlich eine Auffassung von Ethik vertreten, der zufolge aus der rein formalen Struktur des Willens das Kriterium für dessen moralische Güte abzuleiten ist und das moralische Bewusstsein aufgrund der Neigungskomponente der menschlichen Natur nicht anders als in normativer Form beschrieben werden kann. Schleiermacher hält dem dreierlei entgegen. Zunächst sei eine Ethik, die den Begriff der Pflicht als Leitinstanz heranzieht, nicht in der Lage, den systematischen Zusammenhang mit zwei anderen ethischen Grundbegriffen zu erfassen, die zur Beschreibung sittlichen Handelns wesentlich hinzugehören: dem der Tugend und dem des höchsten Gutes. Schleiermacher zufolge vermag allein der letztgenannte Begriff die anderen beiden der Tugend – verstanden als sittliche Kraft – und der Pflicht – verstanden als sittliches Hervorbringen – so miteinander zu vermitteln, dass der Gesamtbereich der Sittlichkeit in seiner inneren Einheit begriffen werden kann. Ethik ist für Schleiermacher darum in Form einer Güterethik durchzuführen, die die Begriffe der Tugend und der Pflicht dem des höchsten Gutes unterordnet. Als solche sei sie, sodann, auch in der Lage, all diejenigen Erscheinungen des sittlichen Lebens mit zu umfassen, die ebenso auf freie Willensbestimmungen des Menschen zurückzuführen sind, für die eine Pflichtenethik aber keinen Raum Zusammenhang seiner Ausarbeitung der Preisschrift hat er sich ein tiefgreifendes Verständnis erarbeitet. Dies scheint Thomas Herfurth in seiner Studie zu Dil­theys ethischen Schriften entgangen zu sein. So behauptet er, Dil­theys systematische Auseinandersetzung mit Schleiermachers Ethik beginne erst mit dessen Dissertationsarbeit über der Prinzipien der Schleiermacherschen Ethik (vgl. Th. Herfurth: Dil­theys Schriften zur Ethik, 58), weswegen er in seiner eigenen Rekonstruktion werkgeschichtlich auch erst hier einsetzt. 3  Der folgende Exkurs stützt sich auf die 1913 von Otto Braun erstmals veranstaltete Ausgabe von F. D. E.  Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Dil­they selbst bediente sich der 1835 von Alexander Schweizer veranstalteten Ausgabe Entwurf eines Systems der Sittenlehre, die als 5. Band der III. Abteilung von Schleiermachers Gesammelten Schriften erschienen war. Letztgenannte Schriftensammlung wird heutigen editorischen Ansprüchen allerdings nicht mehr gerecht. Deswegen wird sie von uns nicht als primäre Quelle herangezogen. Dass es dennoch möglich ist, auf diesem Weg einen solchen Überblick von Schleiermachers Ethik zu geben, vor dessen Hintergrund sich Dil­theys Bezugnahme erhellen lässt, liegt darin begründet, dass auch Schweizer die meisten Textstücke von Schleiermachers Manuskripten aus dem Wintersemester 1812/13 bietet, auch wenn er deren Zusammengehörigkeit nicht erkannt hatte, vgl. H.‑J. Birkner: Einleitung (Ethik), XIII. 4 Vgl. H.‑J. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, 30–64; W. Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte; M. Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie.



2.  Dil­theys Rekonstruktion der Grundlagen Schleiermachers Hermeneutik

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hat: Liebe, Freundschaft, freie Geselligkeit, Wissenschaft und Kunst. Schließlich werde nur eine güterethisch begründete Theorie des menschlichen Handelns auch dem Sachverhalt gerecht, dass sich der Mensch immer schon in einem Zustand vorfindet, in dem Natur und Vernunft bereits irgendwie miteinander geeint sind. Diesem Umstand trägt eine Sollensethik für Schleiermacher insofern nicht ausreichend Rechnung, als sie lediglich auf die normative, d. h. auch kontrafaktische Begründung des moralischen Bewusstseins abstellt und für die geschichtliche Dimension des Ethischen kein ausreichendes Gespür besitzt. Schleiermachers Konzeption ist demgegenüber als Programm einer deskriptiven Ethik anzusehen.5 Auch Schleiermacher hält freilich daran fest, dass es einer Ethik darum gehen muss, „Gesetze des menschlichen Handelns“6 zu beschreiben. Solche Gesetze treten für ihn jedoch nicht in imperativem Gewand auf, sondern müssen als deskriptiv aufweisbare Prinzipien des geschichtlichen Lebens verstanden werden. Darum kann Schleiermacher seine Ethik denn auch als „Wissenschaft der Geschichtsprinzipien“7 oder als „Wissenschaft der Geschichte“8 bzw. „Geschichtswissenschaft“9 bezeichnen. Denn die Geschichtsthematik ist der ethischen Reflexion nicht etwa fremd, sondern im tiefsten Sinne selber eigen. Dieser konstitutive Geschichtsbezug wäre jedoch missverstanden, wenn die Philosophische Ethik als eine die Gesamtheit geschichtlichen Wissens umfassende Disziplin angesehen würde. Diesbezüglich kommt ihr vielmehr eine spezifische Funktion zu, der eine bestimmte Art und Weise korrespondiert, in der die Geschichte für die Ethik thematisch wird. In einer bekannten und vielzitierten Äußerung hat Schleiermacher in diesem Zusammenhang festgehalten, dass „die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde“ sei, während umgekehrt gilt: „die Geschichtskunde [ist] das Bilderbuch der Sittenlehre“, so dass beide nur „[f]ür einander sind“.10 Wenn Schleiermacher die Ethik als Geschichtswissenschaft bezeichnet, dann bedeutet das also nicht, sie sei sowohl für die formale als auch für die materiale Durchdringung des geschichtlichen Stoffes zuständig. Als Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte entspricht sie vielmehr einem guten Teil dessen, was man seit Droysen unter dem Stichwort ‚Historik‘ ver5  Schleiermachers Sittenlehre kann daher als eine Rearistotelesierung der Ethik aufgefasst werden. Dabei stellt die Betonung des deskriptiven Aspektes einen Zug dar, der Schleiermacher mit Hegel verbindet (vgl. dessen Rechtsphilosophie). Über Trendelenburg, einem Schüler Schleiermachers, hat dieser Ansatz dann auf Dil­they gewirkt. Vgl. dazu auch G. KühneBertram: Einflüsse Trendelenburgs auf Wilhelm Dil­theys Philosophie und Logik des Lebens; D. Thouard: Trendelenburgs Logische Untersuchungen und Dil­theys Theorie der Geisteswissenschaften. 6  F. D. E.  Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 80. 7  Ders.: Kurze Darstellung des Theologischen Studiums, § 6 (erste Auflage); § 35 (zweite Auflage). 8  Ders.: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 251. 9  AaO., 497. 10  AaO., 549.

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handelt, d. h. sie erarbeitet die grundlegenden Kategorien, mithilfe derer konkreter geschichtlicher Erkenntnisgewinn überhaupt erst vollzogen werden kann. Die Ethik beansprucht also nicht, eine empirisch-materialgesättigte Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in ihrer Besonderheit und ihrem zeitlichen Verlauf zu bieten. Gerade davon abstrahiert sie vielmehr, um allgemeingültige, zeitübergreifende Grundbegriffe zu erarbeiten, anhand derer sich das empirisch gegebene Material ordnen und bestimmen lässt. In diesem Sinne ist Schleiermachers Ethik dann auch als „Strukturtheorie der Geschichte“11 bezeichnet worden. Als solche bietet sie die begrifflichen ‚Formeln‘ mittels derer die empirisch gewonnenen ‚Bilder‘ in ein ethisches Wissen überführt werden können. Diese Formeln werden in Gestalt von Begriffsverhältnissen entfaltet, was Schleiermacher als deduktives Verfahren bezeichnet. Dieses darf folglich nicht verwechselt werden mit dem gleichlautenden Begriff der Tradition, wonach Deduktion als Ableitung von Aussagen bzw. dessen Wahrheitswerten verstanden wird. Schleiermachers Begriff der Deduktion bezieht sich ausschließlich auf die begriffslogische Seite. ‚Induktiv‘ bedeutet umgekehrt die Gewinnung komparativer Allgemeinheit aus dem Einzelnen und betrifft die materiale Seite der ‚Bilder‘. Das Aufeinanderbeziehen von induktiver und deduktiver Seite bezeichnet Schleiermacher als ‚kritisches Verfahren‘, und in diesem Sinne ist auch das kritisch-konstruktive Verhältnis von Ethik und Geschichtskunde zu verstehen.12 Was die logische Einteilung von Begriffsverhältnissen anbelangt, so wendet Schleiermacher in allen Wissensbereichen die Methode der doppelten Gegensatzbildung an. Sie dient der begrifflichen Strukturierung des geschichtlichen Stoffes. In formaler Hinsicht liegt der Anwendung dieses Verfahrens die Einsicht zugrunde, dass eine Differenzierung bestimmter Wirklichkeitssphären – im hier interessierenden Fall also des Bereichs der Ethik – nicht in der Weise des einfachen Gegensatzes vollzogen werden darf, da sonst der Aspekt der Zusammengehörigkeit des Entgegengesetzten und damit die Einheit des Seins aufgehoben würde. Jede Differenz ist vielmehr so zu konzipieren, dass sie zugleich die wechselseitige Bezogenheit der beiden Relate denkbar macht. Darum darf sie nicht als ausschließender, sondern muss als quantitativer Gegensatz entworfen werden. Um die Vollständigkeit des Gebiets herzustellen, müssen allerdings zwei quantitative Gegensätze miteinander überkreuzt werden. Auf die Sittenlehre angewendet bedeutet das, dass das in ihr vorausgesetzte Handeln der Vernunft auf die Natur einerseits durch das konträre Begriffspaar individuell/identisch unterschie11 Vgl. W. Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, 8. 48–55; ähnlich G. Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur, 37. 12 In seinen Vorlesungen zur Dialektik hat Schleiermacher eine transzendentale Fundierung dieser Wissenstheorie ausgearbeitet und ausführliche methodologische Überlegungen zur Generierung von Wissen angestellt. Letztere Disziplin ist darum beides zugleich: Transzendentalphilosophie und Methodenlehre. Man könnte sagen, die Dialektik thematisiert die erkenntnistheoretischen Bedingungen der Möglichkeit eines Systems, während die Ethik die materiale Systemtheorie darstellt.



2.  Dil­theys Rekonstruktion der Grundlagen Schleiermachers Hermeneutik

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den wird. Diese Unterscheidung ist vernunfttheoretischer Art und geht davon aus, dass die Vernunft am Orte des Menschen immer in der Spannung von Individuum und Gattung auftritt. Mit dem ‚Identischen‘ ist folglich keine strenge Allgemeinheit gemeint, sondern Schleiermacher hat das Gattungsallgemeine im Auge. Andererseits muss dieser Gegensatz mit einem zweiten überlagert werden, der von Schleiermacher handlungstheoretisch gefasst wird. Er bezieht sich nicht auf die Form, sondern die Art des Handelns auf die Natur, und letzteres kann dann entweder organisierend oder symbolisierend erfolgen. Die Struktur des geschichtlichen Lebens wird also in der Weise konstruiert, dass die beiden Gegensätze individuell/identisch und Organisieren/Symbolisieren überkreuzt werden. Damit hat Schleiermacher die Geschichtssphäre in vier wechselseitig aufeinander bezogene Teilgebiete differenziert, denen er dann bestimmte kulturelle Leistungen zuordnet.13 Das identische Organisieren wird durch Politik, Recht und Wirtschaft repräsentiert, die sich im Medium des Verkehrs bewegen, wobei der Staat den allgemeinen Rahmen bildet. Für das individuelle Organisieren steht der Bereich der freien Geselligkeit  – gleichsam die moderne Nachfolgegestalt des antiken Oikos  –, deren Medium in der auf Eigentumsbildung gerichteten Selbstentfaltung besteht. Die Privatsphäre bildet für Schleiermacher neben den großen Institutionenfeldern somit ein ethisches Gut eigenen Rechts. Das identische Symbolisieren wird durch die Wissenschaft und Wissenspraxis geleistet, die sich im Medium der Sprache bewegen und die organisatorisch-institutionell auf der Ebene von Schule, Universität und Akademie angesiedelt sind. Das individuelle Symbolisieren schließlich agiert im Medium des Gefühls, und findet seine Darstellung in Religion und Kunst. Abschließend kann festgehalten werden: Schleiermacher legt in seiner Sittenlehre ein ganz spezifisches Ethikmodell zugrunde. Ihre deskriptive und güterethische Akzentuierung lässt dabei den Gesamtbereich des geschichtlich-kulturellen Lebens zum Thema werden.14 Individual- und Sozialethik gehören zusammen: Auch die eigentümliche Betätigung des Einzelnen muss noch gemeinschaftliche Züge an sich tragen, wenn sie nicht als gänzlich unsittlich erscheinen soll, umgekehrt sind die allgemeinen Kulturleistungen des Menschen nicht vollkommen unabhängig von jeweils individuell-geschichtlichen Aspekten zu verstehen.15 Daraus erwächst ein Gesamtbild der ethischen Wirklichkeitssphäre, das von vornherein darauf angelegt ist, Philosophie und Geschichte nicht als Gegensatz zu begreifen, sondern diese in ihrer konstruktiven Beziehung aufeinander zu ver13  Vgl. dazu G. Scholtz: Ethik als Theorie der modernen Kultur. 14  Die „Güterlehre [macht] […] die Universalität der Möglichkeiten

sittlichen Handelns im Blick auf die ‚Totalität des Lebens‘ ausdrücklich“, W. Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte, 15. 15 Vgl. dazu G. Scholtz: Grundlegung der Geisteswissenschaften, 70: „Ethisch handelt der einzelne, wenn er […] an deren Vervollkommnung und Vereinbarkeit mitwirkt. Und sittlich ist die Kultur, wenn die menschliche Gemeinschaft weder amorph in Individuen zersplittert ist, noch uniform alle Individuen dem Anpassungsdruck einer einzigen Institution […] unterwirft“.

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stehen.16 Deshalb ist Schleiermachers Sittenlehre nicht nur als Ethik im engeren Sinne (Normenreflexion) anzusehen, sondern als eine Darstellung des gesamten Möglichkeitsraums sittlichen Handelns.17 Darüber hinaus besitzt Schleiermachers Sittenlehre eine wissenschaftstheoretische bzw. wissenschaftssystematische Bedeutung. Denn ob ihres Charakters als Strukturtheorie bringt sie die begrifflich-formale Grundlage aller mit der Welt des Menschen befassten Wissenschaftsdisziplinen zum Ausdruck. So vermag sie die Begrifflichkeit z. B. der Staatstheorie, der Wirtschaftswissenschaft, der Religionswissenschaft oder auch der Ästhetik einer kategorialen Klärung zu überführen, auf deren Basis die einzelnen Wissenschaften dann ihre jeweiligen Einzelforschungen durchzuführen vermögen. Dadurch stattet sie aber nicht nur die jeweiligen Disziplinen mit dem notwendigen theoretischen Rüstzeug aus, sondern stellt diese auch in einen gemeinsamen Zusammenhang, aus dem deren tiefere Einheit verständlich wird.18 (2) Von hier aus können wir nun zu Dil­theys Rekonstruktion zurückkehren. Dabei ist es nicht ganz einfach, seine eigene Ansicht heraus zu präparieren, denn seine Äußerungen zu Schleiermachers Geschichtstheorie sind meistens unmittelbar mit den Fragen der Hermeneutik verbunden. Von diesen wollen wir aber zunächst noch absehen. Darüber hinaus ist hinsichtlich der Dil­theyschen Äußerungen insgesamt nicht immer eindeutig zu sagen, ob sie im Modus des bloßen Referats oder ob sie als eigene Stellungnahmen gemeint sind. Diese Schwierigkeit gilt es im Blick zu behalten und bei der Auswahl aussagekräftiger Zitate zu bedenken. Mit seinem eben vorgestellten Programm nimmt Schleiermacher Dil­they zufolge an einer bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Unternehmung teil, der es um „eine fruchtbare Verknüpfung der verschiedenen Wissenschaften“ (XIV 698) zu tun gewesen sei. Dabei beginnt einerseits die Philosophie, die Einzelwissenschaften zu durchdringen und auf ihre innere Einheit zu befragen, andererseits erfährt die Philosophie dadurch zugleich eine materiale Anreicherung. Vico, Mi16  Ebd.: „Schleiermacher hat […] eine Ethik entworfen, für die das Sittliche nicht bloß postulierte Moral, sondern sich verwirklichende Sittlichkeit ist“. 17 Darum ist sie auch als eine Philosophie der Kultur bezeichnet worden. Als eine solche hatte sie bereits apostrophiert: E. Troeltsch: Grundprobleme der Ethik, 565: „Die Ethik nimmt die Wendungen zu einer objektiven Bestimmung der großen allgemeingültigen Zwecke des Handelns und zur Zusammenfassung dieser Zwecke im Wesen der Vernunft, aus dem sie als notwendige Vernunftgüter hervorgehen. So wird die Ethik zur Kulturphilosophie unter ethischem Gesichtspunkt, indem sie Notwendigkeit, Vernünftigkeit und Einheitlichkeit der großen sozialen, aber zugleich die Individuen zu eigentümlichem Wert erhebenden objektiven Zwecke zu erweisen strebt“. 18 Von einer umfassenden Grundlegung der Geisteswissenschaften wird man gleichwohl nicht sprechen können. Denn die methodologischen Reflexionen Schleiermachers, zur kritischen Verknüpfung von Empirie und Spekulation, sind nicht in der Ethik, sondern in der Dialektik zu finden, vgl. M. Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 142 f. Die Problematik der Methodologie gehört zu einer allgemeinen Grundlegung der Geisteswissenschaften jedoch notwendig mit hinzu.



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chaelis, Herder, oder der Schellingschüler Georg Anton Friedrich Ast werden von Dil­they diesbezüglich als wichtige Autoren genannt.19 Es geht ihm also nicht darum, Schleiermacher als ersten und einzigen Vertreter einer zusammenhängenden kulturphilosophischen Anschauungsweise gleichsam auf den Sockel zu heben. Für Dil­they gilt es aber daran zu erinnern, dass eben auch Schleiermachers Arbeiten als ein maßgeblicher Beitrag anzusehen sind, die unterschiedlichen „Wissenschaften zusammentreten“ (XIV 702) zu lassen. Diese Einschätzung kommt vielleicht am deutlichsten in Dil­theys bereits zitierter Rede einer ‚philosophisch-historischen Anschauung‘ Schleiermachers zum Ausdruck, mit der er die zeitgenössische Klassenbezeichnung der Preußischen Akademie aufgreift: Das Label ‚philosophisch-historisch‘ bezeichnete zu Dil­theys Zeiten den gesamten geisteswissenschaftlichen Bereich, dem einzig die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse gegenüberstand.20 Ein weiteres Verdienst ist auf der Textebene nicht ganz leicht zu identifizieren und kann nur implizit erhoben werden, indem man den Blick auf Dil­ theys Kritik an der Geschichtsanschauung der „Schule der historischen Interpretation“ (XIV 636) lenkt. Ausgehend von deren sensualistischem Geistverständnis habe diese nämlich in der Geschichte nicht viel mehr erblickt, als ein „Gewirr von Motiven und Influxen“ (XIV 705), aus dem das konkrete Subjekt und die von ihm ausgehenden kulturellen Produktionen erst ihre jeweilige Gehaltlichkeit gewönnen. Dieser Anschauung habe die hermeneutische Auffassung korrespondiert, mittels historischer Interpretation, etwa der biblischen Bücher, von der rein zeitbedingten Einkleidung der Vernunftwahrheiten zu befreien, um dann deren übergeschichtlichen Bedeutungskern freizulegen. Die historische Einstellung einer solchen Auslegung erweist sich für Dil­they letztlich jedoch als „pseudohistorisch“. Denn Geschichte wird hier nur als zufälliges Spiel unterschiedlicher und letztlich innerlich unverbundener Zeitmeinungen angesehen, mit dem die übergeschichtlichen moralischen Wahrheiten nur in Form einer Akkomodation verbunden seien. Dies impliziere jedoch eine strenge Trennung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten. Dem stellt er, wie gesehen, eine Konzeption entgegen, die mit einer ‚wahrhaften und zusammenhängenden Geschichte der Ideen‘ rechnet, 19 Vgl. XIV 657–659, 700 f. Als weiteren neuzeitlichen Vertreter nennt Dil­they darüber hinaus Leibnitz, vgl. XIV 698. 20 Vgl. G. Scholtz: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften. Scholtz skizziert hierbei, wie die mit den Sprachen befassten Wissenschaften im Zeitalter des Humanismus nicht mehr bloß als propädeutische Wissenschaften angesehen und bereits in diesem Zusammenhang zu einer eigenen Wissenschaftsgruppe zusammengeschlossen wurden. Dadurch hörten sie auf, lediglich als Hilfsdisziplinen der oberen Fakultäten zu fungieren und wurden nunmehr um ihrer selbst willen betrieben. Durch den Einbezug von Poetik, Historie und Moral bildete sich dann der Studienzweig der ‚Humaniora‘. Nachdem dieser auch unter den Begriffen der ‚schönen Wissenschaften‘ oder ‚Philologie‘ hatte firmieren können, wurde letzterer schließlich durch den der ‚Geschichte‘ verdrängt, was sich – im Blick auf die Preußische Akademie – zunächst in der Begriffsbildung der ‚historisch-philologischen Klasse‘ niederschlug, ehe diese zur ‚philosophisch-historischen‘ avancierte, vgl. aaO., 24–27.

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die dann überhaupt erst „des Erzählens wert“ sei (ebd.). Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Vernunft geschichtlich und die Geschichte vernünftig gedacht werden muss – wie auch immer dieses Verhältnis dann philosophisch auszubuchstabieren ist. Wenn Dil­they der ‚Schule der historischen Interpretation‘ vorwirft, sie habe nur ein empiristisches Geschichtsverständnis ausgebildet, dann muss Schleiermachers Modell auch in dieser Hinsicht eine produktive Weiterentwicklung darstellen. Dass die spekulative Geschichtswissenschaft auch als Beurteilungsmaßstab dient, mit dem die Geschichte, wie Schleiermacher sagt, „in den großen Zügen ihres Verlaufs ethisch geschätzt werden“ kann, „damit nicht die scheinbare Verwirrung eine Veranlassung gebe, den Gang des menschlichen Geschlechts auch im großen als ein Spiel des Zufalls anzusehen“,21 unterstreicht dabei die vorausgesetzte Vernünftigkeit der Geschichte. Damit habe Schleiermacher den Geschichtsbegriff über eine sozusagen bloß empiristische Fassung hinaus gehoben. Ein drittes Verdienst der Schleiermacherschen Ethik erblickt Dil­they schließlich in der konstitutiven Einbeziehung der Individualitätsproblematik. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung Dil­theys hervorzuheben, in der er von Schleiermachers „energische[r] Abneigung gegen die atomistische Behandlung des geistigen Lebens und jenen ‚Selbstmord‘, wie er es leidenschaftlich nannte, der das Innere zu einem Aggregat von außen einstürmender Eindrücke machte“ (XIV 721), spricht. Dies stellt nicht etwa nur ein neutrales Referat der Schleiermacherschen Position dar, sondern damit benennt Dil­they zugleich eine Einsicht, der er bleibende Bedeutung zumisst. Das wird vor allem daraus ersichtlich, dass die bloß negativ formulierte Charakterisierung der Schleiermacherschen Anschauung des geistigen Lebens mit derjenigen übereinstimmt, die Dil­they selbst an anderer Stelle dem Geistverständnis der sog. ‚Schule der historischen Interpretation‘ entgegengehalten hat. Denn für ihn legt letztere ihrem Geschichtsbegriff einen Begriff des Geistes zugrunde, nach dem derselbe als nichts Anderes denn als „der gleichgültige und fast selbstlose Durchgangspunkt22 sich kreuzender Meinungen“ verstanden wird. „Man wird dabei an Lockes Tafel der Seele überall erinnert“, auf dem „die Zeit ihre wirren Striche zieht“. Dem gegenüber, so Dil­they, ruht das „Interesse“ der „wahren Geschichte“ jedoch auf „der wahrhaften und zusammenhängenden Geschichte der Ideen, in der jeder Fortschritt nur durch einen relativ schöpferischen Akt zu begreifen ist“ (XIV 705), der folglich niemals restlos ableitbar und mithin individueller Natur ist. Eine Theorie der 21  F. D. E.  Schleiermacher: Über den Begriff des höchsten Guts, 467. 22  Bei dieser Begriffsverwendung orientiert sich Dil­ they möglicherweise

an einer Äußerung Schleiermachers aus dessen Dialektik: „Wer sich selbst finden und festhalten will, muß diese Duplizität annehmen. Denn wenn die Vernunfttätigkeit von der organischen abstammt, so sind wir nur Durchgangspunkte für das Spiel des gespaltenen Seins“, F. D. E.  Schleiermacher: Dialektik, § 134.2, 77, Hvh. v. Verf. In seiner nur wenige Jahre später (1863/64) verfassten Dissertation zitiert Dil­they eben diese Stelle, vgl. XIV 350 f. Und auch in seinen späteren Studien zu Schleiermachers Dialektik hat das gebotene Zitat nochmals Eingang gefunden, vgl. XIV 154.



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vom Menschen gemachten Wirklichkeit muss deshalb notwendig die Individualitätsproblematik als ein zentrales Aufbaumoment integrieren, will sie nicht Gefahr laufen, die Grundverfasstheit der geschichtlich-kulturellen Welt von vornherein aus den Augen zu verlieren. Schleiermachers „Vertiefung in die Individualität als die innerste Werkstätte alles geschichtlichen Lebens“ (XIV 721) stellt sonach einen wesentlichen Fortschritt auf der Ebene der ethischen Theoriebildung dar. Inwiefern es Schleiermacher in Dil­theys Augen dann gelungen ist, diese Einführung der Individualität in die Ethik mit ihrer notwendigen Entsprechung des Allgemeinheitsgedankens zu vermitteln, ist eine andere Frage, die weiter unten besprochen werden wird.

b.  Die Sprachphilosophie Für Dil­they stellen Schleiermachers Überlegungen zur Sprache einen bedeutenden Beitrag in der Geschichte der Sprachphilosophie dar. So habe Schleiermacher im Anschluss an Vico und Herder sowie zeitgleich mit Humboldt eine genuin „philosophische Sprachansicht“ (XIV 739) entwickelt. Diese Einschätzung verdient auch aus heutiger Perspektive noch Beachtung. Denn es gehört gewissermaßen zur Selbstinszenierung der Vertreter des sog. linguistic turn, die Entdeckung der eminenten Sprachbezogenheit des Denkens erst im 20. Jahrhundert zu verorten.23 Um jenen Begriff aufzugreifen: Der erste ‚linguistic turn‘ ist wesentlich früher anzusetzen, nämlich bereits im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert. Darüber hinaus bleibt aber selbst dort, wo letztgenannte philosophiegeschichtliche Orientierung in Rechnung gestellt wird, der Einbezug Schleiermachers in die Betrachtung häufig Desiderat. In der Regel werden als bedeutende Vertreter etwa Hamann, Herder und Humboldt genannt.24 Dass daneben auch Schleiermacher umfangreiche Reflexionen zur Sprachlichkeit der Vernunft angestellt hat, wird meistens übersehen. Somit verdient Dil­theys Hinweis immer noch Aufmerksamkeit.25 Um ihn einordnen zu können, sei zuerst etwas zu Schleiermachers Sprachauffassung gesagt (1), im Anschluss daran ist Dil­ theys Würdigung in den Blick zu nehmen (2). 23  Die wirkungsgeschichtlich bedeutende Festschreibung dieser Sichtweise lieferte Richard Rorty mit dem 1967 von ihm herausgegebenen Buch The linguistic turn. 24 Vgl. S. Majetschak: Sprache, 1479–1483; U. Dierse: Sprachphilosophie I. 25  Dieser Befund trifft in gewissem Sinne auch auf die Schleiermacher-Forschung selbst zu. Das wird etwa durch einen Blick auf die neueren und neuesten Erscheinungen deutlich. Die Sammelrezension: U. Barth: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, enthält überhaupt keinen Eintrag hinsichtlich des sprachphilosophischen Problems. Die vor mehr als zwanzig Jahren getroffene Feststellung, „daß Schleiermachers Sprachphilosophie kaum behandelt worden ist“ (J. Ringleben: Die Sprache bei Schleiermacher und Humboldt, 473 f.), hat auch nach 20 Jahren ihre Aktualität noch nicht verloren. Aus den neueren und neuesten Publikationen sei genannt: M. Kumlehn: Symbolisierendes Handeln, 129–165; U. Frost: Sprache und Erkenntnis bei Schleiermacher. Eine umfassende Behandlung der Thematik steht noch aus.

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(1) Schleiermacher hat an unterschiedlicher Stelle sprachphilosophische Überlegungen angestellt, wobei neben der Philosophischen Ethik vor allem auf die Dialektik zu verweisen ist. Für Schleiermacher fungiert die Sprache dabei vornehmlich als Medium des Wissens, wobei ihr eine zweifache Funktion zukommt: Sie ermöglicht die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Individuen26 und sie dient der Bewusstwerdung des Denkens am Orte des Subjekts selbst.27 Schleiermacher weist die Sprache folglich dem Bereich des identisch-allgemeinen Symbolisierens zu. Dieser Aspekt ist für Dil­theys affirmative Bezugnahme aber nicht der entscheidende. Im Gegenteil: Wie noch zu zeigen sein wird, hängt damit gerade ein wesentlicher Punkt seiner Kritik an Schleiermachers Sprachkonzeption zusammen.28 Die Stärke derselben erblickt Dil­they woanders. Um sich dem fraglichen Punkt anzunähern, ist zunächst daran zu erinnern, dass es für Schleiermacher keine strenge Allgemeinheit, sondern nur relative und komparative Allgemeinheit gibt. Abstrakt genommen kommt letztere als Gat26  Die intersubjektive Verallgemeinerungsfähigkeit des Wissens setzt voraus, dass das Erkennen eines Subjektes in seinen wesentlichen Merkmalen auch das Erkennen eines anderen werden kann und beruht mithin „auf der Möglichkeit der Ueber-/tragung aus einem Bewußtsein auf das andere“ (F. D. E.  Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 305). Diese Übertragungsleistung wiederum hat ihre Bedingung darin, dass der subjektive Erkenntnisprozess sich derart zu artikulieren vermag, dass die Grenzen der „bloßen Persönlichkeit“ (aaO., 292) transzendiert werden und der „Act als ein ursprünglich Inneres ein Äußeres werde“ (ebd.), wodurch er für die übrigen Mitglieder der Wissensgemeinschaft überhaupt erst Gegenstand ihrer Auffassung werden kann. Diese transzendentale Überlegung zur Bedingung der Möglichkeit von Wissen besitzt auch eine bedeutungstheoretische Seite, insofern als dasjenige, was „für den Hervorbringenden als Ausdruck erscheint, jedem Anderen dastehe als Zeichen, woran er vermöge der Identität des Schematismus das Innere oder den ursprünglichen Act erkenne“ (aaO., 305f). Die hierin vorstellig werdende Übereinkunft unterschiedlicher Erkenntnisproduzenten ist ohne die Annahme eines gemeinsamen Mediums, in dem der Gedankenverkehr stattfinden kann, nicht zu denken, und diese mediale Funktion wird für Schleiermacher erfüllt durch „[d]ie Sprache“, die „überall, wo die Menschen sich in einer wahren Gemeinschaft des Erkennens finden, heraus [tritt]“ (ebd.). Erst insofern der Einzelne dem von ihm vollzogenen Erkenntnisakt eine sprachliche Repräsentation verleiht und diesen somit über die Grenzen seiner Innerlichkeit hinaushebt, kann es zur Ausbildung einer Wissensgemeinschaft kommen. 27  Dieser Aspekt führt auf den tieferen Punkt von Schleiermachers sprachphilosophischem Denken, dem zufolge bereits dem „innere[n] Sprechen“ eine zentrale erkenntnistheoretische Funktion zukommt. Dies hat seinen Grund darin, dass Denken und Sprechen für Schleiermacher untrennbar miteinander verbunden sind. „[S]o ist auch in jedem selbst das völlige Bilden der Vorstellung und das Bilden des Wortes dasselbe“ (aaO., 306). Zwar fallen beide nicht einfach in eins, sondern Schleiermacher rechnet durchaus mit der relativen Selbständigkeit beider, was unter anderem daraus ersichtlich wird, dass er die Möglichkeit erwägt, dass sich beide jeweils für sich entwickeln können – wenn auch zu beiderseitigem Schaden. Aber ein Symbolisierungsprozess hat für Schleiermacher erst dann die Form eines Gedankens erlangt, wenn ihm ein sprachlicher Ausdruck korrespondiert. Maßgeblich dafür sind die traditionellen Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit. „Denn […] ein Denken, welches sich nicht aussprechen läßt, ist nothwendig ein unklares und verworrenes“, und „eine Combination, welche nicht gleich von einem fixierenden Nachhall begleitet ist, wird auch den Charakter der Identität nur unvollkommen an sich tragen“ (aaO., 307f). 28  Siehe dazu unten Abschnitt II.2.d.



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tungsallgemeines zu stehen, konkret nur unter den Bedingungen natürlich-geschichtlichen Lebens. Dies hat zur Konsequenz, dass sich alle ethischen Größen mit identischem Charakter „nur in der Pluralität gesonderter Sphären“ verwirklichen, deren natürliche Grundlage in „klimatischen Differenzen“ zu suchen ist. Darüber hinaus stellt Schleiermacher anthropologische und kulturelle Unterschiede in Rechnung, insofern sich die Menschheit weiterhin in „Menschenracen, den Völkerstämmen und den einzelnen Volksthümlichkeiten“ differenziert.29 Auf hochkulturellem Entwicklungsstand kommt es zur Ausbildung unterschiedlicher Nationen, denen aufseiten der identisch organisierenden Vernunfttätigkeit die unterschiedlichen Staaten entsprechen, aufseiten des Symbolisierens national bestimmte Wissensgemeinschaften.30 Auch die Gemeinschaft des Wissens kann sich nur als eine „eigenthümliche Gemeinschaft“31 realisieren. Reales Wissen zielt somit zwar auf Allgemeinheit, letztlich stellt das identische Symbolisieren aber einen bloßen Grenzbegriff dar, weswegen alles Herstellen von Wissen für Schleiermacher im Status des Sollens verbleibt.32 Diese Problematik besitzt Konsequenzen für den sprachphilosophischen Standpunkt. Denn der Auffächerung des Wissens in nationale Wissensgemeinschaften entspricht der Sachverhalt, wie Sprache wirklich gegeben ist, nämlich ebenfalls nur in nationalsprachlicher Auffächerung.33 Der Differenz zwischen den unterschiedlichen Wissenssphären korrespondiert somit eine Vielheit der „Sprachen, welche nicht nur dem Ton, sondern auch der Bedeutung nach so unterschieden sind, daß dies durch alle materiellen und formellen Elemente durchgeht, und also in jeder Sprache ein eigentümliches System von Begriffen und von Combinationsweisen niedergelegt ist“.34 Schleiermacher bestreitet damit die Möglichkeit eines universellen Bezugspunktes, wie er etwa in Leibnitz‘ Konzeption einer lingua universalis vorausgesetzt wird.35 Für Schleiermacher ist jedes sprachliche System – trotz seines identischen Status – im Verhältnis zu den anderen Sprachen 29 Die die Familien übergreifenden volkstümlichen Strukturen sind kulturgeschichtlich zunächst in einem Zusammenschluss zu unterschiedlichen Stämmen (vgl. F. D. E.  Schleier­ macher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 334) zu suchen. 30  „Hinwendung auf bildende Function = Staat; auf symbolisierende = Wissen“, aaO., 333. 31  AaO., 272. Umgekehrt kann auch die Eigentümlichkeit nur als Grenzbegriff absolut gedacht werden, so dass hier von einer „gemeinschaftliche[n] Eigenthümlichkeit“ zu sprechen ist. 32  „Die absolute Identität des Schematismus im Wissen existiert nur als Anspruch Einzelner, aber es ist nichts ihr vollkommen Entsprechendes aufzuweisen“, aaO., 347. 33  Diesem Sachverhalt korrespondiert die Problematik des Übersetzens, der Schleiermacher in Form seiner Akademierede Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813) eine eigene Untersuchung gewidmet hat. 34  F. D. E.  Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 349. 35  Der bekannte Ausdruck ‚lingua characterisitca universalis‘ wird erst von Frege gebraucht, um damit Leibnitz‘ Sprachphilosophie zu bezeichnen. Leibnitz selbst sprach lediglich von ‚lingua universalis‘, ‚lingua generalis‘, ‚lingua realis‘ und ‚lingua rationalis‘ auf der einen sowie von ‚characteristica realis‘, ‚ars characteristica‘, ‚characère universel‘, ‚grammaire raisonée‘ und ‚scriptura universalis‘, vgl. H. W. Arndt: Die Entwicklungsstufen von Leibnitz‘ Begriff eine Lingua Universalis, Anm. 3.

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als eine individuelle Einheit zu betrachten, die mithin sowohl nach ihrer äußeren Artikulationsweise als auch nach ihren inneren Bedeutungszusammenhängen von jeder anderen differiert. Dabei stellen nicht nur die Begriffsausdrücke jeweils irreduzible Sinngrößen dar, sondern auch die Art, wie innerhalb des jeweiligen Sprachsystems Differenzierungen und Kombinationen hergestellt werden können, ist von grundsätzlich eigentümlichem Charakter. Insofern sich dieser im jeweiligen Fall nur durch einen empirischen Sprachvergleich eruieren lässt, ist Schleiermacher kein Vertreter einer apriorischen Begründung von Sprache, sondern hält in seiner Sprachuntersuchung den Blick prinzipiell offen für die tatsächlichen Sprachen in ihrer historisch bedingten Verschiedenheit. Unbeschadet der Zuweisung sprachlicher Artikulation zur allgemeinen Ebene menschlicher Vernunfttätigkeit bringt Schleiermacher also eine individualitätstheoretische Betrachtung der Sprache zur Geltung, wonach letztere immer als ein besonderes Ganzes aufzufassen ist. Diese individuelle Signatur erfährt dann nochmals dadurch eine Steigerung, dass Sprache als Struktur nicht greifbar ist, sondern immer nur im Vollzug von sprechenden Akteuren verwirklicht wird. So gesehen erfolgt die Individualisierung der Sprache auf eine doppelte Weise, einmal durch die Bildung nationaler Charaktere, dann aber auch mittels ihrer Anwendung durch die jeweiligen Sprecher.36 (2) Damit ist nun derjenige Punkt geschildert, auf den Dil­theys Würdigung zielt. Seine konstruktiven Anknüpfungspunkte kommen an einer Stelle prägnant zum Ausdruck. Aufgrund der komplexen geistes- und problemgeschichtlichen Voraussetzungen sei sie zunächst ausführlich zitiert: „Es liegt nun hier [sc. bei Schleiermacher] einmal ein wichtiger Fortschritt […]. Nicht nur, daß jener Gegensatz des Rationalen und des Anomalen, aus willkürlicher Übereinkunft Entsprungenen, indem er aus der grammatischen Grundanschauung selber schwindet, nun auch aus der Auffassung der Wortbedeutungen, der Figuren, der Tropen schwinden muß. Es hängt hiermit auch eine Wandlung des ganzen Gesichtspunktes zusammen, unter dem sprachliche Erscheinungen angesehen werden […]  – hier war […] mit der Anschauung des unwillkürlichen, nicht vom Einzelnen gemachten, sondern von einer allgemeinen geistigen Verfahrungsweise ausgehenden Sprachprozesses Ernst gemacht, wie ihn Herder für die Hermeneuten umsonst entwickelt hatte. Die Nationen werden als produktive Ganze gefaßt, die Periode der Sprachbildung drückt in der Sprache eine zusammenhängende Anschauungsweise aus – lauter Gedanken, in denen sich Schleiermacher mit Wilhelm von Humboldt begegnete“ (XIV 749 f.). Es lassen sich zwei Ebenen identifizieren, auf denen Dil­they die in Frage stehende Problematik verhandelt: Einerseits vollzieht er eine Abgrenzung gegenüber einer bestimmten Auffassung von Sprache, die mit der durch Schleierma36  Manfred Franks Arbeiten zu Schleiermacher bauen vor allem auf diesem Sachverhalt auf, vgl. M. Frank: Das individuelle Allgemeine; ders.: Das Sagbare und das Unsagbare.



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cher vertretenen Konzeption als überwunden gelten darf. Zweitens erfolgt eine Erläuterung dieser Auseinandersetzung am Leitfaden der sprachlichen Phänomene des Tropus und der Figur. Dies gilt es abschließend zu erörtern. Mit der Erwähnung jenes Gegensatzes des Rationalen und des Anomalen, den Dil­they auch als den „zwischen Analogie und Anomalie“ bzw. den „des Rationalen und Irrationalen“ (XIV 741) bezeichnen kann, rekurriert er auf einen bedeutenden wissenschaftlichen Streit um die Natur der Sprache, dessen geschichtlicher Ursprung bis in die Spätantike zurück reicht. Das Konfliktfeld besagter Auseinandersetzung wurde gebildet durch die beiden Parteien der sog. ‚Analogisten‘ – repräsentiert durch die Schule von Alexandria – und die ‚Anomalisten‘ – vertreten durch die Schule von Pergamon.37 Nach Auffassung ersterer war die Sprache als ein strukturiertes Ganzes zu begreifen, wonach die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Worten durchgängig regelhafter Natur seien. Als Beleg berief man sich auf Phänomene, wie sie beispielsweise in der gleichbleibenden Plural- oder Kasusbildung unterschiedlicher Worte zum Ausdruck kommen. Dem hielten die ‚Anomalisten‘ die vielzähligen Fälle entgegen, in denen eine solche Regelhaftigkeit gerade nicht zu erkennen sei, wie etwa anomale Pluralkonstruktionen, unlogische Genuszuweisungen, die Vorkommnisse von Synonymie und Homonymie etc. Die Bedeutung dieses Streites für die Ausbildung der Sprachwissenschaft liegt darin, dass in seinem Verlauf Grammatiken entstanden, die eine zunehmend umfangreichere Systematisierung des gegebenen sprachlichen Stoffes erbrachten, da die Analogisten gezwungen waren, ihre Ordnungsmodelle den jeweiligen Einwänden von anomalistischer Seite immer wieder anzupassen. Im 17. Jahrhundert wurde die Problematik höchst virulent im Zusammenhang mit der Herausbildung eigener, vom Latein sich emanzipierender Nationalsprachen. Dabei stand man vor der Frage, welcher Methode der Sprachnormierung man sich bedienen sollte, um die Entwicklung einer neuen gemeinschaftlichen Sprache zu befördern. Hier findet sich dann eine der Antike durchaus analoge Oppositionsstellung zwischen ‚Analogisten‘ und ‚Anomalisten‘.38 Jene zielten auf die Gewinnung von sprachlichen Strukturprinzipien, die an den grammatischen Regelmäßigkeiten abgelesen werden sollten, um dann als Leitlinien der Normierung zu fungieren. Die Vertreter der anderen Richtung wollten sich stattdessen auf einen etablierten Sprachgebrauch stützen, der gerade auch in seiner gleichsam naturwüchsigen Verfasstheit als Orientierungsinstanz dienen sollte. Dil­they selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er die eben besprochene Differenz für einen „falsche[n] Gegensatz“ (XIV 740) hält. Um seine Position einordnen zu können, muss jedoch beachtet werden, dass er der eben skizzierten Problematik eine bemerkenswerte Wendung verleiht. Denn Dil­they erblickt in 37 Zur Entstehung der Kontroverse vgl. immer noch: H. Steinthal: Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern, 347–363. 435–524. 38  G. Brundin: Kleine Deutsche Sprachgeschichte, 115 f.

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‚Analogie und Anomalie‘ nicht den geschichtlichen Ausdruck eines Ringens zweier grundsätzlich verschiedener sprachwissenschaftlicher Auffassungen, sondern betrachtet sie als heuristische Unterscheidung innerhalb der analogistischen Position selbst,39 wodurch der ursprüngliche Antagonismus der zwei verschiedenen Positionen nunmehr als eine Art interne Perspektivendifferenz erscheint. Obwohl eine solche methodische Vermittlung prima facie als gelungene Überwindung des kontroversen Punktes angesehen werden könnte – und in Dil­theys Zeiten auch angesehen worden ist –40, drückt sich für ihn darin eine problematische Sprachauffassung aus: „So wird aber der Verstand nicht Herr des Irrationalen, die Logik vermag so wenig Tropen und Figuren zu erklären, als etwa den zweifachen Sinn“ (XIV 740). Dil­they kritisiert hier ein Modell von Sprache, das dieselbe in Analogie zur Logik betrachtet und darum alle rational nicht ableitbaren Formen als anomalistisch abtut und ihre Herkunft nicht anders als durch die konventionelle Festlegung von geschichtlich irgendwann zufällig aufgetretenen Anomalien zu erklären vermag. Dies stellt in Dil­theys Augen jedoch das Abdizieren von einer philosophischen Durchdringung der Sprachproblems dar, da diejenigen sprachlichen Phänomene, die unter dem Begriff des Tropus zusammengefasst sind, lediglich in ihrem Vorhandensein festgestellt werden, eine tiefergehende Interpretation dieses Sachverhaltes jedoch nicht geliefert wird. Wenn Dil­they demgegenüber auf Schleiermacher verweist, dürfte er dabei vor allem daran denken, dass dieser ein Konzept von Sprache entwickelt hat, demzufolge letztere als ein ‚eigentümliches System‘ begriffen wird, in dem der besondere Geist einer Nation sprachlich zum Ausdruck kommt. Dem entsprechend ist jede Einzelsprache, wie gesehen, als eine individuelle Einheit zu betrachten, die sowohl nach ihrer äußeren Artikulationsweise als auch nach ihrem inneren Bedeutungsreichtum durchgängig von allen übrigen differiert. Da sich diese Differenz bis in die Begriffsbildung und bis in die Art und Weise, wie innerhalb des Sprachsystems gedankliche Kombinationen vorgenommen werden, auswirkt, ist eine einfache Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Elementen gar nicht möglich. Denn beide finden sich immer schon in eigentümlicher Mischung vor, so dass weder rein rationale noch gänzlich anomalistische Sprachelemente aufweisbar sind. 39  Das wird daran deutlich, dass Dil­they davon spricht, wie den Gegensatz von Analogie und Anomalie „bereits die alexandrinischen Grammatiker aufgestellt hatten“ (XIV 740). Historisch betrachtet stehen die Alexandriner aber für die analogistische Position, vgl. H. Steinthal, Sprachwissenschaft, 435–484. Neben den Alexandrinern kann Dil­they auch auf den Philologen Gottfried Hermann verweisen – der darum bemüht war, die innere Struktur der Sprache mittels Rückgang auf die kantischen Verstandeskategorien zu erweisen, vgl. M. Schramm: Herrmann und Kant, 83–122. 40 Vgl. hierzu exemplarisch L. Lange: Die Bedeutung der Gegensätze in den Ansichten der Sprache für die geschichtliche Entwicklung der Sprachwissenschaft. Für Lange gilt der grammatische Gegensatz von Analogie und Anomalie als aufgelöst, da man die gleichzeitige Bedeutung beider Seiten erkannt habe, vgl. aaO., 8 ff.



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Gleichsam den Probierstein einer solchen Auffassung bildet das sprachliche Problem des Tropus, auf das Dil­they nicht nur im Zusammenhang seiner Schleiermacher-Würdigung zu sprechen kommt. Obwohl er diesen Punkt hier zwar eigens hervorhebt, hat er ihn nicht im Blick auf Schleiermacher entfaltet, sondern anhand sprachphilosophischer Erwägungen Giambattista Vicos. Letztere sind deshalb mit heranzuziehen, um Dil­theys Einschätzung Schleiermachers einordnen zu können. In einer für unseren Kontext einschlägigen Textstelle geht er auf dessen Scienza Nuova (1725) ein, die für ihn „zu den größten Triumphen des menschlichen Denkens gehört“ (XIV 698) und in der Dil­they zufolge die „Anfänge zu einer wissenschaftlichen Behandlung der Tropen gemacht [waren]“. Er zitiert Vico mit folgender Aussage: „‚Alle Tropen‘ sind, ‚da sie bisher für geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gehalten wurden, vielmehr notwendige Weisen gewesen […], in welchen sich alle poetischen Urvölker deutlich zu machen suchten‘“ (XIV 765).41 Mit Vico stellt Dil­they hier die Annahme einer bloß ‚geistreichen Erfindung der Tropen‘ der ‚notwendigen Weise‘ ihrer Ausbildung gegenüber. Dabei überrascht die Disqualifizierung der Annahme ‚geistreicher Erfindung‘ auf den ersten Blick. Diesbezüglich ist aber darauf hinzuweisen, dass es hier nicht etwa um das Verständnis konkreter Sprachvorkommnisse geht  – die ohne individuelle inventio zweifelsohne nicht zu denken sind –, sondern dass es Dil­they mit Vico um eine grundsätzliche Erklärung des Vorkommens sprachlicher Metaphorologie überhaupt zu tun ist. Der Bezug auf Vico und damit auch auf dessen sprachevolutionäres Geschichtsmodell muss daher als Beitrag einer Sprachursprungstheorie gelesen werden, die die Frage zu beantworten sucht, wie das Phänomen übertragenen Sinnes in seiner grundsätzlichen Bedeutung erklärt werden kann. Indem Dil­they auf Vico verweist, rekurriert er implizit auch auf dessen Grundeinsicht, dass sprachliche Gebilde mit doppeltem Sinn nicht irgendwann einfach zufällig entstanden sind, sondern als notwendige Ausdrucksweisen der ‚poetischen Nationen‘ im Stadium des ‚heroischen Zeitalters‘ anzusehen sind und letztlich jeder Volkssprache bleibend zugrunde liegen. Diese Anschauung hat dann bis auf Herder gewirkt, dessen große Nähe zu Schleiermacher Dil­they, wie gesehen, eigens hervorhebt. Vicos Gegenüberstellung von ‚geistreicher Erfindung‘ und ‚notwendiger Erzeugung‘ figürlicher Rede korrespondiert der in Dil­theys sprachphilosophischer Schleiermacher-Würdigung begegnete Unterschied zwischen der Auffassung von Tropen als Anomalien auf der einen und der Schleiermacher zugeschriebenen Ansicht von einem ‚unwillkürlichen, nicht vom Einzelnen gemachten, sondern von einer allgemeinen geistigen Verfahrungsweise ausgehenden Sprachprozess‘ auf der anderen Seite. Diese Parallele erlaubt es, Dil­theys Vico-Ausführung als partielle Erläuterung zu seiner Schleiermacher-Darstellung zu lesen. 41  Das

Zitat entnimmt Dil­they: G. Vico: Principi di una scienza nuova, 257 f.

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Das von Dil­they positiv herausgestellte Verständnis der Sprache zeichnet sich dadurch aus, dass letztere weder auf rein logische Sachverhalte noch auf gänzlich zufällige Umstände reduziert wird. Dabei ergibt sich eine interessante Analogie zu der von Dil­they propagierten Geschichtsauffassung. Wie dort eine Gegenüberstellung von übergeschichtlichen Vernunftstrukturen und zufälligen historischen Gegebenheiten vermieden werden sollte, so hier die Entgegensetzung rein logischer Sprachstrukturen und willkürlicher Sprachursprünge. Die hierfür benötigte Vermittlung leistet, wie gesehen, ein individualitätstheoretisches Argument. Indem die Entstehung und die Entwicklung einzelner Sprachen eingesenkt sind in die natürliche und geschichtliche Position der jeweiligen Nationen, gewinnen sie Anteil an der der Geschichte inhärierenden Vernunft. Sie sind demnach selbst dort noch mehr als bloße Willkürakte, wo sie ihrer Bedeutung nach rational nicht abgeleitet werden können. Eine solche Konzeption entwickelt und für die Hermeneutik fruchtbar gemacht zu haben, stellt in Dil­theys Augen ein zentrales Verdienst des Schleiermacherschen Denkens dar.

c.  Die Individualitätskonzeption Werkbiographisch verortet Dil­they die entscheidenden Weichenstellungen für Schleiermachers Individualitätsgedanken in dessen Frühzeit. Deswegen stützt er sich in diesem Zusammenhang quellenmäßig vor allem auf die Reden (1799) und die Monologen (1800). Seine Überlegungen lassen sich nach drei Hinsichten unterscheiden: Auf Basis der Beobachtung, dass sich der junge Schleiermacher tiefgreifend durch Fichte geprägt erweist, geht Dil­they zunächst auf die Grundzüge der Fichteschen Philosophie ein (1).42 Sodann schildert er Schleiermachers Anknüpfungspunkte (2), bevor er schließlich herausarbeitet, worin dieser eigene Wege gegangen ist (3). Diese drei Problemkreise seien im Folgenden der Reihe nach durchgegangen. (1) Fichtes Philosophie stellt ideengeschichtlich43 das Unternehmen dar, die Ergebnisse der kantischen Philosophie vorauszusetzen, deren letztbegründete Gültigkeit in Form einer Wissenschaftslehre aber erst noch zu erweisen. Hierin zeigt er sich maßgeblich von Carl Leonhard Reinhold beeinflusst, von dem er auch die Idee der Notwendigkeit einer Rückführung allen Wissens auf einen selbstevidenten und auslegungsfähigen Grundsatz übernimmt. Für Fichte kann eine solche Grundlegung aber – anders als für Reinhold – nicht im Rahmen einer Theorie des Vorstellens verbleiben, weil diese wiederum Voraussetzungen enthält, die einer weiteren Ableitung bedürfen, nämlich einmal das ‚Unterscheiden‘ 42 Dil­ they bezieht sich sowohl auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 als auch auf dessen wenige Jahre später verfasste Wissenschaftslehre nova methodo sowie – indirekt – schließlich auf dessen Sonnenklaren Bericht von 1801, vgl. XIV 660 f. 665. 43  Ich orientiere mich an der Fichte-Darstellung in A. Kubik: Die Symboltheorie bei Novalis, 81–131. Dort findet sich auch einschlägige Forschungsliteratur.



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der im Bewusstsein auftretenden Vorstellung sowohl von einem vorstellenden Subjekt als auch von einem vorgestellten Objekt sowie das ‚Beziehen‘ der Vorstellung auf Subjekt und Objekt. Beide Voraussetzungen lassen sich Fichte zufolge nicht begrifflich deduzieren, sondern müssen als Handlungen des menschlichen Geistes aufgefasst und dabei noch diesseits der Differenz von theoretischer und praktischer Sphäre beschrieben werden. In seiner Schrift Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 entfaltet Fichte diese Überlegungen gleich in den ersten Paragraphen. Anhand des Paradigmas der Gewissheit logischer Sätze deckt er zunächst eine grundlegende „Tathandlung“44 des absoluten Ich auf, in deren Vollzug sich dieses selbst hervorbringt (§ 1), um sodann aufzuweisen, wie sich das Ich von sich selbst unterscheidet, indem es eine Selbst-Negation vollzieht (§ 2). Die hierin enthaltene Paradoxie löst Fichte dadurch, dass er im dritten Grundsatz deutlich macht, dass Ich und Nicht-Ich sich nicht einfach einander gegenüberstehen, sondern wechselseitig aufeinander bezogen sind und sich darin zugleich limitieren (§ 3). Auf diesem Wege gewinnt er eine zweifache Beschreibung des Ich: Es kann betrachtet werden als absolutes Ich (erster Grundsatz), und es kann als endliches Ich beschrieben werden, wie es sich in der gegenseitigen Limitation von Ich und Nicht-Ich konstituiert (zweiter und dritter Grundsatz). Aus letzterem Wechselverhältnis leitet Fichte dann sowohl die theoretische (§ 4) wie die praktische Dimension (§ 5) des menschlichen Selbst- und Weltumganges ab. Als vermögenstheoretischer Ort, an dem die Synthesehandlungen des realen Bewusstseins statthaben, wird die Einbildungskraft identifiziert, die die Vorstellungen und Zwecke des Ich produziert, allerdings ohne dass dieser Vorgang als solcher ins Bewusstsein tritt. Dafür bedarf es der philosophischen Reflexion.45 In der Wissenschaftslehre nach neuer Methode,46 die Fichte drei Jahre nach Erscheinen eben herangezogener Schrift im Philosophischen Journal fragmentarisch vorgestellt hatte, sucht er den Zusammenhang von primordialer und bewusster Subjektivität auf anderem Wege aufzuweisen: Ausgehend von einem gegebenen Gehalt – des Objektbewusstseins oder des reflektierten Selbstbewusstseins – wird die Aufmerksamkeit zurück gelenkt auf den diesen Gehalt hervorbringenden Akt, wobei beansprucht wird, dass sich das Ich seiner ursprünglichen Konstitutionsleistung in actu inne zu werden vermag. Dieses freie Sich-Richten auf die Tätigkeitsweise des menschlichen Geistes sowie deren anhaltende Beobachtung nennt Fichte ‚intellektuelle Anschauung’, die er mitunter auch als „Selbstanschauung“47 bezeichnen kann.48 Dabei ist bemerkenswert, dass der Begriff des 44  J. G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 96. 45  Zur darin aufscheinenden Nähe zu dem von Husserl später vertretenen

Programm vgl. M. J. Siemeck: Fichtes und Husserls Konzept der Transzendentalphilosophie. 46  Vgl. dazu P. Grove: Deutungen des Subjekts, 177–195. 47  J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 529 f. 48  Letztere ist nicht begrifflicher Art, sondern unmittelbar; sie ist nicht rezeptiv, sondern

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Selbstbewusstseins, der in der Grundlage noch ausschließlich zur Bezeichnung für die reflektierte Form der Selbsthabe herangezogen wurde, mit dem Zusatz ‚unmittelbar‘ nun auch für das Selbstverhältnis in Form des ursprünglichen Ichbewusstseins stehen kann. Alle genannten Aspekte  – die ichphilosophische Grundlegung, die Bedeutung der Einbildungskraft sowie der methodische Neuansatz – werden auch von Dil­they hervorgehoben. So hält er zunächst fest, dass Fichtes System angesehen werden könne als die Vollendung des „Versuch[s], die Welt aus dem Ich zu erklären, somit den ganzen Zusammenhang aller Empfindungen, Anschauungen, alles Gegebene, Seiende aus dem selbsttätigen produzierenden Subjekt abzuleiten. Diese Aufhebung aller Gegebenheit, alles Seienden in ein Tätiges, und zwar in das tätige Ich, ist das Wesen dieses Systems. Und diese Gegebenheit, dies Seiende wird nicht draußen in der Welt verfolgt; denn es gibt für ihn kein draußen, sondern nur für das Bewußtsein selber ist es da; also nur für dieses und in ihm diese Verwandlung zu erklären, ist die Aufgabe“ (XIV 660). Sodann hebt Dil­they indirekt die Bedeutung der produktiven Einbildungskraft hervor, indem er herausstellt, dass in Fichtes Wissenschaftslehre(n) „aufgewiesen [wird] […], auf welchem Wege das Ich tätig ist und unwillkürlich die Vorstellungen zustande gebracht hat“ (XIV 661, Hvh. v. Verf.).49 Schließlich rekurriert er insbesondere auf die Wissenschaftslehre nova methodo, wie an einem Fichte-Zitat deutlich wird – für das er allerdings keinen Beleg gibt.50 Für Dil­they ist es offenkundig, dass der junge Schleiermacher hieran angeknüpft hat – wie er mit Blick auf die Reden und vor allem die Monologen aufzeigt. spontan hervorgebracht. Dabei kommt sie nicht in einem selbständigen Bewusstseinsmoment zur Realisation, sondern vermag nur als Element des eigentlichen Bewusstseins zu fungieren. ‚Intellektuelle Anschauung’ bezeichnet somit – anders als bei Kant – nicht eine nur denkbare, und einzig dem göttlichen Geist mögliche Betrachtung der noumenalen Weltordnung, sondern steht für das Bewusstwerden der Selbsttätigkeit des Geistes. 49  „Aus seiner eigenen Tiefe produziert das tätige Ich den ganzen Gehalt seiner Anschauung“ (XIV 662). 50  „‚Das ist und nur das ist das Merkmal, daß man auf dem rechten Wege philosophiere, wenn man gar kein Auge mehr hat für das fertige, gegenständliche Sein, sondern nur für das Werden, wenn uns alles, was ist (will sagen: alle Vorstellung des Seienden), sich erst innerlich vor unserem Auge konstruiert; nur so gewinnt man die Einsicht in das Werden und Wesen, in das innere und wahrhafte Leben des Geistes‘“ (XIV 661). Dil­they vermittelt den Eindruck, dass es sich beim letzten Zitat um ein Fichte-Wort handeln würde. In Wahrheit stellt es aber eine Paraphrase des Fichteschen Standpunktes dar, die der philosophiegeschichtlichen Darstellung von Chalybäus entnommen ist (vgl. H. M. Chalybäus: Historische Entwickelung der spekulativen Philosophie von Kant bis Hegel, 165). Sie kommt dort im Kontext des Sonnenklaren Berichtes zu stehen, wird von Chalybäus aber nicht als direktes Zitat ausgewiesen. Dass Dil­they den Chalybäus besessen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gelesen hat, kann man aus einem Brief an seinen Vater aus dem Sommer 1852 erschließen (G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: Briefwechsel, Bd. 1, 1 f.). In seinem Fichte-Bild erweist sich Dil­they also von jener Philosophiegeschichte maßgeblich beeinflusst. Allerdings hat er sich Fichte auch im eigenen Textstudium angeeignet, wie aus einem Brief an seine Schwester Marie aus dem Frühling 1859 ersichtlich wird (aaO., 85f).



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(2) Im ersten der Monologen, der die Überschrift „Reflexion“ trägt, entwirft Schleiermacher das kategoriale Fundament, von dem ausgehend er seine Individualitätstheorie entfaltet. Die entscheidenden Stichworte sind „Geist“51 und „Freiheit“52. Beide bilden die Prämissen der gesamten weiteren Erörterung. Ab dem zweiten ‚Monolog‘ wird ihnen der Begriff des „Selbstbewusstseins“53 zur Seite gestellt. Schleiermacher sucht die Einsicht zur Geltung zu bringen, dass aller menschlichen Wirklichkeitsauffassung subjektive Geistestätigkeit zugrunde liegt – die gesamte äußere Welt mit eingeschlossen. Es ist „des Geistes Handeln“, das „selbst erst Welt und Zeit erschaft“54. Diese Leistung vermag vom gemeinen Bewusstsein hingegen nicht erfasst zu werden, sondern tritt erst bei einer spezifischen Perspektivübernahme in den Blick, worauf der Begriff der ‚Reflexion’ verweist. Dem gleichsam selbstverlorenen Blick auf die Dinge wird die Forderung entgegen gestellt, die Aufmerksamkeit statt auf die „äussere Erscheinung“ auf die „Tätigkeit des Geistes“ zurück zu richten, „die verborgen in seiner Tiefe sich regt“.55 Die Einnahme bzw. den Vollzug dieser reflektierenden Perspektive bringt Schleiermacher auf die Begriffe „Selbstbetrachtung“ bzw. „Anschauung“.56 Hierbei sind Schleiermacher zufolge Freiheitsvollzüge in Rechnung zu stellen, die geradezu das Wesen des menschlichen Selbstbewusstseins ausmachen: „Nur sein [sc. des Menschen] innerstes Handeln, in dem sein wahres Wesen besteht, ist frei, und wenn ich dieses betrachte, fühle ich mich auf dem heiligen Boden der Freiheit, und fern von allen unwürdigen Schranken. Auf mich selbst muss mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu lassen als einen Theil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn heraus zu greifen, und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln“.57 Das Sich-Beobachten des Bewusstseins in seinem Vollzug ist dabei nicht als bloß vereinzelt erfolgender Akt aufzufassen, sondern kann sich nur in Begleitung zum Selbst- und Weltumgang vollziehen. Vor dem Hintergrund des oben Geschilderten ist offensichtlich, dass Schleiermacher hiermit an Fichtes transzendentalphilosophische Grundlegung des menschlichen Geisteslebens anknüpft. Dies zeigt sich zum einen im Blick auf die von ihm verwendeten zentralen Begriffe ‚Reflexion’, ‚Anschauung’ und ‚Freiheit‘, zum anderen in den sachlichen Parallelen. Wenn Schleiermacher in den Monologen etwa davon spricht, dass ‚des Geistes Handeln selbst erst Welt und Zeit erschaft‘, so ist der Hintergrund der Fichteschen Theorie der produktiven Ein51  F. D. E.  Schleiermacher: Monologen, 15; vgl. im ersten ‚Monolog‘ weiterhin 5. 10. 12. 16. 19. 25. 28. 29. 52  AaO., 13; vgl. im ersten ‚Monolog‘ weiterhin 14. 15. 17–19. 28. 53  AaO., 43 passim. 54  AaO., 25. Schleiermacher vertritt zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung mithin eine konstitutionsidealistische Theorie des Geistes. 55  AaO., 12. 56  AaO., 11.14. 57  AaO., 14 f., Hvh. v. Verf.

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bildungskraft evident. Es ist dieser Zusammenhang, auf den Dil­they sich bezieht, wenn er eine Nähe von Schleiermacher zu Fichte konstatiert. Dil­they sieht dabei klar, dass die eigentliche Problematik der Monologen damit aber noch gar nicht erreicht ist. Dafür bedarf es erst einer „Überleitung zum Begriff der Individualität“ (XIV 662). Dil­they zufolge lag auch diesbezüglich „in Fichtes Philosophie ein Anstoß, ja, Fichte hatte die ersten Schritte getan“. Der entscheidende über die subjektivitätstheoretische Ebene hinausführende Schritt ist dabei darin zu sehen, dass „schon die Annahme mehrerer Iche […] die Konsequenz dieses subjektiven Idealismus [sc. Fichtes] auf[hob]“ (ebd.). Dil­they weist damit auf den Umstand hin, dass Fichtes Theorie der Subjektivität gleichsam von sich aus zur intersubjektivitätstheoretischen Weiterbildung drängte, die in dessen Naturrechts- und Sittenlehre dann pointierten Ausdruck gefunden hat. Dil­they rekurriert allerdings nicht auf Fichtes Grundlage des Naturrechts, sondern zieht dessen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten heran, in denen er das Individualitätsprinzip erstmals anvisiert sieht.58 Zusammengefasst bedeutet das: Dil­they ist sich dessen bewusst, dass im Rücken von Schleiermachers Ansatz Fichtes Intersubjektivitätstheorie steht, und dass die Individualitätsproblematik nicht etwa erst im Blick auf Schleiermacher in Anschlag zu bringen ist, sondern sich bereits bei Fichte selbst findet. Nun ist Dil­they nicht entgangen, dass zwischen Fichtes und Schleiermachers Begriff der Individualität gleichwohl eine entscheidende Differenz besteht, angesichts derer das Charakteristische der Schleiermacherschen Konzeption überhaupt erst zum Vorschein kommt. Damit gehen wir zum dritten Problemkreis über. (3) Dil­they hält diesbezüglich fest: Fichtes Forderung der freiheitlichen „unbedingten und autonomen Selbstbestimmung lief […] stets in das allgemeingültige Sittengesetz zurück. Es war dasselbe nur subjektiv in Ansehung seines freien Ursprungs, nicht in Ansehung seines Inhaltes.“ Demgegenüber wird bei Schleiermacher „[a]us dem Ich […] die Individualität, aus der Subjektivität des Ursprungs die des Inhalts“ (XIV 663). Damit ist zunächst Folgendes gesagt: Fichte richtet die in eigener Freiheit zu vollziehende Selbstbestimmung des Menschen ganz an der Forderung nach sittlicher Allgemeinheit aus, so dass das Individuum lediglich als besonderer Ort der Materialisierung moralischer Freiheit erscheint. Das Phänomen der Subjektivität wird ganz im Kontext allgemeiner pflichtenethischer Erwägungen entfaltet. Schleiermacher hingegen arbeite eine individuelle Struktur heraus, die der menschlichen Subjektivität schon auf primordialer Ebene eigne. Zugleich damit wird Freiheit nicht mehr bloß als Freiheit zur Selbstbestimmung nach Maßgabe moralischer Allgemeinheit gedacht, sondern als Vermögen, sich 58  Dil­they gibt klar zu erkennen, dass er sich diesbezüglich an einer Einschätzung aus Schillers 4. Brief über die ästhetische Erziehung orientiert, und zwar sowohl in der Auswahl letztgenannter Fichteschrift als auch hinsichtlich der Beurteilung ihrer Bedeutung für die individualitätstheoretische Fragestellung, vgl. XIV 663.



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zu einem eigentümlichen Dasein zu bestimmen, dessen Eigentümlichkeit nicht in der bloßen Konkretisierung allgemeiner Sittlichkeit besteht, sondern allen Lebensbereichen eines Menschen eine individuelle Note einprägt. Damit ist Schleiermachers Individualitätsverständnis aber nur ganz allgemein beschrieben. Dil­they bleibt hierbei nicht stehen, sondern führt die Rekonstruktion bis auf den Punkt weiter, an dem das für Schleiermacher charakteristische Modell von Individualität allererst zum Vorschein kommt. Diesbezüglich verweist er auf die vielzitierte Stelle des ‚zweiten‘ Monologs, indem er festhält: „So spricht Schleiermacher als das ihn am meisten Erhebende dies aus, ‚daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstelle‘“ (XIV 664).59 Worauf zielt diese Feststellung? Für Schleiermachers Individualitätsauffassung ist es charakteristisch, dass sie in Form eines konstellationstheoretischen Modells entworfen wird.60 Das bedeutet: Individualität ist nicht über den Weg eines Ausschlussverfahrens zu erhellen, demzufolge für die Ermittlung der in Frage stehenden Eigentümlichkeit all diejenigen Eigenschaften abzuziehen wären, die das betreffende Individuum mit anderen Individuen teilt, so dass diejenigen Merkmale, die nach Subtraktion des Gemeinsamen übrig blieben, den individuellen Charakter ausmachen würden. In ihrer wahren Bedeutung ist Individualität nicht durch das Vorliegen exklusiver Eigenschaften konstituiert, sondern baut sich durch die besondere Art der Anordnung allgemein geteilter Merkmale des Humanen auf. Diesbezüglich lässt sich der Sachverhalt der Individualität nach zwei Seiten hin entfalten: Die eine ist quantitativer Art und bezeichnet die unterschiedliche Stärke, in der jene allgemeinen Elemente jeweils vorliegen: Was bei dem einen dominiert, kann bei dem anderen nur latent vorhanden sein. Der zweite Aspekt ist qualitativer Art und meint den individuellen Charakter, wie er sich aus der jeweils verschiedenen Akzentuierung der Eigenschaften ergibt. Der hierdurch beschriebene Ansatz ist für Schleiermacher zeitlebens bestimmend gewesen, verdankt sich aber Einsichten, die bereits in die frühe Phase seiner philosophischen Entwicklung zurückreichen. In den Monologen kann Schleiermacher den eben geschilderten Sachverhalt ethisch-normativ zuspitzen, indem er fordert, „dass jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente“61. Abzüglich der präskriptiven Stoßrichtung findet sich diese Ansicht ebenso in den schon etwas früher verfassten Reden: „Nehmt welches Element der Menschheit Ihr wollt, Ihr findet jedes in jedem möglichen Zustande […] in jeder Mischung mit jedem andern“.62 Dabei entwirft Schleiermacher in den bei59  Dil­they hat hier vermutlich aus dem Gedächtnis zitiert, da der von ihm widergegebene Wortlaut nicht ganz dem Original entspricht. Dort heißt es: „darstellen soll“. 60 Vgl. M. Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 173  f.; H.‑J. Birkner: Einleitung; U. Barth: Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘. 61  F. D. E.  Schleiermacher: Monologen, 40. 62  Ders.: Über die Religion, 92 f., Hvh. v. Verf.

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den letztgenannten Schriften sein ethisches Individualitätsideal als Gegenentwurf zum Humanitätsbegriff der Aufklärung, die – wie beispielsweise Kant – in dem Einzelnen nicht mehr zu sehen verstanden habe als ein bloß raum-zeitlich individuiertes Vorkommnis allgemeiner Vernünftigkeit.63 Es ist dieser Zusammenhang, auf den Dil­they mit seinem Verweis auf den ‚zweiten Monolog‘ rekurriert. Dabei sieht Dil­they klar, dass Individualität und Sozialität für Schleiermacher nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Denn letzterem zufolge vermag ein Subjekt nur insofern zu einem individuellen Wesen zu werden, als es sich zur Darstellung und „Mittheilung“64 bringt – um damit für die anderen überhaupt erst anschaulich zu werden. „[I]ch muss hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern zu schauen, was es für Menschheit gibt.“65 Individualitätsbewusstsein verweist somit per se auf die Sphäre des Sozialen. Nur durch das Anschauen der unterschiedlichen individuellen Menschheitsentwürfe sowie durch die kritische Aneignung der darin erfahrenen Selbstdeutungs-Optionen vermag der Einzelne seinen individuellen Selbstbildungsprozess zu vollziehen,66 in dem er immer noch wird, was er immer schon ist.67 Aus diesem Grund ist jeder aufgerufen, sich selbst darstellend mitzuteilen, weil nur so der Kommunikationsprozess in Gang zu setzen ist, durch den der Einzelne sich im Verlauf seiner Biographie zu dem macht, was er seinem Wesen nach ist und werden soll. Dil­they fasst dies wie folgt zusammen: „[D]ie menschliche Intelligenz […] vollendet sich nur, indem sie sich darstellt, in der Anschauung der anderen Individualitäten aber sich selber ergänzt und zur Idee der Menschheit erweitert.“ (XIX 663 f.) Dass dieser Sachverhalt für Schleiermacher sowohl in deskriptiver wie in präskriptiver Perspektive thematisch wird, macht Dil­they deutlich, indem er festhält, nicht nur „die Darstellung des Ich in der eigenen Individualität“, sondern auch „die Anschauung desselben in anderen“ sei „eine ethische Tätigkeit“ (XIV 666). Eine solche konstellationstheoretische Fassung von Individualität gefunden und sie auf dem Boden moderner Philosophie entwickelt zu haben, stellt Dil­they zufolge ein 63  So fragt Schleiermacher in den Reden kritisch: „Was wäre wohl die einförmige Wiederholung eines höchsten Ideals, wobei die Menschheit doch, Zeit und Umstände abgerechnet, eigentlich einerlei sind“, aaO., 92. 64  F. D. E.  Schleiermacher: Monologen, 48. 65  AaO., 47. [N]ur wenn der Mensch […] von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewusstsein seiner Eigenheit erhalten: den nur durch Entgegensetzung wird das Einzelne erkannt“, aaO., 50 f. 66 „[I]ch muss […] schauen, […] was davon mit fremde bleibt, was mein eigen werden kann, und immer fester durch Geben und Empfangen das eigne Wesen zu bestimmen“, aaO., 47. 67  Dem Individualisierungsprozess eignet insofern eine paradoxe Struktur, als er seinen Ursprung im individuellen Wesen eines Menschen hat, das zugleich immer erst im Werden entsteht. „Individualitätbewußtsein ist gleichermaßen vorfindliches Resultat und unabschließbarer Vollzug reflektierender Selbstdeutung […]. Individualität ist Faktum und Idee in Einem“, U. Barth: Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘, 325 f.



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zentrales Verdienst von Schleiermacher dar. Dil­they hat sich dieses mischungstheoretische Individualitätsmodell dann zueigen gemacht und seiner Psychologie zeitlebens zugrunde gelegt.68

d.  Die Grenzen des Schleiermacherschen Denkens In einem bereits an anderer Stelle zitierten Brief vom März 1860, in dem Dil­ they seinen Eltern Auskunft über Thema und Inhalt der Preisschrift gibt, findet sich die bemerkenswerte Mitteilung, dass „meine ganze Abhandlung Polemik gegen Schl[eier]m[acher] ist“.69 Angesichts Dil­theys Ausführungen erweist sich diese Feststellung sicherlich als etwas zu stark. Denn wie gesehen  – und noch zu zeigen – hat Dil­they ihm ja durchaus erhebliche Verdienste auf dem Feld der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zugeschrieben. Unbeschadet dessen macht die zitierte Äußerung darauf aufmerksam, dass seine Darstellung völlig unzureichend aufgefasst wäre, wenn man sie als bloße Schleiermacher-Apologie begreifen würde. So finden sich bei näherem Hinsehen eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen, in denen Dil­they sich von Schleiermacher absetzt. Hinsichtlich der Grundlegungsproblematik – auf die es uns an dieser Stelle ankommt –70 beziehen sich seine Kritikpunkte im Wesentlichen auf Aspekte von dessen philosophisch-ethischem System (1) und dessen Sprachkonzeption (2). Zunächst zu erstgenannten. (1) Wie oben gesehen, hatte er Schleiermacher dafür würdigen können, dass bei ihm philosophische Wissenschaft und Geschichte nicht mehr einander gegenüber, sondern in einem inneren Verhältnis zueinander zu stehen kommen.71 Gleichwohl erblickt Dil­they an einem Punkt eine entscheidende Grenze von dessen Konzept. Sie betrifft Schleiermachers Verfahren zur Gewinnung geschichtsstruktureller Formeln. Letzterer hatte in seiner güterethischen Theorie der Geschichte grundlegende Strukturen des soziokulturellen Lebens entworfen, die aller Betrachtung des geschichtlichen Lebens als allgemeines Formengerüst zugrunde gelegt werden sollten. Dil­they bezeichnet dies als Methode einer „logische[n] Klassifikation als Erklärung des Realen“ (XIV 692). Sein Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass durch jenes Verfahren eine „Verwandlung geschichtlicher Mannigfaltigkeit und Bewegung in zeitlose begriffliche Hauptformen“ (XIV 693)

68  Vgl. eine Äußerung aus dem späten Textfragment Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, in dem Dil­they hervorhebt, dass Individuen „sich nicht durch qualitative Verschiedenheit unterscheiden, sondern gleichsam durch eine Betonung der einzelnen Momente“ (VII 213). 69  Brief vom März 1860 an die Eltern, G. Kühne-Bertram/H.‑U. Lessing: Briefwechsel, Bd. 1, 131. 70  Zu Dil­theys Kritik der Schleiermacherschen Hermeneutik siehe unten Abschnitt II.3.d. 71  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.a.

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erfolge. Bei Schleiermacher ordne sich „das Leben der Menschheit in einem festen Gefüge ewig gleicher, ruhender Formen“ (XIV 692). Gegenüber dieser Kritik ist zunächst daran zu erinnern, dass geschichtliche Wandelbarkeit und Dynamik auch in Schleiermachers Geschichtsauffassung Rechnung getragen wird, und zwar in einem dreifachen Sinne: in der Darstellung der ‚Geschichtsformeln‘ als Kategorien von Entwicklungszusammenhängen,72 in der kritisch-konstruktiven Wechselbeziehung derselben mit ‚Geschichtsbildern‘ sowie – damit zusammenhängend – in der Notwendigkeit zur Bewährung und Modifikation jener Formeln in ihrer Beziehung auf das geschichtliche Material. So gesehen scheint Dil­theys Urteil in gewisser Hinsicht etwas zu hart zu sein. Worauf er sich aber sinnvollerweise Weise beziehen kann, ist der Sachverhalt, dass Schleiermacher bei der ethischen Konstruktion geschichtlicher Wirklichkeit dem deduktiven Vorgehen eine äußerst große Reichweite zubilligt hat. Er weist zwar darauf hin, dass sich die begrifflichen Resultate dieser Deduktionen immer auch zu bewähren haben und mithin prinzipiell fallibel sind. Ihre Herleitung erfolgt nichtsdestoweniger in Form einer systematischen Ableitung, die weitgehend unabhängig ist von dem geschichtlichen Material, das zu ordnen jene Prinzipien aufgestellt werden und das letztlich ja – auch bei Schleiermacher – die Ausgangsbasis für die Aufstellung der Geschichtsprinzipien bildet. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob man es mit abgelösten Begriffsverhältnissen zu tun habe, die die Geschichte aus einer übergeschichtlichen Warte strukturieren. Dil­they plädiert demgegenüber für eine stärkere Rückbindung des Begriffsbildungsverfahrens an den geschichtlichen Stoff.73 (2) So viel zu Dil­theys Kritik an Schleiermachers güterethischer Grundlegung. Kommen wir nun zu seiner Problematisierung von Schleiermachers Sprachauffassung. Wie gesehen hatte er letztere dahingehend gewürdigt, dass das Phänomen Sprache prinzipiell weder bloß als logische Struktur noch als rein willkürliche Erfindung, sondern jeweils als Artikulation eines besonderen Nationalgeistes begriffen wird. Aber so sehr Schleiermacher damit wegweisende Ideen zur Natur des menschlichen Sprachvermögens geboten habe, so wenig habe er vermocht, diesen Ansatz in befriedigender Weise umzusetzen. Denn seine Systemarchitektur habe es ihm letztlich unmöglich gemacht, das eben beschriebene Spannungsverhältnis aufrechtzuerhalten. Vielfach dominiere vielmehr ein bestimmter Grundzug, in Folge dessen „Schleiermachers Sprachansicht […] die Sprache zu einem System von Begriffen [machte]“ (XIV 697). Was hat Dil­they dabei vor Augen? Schleiermacher hat an unterschiedlichen Stellen seines Werkes hervorgehoben, dass sich Denken und Sprechen in einem inneren Zusammenhang befinden. 72  Exemplarisch wäre diesbezüglich etwa an die Entwicklungslinie von Fetischismus, Polytheismus, und Monotheismus aus den ethischen Lehnsätzen in der Glaubenslehre zu erinnern. 73  „Wir verschmähen die Konstruktion, lieben die Untersuchung, verhalten uns skeptisch gegen die Maschinerie eines Systems“ (C. Misch: Der junge Dilthey, 87).



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Darin steckt zunächst eine gewisse Relativierung des cartesianischen Zutrauens in die Kraft reinen Denkens. Für Schleiermacher gibt es ein solches gar nicht. Vielmehr erweisen sich alle bewussten kognitiven Akte immer schon durch ein sprachliches Medium vermittelt. Umgekehrt aber geht jene Grundthese Schleiermachers zugleich mit einer partiellen Engführung in der Auffassung der Natur der Sprache einher. Denn so wie alles reale Denken sich nur in Form des Sprechens zu vollziehen vermag, so hat letzteres gleichsam immer schon einen Hang zu jenem. Die Angewiesenheit aller realen Kognitionen auf die Sprache kann unter anderem mit Blick auf die Dialektik und die dort entfaltete Theorie der Begriffs- und Urteilsbildung gezeigt werden.74 Aber auch in der Einleitung seiner Hermeneutik hat Schleiermacher diesen Umstand nachdrücklich betont.75 Die Affinität der Sprache zum Denken wiederum ergibt sich nicht zuletzt aus dem Gesamtarrangement seiner Ethik: Wie gesehen, wird dort das Feld des Symbolisierens nach Maßgabe des Unterschiedes von ‚individuell‘ und ‚identisch‘ strukturiert, wobei die Eigentümlichkeit des Menschen sich in Religion und Kunst auslebt, während die identische Tätigkeit durch den Bereich von Wissen und Wissenschaft gebildet wird. Deren Medium aber ist die Sprache. Es ist genau dieser Zusammenhang, auf den sich Dil­they bezieht, wenn er Schleiermacher im oben gesehenen Sinne dafür kritisiert: Seine Auffassung von Sprache mache letztere zu einem Begriffssystem und „stellt sie somit in die Sphäre des Wissens“ (XIV 697). Angesichts dessen bleibe bei Schleiermacher die Grundlegung derjenigen Sprachform Desiderat, um die es ihm in seiner Auslegungslehre ausdrücklich auch zu tun gewesen sei, nämlich diejenige literarischer Texte. Er habe „weder […] je wirklich den Versuch gemacht oder die Theorie näher ausgebildet, die Kunstformen, noch den anderen, die herrschenden Ideen wirklich aus der Sprache abzuleiten“ (XIV 778). So gesehen vermögen die sprachphilosophischen Grundlagen jedoch den Umfang der anvisierten hermeneutischen Gesamtproblematik nicht in vollem Umfange zu tragen.

74  Vgl.

dazu M. Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 144–

75 Vgl.

F. D. E.  Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 9 f.

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3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher Nachdem im vorigen Abschnitt Dil­ theys Rekonstruktion der allgemeinen Grundlagen des Schleiermacherschen Denkens im Fokus stand, soll es nun um Dil­theys Sicht von dessen Auslegungslehre als solcher gehen. Diesbezüglich gilt es zu fragen, worauf genau er sich eigentlich bezieht, wenn er Schleiermacher als einen Autor würdigt, mit dem sich innerhalb der Geschichte der Hermeneutik eine markante Zäsur verbindet. Seine entsprechende Sicht lässt sich im Wesentlichen in drei Aspekte differenzieren, die zugleich das Gliederungsprinzip dieses Abschnittes bilden. So geht es zunächst um die wissenschaftliche Einbettung der hermeneutischen Disziplin (a.), sodann um die Begründung der Unterscheidung von Autor und Sprache (b.) sowie im Anschluss daran um die Bedeutung schöpferischer Individualität (c.). Auch in diesem Zusammenhang erweist Dil­they sich aber nicht einfach als bloßer Schleiermacher-Adept. Im Gegenteil, dessen hermeneutischer Konzeption gegenüber kann er durchaus auch Kritik üben, die im Vorwurf einer unzureichenden Auffassung geschichtlicher Auslegung besteht. Dieser Aspekt bildet den Gegenstand des letzten Abschnittes (d.).

a.  Die Aufwertung der Hermeneutik als Wissenschaft Dil­they zufolge sei die Hermeneutik in Schleiermachers Konzeption „zum ersten Male im strengen Sinn des Wortes Wissenschaft“ (XIV 715) geworden. Diese Einschätzung lässt sich nach zwei Richtungen hin verstehen. Zum einen zielt sie auf die Art und Weise, in der Schleiermacher den Aufbau des hermeneutischen Theoriegebäudes konzeptualisiert. Diese Problematik lassen wir zunächst auf sich beruhen, um sie im nächsten Unterabschnitt zu thematisieren. Zum anderen verweist jene Einschätzung auf Schleiermachers Einordnung der hermeneutischen Disziplin in den Wissenschaftskosmos insgesamt. Damit nachvollziehbar wird, was ihm hierbei vor Augen steht, sei zuerst etwas zum fraglichen Punkt bei Schleiermacher gesagt (1), um vor diesem Hintergrund Dil­theys Einordnung zu betrachten (2). (1) Innerhalb seines philosophischen Gesamtsystems hat Schleiermacher die elementare Funktion der Hermeneutik auf zwei unterschiedlichen Ebenen herausgearbeitet: im Rahmen seiner Dialektik und im Rahmen seiner Philosophischen



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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Ethik. Zunächst zu ersterer. In ihr ist es ihm darum zu tun, das allgemeine Fundament seines wissenschaftstheoretischen Denkens darzulegen. Dabei bewegt er sich auf mehreren Erörterungsebenen, die er kunstvoll miteinander verschränkt.1 Zunächst fungieren die entsprechenden Ausführungen als Wissenstheorie, die der fachwissenschaftlichen Produktion realen Wissens konzeptionelle Orientierung verschaffen soll. Da diese Theorie zugleich beansprucht, Regeln zu entwickeln, derer sich das erkennende Denken für jenen Zweck bedienen kann, bildet sie sodann eine Kunstlehre des Wissens und des Denkens. Des Weiteren werden die epistemischen Voraussetzungen einer solchen Methodologie in Form erkenntnistheoretischer Überlegungen eigens bedacht. Für den hiesigen Zusammenhang entscheidend ist schließlich aber folgende Problemdimension: Alle Wissensbildung ist für Schleiermacher in konstitutiver Weise darauf angewiesen, im Rahmen intersubjektiver Austauschprozesse zu erfolgen. Der Grund hierfür liegt ihm zufolge darin, dass aller reale Wissensvollzug nur im Ausgang endlich-subjektiver Perspektivität getätigt werden kann, so dass die im Wissen als Wissen beanspruchte allgemeine Geltungsintention nur in Form dialogischen Austausches zur Erfüllung gelangt. Anders gesagt: Erkennen und Wissenschaft vermögen sich nur in Form eines Kommunikationsvorgangs zu verwirklichen. So sehr Denken und Reden in der Sprache dabei ein identisches Medium besitzen, innerhalb dessen sie sich artikulieren, so sehr sind sie in ihrer Produktion von der Individualität des jeweiligen Subjekts bedingt. Deshalb gibt es auch hier keine rein identische Übertragung, sondern die jeweiligen Diskurse kommen nicht ohne interpretative Leistungen aus, mithilfe derer sich die unterschiedlichen Subjekte überhaupt erst in ein kommunikatives Verhältnis zu setzen vermögen. Aufgrund dessen ergibt sich die in unserem Zusammenhang entscheidende Konsequenz, dass die Dialektik darauf angewiesen ist, durch die Auslegungslehre ergänzt zu werden.2 Dil­they hat dies klar gesehen. Auf den Umstand, dass die hermeneutische Disziplin im Zusammenhang der Wissens- und Denklehre eine solch zentrale Rolle spielt, macht er unter anderem dadurch aufmerksam, dass er auf entsprechende Äußerungen aus Schleiermachers Hermeneutik verweist, in denen dieser die Notwendigkeit des Einbezugs hermeneutischer Verfahren in den Erkenntnisprozess kenntlich gemacht hatte.3 Auf Schleiermachers Philosophische Ethik sind wir bereits an anderer Stelle eingegangen4 und können uns hier entsprechend kurz fassen. Schleiermacher entwirft die disziplinentheoretische Polarität von ‚Geschichtskunde‘ und ‚Sittenlehre‘, in die aller Aufbau des realen Wissens von Geschichte und Gesellschaft 1  Vgl. 2 Vgl.

dazu U. Barth: Der Letztbegründungsgang der Dialektik, 355–358. G. Scholtz: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 107. 3  Dil­they bezieht sich auf den in der Lückeschen Ausgabe gebotenen Zusatz zu § 4 der Hermeneutik von 1819 (F. D. E.  Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 11), vgl. XIV 697, Anm. 22. 4  Siehe oben Abschnitt II.2.a.

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eingespannt ist. Während jene gewissermaßen für die Lieferung des konkreten Materials verantwortlich ist, kommt dieser die Aufgabe zu, die kategorialen Formen bereit zu stellen, mithilfe derer der empirische Stoff überhaupt erst sinnvoll strukturiert werden kann. Die Vermittlung dieser Polarität übernehmen die ‚kritischen‘ und die ‚technischen Disziplinen‘, in denen die ethischen Prinzipien auf die gegebene Wirklichkeit bezogen werden.5 Entscheidend ist nun, dass auch die Hermeneutik als ‚technische Disziplin‘ eingestuft wird, indem sie für die Auffassung fremder Rede und Schrift die Regeln formuliert, nach denen sinnvoll vorzugehen ist, um Verständnis zu erreichen. (2) Dil­they kommt hierauf ausdrücklich zu sprechen. So hält er fest, dass bei Schleiermacher „die Hermeneutik in ein wissenschaftlich gefaßtes Verhältnis zur Philosophie und philosophischen Geschichtsforschung tritt“, wie es sich in „den kritischen und technischen Wissenschaften“ zeige (XIV 715).6 Dadurch habe letzterer die „Herstellung der Beziehung zwischen philosophischer Geschichtswissenschaft und Hermeneutik“ (XIV 720) vollzogen. Die Auslegungslehre erweist sich also für den Aufbau alles realen Wissens als unerlässlich und wird im Bereich der geisteswissenschaftlichen Realphilosophie als eigenständige Disziplin konzipiert. Dies aufgezeigt zu haben, stellt in Dil­theys Augen eine der entscheidenden Leistungen Schleiermachers dar. Die „einzelnen Wissenschaften [werden] nicht willkürlich gemacht […], sondern [wachsen] aus den Tätigkeiten oder Verfahrungsweisen des Geistes mit innerer Notwendigkeit und in stetem Zusammenhang mit seinem Boden hervor[ ]. Dies auch in Bezug auf die Hermeneutik nachgewiesen zu haben, ist Schleiermachers Verdienst.“ (XIV 724). Dil­theys Sicht ist innerhalb der neuesten Hermeneutik-Forschung bestätigt worden. So hat Gunter Scholtz jüngst festgestellt, dass „die Hermeneutik“ durch ihre Verklammerung mit Wissenstheorie und geisteswissenschaftlicher Strukturtheorie bei Schleiermacher „eine vormals kaum denkbare Aufwertung erfahren“7 habe. Zwar habe sie auch früher schon als Bestandteil der Formallogik fungiert, wie etwa mit Blick auf Dannhauer und Clauberg gezeigt werden könne:8 So wie die Logik das richtige Denken anleite, so verhelfe die Hermeneutik zum richtigen Verstehen des Gedachten anderer Personen. Damit sei aber noch keine konstitutive Funktion des Verstehens für den Prozess der Erkenntnisbildung behauptet worden, wie dies bei Schleiermacher der Fall sei.9 Die Hermeneutik habe dort auch noch nicht eigentlich am Geschäft der Wissenschaft Anteil ge5  Vgl. C. Plaul: Historik zwischen Aufklärung und Historismus. 6  Zu den technischen Wissenschaften vgl. auch XIV 713.

7  G. Scholtz: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, 6. 8 Vgl. ders.: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 107. Scholtz verweist dafür auf W. Alexander: Hermeneutica generalis. 9 Vgl. G. Scholtz: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 107, Anm. 17; ders.: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, 6.



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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nommen, sondern allenfalls eine vorbereitende bzw. – wie bei Chladenius – didaktische Aufgabe erfüllt.10

b.  Die Begründung der Polarität von Sprache und Autor Wie gesehen, habe die Hermeneutik durch Schleiermacher dadurch eine wissenschaftliche Aufwertung erfahren, dass sie nicht mehr bloß als Anhängsel der Logik betrachtet wird, sondern nunmehr als eine Disziplin zu stehen kommt, die sich für den gesamten Wissenschaftsaufbau als notwendig erweist. Das war die eine Seite von Dil­theys schon zitierter Feststellung: Bei Schleiermacher sei die Auslegungslehre ‚zum ersten Male im strengen Sinn des Wortes Wissenschaft‘ geworden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass diese Äußerung nicht auf den wissenschaftstheoretisch-enzyklopädischen Sachverhalt beschränkt ist, sondern darüber hinaus in eine weitere Richtung ausgezogen werden kann. Um diese Problematik in den Blick zu bekommen, gilt es daran zu erinnern, dass die Hermeneutik bei Schleiermacher nicht zuletzt im System der Ethik eine besondere Stellung erhalten hatte. Dil­theys These besteht nun darin, dass diese wissenschaftssystematische Einordnung auch Konsequenzen für den Aufbau der Auslegungslehre selbst besessen habe, da letztere durch jene Einordnung in ein inneres Verhältnis zur ethischen Grundlagentheorie gesetzt worden sei. So konstatiert er eine „Abhängigkeit der Hermeneutik von der philosophisch behandelten Geschichtswissenschaft“ (XIV 702). Diese „Unterordnung unter die philosophisch behandelte Geschichtswissenschaft“ (XIV 700) habe es Schleiermacher ermöglicht, einen bestimmten Grundaufbau der Hermeneutik zu konzeptualisieren, der sich zugleich als in einem tieferen Fundament begründet erweist, nämlich die Unterscheidung und Beziehung von Sprache und Autor. Dil­they rekonstruiert den eben genannten Begründungszusammenhang von Ethik und Hermeneutik bei Schleiermacher dabei in der Weise, dass er die Hermeneutik als „Antwort“ (XIV 696) auf ein bestimmtes Problem begreift, das sich im Rahmen der güterethischen Theorie ergebe. Der entscheidende Sachverhalt sei darin zu erblicken, dass für Schleiermacher „jeder Akt der Vernunft eine doppelte allgemeine Beziehung zu dem objektiven System der identischen Akte und zu dem subjektiven Zusammenhang der Eigentümlichkeit seines Urhebers habe“ (ebd.). Damit spielt Dil­they auf die eine der beiden Grundunterscheidungen an, mithilfe derer Schleiermacher die betreffende Sphäre menschlichen Vernunfthandelns strukturiert. Diese bereits an anderer Stelle geschilderte11 Problematik soll kurz in Erinnerung gerufen werden (1). Von hier aus wird auf Dil­theys Beurteilung zurückzukommen sein (2).

10  Vgl.

aaO., 6 f. dazu oben Abschnitt II.2.a.

11  Siehe

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

(1) Für Schleiermacher ist alles Handeln des Menschen eingespannt in den Gegensatz des Identischen und Individuellen. Dabei kommen beide Relate nicht in einem ausschließlichen Gegensatz zu stehen, sondern sind auf eine solche Weise unterschieden, dass jede der beiden Seiten auf der jeweils anderen mitgesetzt ist. So besitzt jedes identische Tun immer auch individuelle Momente, wie jedes eigentümliche Tun nicht ohne Bezugnahme auf Gemeinschaftliches auszukommen vermag. Nun stellen freilich auch sprachliche Produkte Resultate eines solchen Aktes dar. Folglich muss jener Sachverhalt auch auf sie zutreffen, so dass sie sich jeweils als aus identischen und individuellen Elementen zusammengesetzt erweisen. Der damit gegebenen Grundstruktur sprachlicher Gebilde hat freilich auch die Auslegungslehre Rechnung zu tragen. Denn insofern es ihr um die Bedingungen eines angemessenen Auffassens aller mündlichen und schriftlichen Rede zu tun ist, muss sie die allgemeinen Einsichten in deren konstitutiven Charakter in sich aufnehmen. Von werkbiographischen Entwicklungen und Modifikationen im Einzelnen einmal abgesehen, ist Schleiermachers Hermeneutik darum durch einen fundamentalen Gegensatz gekennzeichnet.12 Auf der einen Seite kommt die ‚technisch-psychologische Interpretation‘ zu stehen, auf der anderen Seite die ‚grammatische Interpretation‘. Während es jener um die Erfassung dessen zu tun ist, worin sich im auszulegenden Gegenstand die subjektive und individuelle Tätigkeit des jeweiligen Autors zeige, zielt diese auf die Betrachtung derjenigen Redeelemente, die durch die Aktualisierung der jeweils benutzten Sprache bedingt sind. (2) Dil­they zufolge ist diese hermeneutische Konzeption zu begreifen als die Anwendung der vernunfttheoretischen Differenz von ‚individuell‘ und ‚allgemein‘ auf eine Theorie der Reproduktion sprachlicher Gebilde. „Wir sehen, daß nach der Ethik die Aufgabe, welche die allgemeine Wissenschaft der Hermeneutik überliefert, als Ausgleichung des Identischen, das in der Sprache sich darstellt, mit dem Eigentümlichen zu fassen war, das in den synthetischen Elementen der Konstruktion liegt“ (XIV 706, Hvh. v. Verf.).13 Die Aufbaulogik der Hermeneutik erweist sich dadurch nicht nur formal, sondern auch inhaltlich der „Konstruktion der Ethik […] untergeordnet“ (XIV 693). Darum kommt ihre Abhängigkeit von der philosophisch-geschichtlichen Wissenschaft innerhalb der Hermeneutik darin zum „Ausdruck“, dass sie „von einem materialen Prinzip aus“ (XIV 702) behandelt wird. Und das „materiale Prinzip der Hermeneutik ist die Theorie der Nach12  Aus dem kaum noch zu überblickenden Feld der Untersuchungen zu diesem Thema seien nur einige klassische Darstellungen genannt: P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, 165 f.; H. Birus: Zwischen den Zeiten, 18. 23. 27 f. 30 f. 38; G. Scholtz: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 101–105. 113–118. 13  „Hieraus ergibt sich das Problem der Hermeneutik: es ist die Ausgleichung des Identischen oder Objektiven einer Rede, das in der Sprache und dem analytischen Denken liegt, und des Unübertragbaren, Individuellen, das in der freien Synthesis liegt“ (XIV 696).



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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konstruktion des Werkes aus der Sprache und der Individualität des Schriftstellers“ (XIV 707). Hinsichtlich des inneren Aufbaus seiner Hermeneutik erachtet Dil­they es also geradezu als Schleiermachers „Hauptverdienst“ (XIV 709), dass er jene Disziplin auf dem Fundament seiner güterethischen Konzeption errichtet habe. Aufgrund der dort aufgestellten „philosophisch-historischen Anschauung von Sprache und Geist“ (ebd.) habe er für die Auslegungslehre ein ganz neues Aufbauprinzip gewonnen, das darum dann zu einer „epochemachende[n] Leistung in der Geschichte der Philologie“ (XIV 701) geführt habe. Es sei allerdings daran erinnert, dass Dil­they Schleiermachers sprachphilosophisches Denken nur bedingt als geeignet angesehen hat, um der von ihm in Rechnung gestellten Bedeutung der Sprache gerecht zu werden.14 Auch diese Einschätzung Dil­theys ist innerhalb der neuesten Forschung zur Hermeneutik-Geschichte bestätigt worden. Dafür sei nochmals auf den bereits im vorigen Abschnitt herangezogenen Beitrag von Gunter Scholtz verwiesen. Darin werden – ganz ohne Blick auf Dil­they – die „Prinzipien: Autor und Sprache“15 im Blick auf Schleiermachers hermeneutikgeschichtliche Stellung untersucht. Zwar hätten beide Aspekte auch schon vor und zeitgleich mit Schleiermacher breite Beachtung gefunden. Für Schleiermacher charakteristisch sei aber deren Verklammerung in Form einer polaren Spannung. Diesbezüglich hält Scholtz fest: „Eine solche Polarität aber habe ich bisher weder in den Theorien der Aufklärung noch bei Friedrich Schlegel entdeckt, und auch nicht den Ehrgeiz, die gesamte Hermeneutik auf dem Verhältnis Autor – Sprache zu errichten“.16 Dass diese Polarität bei Schleiermacher in dessen Ethik grundgelegt wird, hat Scholtz bereits in einem früheren Text – ebenfalls unter Absehung von Dil­ they – herausgearbeitet.17

c.  Die Bedeutung individueller Produktivität Wie gesehen, erachtet Dil­they es als entscheidenden Fortschritt bei Schleiermacher, dass dieser die Hermeneutik in der konstruktiven Spannung von ‚grammatischer‘ und ‚technisch-psychologischer Interpretation‘ fundiert hat, um dann von hier aus ihren gesamten weiteren Aufbau zu entwickeln. Eine besondere Bedeutung dieser Konzeption erblickt er dabei nicht zuletzt darin, dass dem Sach-

9.

14  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.d. 15  G. Scholtz: Schleiermacher im Kontext

der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung,

16  AaO., 10. Damit korrigiert Scholtz seine einige Jahre zuvor gegebene Einschätzung, wonach jene bei Schleiermacher zu findende Polarität ideenschichtlich schon früher zu finden sei, vgl. ders.: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 489 f. 17 Vgl. ders.: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 107 ff.; ders.: Ethik und Hermeneutik, 133 ff.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

verhalt der Individualität des Autors auf elementare Weise Rechnung getragen wird. So habe Schleiermacher „den Gedanken der schöpferischen Individualität und dem entsprechend die Methode der synthetischen, auf die Form des Ganzen gerichteten Interpretation zuerst philologisch und hermeneutisch durchgeführt“ (XIV 709). Für die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs sei zunächst etwas zu den Aspekten der Schleiermacherschen Auslegungslehre gesagt, auf die Dil­ they sich bezieht (1). Sodann wird zu erwägen sein, warum er dem Einbau jenes ‚Gedankens‘ in die Hermeneutik eine solche Bedeutung beigemessen hat (2). Schließlich wird es um eine problemgeschichtliche Voraussetzung zu tun sein, auf der Schleiermacher in Dil­theys Augen aufruht (3). (1) Unableitbar-Individuelles spielt bei Schleiermacher bereits im Zusammenhang des Sprachverstehens eine entscheidende Rolle. So hat die grammatische Interpretation zwar die Aufgabe, eine Rede oder einen Text aus der jeweils herrschenden Sprache heraus zu ermitteln.18 Die Worte und ihre Verbindungen sollen unter der Perspektive aufgefasst werden, inwiefern sie als Ausdruck der materialen und formalen Bestandteile des betreffenden Sprachgebiets fungieren; und dabei soll der Ausleger sogar das ideale Ziel anpeilen, auf diesem Wege zu einem Verständnis der gesamten in Frage stehenden Rede zu gelangen.19 Entscheidend ist nun aber, dass er sogleich einschränkend festhält, dass dieses Ziel niemals absolut erreicht werden kann. Denn schon die Ermittlung eines konkreten ‚grammatischen‘ Sinns vermag nicht – zumindest nicht immer – allein in Form einer vergleichenden Ableitung aus dem Sprachganzen zu erfolgen, da jedes besondere Sprachvorkommnis immer auch Wendungen enthalten kann, die bis dahin noch gar nicht im gemeinschaftlichen Sprachschatz niedergelegt worden sind. In diesem Fall stellt das betreffende Sprachgebilde darum keine bloße Aktualisierung einer bestehenden Sprachstruktur dar, sondern fungiert als deren modifizierende Erweiterung. Da sich eine bloß vergleichende Ableitung hier als unzulänglich erweist, ist auch die grammatische Interpretation auf Divination angewiesen. Damit verweist sie gewissermaßen von innen heraus auf die andere Seite der ‚technisch-psychologischen Interpretation‘.20 Denn jene Neuerung kommt Schleiermacher zufolge dadurch zustande, dass ein individueller Autor den bestehenden Sprachkreis erweitert, indem er neue Inhalte und Verbindungen auffindet21  – die dann freilich wiederum zum sprachlichen Gemeingut werden können. Dil­they hat dies klar vor Augen, wenn er von Schleiermachers „philologische[r] Methode“ spricht, zwar „den Autor aus seinem Sprachgebrauch zu verstehen“, zugleich aber mit der „sprachschaffende[n] Gewalt der Einzelnen“ (XIV 753) zu rechnen. 18 Vgl. 19  Vgl.

F. D. E.  Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, § 5. aaO., § 8. 20  Vgl. aaO., § 9.2. 21  Vgl. aaO., § 6.2.



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Im Bereich der ‚technisch-psychologischen Interpretation‘ spielt die Betrachtung der Eigentümlichkeit des Autors dann die entscheidende Rolle. Sie gliedert sich in eine Mehrzahl einzelner Schritte. Von ihnen seien nur diejenigen genannt, die auch von Dil­they hervorgehoben werden. Zum einen gilt es, den Impuls zu ermitteln, der den Autor dazu bestimmt hat, eine Rede oder einen Text abzufassen. Schleiermacher bedient sich diesbezüglich der organologischen Metapher des ‚Keims‘22 bzw. des ‚Keimentschlusses‘23, wobei er deren Funktion vornehmlich im Blick auf schriftstellerische Werke beschreibt. Da die Entstehung derselben maßgeblich von jenem Grundimpuls abhängt, darf auch die Interpretation ihn nicht außer Acht lassen. Bei Schleiermacher gehört dieser Zusammenhang in den Bereich der psychologischen Auslegung im engeren Sinne24 und Dil­they verhandelt sie genau unter dieser Überschrift.25 Zum anderen ist es für Schleiermacher unerlässlich, dann auch den Fragen des individuellen Stils nachzugehen. Die Notwendigkeit dieses Auslegungsverfahrens ergibt sich für ihn nicht zuletzt aus dem sprachphilosophischen Sachverhalt, dass Denken und Sprechen unhintergehbar aufeinander zurückverweisen, so dass bei der Ermittlung dessen, was ein Autor sagen will, nicht davon abgesehen werden kann, wie er es sagt. Schleiermacher unterscheidet diesbezüglich dann die Betrachtung der Gegenstandsgenese (‚Meditation‘) von derjenigen der Darstellungsfindung (‚Komposition‘), wobei freilich beide nicht voneinander getrennt werden können. Das Ziel besteht darin, den genetischen Prozess nachzuvollziehen,26 in dem und durch den das vorliegende Werk entstanden ist. Wiederum unter Rückgriff auf Schleiermachers eigene Einteilung27 kommt Dil­they hierauf im Abschnitt: „Die technische Auslegung“ (XIV 782–785) zu sprechen. (2) Damit sind die wesentlichen Gesichtspunkte genannt, auf die Dil­they sich mit seiner Betonung des Individuellen bei Schleiermacher bezieht. Warum aber schreibt er der Beachtung desselben eine solche Bedeutung zu? Der grundsätzliche Sachverhalt besteht – zunächst – darin, dass schriftstellerische Werke – und im weiteren Sinne alle Produkte geschichtlichen Handelns – von konkreten Subjekten hervorgebracht werden. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie Wirklichkeitserfahrung niemals nur haben, sondern immer auch machen: Was der Einzelne wahrnimmt und wie er diese Wahrnehmungen verarbeitet, das ist ihm nicht einfach vorgegeben. Vielmehr kommt darin immer schon eine subjektive Perspektive zum Tragen, die durch spontane und kreative Prozesse ausgezeichnet ist. Das setzt sich freilich dort fort, wo das Individuum für sich und andere seine 22  F. D. E.  Schleiermacher: 23  AaO. 160 passim. 24 Vgl. 25 Vgl. 26 Vgl. 27 Vgl.

Hermeneutik und Kritik, 154 passim.

G. Scholtz: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 114 f.

XIV 780 ff. Vgl. auch XIV 783.

F. D. E.  Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 154. G. Scholtz: Hermeneutik, Kunst und Wissenschaft, 115 f.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Wirklichkeitsverarbeitung artikuliert. Auch darin ist es niemals restlos durch den historisch-kulturellen Zusammenhang oder die Sprachkonvention festgelegt, sondern modifiziert diese immer zugleich  – wenn auch in unterschiedlichem Grad und Ausmaß. Dil­they spricht diesbezüglich von der „produktive[n] oder umbildende[n] Gewalt des Geistes“ (XIV 705).28 Diesem Sachverhalt vermag die Auslegungslehre nur dann gerecht zu werden, wenn sie Autoren als Individuen begreift – und nicht gleichsam bloß als Agenten überindividueller Strukturen. Ein solcher Produktionsprozess ist – sodann – nicht durchgängig durch bewusste Intentionen des Autors gesteuert. Vielfach zeigt er sich durch psychische Prozesse bedingt, die letzterem als solche gar nicht bewusst werden. So habe die „Seele neben den willkürlichen auch unwillkürliche, neben den bewußten auch unbewußte Vorstellungen“ (XIV 707). Hierzu können Vorverständnisse zählen, wie sie einem Autor aus dem geschichtlichen Stand innerhalb seiner soziokulturellen Umwelt erwachsen. Daneben wäre aber auch an bestimmte Dispositionen innerhalb des individuellen Bewusstseinslebens des Autors zu denken. Insofern solche Faktoren den Erzeugungsvorgang mitbedingen, muss die Auslegung sie mitberücksichtigen. In diese Richtung interpretiert Dil­they dann auch Schleiermachers Verwendung der Formel des ‚Besserverstehens eines Autors als dieser sich selbst verstanden hat‘.29 Um den subjektiven Produktionsvorgang nachvollziehen zu können, ist es also unerlässlich, ihn in seiner Gesamtheit, d. h. unter Einschluss aller an ihm beteiligten mentalen Vorgänge des Autors, zu betrachten. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Auslegung schriftstellerischer Werke nicht ohne Beachtung der Korrespondenz von Form und Inhalt auszukommen vermag. Denn es gibt keine reinen Gedanken unabhängig vom sprachlichen Medium in dem sie artikuliert werden. Dafür steht die bereits bei Hamann und Herder aufgedeckte, dann auch von Schleiermacher übernommene Einsicht, dass ein Subjekt schon im ‚inneren Sprechen‘ seine Gedanken sprachlich formen muss, um sich die ihm vorschwebenden Gehalte fassbar machen zu können.30 Ist dieser Umstand schon auf der Seite der Produktion in Rechnung zu stellen, dann erst recht aufseiten der Reproduktion. Die Form kann vom Ausleger nicht übersprungen werden, will er nicht von vornherein Gefahr laufen, den Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Dil­they macht sich diese Einsicht zueigen, bringt sie aber nur indirekt zum Ausdruck, und zwar in Form einer Kritik an der „ältere[n] Periode“, die „[f]ast ohne Anschauung eines Zusammenhanges der Produktion“ (XIV 702) gewesen sei: „Sie behandelte ein Werk nur als eine Summe von Gedanken, die der Autor mitzuteilen beabsichtigt […]. Zusammenreihung und Sprache haben für den Autor nur das Interesse des Instruments. 28  Dies nicht erkannt zu haben, wirft Dil­they der Geschichtsauffassung der grammatischen und historischen Interpretation Ernestis, Keils und Eichstädts vor (vgl. ebd.). 29 Vgl. XIV 707 f. 30 Vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, 12. Siehe dazu oben Abschnitt II.2.b.



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Ist die Absicht erreicht, hat man die einzelnen Gedanken in sich, die der Autor übertragen wollte, so ist das Instrument überflüssig“ (XIV 702f). Dem gegenüber trägt die Theorie der psychologisch-technischen Interpretation dem Umstand Rechnung, dass zwischen Individuen immer eine letzte Kluft bleibt, so dass es keine einfache Übertragung gibt. Verstehen ist darum nur in der Art und Weise des Nachvollzugs der Gedanken- und Darstellungsproduktion möglich. Allerdings weist Dil­they auch kritisch daraufhin, dass diese Sichtweise Grenzen besitze und Schleiermacher in seiner philologischen Kritik zum Teil „nach einem übertriebenen Ideal von Form und Zusammenhang“ (XIV 737) gearbeitet habe. Auch hinsichtlich der These, Schleiermacher habe ‚den Gedanken der schöpferischen Individualität und dem entsprechend die Methode der synthetischen, auf die Form des Ganzen gerichteten Interpretation zuerst philologisch und hermeneutisch durchgeführt‘, findet in der neueren Hermeneutikgeschichtsforschung eine Bestätigung. Dafür sei ein letztes Mal auf Gunter Scholtz‘ bereits mehrfach herangezogenen Aufsatz zurückgegangen. So macht er darin deutlich, dass „[m]it Schleiermachers Betonung der Individualität des Sprachbenutzers als konstitutiver Kraft neben oder besser gegenüber der Sprache […] in seiner Hermeneutik eine neue Realitätsschicht entdeckt“31 worden sei. Freilich seien sich auch die Aufklärungshermeneutiker bereits der Individualität des Autors bewusst gewesen. Sie hätten sie aber vorrangig als Ursache von Beschränktheit der durch den Schriftsteller gebotenen Sichtweise aufgefasst. Korrespondierend dazu habe der Stil bis ins 18. Jahrhundert hinein in der Auslegungslehre eine untergeordnete Rolle gespielt, was seinen wesentlichen Grund in der Zuordnung der älteren Auslegungstheorien zur Logik gehabt habe. Auch in der Auseinandersetzung mit anderen Textgattungen als den bloß ‚vernünftigen Schriften‘ habe sich die Aufklärungshermeneutik schwer getan.32 Schleiermacher sei zwar nicht der Einzige, der zu jenen neuen Ufern aufgebrochen sei. In der Konsequenz seiner hermeneutischen Umsetzung rage sein Entwurf aber tatsächlich heraus. (3) Kommen wir nun zum dritten Problemkreis, d. h. zu Dil­theys problemgeschichtlicher Verortung Schleiermachers. Dil­they hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dessen Ansatz in einer Entwicklungslinie mit Lowth, Heyne und Herder steht,33 die sich alle schon in Richtung auf ein solches  – von Dil­they als „synthetische[ ], d. h. nachschaffende[ ] Auslegung“ (XIV 705) bezeichnetes – Verfahren befunden hätten. Allerdings hätten sie noch nicht vermocht, diesen Interpretationsansatz methodisch zu fassen, geschweige denn, ihn philosophisch grundzulegen. Dies sei erst durch Schleiermacher geleistet worden. Dazu sei er Dil­they zufolge aber nur deshalb in der Lage gewesen, weil er die Philosophie

12.

31  G. Scholtz: 32  Vgl.

Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung,

aaO., 13. dazu oben Abschnitt II.1.d. v.

33  Siehe

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Kants und Fichtes im Rücken gehabt habe.34 Erst mit deren Entdeckung der Subjektivität als letztem Prinzip aller Wirklichkeitsauffassung sei der Hermeneutik die Möglichkeit erwachsen, das von ihr ansatzweise bereits praktizierte Verfahren einer wissenschaftlichen Begründung zuzuführen. Die „Richtung auf synthetische Behandlung der Exegese erhielt aber erst in der Fichteschen Philosophie einen festen Ankerpunkt“ (XIV 706). Die ersten Bestrebungen, hieraus hermeneutisches Kapital zu schlagen, verbucht Dil­they allerdings nicht auf das Konto Schleiermachers, sondern verweist diesbezüglich auf Schlegel, bei dem sich bereits eine erste „Anwendung dieser Ideen auf Kritik und Philologie“ (XIV 670) finde. Aus der Begegnung mit ihm habe Schleiermacher dann auch entscheidende Impulse für sein eigenes hermeneutisches Denken erhalten.35 Dazu zählt Dil­ they ausdrücklich das von beiden ausgehende, von Schleiermacher schließlich allein durchgeführte Projekt der Platonübersetzung, in dem Letzterer seine neuen Ideen auf philologischem Gebiet zu erproben begonnen habe,36 ehe er sie dann auch in ersten hermeneutischen Entwürfen niedergelegt habe.37 Den allgemeinen Einfluss, den Fichtes Denken bei alledem besessen habe, hebt Dil­they nochmal eigens hervor, indem er gleichsam ausruft: „Glücklich jene Männer, denen es vergönnt war, von der großen philosophischen Entdeckung des produktiven Ichs aus […] die Hermeneutik zu begründen“ (XIV 689). Schleiermacher habe für die weitere Entwicklung der hermeneutischen Wissenschaft dann aber die wichtigere Rolle gespielt. Dil­theys Sicht von Fichtes Theorie des ‚produktiven Ichs‘ und ihrer konstruktiven Aneignung durch Schleiermacher sind bereits an anderer Stelle besprochen worden38 und brauchen hier nicht nochmals dargestellt zu werden. Wir beschränken uns ganz auf den hermeneutischen Aspekt. Als Beleg für seine Auffassung einer allgemeinen Prägung der Schleiermacherschen Auslegungslehre durch Fichte zieht Dil­they eine Äußerung Schleiermachers aus dessen Vorlesungsmanuskripten von 1805 und 1809/10 heran.39 Im Blick auf die Inter34  „Am Eingang aller Bestrebungen unseres Jahrhunderts, die auf die Wissenschaften des Geistes gerichtet sind, sehen wir gleich ehernen Toren Kants Kritiken und die Wissenschaftslehre Fichtes“ (XIV 669). 35  „[H]ier treffen wir auf das zweite Mittelglied zwischen Schleiermacher und den älteren hermeneutischen Systemen, wie Fichte das erste war. War Schleiermacher, wie sich sein philosophischer Standpunkt über Fichte hinaus ausbilde, aus diesem die ethische Notwendigkeit der hermeneutischen Tätigkeit als der Erklärung der fremden Individualität erwachsen, so trat ihm in Schlegel eine ausgebildete Methode der ästhetischen Auslegung entgegen, die auf dem Punkt stand, sich zu einer Theorie der Produktion auszubilden.“ (XIV 671). 36 Vgl. XIV 678–683. 37 Vgl. XIV 684–689. 38  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.c. 39  Dil­they spricht diesbezüglich vom „erste[n] Entwurf“ (XIV 685). Die Herausgeber des Bandes zur Hermeneutik innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe von Schleiermachers Werken verstehen unter ‚erstem Entwurf‘ aber nicht jene Vorlesungsmanuskripte, sondern bezeichnen damit einen davon nochmals zu unterscheidenden frühen Entwurf aus dem Jahr 1805, vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, 1. 35.



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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pretation stellt Letzterer darin die Forderung auf, „die Gedanken nicht als ein Objectives[,] als Sache, sondern als factum zu behandeln“.40 Dil­they bemerkt dazu lapidar, dass der „Zusammenhang der Fichteschen Wissenschaftslehre mit diesem hermeneutischen Prinzip der Konstruktion dem Kundigen sehr erkennbar durchscheint“ (XIV 686). Fichte hatte alles Bewusstsein als Ergebnis der Tätigkeit menschlichen Geistes aufgefasst: Innerhalb desselben vermöge nichts zu erscheinen, das sich nicht als Produkt geistiger Handlung erweisen ließe. Vor diesem Hintergrund interpretiert Dil­they nun das Schleiermachersche ‚factum‘ und die mit ihm verbundene Regel. Das besagt dann: Wie dem Menschen keine Wirklichkeit gegeben ist, die nicht durch seine eigenen mentalen Vollzüge vermittelt wäre, so müssen aller Ausdruck und alle Darstellung als Artikulationen subjektiver Tätigkeitsvollzüge angesehen werden. Indem Schleiermacher diese Konsequenz gezogen habe, sei ihm als Grundprinzip seiner Hermeneutik der Gedanke erwachsen: „Wesen der Interpretation ist Nachkonstruktion des Werkes als eines lebendigen Aktes des Autors“ (XIV 689). So sei es bei Schleiermacher zu einer „Verschmelzung der Theorie der Reproduktion und der der Produktion“ (XIV 675) gekommen. Die letzten beiden Zitate beziehen sich auf Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Aber so sehr seine Auslegungslehre im Zuge der Weiterentwicklung dann auch Erweiterungen und Modifikationen erfahren habe: Die Notwendigkeit, das Verstehen fremder Rede und Schrift auf einen Nachvollzug der ihnen zugrundeliegenden Tätigkeit zu bauen, habe Schleiermacher zeitlebens beibehalten. So gesehen kann Schleiermachers Hermeneutik in gewisser Hinsicht als Resultat der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes gelesen werden. Nachdem diese These Dil­theys in der Folgezeit zunächst breit rezipiert worden war,41 hat die neuere Hermeneutikgeschichtsforschung diesbezüglich Zweifel angemeldet. So wird zum einen herausgestellt, dass man „[t]ranszendentale Analyse oder Konstitution im strikten Sinne […] als hermeneutische Verfahrensweise bei Schleiermacher nicht nachweisen können“42 wird. Zum anderen wird darauf verwiesen, Dil­they „meinte nur den Ausgang vom produktiven Subjekt, ohne Rücksicht darauf, dass auch schon Theoretiker der Aufklärung die Hermeneutik vom Akt des Denkens und Sprechens her begründeten“.43 Dem gegenüber ist darauf hinzuweisen, dass die in der Preisschrift exponierte These, Schleiermacher ruhe in der Grundlegung seiner Hermeneutik-Konzeption auf kantisch-fichteschen Ideen auf, durchaus Rückhalt in Schleiermachers eigenen Ausführungen findet. 40  F. D. E.  Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, 7; vgl. bei Dil­ they: XIV 686. 41  Vgl. exemplarisch H.‑G. Gadamer: Hermeneutik, 425 f. 42  W. Hübener: Schleiermacher und die hermeneutische Tradition, 569. 43  G. Scholtz: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik, 4, Anm. 10.

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Diesbezüglich sei etwa an eine Feststellung im sogenannten ‚Entwurf‘ (1805) erinnert, in der er grammatische und technische Interpretation wie folgt voneinander unterscheidet: „Grammatisch. Die Rede verstehen als Zusammengeseztes aus der Sprache. Technisch Verstehen als Darstellung der Gedanken, zusammengeseztes durch den Menschen“.44 ‚Grammatisch‘ bedeutet hier so viel wie die Ermittlung der unterschiedlichen Elemente, ‚aus‘ denen sich eine Rede zusammensetzt. ‚Technisch‘ steht dafür, dass hinsichtlich der Art und Weise ihrer Zusammensetzung auf den Autor als diejenige Instanz zurück zu gehen ist, ‚durch‘ die jene Bestandteile in ihrer vorliegenden Einheit allererst verbunden worden sind. Es dürfte nicht zu viel behauptet sein, hierin eine Anwendung des kantisch-fichteschen Synthesis-Gedankens zu erblicken. Angesichts dessen lässt sich bei Schleiermacher also durchaus ein Theorieelement angeben, das sich auf transzendentalphilosophische Figuren beziehen lässt, auch wenn damit keine ‚transzendentale Analyse‘ im strikten Sinne vorgenommmen ist  – was Dil­they in der Weise ebenso nicht behauptet hat. Ob der Gedanke einer schöpferischen Synthesis des Autors in dieser Fassung tatsächlich vorher schon anzutreffen ist, wäre lohnenswert, genauer überprüft zu werden.

d.  Schleiermachers mangelnde historische Auslegung Wie sich bereits im Blick auf Dil­theys Besprechung von Schleiermachers allgemeinen philosophischen Grundlagen gezeigt hatte, dass er dessen Position nicht einfach affirmiert,45 so hat er sich auch im Blick auf dessen Auslegungslehre durchaus kritisch geäußert. Besonders akzentuiert findet sich seine Reserve in einem Tagebucheintrag ausgesprochen, den Dil­they zur gleichen Zeit abgefasst hat, in der er auch an der Preisschrift arbeitete. Hier ist zu lesen: „Auf dem philologischen Gebiet, für das sie Anfangs berechnet war, ist Schleiermachers Hermeneutik unantastbarer Kanon. Anders scheint es mit ihrer Anwendung auf das Neue Testament zu stehen“.46 Es geht Dil­they aber nicht allein um Fragen der Bibelauslegung, sondern letztlich ist das von ihm fokussierte Problem allgemeinerer Natur. So heißt es im direkten Anschluss weiter: Denn „[e]in anderes ist ein Kunstwerk, ein anderes eine historische Quelle“.47 Schleiermacher habe eine Auslegungslehre entwickelt, die zwar geeignet ist, die Interpretation philologischer bzw. künstlerischer Objekte zu begründen. Im Blick auf schriftliche Texte als historische Quellen bleibe sie hingegen äußerst unbefriedigend.48 Die wei44  F. D. E.  Schleiermacher:

Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, 54.

45  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.d. 46 C. Misch: Der junge Dil­they, 94. 47  AaO.,

95. Scholtz hat bereits darauf hingewiesen, dass es Dil­they in der Preisschrift nicht zuletzt um eine „wissenschaftliche Methodenlehre des historischen Verstehens und Auslegens“ zu tun gewesen sei, G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 478. 48  Gunter



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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tere Ausführung dieser – am Paradigma der Bibelauslegung erörterten – Kritik, findet sich dann in der Preisschrift. Dies sei im Folgenden gezeigt, wobei zuerst auf Dil­theys kritische Sicht eingegangen sei (1). Im Anschluss daran ist eine tiefer liegende Ursache in den Blick zu nehmen, durch die jenes Defizit Dil­theys zufolge bedingt ist (2). (1) Für Schleiermacher baut sich die Auffassung geschichtlicher Entwicklung nach Maßgabe der Unterscheidung relativ einheitlich verlaufender Geschichtsabschnitte (‚Perioden‘) und den jeweiligen Umbruchsphasen zwischen solchen Verlaufsganzheiten (‚Epochen‘) auf. Jede solche periodische Formation verdankt sich dabei letztlich einem unableitbar individuellen Ursprung, in dem die Bestandteile menschlicher Kultur und Gesellschaft in ein eigentümliches Arrangement gebracht werden und das Leben der entsprechenden Folgezeit dann grundlegend präfigurieren. Im Falle der Religionsgeschichte steht hierfür etwa Schleiermachers Behandlung der urbildlichen Wirkung der Person Jesu Christi. Dil­they zufolge könne in diesem Konstruktionsprinzip eine Fortsetzung der in der Ethik entwickelten Unterscheidung von Identischem und Individuellem gesehen werden. Denn jeder relativ einheitliche Geschichtsabschnitt steht für ein individuelles Ganzes, das sich von den vor und nach ihm liegenden Ganzheiten innerlich unterscheidet, wobei der einem jeden solchen Ganzen eignende Gemeingeist für die unter ihm versammelten Teile wiederum als Identisches fungiert. Dem hält Dil­they nun aber kritisch entgegen: Im Blick auf „die Entwicklung der Formen und die Entwicklung der Ideen […] ist die Alternative – entweder identische Produktion oder synthetische Bildung aus der Individualität – durchaus falsch“. Denn „[a]uf jeder Stufe ist eine Fülle von synthetischen Elementen, die eine neutrale Basis jedes Prozesses für den einzelnen bilden“ (XIV 722). Die Unangemessenheit eines solchen Rekonstruktionsmodells von Geschichte erörtert Dil­they anhand von Schleiermachers religionsgeschichtlicher Betrachtung des Christentums. Schleiermacher war es bekanntlich darum zu tun, die Originalität jener Frömmigkeitsgestalt zu betonen, weswegen er die rückwärts weisenden Kontinuitätslinien zum Judentum in den Hintergrund treten lässt. Dil­they verweist darauf, wenn er festhält, „daß Schleiermacher zwar den Zusammenhang des Christentums mit den Zeitbegriffen als einen Gegenstand der Untersuchung hinstellt, aber so sehr die Beziehung desselben zu dem ganzen Verlauf alttestamentlicher Offenbarung abschneidet, daß er in seiner ‚Kurzen Darstellung‘ der Geschichte des Alten Testaments und seiner Theologie an keiner Stelle Erwähnung tut“ (XIV 732). Dil­they überzeugt dieses Vorgehen indes nicht. Zwar will auch er nicht etwa für ein Geschichtsmodell plädieren, demzufolge jede geschichtliche Erscheinung allein aus übergeordneten Bewegungen und Formationen abzuleiten wäre. Eine solche Auffassung hatte er mit Blick auf die traditionelle Form der ‚historischen Interpretation‘ ja gerade gerügt und ihr gegenüber

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II.  Der philologische Entdeckungszusammenhang der Verstehensproblematik

Schleiermachers Entdeckung der Bedeutung der ‚schöpferischen Individualität‘ zur Geltung zu bringen gesucht. Letzterer neige dann aber dazu, persönliche oder kollektive Individualität in der Weise überzubetonen, dass darüber die geschichtliche Kontinuität keine hinreichende Würdigung mehr erhält. Aber „die Stellung Christi zu den früheren Stufen und den auf diesen gebildeten Gegensätzen, die in Christi Zeit hineinreichen“, könne doch nur aus jener Geschichte des Alten Testaments und seiner Theologie wirklich „erkannt werden“ (ebd.). Deshalb hätte „das Alte Testament mit dem Neuen in der Hermeneutik verbunden werden müssen“ (XIV 733).49 Allgemeiner betrachtet besteht der „Mangel seiner [sc. Schleiermachers] Hermeneutik“ darin, „daß diese […] unfähig“ ist, „die stetige Entwicklung der Ideen und Tatsachen in Geschichte und Offenbarung zu erfassen“ (XIV 736). Diesbezüglich sei de Wette vor Schleiermacher der Vorzug zu geben.50 (2) Den eigentlichen Grund dafür, dass Schleiermachers eben genannte Forderung nicht habe erfüllen können, weist Dil­they zufolge auf dessen ethisch-philosophische Grundlegung der Geschichte zurück. Das Ungenügen der Schleiermacherschen Behandlung der Geschichte ist so gesehen eine „Folge der aus der Ethik überkommenen Grundkonstruktion […]. Denn diese hat keinen Raum für den Verlauf der historischen Entwicklung. Und indem in der Tat alles Geschehene unter das Schema von Eigentümlichkeit und des Identischen fällt, entsteht freilich […] der Schein der Genügsamkeit desselben“ (XIV 778). Genauer betrachtet hat Dil­they hier die Art und Weise, wie Schleiermacher den Gegensatz individuell/identisch auf das Gebiet der Historie anwendet, vor Augen. Zwar hatte Dil­they der Konkretion dieses Gegensatzes in Form der Unterscheidung von Autor und Sprache eine große Leistungskraft bescheinigt. Und für die philologische Auslegung im engeren Sinne habe Schleiermacher darin das unübertroffene Muster geliefert. Im Blick auf die Interpretation historischer Quellen hingegen seien „die Gegensätze des Identischen und Eigentümlichen zu leer und allgemein […] für den konkreten Inhalt der Geschichte“ (XIV 733).51 Stellt man neben dieser Kritik den Sachverhalt mit in Rechnung, dass der junge Dil­they sich in geradezu emphatischer Weise zum Geschichtsdenken Ferdinand Christian Baurs bekennen konnte,52 so ist der Einschätzung von Jan Rohls vollkom49  Vgl.

dazu auch J. Rohls: Schleiermachers Hermeneutik, 52–55. dazu oben Abschnitt II.1.d.vi. 51  Vgl. auch XIV 722. 736. 52  In der Preisschrift tut er dies eher am Rande, vgl. XIV 635. 736 f. – wobei er Baur zugleich den Vorwurf macht, die von Schleiermacher zurecht herausgestellte Bedeutung der Individualität nicht gebührend beachtet zu haben, vgl. XIV 729, Anm. 8. Etwas später (1865) hat er ihn dann in einer eigenen kleinen Studie gewürdigt, vgl. XIV 403–432. Darin findet sich auch die inzwischen häufiger zitierte Äußerung: „Das Verständnis der Religion in dem Ganzen der moralischen Welt verdanken wir Schleiermacher. Das Verständnis des Christentums in dem Ganzen der Geschichte Baur“ (IV 432). 50  Siehe



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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men zuzustimmen: es zeige sich, dass Dil­they „in seiner eigenen Hermeneutik in einem ganz anderen Maße als Schleiermacher dem historischen Denken verpflichtet ist, wie es sich in der Schule Hegels ausgebildet hatte“.53

53 Vgl.

J. Rohls: Schleiermachers Hermeneutik, 55.

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion Im ersten Teil der Arbeit haben wir Dil­theys Darstellung der Genese neuzeitlicher Hermeneutik rekonstruiert. Dabei lässt sich eine Reihe von Grundgedanken identifizieren, die für seine weitere Entwicklung von Bedeutung bleiben sollten. Sechs Punkte sind diesbezüglich hervorhebenswert: Erstens, noch diesseits explizit verstehenstheoretischer Erwägungen ist an seine Würdigung der Philosophie Kants und insbesondere Fichtes zu erinnern.1 Zwar hat Dil­they sich später vielfach von Kant und der auf ihn aufbauenden klassischen deutschen Philosophie distanziert. Auf einer tieferen Ebene bleibt er ihnen aber verpflichtet.2 Wie zu zeigen sein wird, spielt nicht zuletzt Fichte eine bleibende Rolle.3 Der zweite Punkt besteht in Schleiermachers konstellationstheoretischem Modell von Individualität.4 Dil­they hat es sich zueigen gemacht und zeitlebens daran festgehalten.5 Drittens ist der Gedanke einer inneren Beziehung von Philosophie und Geschichte zu nennen.6 In seiner Kritik an Schleiermacher – dieser vermöge dem Umstand geschichtlicher Entwicklung nicht hinreichend gerecht zu werden – zeigt sich schon früh ein hegelsches Motiv bei Dil­they.7 Im Blick auf seine Theorie des Verstehens ist, viertens, ein Umstand aus dem Kontext von Dil­theys HerderBesprechung hervorzuheben.8 Er betrifft die dort geltend gemachte Differenz zwischen dem ‚Geist eines Werkes‘ und dem ‚Geist, aus dem es hervorgegangen ist‘. Wenn Dil­they später zwischen einem „Vorgang des Verstehens und Nacherlebens […], wie ihn der Dichter in ihm hervorbringen will“ und einem „Verstehen […], in dem das Verhältnis zwischen einer Schöpfung und dem Schaffen1  Siehe dazu oben die Abschnitte 2 Darauf hat schon hingewiesen

II.2.c und II.3.c. E. Troeltsch: Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie, 432. 448. 3  Siehe dazu unten die Abschnitte III.1.a–b. 4  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.c. 5  Vgl. Dil­theys 1894 veröffentlichte Ideen, in denen er an einer Stelle festhält: „Individualitäten unterscheiden sich nicht voneinander durch das Vorhandensein von qualitativen Bestimmungen oder Verbindungsweisen in der einen, welche in der anderen nicht wären […]. Aber die quantitativen Verhältnisse, in denen sie sich darstellen, sind sehr verschieden voneinander“, V 229; vgl. auch VII 213. 6  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.a. 7  Siehe dazu oben Abschnitt II.3.d. 8  Siehe dazu oben Abschnitt II.1.d. v.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

den herrscht“ (VII 212) unterscheidet, so ist diese Einsicht in ihrer grundlegenden Struktur bereits beim frühen Dil­they präsent. Fünftens ist das von Dil­they in seiner Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) hervorgehobene9 nicht-psychologische Verstehen überindividueller Ausdrucksgebilde10 schon in der Preisschrift zu finden. Es ist im Rahmen der dort erfolgenden Auseinandersetzung um die Frage einer angemessenen Auslegung der Bibel als ganzer zu erblicken.11 Sechstens schließlich ist auf das Verhältnis von Preisschrift und Hermeneutik-Aufsatz (1900) einzugehen: Die in ihr gegebenen grundlegenden Einschätzungen bleiben in ihm erhalten – trotz gewisser Modifikationen.12 Insbesondere die Hervorhebung des Zusammenhangs von Schleiermachers Hermeneutik mit der Transzendentalphilosophie13 wird man als Fortschreibung seiner Überzeugung von der Bedeutung kantisch-fichtescher Philosophie für die neuere Hermeneutik ansehen können. Der im Kontext der Preisschrift behandelte Verstehensbegriff war allerdings vornehmlich auf die Erfassung des Sinns schriftlicher Texte bezogen. In seinem späteren Werk hat Dil­they jenen Begriff erheblich ausgeweitet und letztlich auf allen Feldern seines Denkens zur Anwendung gebracht. Auf die Frage, was ihn zu jener Ausweitung veranlasst hat, kann an einen problemgeschichtlichen Kontext erinnert werden. Bereits Johann Gustav Droysen hatte im Blick auf die Geschichtswissenschaft die grundlegende Einsicht formuliert, die der Geschichte eigentümliche Methode der Wissenserzeugung sei im Vollzug von Deuten, Interpretieren bzw. Verstehen zu erblicken.14 Den Gegensatz hierzu bilde das nach mathematischen Gesetzmäßigkeiten erfolgende Erklären.15 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Dil­they in der Entwicklung seiner eigenen Verstehenskonzeption von Droysen entscheidende Impulse empfangen hat.16 Angesichts dessen scheint Dil­they prima facie lediglich Epigone Droysens zu sein. Er hat seine Verstehenstheorie dann aber durchaus eigenständig und auch kritisch weiterentwickelt. So hat er die Methode des ‚Erklärens‘ nicht allein im Blick auf die naturwissenschaftliche Wissensbildung, sondern auch im Bereich der Geisteswissenschaften 9 Vgl.

VII 85.

10  Hierfür

verweist er exemplarisch auf Rudolf von Iherings Der Geist des römischen Rechts (1852–1865), vgl. VII 85. Auf Ihering und dessen genanntes Werk kommt Dil­they übrigens auch in der Einleitung schon zu sprechen, vgl. I 21. 59 f. 11  Siehe dazu oben Abschnitt II.1.vi. 12  Dil­they greift nun bis in die Antike zurück und verändert Anzahl und Arrangement der behandelten Autoren etwas, vgl. dazu G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 487–491. 13 Vgl. V 327. 14 Vgl. J. G. Droysen: Historik. Rekonstruktion, 11. 22 passim. 15  Vgl. aaO., 431. 16 Zum problemgeschichtlichen Verhältnis Droysen/Dil­ they  – auch im Blick auf die darin enthaltenen Differenzen – vgl. H.‑U. Lessing: Das Wahrheitsproblem im Historismus; J. Thielen: Wilhelm Dil­they und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, 219 f.



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

117

in Rechnung gestellt.17 Zum anderen hat er die Verstehensproblematik, wie gesagt, weit über den geschichtstheoretischen Bereich hinaus erweitert – worin er auch durch seinen Lehrer August Boeckh18 mit beeinflusst sein dürfte.19 Ehe wir gleich einen Überblick über die folgenden Unterkapitel geben werden, seien vorwegnehmend zwei grundlegende Aspekte von Dil­theys Verstehenstheorie genannt. Zum einen ist ‚Verstehen‘ für Dil­they nicht eineindeutig fixiert, sondern stellt eine verschiebliche Kategorie dar: In einem engen Sinne steht der Begriff für Auffassungsleistungen innerhalb der geschichtlich-kulturellen Sphäre; in einem weiten Sinne kann Dil­they letztlich alle Wahrnehmungsvollzüge als Verstehens- bzw. Deutungsakte beschreiben. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Dil­they zwischen ‚Deuten‘, ‚Interpretieren‘ und ‚Auslegen‘ auf der einen sowie ‚Verstehen‘ auf der anderen Seite nicht wirklich unterscheidet. Dies ist nicht einfach als Unterlaufen des Problembewusstseins der Aufklärungshermeneutik zu begreifen.20 Vielmehr steht es für die positive Einsicht, dass ‚Verstehen‘ keinen abgesonderten Zustand beschreibt, sondern nur innerhalb des Prozesses interpretativen Konstruierens ent- und besteht. Ähnlich hatte schon Schleiermacher den Unterschied zwischen Verstehen und Interpretation relativiert. Dies ist bereits in dem Manuskript zu den Kollegien 1805 und 1809/10 zu greifen,21 das auch Dil­they in der Preisschrift herangezogen hatte. In letztgenannter Schrift hat Dil­they Schleiermacher nachweislich auf diese Weise dargestellt.22 Was nun den Aufbau des zweiten Teils dieser Arbeit betrifft, so wird der Ausgangspunkt durch einen Abschnitt zu Dil­theys Erkenntnistheorie gebildet (III.1). Zu ihrer Ausarbeitung hatte sich Dil­they veranlasst gesehen, weil er eine tiefgreifende inhaltliche und methodische Unsicherheit aufseiten der nicht mit der Natur befassten Wissenschaften diagnostizierte. Diese Unsicherheit war seines Erachtens nur auf dem Wege einer erkenntnistheoretischen Grundlegung aufzuheben,23 was bei ihm schon früh entsprechenden Untersuchungen veranlasste. Dil­theys Verstehensbegriff von hier aus zu rekonstruieren, legt sich von daher nahe, als alle Wirklichkeitserschließung von den in jener Grundlegung formu17  Siehe dazu unten Abschnitt III.4.a.ii. 18 Vgl. G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und

die Entstehung der Hermeneutik, 472. Boeckh findet sich ebenso ein weiter Verstehensbegriff, der etwa auf die Erschließung von Handlungen und Institutionen angewendet wird, vgl. G. Scholtz: Schleiermacher im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik-Entwicklung, 7; für eine breitere Darstellung der Position Boeckhs in verstehenstheoretischer Perspektive vgl. J. Wach: Das Verstehen, Bd. 1, 168–226. 20  Diese hatte ‚Verstehen‘ bekanntlich als das Ergebnis von ‚Auslegung‘ verstanden. 21  So ist etwa die Rede von „Maximen beim Verstehen“ oder davon: „ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann“. Auch von „Verstehn nach […] Maxime[n]“ kann Schleiermacher sprechen, vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, 6. 22  „Das Auslegen unterscheidet sich vom Verstehen durchaus nur wie das laute Reden von dem inneren Reden.“ (XIV 724). 23  Vgl. dazu H.‑U. Lessing: Die Idee der Kritik der historischen Vernunft. 19  Bei

118

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

lierten Einsichten betroffen sein muss. Darüber hinaus bringt er in diesem systematischen Zusammenhang jenen weiten Verstehensbegriff zur Geltung, wonach Erkennen überhaupt als ein Verstehensvorgang anzusehen sei. Etwas zugespitzt formuliert: Die Erkenntnistheorie bietet Grundlegung und Anwendung der Verstehensproblematik zugleich. In Dil­theys Ausführungen dominiert freilich zumeist ein engerer Verstehensbegriff, der für die Auffassungsleistungen innerhalb des Bereichs von Kultur und Gesellschaft reserviert ist. So hat Dil­they etwa im Studium festgehalten: „Alle Tatbestände in ihr [sc. der Gesellschaft] sind uns verständlich […] Denn unsere Welt ist die Gesellschaft, nicht aber die Natur. Die Natur ist uns stumm“ (V 61). Wie gesagt kann Dil­they dabei auch innerhalb des geschichtlich-gesellschaftlichen Bereichs nochmals zwischen ‚Verstehen‘ und ‚Erklären‘ differenzieren. Den exemplarischen Fall, anhand dessen er sich die Vollzugsstrukturen solchen Verstehens grundlegend klar gemacht hat, ist im Interpersonalitätsverstehen zu erblicken.24 In diesem Zusammenhang arbeitet er zudem auch den konstitutionstheoretischen Sachverhalt heraus, dass alle Leistungen reproduktiven Verstehens entsprechende Ausdrucksphänomene voraussetzen, anhand derer sie überhaupt erst erbracht werden können. Dieser Problemzusammenhang ist das Thema des zweiten Abschnitts (III.2). Bei alledem zeigt Dil­they von Anfang an eine große Sensibilität für die intersubjektive Verwobenheit menschlichen Lebens, was sich in vielfältigen Ausführungen zur Bedingtheit des Einzelnen durch Gesellschaft und Kultur niederschlägt. Dies hat Konsequenzen für Ausdrucksbildung und Verstehensvollzug, die folglich beide nicht unter Absehung ihrer soziokulturellen Einbettung hinreichend bedacht werden können. Im Rahmen der Theorie des Interpersonalitätsverstehens wird dieser Sachverhalt vorausgesetzt. Im dritten Abschnitt soll er als solcher eigens betrachtet werden (III.3). Der Bearbeitung historiographischer Fragen hat Dil­they eine herausragende Bedeutung zuerkannt. In seiner Einleitung kommt dies insofern zum Ausdruck, als das erste Buch in der Auseinandersetzung mit der idealistischen Geschichtsphilosophie und der positivistischen Soziologie sein Abschluss findet,25 diese Auseinandersetzung aber auf der Grundlage einer Theorie nachidealistischer Geschichtsschreibung geführt wird. Klarer zeigt es sich im Manuskript seiner Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (Berlin 1883). Hier markiert die Geschichtswissenschaft im wissenschaftsenzyklopädischen Aufriss – nach Psychologie/Ethnologie, Kulturwissenschaften und Sozialwissenschaften – als „[v]ierte Gruppe der Geisteswissenschaften“ (XX 164) geradezu den Höhe24  Auch von hier aus ergibt sich eine gewisse Nähe zu Droysen, der ebenfalls hervorgehoben hatte: „Unser historisches Verstehen ist ganz dasselbe, wie wir den mit uns Sprechenden verstehen“, J. G. Droysen: Historik. Vorlesungen, 25. 25 Vgl. I 85–120.



3.  Dil­theys Einschätzung der Begründung der Hermeneutik durch Schleiermacher

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punkt des Ganzen. Dieses Arrangement ist darin begründet, dass das „Verständnis jedes Teils von Geschichte“ (I 94) bzw. das „Verständnis der geschichtlichen Entwicklung“ (I 254)26 für Dil­they die Wirklichkeitsauffassung mit dem höchsten Konkretionsgrad darstellt. Auch und gerade der Aufbau solch konkreten Wissens ergibt sich freilich nicht auf unmittelbare Weise, sondern bildet das Resultat vielfältiger Deutungsleistungen des historiographischen Erkenntnissubjekts. Dies vorzuführen ist das Ziel des vierten Abschnittes (III.4). Mit Erkenntnispsychologie, Interpersonalitäts- sowie Kultur- und Geschichtstheorie sind wesentliche Felder beschrieben, auf denen Dil­they seine Verstehenskonzeption entwickelt hat. Bereits im Zusammenhang der erkenntnispsychologischen und der kulturtheoretischen Dimension erarbeitet er dabei im Ansatz den grundlegenden Sachverhalt, dass Verstehen sich nicht nur in reproduktiver, sondern dass es sich auch in produktiver Weise vollziehen kann.27 Mit letzterer ist eine solche Wirklichkeitsauffassung gemeint, durch die das Subjekt nicht einen individuell oder kulturell artikulierten Sinn deutend erschließt, sondern allererst ursprünglich verleiht. Diejenigen Bereiche, anhand derer Dil­they solche Sinnstiftungsleistungen vornehmlich rekonstruiert hat, sind die Wirklichkeitsbetrachtungen von Kunst und Religion. Schon in seiner Poetik (1887) spricht Dil­they diesbezüglich von einer „Interpretation des Lebens“ (VI 237), deren Proprium – gegenüber anderen produktiv-verstehenden Vollzügen  – darin besteht, dass sie eine „ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens“ (ebd.) erbringt. Dies im Blick auf das Phänomen Religion zu erarbeiten, wird Ziel des fünften Abschnittes sein (III.5).

26  In einem Manuskript aus dem Umfeld des Aufbaus heißt es parallel: „Überall da, wo Leben vergangen ist und zum Verständnis kommt, ist Geschichte“ (VII 255). 27  Mit der begrifflichen Unterscheidung von ‚reproduktivem‘ und ‚produktivem Verstehen‘ orientiere ich mich an M. Jung: Hermeneutik, 17 ff.

1.  Die erkenntnispsychologische Basis In der Vorrede dner Einleitung beschreibt Dil­they sein erkenntnistheoretisches Programm wie folgt: Es geht darum zu zeigen, dass „alle Erfahrung […] ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins [hat], innerhalb dessen sie auftritt […] Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen […] als den erkenntnistheoretischen“ (I XVII). Dil­they ist es demnach um die Ausarbeitung einer solchen Position zu tun, die auf der neuzeitlich-modernen Einsicht aufruht, dass der Mensch Wirklichkeit nur so zu erkennen vermag, wie sie ihm in Form der eigenen mentalen Gehalte und Prozesse erscheint.1 In bestimmter Hinsicht beansprucht er allerdings, den bisherigen erkenntnistheoretischen Entwicklungsstand zu überschreiten. Diesen Überschritt veranschlagt er darin, die Rekonstruktion des mentalen Aufbaus von Erfahrung nicht allein im Blick auf die Sphäre des Kognitiven vorzunehmen, sondern auch die emotive und volitionale Dimension des Bewusstseinslebens konstitutiv mit in Rechnung zu stellen. „Und so ergibt sich: die wichtigsten Bestandteile unseres Bildes und unserer Erkenntnis der Wirklichkeit, wie eben persönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuum außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung, sie alle können aus dieser ganzen Menschennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat.“ (I XVIII). Wie zu zeigen sein wird, ergibt sich für Dil­they von hier aus die Konsequenz, Erkenntnistheorie als Erkenntnispsychologie zu begreifen. Die Rekonstruktion des damit avisierten Programms sei im Folgenden nach vier Gesichtspunkten perspektiviert. Das Thema des ersten Abschnitts bildet Dil­theys Aufweis, dass dem Subjekt keine Wirklichkeit unabhängig von seinen eigenen Bewusstseinsvollzügen gegeben ist (a). Im zweiten Abschnitt ist zu fragen, wie Dil­they vor diesem Hintergrund erklären kann, dass Bewusstseinsleben sich überhaupt in Selbst- und Außenweltbewusstsein differenziert (b). Der dritte Abschnitt ist der Problematik des kategoriengeleiteten Erfahrungsaufbaus gewidmet, der mit der der Einsicht in die Subjektivität aller Wirklichkeitsauffassung zusammenhängt (c). Schließlich

1  Dabei hebt er die prinzipielle Kontinuität seines Ansatzes zur neueren Erkenntnistheorie ausdrücklich hervor, vgl. I XVIII.



1.  Die erkenntnispsychologische Basis

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wird es um deren grundlegenden epistemischen Status gehen, den Dil­they als ein Deutungswissen bestimmt (d).

a.  Die Phänomenalität der Wirklichkeit Ehe wir uns der systematischen Rekonstruktion des fraglichen Problems widmen wollen, soll eine kurze Bemerkung dazu vorgeschaltet werden, an welcher Stelle von Dil­theys werkbiographischer Entwicklung wir den Einstieg nehmen. Dafür sei nochmals auf die Vorrede zur Einleitung zurückgegriffen. Im selben Kontext der eingangs zitierten Äußerung heißt es: „Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken.“ (I XVII, Hvh. v. Verf.). Mit seinem Verweis in die Vergangenheit deutet Dil­they an, dass er sich die Grundzüge seiner entsprechenden Auffassung bereits klar gemacht hatte, als er an die Abfassung jener Schrift ging. Das bestätigt auch eine Äußerung in einem Brief an Wilhelm Scherer aus dem Jahre 1882, also ein Jahr vor Erscheinen letztgenannten Werks: In ihr gibt Dil­they zu verstehen, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht nur mit einer baldigen Veröffentlichung des zweiten Bandes rechnete, der laut Selbstauskunft in der Vorrede eben auch die „eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften“ (I XIX) enthalten sollte; darüber hinaus betrachtet er diese Grundlegung bereits sogar als weitgehend abgeschlossen.2 Sucht man sich ein Bild seines epistemologischen Standpunktes zu machen, wie er den Ausführungen der Einleitung zugrunde liegt, so sieht man sich demnach genötigt, auf entsprechende Arbeiten zurück zu greifen, die letztgenannter Schrift werkgenetisch voraus liegen.3 Seit dem Erscheinen von Band neunzehn der Gesammelten Schriften Dil­theys sind dessen betreffende Vorarbeiten – deren elaboriertestes Manuskript die sogenann2  „Ich bin bei Correktur von Bogen 22. Der zweite Band, der ja zuerst geschrieben wurde, geht auch in einzelnen Parthien voran u. ich darf hoffen, daß sein Druck künftigen Winter fertig gestellt werden kann.“ (W.  Dil­t hey: Briefwechsel, 885, Hvh. v. Verf.). 3 Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass Dil­ they sein mehrteiliges wissenschaftsphilosophisches Gesamtunternehmen niemals fertig gestellt hat (vgl. H.‑U. Lessing: Die Idee der Kritik der historischen Vernunft) und jener zweite Band unveröffentlicht geblieben ist. In den verschiedentlich entworfenen Prospekten variieren daher sowohl die Gesamtzahl der veranschlagten Einzelbücher, aus denen sich die Philosophie der Geisteswissenschaften zusammensetzen sollte, als auch die Zuweisungen der verschiedenen Themenkomplexe. Als konstant erweist sich lediglich die Aufteilung in zwei Bände, deren erster mit dem Erscheinen der Einleitung (1883) abgeschlossen vorlag und die ersten beiden Bücher enthielt. Hier sucht Dil­they einerseits eine „Übersicht über die Einzelwissenschaften des Geistes“, andererseits die „Geschichte des philosophischen Denkens, das nach festen Grundlagen des Wissens sucht[,]“ (I XIX) zu entwickeln. Teile des avisierten Gesamtprogramms hat Dil­they später in Form einzelner Studien realisiert. So hat die neuere Dil­they-Forschung zeigen können, dass Dil­theys geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Aufsätze aus den 1880er und 1890er Jahren, die später im zweiten Band der Gesammelten Schriften abgedruckt wurden, zusammengenommen als Realisierung des dritten, geschichtlich ausgerichteten Buchs angesehen werden können, vgl. dazu: H. Johach/F. Rodi: Vorbericht der Herausgeber, XXXVII–XLIV.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

te Breslauer Ausarbeitung bildet – zugänglich geworden. Seitdem ist es möglich, nachzuvollziehen, was Dil­they in der eingangs zitierten Feststellung vor Augen steht.4 Die programmatischen Hauptzüge von Dil­theys Erkenntnistheorie seien daher im Folgenden vor allem mit Blick auf jene Ausarbeitung sowie die in ihrem Umfeld entstandenen Manuskripte geschildert. Damit wird nicht etwa bloß ein früher Ansatz in den Blick genommen, den Dil­they später einfach fallengelassen hätte. Das zeigt sich nicht zuletzt schon daran, dass er im Aufbau die prinzipielle Kontinuität zu seiner in der Einleitung vorausgesetzten Auffassung – wie sie durch die Stichworte: ‚innere Erfahrung‘, ‚Tatsachen des Bewußtseins‘, ‚Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft‘ sowie den ‚Bedingungen unseres Bewußtseins‘ bezeichnet ist – ausdrücklich hervorgehoben hat.5 Wie bereits angedeutet, hat Dil­they seine Erkenntnistheorie nicht in eine geschlossene Darstellung überführt. Stattdessen hat er immer wieder neu angesetzt und sowohl unterschiedliche Einstiege als auch Durchführungen erprobt. So ist auch die Breslauer Ausarbeitung nicht aus einem Guss, sondern weist analoge Spannungen auf. Gleichwohl ist es nicht so, dass Dil­they keine Grundanschauung davon besessen hätte, wie er die Problematik prinzipiell anzugehen gedachte. Dagegen spricht bereits jene eingangs zitierte Äußerung aus der Vorrede zur Einleitung. Allerdings gelangte er in der Explikation seiner zentralen Intention niemals zum Abschluss. Seine Ausführungen sind daher von einem tentativen Charakter, was eine Rekonstruktion derselben erschwert. Um einen einigermaßen sicheren Zugang zu gewinnen, setzen wir mit der Erläuterung seiner methodischen Grundentscheidung ein, seine Erkenntnistheorie als Erkenntnispsychologie durchzuführen. Als Fundierungswissenschaft wählt Dil­they die Psychologie bzw.  – in partiellem Anschluss an Brentano – eine „deskriptive[ ] Psychologie“ (XIX 45). Der maßgebliche Grund hierfür verdankt sich einer erkenntniskritischen Beobachtung. Vor dem Hintergrund der skeptizistischen Infragestellung jeglicher objektiver6 und subjektiver7 Realität legt Dil­they sich die Frage vor, ob und wenn ja, auf welche Weise zu der Überzeugung gelangt werden könne, dass es etwas Wirkliches gibt, das nicht von vornherein durch eine radikale Skepsis rundheraus in Zweifel gezogen werden könne. Dil­they zufolge lässt sich jene Frage durchaus bejahen, und zwar sei dies dadurch möglich, dass man auf die mentalen Akte und Gehalte des „bewussten Leben[s]“ (XIX 49) verweist, wie sie jedes Subjekt aus der ersten-Person-Perspektive kennt. Mithilfe eines von Reinhold stammenden

4  Vgl. auch M. Jung: Dil­they zur Einführung, 40: „Die erkenntnistheoretischen Erwägungen, auf denen die Argumentation der Einleitung basiert, werden in der Breslauer Ausarbeitung ausführlich entwickelt“. 5 Vgl. VII 117. 6 Vgl. XIX 40. 55. 7 Vgl. XIX 64.



1.  Die erkenntnispsychologische Basis

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Begriffs8 spricht er diesbezüglich von den bereits erwähnten ‚Tatsachen des Bewusstseins‘. Diese „sind eben dadurch da, daß ich ihrer innewerde. Die Behauptung ihrer Existenz ist nur ein Satz, welcher das Erlebnis ausdrückt.“ (XIX 52). Dil­they gibt dem Skeptizismus zwar vollkommen recht darin, dass es keine propositionalen Gehalte geben kann, die nicht prinzipiell bezweifelbar wären. In einem quasi-cartesianischen Argument weist er aber darauf hin, dass sich jede Setzung solcher Gehalte immer des mentalen Vollzugs eines Subjektes verdankt, der als solcher keinem Zweifel ausgesetzt ist. In diesem Sinne sind Bewusstseinstatsachen „unmittelbar gewiß. Nicht was in ihnen behauptet wird, ist gewiß, sondern die Tatsache, daß in ihnen ein bestimmter Inhalt gesetzt wird“ (XIX 52, Hvh. v. Verf.). Hier „ist sonach das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit“ (XIX 55). Für die erkenntnistheoretische Begründungsarbeit ergibt sich daraus die Konsequenz, dass diese von den Tatsachen des Bewusstseins ihren Ausgang zu nehmen hat, weil nur hier die unmittelbare Gewissheit gegeben ist, dass es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Indem die „menschliche Wissenschaft […] die Tatsachen des Bewußtseins ihrer Analyse unterwirft, ruht sie auf dem festen, unerschütterlichen Boden unmittelbarer Erfahrung, inneren Bewußtseins“ (XIX 50 f.). Den methodischen Zugangsoperator zu dieser ‚unmittelbaren Erfahrung‘ bildet die allen bewussten Subjekten eignende prinzipielle Möglichkeit zur „Selbstbeobachtung“9 des Vollzugs ihres eigenen Bewusstseinslebens. Es gilt aber schon hier auf eine entscheidende Einschränkung hinzuweisen: Auch der Selbstauffassung eines Subjekts ist – sofern sie nicht in aktualem Dahinleben aufgeht – ein konstruktiver Charakter eigen. Denn – wie noch zu zeigen sein wird – kann sich dasselbe nur dadurch auf sein eigenes Erleben zurückbeziehen, indem es dasselbe erinnert. Damit aber ist bereits jene unmittelbare Gewissheit nicht mehr gegeben. Denn „was eben noch Wahrnehmung war, ist nunmehr Erinnerung. Der Zustand aber, dessen ich unmittelbar gewiß bin, ist immer nur der gegenwärtige. Ich bin gewiß mich zu erinnern, nicht der Inhalt dieser Erinnerung ist mir gewiß“ (XIX 54). Hierin ist eine entscheidende erkenntnispsychologische Grundlage von Dil­theys Autobiographietheorie zu erblicken. Mit dem bisher Gesagten sind die Gründe dafür, dass Dil­they für die Analyse der Bewusstseinstatsachen die Psychologie in Stellung bringt, aber noch nicht vollständig benannt. So gilt es schließlich hervorzuheben, dass als Bewusstseinstatsachen alle möglichen psychischen Akte und Gehalte fungieren, aus denen sich das bewusste Leben zusammensetzt: Kognitionen ebenso wie Emotionen und Volitionen.10 Damit ist der entscheidender Gesichtspunkt benannt: Denn die8  In seinem Versuch einer neueren Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789) sucht Reinhold bekanntlich die Objektbezogenheit des Bewusstseins darüber zu erklären, dass er die Bewusstseinsvollzüge des Unterscheidens der Vorstellung von sowie des Beziehens der Vorstellung auf Subjekt und Objekt als letzte ‚Tatsache des Bewusstseins‘ behauptet. 9  XIX 66. 77 passim. 10 Vgl. XIX 45.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

jenige wissenschaftliche Disziplin, die jenes weite Spektrum menschlichen Bewusstseinslebens beschreibt und analysiert, ist eben keine andere als die Psychologie. Dil­they ist sich durchaus im Klaren darüber, dass er mit diesem Programm die Bahnen der klassischen Erkenntnistheorie, insbesondere in ihrer transzendentalen Gestalt bei Kant, verlässt. Denn diese habe nur den Bereich kognitiver Vorstellungen herangezogen, um den Aufbau des Erkenntnisvermögens nach seinen Bedingungen im subjektiven Bewusstsein aufzuhellen. Von Dil­theys Grundansatz her müssen die „Bedingungen des Bewußtseins […] aber in ihrem ganzen Umfang aufgefaßt werden“ (XIX 45), also nicht nur im Blick auf den kognitiven Bereich, sondern auch hinsichtlich der emotiven und volitionalen Sphären. Um seine Distanz gegenüber der von ihm als ‚intellektualistisch‘11 kritisierten Behandlung der Erkenntnisproblematik begrifflich zu bezeichnen, spricht Dil­they häufiger auch von „Selbstbesinnung, im Gegensatz gegen Erkenntnistheorie“ (XIX 79).12 Allerdings hält er diesen Sprachgebrauch nicht immer durch, wie schon die eingangs zitierten Formulierungen aus der Einleitung zeigen. In der neueren Forschung wird diesbezüglich in der Regel von ‚Erkenntnisanthropologie‘ gesprochen.13 Ich werde im Folgenden stattdessen den Titel ‚Erkenntnispsychologie‘ verwenden, da er mir präziser zu sein scheint. Um Dil­theys Beschreibung des Bewusstseinslebens im Folgenden richtig einordnen zu können, sind weiterhin drei methodische Prämissen ins Auge zu fassen. Erstens wird der Ausgangspunkt der Deskription in der Regel durch das voll entwickelte Bewusstseinsleben des Menschen gebildet, d. h. es geht um eine solche Bewusstseinsgestalt, in der ein seiner selbst bewusstes Subjekt sich einer von ihm unterschiedenen Außenwelt gegenüber findet.14 Ein wesentliches Ziel von Dil­theys Analysen wird dann nicht zuletzt darin bestehen, die vielfältigen am Aufbau dieser Bewusstseinsgestalt beteiligten Bewusstseinsvollzüge herauszuarbeiten, um dieselben dadurch zugleich auf psychologischem Weg genetisieren zu können. Nichtsdestoweniger gilt es stets im Auge zu behalten, dass der Ansatzpunkt in jener voll entwickelten Gestalt des bewussten Lebens besteht. Zweitens hebt Dil­they ausdrücklich hervor, dass seine Analyse auf solche Phänomene abhebt, die „in jedem einzelnen Fall und in jedem Augenblick die innere Erfahrung erproben kann“ (XIX 60). Dass der psychologische Aufweis für ‚jeden‘ Fall und für ‚jeden‘ Augenblick gelten können soll, macht deutlich, dass es Dil­they nicht etwa um die Beschreibung psychologischer Vorkommnisse in ihrer indi11 Vgl. 12 Vgl. 13 Vgl.

XIX 79. 155 passim. XIX 57. 66. 89.

H. Johach/F. Rodi: Vorbericht der Herausgeber, XXIII. XXIV. XLVI; M. Jung: Dil­they zur Einführung, 33 passim. 14  „Von der Lebenseinheit beginnen wir, welche in dem erfüllten Selbstbewußtsein sich von der Außenwelt unterschieden und mit ihr in Beziehung findet […] diese bildet den Gegenstand der Untersuchung“ (XIX 97).



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viduellen Erscheinung zu tun ist. Zwar können letztere nur durch die Selbstanschauung eines wirklichen Subjektes erfahren werden. Es geht aber nicht eigentlich um die Erfassung der mentalen Akte und Gehalte eines Individuums als individuelle, sondern um die in ihnen zum Ausdruck kommenden allgemeinen Bewusstseinsstrukturen, wie sie für alle bewussten Subjekte vorausgesetzt werden können. So gesehen bringt Dil­they hier ein solches Verfahren zur Anwendung, das Husserl später als ‚eidetische Reduktion‘ bezeichnet hat.15 Drittens schließlich ist auf einen Verfahrensaspekt hinzuweisen, den Dil­they mehr am Rande erwähnt, der aber gleichwohl von erheblichem Gewicht ist. Oben wurde darauf hingewiesen, dass der methodische Zugangsoperator zum eigenen Bewusstseinsvollzug in der Möglichkeit zur ‚Selbstbeobachtung‘ zu suchen ist. Dabei gilt es zu beachten, dass der Vollzug des Bewusstseins im Moment der Selbstbeobachtung nicht mehr durch denjenigen Akt bestimmt ist, auf den sich jene Beobachtung bezieht, sondern dass nunmehr die Selbstbeobachtung selbst die Gegenwart des Bewusstseinsvollzugs bildet. Der Inhalt der Selbstbeobachtung liegt dem Vollzug derselben somit zeitlich voraus. Das hat aber zur Konsequenz, dass die von ihr in Augenschein genommenen Bewusstseinsvorkommnisse nur mithilfe einer erinnernden Bezugnahme aufgefasst werden können.16 Die psychologische Deskription bedient sich also notwendig des Erinnerungsvermögens des Menschen. Insofern Erinnern und Gedächtnis für Dil­they aber niemals bloße Widerspiegelungen liefern, sondern nur in Form produktiver Wiederholungen erfolgen können, hält damit auf grundlegender Ebene ein konstruktives Moment Einzug.17 Wenn Dil­they „alle Wissenschaft“ – und somit auch die Psychologie – als „Erfahrungswissenschaft“ (XIX 82) konzipiert, so ist damit also alles andere als eine positivistische Wirklichkeitsschau gemeint. Damit wären die wesentlichen Aspekte genannt, die für Dil­theys methodisches Vorgehen bestimmend sind. Auf dieser Basis sucht er nun den weitergehenden Nachweis zu führen, dass dem Menschen tatsächlich alle Gehalte sei15 Diesen Zusammenhang hat M. Murrmann-Kahl außer Acht gelassen, wenn er feststellt, bei Dil­they werde „das Erlebnis strikt individuell gedacht“ (Die entzauberte Heilsgeschichte, 145). 16  Dil­they spricht etwa von der „Zergliederung irgendeines Wahrnehmungsmomentes, die nur am Erinnerungsbilde des eben Vorübergegangenen vorgenommen werden kann“ (XIX 68). Zu dieser Funktion der Erinnerung vgl. auch XIX 88. 163. 17 Die Konstruktivität der Gedächtnisleistung hat Dil­ they sich schon frühzeitig klar gemacht. So stellt er schon in seinem 1877 erschienenen Goethe-Aufsatz heraus: Der Aufbau einer Erinnerungsvorstellung „steht noch viel weiter ab von toter Reproduction und nähert sich noch viel mehr dem der künstlerischen Nachbildung. Kurz wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf Gedächtnis beruhte, so gibt es kein Gedächtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose und diese Erkenntnis lässt den Zusammenhang zwischen den elementarsten Vorgängen unseres psychischen Lebens und den höchsten Leistungen des menschlichen schöpferischen Vermögens sichtbar werden“ (XXVI, 382 f., Hvh. v. Verf.). Nicht zuletzt deshalb ist denn auch – wie es im Aufbau heißt – das „erinnerte Erlebnis […] für das Bewußtsein, das in dem gegenwärtigen Erlebnis lebt, tanszendent“ (VII 29). Vgl. dazu auch K.‑H. Lembeck: Geschichte und Erinnerung, 252 f.

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ner unterschiedlichen Erfahrungen nicht anders denn im Medium der Tatsachen seines eigenen Bewusstseins gegeben sind. Für das Feld des Fühlens und des Wollens ist dies unproblematisch. Im Blick auf die Wahrnehmung außenweltlicher Tatbestände und Sachverhalte hingegen bedarf es dafür ausführlicherer Anstrengungen. Denn auf dem Standpunkt des alltäglichen Lebens scheinen diese dem Mensch in der Regel so gegeben zu sein, als ob er sich direkt auf sie zu beziehen vermöchte, wie sie an sich sind. Dil­they spricht diesbezüglich  – Husserls spätere Terminologie vorwegnehmend – auch vom Standpunkt des „natürlichen Bewußtsein[s]“ (XIX 15). Wie aber lässt sich einer solchen Einstellungsweise gegenüber der Sachverhalt psychologisch-deskriptiv zur Geltung bringen, dass dingliche „Gegenstände so gut als Willensakte, ja die ganze unermeßliche Außenwelt so gut als mein Selbst […] zunächst Erlebnis in meinem Bewußtsein (ich nenne das Tatsache des Bewußtseins) sind“ (XIX 59)? Der deskriptive Befund, auf den Dil­they diesbezüglich zunächst verweist, besteht darin, dass „in den meisten Fällen [sc. meiner äußeren Wahrnehmung] […] mit dem Auftreten des Objektes ein Innewerden des Bewußtseinsvorgangs, vermöge dessen er für mich da ist, verbunden“ (XIX 60) ist. Dil­they hat insbesondere die den Aufbau der eigenen Wahrnehmungen „begleiten[den]“ (XIX 69) leiblich-geistigen Erfahrungen vor Augen, die mir die Meinigkeit meiner Wahrnehmungsbestände eindrücklich machen: „sei es, daß Organgefühle im auffassenden Sinn oder Spannung der Aufmerksamkeit, Richtung, welche der Wille dem Sinn gibt, ein solches Bewußtsein vermitteln“ (ebd.). Bereits durch den Gebrauch der eigenen Sinnesorgane bzw. deren intentional gesteuerte Tätigkeitsweise und den damit einhergehenden vorreflexiven Selbstvollzügen vermag mir in der Wahrnehmung ein Begleitbewusstsein davon zu entstehen, dass die äußeren Wahrnehmungsgehalte Bilder meines eigenen Bewusstseins darstellen. Durch den Begriff des ‚Begleitens‘ deutet Dil­they eine gewisse Nähe zu Kants Erkenntnistheorie an – freilich in einer psychologischen Lesart, wie sie übrigens in analoger Weise schon in Schleiermachers Dialektik begegnet.18 Dil­they will gleichwohl nicht behaupten, dass mir als äußerlich wahrnehmendem Subjekt in jedem einzelnen Moment meines Bewusstseinslebens der eigene Vollzug meiner Wahrnehmungen explizit präsent wäre. „Ich sage ausdrücklich nicht, daß ich in jedem Fall, in welchem ein Gegenstand da ist, mir per se unmittelbar bewußt sei, daß dieser Gegenstand eine Tatsache meines Bewußtseins sei.“ Denn dies „würde einschließen, daß jede Wahrnehmung eines Gegenstandes per se mit einem [sc. ausdrücklichen] Innewerden davon verbunden sei, daß ihr Gegenstand in einem Vorgang meines Bewußtseins gegeben ist, und dies wäre zuviel 18 Vgl. U. Barth: Der Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘, 373. Auf den Einfluss, den Schleiermacher auf Dil­theys Erkenntnispsychologie gehabt hat, hat bereits hingewiesen: H. Ineichen: Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt, 114. 120. In den Vordergrund gerückt wurde sie dann von: G. Scholtz: Schleiermachers Dialektik und Dil­theys erkenntnistheoretische Logik.



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behauptet“ (XIX 60). Eine solche Behauptung vermöchte nicht, den realen Phänomenen des Bewusstseinslebens gerecht zu werden, wie schon aus dem Blick auf den Fall von Alltagsbewusstsein erhellt, das ja gerade dadurch charakterisiert war, dass in ihm der Anschein einer unmittelbaren Gegebenheit außenweltlicher Tatbestände vorherrscht. Dass die betreffenden Gegenstandswahrnehmungen dennoch im angegebenen Sinne unter der Bedingung meines Bewusstseins stehen, lässt sich für Dil­ they deskriptiv dadurch aufweisen, dass ich „in einem jeden Fall, gleichviel wie tief ich in den Gegenstand versenkt sein mag, sobald ein Antrieb dazu von außen oder innen herbeigeführt wird, dazu imstande [bin], dessen inne zu werden, daß das ganze Schauspiel der Außenwelt […] in einem Vorgang von Wahrnehmung für mich da und sonach eine Tatsache meines Bewußtseins ist“ (XIX 60 f., Hvh. v. Verf.). Im Blick auf diesen Einstellungswechsel kann Dil­they an anderer Stelle dann auch von „Reflexion“ (XIX 142) sprechen. An die Stelle der intentio recta tritt die intentio obliqua. In ihr wird der Sachverhalt bewusst, dass das äußerlich wahrgenommene Objekt nicht einfach unmittelbar vorhanden ist, sondern sich das Subjekt nur vermittels der jeweils eigenen mentalen Operationen und Bilder auf es bezieht. Aufgrund dieser Vermitteltheit kann Dil­they mitunter geradezu von einem „von unserem Bewußtsein zur Konstruktion dieser Außenwelt geschaffene[m] Zusammenhang“ (XIX 56) sprechen. Denn alle außenweltlichen Tatbestände und Sachverhalte werden als etwas dem mentalen Vollzug gegenüber Unterschiedenes gesetzt, sind gleichwohl aber nur in diesem Bewusstsein gegeben. Daraus resultiert eine dem setzenden Bewusstsein gegenüber prinzipielle Fremdheit, so dass dessen vorstellende Bezugnahmen lediglich konstruktiver Natur sein können. Den eigentlichen Grund dafür, ob ich im Zuge der äußeren Wahrnehmung im Gegenstand versenkt bin oder ob ich mir dessen innewerde, dass dieser Gegenstand für mich nur als Tatsache meines Bewusstseins vorhanden ist, erblickt Dil­they in der jeweiligen Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Beide eben genannten Fälle von Bewusstsein können daher als Resultat davon angesehen werden, was im Fokus des Bewusstseins steht. Die Beantwortung der Frage, was jeweils fokussiert wird, hängt davon ab, welche Richtung „Interesse und Wille der Aufmerksamkeit […] geben“ (XIX 68). In den Vorkommnissen derjenigen Bewusstseinsform, in der ich mir meines eigenen Wahrnehmungsvorgangs nicht ausdrücklich bewusst bin, haftet „mein Interesse im Wahrnehmen an den Objekten […], innerhalb derer sich zu orientieren mein Wille beschäftigt ist“. In den Vorkommnissen derjenigen Bewusstseinsform, in der ich mir des „Für-mich-daseins“ (XIX 59) der Gegenstände inne bin, geht die Intention „auf die Tätigkeit“ (XIX 69), die ich im Wahrnehmungsprozess selbst vollbringe. Damit beansprucht Dil­ they, den psychologischen Nachweis erbracht zu haben, dass dem Menschen die Außenwelt nicht als solche gegeben ist, sondern dass auch sie ihm letztlich nur im Medium der je eigenen Bewusstseinstatsachen

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erscheint.19 „[S]o gut als Gefühle sind“ auch „Gegenstände […] zunächst Erlebnis in meinem Bewußtsein“ (XIX 52). Dieser Sachverhalt findet seinen abstrakten Ausdruck im ‚Satz der Phänomenalität‘,20 der für Dil­they den ersten „Hauptsatz der Philosophie“ (XIX 75) bildet. Die von ihm ausdrücklich reflektierte Frage, wie es möglich ist, eine als unmittelbar gewiss behauptete Wirklichkeitserfahrung in Form eines allgemeinen Satzes zu formulieren, der sich folglich der begrifflichen Überführung jener Erfahrung mittels logischer Operationen verdankt,21 lassen wir hier auf sich beruhen, weil sie umfangreichere Betrachtungen seiner Logik-Konzeption erfordern würde.22 Wir beschränken uns stattdessen auf Dil­ theys psychologische Beschreibung des bewussten Lebens, deren Grundlagen mit jenem Hauptsatz indes noch nicht vollständig widergegeben sind. Daneben kennt Dil­they nämlich noch einen „zweiten Hauptsatz“ (ebd.), den es im Folgenden zu erörtern gilt. Wie gesehen, sind Dil­they zufolge Bewusstseinstatsachen nur als Bewusstseinstatsachen mit einer, so könnte man sagen, unmittelbaren Realitätsgewissheit ausgestattet. „Keine Tatsache hat außerhalb desselben [sc. des Bewußtseins] unmittelbar ihre Existenz, d. h. besteht außerhalb desselben.“ (XIX 55). Der entscheidende Punkt besteht nun in Dil­theys weitergehender Begründung: „Denn daß sie als Tatsache da ist, das ist durch den Zusammenhang des Bewußtseins bedingt, durch welchen sie da ist“ (XIX 55, Hvh. v. Verf.). Damit bringt Dil­they ein weiteres Charakteristikum menschlicher Wirklichkeitserfahrung ins Spiel, das 19 „Bewußtseinstatsachen sind das einzige Material, aus welchem die Objekte aufgebaut sind.“ (XIX 58). 20  Vgl. 54. 58. 60. 61 passim. 21  „Ja selbst der Satz der Phänomenalität […] ist nicht eine Tatsache, sondern ein in einem Denkvorgang gewonnener allgemeiner Satz“ (XIX 84). 22  Dil­theys Antwort erfolgt in Form eines apagogischen Beweises. Obersatz: Angesichts dessen, dass jener allgemeine Hauptsatz der Philosophie als solcher durch ‚einen Denkvorgang gewonnen‘ ist – so dass „die Evidenz der Tatsachen des Bewußtseins auf die Evidenz der logischen Operationen gegründet zu sein [scheint]“ (XIX 84) –, stellt sich folgende Alternative: Entweder erweist sich die behauptete Evidenz der Bewusstseinstatsachen „als abgeleitet und somit auf die Bedingungen des Denkens gegründet“ (ebd.), oder aber jene allgemeine Behauptung kann für sich beanspruchen, „ein unmittelbares Wissen von der Realität der Tatsachen des Bewußtseins“ (XIX 85) lediglich „zur deutlichen Erkenntnis“ zu bringen bzw. „aus[zu]drücken“ (XIX 49). Untersatz: Nun erweisen sich aber auch Vollzug und Evidenz logischer Operationen als eine Tatsache des Bewusstseins (vgl. XIX 50), so dass „die Denkgesetze“ eben nicht „als ein unvordenkliches Fatum über unser geistiges Leben [herrschen]“ (XIX 84). Konklusion: Sonach stehen diese „Urteile, die wir aussagen, […] unter der Bedingung, daß die Denkakte, durch welche sie aus dem inneren Wahrnehmen geformt werden, dieses Spiel des Zerlegens und Verknüpfens, Urteilens und Schließens, die Tatsachen nur unter neuen Bedingungen des Bewußtseins enthalten“ (XIX 49). Dil­they hat diese Grundanschauung später dann mittels der Unterscheidung von „elementaren logischen Operationen“ (V 171) – welche als „schweigende[s] Denken“ (V 182) schon allem Erleben selbst innewohnen – und „diskursiven“ (ebd.) Denkakten weiter ausgebaut. Sein Schüler und Schwiegersohn, Georg Misch, hat daraus später in seinem Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens die Konzeption einer lebensphilosophisch-hermeneutischen Logik entwickelt, vgl. dazu auch: O. F. Bollnow: Studien zur Hermeneutik, Bd. 2, 19–193.



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in den bisherigen Ausführungen implizit schon mitgesetzt, aber noch nicht ausdrücklich reflektiert worden ist. Es geht um nichts anderes als darum, dass sich das Bewusstseinsleben nicht aus diskreten Bestandsstücken aufbaut, die lediglich äußerlich miteinander verbunden wären, sondern dass in demselben unterschiedliche Teile zu einem Ganzen verbunden sind. Dil­they spricht diesbezüglich unter anderem von einem „reale[n] innere[n] Zusammenhang, in welchem dies alles für mich gegeben ist“ (XIX 80). Im ‚zweiten Hauptsatz der Philosophie‘ wird dieser Sachverhalt zu allgemeinem Ausdruck gebracht. Dil­they gibt ihm allerdings keinen prägnanten Namen wie er es beim ersten Hauptsatz – dem Satz der Phänomenalität – getan hat. Man könnte aber gewissermaßen vom Satz des inneren Zusammenhangs sprechen. Den psychologisch-deskriptiven Aufweis dieses Zusammenhanges führt er unter Verweis auf die Erfahrung der „Kontinuität des psychischen Lebensprozesses“ (XIX 141). Diese Kontinuität zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich das bewusste Leben in einem zeitlichen Verlauf entwickelt, in dem dasselbe unterschiedliche Zustände durchläuft, ohne dass ein Zustand vom anderen streng geschieden wäre. Anderenfalls „wäre das psychische Leben ruckweise“ mit jeweils entsprechendem „Intervall“. Dem gegenüber gilt es aber darauf hinzuweisen, dass jeder erlebte Eindruck an andere vor- oder nachlaufende Eindrücke dergestalt anschließt, dass es zu keinem Abbruch des Bewusstseinsverlaufs kommt. „Sonach ist die Kontinuität des psychischen Lebens durch die Tatsache gegeben, daß in dem kleinsten Zeitmoment, sagen wir in jeder Gegenwart, eine Synthesis im Bewußtsein sich vollzieht“ (ebd.). Wenn Dil­they hier von Synthesis spricht, so ist das freilich missverständlich, weil auch der Aufbau von Objektvorstellungen durch Synthesis geleistet wird. Eine solche Form der Synthesis hat Dil­they an dieser Stelle allerdings nicht vor Augen, weil es hier nicht um die – innermentale – Setzung von etwas Einheitlichem, „was außerhalb desselben [sc. des Bewusstseins] angenommen wird“ (XIX 52 f.), geht. Stattdessen geht es um den ‚inneren Zusammenhang‘ des Bewusstseins selbst. Das bedeutet aber: Letzteres kann Dil­ they zufolge im Kern als ein kontinuierliches Verbindungshandeln beschrieben werden. Es dürfte diesbezüglich durchaus seine Grundintention treffen, wenn man unter Zuhilfenahme eines bekannten Fichteschen Theorems sagt: Bewusstsein konstituiert und kontinuiert sich kraft einer anhaltenden Tathandlung. Dazu passt zum einen, dass Dil­they diesbezüglich von dem „in dem Bewußtsein Tätige[n]“ bzw. von einem „Tätige[n], Spontane[n]“ (XIX 154) sprechen kann, wobei dieses Tätige allererst die innere Einheit des Bewusstseins bewirke.23 Zum anderen bezeichnet Dil­they in Entsprechung zu Fichte – der „die Bedeutung des Willens“ (XIX 158) als erster klar erkannt habe – den „Wille[n]“ als das „Zentrum“ (XIX 145) des menschlichen Seelenlebens. 23  „Es zeigt sich, daß die Einheit des Bewußtseins als ein Effekt desselben Tatbestandes aufgefaßt werden kann, welcher sich auch in dem Selbstbewußtsein darstellt“ (XIX 154).

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Allerdings weist Dil­they nachdrücklich darauf hin, dass die Annahme einer solchen Tathandlung zwar durch die psychologische Beschreibung bestätigt werden, dass sie in der eben gegebenen Weise aber nur dadurch aufgestellt werden könne, dass von einer mentalen Vollzugsform abgesehen werde, die sich für das bewusste Leben geradezu als grundlegend erweist. „Die bisherige Darlegung abstrahierte von einer Tatsache, welche allen psychischen Akten zugrunde liegt und in den meisten Zuständen des wachen Lebens angetroffen wird – der Tatsache des Selbstbewußtseins“ (XIX 152).24 Die Rede von einer Einheit des Bewusstseins, die durch ein numerisch einziges Tätiges hervorgebracht wird, hat ihre phänomenologische Grundlage sonach in der inneren Erfahrung des Menschen, sich im Wechsel von Zuständen als derselbe zu wissen. Erst von hier aus wird dann auch verständlich, warum Dil­they nicht nur von ‚Bewusstseinstatsachen‘, sondern von Tatsachen ‚meines‘ Bewusstseins sowie vom ‚Für-mich-dasein‘25 sprechen konnte. Der Grund dafür, das Phänomen des Selbstbewusstseins zunächst methodisch auszuklammern, bestand darin, dass sich der Aufbau bewusster Selbstheit für Dil­ they nicht anders als dadurch vollziehen kann, dass das Bewusstseinsleben die in ihm vorhandenen Bewusstseinstatsachen grundlegend danach differenziert, ob sich in ihnen die Bewusstseinsinstanz für sich selbst präsent wird oder ob letztere in ihnen eine von sich selbst unterschiedene Außenwelt zu subjektiver Präsenz bringt. Wie es aber angesichts des Sachverhaltes, dass alle Wirklichkeit für den Menschen nur in Form von Bewusstseinstatsachen gegeben ist, nachvollziehbar beschrieben werden kann, dass es zur Setzung einer solchen Außenwelt kommt, ist allererst noch darzulegen. Dies vorzuführen ist das Thema des folgenden Abschnitts. Dabei wird nochmals auf eine gewisse Nähe Dil­theys zu Fichte zurück zu kommen sein.

24  Entsprechend hieß es an früherer Stelle von Dil­ theys Ausführungen, dass die psychologische Beschreibung der Einheit des Bewusstseins erst „nach Aufhebung der gegenwärtigen Abstraktion vom Selbstbewußtsein“ (XIX 141) vollständig erfolgen könne. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Dil­they selbst diese abstraktive Trennung in seiner eigenen Darstellung nicht durchgehalten hat, so dass er sich schon früher wiederholt des Phänomens des Selbstbewusstseins bedient, obwohl er eigentlich versucht, von diesem zunächst noch abzusehen. 25  Dass etwas ‚für mich da ist‘, impliziert Meinigkeitsbewusstsein. Vgl. dazu die prägnante Begriffsbestimmung bei Konrad Cramer: „Eine Vorstellung in mir ist genau dann etwas für mich, wenn ich sie nicht nur habe, sondern auch ein Bewußtsein davon habe, daß ich sie habe“, K. Cramer: Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, 171, Hvh. v. Verf. Zwar spielt der Vorstellungsbegriff bei Dil­they – anders als bei Kant – eine untergeordnete Rolle. Für das hier in Frage stehende Problem ist das aber unerheblich.



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b.  Die Unterscheidung von Selbst und Außenwelt Wie gesehen, lässt sich Dil­they zufolge jede für den Menschen vorhandene Begebenheit darauf zurückführen, ursprünglich nicht anders als in Form der Tatsachen seines Bewusstseins vorzuliegen. Angesichts dessen könnte es prima facie scheinen, als ob Dil­they in seiner Behandlung der Außenweltfrage lediglich aufweisen wolle, wodurch sich ein Bewusstseinsleben eigentlich dazu veranlasst sieht, objektive Sachverhalte in der Außenwelt zu setzen. So wichtig diese Argumentationslinie für Dil­theys erkenntnispsychologische Behandlung der Außenweltproblematik aber zweifelsohne auch ist, so wenig ist mit ihr bereits die gesamte Aufgabe beschrieben, die er sich in diesem Zusammenhang stellt. Darüber hinaus hat die Behandlung der Außenweltproblematik nämlich zugleich eine dezidiert subjektivitätstheoretische Funktion. Denn wie zu zeigen sein wird, vermag ein individuelles Bewusstseinsleben ihm zufolge nur insofern zu einem ausdrücklichen Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, als es zugleich das Bewusstsein einer von ihm unterschiedenen Umwelt aufbaut – und vice versa. Vor diesem Hintergrund sei im Folgenden zunächst der Aufbau des Außenweltbewusstseins nachgezeichnet (1). Im Anschluss daran wird es um die subjektivitätstheoretischen Implikationen und Konsequenzen gehen (2). (1) Dil­theys entsprechende Grundthese besteht darin, dass das bewusste Leben im Vollzug seiner Lebensprozesse kontinuierlich auf mehr oder weniger starke Einschränkungen stößt, deren innermentale Verarbeitung das Subjekt dazu nötigen, etwas von sich Unterschiedenes zu setzen.26 Andeutungsweise ausgesprochen findet sich diese Konzeption bereits in der Breslauer Ausarbeitung, in der es gleich zu Beginn heißt: „Bewußtseinstatsachen sind das einzige Material, aus welchem die Objekte aufgebaut sind. Bewußtseinstatsache ist der Widerstand, den sie üben, der Raum, welchen sie einnehmen, ihr schmerzhaft empfundener Anprall, wie ihre wohltätige Berührung“ (XIX 58, Hvh. v. Verf.).27 Der betreffende Bewusstseinsvorgang erweist sich für Dil­they als ein hochgradig komplexer Vollzug, in den eine ganze Reihe unterschiedlicher Leistungen Eingang finden. Prinzipiell lasse sich die Widerstandserfahrung28 jeweils für jeden der fünf Sinneskreise aufweisen. Aus noch zu zeigendem Grund rückt er den taktilen Erfahrungskreis aber in den Vordergrund. Wie stellt sich der Vorgang in dieser Perspektive dar? 26  Für

einen ersten Überblick vgl. immer noch: O. F. Bollnow: Dil­they, 52 ff. eine erste Näherbestimmung dazu, wie sich diese Widerstandserfahrung aufbaut, findet sich bereits in letztgenannter Schrift. Allerdings kommt Dil­they auf diesen Zusammenhang meist nur im Vorübergehen zu sprechen (Vgl. XIX 65. 89. 117. 153. 163. 166. Die ausführlichste Stelle findet sich XIX 175 ff.). Am umfangreichsten und präzisesten hat er sie in seinen Beiträgen zur Lösung (1890) entwickelt. 28  Burghart Schmidt weist darauf hin, dass sich das Widerstandsargument bereits bei Friedrich Bouterwek findet, B. Schimdt: Das Widerstandsargument in der Erkenntnistheorie, 29 ff. Dil­they selbst macht keine Angaben dazu, woher er den Gedanken übernommen hat. 27  Auch

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Der Ausgangspunkt ist in einer konkreten Volition bzw. Intention zu erblicken. Diese schließt eine bestimmte Bewegungsvorstellung ein und löst auf deren Grundlage einen entsprechenden Bewegungsimpuls aus.29 Infolgedessen wird die Realisierung jener Vorstellung erstrebt, wobei der „Ablauf der vorgestellten Bewegung von gering merklichen Lustgefühlen begleitet“ (V 102) wird, durch die dem Subjekt das Realisierungsstreben des anvisierten Bewegungsprozesses eindrücklich wird. Nun kommt es aber zu Realisierungshindernissen. Dieser wird das Subjekt allerdings nicht sogleich als solcher inne, sondern sieht sich zunächst lediglich einer erschwerten Ausführung der intendierten Bewegung ausgesetzt, die zu einer Verstärkung jenes Impulses nötigt. Dadurch kommt es zu einer Steigerung der willentlichen Energie, was wiederum das Auftreten eines neuen mentalen Phänomens zur Folge hat, nämlich Gefühle des Drucks. Diese tun sich zunächst in Form eines „Druckempfindungs-Aggregat[s]“ (ebd.) kund und treten gewissermaßen an die Stelle jener begleitenden Lustgefühle. Im Zuge dessen erfolgt die Ausbildung eines ersten „Zwischenglieds zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention“ (V 103). Der Bewegungsimpuls wird von jenen Druckempfindungen dabei aber nicht etwa aufgehoben, sondern wirkt weiterhin fort, da das Auftreten letzterer ja allererst durch die Mobilisierungskraft von jenem bedingt ist. Mit diesen mentalen Zuständen und Prozessen gehen kognitive Leistungen einher, mithilfe derer das Subjekt die eingetretenen unterschiedlichen psychischen Phänomene miteinander vergleicht. Dabei bildet dieser „Denkvorgang“ ein „zweites und weiteres Glied in dieser Verkettung von Prozessen, welche zum Bewußtsein des Widerstandes führen“. Dieses Denken erfolgt allerdings noch nicht im Sinne diskursiver Gedankenführung, sondern ist als vorbewusster Vollzug logischer Operationen innerhalb des Erlebens anzusehen.30 Auf Basis jenes Vergleichsaktes kommt es innermental zur Feststellung mehrerer Sachverhalte: Zunächst werden Bewegungsvorstellung und Druckempfindungsaggregat aneinandergehalten, wodurch es zum „Bewußtsein ihres Unterschiedes“ kommt. Auf dieser Basis wird sodann das präreflexive „Urteil“ vollzogen, dass das Resultat der Willensanstrengung der intendierten Bewegung nicht entspricht. Insofern aber weder „das Aufhören der mit dem Impuls 29  Dil­they beschreibt diesen Bewegungsimpuls als Einwirkung auf das „motorische Feld“, die zu „zentrifugale[n] Erregungen“ im Nervensystem führt, wodurch es zu „peripherischen Lokomotionen“ (V 100) des Körpers kommt. Zur damit gegebenen Anschlussfähigkeit an neuere humanwissenschaftliche Konzeptionen vgl. M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 129–144. Allerdings ist mit Dil­they darauf hinzuweisen, dass die eben wiedergegebene Beschreibung sich bereits einer äußerlich vergegenständlichenden Bezugnahme verdankt, deren Voraussetzung es auf dem bisher erreichten Stand der Problemexplikation allererst noch herzuleiten gilt. Denn bei den eben genannten Phänomenen handelt es sich offensichtlich um körperlich-physische Erscheinungen. Der „Körper“ ist aber selbst ein „Bestandteil der Außenwelt“ (XIX 166). 30  Es geht also um solche Operationen, die Dil­they als ‚primäre logische Operationen‘ bzw. als ‚schweigendes Denken‘ vom diskursiven Denkakt abgrenzt. Siehe dazu auch oben Abschnitt III.1.a.



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verbundenen und einer glatt ablaufenden Bewegung angehörigen Empfindungen [sc. von Lust]“ noch „der Ersatz der beabsichtigten Bewegung durch das Empfindungsaggregat“ des Druckes „innerhalb der Intention lag“, kommt es zum Aufbau einer „Erfahrung der Hemmung der Intention“ (ebd.), die das Subjekt als nicht durch sich selbst erzeugt, sondern als von anderwärts her gesetzte Grenze des eigenen Strebens auffassen kann. Im Zusammenspiel all dieser Faktoren wird es also dessen inne, sich in seiner eigenen Agilität nicht unmittelbar ausleben zu können, sich auf etwas verwiesen zu finden, das derselben gleichsam limitierend gegenübertritt, ohne dass dieser Limes durch das eigene Realisierungsstreben selbst hervorgebracht wäre. Vor diesem Hintergrund kommt es schließlich zur Setzung von etwas, das das Subjekt als ein Anderes seiner selbst zu betrachten sich genötigt findet.31 Wie bereits erwähnt, lässt sich die Struktur des mentalen Setzungsvorgangs eines äußeren Gegenstandes – „entsprechend dem Vorgang in der Tastwahrnehmung“ (V 109) – dann auch für andere Sinneskreise aufweisen,32 wobei Dil­they sich darauf beschränkt, dies für das visuelle Wahrnehmungsfeld durchzuführen.33 Der Grund dafür, dass Dil­they den Typ der taktilen Wahrnehmung derart in den Vordergrund stellt, ist darin zu erblicken, dass das Objektbewusstsein hinsichtlich seiner Äußerlichkeit als eine quantifizierbare Größe aufzufassen sei. So lasse sich eine regelrechte Skala unterschiedlicher Dinglichkeitsgrade aufweisen, in denen uns die äußere Wirklichkeit als etwas von uns Unterschiedenes gegenübertritt. „Das Bewußtsein der Realität von Objekten ist sich nicht immer gleich, sondern enthält Grad und Modifikationen.“ (V 117) So „zeigt sich“ – wie es bereits in der Breslauer Ausarbeitung heißt – „eine Stufenfolge des Grades, in welchem sich der Inhalt von dem empfindenden Subjekt ablöst und ihm gegenüberstellt; vom Gefühl zu den Empfindungen des Geruchs und Geschmacks, von diesen zum Ton, dann zu dem Gesehenen und Getasteten wächst die Dinglichkeit, in welcher Inhalte dem Bewußtsein gegenübertreten“ (XIX 67).34 Den größten Veräußerlichungswert vermitteln dabei die taktilen Erfahrungen, weswegen „der Tastsinn der Grundsinn ist“ (XIX 175). Aufgrund seiner hervorstechenden Leistung stellt die in seinem Zusammenhang vollzogene Widerstandserfahrung darum auch das basale „Schema“ bereit, nach dem „mein Selbst von sich das Objekt unterscheidet“ (V 98).35 31  Bereits in der Breslauer Ausarbeitung hieß es an einer Stelle: „Es ist das Innewerden durch den Druck des Gefühls, durch den Widerstand des Willens, das sonach eine Aktivität außer mir offenbart“ (XIX 163). 32 Vgl. XIX 67; V 99 f. 33  Auch hier vollziehe sich der Aufbau des mental vermittelten Außenweltbezugs darüber, dass das Subjekt unterschiedliche Wahrnehmungen macht, aus deren innerem Vergleich „in meiner denkenden Erfahrung“ (V 109) sich ein Bewusstsein davon aufbaut, dass der Wille bestimmte Eindrücke weder „herbeiführen“ noch „vermeiden“ (V 110) kann. 34  „In dem Widerstand, den die tastende Hand erfährt, entsteht die Materialität“ (XIX 21). 35  Dieser methodische Zusammenhang scheint Iris Därmann entgangen zu sein, wenn sie

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Auf Basis jener Verdinglichungsskala ist es möglich, noch ein weiteres Theoriemoment mit einzubeziehen, das für Dil­theys Beschreibung des Außenweltbewusstseins wesentlich ist. Dieses macht er im Zusammenhang eines Beispiels deutlich, das er vordergründig anführt, um auch jenen verminderten Objektivierungsgraden einen phänomenalen Befund zuzuweisen: „Selbst wenn wir vom Eisenbahnwagen aus die Bilder fremder Gegenstände auffassen, finden wir, daß diese wie Kulissen an uns vorüberziehen; hier werden die Gesichtseindrücke weniger von Erinnerungen an Tastempfindungen, Widerstand […] unterstützt“ (V 118).36 Dieser Veranschaulichung kann zweierlei entnommen werden: zum einen der bereits bekannte Sachverhalt, dass die taktile Widerstandserfahrung maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass überhaupt ein prägnantes Objektbewusstsein vorliegen kann. Bemerkenswert ist zum anderen aber der Hinweis, dass letztere nicht notwendig momentan aktualisiert vorliegen muss, sondern dass dem Bewusstsein äußerer Gegenständlichkeit auch dadurch ein erhöhter Dinglichkeitscharakter zuwachsen kann, dass die nicht-taktilen Wahrnehmungen lediglich durch ‚Erinnerungen‘ an Tastempfindungen unterstützt werden. Das Außenweltbewusstsein wird im konkreten Fall vielfach also auch nur durch den erinnernden Bezug auf frühere Widerstandserfahrungen aufgebaut  – weshalb die nicht-taktile Wahrnehmung von noch unbekannten bzw. ‚fremden‘ Gegenständen dann auch jenen Eindruck „von bloßem Schauspiel“ (XIX 21) erzeugen kann. Durch den Einbau von Erinnerungsleistungen hält damit zugleich ein zeitliches Element Einzug. Die äußere Welt ist dem Subjekt also nicht in direkter Weise gegeben, sondern wird von ihm selbst vermöge einer Vielzahl von Bewusstseinsleistungen allererst gesetzt. Aufgrund dessen kann man „sich die Begründung des Glaubens an die Außenwelt nicht durch irgendeine Art von Übertreibung erleichtern, etwa […] durch die psychologische Fiktion von unmittelbarem Gegebensein irgendeiner Art“ (V 103). Die gesamten bisherigen Ausführungen haben vielmehr gezeigt, „daß die Annahme […] von einer unmittelbaren Gewißheit der Realität der Außenwelt“ Dil­they zufolge „falsch ist“ und einem „Mangel gründlicher psychologischer Analyse“ entspringt (V 127 f.). In kritischer Hinsicht verweist Dil­they diesbezüglich sowohl auf Vertreter der schottischen Gefühlsphilosophie und einige Denker aus dem französischsprachigen Raum37 als auch auf Friedrich Heinrich Jacobi.38 Positiv bezieht er sich auf die wahrnehmungsphysiologischen Arbeiten von Helmholtz, der mithilfe von Induktion und Experiment „die Lehre vom unhinsichtlich des Aufbaus des Außenweltbewusstseins bei Dil­they eine „rigorose[ ] Erweiterung des ursprünglich taktilen Widerstandsmodells“ bzw. einen „Sprung oder Übergang von der bloß taktilen zur akustischen bzw. visuellen Erfahrung“ kritisiert, I. Därmann: Monde der Vernunft, 336. 36  Dieses Beispiel findet sich schon in einem frühen Textfragment Dil­theys, vgl. XIX 21. 37 Vgl. V 97. 38 Vgl. V 127.



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mittelbaren Gegebensein eines Außen definitiv beseitigte“ (V 94). So habe er den Nachweise für eine Grundauffassung kritischen Denkens erbracht, die zuvor bereits von derjenigen philosophiegeschichtlichen Bewegung vertreten worden war, die Dil­they in der Vorrede zur Einleitung unter dem Titel der „erkenntnistheoretischen Schule“ (I XVIII) zusammenfasst. In einem Punkt markiert Dil­they allerdings einen wesentlichen Differenzpunkt seiner eigenen Konzeption auch gegenüber dieser Schule. So hätten all jene Vertreter – Helmholtz eingeschlossen – jene durch das Bewusstseinsleben vermittelte Außenweltannahme in der Weise zu rekonstruieren versucht, dass sie das innermentale Zustandekommen vornehmlich unter Betrachtung rein kognitiver Bewusstseinsvollzüge erklärten. Danach gelange das Subjekt dadurch zur Unterscheidung von Innen und Außen, dass es – im Ausgang von seinen Empfindungsdata – vermöge eines rein verstandesmäßigen Urteilsaktes auf eine außerhalb seiner selbst gelegenen Ursache zurückschließt.39 Dem gegenüber sucht Dil­they, wie gesehen, den innermentalen Vorgang der subjektiven Setzung eines Äußeren unter Berücksichtigung aller psychischen Seiten des menschlichen Bewusstseinshaushaltes zu rekonstruieren und den Anteil der nichtreflexiven Aspekte aufzuwerten. In etwas missverständlicher Zuspitzung kann er dann festhalten: „Das Außen ist so gut als das Innen gegeben, nicht hinzugedacht“ (XIX 337). Eine bewusstseinstheoretische Rekonstruktion, in der die Außenwelt lediglich eine ‚hinzugedachte‘ Annahme darstellt, vermöchte nämlich nicht darüber hinaus zu kommen, dass das Äußere für das Subjekt bloß den Status einer hypothetischen Voraussetzung haben könne. Dies wird Dil­they zufolge aber nicht dem eigentümlichen Gewissheitscharakter gerecht, mit der sich das bewusste Leben auf ein Anderes seiner selbst bezogen weiß. „Ich möchte […] über die Annahme hinauskommen, daß die Realität der Außenwelt nur den Wert einer Hypothese hat“ (V 95).40 Aber auch wenn Dil­they somit eine partielle Revidierung der reflexionstheoretischen Rekonstruktion des Außenweltbewusstseins vornimmt: Es darf dabei nicht übersehen werden, dass sein Votieren für die erlebnisbasierte Gegebenheit eines Äußeren der grundlegenden Einsicht in die Bewusstseinsvermitteltheit aller Wahrnehmung verpflichtet bleibt. Nicht erst in der Auffassung dessen, was äußerlich vorliegt, sondern schon in der Überzeugung, dass ein Äußerliches vorliegt, kommt das Subjekt aus seinen eigenen mentalen Vollzügen gleichsam nicht heraus. Nicht von ungefähr ist deshalb im Titel der Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) denn auch nur vom ‚Glauben an die Realität der Außenwelt‘ die Rede.41 An dem mit dieser Schrift erreichten Entwicklungsstand seiner Konzeption hat Dil­they zeitlebens festgehalten.42 39 Vgl.

XIX 73 f.; V 97. Für eine kritische Einschätzung dieses Beweisziels Dil­theys siehe unten Abschnitt III.1.d. 41  Vgl. dazu auch G. Scholtz: Schleiermachers Dialektik und Dil­ theys erkenntnistheoretische Logik, 240 f. 42 Vgl. VII 34. 57. 61 passim. 40 

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(2) In den bisherigen Ausführungen hat die Beschreibung des innermentalen Aufbaus eines von der jeweiligen Bewusstseinsinstanz unterschiedenen Anderen im Fokus gestanden. Dieser Aufbau kann Dil­they zufolge aber nur geleistet werden, indem das Subjekt innerhalb seiner Bewusstseinstatsachen zugleich die Setzung seiner Selbst vornimmt. Denn ‚Selbst‘ und ‚Anderes‘ weisen wechselseitig aufeinander zurück  – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass von der Kategorie ‚Selbst‘ bereits Gebrauch gemacht werden musste. So heißt es schon in der Breslauer Ausarbeitung: „die Dinge finden wir mit unserem Selbst gegeben, unser Selbst mit den Dingen“ (XIX 152), so dass wir auf gleichursprüngliche Weise „Wahrnehmungen als Dinge […] setzen“ (XIX 153) wie wir auch „unser Selbst setzen“ (XIX 168). Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die Beschreibung der Entstehung und Entwicklung des Außenweltbewusstseins umgekehrt auch gelesen werden kann als Beschreibung der Entstehung und Entwicklung von Selbstbewusstsein. So hatte Dil­they denn auch von einem ‚Schema‘ sprechen können, nach dem ‚mein Selbst von sich das Objekt unterscheidet‘. Im Zuge der Widerstandserfahrung entsteht und erhält sich somit nicht nur das Bewusstsein äußerer Tatbestände und Sachverhalte, sondern zugleich auch das Bewusstsein der mentalen Instanz von sich selbst. Systematisch gesehen bietet Dil­they in seiner Behandlung der Außenweltproblematik sonach nicht nur eine psychologische Erklärung und Rechtfertigung ‚unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt‘, sondern nimmt damit zugleich eine Genetisierung der von allem bewussten Leben immer schon beanspruchten Selbstsetzung vor. Somit kann sein erkenntnispsychologisches Unternehmen durchaus als Fortsetzung und Weiterentwicklung einer wesentlichen Fragestellung der klassischen deutschen Philosophie angesehen werden  – freilich auf Basis des Aufschwungs der Erfahrungswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund dieser Theorieanlage lässt sich auch nochmals Licht auf einen bestimmten Grundzug von Dil­theys Subjektivitätstheorie werfen. Es ist in der Forschung mehrfach hervorgehoben worden,43 dass Dil­they kein reflexionstheoretisches Modell von Selbstbewusstsein vertritt, sondern letztgenanntes Bewusstseinsphänomen in vorreflexiven Vollzügen des Subjekts grundgelegt sieht. Am ausführlichsten kommt Dil­they auf diese Problematik am Ende der Breslauer Ausarbeitung zu sprechen. In engem Anschluss an Herbarts kritische Sichtung von Fichtes Selbstbewusstseinstheorie sucht Dil­they hier den Nachweis zu erbringen, dass die Größe ‚Selbstbewusstsein‘ nicht aus der für sie wesentlichen Bezugnahme eines Selbst auf sich selbst hergeleitet werden kann. Denn insofern sich ein Selbst auf sich bezieht, muss das Relat dieses Beziehens bereits als Selbst vorausgesetzt sein, weil sich das Selbst anderenfalls nicht auf jenes Relat als es selbst zu beziehen 43  Vgl. u. a. H.  Ineichen: Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt, 103– 125; U. Dierse: Leben und Selbstbewußtsein, 90–93; A. Haardt: Vom Selbstbewußtsein zum Leben; W. Ch. Zimmerli: Das Theorem der Tatsachen des Bewußtseins.



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vermöchte. Dieses gleichsam intendierte Selbst könne dann aber nur dadurch von sich als Selbst wissen, indem es sich selbst wiederum auf sich als Selbst bezöge, wodurch die Erklärung in einen unendlichen Regress gerät. Analog stellt es sich auch in umgekehrter Richtung dar, wenn danach gefragt wird, woher das sozusagen intendierende Selbst von sich als Selbst wisse.44 Es kommt sonach sowohl zu einem extensiven als auch zu einem intensiven Regress.45 Nun ist es keinesfalls so, dass Dil­they ob der Einsicht in diesen Regress das Phänomen ‚Selbstbewusstsein‘ in Frage stellen würde.46 Nicht dieses Phänomen ist fraglich, sondern seine Erklärung. Für diese sucht Dil­they nun aber in der Tat eine andere Lösung. Auf Basis der Unterscheidung von Bewusstseinsakt und Bewusstseinsinhalt hält er dabei nach einem Punkt Ausschau, „an welchem der Inhalt des Bewußtseins und der Bewußtseinsakt selbst für das Bewußtsein nicht außereinander sind, d. h. sich nicht wie Subjekt und Objekt gegenüberstehen“ (XIX 155). Worauf er bei dieser Suche stößt, ist „nichts anderes als die einfache Tatsache des Innewerdens irgendeines Zustandes, in welchem unser Selbst begriffen ist“ (ebd.), wie es unmittelbar in „Gefühl[en]“ und „Begierde[n]“ (XIX 160) gegeben sei, mittelbar aber – wie gesehen –47 auch jeden Wahrnehmungs- und Denkakt begleitet. „Ohne dieses Innewerden […] gelangte das Selbst als Gegenstand [niemals] dazu, sich mit dem Selbst als Subjekt eins zu wissen“ (XIX 161). Als zusammenfassenden Ausdruck für diese phänomenale „Grundlage“ (XIX 154) des Selbstbewusstseins spricht Dil­they von ‚Selbst-‘ oder ‚Lebensgefühl‘.48 Diese Feststellung eines vorreflexiven Ursprungs subjektiver Selbstheit fügt sich zwanglos in den größeren Theorierahmen von Dil­theys Erkenntnispsychologie ein. Wie gesehen hatte er im Blick auf den Aufbau des Außenweltbewusstseins ausdrücklich hervorgehoben, dass auch dieser Aufbau einen vorreflexiven Ursprung besitzt. Dessen Beschreibung kam zwar nicht ohne Einschluss kognitiver Bewusstseinsleistungen aus. Letztere gelangten aber nicht sogleich im Sinne bewusster Reflexion ins Spiel, sondern erwiesen sich als basale logische Grundoperationen, mithilfe derer das Subjekt bereits auf vorbewusster Ebene seine Bewusstseinstatsachen zu ordnen und vorbegrifflich zu artikulieren sucht. Stellt man nun in Rechnung, dass das Außenweltbewusstsein nur in Entsprechung zum Selbstbewusstsein ausgebildet und unterhalten werden kann, so ergibt sich 44 Zu dieser zweifachen Kritik an einer reflexionstheoretischen Herleitung des Selbstbewusstseins bei Herbart und den entsprechenden Parallelen bei Dil­they vgl. A. Haardt: Vom Selbstbewußtsein zum Leben, 296 ff. 45  Zu dieser begrifflichen Differenzierung vgl. K. Cramer: Ich und Ichbewußtsein, 18 f. 46  In seiner Rede von einer „vitiose[n] Zirkularität des Selbstbewußtseins“ wird dies insinuiert von M. Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte, 140. Dem gegenüber wäre jedoch darauf hinzuweisen, dass es prinzipiell „keine zirkulär verfassten Phänomene [gibt]“, sondern dass lediglich bestimmte Formen der „Erklärung des Zustandekommens von Selbstbewußtsein […] zirkulär ausfallen“ können (K. Cramer: Ich und Ichbewußtsein, 23). 47  Siehe dazu oben Abschnitt III.1.a. 48 Vgl. XIX 154. 161 ff. passim.

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der folgerichtige Sachverhalt, dass auch letzteres nicht das Produkt reinen Denkens sein kann, sondern auf eine im Bewusstseinsleben gleichsam tiefer liegende Ebene zurückverweist, auf deren Basis es sich allererst zu konstatieren vermag. Gemäß der methodischen Prämisse Dil­theys, im voll entwickelten Bewusstseinsleben – in dem Selbst- und Objektbewusstsein deutlich auseinandergetreten sind  – den Ausgangspunkt der psychologischen Beschreibung zu nehmen, ist klar, dass das Selbstbewusstsein in dieser Beschreibung immer schon in Anspruch genommen ist. Die Differenzierung von Selbstbewusstsein und Selbstgefühl ist folglich nicht derart zu verstehen, als ob damit zwei getrennte Tatbestände ins Auge gefasst würden. Man wird Dil­theys subjektivitätstheoretische Überlegungen von daher als elemententheoretisches Modell aufzufassen haben, in dem mittels Abstraktion psychisch-geistige Bestandteile differenziert werden, die im wirklichen Vollzug immer schon zusammenwirken. Diese kontinuierliche Einheit von bloßer Bewusstseinsagilität, vorreflexiver Selbsthabe und reflektiertem Selbstbewusstsein kann Dil­they  – wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird49 – dann auch nochmals mithilfe der Kategorie des Ausdrucks beschreiben. Darüber hinaus kann Dil­they die Differenz zwischen unausdrücklicher und ausdrücklicher Selbstbewusstheit methodisch aber auch dafür fruchtbar machen, um seine psychologische Herleitung des Selbstbewusstseins zugleich in eine ontogenetische Perspektive einzurücken.50 In analoger Weise trifft jenes elemententheoretische Vorgehen dann auch auf Dil­theys Beschreibung des Verhältnisses von Selbstbewusstsein und Objektbewusstsein zu. So spricht er etwa davon, dass „Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein nur die beiden Seiten desselben Gesamtbewußtseins sind“ (XIX 153). Das entwickelte Bewusstseinsleben stellt sonach eine komplexe Bewusstseinsgestalt dar, in der Selbst- und Weltbezug des Subjekts auf eine innere Weise verbunden sind, und zwar auf eine solche Weise verbunden sind, dass es keinen wirklichen Moment bewussten Lebens gibt, an dem nicht beide mentalen Einstellungen prinzipiell aufgezeigt werden könnten. So kann zwar jeweils eine von beiden Seiten gen null tendieren. Gänzlich ausgeschaltet werden kann sie aber niemals. Ob der Begriff ‚Gesamtbewusstsein‘ gut gewählt ist, kann allerdings gefragt werden. Deshalb bringt Dil­they schon in der Breslauer Ausarbeitung einen anderen Term zur Anwendung, der die geforderte innere Einheit seines Erachtens besser zu beschreiben vermag, nämlich den Begriff des „Lebens“. Dieser steht hier für die dem Subjekt im „Erlebnis“ (ebd.) präsente Duplizität seines mentalen 49  Siehe unten Abschnitt III.2.d. 50  So geht er davon aus, dass bereits

dem vorgeburtlichen und frühkindlichen Leben eine dunkle Ahnung der Differenz seines Eigenlebens von einem äußeren Etwas gegeben sei (vgl. V 100). Mit der Entstehung des Selbstbewusstseins aber wird diese Unterschiedenheit zu deutlichem Bewusstsein gebracht, was  – wie Dil­they bereits in der Breslauer Ausarbeitung hervorgehoben hat – mit dem Aufkommen der Ich-Vorstellung in den ersten Lebensjahren einhergeht (vgl. XIX 168). Dabei liegt der „wichtigste Hebel ihrer Ausbildung […] in der Vorstellung eines fremden Selbst“ (ebd., vgl. V 125. 132).



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Vollzugs, in dem sich dieses im Wechsel seiner inneren und äußeren Zustände ebenso als dieselbe eine und einfache Instanz gewahrt, wie es sich gleichzeitig auf eine von ihm unterschiedene Außenwelt bezogen findet. An dieser Begrifflichkeit hat Dil­they dann zeitlebens festgehalten,51 woraus zugleich zu ersehen ist, dass seine sogenannte spätere Lebensphilosophie52 nicht gegen seinen bewusstseinsphilosophischen Standpunkt ausgespielt werden kann. Im vorigen Abschnitt war gezeigt worden, dass das Bewusstseinsleben sich kraft einer anhaltenden Tathandlung konstituiert und kontinuiert. Dil­they hatte diesbezüglich von dem ‚in dem Bewußtsein Tätigen‘ bzw. von einem ‚Tätigen, Spontanen‘ gesprochen, das zugleich die innere Einheit des Bewusstseins bewirke. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf eine – freilich psychologisch gebrochene  – Nähe zum frühen Fichte hingewiesen. Sie findet durch das in diesem Abschnitt Gezeigte nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine entscheidende Präzisierung. Fichte hatte bekanntlich ein solches Modell entworfen, wonach sich das Bewusstseinsleben des Menschen aufbaut, indem sich die ‚Ichheit‘ dadurch in sich differenziert, dass sie sich in ‚Ich‘ und ‚Nicht-Ich‘ auseinanderlegt. Wenn Dil­they das bewusste Leben dergestalt beschreibt, dass dieses als ein ‚Tätiges‘ anzusehen sei, das sich seiner selbst präsent werde, indem es sich in sich von einem von ihm Unterschiedenen differenziert, so dürfte es nicht zu weit hergeholt sein, hierin eine Übernahme jener Fichteschen Figur zu erblicken. Rückhalt findet diese Vermutung nicht zuletzt darin, dass Dil­they den innerlich differenzierten Aufbau des mentalen Lebens – in dem „Selbst und Außenwelt originaliter verschieden“ (XIX 148) sind – begrifflich auch mithilfe der Begriffe ‚Ich‘53 und ‚Nicht-Ich‘54 beschreiben kann. Darüber hinaus finden sich auch noch im Aufbau und den im Umkreis dieser Schrift entstandenen Manuskripten überaus positive Bezugnahmen auf Fichte, die in die gleiche Richtung weisen. So ist etwa zu lesen: Die Einsicht, dass alle Formen der Intelligenz „im 51  Vgl. etwa seine Definition von ‚Leben‘ in einem späten Textfragment: „Leben ist der Wirkungszusammenhang, der zwischen dem Selbst und seinem Milieu besteht“ (VI 304). Freilich muss diese Definition nicht von vornherein so verstanden werden, dass sie aus der Innenperspektive bewussten Lebens formuliert ist. Sie kann auch im Sinne einer äußerlichen Beschreibung der Struktur von Leben aufgefasst werden. Stellt man aber in Rechnung, dass auch für den späten Dil­they der ‚Satz der Phänomenalität‘ – wenn hier auch unter der Bezeichnung des ‚Satzes des Erlebens‘ (vgl. VII 230) – seine Gültigkeit besitzt, so ist klar, dass die Kategorie des ‚Lebens‘ ihren Ursprung innerhalb der mentalen Vollzüge menschlicher Subjekte besitzt. Dazu passt auch, dass Dil­they die bereits in Leben und Erkennen (1892/93) vorgenommene Erweiterung des „psychologischen Standpunkt[s] zu dem biologischen“ (XIX 345) nur dadurch als gerechtfertigt ansieht, dass sie in den Bahnen der „ganz kritische[n] Auffassung“ verbleibt, wonach ursprünglich immer von einem innerlich „erfahrenen Lebens- und Bewußtseinszusammenhang die Rede“ ist, in den „als Bewußtseinstatsache Körper und Milieu eingeschaltet sind“ (XIX 346). 52 Vgl. F. Fellmann: Lebensphilosophie, 108–123. 53  So spricht er etwa von einer „Kontinuität des sich verändernden und in der Veränderung selbigen Ich“ (XIX 145). 54 „[D]ie Außenwelt“ ist „als […] Nicht-Ich gegeben“ (XIX 148).

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Grunde Tätigkeit“ sind, sei doch erst ganz hervorgetreten, „als Fichte in Setzung, Entgegensetzung, Zusammenfassung die Welt des Bewußtseins entstehen ließ“ (VII 100 f.). Dessen „tiefste Intention“ habe in „der angestrengten Versenkung des Ich in sich“ bestanden, in der „es sich nicht als Substanz, Sein, Gegebenheit, sondern als Leben, Tätigkeit, Energie“ (VII 157) findet.55 In der Forschung ist zurecht wiederholt betont worden, dass Dil­they Fichte insofern kritisch gegenübersteht, als er letzterem vorwirft, dass ihm „der Wille“ lediglich „ein sich in bloßen Denkhandlungen äußernder“ (XIX 158) sei. Unbeschadet dieser Kritik zeigt Dil­they sich auf tieferer Ebene dem Denken Fichtes aber partiell verpflichtet. Stellt man die bereits in der Preisschrift gegebene Fichte-Würdigung mit in Rechnung,56 so ergibt sich daraus der bemerkenswerte Sachverhalt, dass Dil­they die entscheidenden Grundlinien seiner Konzeption des bewussten Lebens maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit dem Denken des frühen Fichte aufgegangen sein dürften.

c.  Die Kategorialität der Erfahrung Wie gesehen, ist alle Wirklichkeit nur innerhalb subjektiver Bewusstseinsvollzüge gegeben. Das entwickelte Bewusstseinsleben differenziert sich dabei in die Formen von Selbst- und Außenweltbewusstsein, denen cum grano salis der Unterschied von innerer und äußerer Wahrnehmung entspricht. Auf Basis dieser Differenz kommt es zur mentalen Setzung sowohl eines Wirklichkeitsbereichs, der als unabhängig vom eigenen Bewusstseinsleben existierend vorgestellt wird, als auch eines Wirklichkeitsbereichs, in dem sich das Subjekt selbst thematisch wird – wobei sich schon im konkreten Selbstbild beide Bereiche komplex miteinander vermitteln. Bis hierhin war die obige Analyse gelangt. Dil­they zufolge ist der Aufbau der Wirklichkeitsauffassung damit aber noch nicht hinreichend beschrieben. Dafür bedarf es der Herausarbeitung eines weiteren Grundzugs. Dieser ist darin zu erblicken, dass alle Setzung von Tatbeständen und Sachverhalten immer mit der Anwendung kategorialer Vorstellungen einhergehe. Seine entsprechenden Überlegungen sollen im Folgenden in drei aufeinander aufbauenden Problemkreisen nachgezeichnet werden: Zunächst wird es um seinen Entdeckungszusammenhang der Kategorienproblematik gehen, der im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der kantischen Theorie der Objektivität zu verorten ist (1). Sodann soll Dil­theys lebensphilosophische Kritik des kantischen Kategorienverständnisses geschildert werden (2), um drittens schließlich auf seine deutungstheoretische Vertiefung zu sprechen zu kommen (3). (1) In der Breslauer Ausarbeitung hält Dil­they an einer Stelle lapidar fest: „Der Satz, daß die Verbindung zum Objekt nicht aus der Empfindung, aus den Sinnen 55  Vgl.

auch VII 234. 280. dazu oben die Abschnitte II.2.c sowie II.3.c.

56  Siehe



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stammen könne, daß somit im Subjekt Synthesis liege, ist richtig“ (XIX 156). Er bezieht sich damit offensichtlich auf einen Teilaspekt der kantischen Zwei-Stämme-Theorie, wonach die Einheit von Objektvorstellungen nicht durch die sinnlichen Anschauungen gegeben wird, sondern erst kraft einer synthetischen Tätigkeit derjenigen epistemischen Instanz zustande kommt, die diese Anschauungen hat. Zwar bringt Kant gegenüber rationalistischen Theoriemodellen den Sachverhalt zur Geltung, dass die Sinnlichkeit für den Aufbau aller Erkenntnis eine unhintergehbare Funktion besitzt. Umgekehrt betont er empiristischen Annahmen gegenüber, dass das Zustandekommen von Objektbewusstsein unter Rekurs auf die Sinnlichkeit allein nicht erklärt werden kann, da letztere nur unverbundene Data liefert. Deren Vereinigung kommt erst auf Basis subjektiv vollzogener Synthesen des solcherart gegebenen Mannigfaltigen zustande. Dil­they pflichtet Kant diesbezüglich völlig bei, wobei er sich dessen grundlegende Einsicht vermutlich schon recht früh zu eigen gemacht haben dürfte:57 Eine der ersten greifbaren schriftlichen Notizen findet sich in einem Vorlesungsmanuskript58 der 1870er Jahre.59 Hieran hat Dil­they auch später eindeutig festgehalten. So heißt es etwa in den Ideen: „Wir erkennen die Naturobjekte von außen durch unsere Sinne“. Aber „die Sinne [liefern uns] […] niemals die Einheit des Objektes. Diese ist für uns ebenfalls nur durch eine von innen stammende Synthese der Sinneserregungen da“ (V 169, vgl. 172). Hierin erschöpft sich Dil­theys positiver Kant-Bezug indes noch nicht. Angesichts sinnlich gegebener Mannigfaltigkeit kann das Subjekt nach Kant Objektvorstellungen nur dadurch erzeugen, dass es über bestimmte Formen der Einheitsstiftung verfügt, nach deren Maßgabe es das Anschauungsmannigfaltige zu gegenständlichen Zusammenhängen verbindet. Kant bezeichnet diese Formen als ‚Kategorien‘. Dil­they erblickt auch hierin eine unaufgebbare Einsicht von dessen kritischem Denken: Die Erkenntnis einheitlicher Gebilde in der äußeren Welt ergibt sich nicht auf eine unmittelbare Weise, sondern verdankt sich konstruktiver Akte des wahrnehmenden Subjekts, das die vielfältigen unterschiedlichen Sinneseindrücke mittels kategorialer Formungen zu innerlich zusammenhängenden Gebilden synthetisiert und vermöge dessen Objekte erkennen kann. 57  Zumindest erinnert er sich in einem Brief an seinen Bruder Karl vom November 1856 daran zurück, „wie ich im jetzigen Speisekämmerchen die alte kantische Logik, die ich in irgend einem Winkel gefunden hatte, verschlang“ (W.  Dil­t hey: Briefwechsel I, 55). Auch wenn diese Notiz nichts über den Umfang der jugendlichen Lektüre aussagt, so zeugt sie doch von einer schon früh einsetzenden Beschäftigung mit der Philosophie Kants. In der Preisschrift werden „Kants Kritiken“ gleichsam als „eherne[ ] Tore[ ]“ am „Eingang aller Bestrebungen unseres Jahrhunderts, die auf die Wissenschaften des Geistes gerichtet sind“ (XIX 669), gewürdigt. 58  Vgl. das in Band XIX abgedruckte Vorlesungsmanuskript, 398–401 – in dem sich freilich bereits die psychologisierende Kant-Lesart Dil­theys abzeichnet. 59  „Verbindung als solche kann nicht durch die Sinne überliefert werden […]. Und zwar ist die allgemeine Form, in welcher unser Geist seine Grundverhältnisse gestaltet, Synthesis“ (XIX 400).

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So bezeichnet Dil­they etwa in Leben und Erkennen (1892/93) die „Kategorien“ als den „Zusammenhang des Gegebenen, welchen alles Erkennen voraussetzt“ (XIX 359), wobei er explizit festhält, dass unter ‚Kategorie‘ „jedes System seit Kant[ ] […] einen Begriff [bezeichnet], der einen Zusammenhang ausdrückt oder herstellt“ (XIX 360 f.). Dil­they stimmt Kant also voll und ganz zu, dass die Vorstellung eines Objektes nur darum einheitlich verfasst sein kann, weil die Empfindungen kraft subjektiver Synthesishandlung zu einer inneren Einheit verbunden worden sind. Darüber hinaus ist er mit Kant darin einig, dass jene Verbindungen nicht anders als durch die Anwendung von Kategorien zustande kommen, die jene Einheitsbildung anleiten. Kants weitere Ausgestaltung seiner erkenntnistheoretischen Grundeinsicht hat Dil­they dann allerdings nicht mehr als überzeugend angesehen. Damit kommen wir zum zweiten Problemkreis. (2) Bereits im Kontext der zitierten Ausführungen in der Breslauer Ausarbeitung fragt Dil­they kritisch, „ob außer den Sinnen nur Verstandeshandlungen zur Erklärung der Objekte verwandt werden können“ (XIX 156). Diese Aussage enthält unterschiedliche Implikationen. Wir beschränken uns auf diejenigen Gesichtspunkte, die für seine Problematisierung der kantischen Kategorienlehre entscheidend sind.60 Anders als Aristoteles begnügt Kant sich nicht damit, die Kategorien mithilfe eines deskriptiv-summarischen Verfahrens lediglich aufzulesen, sondern er erhebt zugleich den Anspruch, sie systematisch abzuleiten.61 Dies tut er, indem er sich der in der formalen Logik gegebenen Liste der Urteilsformen bedient und einer jeden derselben eine bestimmte Kategorie zuweist. Die Berechtigung dieses Verfahrens ergibt sich für ihn zum einen daraus, dass die für die Objektvorstellung notwendige Verbindungsleistung durch kein anderes Vermögen als das des Verstandes erbracht werden kann. Zum anderen betätigt letzterer seine Funktion, objektive Einheit herzustellen, in der Form logischen Urteilens.62 Darum müssen die kategorialen Gesichtspunkte des Objektbewusstseins denjenigen Grundformen des Denkens korrespondieren, wie sie durch die Logik bereitgestellt werden. Dies ermöglicht es Kant, eine vollständige Tafel aller Kategorien aufzustellen und auf den Gesetzen des Denkens zu begründen. So sehr nun auch Dil­they davon ausgeht, dass die Synthesis-Handlung des Subjekts mithilfe kategorialer Formung erfolgt, so wenig ist er davon überzeugt, dass letztere allein aus der Struktur logischer Urteile deduziert werden können. Vorwegnehmend sei gesagt, dass er sich in seiner Überlegung eines apagogischen Beweises bedient. Dessen Obersatz lautet: Wenn Kants Beweisverfahren stichhal60  Eine andere Implikation betrifft den im vorhergehenden Abschnitt geschilderten Aufbau der Überzeugung des Subjekts, auf eine Außenwelt bezogen zu sein. 61 Vgl. O Höffe: Immanuel Kant, 89–93. 62 Vgl. U. Barth: Objektbewußtsein und Selbstbewußtsein, 207.



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tig wäre, dann müssten sich alle von ihm aufgestellten kategorialen Grundbegriffe in ihrer jeweiligen Struktur in logisch eindeutiger Weise rekonstruieren lassen. Das sei aber – so der Untersatz – mitnichten der Fall. Denn einige der von Kant herangezogenen Kategorien ließen sich allein mit den Mitteln des Denkens keineswegs hinreichend erfassen. Daraus folgt die Konklusion, dass nicht alle Kategorien reine Verstandesbegriffe seien, wie Kant annimmt, sondern dass dies nur auf solche Vorstellungen zutrifft, die sich auf dem Wege des Denkens restlos begreiflich machen lassen. Dil­they bezeichnet letztere als ‚formale Kategorien‘, zu denen er etwa Begriffe wie ‚Unterschied‘, ‚Gleichheit‘, ‚Identität‘, ‚Allgemeinheit‘ etc. zählt. Von ihnen hebt er die ‚realen Kategorien‘ ab, auf die das im Untersatz Gesagte zutrifft. Angesichts von deren nicht verstandesmäßigem Charakter entfällt Dil­they zufolge dann auch die Möglichkeit, sie sowohl in ihrem zahlenmäßigen Umfang als auch in ihrem taxonomischen Verhältnis definitiv bestimmen zu können.63 In der Einleitung hat Dil­they den entsprechenden Nachweis zunächst paradigmatisch64 im Blick auf die Kategorie der ‚Substanz‘ geführt. In dem zehn Jahre später verfassten Textfragment Leben und Erkennen hat er analoge Überlegungen dann auch für den Begriff der ‚Kausalität‘ angestellt.65 Wir beschränken uns im Folgenden auf die Ausführungen zur ‚Substanz‘, da das entscheidende Argumentationsmuster hier bereits zutage tritt. Bei Kant wird die Kategorie der Substanz bekanntlich – zusammen mit denen der Akzidenz bzw. Inhärenz – als notwendige Bedingung dafür eingeführt, wechselnde Erscheinungen überhaupt als Zustandsveränderungen ein und desselben Gegenstands begreifen zu können. Denn Veränderungen können niemals absolut, sondern immer nur im Verhältnis zu einem Substrat erfahren werden, an dem sie auftreten. Eben jenes Substrat begrifflich zu bezeichnen, soll der Substanzbegriff dienen. Dil­they bestreitet nun nicht, dass es zur Auffassung objektivrealer Sachverhalte einer Kategorie bedarf, mithilfe derer die unterschiedlichen Erscheinungen zu einer inneren Einheit zusammengenommen werden können. Auch die entsprechende Bezeichnung als ‚Substanz‘ stellt er nicht rundheraus in Frage. Er gibt aber zu bedenken, dass der Gehalt jener Kategorie nicht angemessen erfasst ist, wenn sie als ein reines Verstandesprodukt betrachtet wird. Entsprechend seiner apagogischen Beweisführung bedeutet das: Wenn der Substanzbegriff ein reiner Verstandesbegriff wäre, dann müsste er „als solche[r] dieser [sc. der Intelligenz] gänzlich durchsichtig sein“ (I 400). Zum einen zeige nun aber die Geschichte der abendländischen Philosophie, dass der Substanzgedanke niemals eine solche Eindeutigkeit erreicht habe wie dies im Blick auf die formalen Kategorien der Fall sei. Darum habe sich bis in die Gegenwart hinein auch keine einheitliche Verwendungsweise herausgebildet. Zum anderen lasse sich der 63 Vgl. XIX 361 f. 64  Denn es „würde

ermüden, wollten wir nun zeigen, wie der Begriff der Kausalität ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt“ (I 399). 65 Vgl. XIX 368–374.

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Substanzbegriff nicht in „widerspruchsloser Klarheit“ (I 398) entwickeln.66 Angesichts dessen erweist er sich nicht als aus dem Vermögen des Verstandes entspringend. Wie kommt die Substanzvorstellung dann aber zustande? Dil­theys Antwort lautet: „In der Totalität unserer Gemütskräfte, in dem erfüllten lebendigen Selbstbewußtsein […] liegt der lebendige Ursprung“ (I 401) jener Vorstellung. In einer Logik-Vorlesung aus den 80er Jahren heißt es parallel dazu: „Im Selbstbewußtsein ist uns die Konstanz eines Selben im Wechsel seiner Zustände […] gegeben“. Und wo wir uns in unserem Bewusstseinsleben auf Anderes unserer Selbst bezogen finden, „übertragen wir die Lebendigkeit unseres Selbst auf die Objekte“ (XX 203 f.). Auf den ersten Blick mag der Unterschied zu Kant nicht sogleich ins Auge springen, da auch dieser das Selbstbewusstsein als letzte Grundlage von Synthesis behauptet hat. Diesbezüglich ist aber daran zu erinnern, dass für Dil­they im Unterschied zu Kant das Phänomen des Selbstbewusstseins keine rein kognitive Größe  – kein bloßes ‚Ich-denke‘  – darstellt, sondern letztlich in vorreflexiven Vollzügen des bewussten Lebens gründet. Wie im vorigen Abschnitt gesehen, zeigt sich das ihm zufolge nicht zuletzt daran, dass das Phänomen von Selbstheit nicht mit den Mitteln des Verstandes rekonstruierbar war. Vielmehr geriet jeder Versuch einer reflexionstheoretischen Rekonstruktion in einen infiniten Regress.67 Für die hier interessierende Problematik bedeutet das: Erst vermöge seiner innerlich gegebenen Kenntnis der Struktur von Selbstheit – d. h. sich im Wechsel von Zuständen zugleich als Einheitliches bewusst zu sein – vermag das Subjekt auch im Blick auf anderes seiner selbst solchen Zusammenhang zu setzen. Dies geschieht dadurch, dass jene Struktur auf die in der unmittelbaren Wahrnehmung gegebenen Empfindungen projiziert wird, wodurch überhaupt erst die „Vorstellung“ eines „inneren Bandes“ (I 399) der letzteren entsteht. In einem späteren Manuskript heißt es dann entsprechend: „Die Selbigkeit ist die Kategorie, welche aus dem Selbstbewußtsein einen Lebenszusammenhang heraushebt, 66 Auf dem Wege des Denkens alleine lasse sich, erstens, kein hinreichendes Kriterium dafür benennen, wodurch die Einheit der Substanz von der Mannigfaltigkeit ihrer Zustände bzw. Eigenschaften abgegrenzt werden könnte. In analoger Weise lasse sich, zweitens, kein Beharrliches von dem ihm zugehörigen Eigenschaftswechsel sondern. Drittens lasse sich so nicht angeben, inwieweit eine Sache sich lediglich verändere und wo sie zu bestehen aufhört. Viertens schließlich müsse alle Substanz räumlich gedacht werden, weil sie anderenfalls keine sinnlichen Qualitäten aufweisen könnte. Alles Räumliche als solches ist aber teilbar, so dass der Aspekt der unteilbaren Einheit nicht mehr gedacht werden könne (vgl. I 398). 67  Nicht zuletzt deshalb kann dann übrigens auch der Lebensbegriff in eine große Nähe zum Begriff der Selbigkeit rücken. Vgl. etwa die beiden Stellen aus Leben und Erkennen: „Selbigkeit ist die intimste Erfahrung des Menschen über sich“ (XIX 362), sowie: „Der Ausdruck Leben spricht das einem jeden Bekannteste, Intimste aus“, das „zugleich aber das Dunkelste, ja ein ganz Unerforschliches“ (XIX 346) ist. Allerdings ist zu beachten, dass Dil­they mithilfe des Lebensbegriffs auch noch eine andere innere Erfahrung bezeichnen will, nämlich diejenige des bewussten Lebens, sich selbst als eine „Struktur“ zu erfahren, „welche von Reiz zu Bewegung geht“ (XIX 344). Zur Äquivozität des Lebensbegriffs bei Dil­they – der auch biologische Konnotationen haben kann – vgl. M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 131 f.



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welcher auch im Objekt wiedergefunden werden kann“ (XIX 363). Jene Kategorie stellt aber wie eben gesehen nicht das Produkt einer Verstandeshandlung dar, sondern verdankt sich dem inneren Einheitserleben von Subjekten, dessen Ursprung sich mittels intellektueller Vorstellungen letzthin nicht erklären lässt. Während Kant also die Kategorie der Substanz unter Rückgriff auf die Logik entwickelt und sie mithin als rein verstandesmäßige Größe betrachtet, geht Dil­ they davon aus, dass mit ihr kein Erzeugnis des Verstandes zur Anwendung komme. Vielmehr stelle sie die Artikulation der im erlebten Zusammenhang von Selbstheit gegebenen Einheitsform des Bewusstseins dar. Das meint er, wenn er davon spricht, dass sie „aus lebendigen Wurzeln“ (XIX 379) entspringt. Dieser Ursprung kann und konnte philosophiegeschichtlich aber in Vergessenheit geraten, und zwar darum, weil die in Frage stehende Kategorie „im Zusammenhang des Erkennens“ eine „abstrakte Form […] an[nimmt]“ (ebd.). (3) Das eben Gesagte trifft nun nicht nur auf die Kategorie der Substanz, sondern in analoger Weise auch auf die der ‚Kausalität‘ zu: Beide stellen Artikulationsgestalten vorreflexiver Einheitsformen dar, mit deren Hilfe sinnlich wahrnehmbare Tatbestände und Sachverhalte in ihrer Veränderlichkeit und in ihrem Ursachenzusammenhang begriffen werden können. In dieser Funktion sind sie für den Aufbau des Bewusstseins äußerer68 Gegenstände unentbehrlich und bilden darum – in ihrer abstrakten Form – auch eine wesentliche Grundlage für das naturwissenschaftliche Erkennen.69 Nun kennt die sinnlich vermittelte Erfahrung aber auch Gegebenheiten, für die die Anwendung von ‚Substanz‘ und ‚Kausalität‘ nicht hinreicht. Zum einen betrifft dies die Auffassung äußerlich beobachtbarer Zustände und Prozesse als Erscheinungen des individuellen und soziokulturellen Lebens. Dil­they kommt diesbezüglich auf die „Kategorien Essentialität oder Wesen, Zweck, Wert, Sinn, Bedeutung“ (XIX 374) zu sprechen. Mit ihrer Hilfe können sinnlich wahrnehmbare Tatbestände und Sachverhalte als Träger eines Innerlichen aufgefasst werden, weswegen Dil­they sie als „dritte Kategoriengruppe“ (XIX 378) hervorhebt. Zum anderen geht er wiederum davon aus, dass jene Kategorien Artikulationen vordiskursiver Einheitsformen des bewussten Lebens darstellen – so sehr auch sie zu abstrakten Formen gerinnen können.70 Mit Hilfe der „Kategorien von Wesen, Essentialität, Bedeutung, Sinn“ (XIX 375) wird die Wirklichkeitssicht nach einer tieferen Bewandtnisdimension 68 Dil­ theys Gegenstandsbegriff ist durch eine Äquivokation gekennzeichnet: Zum einen steht er – wie hier – für objektiv-real existierende Tatsachen und Sachverhalte; zum anderen bezeichnet er das Resultat einer verobjektivierenden Bezugnahme auf etwas überhaupt, somit auch Phänomene des inneren Bewusstseinslebens. 69 „Sie sind schlechterdings erforderlich für die naturwissenschaftliche Konstruktion der Außenwelt“ (XIX 378). 70  „Wie nun aus lebendigen Wurzeln Substanz und Kausalität entspringen, dann aber eine abstrakte Form im Zusammenhang des Erkennens annehmen, so findet dieselbe Entwicklung auch von diesen Begriffen aus statt“ (XIX 379).

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hin betrachtet. Die spezifische Erlebnisstruktur, die in ihnen „sich aus[spricht]“, hängt für Dil­they mit folgendem anthropologischen Sachverhalt zusammen: Alles mentale Leben weist für sich ein inneres „Zentrum“ auf, kraft dessen alles Gegebene danach bemessen wird, inwiefern es für das je eigene Dasein in positiver wie negativer Hinsicht entweder relevant oder nebensächlich ist. Anders gesagt: Ein Subjekt erlebt sich selbst und seine Umwelt nicht als bloße Summe gleichartiger Lebensmomente, sondern nimmt im Blick auf letztere evaluative Hierarchisierungen vor, so dass bestimmte Aspekte als entscheidend, andere als unwichtig erscheinen. So nennen wir „das am Leben, was so für uns dessen Mittelpunkt ist, das Wesentliche, das Essentielle. Wir sagen, daß Bedeutung und Sinn des Lebens hierin beruhen“ (ebd.). Letztgenannte kategoriale Vorstellungen dienen aber nicht nur zur Artikulation der Zentriertheit des bewussten Lebens, sondern können dann auch zu kategorialen Mustern weiterer Erfahrungen werden. Dies geschieht etwa dadurch, dass in historischer Perspektive nach der „Bedeutung oder de[m] Sinn einer Lebenseinheit, einer anderen Person“ (XIX 382), einer Epoche oder eines größeren Geschichtsverlaufs gefragt wird. In „anthropomorpher Verschiebung“ (XIX 377) bringen Dichtung und Religion auch „Bedeutung, Wert oder Sinn des Lebens“ (XIX 383) insgesamt zum Ausdruck. Allen diesen unterschiedlichen Anwendungsfeldern gemeinsam ist der Sachverhalt, dass empirisch vor Augen Stehendes nicht in seiner äußerlichen Gegebenheit belassen, sondern gleichsam zur Anschauung eines Wesentlichen sublimiert wird. Man könnte diesbezüglich von einer evaluativen Dimension von Bedeutung sprechen. In seinem späteren Werk hat Dil­they den hierin bereits implizierten kontextuellen Aspekt von Bedeutung weiter herausgearbeitet und ihn darüber hinaus um einen semiotischen ergänzt.71 Von hier aus sind Verbindungen zu ziehen zur Theorie sowohl poetischer Bedeutungskonstruktion72 als auch des Aufbaus historischer Bedeutungszusammenhänge73. Im Spätwerk hat Dil­they den Bedeutungsbegriff darüber hinaus zur Beschreibung einer grundlegenden Struktur von Erleben überhaupt herangezogen74 Die Kategorien des ‚Werts‘ und des ‚Zwecks‘ gehören ebenso hierher. Wie eben gesehen lassen Subjekte ihre Lebensmomente nicht teilnahmslos verstrei71  Bei dieser Differenzierung des Bedeutungsbegriffs orientiere ich mich an den drei Facetten, die Frithjof Rodi in seinen neueren Studien zu Dil­they herausgearbeitet hat, vgl. F. Rodi: Der Strukturzusammenhang des Lebens, 33 ff.; ders.: Immanente Teleologie, 79–82; ders.: Bezugspunkt Goethe, 100–104; ders.: Der ‚schaffende‘ Ausdruck, 122–126; ders.: „Der Zweck ist eben das strukturierte Ganze selbst“,146–150. Zur evaluativ-kontextuellen Dimension siehe unten Abschnitt III.4.b.ii–iii, zur semiotischen siehe unten Abschnitt III.3.d. 72  Siehe unten Abschnitt III.5.a.ii. 73  Siehe dazu unten den Abschnitt III.4. 74  Vgl. dazu C. Kramer: Erleben, Erlebnis; ders.: Erlebnis, 590 ff. Allerdings lässt Cramer Dil­theys Erlebniskonzeption in letztgenanntem Text – zusammen mit allen übrigen dort besprochenen Protagonisten philosophischer Psychologie – lediglich in Aporien enden. Für eine spätere partielle Revision dieser Sichtweise vgl. Ders.: Ich und Ichbewußtsein, 20 ff.



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chen, sondern fassen letztere auf Basis ihrer inneren Lebendigkeit unter einem evaluativen Gesichtspunkt auf. Innerhalb des menschlichen Bewusstseinshaushaltes wird diese Funktion von den „Triebe[n]“ und „Gefühle[n]“ übernommen. „Reizmannigfaltigkeit wird an ihnen gemessen und von ihnen aus gewertet, wir bezeichnen diese ihre Beziehung zu uns als Wert“ (XIX 374). Auf Basis dessen entstehen dann Vorstellungen von inneren und äußeren Zuständen, die das Subjekt kraft seines Willens positiv oder negativ zu bewirken sucht. Damit einher geht zugleich die Identifikation und Zusammenfassung vorhandener oder antizipierter Begebenheiten als Mittel, derer es zum Erreichen der vorgestellten Handlungsziele bedarf. Die Setzung eines solchen praktischen Vorstellungszusammenhangs können wir „nur angemessen durch den Tropus von Zweck und Mittel ausdrücken“ (XIX 377). Und auch die Wert- und Zweckvorstellungen können dann wiederum zu kategorialen Mustern weiterer Erfahrung werden. Infolgedessen wird einerseits Tatbeständen und Sachverhalten der äußeren Wirklichkeit ein Wert zugeschrieben, seien es andere Personen, seien es Lebewesen oder Gegenstände der Natur. Andererseits wird bestimmten äußeren Ereignissen eine Zweckstruktur unterlegt, so dass diese nicht mehr bloß als mundane, sondern darüber hinaus als intentional herbeigeführte Zustandsveränderungen aufgefasst werden können. Religion und Dichtung wenden diese Kategorien dann wiederum in ‚anthropomorpher Verschiebung‘ auch auf außermenschliche Zusammenhänge bzw. die Welt als Ganze an.

d.  Der interpretative Charakter aller Wirklichkeitsauffassung Dil­ theys allgemeine erkenntnispsychologische Überlegungen besitzen grundlegende Konsequenzen für seine Theorie des Verstehens: Ein rein unmittelbares Verstehen kann es in Dil­theys Augen nicht geben  – unbeschadet manch anderslautender Redeweise.75 Denn als Ergebnis seiner erkenntnispsychologischen Überlegungen ist festzuhalten, dass der Mensch keine Wirklichkeit kennt, die nicht durch seine subjektiven Bewusstseinsvollzüge vermittelt wäre. Das Verhältnis von Erkenntnispsychologie und Verstehenstheorie wäre jedoch unterbelichtet, wenn man es bei dieser Feststellung belassen würde. Denn letztere sattelt nicht einfach auf der erkenntnispsychologischen auf. Vielmehr erfährt auch die erkenntnispsychologische Grundlegung umgekehrt eine deutungstheoretische Vertiefung. Dies sei im Folgenden zunächst im Blick auf die äußere Erfahrung geschildert, wobei sich bemerkenswerte Konsequenzen für die Einschätzung des epistemischen Charakters naturwissenschaftlichen Erkennens ergeben werden (1). Im Anschluss daran wird dann zu zeigen sein, wie sich der Verstehensbegriff im Blick auf die Innerlichkeitsauffassung sowohl des eigenen (2) als auch des fremden Lebens (3) darstellt. 75 Vgl.

V 170. 172.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

(1) Wie gesehen,76 ist die Setzung außenweltlicher Tatsachen und Sachverhalte konstitutiv durch den Vollzug kognitiver Prozesse mit bedingt. Zwar war es Dil­ they darum zu tun gewesen, gerade auch die Bedeutung nichtkognitiver Vollzüge herauszuarbeiten. Damit ging aber nicht etwa die Behauptung einher, das Denken spiele bei alledem keine Rolle. In Form ‚elementar-logischer‘ Denkoperationen  – Beziehen, Unterscheiden, Gleichfinden, Trennen, Abstrahieren etc. – bildet es vielmehr einen grundlegenden Bestandteil bereits auf der Ebene des Erlebens. In Leben und Erkennen spricht Dil­they diesbezüglich von der „Intellektualität der Sinneswahrnehmung“ (XIX 335). Gerade diese bei der äußeren Gegenstandssetzung beteilgten „intellektuellen Vorgänge[ ]“ (XIX 334) werden von Dil­they nun aber explizit als Deutungsleistung eingestuft. Denn schon die Vorstellung eines einheitlichen und real existierenden Objekts ist in gewisser Hinsicht als Interpretationsprodukt anzusehen: „Ich kann nun die Beziehung des Empfindungsaggregats auf den Gegenstand als eine Interpretation einer unmittelbar gegebenen Empfindungsmannigfaltigkeit auffassen. Ich kann diese Interpretation auffassen als einem Schluss äquivalent, welcher diese unmittelbar gegebene Empfindungsmannigfaltigkeit als eine Wirkung ansieht, zu welcher nun die Ursache durch Interpretation hinzugedacht werden muß“ (XIX 337). Dass den kognitiven Bewusstseinsvollzügen ein interpretativer Charakter zugeschrieben werden kann, hat einen doppelten Grund. Zum einen ist jeder konkrete Denkvollzug immer durch das vollziehende Subjekt mitbestimmt. Denn was und woraufhin etwas ausgewählt, verglichen oder auch unterschieden wird, ist von der willentlich geleiteten Richtung der Aufmerksamkeit bedingt.77 Die ‚intellektuellen Prozesse‘ führen darum nicht etwa zu einer unmittelbaren Abbildung von Wirklichkeitsstrukturen, sondern stellen das Resultat subjektiver Bezugnahmen und Verarbeitungsprozesse dar. Zum anderen haben die vorgenommenen mentalen Setzungen auf diskursiver Ebene nicht den Status zwingender Notwendigkeit, sondern stellen streng genommen lediglich mögliche Verbindungen dar.78 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Dil­they damit durchaus in die Nähe zu der von ihm als unzureichend kritisierten Theorie des Außenweltbewusstseins gerät, für die die Gewissheit äußerer Realität auf einer hypothetischen Annahme des Denkens beruhte. Von dieser Konzeption unterscheidet sich seine eigene Auffassung letztlich nur dadurch, dass er in bewusstseinsphänomenologischer Beschreibung nichtkognitive Faktoren benennt, die den Vollzug des Außenweltglaubens veranlassen. In letzter Hinsicht bleibt es aber auch für ihn bei 76  Siehe

dazu oben Abschnitt III.1.b.

77  Zur fundamentalen Rolle der Aufmerksamkeit siehe oben Abschnitt III.1.a. 78  Hierfür sei exemplarisch darauf verwiesen, dass Dil­they im Kontext der Außenweltpro-

blematik ausdrücklich in Rechnung stellt, dass die Voraussetzung der Realität der Außenwelt – so gewiss sie dem Bewusstseinsleben sein mag – nicht prinzipiell auch durch eine andere ersetzt werden könnte: „Wohl kann diese Voraussetzung [sc. der Realität der Außenwelt] durch eine andere ersetzt werden, und diese kann niemals völlig ausgeschlossen werden“ (V 128).



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einer hypothetischen Annahme. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass schon das äußere Gegenstandsbewusstsein in bestimmter Hinsicht als Deutungsprodukt angesehen werden kann. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine prima facie überraschender Befund: Wenn nämlich alle Setzung außenweltlicher Realität als Ergebnis eines Interpretationsvorgangs erscheint, dann müsste auch dem Erkennen der Naturwissenschaften ein interpretativer Charakter eignen. Dies mag zunächst verwundern, gilt Dil­they doch gemeinhin als derjenige, der von einer harten Dichotomie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ausgegangen sei, wonach letztere gerade dadurch ausgezeichnet seien, dass Begriffe wie ‚Verstehen‘, ‚Deuten‘, ‚Interpretieren‘ nicht auf sie angewendet werden könnten. Dass er das naturwissenschaftliche Erkennen aber tatsächlich als Deutungsvorgang ansieht, dafür spricht eine Stelle in der Poetik, in der er neben Dichtung und Religion die Wissenschaft überhaupt  – und damit eben auch die naturwissenschaftliche Wirklichkeitsbeschreibung – als ein „Organ des Weltverständnisses“ (VI 116, Hvh. v. Verf.) apostrophiert. Derselbe Sachverhalt ließe sich auch nochmals kategorientheoretisch begründen. Im vorigen Abschnitt ist dargelegt worden, dass aller Erfahrungsaufbau mithilfe kategorialer Vorstellungen verläuft. Dil­they kann von den „realen Kategorien“ nun aber auch als von den „Organe[n] alles Verständnisses von Wirklichkeit“ (XIX 360, Hvh. v. Verf.) sprechen. Wenn aber jede Wirklichkeitserfahrung im Zusammenhang der ‚realen Kategorien‘ den Gebrauch von ‚Verstehensorganen‘ bedeutet, wenn zu den ‚realen Kategorien‘ auch ‚Substanz‘ und ‚Kausalität‘ zählen und wenn letztere „schlechterdings erforderlich“ sind auch „für die naturwissenschaftliche Konstruktion der Außenwelt“ (XIX 378), dann kann das nichts anderes heißen, als dass auch das Erkennen der Naturwissenschaften in letzter Konsequenz eine Form von Verstehen darstellt. Dil­they hat dies indes nicht weiter ausgeführt. Folgendes dürfte ihm vor Augen gestanden haben. Wie gesehen, stimmt er mit Kant darin überein, dass die Verbindung mannigfaltiger äußerer Wahrnehmungen zur Vorstellung einer objektiv-realen Einheit nicht schon mit der Wahrnehmung als solcher gegeben ist. Dafür bedarf es vielmehr einer aus dem Inneren des Subjekts stammenden Synthesis-Leistung, die sich kraft der Anwendung von Kategorien vollzieht. Während Kant aber davon ausging, dass die Konstitution einer Objektvorstellung ausschließlich durch die Anwendung von Verstandeskategorien erfolgt, hatte Dil­ they hervorgehoben, dass sich ‚Substanz‘ und ‚Kausalität‘ nicht auf verstandeslogischem Wege ableiten lassen. Daraus folgerte er, dass sie nicht dem diskursiven Denken entspringen können, sondern als Artikulationen vorreflexiver Einheitsformen des bewussten Lebens anzusehen sind. Dass letztere für die Erzeugung von Einheit in der Mannigfaltigkeit herangezogen werden, bedeutet nun aber, dass sich die Konstitution des äußeren Gegenstandsbewusstseins der Anwendung jener Einheitsformen verdankt. Anders gesagt: Der Mensch erschließt sich die gesamte äußere Wirklich-

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keit nach Maßgabe von Einheitsstrukturen, die ihm aus seinem inneren Erleben bekannt sind. Auch die Naturwissenschaften ruhen letztlich auf dieser Grundlage auf – so sehr sie dann auch in ihrem Erkenntnisvollzug von ihr abstrahieren. Angesichts dessen aber kann eben auch das von ihnen bereitgestellte Wirklichkeitswissen in einer letzten Hinsicht als ein Deutungswissen betrachtet werden. Die objektive Gültigkeit naturwissenschaftlichen Wissens wird dadurch freilich massiv herabgemindert.79 (2) Kommen wir nochmals auf jene kognitiven Deutungsprozesse zurück. Sie spielen nämlich nicht nur im Aufbau des äußeren Gegenstandsbewusstseins eine grundlegende Rolle. In Leben und Erkennen hebt Dil­they ausdrücklich hervor, dass Prozesse dieser Art auch im Bereich der inneren Wahrnehmung und Erfahrung unhintergehbar zum Tragen kommen. So sind alle hierzu zählenden Bewusstseinsphänomene dadurch ausgezeichnet, nicht in reiner Unmittelbarkeit aufzutreten. Vielmehr erweisen sie sich immer schon durch Vollzüge des Denkens strukturiert. Ein ganz basales Phänomen, an das in diesem Zusammenhang gedacht werden könnte, ist das einer konkreten Schmerzempfindung. Zwar kann letztere insofern als ‚unmittelbar‘ bezeichnet werden, als hier keine Trennung zwischen Bewusstseinsakteur und im Bewusstsein erscheinendem Gehalt gesetzt wird.80 Gleichwohl fallen im Schmerzgefühl Fühlen und Gefühltes nicht ununterscheidbar zusammen, sondern heben sich – bereits auf Ebene des Gefühls – voneinander ab. ‚Unterscheiden‘ stellt für Dil­they aber nichts anderes als eine ‚elementar-logische‘ Funktion dar. Auch im Bereich des inneren Erlebens gibt es also keine reine unmittelbare Wahrnehmung, sondern „schlechterdings alles, was in mein Bewußtsein fällt, enthält Gegebenes […] in intellektuellen Vorgängen aufgefaßt“ (XIX 335). In Analogie zu oben spricht Dil­they diesbezüglich von der „Intellektualität der inneren Wahrnehmungen“ (XIX 335) bzw. der „Intellektualität der inneren Erfahrung“ (XIX 336). Diese Begrifflichkeit hat er in den Ideen wieder aufgenommen.81 Für unsere Fragestellung ist nun entscheidend, dass Dil­ they auch in diesem Kontext die kognitiven Vollzüge als Interpretationsleistungen ansprechen kann. So ist die innere Wahrnehmung und Erfahrung – wie Dil­they im Blick auf die religiöse Erfahrung exemplarisch hervorhebt – immer „durch 79  Entsprechend heißt es in den Ideen: „Hypothesen [haben] nicht nur als bestimmte Stadien in der Entstehung naturwissenschaftlicher Theorien eine entscheidende Bedeutung: es läßt sich auch nicht absehen, wie bei äußerster Steigerung der Wahrscheinlichkeit unserer Naturerklärung ihr hypothetischer Charakter jemals ganz zum Verschwinden gebracht werden könnte“ (V 141). In der Konsequenz dessen läuft Dil­theys Konzeption der Sache nach damit auf einen „erkenntnistheoretischen Fallibilismus hinaus“ (H. Johach/F. Rodi: Vorbericht der Herausgeber, XXV). 80  So muss meines Erachtens folgende Stelle aus der Breslauer Ausarbeitung gelesen werden: „Es gibt ein Bewußtsein, welches nicht dem Subjekt des Bewußtseins einen Inhalt gegenüberstellt (vor-stellt), sondern in welchem ein Inhalt ohne jede [sc. äußere] Unterscheidung steht“ (XIX 66). 81 Vgl. V 172.



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intellektuelle Prozesse angeordnet und interpretiert“ (XIX 336, Hvh. v. Verf.). Im Unterschied zum äußeren Gegenstandsbewusstsein aber, in dem die Interpretationsleistung für das Beziehen der einheitlichen Vorstellungen auf einen als unabhängig vom subjektiven Vorstellen existierend vorgestellten Gegenstand Platz hatte, bezeichnet die kognitive ‚Interpretation‘ hier nicht die Konstruktion von Einheit überhaupt, sondern steht für die Konstruktion von deren konkreter Gestalt. Der interpretative Charakter der inneren Erfahrung erschöpft sich indes nicht in der Beteiligung kognitiver Vollzüge. Darüber hinaus reichert er sich nochmals dadurch an, dass die nicht-kognitiven Bewusstseinsvorgänge ebenso als Deutungsleistungen anzusehen sind – etwa wenn eine gegenwärtige oder vergangene Lebenslage in einer bestimmten Gefühlsäußerung hinsichtlich ihres ‚Werts‘ und ihrer ‚Bedeutung‘ beurteilt wird oder wenn eine Reihe von Lebensvollzügen einem einheitlichen ‚Zweck‘ untergeordnet werden. Auch dafür steht jene oben zitierte Rede von den ‚realen Kategorien‘ als ‚Organen des Verstehens ‘. Auf dem Feld der inneren Erfahrung stellen diese zwar nicht überhaupt erst Verbindung her, sondern bringen lediglich einen „gegebenen Zusammenhang des Lebens uns zum Bewußtsein“ bzw. „[drücken] einen Zusammenhang aus[ ]“ (XIX 360). Aber schon jede solche Artikulation kann als ein Akt primordialer Deutung angesehen werden – wobei sich solche emotiv-volitionalen Wirklichkeitsinterpretationen auf komplexe Weise mit jenen intellektuellen Interpretationsprozessen verschränken. Beiden gemeinsam ist, dass sich in ihnen eine Selbsttätigkeit des Subjekts zur Geltung bringt, qua derer sich die Behauptung jeder reinen Unmittelbarkeit als bloße Prätention erweist. (3) Die realen Kategorien bilden nun aber nicht nur Artikulationen vorreflexiven Einheitserlebens. Darüber hinaus fungieren sie – wie im vorigen Abschnitt gesehen – auch als kategoriale Muster zur hermeneutischen Erschließung einer Innendimension äußerlich gegebener Sachverhalte. Mit ihrer Hilfe kann die zunächst nur sinnlich gegebene äußere Wirklichkeit dahingehend aufgefasst werden, inwiefern ihre Zustände und Prozesse als Ausdrucksphänomene von Innerlichkeit betrachtet werden können. Ein vergleichsweise einfaches Beispiel hierfür war die Anreicherung der Wahrnehmung mundaner Zustandsveränderungen zur Wahrnehmung intentional herbeigeführter Zustandsveränderungen, wie sie im Handlungsverstehen erfolgt. Über die Sphäre interpersonalen Verstehens hinaus gilt jene Innenanreicherung von Äußerem dann aber auch für alle Auffassungsvollzüge im Bereich von Kultur und Gesellschaft. In dieser Hinsicht hat Dil­they in seinem späten Aufsatz zur Hermeneutik festgehalten: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen“ (V 318). Dabei baut sich Verstehen auf, indem verschiedene Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungsebenen aufeinander bezogen werden: Äußerlich Gegebenes wird nicht

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in seiner bloßen Äußerlichkeit belassen, sondern im Lichte der Kategorien auf eine höhere Sinnebene bezogen. Diesbezüglich hat Dil­they schon früh – anhand des Paradigmas des interpersonalen Fremdverstehens  – von einer „Verbindung der äußeren und der inneren Wahrnehmung“ (XIX 223) gesprochen. Über diese Verbindung hinaus kann sich die Verstehensstruktur dann mit weiterer Komplexität anreichern, wenn bereits verstandenes Äußeres nochmals von einer höheren Warte aus einer Deutung unterzogen wird. Dies ist für Dil­they vornehmlich in Dichtung und Religion der Fall. Denn sowohl in dichterischer als auch in religiöser Einstellung kann soziokulturellen und individuellen Begebenheiten der Geschichte ein höherer bzw. tieferer ‚Wert‘ ‚Zweck‘ oder ‚Sinn‘ zugeschrieben werden.82 Dil­they kennt also einen weiten und einen engen Verstehensbegriff. In seiner größten Weite steht letzterer für die subjektive Eigenaktivität aller Wirklichkeitsauffassung. Insofern letztere auch in der – vorrangig kognitiv geprägten – Auffassung der Natur als Natur auffindbar ist, kann dabei sogar die naturwissenschaftliche Wirklichkeitserklärung als Verstehensvorgang angesehen werden. Der Verstehensbegriff im engeren Sinne kommt dort zur Anwendung, wo es um die Auffassung von Innerem geht, und zwar unabhängig davon, ob dieses Innere aus dem privilegierten Zugang der Ersten-Person-Perspektive oder einem Zugang von außen erfolgt. Angesichts dessen kann Dil­they – neben Nietzsche – geradezu als Vorreiter des späteren sogenannten Interpretationismus83 angesehen werden.84 Die engere Begriffsfassung ist für ihn dann freilich die entscheidende. Denn seine lebenslange Arbeit war dem Projekt einer Philosophie der Geisteswissenschaften gewidmet – die auch die vorwissenschaftlichen Bedingungen dieser Wissenschaftsgruppe mit einschließt. Angesichts dessen hat Dil­they die theoretischen Ansätze zu einer entsprechenden Grundlegung der Naturwissenschaften nicht weiter verfolgt, sondern sich dann überwiegend der theoretischen Rekonstruktion der Verstehensthematik im engeren Sinne gewidmet. In dieser Einschränkung wird der Verstehensbegriff auch in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit weiter verfolgt werden.

82 Daneben bieten Dichtung und Religion freilich auch Deutungen äußerer Wirklichkeit, etwa in poetischen Beschreibungen der Natur oder religiösen Auffassungen natürlicher Phänomene. 83  Für eine solche Position stehen in der Gegenwart vor allem die Werke von Günter Abel und Hans Lenk. 84  Dass diese philosophiegeschichtliche Verbindungslinie zumeist nicht präsent ist, hat sicherlich darin seinen Grund, dass Dil­theys Verstehensbegriff in der Regel ausschließlich im Lichte der Unterscheidung von ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘ verhandelt wurde und wird. Zur Relativierung von deren Bedeutung im Blick auf Dil­they siehe oben Abschnitt III.1.d sowie unten Abschnitt III.4.a.ii.

2.  Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens In seiner Analyse des psychologischen Verstehens hat Dil­they seine erkenntnispsychologische Theorie exemplarisch zur Anwendung gebracht und zugleich vertieft. In ihr geht es folglich darum, die subjektiven Bewusstseinsleitungen herauszuarbeiten, mithilfe derer sich für ein Subjekt dessen interpersonale Wirklichkeit aufbaut. Solche Betrachtung bedarf freilich einer Distanzierung gegenüber dem Standpunkt des alltäglichen Lebens. Denn wie Dil­they in einer Studie aus dem Umfeld der Breslauer Ausarbeitung festgehalten hat, inhäriert dem Verstehen auf diesem Standpunkt ein bestimmter „Schein“ (XIX 223), der den Zugang zu den beteiligten Bewusstseinsvollzügen zunächst verdeckt. Jener ‚Schein‘ äußert sich dabei in zwei Grundzügen. Zum einen meint das Verstehenssubjekt im Alltag, seine Mitsubjekte „unmittelbar“ (ebd.) vor sich zu haben, ohne sich dessen bewusst zu sein, sie nur im Medium eigener Bewusstseinstatsachen zu besitzen. Zum anderen scheint auch deren jeweils innere Zuständlichkeit unmittelbar zugänglich zu sein: „Wie durch eine körperliche Hülle glauben wir durch Laute und Gesten [von] anderen Menschen in deren Inneres zu blicken“. Diese doppelte Unmittelbarkeitsprätention stellt für Dil­they das Charakteristikum alltäglichen Interpersonalitätsverstehens dar. Aus der Perspektive philosophischer Selbstbesinnung hingegen erweise sich dies geradezu als „Irrtum“ (ebd.). Denn auch die Auffassung anderer Personen steht notwendig unter den Bedingungen des je eigenen Bewusstseins. In der Breslauer Ausarbeitung hat Dil­they diesen Sachverhalt pointiert zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es gleich zu Beginn: „alle diese Gegenstände, selbst die Personen mit inbegriffen, mit denen ich in Beziehung stehe, sind für mich nur da als Tatsachen meines Bewusstseins“ (XIX 58, Hvh. v. Verf.). Welche Konsequenzen sich daraus für eine Theorie des Interpersonalitätsverstehens ergeben, wird im Folgenden zu zeigen sein. Der erste Unterabschnitt widmet sich dem Problem, wie auf Basis des bewusstseinsphänomenologischen Standpunkts erklärt werden kann, dass ein Subjekt überhaupt die Annahme ausbildet, in der Außenwelt auf fremde Subjektivität zu stoßen (a). Im Anschluss daran geht es um die mentalen Operationen, die im Verstehen fremder Personen im Spiel sind (b). Die hierbei beanspruchte konstitutionstheoretische Voraussetzung des Vorliegens fremder Lebensäußerungen soll im dritten Unterabschnitt bedacht werden (c), um im Anschluss daran Dil­theys Ausdruckstheorie in subjektivitätstheoretischer Hinsicht zu rekonstruieren (d).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

a.  Die Identifikation fremder Lebensäußerungen Um sich einen Zugang zu Dil­theys Beschreibung des Interpersonalitätsverstehens zu bahnen, ist zunächst zu fragen, wodurch es einer individuellen Bewusstseinseinheit überhaupt möglich ist, innerhalb der vermittels äußerer Wahrnehmung gegebenen Außenweltvorstellungen – Dil­they spricht diesbezüglich in der Regel von „Zeichen“1 – nicht allein eine Anzeige für physikalische Zustände und Prozesse zu erblicken, sondern in diesen zugleich bewusstes Leben repräsentiert zu finden? Der Vorgang stellt sich seines Erachtens folgendermaßen dar. Auf Grundlage der Unterscheidung von innerer und äußerer Wahrnehmung differenziert ein Bewusstseinsleben seine mentalen Gehalte einerseits in Gewahrnisse seiner eigenen Zustände, andererseits in Repräsentationen, die etwas von seinem eigenen Bewusstseinsleben Verschiedenes mental zur Darstellung bringen. Dabei unterscheiden sich diese Repräsentationen nochmals dahingehend, ob sich das auffassende Subjekt in ihnen auf eine der eigenen Daseinsstruktur gegenüber fremde Wirklichkeit bezogen weiß oder ob es im Blick auf sie zu der Auffassung gelangt, in ihnen solche Größen gegeben zu finden, die sich dem eigenen bewussten Leben gegenüber als wesensverwandt einstufen lassen. In letztgenanntem Fall kommt es zum Aufbau eines fremdpsychischen Bezugspunktes in der Außenwelt. Die Feststellung des Vorliegens von Wesensverwandtschaft zu einem in der Außenwelt gegebenen Sachverhalt ist dem Subjekt aber nur dadurch möglich, dass es sich selbst als ein psycho-physisches Wesen kennt, dessen eigene innere Zustände immer auf irgendeine Weise gekoppelt sind an außenweltliche Erscheinungen. So sind mit dem „originaliter uns allein unmittelbar gegebenen Innenleben“ notwendig zugleich „Vorstellungen von den mit ihm verketteten Äußerungen“ (I 20) verbunden. Diese innere Erfahrung – von mit der eigenen Körperlichkeit verbundenen Außenweltrelaten des eigenen Erlebens – stellt die prinzipielle Ermöglichungsbedingung dafür dar, das ein Bewusstseinsleben überhaupt auf fremdes Leben zu stoßen vermag. Denn das bewusste Leben ist überhaupt erst durch jene seelisch-leibliche Erlebnisstruktur dafür sensibilisiert, in der Außenwelt Anhalt für Psychisches gleichsam suchen und finden zu können. Um bestimmte in der äußeren Wahrnehmung gegebene Tatbestände dann den eigenen Lebensäußerungen gegenüber als „verwandte[ ] Erscheinungen der Außenwelt“ (ebd.) einstufen zu können, werden jene Tatbestände zunächst mit den ‚Vorstellungen von den mit dem eigenen Innenleben verketteten Äußerungen‘ verglichen. Insofern das Vorliegen eines entsprechenden Verwandtschaftsverhältnisses festgestellt wird, kann auf ein diesen „verwandten Erscheinungen in der Außenwelt entsprechend Verwandtes“ (I 20 f.) zurückgegangen werden. Dieser Akt bedient sich folglich elementarer logischer Operationen – die allerdings nicht auf der Ebene bewusst vollzogener Vollzüge getätigt werden, sondern vorbewusst ablaufen.2 Nicht zu1  XIX 183 ff.187 f. 190 2  Seit

passim. den Ideen spricht Dil­they diesbezüglich von den „elementaren logischen Operatio-



2.  Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens

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letzt deshalb lässt sich dieser komplexe psychische Vorgang Dil­they zufolge „logisch als ein Analogieschluß […] darstellen und rechtfertigen“ (ebd.). Denn, wie gesehen, sind „geistige Wesen“ nur „kraft eines Vorgangs von Übertragung unseres Inneren in dieselbe [sc. Außenwelt] da.“ (I 20) In der Breslauer Ausarbeitung spricht Dil­they diesbezüglich auch von der „analogische[n] Konstruktion anderer Ichs“ (XIX 168), durch die spezifische außenweltliche Tatbestände „sozusagen mit dem Vorzeichen des Ich“ (XIX 164) versehen werden. Dil­they will damit allerdings nicht etwa behaupten, dass der hier in Frage stehende Identifikationsakt den Status eines logisch zwingenden Gedankens hätte. Die Identifikation fremden Lebens erfolgt nicht mit strenger Notwendigkeit, sondern besitzt stattdessen den Status eines Deutungsaktes. Deshalb sagt Dil­they auch nicht, dass hier ein Analogieschluss vorliege, sondern nur, dass ein Erkenntnisakt vollzogen wird, dessen innere komplexe Struktur der Form nach als Analogie dargestellt werden kann. Die Komplexität des Verstehensvorgangs, wie sie auf dem Weg der bisher angestellten psychologischen Analyse zutage getreten ist, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vielfältigen mentalen Prozesse, die zum Aufbau von Fremdbewusstsein führen, im realen Vollzug in der Regel nicht eigens zu Bewusstsein kommen. Deshalb wissen wir „gewöhnlich bei Auffassung anderer nichts von einem zusammengesetzten Vorgang. Die Auffassung eines fremden Inneren scheint uns unmittelbar stattzufinden […]. Eines zusammengesetzten Verfahrens sind wir uns nicht bewußt“ (XIX 223). Der Grund dafür liegt zum einen darin, dass die Verfahrenselemente derart komplex ineinandergreifen und mit solch „ungemeine[r] Schnelligkeit“ (XIX 225) ablaufen, dass sie in ihrer Differenziertheit nicht ins Auge fallen. Zum anderen gelangen jene Elemente des Verstehensprozesses nicht zu Bewusstsein, da im Zusammenhang der alltäglichen Wahrnehmung die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden nicht auf den Wahrnehmungsvorgang selbst, sondern auf die darin vorgestellten Sachverhalte gerichtet ist.3 Diejenigen Bewusstseinsvorgänge, die den mentalen Aufbau dieser Sachverhalte zuwege bringen, liegen darum nicht im Fokus des aufmerkenden Bewusstseins. Diesen Umstand hatte Dil­they zunächst im Blick auf das Objektbewusstsein überhaupt herausgearbeitet. Hier nun bringt er ihn in Bezug auf die Konstruktion anderer Subjekte zur Geltung. Deshalb kann er diesbezüglich sagen: „Es begegnet uns hier einer jener vielen Fälle, in welchen wir nur dem Ergebnis eines seelischen Vorgangs unsere Aufmerksamkeit zuwenden, da ein Interesse an diesem und ihm allein haftet und [wir] so die Glieder des Vorgangs selbst nicht auffassen“ (ebd.). Damit wäre die eingangs gestellte Frage beantwortet, wodurch sich ein Subjekt eigentlich dazu veranlasst sieht und inwiefern es ihm möglich ist, die Gegenen“ (V 171) bzw. dem „schweigende[n] Denken“ (V 182). Die Unterscheidung dieser Form des Denkens vom diskursiven Denken findet sich dann auch in späten Logik-Vorlesungen (vgl. XXIV 93–104. 111–119) sowie im Aufbau (vgl. VII 122). 3 Vgl. XIX 68.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

benheit fremden psychischen Lebens in die Außenwelt an- bzw. wahrzunehmen. Damit hängt die weitere Frage nach der Möglichkeit des verstehenden Zugangs zu solcherart gesetzter fremder Subjektivität eng zusammen. Denn wenn Erscheinungen in der Außenwelt als wesensverwandt eingestuft werden, müssen sie bereits zu einem Teil verstanden worden sein, weil sie anderenfalls gar nicht als Repräsentation psychischen Lebens angesehen werden könnten. Die konkrete Erschließung fremder Personen stellt somit gewissermaßen lediglich die Fortsetzung und Vertiefung ihrer ursprünglichen ‚analogischen Konstruktion‘ dar. Diese zweifache Funktion des Analogiegedankens  – sowohl die Annahme des Daseins anderer Personen überhaupt als auch das eigentliche Verstehen dieser Personen zu ermöglichen – hat Dil­they denn auch selbst an einer Stelle angedeutet, indem er von einem dem „Schluß der Analogie äquivalente[n] Verfahren“ spricht, „durch welches wir in ihr [sc. der Außenwelt] geistige Wesen setzen und verstehen“ (XIX 391, Hvh. v. Verf.). Die hermeneutische Erschließung des Innenlebens kann vom Feststellen des Vorliegens desselben also nochmals abgehoben und eigens betrachtet werden. Dies soll im Folgenden geschehen.

b.  Elementares und höheres Verstehen Die Möglichkeit der analogischen Rekonstruktion fremden Seelenlebens ist dadurch bedingt, dass Erleben und Körpererscheinung nicht nur überhaupt miteinander verbunden sind, sondern sich darüber hinaus auch relativ geordnete Verbindungen zwischen spezifischen Erlebnisweisen und bestimmten leiblichen Vorgängen zeigen – ein Sachverhalt, der dem Individuum wiederum aus der inneren Wahrnehmung seines eigenen Lebens bekannt ist. So ist etwa der Schmerzempfindung ein anderes mimisch-gestisches Verhalten korreliert als dem Zustand von Freude. Vor diesem Hintergrund erfolgt der fremdpsychische Auffassungsvorgang grundlegend dergestalt, dass das Subjekt einen äußerlich wahrgenommenen körperlichen Vorgang mit den Körpervorgängen, die ihm aus seiner eigenen inneren Wahrnehmung her bekannt sind, vergleicht und nach einer passenden Entsprechung sucht. Sofern den leiblichen Erscheinungen der anderen Person gleichsam ein passender Kandidat aus der eigenen Erlebniswelt zugeordnet werden kann, kann dem fremdkörperlichen Phänomen dann auch ein korrespondierendes psychisches Phänomen zugewiesen werden. Zur Verdeutlichung der formalen Struktur dieses Vorgangs hat Dil­they ihn in einer Studie – die im Kontext der Breslauer Ausarbeitung entstanden ist und die Überschrift trägt: „Die Verbindung der äußeren und der inneren Wahrnehmung in dem Anerkennen und Verstehen anderer Personen“ (XIX 223)  – in einen regelrechten „Schluß“ (ebd.) mit Obersatz, Untersatz und Folgesatz überführt.4 Dabei gelten dieselben erkenntniskritischen Einschränkungen, die bereits im vorhergehenden Abschnitt 4 Vgl.

XIX 223.



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in Rechnung gestellt wurden, d. h. es liegt kein Schluss im strengen Sinne des Wortes vor, sondern der betreffende Verstehensakt lässt sich mithilfe einer bestimmte Schlussart lediglich veranschaulichen. Weiter oben war bereits darauf hingewiesen worden, dass das Modell des analogischen Verstehens notwendig voraussetzt, dass zwischen verstehendem und zu verstehendem Subjekt eine grundsätzliche Gleichartigkeit bestehen muss. Dil­they hat diese Voraussetzung klar benannt. Bereits in seiner Psychologievorlesung aus dem Jahr 1878 findet sich die Feststellung: „Es ist eine gegenseitige Verständigung möglich, weil die Menschen untereinander wesensverwandt sind“ (XXI 24). Auch in der Einleitung hat er diesen Sachverhalt ausgesprochen, etwa wenn er sagt, die andern Individuen seien insofern „für mich ebenfalls in ihrem Innern auffaßbar“, als sie „mir gleichartig [sind]“ (I 37).5 Mögliche Einwände gegenüber der Haltbarkeit der Strukturisomorphie-These sucht Dil­they mit dem Hinweis auf das faktische Gelingen von Verstehensprozessen als unbegründet zu erweisen: „Daß eine solche Verständigung möglich ist, beweist, daß wir alle Glieder derselben Gattung, des Menschen sind.“ (XXI 26). Dies wird man im Sinne eines transzendentalphilosophischen Arguments begreifen können: Wenn es möglich ist, dass Menschen sich – zumindest bis zu einem gewissen Grade  – anhand ihrer Lebensäußerungen wechselseitig verstehen können, dann setzt dies ein bestimmtes Maß an intersubjektiver Gleichheit voraus. Die Annahme einer gattungsmäßigen Wesensverwandtschaft mag letztlich nur eine Hypothese darstellen. Ausgehend von faktisch gelingenden Verstehensprozessen muss sie gleichwohl gebildet werden, wenn erklärt werden soll, inwiefern diese Prozesse überhaupt möglich sein können. Die Annahme einer „Gleichartigkeit der Menschennatur“ (I 44) besitzt in Dil­theys Denken darüber hinaus nicht nur grundlegende Bedeutung für die Problematik des Interpersonalitätsverstehens, sondern fungiert zugleich als transzendentales Prinzip innerhalb seiner Theorie der Geisteswissenschaften insgesamt, indem sie die Bedingung der Möglichkeit für den realen und wissenschaftlichen Aufbau der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt bezeichnet. So gesehen könnte man bei Dil­they von einem Apriori der Gleichartigkeit sprechen.6 Dabei geht Dil­they mitnichten davon aus, dass das wirkliche Verstehen die Grenze zwischen Selbst und Anderem vollkommen aufzuheben in der Lage wäre. Bereits in jenem Textfragment aus dem Umkreis der Breslauer Ausarbei5  Vgl.

auch in der Psychologievorlesung aus dem Jahr 1883, XX 154. Rudolf Bultmann hat Dil­theys Prinzip der ‚Gleichartigkeit der Menschennatur‘ als zu formal kritisiert und ihm gegenüber die Forderung erhoben, dass auch die Tatsache miteinzubeziehen sei, „daß der Ausleger und Autor als Menschen in der gleichen geschichtlichen Welt leben, in der menschliches Sein sich abspielt als ein Sein in einer Umwelt, im verstehenden Umgang mit Gegenständen und Mitmenschen“ (R. Bultmann: Das Problem der Hermeneutik, 219). Eine solche Vertiefung der Verstehensproblematik findet sich allerdings bereits bei Dil­they selbst und wird von ihm – wie unten zu zeigen sein wird – im Blick auf die Funktion des ‚objektiven Geists‘ für das Verstehen behandelt. 6 

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

tung kommt er auf eine ganze Reihe von Faktoren zu sprechen, die das Fremdverstehen einschränken und die Sicherheit seiner Resultate herabmindern: die unterschiedliche Aussagekraft der vorliegenden Lebensäußerungen, der unterschiedliche Grad an innerer Nähe zwischen Verstehendem und zu verstehendem Subjekt, die Möglichkeit bewussten Unterlassens von Ausdruck aufseiten des Fremden, die Bedingtheit des Verstehens durch die Affektlage des Verstehenden selbst oder auch die Geprägtheit allen Verstehens von erfahrungserprobten, im Einzelfall aber nicht absolut sicheren Schemata.7 Die Liste ließe sich leicht verlängern. Festzuhalten gilt, dass dem Verstehen unhintergehbare letzte Grenzen gesetzt sind.8 Weder kann alles gleich gut verstanden werden,9 noch kommt es zur Verschmelzung von Subjekt und Objekt in einem vermeintlichen „identischen Nacherleben[ ]“10. „Alles Verstehen ist“ vielmehr „nur relativ, da es von dem Reichtum des eigenen Seelenlebens und dem Verwandtschaftsgrad des eigenen [Lebens] in erster Linie abhängt“ (XIX 439, Anm. 430). Angeregt sein dürfte Dil­they zu seiner Theorie einer analogischen Auffassung fremder Subjekte nicht zuletzt durch Schleiermacher, bei dem sich bereits durchaus ähnliche Überlegungen finden – pointiert zum Ausdruck gebracht etwa im § 6 seiner Glaubenslehre.11 Auch für Schleiermacher ergibt sich Fremdverstehen nicht einfach auf unmittelbare Weise, sondern kommt zustande, indem fremdes Ausdrucksverhalten eines gattungsgleichen Wesens wahrgenommen wird, um dann vom auffassenden Subjekt in eigener – durch den Intensitätsgrad der geistigen Verwandtschaft bedingter – ‚Nachbildung‘ reproduziert zu werden. Dabei sind es auch für Schleiermacher nicht erst Worte, die solcher vermittelnder Auffassung unterliegen, sondern schon das Verstehen von Mimik, Gebärde und Ton erfolgt auf der Basis eines solchen Aktes – der „nach der Analogie mit dem, was jeder an sich selbst kennt“12 vollzogen wird. Aufgrund von Dil­theys ausführlicher Beschäftigung mit Schleiermacher kann es als sicher gelten, dass er diese Konzeption gekannt hat. Freilich hat er die Komplexität des Aufbaus solcher intersubjektiver Auffassungsverhältnisse wesentlich stärker reflektiert und die vielfältigen in diese eingehenden Voraussetzungen breiter herausgearbeitet als Schleiermacher das getan hat. Darin hat er Einsichten partiell vorweggenommen, die dann nicht 7 Vgl.

XIX 226 f. ist gerade nicht so, dass Verstehen für Dil­they sein Ziel fände in „völlige[r] Selbstdurchsichtigkeit, völlige[r] Tilgung aller Fremdheit und alles Andersseins“ (H.‑G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 231). Diesen fehlgehenden Einwand Gadamers hat sich jüngst zueigen gemacht: I. Därmann: Fremde Monde der Vernunft, 285–372. 9  Wenn Habermas pauschal von „einer allesverstehenden Reproduktion“ spricht (J. Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, 265), so findet obige Relativierung keine hinreichende Beachtung. 10 So Apel kritisch gegen Dil­ they (K.‑O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 51). 11 Vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Der christliche Glaube, § 6.3, 42 f. 12  AaO., § 15.1, 105, Hvh. v. Verf. 8 Es



2.  Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens

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nur für Husserl, sondern auch für die auf ihm aufbauende soziologische Grundlagenarbeit von Alfred Schütz charakteristisch geworden sind.13 Es hatte sich gezeigt, dass das Modell des elementaren Verstehens die Isomorphie der psychischen Grundstruktur zwischen verstehendem und zu verstehendem Subjekt voraussetzen muss, weil anderenfalls nicht erklärt werden könnte, inwiefern dem Verstehenden eine andere Person anhand von deren außenweltlich gegebenen Ausdrucksphänomenen überhaupt zugänglich sein kann. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wäre die Analyse des analogischen Verstehens in Dil­theys Augen jedoch unzureichend beschrieben, wenn sie auf dieser allgemeinen Ebene stehen bliebe. Denn ihm zufolge ist jene gattungsmäßige Wesensverwandtschaft nicht die einzige Form der Gleichartigkeit, die verschiedene Individuen miteinander verbindet. Neben ihr kommt eine weitere Dimension der Gemeinsamkeit zu stehen, die in allen Verstehensakten eine tragende Rolle spielt. Bei ihr handelt es sich nicht um eine psychologisch ausweisbare Strukturisomorphie der Individuen, sondern um diejenige Verbundenheit der unterschiedlichen Subjekte, wie sie durch eine bestimmte geschichtlich-soziokulturelle Einbettung hergestellt wird. Wie noch zu zeigen ist, werden sich die verschiedenen Subjekte im realen Verstehensvollzug nur darüber zugänglich, dass sie an einer gemeinsamen gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeitssphäre Anteil haben, die sie miteinander in Beziehung setzt und die Überschreitung der jeweils partikularen Einzelposition ermöglicht. Wie Dil­they vor allem in seinem Spätwerk herausgestellt hat, können letztlich alle überindividuellen Gestaltungen des geschichtlich-sozialen Lebens diese Funktion bedienen. Dil­they verhandelt diese Problematik hier mithilfe des Begriffs des „objektiven Geistes“ (VII 146). Sowohl die Art und Weise, in der er sich diesen Hegelschen Term kritisch aneignet, als auch die ausführliche Darstellung von dessen Funktion innerhalb der Dil­theyschen Kulturtheorie sollen an anderer Stelle verhandelt werden.14 Hier gilt es lediglich, den fraglichen Begriff insoweit zu verdeutlichen, wie es für die Frage des Interpersonalitätsverstehens von Belang ist. 13 Meines Erachtens ist es nicht sinnvoll, Dil­ theys Modell des analogischen Verstehens gegen die erkenntnispsychologische Einsicht, dass aller Außenweltbezug durch Willenserfahrungen vermittelt ist, in dem Sinne auszuspielen, dass jenes Modell von Dil­they zunächst noch „mitgeschleppt[ ]“ (G. Misch: Vorbericht des Herausgebers, V C) worden sei, um nachher durch den anderen Ansatz zurückgestellt zu werden. Dagegen spricht zum einen, dass die Hervorhebung der Vermitteltheit des Außenweltbewusstseins über Willenserfahrungen bereits ein relativ frühes Basiselement von Dil­theys Erkenntnispsychologie bildet (vgl. XIX 175 ff.). Zum anderen hält er bis zum Schluss an der Bedeutung des Analogiegedankens ausdrücklich fest (vgl. VII 210). In eine ähnliche Richtung wie Mischs Vorschlag geht die von Helmut Johach und Frithjof Rodi gestellte Diagnose einer „Entwicklungslinie […], auf der sich die grundlegende Funktion der kategorialen Erfassung der Du-Erfahrung immer mehr durchsetzt gegenüber dem ursprünglichen [sc. analogischen] Ansatz der Verstehenstheorie“ (H. Johach/F. Rodi: Vorbericht des Herausgebers, XIX LIV). 14  Siehe dazu unten Abschnitt III.3.c.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Dil­they definiert den ‚objektiven Geist‘ als „die mannigfachen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinneswelt objektiviert hat“ (VII 208). Unter jenen Formen versteht er dabei alle solche Gebilde, die nicht lediglich als individuelle Produkte angesehen werden können, sondern solche soziokulturellen Erzeugnisse darstellen, wie sie aus intersubjektiven Wechselwirkungsprozessen des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens resultieren.15 Die Bandbreite der von Dil­they diesbezüglich herangezogenen Phänomene ist groß und variiert sowohl im Blick auf den Grad der geschichtlichen Konkretion als auch hinsichtlich des Maßes der gesellschaftlichen Allgemeinheit erheblich. So nennt er etwa den geschichtlich bestimmten „Stil des Lebens“;16 die sozialen und kulturellen Systeme mit ihrer „feste[n] und regelmäßige[n] Struktur“ (Politik, Religion, Recht etc.), die „Ordnung und Sitte der Familie“, die deren Mitglieder miteinander verbindet, oder auch die „Sprachgemeinschaft“ (VII 208 f.). Jede dieser unterschiedlichen Gestaltungen vermag als eine Form zu fungieren, in der sich die Gemeinsamkeit der Individuen auf ganz unterschiedliche Weise niedergeschlagen hat. Die Bedeutung jener Formen für den Vorgang des psychologischen Verstehens liegt für Dil­they nun darin, dass dieselben für das verstehende Subjekt als „Medium von Gemeinsamkeit“ (VII 208 f.) dienen, innerhalb dessen ein Zugang zu der anderen Person hergestellt werden kann. Dil­they macht auch in diesem Zusammenhang von dem Analogiegedanken Gebrauch, nun aber nicht in Hinsicht auf die direkte Verknüpfung psychischer Zustände mit leiblichen Äußerungen, sondern im Blick auf soziokulturell vermittelte Ausdrucksformen, innerhalb derer sich individuelles Leben artikuliert, und die der einzelnen Äußerung Bestimmtheit aus dem jeweiligen sozialen oder kulturellen Zusammenhang verleihen. So wird „von der Lebensäußerung […] vermittels dieser [sc. objektivierten] Gemeinsamkeit prädiziert, daß sie der Ausdruck eines Geistigen sei.“ Und auch hier „liegt also ein Schluß der Analogie vor“ (VII 210). Dabei gewinnt der einzelne Ausdruck seine Verständlichkeit zwar aus seinem Bezug auf allgemeine Formen. Diese erweisen sich aber als geschichtlich-kulturell bedingt. So macht es etwa die „in einem bestimmten Kulturkreis festgelegte Ordnung des Benehmens […] möglich, daß Begrüßungsworte oder Verbeugungen in ihren Abstufungen eine bestimmte geistige Stellung zu andern Personen bezeichnen und als solche verstanden werden“ (VII 209). Wie sich die These einer allgemeinen Strukturisomorphie zu derjenigen der kulturell vermittelten Gemeinsamkeit genau zueinander verhält, hat Dil­ they nicht weiter erörtert. Klar ist, dass beide nicht getrennt voneinander zu stehen kommen können. Denn die Aneignung eines jeweiligen kulturellen Selbst- und 15  Auf diese wesentliche Funktion des objektiven Geistes hat bereits hingewiesen F. Rodi: Erkenntnis des Erkannten, 79. 16  In diesem Begriff mag sich der mögliche Lektüreeindruck von Simmels Das Problem des Stiles (1908) widerspiegeln.



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Weltverhältnisses  – die Dil­they zufolge nicht nur auf bewusste Weise, sondern vielfach vorreflexiv erfolgt –17 wäre nicht möglich, würden in den unterschiedlichen Medien von Kultur und Gesellschaft nicht grundlegende intersubjektive Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kommen. Die überindividuellen Kultur- und Sozialformen können demnach als geschichtliche Differenzierung und Objektivation der humanallgemeinen Gemeinsamkeit angesehen werden. Eine genauere Verhältnisbestimmung beider Ebenen findet man bei Dil­they allerdings nicht. Man wird es sich aber nach Art von Schleiermachers konstellationstheoretischer Individualitätskonzeption denken können, wonach alle Spielarten konkreten Menschseins als individuelle Darstellung der gattungsallgemeinen Größe ‚Menschheit‘ fungieren. Diese Konzeption hatte sich Dil­they bereits zu Beginn seiner intellektuellen Entwicklung angeeignet18 und sich im Spätwerk ausdrücklich zu ihr bekannt.19 Über den Bereich des analogischen Verstehens hinaus kennt Dil­they noch eine weitere Seite des Verstehens. Bereits in jenem oben herangezogenen Textfragment aus dem Umkreis der Breslauer Ausarbeitung hat er angedeutet, dass mit der analogischen Konstruktion fremder Subjekte dieselben noch nicht in vollem Sinne verstanden seien. Eine andere Person beginnt sich dem Verstehenden nämlich erst dann in ihrer Eigentümlichkeit aufzuschließen, wenn das Verstehenssubjekt die fremden Äußerungen dahingehend betrachtet, inwiefern in ihnen zugleich mehr zum Ausdruck kommt, als im bloßen Rückgang auf analoge Strukturmomente erfasst werden kann. Auch der damit ins Spiel kommenden Verstehensart kann er eine logische Äquivalenz zuordnen: „Dieser Schluß [sc. der Analogie] geht aber bei dem Versuch, den [sc. fremden] inneren Zustand a“, der einer Fremdäußerung b zugrundeliegt, „näher zu bestimmen, […] in einen zusammengesetzten Induktionsvorgang über“ (XIX 223, Hvh. v. Verf.). So gesehen könnte man neben dem ‚analogischen Verstehen‘ bei Dil­they auch von einem ‚induktiven Verstehen‘ sprechen. Was es mit dieser Unterscheidung auf sich hat, hat er an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt. Auch in den Schriften der unmittelbaren Folgezeit findet sich meistens nur der Verweis auf die analogische Seite des Verstehens. Explizit bearbeitet findet sich das Problem erst wieder in einem posthum veröffentlichten Textfragment aus Dil­theys Spätzeit, in dem jene 17  Die vorreflexive Ebene hebt Dil­they unter anderem im Blick auf die frühkindliche Entwicklung des Menschen hervor: „Ehe es [sc. das Kind] sprechen lernt, ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten. Und die Gebärden und Mienen, Bewegungen und Ausrufe, Wort und Sätze lernt es nur darum verstehen, weil sie ihm stets als dieselben und mit derselben Beziehung auf das, was sie bedeuten und ausdrücken, entgegenkommen. So orientiert sich das Individuum in der Welt des objektiven Geistes“ (VII 208). 18  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.c. 19  „Geht man davon aus, daß diese [sc. die unterschiedlichen Individuen] sich nicht durch qualitative Verschiedenheiten unterscheiden, sondern gleichsam durch eine Betonung der einzelnen Momente, wie man dies auch psychologisch ausdrücken mag, dann liegt in ihr [sc. dieser Betonung] das innere Prinzip der Individuation“ (VII 213).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

verstehenstheoretische Differenz unter der begrifflichen Unterscheidung von „elementaren Formen des Verstehens“ (VII 207) und „höheren Formen des Verstehens“ (VII 210) wiederkehrt. Das elementare Verstehen zeichnet sich dadurch aus, dass es Lebensäußerung noch unter Absehung des persönlichen Lebensgrundes, aus dem sie hervorgegangen sind, zu begreifen sucht. Deshalb stellt es auch – so Dil­they in etwas sperriger Diktion  – „kein[en] Schluß von einer Wirkung auf die Ursache“ dar (VII 207 f.). Das bedeutet, die einzelnen Lebensäußerungen werden hier nicht im Zusammenhang des individuellen Lebens, aus dem sie erwachsen sind, erhellt, sondern lediglich in ihrer Bezogenheit auf ein allgemeines Medium in den Blick genommen. Diese Verstehensperspektive korreliert mit der Sphäre des objektiven Geistes.20 Die psychischen Ausdrücke werden im Fall des analogischen Verstehens also aus überindividuellen Formen heraus aufgefasst, innerhalb derer sich die unterschiedlichen Menschen gleichermaßen bewegen, unabhängig davon, welche eigentümlichen Unterschiede sie voneinander trennen mögen. So ist ein „Satz […] verständlich durch die Gemeinsamkeit, die in einer Sprachgemeinschaft […] besteht“ (VII 209).21 Das analogische Auffassen einer Person kann sich nun aber sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht als unzureichend herausstellen. In negativer Hinsicht ergibt sich „[e]in erster Übergang zu höheren Formen des Verstehens […] daraus, daß […] im Ergebnis des Verstehens eine innere Schwierigkeit oder ein Widerspruch mit sonst Bekanntem auftritt“ (VII 210). So kann es etwa zu einer 20 Vgl. VII 208 ff. 21  In seiner berühmten

Einführung zu Dil­theys Werk hat Otto Friedrich Bollnow hinsichtlich des elementaren Verstehens behauptet: „Dil­they lehnt die Lehre vom Analogieschluß ab“. Dil­they konzipiere das elementare Verstehen derart, so Bollnow, dass „man nicht in einem ausdrücklichen Denkakt vom Äußeren auf das Innere schließt, sondern dies Innere aus dem Äußeren unmittelbar abliest, ohne daß diese Erkenntnis durch irgendeinen Schluß vermittelt zu sein brauchte“(O. F. Bollnow: Dil­they, 193, Hvh. v. Verf.). Bollnow stellt hier zu Recht heraus, dass Verstehen für Dil­they nicht nach Art strengen Schließens mit logischer Notwendigkeit erfolgt. In Bollnows Feststellung, Verstehen erfolge nach Dil­they auf unmittelbare Weise, verzeichnet er aber einen wesentlichen Zug von dessen Ansatz. Besteht eines der Hauptanliegen von Dil­they, wie im vorigen Abschnitt gesehen, doch gerade darin, die vermeintliche Annahme eines unmittelbaren Verstehens als bloße Prätention der alltäglichen Einstellung aufzuzeigen. Interessant ist der Grund für Bollnows Fehleinschätzung. Diese entzündet sich nämlich an seiner Interpretation einer Äußerung Dil­theys, die im Original folgendermaßen lautet: „Das elementare Verstehen ist kein Schluß von einer Wirkung auf die Ursache. Ja, wir dürfen es auch nicht mit vorsichtigerer Wendung als ein Verfahren fassen, das von der gegebenen Wirkung zu irgendeinem Stück Lebenszusammenhang zurückgeht, welches die Wirkung möglich macht“ (VII 207 f., vgl. O. F. Bollnow: Dil­they, 193). Bollnow entnimmt dieser Stelle die – zutreffende – Feststellung, dass Verstehen für Dil­they keinen Schluss im strengen Sinne des Wortes bedeute. Daraus leitet er dann aber die – unzutreffende – Folgerung ab, Dil­they lehne das Analogiemoment rundheraus ab. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass es Dil­they hier gar nicht um die prinzipielle Frage geht, inwiefern der Vorgang des Verstehens überhaupt schlusslogisch dargestellt werden kann. Stattdessen will er dem ‚elementaren‘ Verstehen lediglich die Äqui­ valenz einer spezifischen Schlussart absprechen, nämlich derjenigen, die wir oben als ‚induktive‘ bezeichnet haben und die eben nur für die höheren Verstehensformen zutrifft.



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untypischen Verwendung geläufiger Redewendungen kommen, konventionell zu erwartende Handlungen können unterlassen oder auf eine solche Weise ausgeführt werden, dass sich in ihnen eine Dissonanz zu dem Üblichen bemerkbar macht. In all diesen Fällen wird eine Art Irritation erzeugt, die ein tieferes Verstehenwollen hervorbringt. In positiver Hinsicht macht Dil­they zwei Aspekte geltend, die den Übergang zum höheren Verstehen veranlassen können. Der eine von beiden ist praktischer Natur. So ist jeder Mensch in seiner Lebensführung mehr oder weniger darauf angewiesen, verlässliche Sozialpartner identifizieren zu können, mit deren Hilfe er sich eine relativ stabile Umwelt zu schaffen vermag. Solche Identifikationen machen es erforderlich, Mitmenschen hinsichtlich ihrer Passgenauigkeit mit den eigenen Erwartungen und hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit einschätzen zu können. So entstehen „[a]us dem Verkehr des praktischen Lebens […] selbständige Anforderungen zu Urteilen über Charakter und Fähigkeiten des einzelnen Menschen“ (VII 210 f.). Dafür kann aber nicht im Rahmen eines konventionellen Verstehens verblieben werden, sondern es wird ein höheres Verstehen notwendig, „um festzustellen, wie weit wir auf sie [sc. die uns umgebenden Menschen] rechnen können“ (VII 211). Der zweite positive Aspekt ist gleichsam kontemplativer Natur und erwächst aus dem Umstand, dass kein Mensch lediglich als Fall eines Allgemeinen angesehen werden kann, sondern dass ihm daneben immer auch ein Selbstwert zugeschrieben wird. Darum ergreift das „Singulare des Menschendaseins“ die Anschauung „stärker als irgendein anderes Objekt“, wie Dil­they – mit Blick auf die Notwendigkeit biographischer Geschichtsschreibung  – schon in der Einleitung feststellen konnte (I 33). Ganz ähnlich heißt es nun in diesem späten Textfragment: „Das Geheimnis der Person reizt um seiner selbst willen zu immer neuen und tieferen Versuchen des Verstehens“ (VII 212). Das höhere Verstehen einer anderen Person bezeichnet nun genau ein solches Verstehen, das „in das Innere der uns umgebenden Menschen Einblick zu gewinnen“ (VII 211) sucht. Wiederum in sperriger Diktion kann Dil­they auch sagen, dass es um die Frage nach dem „Grundverhältnis des Erwirkten zum Wirkenden“ (ebd.) bzw. nach dem „Verhältnis zwischen einer Schöpfung und dem Schaffenden“ (VII 212) geht. Im Falle des höheren Verstehens wird ein gegebener Ausdruck mithin nicht nur daraufhin befragt, welchen allgemeinen kulturellen Gehalt er bezeichnet, sondern es geht gleichsam um die intime Relation zwischen einer Ausdrucksgröße und der sie hervorbringenden psychischen Instanz. Mit einigen von Dil­they selbst herangezogenen Beispielen kann dieser Sachverhalt wie folgt beschrieben werden: So sehr sich sprachliche Ausdrücke, zwischenmenschliche Umgangsformen oder auch handwerkliche Tätigkeiten auf dem Wege des elementaren Verstehens deuten lassen, so wenig ist damit streng genommen über das Subjekt etwas in Erfahrung gebracht, das sie hervorbringt. Letzteres kommt erst dann ins Spiel, wo diese Verstehensform sich im oben geschilderten Sinn als ungenügend erweist. „Hier geht das Verhältnis zwischen Ausdruck und Aus-

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

gedrücktem über in das zwischen der Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen einer andern Person und dem innern Zusammenhang, der ihr [sc. der Mannigfaltigkeit] zugrunde liegt“ (VII 211). Das persönliche Leben kann aber nicht anhand einzelner Ausdrucksgestalten als solcher erschlossen werden. Denn da es als der zugrunde liegende Zusammenhang verschiedener Einzeläußerungen anzusehen ist, kann es per se nicht in einer einzigen angetroffen werden. Vielmehr ist es jeder singularen Ausdrucksgestalt gegenüber transzendent. Der individuelle Lebenszusammenhang einer anderen Person ist als solcher gar nicht gegeben, sondern dokumentiert sich lediglich in einer Abschattung vielfacher Äußerungen. Daher entsteht dem Verstehenden erst insofern ein Verständnis von der anderen Person, als er deren gegebene Lebensäußerungen in ein zusammenhängendes Bild zu überführen vermag. Im Unterschied zum elementaren Verstehen liegt dem Verstehen in diesem Fall kein Bekanntes zugrunde, mithilfe dessen qua analogischer Übertragung die Innendimension einer Äußerung eröffnet wird, sondern das gesuchte Innere muss gleichsam erst aufgefunden werden, ohne dass dafür eine Analogie zur Verfügung stünde. Dieser Charakter des höheren Verstehens ist denn auch der Grund dafür, dass Dil­they ihm jene andere logische Schlussart zuweist. Während das elementare Verstehen in der Struktur des analogischen Schließens dargestellt werden kann, bringt das höhere Verstehen „aus gegebenen Äußerungen in einem Schluß der Induktion den Zusammenhang eines Ganzen zum Verständnis“ (VII 212). Mit dem Hinweis auf den induktiven Charakter des höheren Verstehens zeigt Dil­they bereits auf logischer Ebene eine eminente Grenze desselben an: Die Resultate dieser hermeneutischen Operation stellen streng genommen nichts anderes als hypothetische Ausgriffe auf ein letztlich verborgenes Ganze dar. So müssen sie notwendig unabschließbar und unvollständig bleiben. Je nach innerer Verwandtschaft und nach Intensität der Beschäftigung mit dem fremden Leben kann der Verstehende hier mehr oder weniger tief eindringen. Ein absolutes Verstehen des Anderen ist aber von vornherein ausgeschlossen. Deshalb betont Dil­they – wie er auch im Blick auf das analogische Verstehen hervorheben kann –,22 dass das „Ergebnis“ des höheren Verstehens „nur den Charakter von Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen [kann]“ (VII 211). Was Dil­they nicht sehr deutlich herausgestellt hat, ist der Sachverhalt, dass jenes gleichsam auf induktivem Wege zu gewinnende ‚Ganze‘ als eine verschiebbare Größe anzusehen ist. Denn nicht in jedem Fall des Übergangs vom niederen zum höheren Verstehen wird die andere Person im gleichen Ausmaß thematisch. So könnte schon von einem höheren Verstehen gesprochen werden, wenn eine konventionell nicht einzuordnende Handlung  – etwa das Unterlassen einer zu erwartenden Begrüßungshandlung – dadurch verstanden wird, dass sie in einen sie umgreifenden Lebenskontext eingeordnet wird, wie etwa die aufgrund spezi22 Vgl.

VII 210.



2.  Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens

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fischer Lebensumstände verursachte ungesellige Stimmung des betreffenden Subjekts. Eine umfassende Anschauung des Lebens dieser Person ist damit freilich nicht gegeben. Das höhere Verstehen ist aber natürlich nicht gezwungen, bei einer so kleinräumigen Kontextualisierung stehen zu bleiben. Vielmehr kann der solcherart ermittelte Befund zu anderen Befunden in Beziehung gesetzt und das konkrete Bild der anderen Person stetig vertieft und verbreitert werden – womit das Interpersonalitätsverstehen in biographisches Verstehen übergeht.23

c.  Fremdverstehen als Ausdrucksverstehen In den bisherigen Ausführungen ist wiederholt von einer für Dil­theys Denken zentralen Theoriefigur Gebrauch gemacht worden, ohne dass diese bereits eigens bedacht worden wäre. Die Rede ist vom Begriff des ‚Ausdrucks‘ bzw. der ‚Lebensäußerung‘. In seinem Theorieaufbau bildet diese Kategorie darum einen essentiellen Bestandteil, weil erst durch ihren Einbau nachvollziehbar wird, inwiefern unterschiedliche Personen trotz raumzeitlich und bewusstseinsmäßig getrennter Standpunkte überhaupt in einen kommunikativen Austausch zu treten vermögen. In der Forschung begegnet dabei vielfach die Meinung, Dil­they sei die systematische Bedeutung des Ausdrucksbegriffs erst verhältnismäßig spät klar geworden; zu Beginn seiner Entwicklung habe er hingegen noch ein solches Verstehensmodell vertreten, demzufolge fremdes Innenleben nicht über außenweltliche Ausdrucksphänomene vermittelt, sondern unmittelbar zugänglich wäre. Schon die Rekonstruktion in den beiden vorhergehenden Abschnitten lässt diese Sichtweise fraglich erscheinen. Da sie indes weit verbreitet ist, sei sie im Folgenden eigens diskutiert, wobei die Dil­they-Studien von Matthias Jung als Paradigma dienen sollen. Letzterer hat wiederholt die These vertreten, Dil­they habe sich in der Anfangszeit seiner Entwicklung noch ganz auf den Begriff des Erlebens gestützt und diesem eine nahezu ausschließliche Funktion für den Aufbau einer Theorie der Geisteswissenschaften zuerkannt. Erst ab der mittleren Phase – die Jung in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre beginnen lässt24 – sei ihm klar geworden, dass Erlebnisse nicht direkt zugänglich seien, und zwar sowohl die eigenen als auch die Erlebnisse anderer Personen. Hierin sei denn auch zugleich Dil­theys Beitrag zu der sogenannten ‚hermeneutischen Wende‘ zu erblicken.25 Jung macht zugleich einen Vorschlag, wie sich dieser Umschwung in der Theorieentwicklung zurechtlegen lasse: So habe Dil­they in jener mittleren Phase konsequent auf den Handlungsbegriff als Leitbegriff umgestellt, den er mithilfe eines biologisch fundierten Modells der Interaktion von Organismus und Umwelt ausgearbeitet 23  Zu Dil­theys Theorie der Biographie siehe unten 24 Vgl. M. Jung: Dil­they zur Einführung, 87 ff. 25  Ders.:

Der bewusste Ausdruck, 142.

die Abschnitte III.4.a.iii–4.b. i.

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habe.26 Erst im Zuge dieser Überlegungen sei er dann zu einer Konzeption gelangt, in der „Introspektionen und genialische Empathie ‚von Herz zu Herzen‘ […] keine Rolle mehr [spielen],“ sondern in der sich die Einsicht durchgesetzt habe, dass „ausschließlich expressiv bearbeitete Erlebnisse [verstanden werden können]“.27 Es besteht kein Zweifel, dass Dil­they den Einbau biologischer Theorieelemente in den 1890er Jahren mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit betrieben hat.28 Dieser Umstand war ihm selbst durchaus bewusst – wie unter anderem29 eine vielzitierte Stelle aus seinem Briefwechsel mit dem Grafen Yorck belegt.30 Fraglich ist aber, wie diese Akzentuierung innerhalb seiner Theorieentwicklung im Blick auf die Verstehenstheorie zu bewerten ist. Jung veranschlagt sie äußerst hoch, was einen tieferen Grund in der Anlage seiner eigenen Konzeption haben dürfte. So ist Jung zum einen an einer theoriehistorischen wie systematischen Verzahnung von Pragmatismus und Hermeneutik gelegen, zum anderen hat er ein großes Interesse an einer evolutionstheoretischen Fundierung kultur- und sozialwissenschaftlicher Fragestellungen.31 Unabhängig davon, wie man einen solchen Ansatz bewerten mag: Hinsichtlich Jungs Einschätzung von Dil­theys Theoriegenese wird man seinem Interpretationsvorschlag nicht ohne weiteres folgen können. Mindestens drei Gesichtspunkte sind hierbei zu berücksichtigen. Erstens, Dil­they hat zu keinem Zeitpunkt seiner Entwicklung das Verfahren der Introspektion für hinreichend erachtet, um darüber Einblicke in die Natur des menschlichen Bewusstseinslebens zu gewinnen. Bereits in seiner Psychologievorlesung von 1878 weist er in einem Abschnitt zur „Methode der Psychologie“ (XXI 24 ff.) das Verfahren unmittelbarer Selbstbeobachtung als völlig unzureichend zurück32 und stellt stattdessen die methodische Forderung auf, „daß man die Gesellschaft, die Geschichte bei der Beobachtung der psychischen Prozesse zu Rate ziehe“ (XXI 24). In der Breslauer Ausarbeitung macht er hinsichtlich der beobachtenden Bezugnahme auf das eigene Erleben deutlich, dass auch dieses lediglich auf vermittelte Weise zugänglich ist, nämlich nur anhand der Er26  Ders.: Wilhelm Dil­ theys handlungstheoretische Begründung der hermeneutischen Wende 259 f.; vgl. auch ders.: Dil­they zur Einführung, 110–130; ders.: Der bewusste Ausdruck, 144 ff. 27  Ders.: Der bewusste Ausdruck, 142. In eine ähnliche Richtung geht auch eine Formulierung in: Ders.: Wilhelm Dil­theys handlungstheoretische Begründung der hermeneutischen Wende, 271. 28  Vgl. dazu H. Johach/F. Rodi: Vorbericht der Herausgeber, XLIII. 29  Vgl. in Leben und Erkennen (1892/93): XIX 345. 30  Vgl. Dil­theys Brief vom Januar 1890, in: E. Rothacker: Briefwechsel, 90. 31 Vgl. M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 128. 144 passim. 32  Das von ihm hier vorgetragene Argument – direkte Selbstbeobachtung sei deshalb unmöglich, weil in dem Moment, in dem die Aufmerksamkeit auf den zu beobachtenden Akt gelenkt wird, dieser aufhört, stattzufinden, so dass er auch nicht mehr unmittelbar beobachtet werden kann – hat er dann in Fragmenten im Umkreis des Aufbau im Blick auf „Introspektion“ (VI 231) wiederholt, vgl. auch VII 87.



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innerung bereits abgelaufener psychischer Prozesse.33 Erinnern bedeutet aber, so schon der frühe Dil­they, niemals eine reine Widerspiegelung des Gewesenen, sondern stellt einen hochgradig konstruktiven Akt dar – auch innerhalb der intrinsischen Selbstbezüglichkeit subjektiven Lebens.34 Zweitens hat Dil­they schon in der Frühzeit herausgestellt, dass uns andere Personen nicht unmittelbar gegeben sind, sondern stattdessen nur vermöge eigener konstruktiver Bewusstseinsakte zu subjektiver Wahrnehmung gelangen.35 Von einer ‚genialischen Empathie von Herz zu Herzen‘ kann schon deshalb nicht gesprochen werden. Für den hiesigen Zusammenhang entscheidend ist, drittens, schließlich die Frage danach, wann und in welchem systematischen Kontext Dil­they die Bedeutung des Ausdrucksbegriffs prinzipiell klar geworden ist. Es liegt schon von vornherein nicht nahe, für einen Autor wie Dil­they anzunehmen, dass ihm die Bedeutung der Ausdruckskategorie nicht bereits frühzeitig bewusst geworden sei. Immerhin galt seine erste wissenschaftliche Studie der Geschichte der Hermeneutik, im Zuge von deren Abfassung er sich tief in das Gesamtwerk Schleiermachers hineinarbeitete, das für seine eigene philosophische Konzeption in vielfältiger Weise prägend wurde.36 Spätestens in der Auseinandersetzung mit diesem Autor konnte ihm die zentrale Stellung des Ausdrucksbegriffs für eine bewusstseinstheoretisch fundierte Kulturtheorie nicht verborgen bleiben. Und in der Tat macht Dil­they bereits in seinen frühen materialen wissenschaftlichen Arbeiten – etwa seinen literaturwissenschaftlichen Studien oder auch seinem Leben Schleiermachers – von jener Kategorie vielfach Gebrauch. Mit diesem Befund wäre freilich noch nicht notwendig etwas darüber ausgesagt, ob er ihre Funktion auch theoretisch-systematisch bereits bedacht hätte. Doch auch in dieser Hinsicht lässt sich zeigen, dass er sie schon frühzeitig für seine Konzeption fruchtbar zu machen suchte. Hierfür sei lediglich auf zwei Stellen aus Dil­theys Frühwerk verwiesen. In § 6 der Baseler Logikvorlesung (1867/68) rekurriert er darauf, dass der Mensch nur dort begründet davon auszugehen vermag, psychisches Leben  – im weitesten Sinne des Wortes – vor sich zu haben, wo er auf ein entsprechendes Äußerungsverhalten und -handeln stößt (vgl. XX 58). In begrenztem Maße schließt das für ihn auch die Auffassung tierischen Lebens mit ein.37 So lange die entsprechenden Äußerungen aber nicht prinzipiell durch sprachliche Akte ergänzt werden kön33 Vgl.

XIX 68. 88. 163. XXVI, 382 f. Siehe dazu unten Abschnitt III.4.b.iii. 35 Vgl. XIX 58. 34 Vgl.

36  Auf die überragende Bedeutung des Denkens Schleiermachers im Blick auf Dil­theys eigene Philosophie hat jüngst erneut hingewiesen: F. D’Alberto.: Dil­theys zweites Hauptwerk: ‚Leben Schleiermachers‘. 37  Es sei nur nebenbei darauf hingewiesen, dass Charles Darwin einige Jahre später ein Buch mit dem Titel The expression of the Emotions in Men and Animals (1872) veröffentlicht hat, das im selben Jahr unter dem deutschen Titel Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren erschien.

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nen – was nur beim Menschen der Fall ist –, erfülle solche Auffassung nicht die Ermöglichungsbedingung hinreichenden Verstehens. Diese Problematik braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. Es geht lediglich darum, dass Dil­they diesen Sachverhalt schon hier unter explizitem Rückgriff auf die Ausdruckskategorie beschreibt. So heißt es unmissverständlich: Fremdpsychisches Verstehen wird erst dort hinreichend sicher, wo „zum äußern Ausdruck noch die Sprache tritt“ (XX 58, Hvh. v. Verf.). Unbeschadet der Differenz von sprachlicher und vorsprachlicher Verständigung bedeutet das nichts Anderes, als dass alles Verstehen fremden Bewusstseinslebens durch das Medium ‚äußeren Ausdrucks‘ vermittelt ist. In der Breslauer Ausarbeitung macht Dil­they klar, dass fremdes psychisches Leben niemals direkt, sondern nur über den Weg außenweltlicher Erscheinungen, in denen letzteres sich dokumentiert, gegeben ist. Ein „Selbst außer uns, ein Du“ ist uns nicht anders zugänglich als „in dessen „Lebensäußerungen“ (XIX 170). Die andere Person kann nicht unmittelbar in ihrem fremden Erleben aufgefasst, sondern nur auf mittelbarem Wege über ihre physischen und leiblichen Ausdrucksphänomene hermeneutisch erschlossen werden. Dil­they war sich folglich schon in seiner frühen Zeit darüber im Klaren, dass Fremdverstehen niemals auf dem Weg bloß genialischer Einfühlung erfolgt, sondern ausdrucksmäßig vermittelt ist. Schon zu Beginn seiner Theorieentwicklung hat er somit alles andere als ein „zweitstellige[s] Schema Erlebnis-Verstehen“38 vertreten. Freilich ist Dil­they an diesem Missverständnis nicht ganz unschuldig, hat er diese ausdruckstheoretische Grundlage doch nicht immer in der geforderten Weise hervorgehoben.

d.  Erleben und Ausdruck Wie im vorigen Abschnitt gesehen, bildet alles Interpersonalitätsverstehen für Dil­they eine Form von Ausdrucksverstehen. Die Problematik des Zugangs zu fremder Individualität verweist demnach auf den Problemzusammenhang der ‚Artikulation‘39 menschlichen Lebens. Das führt auf die Frage, wie sich der Sachverhalt begreifen lässt, dass bewusstes Leben nicht im inneren Vollzug mentaler Prozessualität aufgeht, sondern sich damit zugleich immer auch in entsprechenden Äußerungsvollzügen kund tut. Erst durch die Beantwortung dieser Frage wird die in den vorhergehenden Abschnitten immer schon beanspruchte Voraussetzung eingeholt, dass der innerpersonale Verstehensvollzug spezifischer Erscheinungen in der Außenwelt bedarf, um sie dann als Dokumentation des be38  M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 151, Hvh. i. O.; vgl. auch: M. Batz: Der Rhythmus des Lebens, 140. 39 Damit orientiere ich mich an einem terminologischen Rekonstruktionsvorschlag aus M. Jung: Das Leben artikuliert sich, 440 – allerdings ohne mir die dort zur Geltung gebrachte Reserve gegenüber dem Geistbegriff zu eigen zu machen. Im Gegensatz halte ich den ‚Geist‘ bei Dil­they in kategorialer Hinsicht für zentral. Siehe dazu unten den Schlussabschnitt.



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wussten Lebens anderer menschlicher Subjekte auffassen zu können. Hierum soll es im Folgenden gehen. Diesbezüglich gilt es vorweg allerdings auf einen in der Dil­they-Forschung meist übersehenen Sachverhalt hinzuweisen: Das Ausdrucksverhalten und -handeln des Menschen baut sich Dil­they zufolge nämlich nicht erst dort auf, wo es zu äußeren Niederschlägen in der Sinnenwelt kommt, sondern besitzt seinen Ursprung bereits auf der Ebene des Bewusstseinsvollzugs selbst.40 Angesichts dessen gilt es zunächst, jene innere Ausdrucksdimension zu betrachten (1), im Anschluss daran soll es um die Versinnlichung des Ausdrucks gehen (2), ehe schließlich die drei Grundformen von Lebensäußerungen thematisiert werden (3). (1) Für Dil­they spielt die Problematik von Ausdruck und Darstellung – er verwendet beide Begriffe meist äquivok – bereits innerhalb des Bewusstseinslebens selbst eine entscheidende Rolle. Dies zeigt sich grundlegend anhand einer bestimmten Beschreibung, die er derjenigen basalen Erscheinung bewussten Lebens zuteilwerden lässt, ohne die letzteres nicht in Form subjektiver Ganzheit zu fungieren vermöchte. Die Rede ist vom Phänomen der Selbstheit. In seiner psychologischen Deskription begnügt sich Dil­they nämlich nicht allein mit dem Aufweis von dessen Konstitution und Funktion für das subjektive Bewusstseinsleben, sondern unterzieht es darüber hinaus auch einer ausdruckstheoretischen Beschreibung. Um dies begreiflich machen zu können, sei kurz an Dil­theys Theorie des humanen Selbstverhältnisses erinnert. Wie an anderer Stelle gezeigt,41 geht er grundlegend davon aus, dass das reflektierte Selbstbewusstsein des Menschen nicht aus sich selbst heraus erklärt werden kann, sondern dafür auf eine vorreflexive Ebene zurückzugehen ist. Erst von ihr aus könne begreiflich gemacht werden, wodurch es einem Subjekt möglich ist, sich bewusst auf sich selbst zurück zu beziehen und dadurch Selbstbewusstsein zu erzeugen. Dil­they hatte diesen vorreflexiven Tatbestand – ‚ohne den das Selbst als Gegenstand niemals dazu gelangte, sich mit dem Selbst als Subjekt eins zu wissen‘ – als das ‚Innewerden irgendeines Zustandes, in welchem unser Selbst begriffen ist‘, bezeichnet. Als eigentlicher mentaler Bereich einer solchen mentalen Einstellung hatte sich die Sphäre des Gefühls gezeigt,42 die Dil­they – je nachdem, ob eine aktive oder eine passive Grundhaltung vorherrscht – in ‚Selbstgefühl‘ und ‚Lebensgefühl‘ differenziert hat.43

40  Auch in den jüngsten Arbeiten, die sich mit Dil­theys Ausdruckstheorie befassen, findet die Dimension des inneren Ausdrucks keine Erwähnung, vgl. N. Meuters: Anthropologie des Ausdrucks, 35–78; M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 125–181. 41  Siehe dazu oben die Abschnitte III.1.b. und c. 42  „Ein Gefühl ist an sich ein solches Innewerden, und jedes Gefühl ist also ein solches Innewerden. Auch eine Begierde kann ohne ein solches Innewerden der in ihr enthaltenen Spannung nicht gedacht werden“ (XIX 160). 43 Vgl. XIX 162. 424, Anm. 302.

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Für den hiesigen Zusammenhang ist entscheidend, dass Dil­they jene Beschreibung in ausdruckstheoretischer Perspektive vertieft. Dies tut er in zwei Stufen. In einem ersten Schritt ist es ihm darum zu tun, das Verhältnis des reflektierten Selbstbewusstseins zu seiner vorreflexiven Grundlage im Sinne einer Ausdrucksrelation zu beschreiben. In der Breslauer Ausarbeitung heißt es diesbezüglich etwa: Die „Einheit des Bewußtseins [kann] als ein Effekt desselben Tatbestandes aufgefaßt werden […], welcher sich auch in dem Selbstbewußtsein darstellt“, denn „damit unsere Vorstellungen in demselben Bewußtsein aufeinander bezogen werden können, muß in ihm dieselbe Bedingung erfüllt sein, vermöge deren das in dem Bewußtsein Tätige ihm selber als ein einheitliches Selbst erscheint“, und dies ist eine „Tatsächlichkeit, deren Ausdruck das Selbstbewußtsein ist“ (XIX 154, Hvh. v. Verf.). Selbstbewusstsein bzw. Ich-Vorstellung fungieren sonach als innere Expressionen, in denen eine Lebenseinheit im Zusammenhang ihres eigenen Bewusstseins sich ihrer selbst nicht nur emotiv-mental inne ist, sondern sich ihrer selbst auch explizit bewusst wird.44 Für Dil­they stellt aber nicht nur das Selbstbewusstsein ein inneres Ausdrucksphänomen dar, sondern auch die ihm zugrunde liegende vorreflexive Selbstvertrautheit kann als eine innere Expression begriffen werden. So heißt es etwa in einer Anmerkung zur Breslauer Ausarbeitung: „Die verschiedenen Grundformen des Selbst- und Lebensgefühls […] drücken die Art aus, wie das Subjekt sich der Welt gegenüber fühlt“ (XIX 424, Anm. 302, Hvh. v. Verf.). Dil­they begreift die primordiale Selbsthabe in ‚Selbstgefühl‘ und ‚Lebensgefühl‘ sonach nicht einfach als bloße Agilität von Bewusstseinsleben überhaupt, sondern kann die entsprechende mentale Prozessualität selbst bereits als Ausdrucksphänomen apostrophieren. In einer Anmerkung zu seiner Berliner Psychologievorlesung aus den 1880er Jahren hat Dil­they diesen Gedanken ebenfalls ausgesprochen. In § 36 – der den Gesetzen des Gefühlslebens gewidmet ist – kommt er erneut auf das Phänomen des Lebensgefühls zu sprechen, das er hier definiert als die „Grundlage“ dafür, „wie ein neu auftretender Tatbestand auf unser Gefühlsleben wirkt“, so dass „von diesem „Lebensgefühle aus der Gefühlswert dieses neu eintretenden Tatbestandes bestimmt [wird]“ (XXI 246). Dieses Lebensgefühl ist nun aber nichts anderes als „[d]er Ausdruck der Stellung dieser Lebenseinheit zu ihren Bedingungen“ (XXI 396, Anm. 391, Hvh. v. Verf.). Hier zeigt sich wiederum, inwiefern Dil­they bereits Erlebnisvollzüge selbst als eine primordiale Darstellungsrelation beschreiben kann. So weist bewusstes Leben schon in seinem innersten Ursprung eine performativen Grunddimension auf. Hinsichtlich der Theorie des inneren Ausdrucks zeigt Dil­they dabei wiederum Parallelen zu Schleiermacher. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt,45 hat dieser 44  „Bewußt-sein [ist] nicht eine Eigenschaft der einzelnen Sensation oder Vorstellung, sondern die Art, wie ich, wie die Einheit, welche im Selbstbewußtsein sich kund gibt, diese einzelne Sensation oder Vorstellung besitzt“ (XIX 123, Hvh. v. Verf.). 45  Siehe dazu oben Abschnitt II.2.a.



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seine Kulturtheorie mittels der grundlegenden Unterscheidung allen menschlichen Vernunfthandelns in organisierende und symbolisierende Tätigkeit strukturiert, wobei er zweitgenannte Tätigkeitsform auch als ‚bezeichnende‘ Tätigkeit apostrophieren kann. Unter der bezeichnenden Tätigkeit fasste er dabei nicht nur das Feld des allgemeinen Wissens, dem das Medium der Sprache korreliert ist, sondern versteht darunter auch das individuelle ‚Symbolisieren‘, wie es durch Kunst und Religion geleistet wird. Damit knüpfte er an die schulphilosophische Tradition an, die bereits in analoger Weise vom menschlichen ‚Bezeichnungsvermögen‘ gesprochen hatte.46 Der in unserem Zusammenhang springende Punkt ist darin zu erblicken, dass auch Schleiermacher ‚Ausdruck‘ und ‚Darstellung‘ nicht etwa nur in der Artikulation innerer Zustände im Medium äußerer Objektivationen erblickt, sondern dass er das Kunst und Religion zugrunde liegende ‚Gefühl‘ selbst wiederum als eine Form der symbolisierenden Tätigkeit versteht. Schleiermacher dürfte damit wohl als einer der ersten Theoretiker anzusehen sein, die die Kategorien des Ausdrucks bzw. der Darstellung nicht nur für die äußere Vergegenständlichung inneren Befindens verwendet, sondern sie bereits auf der Ebene des subjektiven Empfindens selbst angesiedelt haben.47 Im Blick auf Dil­they bedeutet das: Wenn er den performativen Charakter von Leben herausarbeitet, so steht er damit in einer größeren Traditionslinie neuzeitlichen Denkens, die in Schleiermacher jene markante Akzentuierung erfahren hatte. (2) Dil­they zufolge geht die Expressivität des bewussten Lebens freilich nicht darin auf, sich in bewusstseinsinternen Ausdrucksvollzügen darzustellen. Darüber hinaus artikuliert es sich immer auch in bestimmten Zuständen und Prozessen der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt. Der Ermöglichungsgrund solcher Versinnlichung ist Dil­they zufolge darin zu erblicken, dass der Mensch als ein psycho-physisches Wesen existiert. Das bedeutet nicht nur, dass allen mentalen Vollzügen notwendig biophysikalische Prozesse korrelieren.48 Es bedeutet auch, dass 46 Vgl.

U. Barth: Subjektphilosophie, Kulturtheorie und Religionswissenschaft, 299. ebd. 48  Überblickt man seine Psychologievorlesungen von Mitte der 1870er Jahre bis Mitte der 1890er Jahre, so fällt auf, dass Dil­they gerade auch den Ergebnissen der zeitgenössischen Neurophysiologie Rechnung zu tragen sucht. Diese Beschäftigung dürfte nicht zuletzt dadurch motiviert sein, dass die naturwissenschaftliche Physiologie sich gleichsam in die größte Nähe zum Phänomenbereich des Geistigen begibt, insofern sie dessen direkte biophysikalische „Korrespondenz[en]“ (XII 148. 149) in den Blick nimmt. Dil­they lässt keinen Zweifel daran, dass er der grundlegenden Einsicht darin, dass alle geistigen Phänomene in den im Nervensystem und im Gehirn stattfindenden Prozessen ihre naturale Grundlage besitzen, prinzipiell zustimmt. In einem Manuskript aus den Jahren 1884–1894 heißt es diesbezüglich: „Das erste erkennbare allgemeine gesetzliche Verhältnis zwischen den materiellen und den psychischen Vorgängen ist das der Abhängigkeit psychischer Vorgänge direkt von dem Gehirn- und Nervensystem“ (XXI 148). Bereits in der Psychologievorlesung aus dem Jahr 1875/76 hatte Dil­they feststellen können, dass allen „in innerer Erfahrung [erfahrenen] psychische[n] Zustände[n] […] begleitende[ ] Veränderungen in Gehirn und Nervensystem“ (XXI 14) entsprechen. Wie das Verhältnis beider Seiten genau zu bestimmen ist, lässt sich Dil­they zufolge letztlich nicht genau fest47  Vgl.

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bereits das Individuum selbst all seine Bewusstseinszustände auf mehr oder weniger direkte Weise an außenweltliche Zustände und Prozesse gekoppelt findet. „In unserem psychophysischen Wesen ist uns die Beziehung eines Innen und Außen gegeben“,49 als deren ursprünglichste Erscheinungsform das subjektive Leibesempfinden fungiert.50 Daraus resultiert dann ein komplexes Wechselverhältnis von Verinnerlichung und Veräußerlichung. Denn diese Beziehung „übertragen wir überall hin“ (VI 99). Infolgedessen können äußere Tatbestände dann gleichsam als belebt aufgefasst werden, wie Inneres umgekehrt notwendig zur Außendarstellung tendiert. Auf letzteres kommt es im hiesigen Zusammenhang an  – und zwar noch diesseits der kunstmäßigen Bearbeitung, wie sie dann vor allem durch die Dichtung geleistet wird. (3) Dil­they beschreibt die Korrelation innerer Zuständlichkeit und Prozessualität mit entsprechenden Ausdrucksphänomenen entlang der triadischen Struktur bewussten Lebens von ‚Wahrnehmen/Vorstellen/Denken‘, ‚Fühlen‘ und ‚Wollen‘.51 Später kann er diesbezüglich auch von ‚Wirklichkeitserkennen‘, ‚Wertbestimmung‘ und ‚Zwecksetzung‘ sprechen.52 Stellt man nun in Rechnung, dass alles Bewusstseinsleben nicht einfach in sich verbleibt, sondern sich aufgrund seiner psychophysischen Verfasstheit immer auch äußerlich kundgeben stellen, weil sich beide unterschiedlichen methodischen Einstellungen verdanken, die nicht auf eine dritte zurückgeführt werden können. Deshalb plädiert er schon früh dafür, lediglich von einem „funktionelle[n] Verhältnis“ zwischen „dem physiologischen und psychologischen Vorgang“ (XXI 14; vgl. auch XXI 169) zu sprechen – eine Einsicht, die er laut Selbstauskunft in der Einleitung den Arbeiten Fechners verdankt (vgl. I 34). Was Dil­they allerdings zurückweist, ist der Versuch, die Beobachtung der physiologischen Seite gleichsam gegen die der psychologischen auszuspielen, um den Phänomenbereich des Geistigen damit zum Verschwinden zu bringen. In einer 1883/84 gehaltenen Vorlesung hat er diese Kritik am naturwissenschaftlichen Reduktionismus klar festgehalten: „Geistige Vorgänge sind aus ihren materiellen Bedingungen nicht zu begreifen“ (XXI 204). Denn sie besitzen eine eigene Qualität, die aus naturkausalen Eigenschaften nicht abgeleitet werden kann. In der zeitgleich verfassten Einleitung beschreibt Dil­they dies etwa anhand der Phänomene der Farb- und Tonwahrnehmung, die in ihrer psychischen Qualität weder durch physikalische noch durch physiologische Beschreibungen erfasst werden (vgl. I 11). Angesichts dessen wird sich immer wieder „die Unmöglichkeit“ einstellen, „aus den Gesetzen des mechanischen Naturlaufes das geistige Leben zu erklären“ (XXI 204). Unter Wahrung ihrer kritischen Grenzen jedoch vermag Dil­they die neurophysiologischen Ergebnisse rundheraus anzuerkennen. 49  Dieses Zitat entstammt Einbildungskraft und Wahnsinn (1886), VI 99. Vgl. auch innerhalb von Dil­theys Poetik, VI 175. 50 Die Bedeutung der eigenen Leiblichkeit hat Dil­ they bereits in der Breslauer Ausarbeitung angedeutet, vgl. XIX 164.166. Allerdings spricht Dil­they nicht vom ‚Leib‘, sondern vom ‚Körper‘. Ersterer – von Husserl später hervorgehobene – Begriff dürfte aber insofern auch für Dil­they passender sein, als er selbst darauf hingewiesen hat, dass der eigene Körpers im je subjektiven Bewusstsein „gleichsam von einem inneren Mittelpunkte aus [erfüllt]“ (V 106) wird. Für Husserl unterscheidet dann bekanntlich das Vorliegen ‚innerer Zentriertheit‘ den Leib vom bloßen Körper. 51  Vgl. in der Breslauer Ausarbeitung, XIX 110. 52  Vgl. auch VII 155.



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kann und kundgibt, so ist klar, dass die humane Ausdruckstätigkeit für alle drei der eben genannten Felder in Anschlag zu bringen ist, je nachdem, welche psychische Seite dominiert. Auf den Begriff gebracht findet sich eine entsprechende ausdruckstheoretische Differenzierung beim späten Dil­they, der diesbezüglich drei „Klassen“ von „Lebensäußerungen“ unterscheidet: die der „Begriffe, Urteile, größere[n] Denkgebilde[n]“, die der „Handlungen“ (VII 205 f.) sowie schließlich eine dritte Klasse, die sowohl Gefühlsäußerungen des alltäglichen Lebens als auch künstlerische Erlebnisausdrücke umfasst.53 Diese dreifache Differenzierung lässt sich unschwer auf jene triadische Strukturverfasstheit des psychischen Lebens abbilden: Die erste Ausdrucksklasse korreliert dem Zusammenhang von Wahrnehmen, Erkennen und Denken, die zweite hängt mit dem volitionalen Bereich zusammen, während die dritte auf die emotive Sphäre verweist. Dass Dil­they auch Handlungen unter die Ausdruckskategorie subsumieren kann, mag zunächst überraschen. Es wird sich unten zeigen, welche Gründe hierbei für ihn leitend sind. Sein Ausdrucksbegriff ist also denkbar weit und kann letztlich alle vom Menschen hervorgebrachten Erscheinungen in der Außenwelt umfassen. Im Folgenden soll es darum gehen, wie sich die Ausdruckstätigkeit für jede der drei unterschiedlichen mentalen Einstellungen jeweils ausnimmt. Dabei wird von der geschichtlich-kulturellen Dimension, die alle realen Ausdrucksgebilde Dil­they zufolge immer auch aufweisen, noch abgesehen, um sie im folgenden Kapitel eigens zu thematisieren.54 In diesem Abschnitt geht es lediglich um eine psychologische Strukturtheorie der Artikulation bewussten Lebens. Wir beginnen mit dem kognitiven Bereich. Die entsprechende Bewusstseinseinstellung ist für Dil­they dadurch charakterisiert, dass die thematisierten Sachverhalte in ihr mithilfe des Denkens fixiert, bezeichnet und geordnet werden,55 was nicht erst auf der Stufe diskursiven Denkens geschieht, sondern bereits auf Ebene des Erlebens seinen Anfang nimmt. Im Spätwerk hat Dil­they dann von einem ‚gegenständlichen Auffassen‘56 gesprochen. Dabei ist es zunächst irrelevant, ob es sich um Gehalte der inneren oder der äußeren Wahrnehmung handelt. Sofern sie zum Thema des Erkennens werden, erfahren sie eine logische Objektivierung. Im Fall der äußeren Wahrnehmung liegt dies auf der Hand: Das Subjekt findet sich hier einer von ihm unterschiedenen Außenwelt gegenüber, auf die es sich vermittels seiner eigenen Vorstellungen und Begriffe bezieht. Die Vergegenständlichungsleistung des Erkennens ist aber keineswegs auf die Sphäre außenweltlich gegebener Größen beschränkt. Denn seine Bezugnahme auf die Wirklichkeit erschöpft sich nicht in der Deskription außenweltlicher Sachverhalte, sondern kann sich ebenso auf die 53 Vgl. VII 206 f. 54  Siehe unten Abschnitt 55  Vgl.

III.3.

in den Ideen, V 173. 56 Vgl. VII 122. 125.

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Erfassung von Bewusstseinstatsachen als solche richten, wie es beispielsweise Gefühle sind.57 Dabei wird der Bezugsgegenstand dann zwar durch ursprünglich unmittelbar gegebene Erscheinungen des psychischen Lebens gebildet. Nichtsdestoweniger werden aber auch diese objektiviert, indem sie zum logischen Subjekt von Urteilen gemacht werden.58 Die Bewusstseinshaltung unter dem Vorzeichen des Erkennens ist also dadurch charakterisiert, dass Sachverhalte der Wirklichkeit in ihr als Gegenstände thematisch werden, auf die das Subjekt sich objektiv urteilend bezieht. Das ist auch der Grund, warum die entsprechenden Ausdrucksgrößen, wie eingangs genannt, durch ‚Begriffe, Urteile und größere Denkgebilde‘ konstituiert werden. Das vorrangige Medium, in dem das Erkenntnissubjekt sich artikuliert, ist das der Sprache, insofern als jene Urteile in Form sprachlicher Sätze ausgesagt werden. Dabei lässt sich an dieser Stelle ein Rückbezug zur Problematik des inneren Ausdrucks herstellen. Denn jene Versprachlichung des Urteilsvollzuges spielt nicht erst auf der Ebene äußerer Darstellung eine Rolle, sondern kann als ‚inneres Sprechen‘59 bereits am Orte des Subjektes selber stattfinden. Kommen wir zur zweiten Klasse von Lebensäußerungen, den Gefühlsausdrücken. Gefühle stellen die subjektiven Evaluationen äußerer und innerer Sachverhalte durch ein konkretes Subjekt dar. Bereits in seiner Psychologievorlesung aus dem Jahr 1878 hat Dil­they diesbezüglich festgehalten: In Bezug auf das Gefühl geht es „nicht um die Vorstellung eines Gegenstandes, sondern um die Beziehung desselben zu unserem Selbst, um seinen Wert oder um seinen Unwert“ (XXI 123).60 Solche evaluativen Gefühlszustände können sowohl in Form von 57  In § 1 des ersten Abschnittes des zweiten Teils von Dil­theys späten Philosophie-Vorlesungen (1899–1903) heißt es etwa: „Wir können das ganze Gebiet der Gefühlserlebnisse uns gegenständlich machen“ (XX 356). 58 Innerhalb von Dil­ theys Wissenschaftskonzeption wird eine solche Thematisierung grundsätzlich durch die Psychologie geleistet. Dabei ist Dil­they die grundlegende Einsicht in den logisch vergegenständlichenden Charakter psychologisch-deskriptiver Urteile nicht etwa erst im Zuge seiner späten Ausarbeitungen zur erkenntnistheoretischen Logik klar geworden. Sie begegnet ansatzweise bereits in seiner Breslauer Ausarbeitung an zentraler Stelle. Gemeint ist der Kontext des dritten Kapitels, in dem Dil­they unter anderem den erkenntnistheoretischen Status des Satzes der Phänomenalität erörtert. Hierbei weist er darauf hin, dass jener Satz zwar einen Grundsachverhalt allen bewussten Lebens zur Geltung bringt. Als Satz aber ist er keine innere Erfahrung, sondern spricht etwas über dieselbe in Form einer logischen Aussage aus: „Ja selbst der Satz der Phänomenalität […] ist nicht eine Tatsache [sc. des Bewusstseins], sondern ein in einem Denkvorgang gewonnener allgemeiner Satz“ (XIX 84). 59  In der Breslauer Ausarbeitung erwähnt Dil­they im elften Kapitel – wenn auch nur nebenbei – das Phänomen des „inneren […] sprachlichen Ausdruck[s]“ (XIX 143). 60  Dabei weist er ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff des ‚Werts‘ bereits eine Kategorie des theoretischen Erkennens darstellt und insofern aus der vergegenständlichenden Bezugnahme des Denkens auf ein solches resultiert, „was in dem Gefühl uns auf unmittelbare Weise gegeben ist“ (XXI 115). Streng genommen vollzieht das Gefühl subjektive Evaluationen, die erst im begrifflichen Rückblick als ‚Wert‘-Setzung beschrieben werden können. Entsprechendes gilt für naheliegende Begriffe wie ‚Bedeutung‘ oder ‚Gut‘.



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Einzelgefühlen als auch in Form komplexer Gefühlslagen – Dil­they spricht später von „Stimmungen“61 – erfolgen. Dabei lässt sich wiederum ein Rückbezug zur Problematik des inneren Ausdrucks vornehmen. Denn aufgrund jener Funktion der Gefühle, die innere Zuständlichkeit des Subjekts mental zur Darstellung zu bringen, „sind auch unsere Gefühle Zeichen“ (V 208), wie es in den Ideen dann heißt. „[D]en Wert der Wirkungen […] drücken […] die Gefühle aus“ (V 212).62 Deshalb ist von Ausdruck nicht erst dort zu sprechen, wo „unsere Gemütszustände in vorstellungsmäßige Symbole und in Ausdrucksbewegungen“ (V 187) übergehen, sondern bereits der Gefühlsvollzug selbst weist den Charakter eines Darstellungsverhältnisses auf. Im Blick auf die Gefühlssphäre bringt sich die psychophysische Verfasstheit des Menschen in gewisser Hinsicht nun besonders eindrücklich zur Geltung. Denn nicht wenige solcher emotiven Stellungnahmen korrelieren mit direkten und unbeabsichtigt erfolgenden leiblichen Erscheinungen, in denen sich die jeweiligen inneren Zustände des Subjektes äußerlich wahrnehmbar kundgeben – sofern diese Expressivität nicht durch andere Gründe gehemmt ist. Die sprechendsten Beispiele hierfür sind Mimik, Gebärde und Laut: Wenn eine Person etwa plötzlich einen starken Schmerz empfindet, durch den sie einen bestimmten Moment ihrer psychophysischen Existenz als unlustvoll codiert, so bleibt es in der Regel nicht bei der bloß innerlichen Gegebenheit der Schmerzempfindung, sondern mit dieser sind zugleich bestimmte äußere Leibeserscheinungen gegeben, wie beispielsweise mimisch-gestische Kontraktionen oder auch das Austreten von Tränen. Analoges gilt umgekehrt freilich auch für lustvolle Gefühlserlebnisse. Die ausdruckstheoretische Valenz dieses Sachverhaltes hat Dil­they bereits früh vor Augen gestanden, so etwa wenn er in der Psychologievorlesung von 1878 von „den Mienen und […] der Gebärde“ als „körperliche[r] Äußerung[ ]“ bewussten Lebens spricht (XXI 26). In jenem bereits herangezogenen späten Manuskript hat Dil­they die Zusammengehörigkeit emotiven Erlebens und äußerer Darstellung besonders deutlich unterstrichen, wenn er festhält, dass „die Gebärde und der Schrecken[ ] nicht ein Nebeneinander, sondern eine Einheit sind“ (VII 208). Zu solchen unmittelbaren Äußerungsweisen treten dann zunehmend gestaltete Formen hinzu, wie etwa solche Bekundungen, in denen ein Subjekt seinen jeweiligen Gefühlszustand sprachlich artikuliert und anderen mitteilt, oder auch bewusst vollzogene Darstellungen in Mimik, Geste und Ton.63 Dabei wird die 61  Vgl.

etwa im Wesen, V 379 oder in den Typen, VIII 81.

62  Vgl. auch V 216. 218. 63  In einer Logik-Vorlesung

aus dem Sommersemester 1906 hat Dil­they diese Artikulationsform emotiver Zustände nochmal eigens untersucht und sie in ihrem besonderen Charakter als „Ausdruck eines Gefühls“ von den „Aussagen, die diesen Gefühlszustand zu gegenständlichem Erkennen erheben“ (XXIV 10) abgegrenzt (vgl. auch XXIV 108 f.). Stellt man in Rechnung, dass Dil­they Schleiermacher in der Preisschrift dafür kritisiert hat, Sprache in der Dialektik auf die Artikulation von Wissen im engeren Sinne einzuschränken, dann wird man davon ausgehen können, dass ihm die emotiv-expressive Funktion von Sprache schon hier bewusst ge-

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physische Seite der Ausdruckstätigkeit nochmals eigens akzentuiert. Denn unabhängig davon, ob eher mimisch-gestische, tonale oder sprachliche Artikulation vorliegt: Alle diese Ausdrucksformen sind tiefgreifend durch die Körperform des Menschen und sein physisches Umfeld bedingt. In den Formen künstlerischer Bearbeitung und Darstellung von Erlebnissen findet solche Versinnlichung gewissermaßen ihren Höhepunkt. Bleibt zum Schluss die dritte Klasse von Lebensäußerungen zu befassen, die durch die Handlungen gebildet wird. Wie gesagt, mag es auf den ersten Blick überraschen, letztere unter die Rubrik des Ausdrucks zu subsumieren. Denn in der Regel suchen Subjekte sich in ihrem Tun weniger expressiv zur Darstellung zu bringen, als vielmehr Veränderungen bestimmter Zustände zu bewirken. Entsprechend hält Dil­they selbst in den Ideen explizit fest: „vorstellungsmäßige Symbole“ und „Ausdrucksbewegungen“ stellen „Formen von Umsetzungen unserer Gemütszustände“ dar, die „sich von der Auslösung von Handlungen, welche auf äußere oder innere Veränderungen gerichtet sind [unterscheiden]“ (V 187). Dil­ they besitzt offenkundig einen engen und einen weiten Ausdrucksbegriff. In eben herangezogenem Zitat ist es ihm um die engere Bedeutung zu tun, wonach ‚Ausdruck‘ für die artikulatorische Leistung eines Subjekts im Gegensatz zu seiner praktischen Tätigkeit steht. In einem weiten Sinne kann Dil­they gleichwohl auch Handlungen als ‚Lebensäußerung‘ bezeichnen. Dieser weite Ausdrucksbegriff begegnet dabei nicht etwa erst in Dil­theys Spätzeit, sondern ist von Anfang an zu greifen.64 Um deutlich machen zu können, was ihm dabei vor Augen steht, ist zunächst etwas zu den psychologischen Grundlagen seiner Handlungstheorie zu sagen. Wie gesehen, repräsentiert das Subjekt die Außenwelt im realen Leben niemals bloß in Form eines interesselosen Vorstellens, sondern bezieht zu den ihm begegnenden außenweltlichen Sachverhalten immer zugleich in emotiver Form Stellung: Der wahrnehmend-vorstellenden Bewusstseinstätigkeit kommt innerpsychisch die Leistung zu, die fragliche Begebenheit als vom Selbst unterschiedenes Faktum zu erkennen; demgegenüber besitzt jenes Stellungnehmen die Funktion, das Wahrgenommene nicht bloß als Sachverhalt der Außenwelt als solchen zu erkennen, sondern es zugleich in seinem Wert für das eigene Leben abzuschätzen. Der Übergang zur Handlungsproblematik ergibt sich dadurch, dass jene Gefühlszustände innerhalb des psychischen Lebens nicht für sich bestehen, sondern – aufgrund der Kontinuität des psychischen Lebens – auf eine bestimmwesen ist. Dazu passt auch, dass seine ersten veröffentlichten materialen Studien überwiegend literarisch-poetischen Werken gewidmet waren. 64  Diesbezüglich findet sich bereits in Dil­theys Psychologievorlesung aus dem Jahre 1878 eine einschlägige Feststellung, in der es um die unterschiedlichen Hinsichten geht, in denen ein verstehendes Subjekt sich auf ein fremdes Subjekt und die von diesem hervorgebrachten Ausdrucksphänomene zu beziehen vermag: „[W]ir lesen in ihren [sc. der anderen Menschen] Handlungen und entwerfen uns ein Bild des inneren Lebens, welches diesen körperlichen Äußerungen zugrunde liegt“ (XXI 26, Hvh. v. Verf.). Vgl. auch XXI 257 (Vorlesung 1885/86).



2.  Die Theorie des Interpersonalitätsverstehens

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te Weise mit volitionalen Akten verbunden sind. „Gefühl und Wille sind miteinander verkettet, und zwar so, daß sie beide […] miteinander auftreten, einander entsprechend gegenüber einem gegebenen Reiz, daß ihre Grade sich ändern mit dem Reiz“ (XXI 125). Folglich hängen nicht nur Vorstellungen und Gefühle miteinander zusammen. Darüber hinaus zeigen sich zugleich „[a]llmähliche Übergänge von Gefühlsprozessen in Willensprozesse“ (XXI 118). Wie auch immer deren Verhältnis zueinander genau zu fassen ist: Aufgrund jenes Übergehens von Fühlen in Wollen entsteht aus jener emotiven Situationsevaluation ein bestimmtes Begehren oder Verlangen, sei es, dass das Subjekt bestrebt ist, den IstZustand zu erhalten, sei es, dass es aufgrund einer negativen Bewertung einen Soll-Zustand setzt, auf den hin die Gegenwart zu verändern ist. Es kommt mithin zum Aufbau einer „Vorstellung oder Wahrnehmung, welche meinen Willen bewegt“, d. h. zu dem „vorschwebende[n] Bild einer […] mir erreichbaren Lage“, das nun als „Motiv meines Handelns“ (XXI 129) fungiert. In einer konkreten Lebenssituation sieht das Subjekt sich also genötigt, das jeweilige Umwelt-SelbstVerhältnis den eigenen Bedürfnissen gemäß handelnd zu gestalten. Dazu gehört zunächst freilich auch die Abschätzung dessen, was überhaupt möglich ist, sowie die Wahl der bestmöglichen Mittel.65 Erweist sich eine entsprechende Umgestaltung der äußeren Umstände – momentan oder strukturell – als nicht durchführbar, kommt es gegebenenfalls zu Anpassungen innerhalb des psychisch-geistigen Lebens selbst. Erweist sich die Umgestaltung hingegen als durchführbar, kommt es zu äußeren Handlungen, die eine Anpassung der Umwelt intendieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun beantworten, warum auch Handlungen als Ausdrucksphänomene angesehen werden können. An sich betrachtet stellen sie zunächst nichts anderes als mundane Zustandsveränderungen dar. Allerdings unterscheiden sie sich von bloß naturkausaler Prozessualität dadurch, dass sie durch Motiv- und Zwecksetzungen eines Subjektes bedingt sind.66 Sie sind keine gleichsam blind verlaufenden Ereignissequenzen, sondern intentional herbeigeführte Veränderungsprozesse. Als solche stellen sie aber nichts anderes als spezifische äußere Resultate der inneren Wirklichkeitsbearbeitung bewussten Lebens dar, die ihre Grundlage in den psychischen Prozessen der Wert- und Bedeutungsabschätzung besitzt, um sich über subjektive Zwecksetzungen in äußeren Erscheinungen kund zu tun. Am Paradigma äußerer Handlungen weist Dil­they allerdings nachdrücklich darauf hin, dass die hierdurch erbrachten Ausdrucksgebilde nur in einem mittelbaren Sinne etwas über die innere Verfasstheit des jeweils Handelnden aussagen. So wird im Fall des Handlungsverstehens zwar ein bestimmter äußerer Prozess 65  Diese beiden Aspekte hat Dil­they an unterschiedlicher Stelle verhandelt, vgl. etwa Einleitung, 17 f. 19 f. 66  In diesem Sinne kann Dil­they etwa in einem – an anderer Stelle bereits herangezogenen – späten Manuskript sagen, dass die „Akte“ handelnder Personen „die Anwesenheit gewisser Zwecke [bezeichen]“ (VII 207).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

als intentional herbeigeführt erfasst  – etwa wenn das Niederfallen eines eisenbestückten Holzstiels als Betätigung eines Hammers gedeutet wird. Aber die tieferen Hintergründe solchen Tuns lassen sich aus demselben nicht ohne weiteres ablesen. Warum ein Mensch – um im Bilde zu bleiben – mit dem Hammer agiert, ist aus der Aktion selbst nicht unmittelbar zu verstehen. „So löst […] die Handlung sich vom Hintergrunde des Lebenszusammenhanges los“ und gestattet „keine allseitige Bestimmung des Inneren, aus dem sie entsprang“ (VII 206). Dies stellt eine Einschränkung des Handlungsverstehens dar, die nur kompensiert werden kann durch das Hinzutreten zusätzlicher Erwägungen darüber, „wie sich in ihr [sc. der Handlung] Umstände, Zweck, Mittel und Lebenszusammenhang verknüpfen“ (ebd.). Ein umfassenderes Verstehen von Handlungen ist demnach nur dadurch möglich, dass weitere Lebenskontexte Berücksichtigung finden. Unbeschadet der damit gegebenen Komplikationen hinsichtlich des Verstehens bleibt festzuhalten, dass auch letztere als äußere Dokumentationen der inneren Wirklichkeitsverarbeitung von Subjekten fungieren und deshalb als expressive Gebilde eingestuft werden können – weswegen Dil­they schon früh von ‚Handlungen‘ als den ‚körperlichen Äußerungen‘ bewussten Lebens sprechen konnte.67 Damit haben wir die drei basalen Dimensionen der Versinnlichung von Erleben abgeschritten. Für alle Seiten des psychischen Lebens konnte gezeigt werden, inwiefern sich die inneren Bewusstseinsprozesse von Denken, Fühlen und Wollen in äußere Erscheinungen umsetzen. Deren daraus resultierende Doppelnatur – einerseits als äußerliche Fakta zu stehen zu kommen, andererseits Psychisch-Geistiges zur Darstellung zu bringen  – bezeichnet dabei den letzten Grund dafür, alle diese unterschiedlichen Phänomene unter dem Begriff des Ausdrucks zusammenzufassen. Im Spätwerk hat Dil­they nochmals eine geisttheoretische und bedeutungstheoretische Näherbestimmung des ontologischen Status jener Gebilde getätigt.68

67  In seinen späten Logikvorlesungen diskutiert Dil­they darüber hinaus auch noch ein weiteres Ausdrucksphänomen aus der volitionalen Sphäre, nämlich die unterschiedlichen sprachlichen Ausdrücke volitionaler Einstellungen, wie etwa Gebotssätze, Sollenssätze, Wunschaussagen etc. (vgl. XXIV 10 f. 109 passim). 68  Siehe dazu unten die Abschnitte III.3.c und d.

3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen Individuelles Leben kann Dil­they zufolge niemals losgelöst von seiner Einbettung in soziale und kulturelle Zusammenhänge betrachtet werden. Denn kein Einzelner vermag sein Selbst- und Weltverhältnis völlig autark zu entwickeln, sondern ist diesbezüglich stets auf intersubjektive Kultur- und Sozialformen angewiesen, die sein Erleben und Handeln prägen. Dabei setzt Dil­they voraus, dass diesen überindividuellen Formen jeweils eine eigene Beharrungstendenz eignet, aufgrund derer sie allererst unterschiedliche Individuen synchron und diachron zu umgreifen vermögen. So heißt es schon im Studium (1875): Es gibt „stetige Weisen, in welchen sich die Wechselwirkungen der Willen in der Gesellschaft bewegen. Sie beharren, während die einzelnen Willen selber auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und wieder abtreten. Diese Weisen der Beziehung […] stellen sich als Systeme dar“ (V 60). Wie noch zu zeigen sein wird, sind diese ‚Systeme‘ nicht etwa im Sinne rein überzeitlicher Strukturen zu begreifen, sondern stellen geschichtliche Produkte dar, die sich in zeitlicher und örtlicher Hinsicht als variabel erweisen. Für das durch sie bedingte Erleben und Handeln bedeutet das: Diese sind immer durch konkrete Orientierungshorizonte bestimmt, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort vorhanden sind. In letztgenannter Schrift macht Dil­they dies etwa daran deutlich, dass er exemplarisch auf die mittelalterliche Kultur verweist, in der das damalige Leben weitgehend in ein religiöses Licht getaucht gewesen sei – während eine solche Grundhaltung in der Gegenwart vergleichsweise fremd geworden sei.1 In einer Nebenbemerkung der Einleitung hat Dil­they die allgemeine Geprägtheit des Einzelnen durch seine Umwelt anhand eines anderen Beispiels verdeutlicht, nämlich mit Blick auf die astronomische Grundanschauung des Menschen:2 Auch der Blick in den Himmel ist durch eine kulturell bereitgestellte Sichtweise vorgezeichnet, die im Falle des Zeitgenossen durch die neuzeitlich-moderne As1 Vgl.

V 62. heißt es an einer Stelle: „Der umfassende Schluss von der erscheinenden Himmelskugel, von der täglichen und jährlichen Bewegung der Sonne, den teilweise so verschlungenen Bewegungen der Gestirne an ihr auf die wirklichen Stellungen, Massen, Bewegungsformen, Geschwindigkeiten der Körper im Weltraume existiert in seinen Gliedern für den heutigen Menschen als ein objektiver Tatbestand […], zu welchem sich der einzelne als zu einer geistigen Wirklichkeit verhält“ (I 51, Hvh. v. Verf.). 2  So

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

tronomie gebildet wird. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen mag diese Sichtweise anders aussehen und mithin auch die korrespondierende individuelle Wirklichkeitserfahrung. Im Spätwerk findet sich die historisch-kulturalistische Einsicht nochmals ausdrücklich hervorgehoben. So heißt es in einer vielzitierten Stelle aus dem Aufbau: „der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit“ (VII 147). Hierum soll es im Folgenden gehen. Um den allgemeinen Theorierahmen zu verdeutlichen sei zunächst Dil­theys Konzeption soziokultureller Wirklichkeit erarbeitet (a.). Im Anschluss daran werden die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Prägung des Einzelnen in den Blick genommen. Diese bestehen zum einen in der verstehenden Aneignung bereitgestellter Kulturmuster durch die betreffenden Individuen, zum anderen in dem hierin vorausgesetzten Sachverhalt, dass jene Muster dafür immer schon äußerlich in Erscheinung getreten sein müssen (b.). Die Frage nach dem ontologischen Status solcher Gebilde und Formationen wird von Dil­they mit unterschiedlichen Theoriemodellen zu beantworten gesucht: einerseits im Zusammenhang einer kritisch-konstruktiven Aneignung von Hegels Figur des ‚objektiven Geistes‘ (c.), andererseits mithilfe bedeutungstheoretischer Überlegungen im Gefolge Husserls (d.).

a.  Die Begriffe von Kultur und Gesellschaft Hinsichtlich der Frage, wie die Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt angemessen zu konzeptualisieren sind, haben sich in den deutschen Debatten des 19. Jahrhunderts bekanntlich zwei unterschiedliche Modelle herausgebildet, die zwar große Nähen aufweisen, die die Akzente aber jeweils anders setzen. Auf der einen Seite kommen die ‚Geisteswissenschaften‘ zu stehen, auf der anderen die ‚Kulturwissenschaften‘. Wilhelm Dil­they gehört ersterer Position an  – wobei er selbst darauf hingewiesen hat, dass die Gesamtformel ‚Geisteswissenschaften‘ nicht unproblematisch ist.3 Die Konzeption der Kulturwissenschaften steht in enger Verbindung mit dem südwestdeutschen Kantianismus, dessen wichtigste Vertreter in Wilhelm Windelband und dessen Schüler Heinrich Rickert zu erblicken sind. Angesichts dieser Gegenüberstellung könnte der Eindruck entstehen, dass der Begriff der Kultur bei Dil­they keine größere Rolle spiele. Das ist aber nicht der Fall. Stattdessen macht er vom Kulturbegriff vielfach und in unterschiedlicher Hinsicht Gebrauch, verschränkt ihn eng mit gesellschaftstheoretischen Aspekten.4 Seine ausführlichsten Überlegungen zu dieser Problematik finden sich innerhalb seiner Einleitung und werden dort in Form einer systemtheoretischen Konzeption entfaltet. An den hier zur Klärung 3 Vgl. I 5. 4  Für einen

ersten Überblick vgl. J. Thielen: Wilhelm Dil­they und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, 404–407; vgl. auch U. Dierse: Dil­theys Begriff der Kultur.



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

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kommenden Einsichten hat Dil­they dann zeitlebens festgehalten5 und sich etwa auch in seinem Aufbau ausdrücklich darauf zurückbezogen.6 Eine Rekonstruktion dessen, was Dil­they unter ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘ verstanden hat, muss darum erstgenannte Schrift zum Bezugspunkt wählen. Der fragliche Begriff wird hier vor dem Hintergrund einer Differenzierung des Konzepts soziokultureller ‚Wechselwirkung‘ eingeführt, so dass es sinnvoll sein dürfte, zunächst etwas zu letzterem zu sagen (1), um von da aus zu jener anderen überzugehen (2). (1) Dil­they hat zeitlebens die erkenntnistheoretische Forderung erhoben, dass die mit dem Studium der geistigen Welt verbundenen Wissenschaften einer psychologischen Grundlegung bedürfen. In der Rezeption konnte daraus leicht das Missverständnis entstehen, Dil­they habe alle kultur- und sozialphilosophischen Formationen ausschließlich aus dem individuellen Leben einzelner Subjekte herleiten wollen.7 Eine solche Lesart verkennt jedoch einen Grundzug, der in Dil­ theys Denken von Anfang an vorhanden gewesen ist – nämlich die grundsätzliche Ablehnung solcher Theoriemodelle, die soziokulturelle Gebilde aus dem bewussten Leben vereinzelter Individuen abzuleiten suchen. Demgegenüber gelte es, so Dil­they, überindividuelle Sachverhalte aus einem komplexen und nicht immer bewusst verlaufenden Zusammenwirken unterschiedlicher Individuen zu begreifen. Bereits in der Preisschrift hatte Dil­they diesen Gedanken unter anderem im Blick auf Sprachentstehungstheorien verfolgt.8 In seiner 1875 erschienenen Schrift Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat nimmt er diesen Aspekt wieder auf, entwickelt ihn nun aber weiter zu einer allgemeinen Theorie der Konstitution und des Verstehens gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das Bestreben, letztere aus psychologisch ermittelten „Grundtriebe[n]“ (V 59) des Individuums abzuleiten, betrachtet er dabei als ein verfehltes Verfahren. „Es ist falscher Individualismus, die Individuen, welche Elemente der gesellschaftlichen Wechselwirkung sind, aus dieser auszulösen und mit angeborenen Trieben auszustatten. Keine exakte Psychologie vermag mit den gegenwärtigen Mitteln eine so weitgehende Annahme zu begründen“ (V 60). Mit dem Abweis jenes ‚falschen Individualismus‘ verbindet sich für ihn umgekehrt aber nicht etwa die Forderung, soziale Tatbestände einfach durch die Annahme abstrakter Entitäten zu erklären, „an welche sich besonders seit Hegel die politischen und historischen Wissenschaften gewöhnt “ hätten (V 60). Diese Kritik hat Dil­they in der Einleitung wiederholt und etwas näher ausgeführt. So „verschleiern diese Wesenheiten die Wirklichkeit des geschichtlich-gesellschaftlichen 5 Vgl. 6 Vgl.

T. Bube: Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie, 590.

VII 166.

7 So schon früh Max Horkheimer, der Dil­ they eine „individualistische[ ] Denkungsart“ vorwarf (vgl. M. Horkheimer.: Ein neuer Ideologiebegriff?, 289). 8  Siehe dazu unten Abschnitt II.2.b.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Lebens“, indem sie „zwischen dem Auge des Forschers und den Gesetzen“ (I 42) stehen, die innerhalb der soziokulturellen Sphären obwalten. Einer solchen Herangehensweise vorzubeugen, darin sieht Dil­they zugleich die partielle Berechtigung des individualistischen Denkens. Denn „allein diese Individuen oder genau abgegrenzte Gruppen derselben […] [bilden] die Subjekte für Aussagen exakter Wissenschaften“. Deshalb „gehen [wir] von den Individuen aus“ (V  60). Dil­they sucht somit einen Mittelweg zu gehen zwischen Individualismus und Holismus, wobei das Handeln der Einzelnen seines Erachtens den methodischen Ansatzpunkt des Erkenntnisverfahrens zu bilden hat. Mit einer Formulierung, die der Nationalökonom Joseph Schumpeter später gebildet hat,9 könnte man daher bei Dil­they in einem gewissen Sinne von einem ‚methodologischen Individualismus‘ sprechen.10 Der entscheidende Begriff, der die geforderte Synthese zwischen Individualismus und Holismus denkbar machen soll, ist nun kein anderer als der bereits zitierte der ‚gesellschaftlichen Wechselwirkung’. Der Terminus verweist gewissermaßen auf beide geforderten Aspekte zurück. Gegenüber dem abstrakten Individualismus betont er die intersubjektive Komponente allen menschlichen Lebens. Gegenüber einem sozialwissenschaftlichen Essentialismus betont er den Sachverhalt, dass alle entsprechenden Tatbestände sich nur im und durch das Zusammenwirken individueller Akteure zu realisieren vermögen. Solches Zusammenwirken erfolgt dabei nicht nur kurzfristig und einzelsituationsbedingt, sondern bildet im Laufe der Geschichte relativ gleichbleibende Formen aus, innerhalb derer sich jene überindividuellen Tatbestände jeweils aktualisieren. Heute würde man diesbezüglich von Routinen bzw. routinierten Handlungen sprechen. Unbeschadet des Sachverhaltes, dass diese nur insofern und insoweit existieren, als sie von gegenwärtig lebenden Personen durch deren Erleben und Handeln jeweils realisiert werden, können sie zugleich als zeitübergreifende Strukturen angesehen werden, die das Leben der Einzelnen synchron und diachron umfassen. Genau dies sind die bereits erwähnten ‚stetigen Weisen, in welchen sich die Wechselwirkungen der Willen in der Gesellschaft bewegen‘. Aufgrund sowohl ihrer relativen Einheitlichkeit als auch ihres Stetigkeits- und Beharrungscharakters stellen sich diese Wechselwirkungsweisen „als Systeme dar“ (V 60).11 9 Vgl. J. A. Schumpeter: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 88 ff. 10 Denselben Begriff verwendet auch Joachim Thielen in seiner großen Studie zu Dil­ theys historiographischem Denken als Interpretament (vgl. J. Thielen: Wilhelm Dil­they und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, 406), allerdings ohne Verweis auf Schumpeter. 11  Der Begriff der soziokulturellen ‚Wechselwirkung‘ geht dabei nicht auf Dil­they zurück, sondern findet sich bereits früher. Die erste entscheidende Station ist in Kants Kritik der reinen Vernunft zu erblicken. Hier taucht der fragliche Term innerhalb der Kategorientafel auf und wird dort als dritte Unterkategorie der Relation eingeführt (vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 106; vgl. auch aaO., 111 ff.). Eine sozialphilosophische Bedeutung kommt der ‚Wechselwirkung‘ hierbei allerdings nicht zu, sondern sie wird von Kant im Rahmen der trans-



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

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(2) Vor diesem Hintergrund arbeitet Dil­they in der Einleitung zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen „konstante[r] Beziehungen“ (I 47) heraus, nach denen sich jene Wechselwirkungsweisen differenzieren lassen. Den ersten Beziehungstyp bezeichnet er als ‚Kultursystem‘ und rechnet darunter etwa Wirtschaft, Sittlichkeit, Sprache, Religion sowie Wissenschaft, Kunst und Philosophie.12 Den anderen bezeichnet er als ‚äußere Organisation‘13 und hat damit vor allem das menschliche Verbandsleben im Blick, wie es sich etwa in Staaten, Körperschaften und Anstalten zeigt. Das Recht steht in der Mitte und hat an beiden Bereichen gleichermaßen Anteil. Wir beginnen mit den Merkmalen des Begriffs ‚Kultursystem‘. Mit ihm sucht Dil­they eine solche Form sozialer Beziehung zu bezeichnen, die durch eine „Koordination von selbständigen Einzeltätigkeiten“ (I 81) der Individuen charakterisiert ist. Damit ist zweierlei gesagt: Zum einen geht es um solche Tätigkeitsweisen, die ein Subjekt prinzipiell ohne äußeren Zwang hervorbringt, weswegen Dil­they auch von einem „[f]reie[n] Tun“ (I 54) sprechen kann. Die Individuen bleiben aber trotz ihres „Fürsichsein[s]“ (ebd.) nicht gänzlich auf sich selbst bezogen, und zwar schon deshalb nicht, weil anderenfalls gar nicht von einer intersubjektiven Beziehung gesprochen werden könnte. Darum ist, zum anderen, der Umstand mit in Rechnung zu stellen, dass es nicht nur zu einem ‚freien Tun‘, sondern zugleich zu einem „freie[n] Ineinandergreifen“ (I 127) der

zendentalen Logik verhandelt. Die nächste Station findet sich in Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, in der die Wechselwirkungskategorie zu einem Grundbegriff im Aufbau der Subjektivitätstheorie avanciert, indem sie für das ich-interne Wechselverhältnis von Ich und Nicht-Ich steht: „Man kann demnach auch sagen: der letzte Grund alles Bewusstseyns ist eine Wechselwirkung des Ich mit sich selbst“ (J. G. Fichte: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 282). Schleiermacher schließlich erkennt, dass der Wechselwirkungsbegriff nicht nur eine logische, erkenntnistheoretische und subjektivitätstheoretische Valenz besitzt, sondern darüber hinaus auch für die Sphäre von Sozialität und Kultur in Anschlag gebracht werden kann (dieser Gebrauch zeigt sich bei Schleiermacher schon früh, vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Brouillon zur Ethik, 9 passim). Zum allgemeineren Kontext vgl. S. Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen. In dieser kultur- und sozialphilosophischen Hinsicht hat der Begriff weitergewirkt und findet sich dann etwa auch bei Ranke – beispielsweise wenn von der „Wechselwirkung und Aufeinanderfolge“ von Völkern und Staaten die Rede ist (vgl. L. v. Ranke: Die großen Mächte, 40). Letzterer war mit Schleiermacher befreundet und hat dessen Werk überaus geschätzt (vgl. U. Barth: Christologie, 177 f.). Wenn Dil­they also von der Kategorie der soziokulturellen Wechselwirkung Gebrauch macht, so stützt er sich auf einen bereits etablierten Sprachgebrauch. Neben und nach Dil­they spielt dieser Begriff eine tragende Rolle im Werk Georg Simmels. 12  In der Einleitung wird die Philosophie allerdings noch nicht ausdrücklich genannt. Der Sache nach fügt sie sich aber auch hier schon ein und ist von Dil­they später dann auch ausdrücklich mit hinzugezogen worden (vgl. im Wesen, V 376 passim). 13 Den Ausdruck dürfte er entnommen haben aus R. Mohl: Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 22. Dil­they kommt in der Einleitung mehrmals auf Mohl zu sprechen. Zu dessen gesellschaftspolitischer Konzeption vgl. T. Bube: Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie, 522–540.

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Handlungen des Einzelnen mit Tätigkeiten anderer Einzelner kommt – was sowohl bewusst intendiert als auch unbeabsichtigt erfolgen kann.14 In seiner begrifflichen Grundlegung jener kulturellen Zusammenhänge verschränkt Dil­they dann eine kulturanthropologische mit einer handlungstheoretisch-ethischen Dimension. Zunächst zu jener. Sie soll eine Antwort darauf geben, inwiefern es überhaupt zu einem solchen Zusammenwirken der Individuen kommen kann und kommen muss. Dil­they nennt hier drei Gesichtspunkte. Der erste ist darin zu erblicken, dass die unterschiedlichen Individuen in ihrer psycho-physischen Struktur durch eine grundsätzliche „Gleichartigkeit“ (I 44) ausgestattet sind. Letztere kann dabei als transzendentale Voraussetzung faktisch vorfindlichen intersubjektiven Verstehens begriffen werden, das ohne jene Voraussetzung nicht nach seiner Ermöglichungsbedingung erklärt werden könnte. Aus dieser ‚Gleichartigkeit‘ resultiert, zweitens, dass auch die „Grundbedürfnisse“ (ebd.) des menschlichen Lebens prinzipiell gleichartig verfasst und von „andauernder“ (I 43) Natur sind. Drittens kann die „Befriedigung“ (I 49) jener Bedürfnisse aufgrund der „Eingeschränktheit des Menschendaseins“ (I 44) vom Einzelnen selbst nur ansatzweise geleistet werden, weshalb er seine entsprechenden Tätigkeiten – mehr oder weniger bewusst – an denen seiner vor und neben ihm lebenden Mitsubjekte ausrichten muss. So kommt es kontinuierlich zu einer „Anpassung des Handelns an den Ertrag der Arbeit des Vorlebens, an die Mitwirkung der Tätigkeit der Gleichzeitigen“ (I 44). Indem Dil­they in diesem Zusammenhang auch von „Kulturarbeit“ (I 25) spricht, spielt er damit sowohl auf den klassischen Begriff der ‚cultura‘ an – in dem der Aspekt der Arbeit ebenfalls eine wichtige Komponente bildet – als auch auf den Begriff der Kultur in seiner kulturphilosophischen Verwendungsweise, wie sie sich bereits in der Aufklärung herausgebildet hat15 und dann insbesondere durch Herder in der auch heute noch gebrauchten Weise formiert worden ist.16 Der Gedanke eines durch unterschiedliche Menschen und Generationen erbrachten Arbeitsertrags verweist auf das Theorem der Arbeitsteilung, das seit Adam Smith zu den Grundkategorien sozialphilosophischen Denkens gehört. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass also jedes Kultursystem „auf der Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft [beruht], sofern sie, auf der Grundlage eines denselben gemeinsamen Bestandteils der Menschennatur, ein Ineinandergreifen der Tätigkeiten zur Folge hat, in welchem dieser Bestandteil der Menschennatur zu seiner Befriedigung gelangt“ (I 49). 14  So liegt es beispielsweise „im Wesen des künstlerischen Schaffens, daß ihm seine Gestalten aus der einsamen Tiefe des Gemüts emporsteigen, und dann doch in das Reich der Schatten, welche die Phantasie der Menschheit erfüllen, an einer bestimmten Stelle eintreten und in diesem stillen Reich […] einen Platz ausfüllen“ (I 72). 15  Zum Begriff der ‚cultura‘, zu dessen Eindeutschung zum Begriff der ‚Kultur‘ und zu dessen Verselbstständigung aus den vormals bloß genitivischen Verbindungen vgl. immer noch den klassischen Beitrag von: E. Hirsch: Der Kulturbegriff. 16 Vgl. M. Heinz: Kulturtheorien der Aufklärung. Herder und Kant.



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

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Ein handlungstheoretisch-ethischer Aspekt ist für Dil­theys Begriff des Kultursystems ebenso wesentlich. Die handlungstheoretische Dimension ist für sein sozial- und kulturphilosophisches Denken insgesamt grundlegend – was sich bereits in den frühen Schriften zeigt und dann zeitlebens durchhält.17 Im Blick auf den Begriff des Kultursystems schlug sich dies darin nieder, dass er die Koordination eines ‚Tuns‘, einer ‚Tätigkeit‘ oder eben auch eines ‚Handelns‘ bezeichnen konnte. Kulturelle Zusammenhänge sind somit nicht einfach nach Art dinglicher Objekte gegeben, sondern stellen die Produkte menschlichen Handelns in intersubjektiver Verschränkung dar. Damit ist die praktische Seite von Dil­theys Kulturmodell aber noch nicht erschöpft. Er ergänzt sie darüber hinaus nämlich um eine dezidiert ethische Dimension. Innerhalb des Horizonts kultureller Wirklichkeit kommt ein Tatbestand sonach erst insofern zu stehen, als der Handelnde an der Realisierung eines Guts arbeitet, das sich – wenn auch in graduell verschiedenem Ausmaß – aus einem ‚gemeinsamen Bestandteil der Menschennatur‘ ergibt. Deshalb beschreibt Dil­they den arbeitsteiligen Prozess kulturellen Wirkens nicht nur als Tätigkeit der unterschiedlichen Subjekte, sondern spricht daneben von einem Streben nach Realisierung „wesenhafte[r] Lebenszwecke“ (I 44). Angesichts des daraus folgenden teleologischen Charakters allen kulturellen Handelns wird der Begriff des Kultursystems von Dil­they dahingehend näherbestimmt, dass in den Systemen der Kultur „ein auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhender und darum andauernder Zweck psychische Akte […] zu einem Zweckzusammenhang“ (I 43, Hvh. v. Verf.) verknüpft. Im Horizont der Kultur ist das Handeln des Einzelnen sonach immer – freilich in abgestufter Form – auf allgemeine Zwecke bezogen, an deren Realisierung er im Verbund mit anderen Einzelnen gemeinschaftlich arbeitet. Dabei geht Dil­they auch hierin nicht völlig neue Wege, sondern besitzt sowohl in Fichte als auch in Schleiermacher wichtige Vorgänger.18 Unbeschadet ihres überindividuellen Charakters hat der teleologische Charakter der Kultursysteme Dil­they zufolge eine Grundlage im psychischen Strukturzusammenhang menschlicher Subjekte. Diese Ansicht ergibt sich ihm aus folgender Überlegung: Zunächst gilt es in Rechnung zu stellen, dass bereits die internen Vollzüge bewussten Lebens einen teleologischen Charakter aufweisen, 17  Vgl.

dazu H. Johach: Handelnder Mensch und objektiver Geist. kann bereits Fichtes konkrete Ethik als eine Theorie der Kultur im letztgenannten Sinne verstanden werden. Emanuel Hirsch hat darauf hingewiesen, dass bereits bei Fichte der Übergang von einer reinen Gesinnungsethik zu dem, was Hirsch ‚Kulturethik‘ nennt, vollzogen worden ist (vgl. E. Hirsch: Die idealistische Philosophie und das Christentum, 166 f.). Für Schleiermachers Philosophische Ethik liegt dieser Sachverhalt klar zutage: Der Einzelne ist niemals der rein Einzelne, sondern ist in all seinem Tun immer schon auf ein Allgemeines bezogen, und in der damit stattfindenden Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem – die etwa bereits in der Formierung des individuellen Denkens im allgemeinen Medium der Sprache stattfindet – erblickt Schleiermacher die grundlegende Sittlichkeit menschlichen Handelns. Zu Schleiermachers Philosophischer Ethik und Dil­theys Aneignung derselben siehe oben Abschnitt II.2. 18  So

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

der sich grundsätzlich darin zeigt, dass die unterschiedlichen Seiten des Bewusstseinslebens – Wahrnehmen, Fühlen, Wollen – zweckmäßig ineinander greifen. Im Gesamtvollzug eines individuellen Lebens setzt sich diese intrinsische Teleologie fort, indem das Individuum in der Regel nicht einfach dahinlebt, sondern nach einer zunehmend besseren Befriedigung seiner Bedürfnisse strebt. Hiermit hängt zusammen, dass der Lebensentwicklung des Einzelnen eine gewisse Dynamik eignet, durch die sich einerseits die unterschiedlichen psychischen Funktionen zunehmend differenzieren, woraus eine höhere Leistungsfähigkeit derselben resultiert, und die andererseits dazu führt, dass sich auch die wechselseitigen Anpassungsprozesse zwischen Selbst und Umwelt im Zuge von Bildungs- und Lernprozessen immer zweckmäßiger gestalten.19 Dil­theys psychologische Theorie braucht an dieser Stelle nicht weiter verfolgt zu werden.20 Worauf es im hiesigen Kontext ankommt, ist der Sachverhalt, dass jene im psychischen Leben angelegte Differenzierungs- und Fortschrittsdynamik sich Dil­they zufolge auch dort zeigt, wo sich die Handlungen der Einzelnen zu kultursystemischen Zusammenhängen formieren. Es wäre ja auch gar nicht einzusehen, warum das Streben des Einzelnen nach Verwirklichung seiner Anlagen und nach bestmöglicher Umweltanpassung zum Erliegen kommen sollte, wenn es sich mit dem prinzipiell analogen Streben Anderer verbindet. In der Einleitung hat Dil­they darum zum einen hervorgehoben, dass ein „solches System [sc. der Kultur] […] notwendig die Eigenschaften der Steigerung und Entwicklung“ besitzt. „Denn zu den Gesetzen der psychischen Lebenseinheit, welche Steigerung und Entwicklung bedingen, tritt das entsprechende Grundverhältnis ihrer Wechselwirkungen“ (I 50). Zum anderen gelange auch der Gesamtzusammenhang der Kultursysteme im Laufe der kulturellen Entwicklung zu einem immer höheren Grad an Komplexität, insofern sich die „Mehrheit von Systemen […] im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren“ (I 51). Aus diesem Gedanken ergibt sich indirekt zugleich die wichtige Konsequenz, dass die Ausdifferenzierung der Teilsysteme von Religion,21 Kunst22 und Wissenschaft23 für Dil­they keinen statischen Tatbestand darstellt, sondern sich im Zuge der Kulturgeschichte erst allmählich ent19  Zum Zeitpunkt der Abfassung der Einleitung (1883) setzt Dil­they diesen Gedanken voraus. Explizit ausgearbeitet hat er ihn dann in seinen Ideen (1894), vgl. insbesondere V 219. 20  Vgl. dazu K. Huxel: Ontologie des seelischen Lebens, 259–335. 21  „Welch ein Vorgang von Differenzierung, in welchem […] die mittelalterliche Kirche der religiösen Sphäre zu voller Selbständigkeit verhalf!“ (I 87). 22  Das Teilsystem ‚Kunst‘ erreicht für Dil­they erst seit dem Ausgang des Mittelalters seine relative Selbständigkeit, vgl. VI 116. 23  Die Geschichte der Einzelwissenschaften lässt sich Dil­they zufolge als ein großer Differenzierungsprozess betrachten, innerhalb dessen sich Teildisziplinen, die ursprünglich der Philosophie angehörten, dieser gegenüber zunehmend verselbständigen. Dieser Prozess ist prinzipiell offen und reicht daher bis in die Gegenwart, was Dil­they etwa mit Blick auf die Psychologie verdeutlicht, die ursprünglich als philosophische Teildisziplin firmierte, im 19. Jahrhunderts aber im Begriff ist, sich zu einem eigenständigen Fach auszudifferenzieren. Diesen Gedanken hat er im Wesen klar ausgesprochen (vgl. V 351).



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wickelt hat. Implizit ist damit zugleich ein dynamisches Wechselwirkungsverhältnis zwischen anthropologisch-psychologischer Grundverfasstheit des Menschen und deren Pendant in den kulturellen Entwicklungszusammenhängen gegeben.24 An dem Gedanken einer im psychischen Strukturzusammenhang verankerten Formung der Kultur hat Dil­they zeitlebens festgehalten.25 Helmut Johach hat aber zurecht darauf hingewiesen, dass Dil­they die Eigenlogik solcher überindividueller Systemformationen nicht genügend beachtet, so dass seine psychologische Fundierung mitunter etwas zu harmonistisch erscheint.26 Mit den geschilderten Theorieelementen sind die wesentlichen Merkmale des Begriffs ‚Kultursystem‘ genannt: das freie Ineinandergreifen selbständiger Einzeltätigkeiten zur Befriedigung strukturpsychologisch geteilter Bedürfnisse in Form eines zunehmenden Differenzierens und Fortschreitens von sich entwickelnden teleologischen Systemen.27 Kultursysteme können demnach als ideelle Zweckzusammenhänge angesehen werden, die das psychische Leben der Einzelnen strukturieren. In einem früheren Manuskript kann Dil­they Kultur daher auch definieren als „Inbegriff der geistigen Inhalte und der zu ihnen in Abhängigkeitsverhältnis stehenden geistigen Tätigkeiten im Menschengeschlechte“ (XVIII 7). Für Dil­they reicht die damit gegebene Betrachtungsweise geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit aber nicht aus, um letztere angemessen in den Blick nehmen zu können. Denn alle realen Gebilde und Zusammenhänge in Geschichte und Gesellschaft weisen immer noch eine andere Seite auf, die in den eben beschriebenen Strukturen nicht aufgeht. Denn intersubjektive Beziehungen kommen in der Regel ja nicht nur dadurch zustande, dass unterschiedliche Menschen „vermöge der Natur der Sache“ (I 54) frei in Beziehung treten. Daneben 24  Auf der einen Seite korrespondiert der Differenzierung des kulturellen Lebens diejenige des individualpsychischen und lässt sich Dil­they zufolge in ihrer Grundstruktur partiell von dieser herleiten. So heißt es etwa an einer Stelle in Zusätzen zum ersten Buch der Einleitung in Frontstellung zu bestimmten zeitgenössischen Versuchen, alle kulturellen Grundtatbestände allein auf Wechselwirkungsprozesse zurück zu führen: „Könnte man sich ein einziges auf der Erde hinschreitendes Individuum denken, so würde dieses bei einer für die Entwicklung zureichenden Lebensdauer diese Funktionen [sc. von Philosophie, Religiosität und Kunst] in völliger Einsamkeit aus sich entwickeln“ (I 422). Auf der anderen Seite aber besitzen die unterschiedlichen Teilsysteme – die ja erst ab einem gewissen geschichtlichen Entwicklungsstand als selbständige Zusammenhänge gegeben sind – zugleich Rückwirkungen auf das jeweilige psychische Leben der in ihnen existierenden Individuen, indem sie diese gewissermaßen dabei anleiten, die jeweils in ihnen vorhandene Strukturierungsmöglichkeit ausbilden zu können. Im Studium weist Dil­ they diesbezüglich etwa darauf hin, dass für den mittelalterlichen Menschen bestimmte Sachverhalte noch religiös konnotiert waren, die sich für den modernen Menschen aus dem theologisch-religiösen Vorstellungszusammenhang ausgesondert haben (vgl. V 62). 25  Vgl. die Äußerung im Wesen: „Da nun diese Gesellschaft aus den strukturierten Individuen besteht, wirken sich in ihr dieselben strukturellen Regelmäßigkeiten aus“ (V 375). 26 Vgl. H. Johach: Dil­theys Philosophie des Subjekts; ders.: Dil­theys Theorie der Geisteswissenschaften; vgl. auch M. Jung: Dil­they, 156. 27  Dil­ theys Konzeption weist damit Nähen zu Bronislaw Malinowski auf, der in seinem Modell ebenso von der Grundannahme ausgeht, dass den ausdifferenzierten Institutionen des kulturellen Lebens anthropologische Grundbedürfnisse zugrunde liegen.

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findet in der Regel immer auch eine – mehr oder weniger starke – äußerliche „Regulierung der Tätigkeit“ (ebd.) statt. Die Notwendigkeit solcher Regulierung erwächst aus dem Umstand, dass unterschiedliche Subjekte in der Regel nicht bloß friedlich kooperieren bzw. ihre jeweiligen Handlungen koordinieren, sondern sich immer auch in Konkurrenz miteinander befinden, die bis zur kämpferischen Auseinandersetzung reichen kann. Diese sozialen Antagonismen werden von der Gesellschaft gleichsam aufgefangen durch hierarchische Organisationen mit „Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen“ (I 64), in denen „die Machtsphären der Individuen im Zusammenhang mit der Aufgabe ab[gemessen sind], welche sie innerhalb dieser äußeren Organisation gemäß ihrer Stellung in ihr haben“ (I 77). Das Funktionieren solcher Regulierung setzt dabei zweierlei voraus. Zum einen bedarf es bestimmter Handlungsvorgaben, deren Befolgung nicht dem Gutdünken der individuellen Akteure anheimgestellt ist. Dafür steht in Dil­theys Augen das Recht. Insofern dieses hierfür aber „auf den äußeren Zwang angewiesen ist“ (I 63), wird zum anderen eine Instanz des gesellschaftlichen Lebens vorausgesetzt, die dazu befähigt ist, jenen normativen Vorgaben mit Sanktionen zur Durchsetzung zu verhelfen. Dies wird zunächst jeweils durch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilverbände selbst geleistet, die in ihren spezifischen gesellschaftlichen Positionen für die Einhaltung der rechtlich geltenden Rahmenvorgaben Sorge tragen. Seinen inneren Fluchtpunkt besitzt das Verbandsleben der Gesellschaft aber im Staat, dessen „Grundfunktion“ darin besteht, „Macht zu sein“ (I 74) und die normativen Vorgaben des gesellschaftlichen Lebens wenn nötig auch mit äußerlicher „Zwangsgewalt“ (I 70) durchzusetzen. Das durch den ‚Staat‘ bezeichnete sozialpolitische Ordnungsgefüge fungiert dabei als streng funktionaler Begriff und kann folglich je nach geschichtlichem Entwicklungsstandpunkt und soziokultureller Region variieren.28 Der Begriff der ‚äußeren Organisation‘ fasst all diese Phänomene zusammen. Ziehen wir ein Zwischenfazit. In den Kultursystemen wird das psychische Leben der Einzelnen nach Maßgabe intersubjektiver Handlungs- und Deutungsmuster strukturiert. Dabei kommt es zu einer Regulierung. Letztere erfolgt indes nur nach Maßgabe einer „Art von innerem Zwang“ (I 63). Im Unterschied dazu erbringen die sozialen Organisationen eine äußere Steuerung und Ordnung der unterschiedlichen Einzelleben, durch die das Subjekt „seinen Willen in einen Zusammenhang äußerer Bindungen, in Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber Personen und Sachen“ (I 64 f.) eingefügt findet. Beide Sphären kommen in Dil­theys Augen dabei nicht getrennt voneinander zu stehen, sondern befinden sich „miteinander in Beziehung“ (I 54). Diesbe28  Die Skala reicht von Lebenszusammenhängen, in denen die rechtlich-politische Herrschaft noch „in Familieneinheit oder Geschlechterverein oder Gemeinde beschlossen“ (I 77) ist, bis hin zu solchen ausdifferenzierten Gesellschaften, in denen „seine [sc. des Staates] Funktionen […] von denen dieser Verbände gesondert“ (ebd.) auftreten. Zu Dil­theys Staatsauffassung vgl. auch T. Bube: Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie, 453–490.



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züglich gilt es auf einen entscheidenden Gesichtspunkt der Dil­theyschen Theoriebildung aufmerksam zu machen: Weder der Begriff der äußeren Organisation noch der des Kultursystems zielt auf wirkliche geschichtlich-gesellschaftliche Begebenheiten als solche, sondern beide Terme bezeichnen lediglich Abstraktionshinsichten, mithilfe derer die realen Tatbestände menschlichen Lebens in Geschichte und Gegenwart perspektiviert werden können. Der Status dieser Begriffsunterscheidung ist daher lediglich methodischer Art. Nur ein „Vorgang von Abstraktion“ vermag beide Wirklichkeitsbereiche zu „trenn[en]“ (I 64). „In den Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenhangs sind Systeme und äußere Organisationen so ineinandergewachsen, daß nur die Verschiedenheit der Betrachtungsweise sie sondert“ (I 76 f.).29 Vor diesem Hintergrund kann ein komplexes Verhältnis möglicher Interdependenzbeziehungen zwischen Kultursystemen und äußeren Organisation in Rechnung gestellt werden. So „gestaltet“ die kulturelle Tätigkeit sich „bald Verbände“ bzw. Gemeinschaften „zur Beförderung ihrer Ziele“ (I 54). Umgekehrt können ‚äußere Organisationen‘ sich die Kulturarbeit aber auch durchaus „gegen ihren Willen unterwerfen“ (ebd.). In den darin angelegten Antagonismen sieht Dil­they dann zugleich einen wesentlichen Faktor geschichtlicher Dynamik und Veränderung.30 Dieses Wechselverhältnis ist Dil­they zufolge jedoch nicht für alle Kultursysteme in gleichem Maß zu veranschlagen. Denn letztere stehen in „einem stärkeren oder geringeren Grade […] mit der äußeren Organisation der Gesellschaft in Beziehung“ (I 52), wobei diese Graduierung als eine „zunehmende[ ] Sonderung“ (I 57) beschrieben werden kann. Deren Grundlage ist dort zu erblicken, wo sich beide Seiten noch aufs Engste in Berührung befinden, nämlich im Bereich des Rechts.31 Von hier aus lasse sich dann eine zunehmende Ausdif29  Das hat dann auch Konsequenzen für die Art des in den entsprechenden Wissenschaftsgruppen bereitgestellten Wissens: „Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft haben sowenig als die von den Systemen der Kultur die konkrete Wirklichkeit selber zu ihrem Gegenstande. Alle Theorie erfaßt nur Teilinhalte der komplexen Wirklichkeit“ (I 81 f.). 30  Besonders klar hat er dies in einem erst posthum veröffentlichten Fragment für die beiden großen Geschichtsereignisse der Reformation und der französischen Revolution gezeigt: „In beiden Fällen gehen dem Ausbruch eine langsam sich entwickelnde Ideenmasse“ – womit die Seite der kulturellen Tätigkeit bezeichnet ist – sowie „eine lange Hemmung innerhalb der Organisation voraus. Die Macht der Organisation unterdrückt die in ihr liegenden Tendenzen zur Veränderung“ (VII 270). Aufgrund der starren und unzweckmäßigen Organisation der jeweiligen Kulturgebiete werden die ideellen Kräfte an ihrer kontinuierlichen Entwicklung gehindert bis „die lange gehemmte Bewegung plötzlich die gegebenen Rechtsordnungen durchbricht und sich nach der ihr einwohnenden Kraft über weite Kreise ausdehnt“. Angedeutet findet sich diese Theorie geschichtlicher „Revolutionen“ (ebd.) bereits in der Einleitung (vgl. I 42 f.). 31  Hier ist „in ungesonderter Einheit, was dann in Systeme der Kultur und äußere Organisation der Gesellschaft auseinandergeht“ (I 54). Dabei denkt Dil­they zum einen an den durch den Begriff des Naturrechts bezeichneten „Zweckzusammenhang des Rechts“ (I 55), zum anderen an den durch die historische Rechtsschule betonten Sachverhalt des „positiven Recht[s]“ (I 78), das nicht unter Absehung von einer konkreten sozialen Organisationsgestalt

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ferenzierung kultureller Lebensbereiche feststellen, die bei dem „System, welches die politische Ökonomie analysiert“ (ebd.) ihren Ausgang nimmt, dann über die Systembereiche von Sittlichkeit, Sprache, Religion fortschreitet, um schließlich in den Systemen von Kunst, Wissenschaft und Philosophie ihren Höhepunkt zu finden. Für die wissenschaftliche Rekonstruktionsarbeit besagt das: Je stärker ein Kultursystem an äußere Organisationen der Gesellschaft rückgebunden ist, desto schwieriger wird es, dessen Geschichtsverlauf als eine fortschreitende Entwicklung und dessen Struktur in Form einer allgemeinen Theorie darzustellen. Je weniger es aber mit konkreten Sozialverbänden in Verbindung steht, desto leichter wird es, sie in diesem Sinne aufzufassen. Letzteres betont Dil­they in der Einleitung vor allem im Blick auf die „Systeme[ ] der höheren geistigen Kultur“ (I 114) von Kunst und Wissenschaft.32 Der Sachverhalt, dass Dil­they auf der einen Seite die Differenz zwischen Kultursystemen und äußeren Organisationen der Gesellschaft so scharf herausarbeitet, sie auf der anderen Seite jedoch wieder relativiert, hat in der Forschung mitunter eine gewisse Irritation hervorgerufen. So hat sich etwa Helmut Johach in seiner Studie zu Dil­theys Sozial- und Kulturtheorie auf diese Unterscheidung keinen Reim zu machen gewusst – und ihr deshalb eine grundlegende Bedeutung für Dil­theys kulturtheoretisches Denken abgesprochen.33 Dieser Versuch erweist sich aber schon angesichts Dil­theys weiträumiger Begriffsbemühungen als unbefriedigend. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass er an jener Differenz bis in sein Spätwerk hinein festgehalten hat. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass jene Dil­theysche Unterscheidung ein nicht unerhebliches konstruktives Potential besitzt: So kann man seinem Modell die Einsicht entnehmen, dass der Blick auf die kulturelle Wirklichkeit und ihre Strukturen nicht dahingehend vereinseitigt werden darf, dass darüber deren reale Grundlagen vernachlässigt werden. Kulgedacht werden könne. Beide Seiten seien derart miteinander verbunden, dass sich keine derselben ohne die andere beschreiben lässt, „sondern jede hat die andere zur Bedingung ihres Daseins“ (I 55). – Aufgrund des Umstands aber, dass sich auch im Rechtssystem ein allgemeiner Zweckzusammenhang zeigt, wird auf der Gegenstandsebene die prinzipielle Möglichkeit eines überregionalen Rechtszusammenhanges, wie er im „Völkerrecht“ (I 57. 80) vorliegt, beschreibbar. Auf der Ebene wissenschaftlicher Bearbeitung wird damit die prinzipielle Möglichkeit einer allgemeinen Strukturierung und eines vergleichenden Verfahrens konzipierbar. Matthias Jung weist darauf hin, dass Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung eine ähnliche Vermittlungsfunktion des Rechts angenommen hat, allerdings ohne sich dabei auf Dil­they zu beziehen (vgl. dazu M. Jung: Dil­they, 205). 32  Beide „sind Welttatsachen, die von keiner Schranke der Staaten oder der Völker […] aufgehalten werden“ (I 58). In ihnen erreicht „die Koordination von selbständigen Einzeltätigkeiten einen solchen Grad von Ausbildung, daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche sich zur Verwirklichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt; dementsprechend entwickeln die Wissenschaften, welche diese Systeme zum Gegenstand haben, Ästhetik und Wissenschaftslehre, ihr Objekt, ohne je solcher Verbände zu gedenken“ (I 81). 33  H. Johach: Handelnder Mensch und objektiver Geist, 73.



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turelle Formen und Muster existieren nicht einfach als abstrakte Gebilde, sondern sind immer rückgebunden an konkrete soziale Träger, mit, an und in denen sie sich überhaupt nur zu realisieren vermögen. Das bedeutet aber zugleich, dass die geschichtlich-kulturelle Realität durch Kontingenzen der verschiedensten Art geprägt sind: Antagonismen, Konflikte, Machtbeziehungen etc.34 Aus soziologischer Perspektive hat Alois Hahn diesen Aspekt treffend herausgestellt, indem er in Dil­theys Unterscheidung von ‚Kultursystemen‘ und ‚äußeren Organisationen‘ eine partielle Vorwegnahme der später geläufig gewordenen Unterscheidung von gesellschaftlichen Subsystemen und entsprechenden Organisationsformen, in denen die betreffende Kommunikation abläuft, erblickt.35

b.  Interpretative und objektivationstheoretische Aspekte Wie lässt sich nun erklären, dass bestimmte überindividuelle Orientierungsmuster auf den Einzelnen einwirken und sein Selbst- und Weltverhältnis in jener dargestellten Weise zu prägen vermögen? Für seine Antwort auf diese – sozusagen wissenssoziologische –36 Frage verweist Dil­they auf zwei Sachverhalte. Zum

34  Allerdings weist Matthias Jung zurecht darauf hin, dass die Sensibilität für die auch in Kulturzusammenhänge eingehende Machtproblematik  – für deren Formulierung vor allem die Namen Nietzsche und Foucault stehen – bei Dil­they „nur am Rande Berücksichtigung“ (M. Jung.: Dil­they, 209, Anm. 61) finde. Immerhin ist bemerkenswert, dass auch Dil­they die Machtkomponente geradezu als wesentlich angesehen und ihr darum, wie gezeigt, auf grundbegrifflicher Ebene eine herausgehobene Stellung zugewiesen hat. 35  A. Hahn: Die Systemtheorie Wilhelm Dil­theys, 18. Hahn liest Dil­they zwar sehr stark von Niklas Luhmanns späterer Systemtheorie her und gemeindet Dil­they diesbezüglich etwas zu sehr ein. Nichtsdestoweniger dürfte dieser Aspekt in eine weiterführende Richtung weisen. Und in der Tat finden sich in den Beschreibungen der neueren organisationssoziologischen Teildisziplin eine ganze Reihe derjenigen Merkmale zur Anwendung gebracht, die auch Dil­they für äußere Organisationen benennt. Zu denken wäre etwa an die folgenden Merkmale: Ungleichheit, Herrschaftscharakter, Autoritäts-, Rang- und Statusstruktur sowie Interesse, Zusammengehörigkeits- und Wir-Gefühl (vgl. dazu S. Kühl: Organisationssoziologie; K.‑H. Hillmann: Organisation; Organisationskultur; Organisationssoziologie). 36  Begriffsarchäologisch ist die ‚Wissenssoziologie‘ vor allem mit den Namen Wilhelm Jerusalem, Alfred Weber, Max Scheler, Karl Mannheim und Theodor Geiger verbunden. Deren gemeinsames Anliegen kann cum grano salis dahingehend zusammengefasst werden, die Marx’sche Ideologiekritik reflexiv zu wenden und ihr darüber zugleich einen konstruktiven Charakter zu verleihen (vgl. K. Mannheim: Wissenssoziologie; K. Lenk: Wissenssoziologie). Der fragliche Ausdruck findet sich bei Dil­they zwar nicht. Der Sache nach lässt sich aber auch sein Standpunkt als ‚wissenssoziologisch‘ bezeichnen. Auf diesen Zusammenhang hat hingewiesen: A. Kubik: Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion, Abschnitt C: Kulturhermeneutik als Hermeneutik: Wilhelm Dil­they, 187–226. Dabei darf man sich nicht von Dil­theys frühem Verdikt gegen die neu entstehende Disziplin irritieren lassen. Diese bezog sich auf die soziologische Variante à la Comte. Gegenüber einer Soziologie der Art, wie sie Simmel vertrat, hat auch Dil­they sich keinesfalls abgeneigt gezeigt, im Gegenteil: Er weist sogar darauf hin, dass es ihm in seiner Theorie der Geisteswissenschaften ja ausdrücklich auch um die Dimension des Sozialen zu tun gewesen war (vgl. I 420–423).

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einen stellt er heraus, dass die Prägekraft einer Kultur sich nicht anders als dadurch aktualisieren könne, dass die in ihr geltenden Ordnungsvorstellungen durch die beteiligten Individuen jeweils verstehend angeeignet werden. Zum anderen kann sich alles Verstehen jedoch immer nur anhand von sinnlich gegebenem Äußeren vollziehen, so dass jene Kulturaneignung nur über den Umweg von Ausdrucksphänomenen erfolgen kann, in denen sich ein gemeinsam geteiltes Hintergrundwissen äußerlich niedergeschlagen hat. Anders gesagt: Kulturelle Prägung setzt kulturelles Verstehen voraus und dieses wiederum kulturelle Objektivation. Beide Aspekte sollen nun im Folgenden verdeutlicht werden. Wir beginnen mit der Verstehensproblematik (1), um im Anschluss die Frage der Objektivation ins Auge zu fassen (2). (1) Der Aneignungsvorgang, in dem der Einzelne sich die ihn umgebende Ausdruckswelt deutend erschließt, hebt Dil­they zufolge nicht erst innerhalb eines biographischen Verlaufs an, sondern setzt schon mit Beginn jedes individuellen Lebens ein. Der Grund dafür ist in folgendem Argument zu erblicken: Wie gesehen, geht Dil­they in seinem sozial- und kulturphilosophischen Denken davon aus, dass individuelles Leben sich in seiner konkreten Gestaltung nicht autark aus sich selbst heraus entwerfen kann, sondern sich nur im Verbund seiner soziokulturellen Umwelt zu entwickeln vermag. Aufgrund der psychophysischen Verfasstheit des Subjekts kann es sich auf Anderes seiner selbst aber nur vermittels äußerlich gegebener Sachverhalte beziehen. Die soziokulturelle Erschließung kann sonach nur dadurch zustande kommen, dass sich das Individuum auf fremde Lebensäußerungen bezieht. Insofern die intersubjektive Natur des Menschen ein Wesensmerkmal desselben darstellt, kann diese Bezogenheit aber nicht erst zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt des Lebensverlaufs einsetzen, sondern muss von Anfang der persönlichen Lebensentwicklung an in Kraft sein. Da jedes konkrete Subjekt dabei in einen bestimmten Kulturkreis hineingeboren wird, ist es nicht einfach auf Lebensäußerungen überhaupt bezogen, sondern auf eine soziokulturell individuierte Ausdruckskultur. Diese tritt ihm in einer Vielzahl unterschiedlicher Phänomene entgegen, in denen sich bestimmte Muster der Lebenswahrnehmung und -gestaltung niedergeschlagen haben. Insofern und insoweit es ihm gelingt, sich jene Ausdrucksphänomene verstehend anzueignen, vermag er seine Wirklichkeitsverarbeitung in theoretischer, emotiver und praktischer Hinsicht nach Maßgabe der ihn umgebenden Kultur zu strukturieren. Obwohl Dil­ they diese Überlegungen in dieser Form zunächst nicht eigens ausgesprochen hat, wird man doch sagen können, dass sie bereits in den Grundlinien seines frühen und mittleren Werks beschlossen liegen. Im Aufbau hat er sie dann ausdrücklich formuliert. Hier heißt es: „Ehe es [sc. das Kind] sprechen lernt, ist es schon ganz eingetaucht in das Medium von Gemeinsamkeiten.“ Und indem es „die Gebärden und Mienen, Bewegungen und Ausrufe, Worte und Sätze […] verstehen [lernt] […] orientiert sich das Individuum in der Welt“ des geschichtlich-gesell-



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schaftlichen Lebens (VII 208 f.). „Aus dieser Welt […] empfängt von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung“ (VII 208). Die spätere Wissenssoziologie hat diesbezüglich von ‚Internalisierung‘ gesprochen.37 An dieser Stelle ergibt sich allerdings eine doppelte Schwierigkeit. Auf der einen Seite besteht sie darin, dass alles Verstehen einzelner Lebensäußerungen – wie bereits im Zusammenhang des Interpersonalitätsverstehens paradigmatisch gezeigt –38 ein Wissen um das allgemeine Medium voraussetzt, innerhalb dessen sie hervorgebracht worden sind.39 Dieses Medium ist aber deutend überhaupt erst einmal zu gewinnen. Auf der anderen Seite zielt die verstehende Aneignung kultureller Formen auf die Erschließung allgemeiner Ordnungen. Letzterer kann das Individuum aber niemals als solcher ansichtig werden, sondern streng genommen sieht es sich immer nur auf einzelne Lebensäußerungen verwiesen. Nimmt man beides zusammen, so scheint dies prima facie auf eine schlechte Zirkularität hinauszulaufen, indem die kulturellen Formationen, die es anzueignen gilt, bereits vorausgesetzt werden müssen, damit jener Aneignungsvorgang überhaupt in Gang kommen kann. Für Dil­they stellt diese Struktur hingegen keinen circulus vitiosus dar, sondern bezeichnet einen Grundsachverhalt kultureller Lern- und Verstehensprozesse: Zum einen kommen diese auf eine Weise in Gang, die sich einer restlosen Erklärung entzieht. Zum anderen können sie per se niemals zu einem definitiven Abschluss gelangen, da jedes Verstehen von Anbeginn auf den Einbau intuitivkonstruktiver Momente angewiesen ist, ohne die die wechselseitige Bedingtheit des Verstehens von Einzelnem und des Verstehens von Allgemeinen nicht überbrückt werden könnte. Der Erwerb kultureller Orientierungsfähigkeit stellt folglich eine lebenslange Aufgabe dar. Dieser Prozess ist dabei nicht auf die Ebene der lebensweltlichen Arbeit konkreter Subjekte beschränkt, sondern setzt sich in der Deutungsarbeit der Geisteswissenschaften fort. Im Unterschied zu jener vollzieht sich letztere hingegen nicht mehr unmethodisch, sondern erfolgt durch bewusst ausgebildete Verfahren, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Bereiche der soziokulturellen Welt durchdrungen werden, um das Orientierungsbedürfnis der Teilnehmer eines jeweils gegenwärtigen Gesellschaftszustandes wissenschaftlich zu unterstützen.40 Dabei behauptet Dil­they keinen starren Hiat zwischen Wissenschaft und Leben, sondern geht von einem lediglich graduell gestuften Verhältnis 37 Zu dieser Parallelisierung vgl. A. Kubik: Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion, 194 ff. 38  Siehe dazu oben Abschnitt III.2. 39  „Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet“ (VII 146 f.). 40 Vgl. I 21; VII 132 f. In jüngster Zeit hat vor allem Gunter Scholtz eine solche  – praktische Philosophie, Philologie und Historie vereinende  – Funktion der Geisteswissenschaften als bleibende Aufgabe der nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen hervorgehoben (vgl. G. Scholtz: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften, 32–35).

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aus.41 Mit Schleiermacher könnte man sagen: Weder für das Leben noch für die Wissenschaft gibt es einen voraussetzungslosen Standpunkt, sondern alles Erkennen erfolgt immer schon aus der Mitte heraus.42 In dem eben Geschilderten liegt zugleich ein wesentlicher Faktor kultureller Dynamik beschlossen. Denn so sehr der Einzelne in seinem konkreten Lebensvollzug durch allgemeine Orientierungsmuster der ihn umgebenden Kultur geprägt ist, so sehr ist diese Prägekraft rückbedingt durch die konstruktiven Aneignungsleistungen des Individuums. Das Allgemeine wird folglich immer schon aus der Perspektive des Individuellen wahrgenommen, so dass jenes dieses schon darum niemals restlos determinieren kann. Die Konstruktivität der deutenden Aneignung einer kulturellen Umwelt durch das Subjekt lässt so von vornherein einen großen Spielraum für Andersverstehen, Neuverstehen  – und Falschverstehen. Nicht zuletzt dadurch aber erhält zugleich ein Moment des Kontingenten Einzug in die soziokulturelle Welt, deren jeweilige Aktualisierung und Fortschreibung keine plane Wiederholung bereits vorhandener Einsichten darstellt, sondern permanent Raum gibt zu produktiver Neukodierung. Beim späten Dil­ they heißt es entsprechend: „Der objektive Geist“ – verstanden als Inbegriff soziokultureller Formationen – „und die Kraft des Individuums bestimmen zusammen die geistige Welt.“ (VII 213). Deutungsleistungen spielen im Bereich des kulturellen Lebens somit auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle. Auf einer ersten Ebene sind sie hinsichtlich der individuellen Aneignung kultureller Ordnungen notwendig in Rechnung zu stellen. Denn die subjektive Gegebenheit dieser Ordnungen – die dann das gesamte Bewusstseinsleben prägen – stellt ja das Ergebnis individueller Interpretationsakte dar. Auf einer zweiten Ebene gilt es ins Auge zu fassen, dass nicht nur die Aneignung kultureller Muster als Deutung zu begreifen ist. Darüber hinaus kann auch jede konkrete lebensweltliche Orientierung als Interpretation eines vorfindlichen Sachverhaltes beschrieben werden. Denn hier hat man es mit Verständnisbildungen zu tun, in denen ein vorliegender Tatbestand auf Basis eines kulturellen Orientierungswissens interpretiert wird. In gewissem Sinne bildet dies die Umkehrung dessen, was auf der ersten Ebene thematisch wurde: Während es dort darum ging, über die Auffassung von Einzelnem das Allgemeine sich zu erschließen, so geht es hier darum, vor dem Hintergrund eines Allgemeinen ein Einzelnes verständlich zu machen. So ist etwa im Bereich des Kultursystems Sprache ein „Satz […] verständlich […] durch die Gemeinsamkeit, die 41  „Diese Wissenschaften sind in der Praxis des Lebens selber erwachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben“ (I 21). 42 Zu Dil­ theys Beschreibung dieser Schleiermacherschen Einstellung nach ihrer wissenschaftstheoretischen Seite hin vgl. XVI 202. Zur Näherbestimmung des entsprechenden Verhältnisses von Schleiermacher und Dil­they vgl. G. Scholtz: Dialektik und erkenntnistheoretische Logik.



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in einer Sprachgemeinschaft […] besteht“. Oder im Bereich der Sitten macht es die „in einem bestimmten Kulturkreis festgelegte Ordnung des Benehmens […] möglich, daß Begrüßungsworte oder Verbeugungen […] verstanden werden“ (VII 209). Mit einem später von Ulrich Oevermann geprägten Begriff43 könnte man diesbezüglich statt von Kultur auch von ‚kulturellen Deutungsmustern‘ – hier im Sinne von Mustern für das Deuten – sprechen, die sich freilich je nach Art des betreffenden Systems in unterschiedlichem Maße als geschichtlich und kulturell variabel erweisen.44 Angesichts dessen wäre auf einer dritten Ebene schließlich zu fragen, ob Kultursysteme nicht auch selbst nochmals als Produkt von Deutungsleistungen betrachtet werden können. Im Blick auf die höheren Systeme von Religion, Kunst und Wissenschaft hat Dil­they selbst diese Konsequenz ausdrücklich gezogen. In seiner Poetik hat er von Dichtung, Wissenschaft und Religion als den „Organ[en] des Weltverständnisses“ (VI 116) gesprochen. So gesehen sind Kultursysteme nicht nur Gegenstand und Ermöglichung von Deutung, sondern zugleich deren Resultat. Im Blick auf die übrigen Kultursysteme scheint Dil­they diese Konsequenz jedoch nicht ausdrücklich gezogen zu haben. Das verwundert allerdings. Denn bei näherem Hinsehen ist ja nicht nur die Bestimmung von Sachverhalten vor dem Hintergrund bestehender Kulturmuster hochgradig deutungsbetroffen, sondern bereits die Festlegung jener Muster selbst lässt sich als Interpretation begreifen. Denkt man etwa an das Kultursystem ‚Recht‘, so könnte man darauf verweisen, dass beispielsweise nicht nur die Anwendung eines formulierten Straftatbestandes auf eine konkrete Situation einen Deutungsakt darstellt. Darüber hinaus ist bereits die zugrunde liegende kategoriale Einordnung eines bestimmten möglichen Handelns als Straftatbestand als Deutungsleistung anzusehen. Das sich aus solchen Ordnungsvorstellungen aufbauende Rechtssystem ließe sich demnach berechtigterweise als Deutungssystem ansprechen. So gesehen wären letztlich alle Kultursysteme in einem weiteren Sinne als Deutungsmuster – nun im Sinne des genitivus subjektivus – einzustufen. Mindestens beim späten Dil­they scheint eine solche kategoriale Beschreibung durch, wenn er mitunter statt von ‚Kultursystem‘ wechselbegrifflich auch von ‚Bedeutungszusammenhang‘ sprechen kann. Ziehen wir ein Zwischenfazit: In der gegenwärtigen geistes- und kulturtheoretischen Debatte erfreut sich der Begriff der ‚Kulturhermeneutik‘ großer Beliebtheit.45 Dabei begegnet aber häufig insofern eine gewisse Engführung, als unter einer interpretativen Erschließung kultureller Wirklichkeit vornehmlich an fremde Kulturen gedacht wird. Dem gegenüber ist aber schon die Verortung im 43 Vgl.

A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, 243–262. überschreiten etwa die von den Naturwissenschaften erbrachten Erkenntnisse leicht geschichtlich-kulturelle Grenzen, während Sprachen und Sitten ungleich stärker an einen konkreten Ort zurückgebunden sind. 45 Vgl. Chr. Ernst/W. Sparn/H. Wagner: Kulturhermeneutik. 44  So

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eigenen Kulturzusammenhang nicht ohne vielfache Verstehensleistungen der an ihm teilnehmenden Akteure denkbar.46 Dil­they, dem häufig eine Unterbelichtung des Problems von Alterität vorgeworfen wird, zeigt sich in diesem Punkt hermeneutisch durchaus sensibel. So können seine entsprechenden Überlegungen die Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass Auslegen und Verstehen von Kultur kein Problem ist, das erst in der Begegnung mit dem ethnisch-geographisch Fremden akut wird, sondern das bereits im Blick auf die eigene kulturelle Welt durchgehend vorauszusetzen ist. Ein Problem, auf das später auch Clifford Geertz ausdrücklich hingewiesen hat.47 Bis hierher wäre die eine der beiden oben genannten Bedingungen dafür beschrieben, dass die in einem bestimmten Feld von Lebensäußerungen zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Einstellungs- und Handlungsformen zu strukturierenden Gesichtspunkten individuellen Lebens werden können. Dies ist, wie gesehen, nicht anders als dadurch möglich, dass der Einzelne sich die ihn umgebende Ausdruckswelt deutend erschließt, so dass es ihm möglich wird, sich die in deren unterschiedlichen Äußerungen entgegentretenden allgemeinen Einstellungen und Orientierungsgesichtspunkte anzueignen. Solche Aneignungsleistungen – die immer mit Fortschreibungen einhergehen – setzen aber voraus, dass kulturelle Wirklichkeit als eine Vielzahl von Ausdrucksphänomenen gegeben ist, in denen sich auf unterschiedlichste Weise das gemeinsam geteilte Hintergrundwissen einer bestimmten Zeit oder Region äußerlich niederschlägt. Damit kommen wir zum zweiten Gesichtspunkt. (2) Eine Theorie der kulturellen Objektivation ist ansatzweise bereits in der Einleitung formuliert und wird von Dil­they dort im Zusammenhang seiner Theorie der „Wechselwirkung von Individuen“ (I 50) entfaltet. Letztere ist ihm zufolge nämlich nur dadurch denkbar, dass sie über „vermittelnde[ ] Bedingungen der Außenwelt“ (ebd.) erfolgt, da kommunizierende Personen lediglich über den Weg äußerlich wahrnehmbarer Tatbestände bzw. „Lebensäußerungen“ (I 41) miteinander in Beziehung treten können. Das fängt an bei der direkten Begegnung von Menschen im Alltag, die nur vermittels körperlicher Ausdrucksphänomene zu erfolgen vermag.48 Es setzt sich aber fort in allen Kommunikationsprozessen, in denen die aufeinander bezogenen Tätigkeiten der Einzelnen ebenfalls nur kraft der Medialität dinglicher Ausdrucksträger vonstattengehen können. Vom Rechtsspruch des Richters über die Vertragsschließung in der Wirtschaft bis hin zur wechselseitigen Verständigung in Wissenschaft und Philosophie: Überall sind physische Objekte und Prozesse mit im Spiel, durch die die individuellen Personen allererst intersubjektive Zusammenhänge zu schaffen bzw. an ihnen teil46  Vgl. dazu auch A. Kubik: Wahrnehmung der Lebenswelt und Kulturhermeneutik als theologische Aufgabe. 47  Vgl. C. Geertz: Dichte Beschreibung, 22, Anm. 1. 48  Siehe dazu oben Abschnitt III.2.a.



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zunehmen in der Lage sind. Heute würde man diesbezüglich von der Materialität der Diskurse oder dem verkörperungstheoretischen Aspekt von Sozialität und Kulturalität sprechen. Damit ist die Veräußerlichung kulturellen Tuns jedoch noch nicht hinreichend beschrieben. Die soziokulturelle Veräußerlichung steht nämlich nicht allein für den Sachverhalt der notwendigen Außenweltvermittlung aktualer Kommunikationsprozesse. Darüber hinaus ist mit ihr auch der bereits erwähnte Umstand verbunden, dass sich auf dem Feld soziokultureller Wechselwirkung spezifische Beharrungstendenzen beobachten lassen. Diese sind nicht nur dadurch bedingt, dass die inhaltliche Strukturierung der Kultursysteme ihre Basis in anthropologisch fundierten Grundübereinstimmungen von Bedürfnissen und Lebenszwecken der unterschiedlichen Individuen hat.49 Die Kontinuität der systemischen Leitperspektiven kulturellen Lebens resultiert nicht zuletzt daraus, dass die in ihnen erbrachten Leistungen nicht im jeweils aktualen Wechselwirkungsvollzug aufgehen, sondern sich zugleich in dauerhaften äußeren Formen und Gebilden niederschlagen, wodurch die jeweils erbrachten Erträge für zukünftige Kulturarbeit anschlussfähig gehalten werden. „Seine volle Realität, Objektivität empfängt das System [sc. der Kultur] aber erst dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln die Fähigkeit hat“ (I 50 f.). Darin liegt zugleich der Umstand begründet, dass die unterschiedlichen Systeme „eine von den Individuen selber unabhängige äußere Dauer und den Charakter von massiver Objektivität“ (I 52) besitzen. Dil­they beschreibt hiermit einen Vorgang, den man im weitesten Sinne als kulturelle Gedächtnisarbeit bezeichnen könnte.50 Die Ausdrucksgrößen, in und an denen kulturelle Muster dann gleichsam abgelesen werden können, variieren dabei nach unterschiedlichen Hinsichten. Mindestens vier Differenzierungsgesichtspunkte lassen sich nennen. Erstens können kulturelle Gebilde dahingehend unterschieden werden, ob sie auf den konkreten Lebenskontext einer bestimmten Person verweisen oder auf einen geistigen Gehalt, der sich individualpsychologisch nicht erfassen lässt. Dabei müssen sich beide Seiten nicht ausschließen, sondern können sich durchaus wechselseitig durchdringen, wie exemplarisch anhand dichterischer Produktionen zu zeigen wäre.51 Zweitens können kulturelle Gebilde dahingehend unterschieden werden, ob sie als Produkt der Tätigkeit einzelner Menschen oder als kollektives Er49  Siehe

dazu oben Abschnitt III.3.a. wird zugleich eine wesentliche Bedingung für den „Verlauf der fortschreitenden Kultur“ (I 51) begreiflich – könnte dieser doch nicht gedacht werden, ohne dass entsprechende Aufbewahrungstechniken in Rechnung gestellt würden. 51  Diesen liegen einerseits individuelle Erlebnisse zugrunde, die darum auch nur unter Beachtung der konkreten historisch-individuellen Entstehungsbedingungen erschlossen werden können. Andererseits entwirft der Dichter Bilder von fiktiven Welten, die es folglich auch zunächst als solche zu verstehen gilt, d. h. in Absehung von den Aspekten, die den Dichter zu der betreffenden Abfassung veranlasst haben. 50  Damit

198

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

zeugnis von Gruppen anzusehen sind. Als herausragendes Beispiel für den letztgenannten Fall kommt Dil­they sowohl in der Einleitung als auch im Aufbau etwa auf juridische Textkorpora zu sprechen, die sowohl in ihrer Entstehung als auch im Blick auf ihren Gehalt nicht auf das Wirken einzelner Personen zurückgeführt werden können.52 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass diese Problematik eines kollektiven Ausdrucks mitnichten eine spät errungene Einsicht Dil­theys darstellt. Sie prägt sein Denken vielmehr von Anfang an.53 Drittens können kulturelle Gebilde hinsichtlich ihres Festigkeitsgrades unterschieden werden, wie etwa ‚Begrüßungsworte oder Verbeugungen‘ auf der einen und niedergeschriebene Texte auf der anderen Seite. Eine vierte wesentliche Differenz ist schließlich darin zu erblicken, ob ein bestimmter Gehalt bewusst oder unbeabsichtigt zum Ausdruck gebracht wird. Alle vier Differenzierungshinsichten können untereinander freilich auf komplexe Weise miteinander verschränkt auftreten. Vor dem Hintergrund des eben Geschilderten stellt sich die Frage, welchen ontologischen Status kulturelle Ausdrucksphänomene eigentlich besitzen. Implizit ist dieser bereits bestimmt, und zwar dahingehend, dass man es bei kulturellen Gebilden und Prozessen mit solchen Sachverhalten zu tun hat, die einerseits zwar äußerlich beobachtbare Tatbestände bilden, in ihrer Äußerlichkeit allerdings nicht aufgehen. Vielmehr führen sie immer zugleich eine immaterielle Dimension mit sich, ohne deren Beachtung sie gar nicht als Ausdrucksphänomene identifizierbar wären. Im Spätwerk hat Dil­they diese Richtung in zwei unterschiedliche, sich aber nicht ausschließende Richtungen weiter verfolgt. Die eine zielt auf den programmatischen Einbau der Hegelschen Kategorie des ‚objektiven Geistes‘. Die andere auf eine bedeutungstheoretische Beschreibung der soziokulturellen Welt. Beide sollen in den folgenden Abschnitten nachgezeichnet werden, wobei wir mit jener Kategorie beginnen, weil diese werkbiographisch früher zu greifen ist.

c.  Die Aneignung des ‚objektiven Geistes‘ Zu Beginn des neuen Jahrhunderts lässt sich bei Dil­they eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels feststellen. Deren äußerer Anlass war die 1901/02 erschienene Neuauflage des achten Bands von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, zu der Dil­they eine Rezension schrieb.54 Später ging daraus seine Studie zur Jugendgeschichte Hegels (1905) hervor.55 Innerlich hing diese Neu52 Vgl. 53 Der

I 21. 59 f.; VII 85 f.

Verweis auf gemeinschaftlich hervorgebrachte Kulturprodukte findet sich etwa schon in der Preisschrift, dort paradigmatisch verhandelt im Zusammenhang der Sprachtheorie oder auch einer Hermeneutik der Bibel in ihrem intratextuellen Zusammenhang. Siehe dazu oben die Abschnitte II.1.d.vi und II.2.b. 54 Vgl. XV 343–355. 55  Vgl. zu diesem Kontext M. Jung: Objektiver Geist und Erfahrung, 195.



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

199

beschäftigung mit dem von Dil­they schon länger verfolgten Projekt einer philosophiegeschichtlichen Klärung der Weltanschauungsfrage zusammen, das seinen Höhepunkt dann in den Schriften Das Wesen der Philosophie (1907) und Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) fand. Hegel ist für ihn in diesem Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil sich an dessen Denkweg in Dil­theys Augen etwas zeigen lässt, was er hinsichtlich der Produktion von Weltanschauung überhaupt für charakteristisch hält, nämlich den Übergang von umfassenden Wirklichkeitsdeutungen in begriffliche Systemgebilde.56 Dies kann an dieser Stelle auf sich beruhen bleiben.57 Hier ist der Umstand von Bedeutung, dass ihm im Zuge seiner erneuten Hegel-Lektüre die Einsicht aufgegangen ist, dass der von diesem geprägte Begriff des ‚objektiven Geistes‘ – den Dil­they bereits früher in einem tentativen Sinne gebraucht hatte –58 in wohlbestimmter Hinsicht durchaus auch als Grundkategorie seiner eigenen Konzeption zu fungieren vermag.59 Warum legte sich dieser Anknüpfungspunkt für Dil­they nahe? Der übergeordnete Gesichtspunkt dürfte gewesen sein, dass mit dem ‚objektiven Geist‘ eine Kategorie zur Hand ist, mithilfe derer sich der ontologische Status kultureller Wirklichkeit bzw. der in ihr versammelten Ausdrucksphänomene beschreiben lässt. Denn gesucht war60 eine kategoriale Einordnung, die sowohl dem Sachverhalt der Äußerlichkeit von Kultur als auch deren immaterieller Dimension gerecht zu werden vermag. Anders gesagt: Wie lassen sich jene Erzeugnisse bezeichnen, die einerseits zwar als außenweltliche Tatbestände vorliegen, die aber in ihrer physischen Erscheinung nicht aufgehen, sondern darin zugleich als Träger einer dem bewussten Leben entstammenden – und auch nur diesem zugänglichen – Innerlichkeit fungieren? Die Rede vom ‚objektiven Geist‘ bringt diesen Doppelsachverhalt präzise auf den Punkt. Denn zum einen verweist er auf eine Gegebenheit in äußerer Realität. Zum anderen hebt er darauf ab, dass diese 56  Vgl. dazu M. Jung: Objektiver Geist und Erfahrung, 57  Siehe dazu auch unten Abschnitt III.5.a.iv.

194–204.

58  Bereits in den 1894 erschienenen Ideen hatte Dil­ they sagen können, dass in „Sprache, Mythos und religiösem Brauch, Sitte, Recht und äußerer Organisation […] Erzeugnisse des Gesamtgeistes vorliegend [sind], in denen das menschliche Bewußtsein, mit Hegel zu reden, objektiv geworden ist“ (V 180). 59  Helmuth Johach hat jüngst die Frage aufgeworfen, ob Dil­they die Kategorie des objektiven Geistes vielleicht von Simmel übernommen haben könnte, da sich dieser Begriff bereits in der zweiten Auflage von dessen Schrift Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905) – also fünf Jahre vor Dil­theys Aufbau – finde (vgl. H. Johach: Dil­they, Simmel und die Probleme der Geschichtsphilosophie, 231 f.). Johach sucht einen solchen rezeptionsgeschichtlichen Ableitungsversuch dann darüber zu entkräften, indem er darauf verweist, dass bereits Lazarus und Steinthal in ihren völkerpsychologischen Schriften von jenem begrifflichen Konzept Hegels Gebrauch gemacht hätten. Im Blick auf Simmel lässt sich jene Frage klar verneinen, da Dil­they sich – wie bereits erwähnt – schon in den Ideen (1894) ausdrücklich auf jenen Hegelschen Terminus bezieht. Der Hinweis auf Lazarus und Steinthal hingegen ist rezeptionsgeschichtlich äußerst interessant und verdiente es, weiter aufgehellt zu werden. 60  Siehe dazu oben Abschnitt III.3.b.

200

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Gegebenheit in dem, was sie ausmacht, noch gar nicht erfasst ist, wenn sie lediglich in ihrer sinnlich-empirischen Vorfindlichkeit wahrgenommen wird.61 Um dem Missverständnis vorzubeugen, der Geist selbst, also die produktive Instanz jener Gestaltungen, könne als etwas Gegenständliches missverstanden werden, spricht Dil­they wechselbegrifflich auch von der „Objektivierung des Geistes“ (VII 86) bzw. – in Anlehnung an einen Schopenhauerschen Begriff –62 von der „Objektivation des Lebens“ (VII 146).63 Darüber hinaus lassen sich zwei weitere Theoriehinsichten nennen, die durch den Einbezug jenes Hegelschen Begriffs abgegolten werden. So hatte sich zum einen gezeigt, dass Dil­they zufolge alle soziokulturelle Wirklichkeit Ursprung in den Wechselwirkungsvollzügen von Subjekten besitzt. Damit ist zugleich gesagt, dass sie nicht nach Art naturhafter Gegenstände gegeben ist, sondern als das Produkt menschlichen Handelns angesehen werden muss. Hier ist „[a]lles Gegebene […] hervorgebracht“ bzw. vom „Geist geschaffen“ (VII 148). Diesbezüglich könnte man auch von der Performativität der soziokulturellen Wirklichkeit sprechen. Zum anderen hatte sich gezeigt, dass die geschichtlich-gesellschaftliche Welt nicht individualistisch erklärt, sondern nur unter Rückgang auf die in ihr enthaltenen intersubjektiven Zusammenhänge angemessen betrachtet werden kann. Als „Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt“ repräsentiert jede Lebensäußerung „im Reich des objektiven Geistes ein Gemeinsames“ (VII 146).64 Es geht also um die Überindividualität der soziokulturellen Welt. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum sich für Dil­they der Einbau jener Hegelschen Kategorie nahegelegt hat. Wie noch zu zeigen ist, ist der systematische Zusammenhang dieses Begriffs bei Hegel zwar nicht so weit, dass er im Blick auf alle Gebiete menschlichen Kulturlebens Anwendung findet. Abgesehen davon aber konnte sich der fragliche Term für Dil­they insofern als zusammenfassender Begriffsausdruck anbieten, als er auch bei Hegel für die Einsicht steht, dass sich bewusstes Leben äußerlich manifestiert und dabei gemeinschaftliche Formen hervorbringt, in denen dessen individuelle Erscheinung gleichsam aufgehoben ist. Geht man indes über diese allgemeine Übereinstimmung zwischen Dil­they und Hegel hinaus, so zeigt sich sofort, dass jener die Konzeption des ‚objektiven Geistes‘ nicht ungebrochen übernimmt, sondern seine begriffliche Aneignung in konstruktiver Weise erfolgt. Anders gesagt: Dil­ they knüpft nicht unmittelbar an Hegel an, sondern will sich lediglich einer „Intuition“ (VII 150) desselben bedienen, um daraus begriffliches Kapital für seine 61  Die Eröffnung und Erschließung jener übernatürlichen Seite wird dann durch solche Auffassungsvollzüge geleistet, die Dil­they im emphatischen Sinne ‚Verstehen‘ nennt. 62 Bei Schopenhauer bezeichnet der Begriff der Objektivation die Selbstdarstellung des Willens in der Körperwelt (vgl. S. Lorenz/W. Schröder: Objektivation, 1054). 63  Vgl. dazu U. Barth: Bewußtsein und Geist, 203. 64 „[D]er einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit“ (VII 146 f.).



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eigenen Überlegungen zu schlagen. Darum sieht Dil­they sich genötigt, auch in negativer Hinsicht anzugeben, worin sich seine Geschichts- und Kulturauffassung von derjenigen Hegels unterscheidet. „Ich muß aber den Sinn, in dem ich es [sc. dieses Wort von Hegel] gebrauche, genau und deutlich von dem unterscheiden, den Hegel mit ihm verbindet“ (VII 148). Es ist lohnenswert, diese kritische Verhältnisbestimmung genauer in den Blick zu nehmen, da Dil­they darin nicht lediglich seine Einwände gegenüber dessen System nochmals gebündelt präsentiert, sondern damit zugleich eine indirekte Konturierung seiner eigenen sozial- und kulturphilosophischen Position bietet. Denn um deutlich zu machen, dass seine begriffliche Orientierung an Hegel nicht auf eine Preisgabe seines Standpunktes eines erkenntnistheoretisch reflektierten Historismus zugunsten einer spekulativ-logischen Grundlegung von Wissen hinausläuft, muss Dil­they zeigen, inwiefern sein Verständnis des fraglichen Begriffs von demjenigen Hegels abweicht. „Dieser Unterschied betrifft ebenso die systematische Stelle des Begriffs wie seine Abzweckung und seinen Umfang“ (VII 148). Wenn diese Problematik nun im Folgenden aufgerollt werden soll, so ist damit freilich nicht beansprucht, die komplexe und schwierige Frage nach Dil­theys Verhältnis zu Hegel umfassend zu klären.65 Es soll lediglich darum gehen, worin Dil­they selbst die Grenze seiner eigenen Konzeption zu derjenigen Hegels zieht. Seine entsprechenden Ausführungen lassen sich dabei nach sieben Punkten differenzieren.66 (1) Als ersten Punkt hält Dil­they fest: Hegel „konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen“ (VII 150). Auf den ersten Blick scheint hier keine große Differenz vorzuliegen. Auch für Dil­they bildet die Sphäre des Volitiven einen basalen Faktor des psychisch-geistigen Lebens und dessen intersubjektiven Wirklichkeitszusammenhang. Und auch den Vernunftbegriff will Dil­they keinesfalls aufgeben. Was ihm hierbei vor Augen steht, muss darum etwas anderes sein. Um 65  Vgl. dazu F. Rodi: Der Rhythmus des Lebens; A. Homann: Dil­theys Bruch mit der Metaphysik; V. Plunder: Dil­theys Interesse an Hegel. 66  Dass Dil­they selbst eine solch differenzierte Verhältnisbestimmung vorgelegt hat, wird in der Forschung häufig kaum gewürdigt. Schon Helmut Johach griff die von Dil­they selbst hervorgehobenen Differenzierungshinsichten nicht auf. Im entsprechenden Abschnitt zum objektiven Geist verweist er lediglich kurz auf „kritische Abstriche“ Dil­theys, führt das Ganze aber nicht weiter aus (vgl. H. Johach: Handelnder Mensch und objektiver Geist, 158). Auch Rudolf Makkreel kommt in seinem Abschnitt zum objektiven Geist (R. A. Makkreel: Dil­they, 353–361) nur am Rande auf Dil­theys eigene Standortbestimmung zu sprechen. Matthias Jung bezieht sich in seiner Einleitung zu Dil­they zwar auf einige von dessen Differenzierungsgesichtspunkten, allerdings nennt er sie bloß nebenbei, ohne sie näher zu erläutern (vgl. M. Jung: Dil­ they, 139–193). Ähnlich verhält es sich mit seinem Aufsatz Objektiver Geist und Erfahrung – dessen Skopus allerdings auch in den religionsphilosophischen Konsequenzen von Dil­theys Grundansatz liegt. In einem jüngst erschienenen Aufsatz von Valentin Plunder erstrecken sich die Ausführungen zu „Dil­theys Kritik an Hegels Begriff des objektiven Geistes“ (V. Plunder: Dil­theys Interesse an Hegel, 51) auf etwas mehr als eine halbe Seite.

202

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

den springenden Punkt fassen zu können, gilt es zunächst daran zu erinnern, dass der Aspekt des Gemeinschaftlichen für Dil­they einen Wesenszug dessen bezeichnet, was er die ‚äußere Organisation der Gesellschaft‘ nennt.67 Stellt man dies in Rechnung, so wird sein Kritikpunkt klar: Bereits in der Einleitung hatte er mehrfach darauf hingewiesen, dass sich die organisationale Sphäre des Sozialen nur äußerst bedingt mithilfe allgemeingültiger Begriffe strukturieren lässt.68 Ihm zufolge ist es zwar möglich, gewisse Wesensmerkmale und Grundunterscheidungen zu treffen. Im Blick auf Geschichte und Gegenwart der sozialen Organisationen lasse sich aber eine einzige rationale Form derselben nicht konstruieren, da letztere zu stark von historisch-kontingenten Faktoren bestimmt sei. Hegel selbst hat in seiner Rechtsphilosophie bekanntlich durchaus eine Theorie entworfen, in der bürgerliche Familie und Gesellschaft sowie die konstitutionell-monarchische Staatsform als die wesentlichen Grundbestandteile einer vernünftigen Ordnung des Sozialen aufgewiesen werden, wobei er sogar die spezifische Struktur der Verteilung von hoheitlicher Repräsentation, Regierungsgewalt und Legislative rational zu begründen versuchte.69 Die Frage nach der Organisation des sozialen Lebens soll auf vernünftig-allgemeine Weise beantwortet werden, was nicht zuletzt daraus ersichtlich wird, dass die Darstellung jener Ordnung in Form einer logisch-spekulativen Begriffsentfaltung erfolgt. So sehr Hegel dabei fraglos auf Grundeinsichten gestoßen ist, die sich für die moderne Gesellschafts- und Staatswissenschaft als überaus fruchtbar erwiesen haben,70 so wenig hält Dil­they ein solches Verfahren angesichts der mannigfaltigen historischen und zeitgenössischen Sozialformen für gangbar. In der Einleitung heißt es dazu: „Tatsachen, wie die Familie und der Staat, können aber […] überhaupt einer wirklichen Konstruktion durch den Begriff nicht unterworfen werden“ (I 73). Im Aufbau nimmt er diese Überlegung wieder auf und behandelt sie im Zusammenhang der Abgrenzung seiner Auffassung vom ‚objektiven Geist‘ zu derjenigen Hegels. Dil­they plädiert darum für eine andere Form der Grundlegung des geschichtlich-sozialen Lebens, die auf der Fundierungsebene stärker im Abstrakten verbleibt, um die notwendige Konkretisierung dann unter engerer Rückbindung an das jeweilige empirische Forschungsfeld zu leisten. (2) Der zweite Kritik-Punkt betrifft „die systematische Stelle des Begriffs [sc. des objektiven Geistes] wie seine Abzweckung“ (VII 148). Dil­they hält diesbezüglich fest: „wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen.“ 67  Siehe 68 Vgl. 69 Vgl.

dazu oben Abschnitt III.3.a.

I 71. 72. 73. 74 f.

H. F. Fulda: G. W. F.  Hegel, 196–242; J. Dierken: Aufgeklärtes Staatsdenken, 325–331. 70  Zu erinnern wäre etwa an die Kritik rein kontraktualistischer Theorien des Staates oder auch die Einsicht in die ethischen Grenzen des klassischen politischen und ökonomischen Liberalismus.



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(VII 150). Hegel strukturiert den Geistbegriff in die drei Aspekte des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes. So sehr er mit dem zweitgenannten Glied der geschichtlichen Dimension des rechtlichen und gesellschaftlich-staatlichen Lebens eine herausragende Bedeutung für die Entfaltung des Geistes zumisst, so sehr geht diese Herausstellung von Geschichte und Gesellschaft im Gesamtaufbau der Theorie einher mit einer inneren Teleologie, deren gedanklicher Fluchtpunkt in der Aufhebung alles historisch vermittelten Wissens in die höchste Form des absoluten Wissens besteht. Die Bedingung der Möglichkeit solcher Aufhebung besteht dabei in der Überzeugung, dass die Wirklichkeit vernünftig strukturiert sowie in ein spekulatives System eingeordnet ist, das seinen Zielpunkt in einer solchen Einstellungsweise des Geistes besitzt, in der die endlichen Vermittlungsgestalten seiner selbst in einem reinen Wissen aufgehoben sind. Für Dil­they läuft ein solches Unternehmen jedoch darauf hinaus, die faktische Realität in ihrer Eigenmächtigkeit vorschnell zu überspringen. So hat Hegels „ideelle[ ] Konstruktion der Entwicklung des Geistes […] zwar seine historische Wirklichkeit und die in ihr waltenden Beziehungen zu ihrer realen Unterlage“, aber indem sie „sie spekulativ begreiflich machen will“, lässt sie „die zeitlichen, empirischen, historischen Beziehungen hinter sich“ (VII 149). Dies führt direkt auf den nächsten Punkt, der aus dem eben Gesagten die methodische Konsequenz zieht. (3) „Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene“ (VII 150). Hegel hat in der Realphilosophie überhaupt und mithin auch in der Philosophie des Geistes ein spekulatives Verfahren zur Anwendung gebracht, das dadurch ausgezeichnet ist, dass bei einem Begriff des allgemeinen Wesens des betreffenden Wissenschaftsgebietes der Ausgang genommen wird, um dann die in diesem Begriff begründete Gedankenbewegung nachzuvollziehen. Auf der Grundlage der von Hegel in der Logik entwickelten Widerspruchsdialektik erfolgt dieser Prozess dabei dergestalt, dass sich eine ursprüngliche Einheit in einander entgegengesetzte Glieder differenziert, um sodann zu einer höheren Einheit der unterschiedenen Bestimmungen zu gelangen, wobei diese höhere Einheit wiederum den Ausgangspunkt einer neuen Phase des dialektischen Verlaufs bildet.71 Hegel selbst hat dieses Verfahren als die ‚Methode des sich selbst explizierenden Begriffs‘72 bezeichnet. Die am konkreten Material zu erbringende Forschungsarbeit bezieht Hegel dabei zwar mit ein, erachtet sie jedoch angesichts des spekulativ-philosophischen Begreifens der Wirklichkeit für unwesentlich. Freilich läuft eine solche Vorgehensweise Gefahr, sich um die empirischen Realitäten gar nicht mehr zu kümmern und in deren Darstellung den eigenen Systemzwängen zu unterliegen.73 Der Haupteinwurf Dil­theys zielt darauf, dass sich die Wirklichkeit nicht 71  Vgl. dazu E. Hirsch: Geschichte 72  Zit. nach. E. Hirsch: aaO., 236.

der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, 232–237.

73  Im Blick auf die Realphilosophie der Natur erinnert Schnädelbach in diesem Zusammenhang etwa an Hegels Versuch in seiner Habilitationsschrift, aus a priori vernünftigen Prin-

204

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nach Maßgabe von Begriffsverhältnissen konstruieren lasse, schon gar nicht solcher, die schließlich im ‚absoluten Geist’ zusammenlaufen. Das bedeutet freilich nicht, dass Dil­they der begrifflichen Arbeit eine prinzipielle Absage erteilen wollte. Im Gegenteil: Er bezieht die Anschauung des geschichtlich Singularen und die theoretische Durchdringung des empirischen Stoffs konstitutiv aufeinander. Die Notwendigkeit dieses Wechselverhältnisses bedeutet aber von vornherein das Eingeständnis, dass die begriffliche Reflexion lediglich ein Element innerhalb der perspektivischen Aufhellung der Wirklichkeit darstellt, so dass diese weder jemals vollkommen auf den Begriff gebracht werden könnte noch ihr inneres Entwicklungsprinzip in der Bewegtheit einer logischen Idee besäße. (4) Auf eine der logisch-spekulativen Grundlagen von Hegels Verfahren wurde oben bereits hingewiesen, nämlich dass zwischen Vernunft und Wirklichkeit ein enges Wechselverhältnis dergestalt bestehe, dass alles, was vernünftig ist, auch wirklich ist oder wirklich werden muss, während umgekehrt alles wahrhaft Wirkliche sich als vernünftig erweisen lässt. Dil­they steht diesem Zutrauen skeptisch gegenüber – und hat Hegel schon in der Breslauer Ausarbeitung dafür kritisiert, dass er „die ganze Wirklichkeit überhaupt in Logismus“ (XIX 88) auflöse.74 Im hier herangezogenen Kontext seines Spätwerkes taucht eine analoge Kritik wieder auf, allerdings in der leicht abgeschwächten Form einer gegenwartsdiagnostischen Überlegung: „[D]ie heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen“ (VII 150). Dass Dil­they die Hegelsche Grundüberzeugung nicht einfach per se als lächerlich darstellt, sondern sie – etwas milder – lediglich vom ‚heutigen‘ wissenschaftlichen Common Sense unterscheidet, wird man vielleicht so interpretieren können, dass er damit zumindest in historischem Sinne ein gewisses Verständnis für die spekulativen Ambitionen Hegels aufzubringen versucht. Gleichwohl lässt er auch hier keinen Zweifel daran, dass angesichts der Einsicht zipien zu beweisen, dass es zwischen den Planeten Mars und Jupiter keine weiteren Himmelkörper geben könne – obwohl die Entdeckung des Planetoiden Ceres just in diesem Jahr erfolgt war (vgl. H. Schnädelbach: G. W. F. Hegel zur Einführung, 104). Er bezieht sich dabei auf H. Althaus: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie, 143. Auf dem Feld der Geschichte könnte als Beispiel genannt werden, dass die Religion des Islam in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion überhaupt nicht auftaucht, weil er sie in seine Darstellung nicht zu integrieren vermochte. 74  Vgl. auch aus noch früheren Ausarbeitungen: Hegel habe „unter der Selbsterkenntnis des Gedankens oder der Logik die Wissenschaft oder Erklärung des Universums verstanden“ (XIX 37). In seinem eigenen Logik-Verständnis ist Dil­they nachhaltig geprägt von seinem Lehrer Trendelenburg (vgl. dazu die Beiträge von E. Kreiter: Friedrich Adolf Trendelenburg und die Weltanschauungstypologie Dil­theys; G. Kühne-Bertram: Einflüsse Trendelenburgs auf Wilhelm Dil­theys Philosophie und Logik des Lebens; H.‑U. Lessing: Trendelenburgs Logische Untersuchungen und Dil­theys Theorie der Geisteswissenschaften).



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in die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit das Programm einer vollkommenen begrifflichen Durchdringung aller Realität von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Zwar gesteht auch Dil­they zu, dass sich der menschliche Geist nicht mit einem Erkennen des Hier und Jetzt zufrieden geben kann, sondern immer Ausgriffe auf letzte Ganzheitsdimensionen von Welt und Leben tätigen muss. Allerdings fallen diese nicht mehr unter die Ägide einer sich als Wissenschaft begreifenden Philosophie, sondern stellen ein in den Kultursystemen von Kunst und Religion zu erarbeitendes Deutungswissen dar.75 (5) Angesichts dessen ist klar, dass Dil­they mit der Differenz von objektivem Geist und absolutem Geist nur noch bedingt etwas anfangen kann. Darum zieht er diese Hegelsche Unterscheidung mit dem Ziel ein, diejenigen Formationen, die Hegel als absoluter Geist apostrophiert hatte, den übrigen geistigen Objektivationen kategorial gleichzustellen. Darum werden nun diejenigen Zusammenhänge, die Hegel unter dem Begriff des absoluten Geistes subsumiert, nicht mehr als die – in sich nochmals stufenweise angeordneten – Realisierungsgestalten desselben betrachtet, sondern konsequent in die Sphäre des objektiven Geistes eingeordnet. So fällt nun „auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff [sc. des objektiven Geistes], ja gerade in ihnen zeigt sich das schaffende Individuum zugleich als Repräsentation von Gemeinsamkeit, und eben in ihren mächtigsten Formen objektiviert sich der Geist und wird in denselben erkannt“ (VII 151). (6) Mit dem eben Gesagten ist bereits der nächste Punkt berührt. Denn durch die Einordnung von Kunst, Religion und Philosophie in das Feld des objektiven Geistes macht Dil­they deutlich, dass dieses sich nicht allein in den sozialen Gebilden im engeren Sinne erschöpft. Dil­they belässt es aber nicht bei der Integration jener höheren Kultursphären, sondern bezieht das gesamte kulturelle Tun des Menschen mit ein. Darum sind unter jenen Begriff nun „Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht“ (VII 151). Da jene kulturellen Zusammenhänge als solche aber nicht einfach für sich bestehen, sondern nur in konkreten individuellen und überindividuellen Produkten und Prozessen zu greifen sind, steht der objektive Geist nicht nur für die systematischen Leitperspektiven des kulturellen Lebens. Darüber hinaus umfasst er zugleich die vielen unterschiedlichen in ihnen enthaltenen Einzelproduktionen, somit den „Inbegriff der Objektivationen“ (VII 246) bzw. das gesamte „äußere Reich des Geistes“ (VII 146): von den „Lebensäußerungen des Geistes von rasch verschwindender Gebärde“ (VII 246)76 über den „mit Bäumen bepflanzten Platz“ und jedes „Gemach, in dem Sitze ge75  Siehe

dazu unten Abschnitt III.5. Wort, jede[n] Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel[…]“ (VII 146).

76  „Jedes

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

ordnet sind[,]“ (VII 208) bis hin zu „jede[m] Kunstwerk“ oder „zur jahrhundertelangen Herrschaft einer Verfassung oder eines Rechtsbuches“ (VII 146). (7) In diesen Zusammenhang gehört dann schließlich auch die Feststellung, dass für Hegel „das Problem, wie Geschichtswissenschaft möglich“ sei, „nicht [existierte]“ (VII 151). Dieser Vorwurf mag zunächst verwundern, denn als institutionell eigenständige Disziplin begann sich die Geschichtswissenschaft erst relativ spät herauszubilden,77 so dass es historisch unangemessen erscheint, Hegel diesbezüglich in die Pflicht nehmen zu wollen. Dil­they geht es aber um etwas anderes. Ihn beschäftigt die Frage, wie überhaupt zu einem objektiv gesicherten Wissen der geschichtlichen Welt gelangt werden könne – ein Problem, das seit dem Aufkommen des sogenannten Historischen Pyrrhonismus die geschichtstheoretischen Debatten durchzieht. Im Aufbau diskutiert Dil­they dieses Problem an anderer Stelle ausführlicher und beschreibt es dort als den „Widerstreit zwischen den [praktischen, v. Verf.] Tendenzen des Lebens und ihrem wissenschaftlichen Ziel“ (VII 137). So müsse sich jeder kritische Geisteswissenschaftler eingestehen, dass er nicht voraussetzungslos zu verfahren imstande ist, sondern in allen seinen Urteilen durch den geistigen Entwicklungsstand seiner Zeit und die konkrete Zugehörigkeit zu einem Gemeinschaftswesen bedingt ist. Auf der anderen Seite muss er zugleich nach Allgemeingültigkeit streben, weil ohne einen solchen Zweck die Wissenschaftlichkeit von vornherein preisgegeben wäre. „Am stärksten äußert dieser Widerstreit sich in der Geschichtswissenschaft“ (ebd.).78 Seine Lösung liegt kurz gesagt darin, jenen Widerstreit nicht einfach aufzuheben, sondern ihn zu operationalisieren und in die Form einer produktiven Spannung zu überführen79 – wobei Dil­they für diesen genuin historistischen Lösungsvorschlag keine Originalität beansprucht.80 Unabhängig davon aber, wie man dessen Leistungskraft einschätzen mag: An Hegel ist in Dil­theys Augen zu kritisieren, das er noch nicht einmal die im Hintergrund stehende Frage aufkommen ließ. Denn dessen metaphysisches Gesamtsystem mit dem Fluchtpunkt im absoluten Geist „hat dies Problem hinter sich. Heute aber gilt es umgekehrt das Gegebene der geschicht77  Siehe dazu unten Abschnitt III.4.i. 78  Dil­they kommt auch in anderen Schriften

auf diese Spannung zu sprechen. Besonders hervorgehoben findet es sich etwa im vier Jahre früher erschienenen Wesen und wird hier im Blick auf den Widerspruch zwischen konstitutivem Systemanspruch der Philosophie und der Einsicht in die unhintergehbare Endlichkeit allen Denkens entfaltet (vgl. V 364). 79  „Leben und Lebenserfahrung sind die immer frisch fließenden Quellen des Verständnisses der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt“, jedoch „nur in der Rückwirkung auf Leben und Gesellschaft erlangen die Geisteswissenschaften ihre höchste Bedeutung […]. Aber der Weg zu dieser Wirkung muß durch die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis gehen“ (VII 138). Von hier aus gibt es durchaus Berührungspunkte zu der auch von Max Weber in Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis geforderten Objektivität der Wissenschaften. Weber selbst bezieht sich in diesem Zusammenhang bekanntlich vor allem auf Windelband, Simmel und Rickert. 80  „Das Bewußtsein hiervon [war] […] schon in der großen schöpferischen Epoche der Geisteswissenschaften wirksam“ (VII 138).



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lichen Lebensäußerungen als die wahre Grundlage des historischen Wissens anzuerkennen und eine Methode zur Beantwortung der Frage zu finden, wie auf Grund dieses Gegebenen ein allgemeingültiges Wissen der geschichtlichen Welt möglich sei“ (VII 151). Den Umstand, dass Dil­they diejenigen Geistesgestalten, die bei Hegel als ‚absolute‘ apostrophiert werden, in den Zusammenhang des ‚objektiven Geistes‘ einstellt, meinte Hans-Georg Gadamer als Indikator dafür lesen zu können, dass das geschichtliche Bewusstsein in Dil­theys Konzeption letztlich dieselbe Funktion einnehme, die bei Hegel der ‚absolute Geist‘ besäße,81 so dass Dil­they in eine „ungewollte und uneingestandene Nähe zum spekulativen Idealismus“82 geraten würde. Daraus leitet Gadamer dann die bereits an anderer Stelle83 zitierte – und rezeptionsgeschichtlich fatale – Einschätzung ab, dass das (geschichtliche) Verstehen für Dil­they in ‚völliger Selbstdurchsichtigkeit, völliger Tilgung aller Fremdheit und alles Andersseins‘ sein Ziel fände. Es heißt aber Dil­theys Herabstufung von Hegels ‚absoluten Geistesgestalten‘ geradezu auf den Kopf zu stellen, wenn man sie umgekehrt als Ausweis dafür zu begreifen versucht, dass auf dem Feld geschichtlich-kulturellen Lebens absolute Wahrheiten nicht nur behauptet,84 sondern im Zusammenhang geisteswissenschaftlicher Rekonstruktionsarbeit auch erreicht werden könnten.85 Insbesondere der letzte Punkt von Dil­theys Abgrenzung gegenüber Hegel hat deutlich gemacht, dass Dil­they keineswegs damit rechnet, dass auf dem Gebiet von Geschichte und Kultur je eine Art reinen absoluten Wissens erlangt werden könne. Vielleicht hat Gadamer Stellen vor Augen, an denen Dil­they davon spricht, dass das historische Bewusstsein den Menschen in Freiheit versetze – womit Dil­they sich einen Droysenschen Gedanken zueigen macht.86 Diese Äußerungen zielen aber nicht etwa auf eine absolute „Erhebung über die eigene Relativität“.87 Dil­they meint damit zum einen, dass der Einzelne nur im Verstehen anderer Personen und geschichtlich-kultureller Gegenstände „die Beschränkung des Individualerlebnisses auf[hebt]“ (VII 141).88 Zum anderen 81 Vgl.

H.‑G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 233.

82  AaO., 231. 83  Siehe dazu

oben Abschnitt III.2.b. es notwendig zu solchen Setzungen kommt, bestreitet auch Dil­they nicht, stellt aber die Forderung auf, sie in ihrem jeweiligen Bestand wiederum historisch zu erklären (vgl. VII 290). 85  Vgl. dazu auch H. Johach: Handelnder Mensch und objektiver Geist, 168 f.; F. Rodi: Der Rhythmus des Lebens selbst, 57; M. Jung: Objektiver Geist und Erfahrung, 195. 86  Bei Droysen kommt er im Zusammenhang von dessen Erinnerungstheorie zu stehen: „Unser Wissen, richtiger, der Inhalt unseres Ich ist zunächst Empfangenes, Überkommenes, unser, als wäre es nicht unser. Wir sind damit noch unfrei in diesem unserem Wissen […]. Erst mit der Reflexion, in der wir es als vermitteltes erkennen, trennen wir es von uns selbst“ (J. G. Droysen: Historik: 106 f., Hvh. v. Verf.). Vgl. dazu und zum Fichteschen Hintergrund dieser Konzeption U. Barth: Christologie, 196 ff. 87  H.‑G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 238. 88  „Die Geschichte macht uns frei, indem sie uns über die Bedingheit des aus unserem Lebensverlauf entstandenen Bedeutungsgesichtspunktes erhebt“ (VII 252). 84 Dass

208

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

bringt er damit eine gemäßigt traditionskritische Haltung zum Ausdruck, die sich unbeschadet des Bewusstseins um die prinzipielle geschichtliche Situiertheit allen menschlichen Daseins von allen unmittelbaren Geltungsansprüchen vergangener Kulturen freizumachen vermag –89 eine Grundhaltung, die wohl als wesentlich zur Moderne gehörig anzusehen ist. Im Hintergrund von Gadamers Inszenierung dürfte wohl vor allem der Versuch stecken, jeden Anspruch auf ein methodisch kontrolliertes Verstehen mit einer spekulativ-idealistischen Grundansschauung kurzzuschließen, um es damit von vornherein als Irrweg desavouieren zu können.90

d.  Die bedeutungstheoretische Vertiefung des Kulturbegriffs Am Ende des zweiten Unterabschnitts dieses Kapitels hatte sich die Frage gestellt, welchen ontologischen Status die innerhalb der durch ‚Kultur‘ bezeichneten Wirklichkeitssphäre versammelten Sachverhalte besitzen. Dabei war darauf hingewiesen worden, dass Dil­they diese Frage im Spätwerk auf zwei unterschiedliche Weisen zu beantworten sucht. Deren eine – die kategoriale Beschreibung kultureller Phänomene mithilfe des Begriffs des ‚objektiven Geistes‘ – ist im vorigen Abschnitt dargestellt worden. Dil­theys anderer Ansatz besteht darin, das fragliche Problem auf dem Boden einer Bedeutungstheorie zu beschreiben. Darum soll es in diesem Abschnitt gehen. Dabei gilt es daran zu erinnern, dass Dil­theys Bedeutungsbegriff mindestens zwei Dimensionen aufweist, eine evaluativ-kontextuelle und eine semiotische. In seine bedeutungstheoretische Konzeption kultureller Wirklichkeit gehen beide ein. Da wir auf jenen Aspekt des Bedeutungsbegriffs an anderer Stelle eingegangen sind91 und noch weiter eingehen werden,92 beschränken wir uns hier auf die semiotische Ebene (1), um im Anschluss daran die Konsequenzen für die kulturtheoretische Grundlegung zu ziehen (2). (1) Im Spätwerk heißt es an einer Stelle: „Jede Lebensäußerung hat eine Bedeutung, sofern sie als ein Zeichen etwas ausdrückt, auf etwas hinweist, das dem Leben angehört“ (VII 234). Dabei enthält „dieser Begriff der Bedeutung […] nur eine Beziehung eines Äußeren, Sinnfälligen zu dem Inneren, dessen Ausdruck es ist“ (VII 235). Was Ausdrucksphänomene grundsätzlich von bloßen Naturobjek89 „Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen“ (VII 291). 90 „Das historische Bewußtsein sollte eine solche Erhebung über die eigene Relativität in sich vollbringen, daß dadurch die Objektivität geisteswissenschaftlicher Erkenntnis möglich wird. Man muß sich fragen, wie dieser Anspruch gerechtfertigt sein soll, ohne einen Begriff des absoluten, philosophischen Wissens über allem geschichtlichen Bewußtsein zu implizieren“ (H.‑G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 238). 91  Siehe dazu oben Abschnitt III.1.c. 92  Siehe dazu unten die Abschnitte III.4 sowie III.5.a.ii.



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

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ten unterscheidet ist der Sachverhalt, dass sie in ihrer physischen Materialität zugleich auf etwas Immaterielles verweisen. Sie besitzen damit einen Gehalt, der in den äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaften des betreffenden Phänomens nicht aufgeht, sondern der erst im Blick auf eine von dieser Ebene kategorial verschiedenen Sphäre erfasst werden kann. Aufgrund dessen besitzt die Lebensäußerung nicht bloß den Status einer physikalischen Erscheinung, sondern den eines bedeutungsvollen Zeichens. Freilich ist der außenweltlichen Erscheinung die Eigenschaft, bedeutungsvoll zu sein, nicht einfach an sich selbst eigen, sondern „dieser Begriff der Bedeutung [ist] nur in bezug auf das Verfahren des Verständnisses zunächst gediehen“ (VII 235). Weder inhäriert die Bedeutungsdimension von Ausdruck den betreffenden Objekten nach Art einer dinglichen Eigenschaft, noch kann sie einfach positivistisch abgelesen werden. Für sich genommen sind diese Objekte nichts anderes als Sachverhalte der Gegenstandswelt. Erst aufgrund der interpretativen Bezugnahme auffassender Subjekte werden sie als ein solches Außenweltvorkommnis erkannt, das in seiner physischen Erscheinungsweise zugleich als Ausdruck bewussten Lebens zu stehen kommt. Ausdrucksphänomene bedürfen daher gleichsam einer doppelten Sinnstiftung: einmal vonseiten des sich ausdrückenden Subjekts, dann aber auch vonseiten der sinnentdeckenden Bezugnahme des Interpreten. Denn Bedeutung selbst ist nichts Gegenständliches, sondern eine Gehaltsdimension, die am Gegenständlichen erscheint, sofern sich ein Subjekt in hermeneutischer Einstellung auf den dinglichen Sachverhalt richtet in der Erwartung, darin mehr als bloß naturkausal bedingte Objektivität zu finden. Dabei wird die physische Materialität des aufzufassenden bedeutungsvollen Zeichens nicht übersprungen. Zwar ist Bedeutung selbst ein immaterieller Sachverhalt. Dieser vermag aber nirgends anders in Erscheinung zu treten als an einem in objektiver Realität Gegebenen. Dil­they spricht darum von einem „Verhältnis zwischen Lebensäußerungen und dem Geistigen, das in allem Verstehen herrscht, […] nach welchem der Zug desselben [sc. des Verstehens] zum ausgedrückten Geistigen in dieses das Ziel verlegt und doch die in den Sinnen gegebenen Äußerungen nicht untergehn im Geistigen“ (VII 208). Mit dieser interpretativen Theorie bedeutungsvoller Zeichen hat Dil­they im Aufbau dann auch das Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nochmals kategorial neu zu beschreiben gesucht.93 93  Dil­theys entsprechende Überlegungen fallen in die ersten beiden Abschnitte des Aufbaus, in denen er Natur- und Geisteswissenschaften zunächst auf methodischer Ebene auseinanderhält. Im Anschluss daran gibt er sogleich zu bedenken, dass deren Differenz sich nicht bloß auf das jeweils geübte Erkenntnisverfahren reduzieren lasse, sondern auch gegenstandstheoretisch gefasst werden müsse (vgl. VII 118). Dil­they will damit freilich keinen ontologischen Dualismus behaupten. Worauf er hinaus will, ist der objektivitätstheoretische Umstand, dass die eigentliche Grundlage beider wissenschaftlichen Verfahren streng genommen noch gar keine Gegenstände im eigentlichen Sinne darstellen, sondern zunächst lediglich in Data bestehen, die durch den jeweiligen erkenntnisgenerierenden Prozess überhaupt erst in objektive Sachverhalte überführt

210

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Der Sache nach ist die Bestimmung von Ausdrucksphänomenen als gegenständliche Träger immaterieller Gehalte bei Dil­they freilich schon früher zu finden. So hatte Dil­they bereits in der Einleitung hervorgehoben, dass einem Subjekt andere Personen nur über die von ihnen hervorgebrachten Phänomene in der Außenwelt zugänglich sind. Und auch hier hatte er schon deutlich gemacht, dass fremde Lebensäußerungen nicht einfach wie rein dingliche Sachverhalte vorliegen, sondern als Lebensäußerungen von einem auffassenden Subjekt identifiziert und hermeneutisch erschlossen werden müssen. Das impliziert bereits die prinzipielle Unterscheidung bloß naturhafter Objekte von solchen außenweltlichen Gegenständen, die sozusagen als Vehikel von Ausdruck angesehen werden können. Zu einer Konzeption bedeutungsvoller Zeichen war Dil­they zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht gelangt. Hierzu wurde er erst durch die sprachphilosophischen Überlegungen Husserls in dessen 1900/01 erschienenen Logischen Untersuchen angeregt.94 In diesem Werk hatte Husserl es sich zum Ziel gesetzt, eine nichtpsychologische Theorie der Logik und Mathematik zu entwickeln.95 Da die logischen Gesetzmäßigkeiten nicht anders denn in sprachlicher Form gegeben sind, setzt er in der ‚Ersten Untersuchung‘ zunächst mit Überlegungen zum Verhältnis von sprachlichem Ausdruck und dessen Bedeutung ein. Dabei geht es ihm darum, deutlich zu machen, dass Bedeutung einem Sprachausdruck nicht auf unmittelbare Weise eignet, da er für sich genommen nichts anderes als ein physisches Zeichen darstellt. Damit dieses zum Träger von Bedeutung avancieren kann, bedarf es zunächst ‚bedeutungsverleihender Akte‘, durch die ein Bewusstsein jene äußere Erscheinung als ein bedeutungsvolles Gebilde erfasst. Diese Akte stellen aber nur die Grundlage für die Aneignung semantischer Bedeutung dar, weswegen Husserl sie lediglich als ‚Bedeutungsintention‘ ausweist. Zu ihrer ‚Erfüllung‘ bedürfen sie noch der Beglaubigung durch eine hinzutretende ‚Anschauung‘, die den Gegenstand jener Bedeutungsintention gleichsam als stichhaltig erweist.96 Dil­they setzt werden müssen. Entsprechend den unterschiedlichen Verfahrensweisen beider szientifischen Grundhaltungen entstehen dabei dann Objekte von gänzlich verschiedenem erkenntnistheoretischem Status. „Hier wie dort [sc. in den Naturwissenschaften wie in den Geisteswissenschaften] wird der Gegenstand geschaffen aus dem Gesetz der Tatbestände selber. Darin stimmen beide Gruppen von Wissenschaften überein. Ihr Unterschied liegt in der Tendenz, in welcher ihr Gegenstand gebildet wird“ (VII 85 f.). Sowohl der physische Gegenstand wie das geistige Objekt sind sonach Konstruktionsprodukte der jeweiligen Wissenschaftseinstellung. Die geisteswissenschaftliche Gegenstandsbildung hat es dabei mit nichts anderem als „mit dem Sinne und der Bedeutung zu tun, die sie durch das Wirken des Geistes erhalten haben“ (VII 118). 94  Darauf hatte schon hingewiesen: L. Landgrebe: Wilhelm Dil­theys Theorie der Geisteswissenschaften, 334 f. 95  Vgl. dazu U. Barth: Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs, 97–104. 106 ff. 96  Zum Verhältnis jener Theorie zu Husserls Programm der Intentionalitätsforschung vgl. aaO., 101 f. Zu jenem Programm selbst vgl. E. Ströker: Phänomenologische Studien; dies.: Husserls transzendentale Phänomenologie.



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

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sich mit dieser Ausdruckstheorie vor allem im Strukturzusammenhang des Wissens (1905) auseinander und macht sie sich dabei partiell zu eigen. So zeigen etwa seine Zitatauswahl und einige seiner Paraphrasen, wie weit er in der Aneignung jenes Ausdrucksmodells gehen konnte.97 Allerdings konnte ihm die semantische Ausrichtung des Husserlschen Ausdrucksbegriffs letztlich nicht genügen.98 Denn Dil­they ist es nicht so sehr um eine Theorie sprachlicher Phänomene zu tun, sondern er sucht das gesamte Spektrum menschlicher Ausdruckstätigkeit zu umfassen. Darum weitet er die in Husserls Überlegungen erarbeitete Struktur von Ausdruck und Bedeutung auf das Feld von Geschichte und Kultur aus, indem er, wie gesehen, alle Lebensäußerungen als bedeutungsvolle Zeichen apostrophiert. Husserls Konzeption war für ihn also insofern interessant, als dass sie es ihm ermöglichte, durch Übertragung jenes semantischen Modells auf Ausdrucksphänomene überhaupt diese in ihrem eigentümlichen Status näher zu bestimmen. Denn analog zu einem sprachlichen Ausdruck ist auch jenen Phänomenen insgesamt die Strukturverfasstheit eigen, eine physische und eine immaterielle Seite zu besitzen, wobei letztere auch für Dil­ they, wie ebenfalls gesehen, niemals für sich existiert, sondern nur auf dem Wege einer interpretativen Bezugnahme identifiziert und hermeneutisch erschlossen zu werden vermag. Die damit verbundenen Vertiefungen seiner eigenen Kulturkonzeption hat Dil­they dann allerdings nicht mehr als eigenständige Theorie ausformuliert, sondern nur in vergleichsweise wenigen Bemerkungen skizziert. Von daher haben auch die folgenden Ausführungen einen tentativen Charakter. (2) An anderer Stelle hatte sich gezeigt,99 dass das Erleben und das Handeln des Einzelnen stets geformt ist durch die in seinem zeitlich und örtlich bestimmten Lebenshorizont bereit gestellten Orientierungsmuster. Damit hatte Dil­they zugleich die hermeneutische Konsequenz verbunden, dass auch die intersubjektiven Kommunikationsprozesse nicht anders denn vermittels soziokultureller Muster erfolgen können. Das besagt aber, dass jede einzelne Lebensäußerung nur insoweit verständlich gemacht werden kann, als die sie umschließenden Lebenshorizonte mit berücksichtigt werden. Anders gesagt: Das Einzelne ist nicht aus sich allein heraus verständlich, sondern nur vor dem Hintergrund eines größeren Ganzen, innerhalb dessen es zu stehen kommt. Diese klassische hermeneutische Figur des Teil-Ganzes-Verhältnisses erblickt Dil­they auch in der sozialen und kulturellen Welt, wie etwa das Beispiel des Verstehens einer einzelnen Handlung vor dem Hintergrund einer bestimmten Sittengemeinschaft illustrierte. Diese Überlegungen lassen sich nun unschwer zu dem hier in Frage stehenden Problemkomplex in Beziehung setzen. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass jeder Bedeutungsgehalt eines bestimmten geschichtlich-kulturellen Tatbestandes immer auf 97 Vgl. 98  Vgl.

VII 39 f.

dazu auch F. Rodi: „Der ‚schaffende‘ Ausdruck“, 123. 125. dazu oben Abschnitt III.3.b.

99  Siehe

212

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

einen Bedeutungshorizont verweist, innerhalb dessen die einzelne Bedeutsamkeit erst ihre Erfüllung zu gewinnen vermag. Eine solche Rekonstruktion ist dabei nicht von außen an Dil­they heran getragen, sondern findet Bestätigung in seinen eigenen Ausführungen. Diesbezüglich kann etwa auf ein Nachlassfragment hingewiesen werden, in dem er auf die begriffliche Differenz von ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ zu sprechen kommt.100 Er erläutert sie zunächst im Blick auf den „einfachste[n] Fall, in welchem Bedeutung auftritt“, nämlich „das Verstehen eines Satzes“ (VII 235). ‚Bedeutung‘ bezeichnet dabei den Gehalt eines einzelnen Wortes, ‚Sinn‘ die intensionale Gesamtstruktur eines Satzes, innerhalb derer sie zu stehen kommt und von der her sie erst ihre Bestimmtheit erhält. Das Teil-Ganzes-Verhältnis ist dann freilich verschiebbarer Natur, insofern auch ein Satz nur verständlich ist im Rahmen eines größeren Textzusammenhanges, wobei dieser wiederum auf eine höhere Ganzheit verweist usw. Das Satzverstehen wird von Dil­they aber nur in paradigmatischer Hinsicht herangezogen, um das Verhältnis jener beiden hermeneutischen Grundbegriffe zu erläutern. Ihm geht es aber nicht allein um textphilologische Fragen, sondern er wendet die damit gegebene Struktur im hiesigen Kontext auch dezidiert auf die Problematiken von Autobiographie und Geschichte an. Angesichts dessen dürfte es nicht zu weit hergeholt sein, jene interpretative Struktur auch für eine dezidiert kulturtheoretische Fragestellung in Anschlag zu bringen. Das würde bedeuten, dass die – um mit Clifford Geertz zu sprechen – in einer dichten Beschreibung aufgefasste Bedeutung eines einzelnen Tatbestandes hermeneutisch nicht allein für sich in den Blick genommen werden kann, sondern dass ein solch verstehender Zugang notwendig auf einen weiteren Sinnzusammenhang verweist. Dabei ist auch dieses Teil-Ganzes-Verhältnis verschiebbar, insofern der Bedeutungsgehalt eines bestimmten Gegenstandes auf einen größeren Kontext verweist, wie etwa die mit Farbe bemalte Leinwand auf ein bestimmtes Genre, eine bestimmte Kunstform, ein bestimmtes Kultursystem, eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort etc. Dem wissenssoziologischen und kulturhermeneutischen Sachverhalt, dass einzelne Lebensäußerungen immer auf eine soziokulturelle Gemeinsamkeit bezogen sind, vor deren Hintergrund sie überhaupt nur produziert und verstanden werden können, entspricht somit die deutungstheoretische Differenz von Einzelbedeutung und Sinnhorizont einer geschichtlichkulturellen Gegebenheit. Anstelle des Sinnbegriffs wird man dabei auch den Dil­ theyschen Begriff des ‚Bedeutungszusammenhanges‘ heranziehen können, der im Aufbau und den Textfragmenten seines Umkreises wiederholt begegnet.101 100  Vgl. 101  Der

zu dieser Unterscheidung auch R. A. Makkreel: Dil­they, 427. Begriff des Bedeutungszusammenhanges kommt bei Dil­they in unterschiedlicher kategorialer Verwendung vor: zur Beschreibung des (auto-)biographischen Lebenszusammenhangs (vgl. VII 199), als Wechselbegriff zum Begriff des Kulturzusammenhanges (vgl. VII 75. 258) oder auch zur Bezeichnung von überindividuellen Teil- und Gesamtzusammenhängen der Geschichte (vgl. VII 258. 346).



3.  Die kulturelle Dimension von Erleben, Ausdruck und Verstehen

213

Der Begriff der Kultur bezeichnet sonach ein Ensemble unterschiedlicher bedeutungsvoller Teilzusammenhänge, die untereinander zu einem Bedeutungszusammenhang verbunden sind. Angesichts dessen ist es dann auch nicht unpassend, dass Dil­they – spätere texttheoretische Beschreibungen geschichtlichkultureller Wirklichkeit partiell vorwegnehmend  – an einer Stelle sagen kann: „Wir lesen in der Geschichte“ (VII 82). Dabei unterscheidet sich sein Kulturmodell von späteren textualistischen Konzeptionen dadurch, dass er – anders als viele ihrer Vertreter (Ricoeur, Foucault, Geertz) – stets sensibel dafür bleibt, dass alle Tatbestände, die sich als ‚bedeutungsvolle Zeichen‘ interpretieren lassen, ihre Eigenschaft, bedeutungsvoll zu sein, nicht nach Art eines dinglichen Gegenstandes besitzen, sondern immer das (Re-)Produkt menschlichen Handelns darstellen.102

102 Zur Kritik am Textualismus aus der Perspektive gegenwärtiger Kulturtheorien vgl. A. Reckwitz: 284–292. 297 (Foucault), 469–477 (Geertz), 585–592.

4.  Das Geschichtsverstehen In der Vorrede zur Einleitung hat Dil­they deutlich gemacht, dass er mittels seines erkenntnistheoretischen Unternehmens nicht zuletzt eine Grundlegung des historischen Verstehens zu geben sucht. Dies wird daran deutlich, dass er „die historische Schule – dies Wort in einem umfassenden Sinne genommen –“ zwar dafür würdigt, sie habe „die Emanzipation des geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft“ (I XV) vollbracht. Zugleich markiert er aber als entscheidendes Desiderat, dass derselben „eine philosophische Grundlegung [fehlte]“ (I XVI). Man kann freilich fragen, ob ihr in Droysens Historik eine solche Grundlegung nicht bereits zu Dil­theys Lebzeiten zugewachsen war. Und es mag überraschen, dass Droysen in der Einleitung mit keinem Wort erwähnt wird. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe.1 Klar ist aber, dass eine hinreichende erkenntnistheoretische Fundierung in Dil­theys Augen immer noch aussteht und dass er seine eigene erkenntnispsychologische Konzeption als geeignete Basis hierfür angesehen hat. Man wird nun nicht sagen können, dass Dil­they eine regelrechte Historik vorgelegt hätte. Es finden sich aber eine ganze Reihe von Überlegungen zum Verfahren der Geschichtswissenschaft, angesichts derer sich eine kohärente Theorie des historischen Verstehens rekonstruieren lässt. Darum wird es im Folgenden gehen. Ausgehend von den vielen in der Einleitung verstreuten Hinweisen zur Vorgehensweise des Geschichtsschreibers sei zunächst der konstruktive Grundzug herausgearbeitet, der Dil­they zufolge allem Geschichtsverstehen eignet (a.i). Sodann wird auf einen Sachverhalt einzugehen sein, der in der Dil­they-Rezeption bis heute vielfach übersehen wird: Auch auf dem Feld der Erkenntnis geschichtlich-gesellschaftlicher Tatbestände stellt er erklärende Zugänge in Rechnung. Diese bilden zwar kein Element des historischen Anschauens im engeren Sinne. Gleichwohl kann auch letzteres sich von ihnen nicht dispensieren, will es seinen Wissenschaftsanspruch nicht von vornherein unterlaufen (a.ii). Im Anschluss 1 Zum einen ist an einen Umstand zu erinnern, auf den Jörn Rüsen hingewiesen hat, und zwar dass Droysens Historik „den Zeitgenossen nur fragmentarisch bekannt [war], […] also nicht als ein wirksamer Faktor der von ihm selbst reflektierten Verfachlichung der Geschichtswissenschaft angesprochen werden kann“ (J. Rüsen: Theorien im Historismus, 101). Zum anderen ist aus späteren Bezugnahmen Dil­theys auf Droysen zu ersehen, dass ihm dessen geschichtstheoretisches Programm noch zu sehr einer idealistisch-philosophischen Geschichtsauffassung verpflichtet gewesen ist. Vgl. dazu J. Thielen: Wilhelm Dil­they und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens, 219 f.



4.  Das Geschichtsverstehen

215

soll es um Dil­theys subjektphilosophische Grundlegung der Geschichtswissenschaft gehen. Sie zeigt sich zunächst in Dil­theys These, die Biographik bilde das Fundament geschichtswissenschaftlicher Wirklichkeitsauffassung (a.iii). Ihr korrespondiert eine Theorie des biographischen Verstehens, die als historisierende Fortsetzung des Interpersonalitätsverstehens angesehen werden kann (a.iv). Bewegen wir uns bis hierher vornehmlich auf dem Boden letztgenannten Werks, so hat Dil­they in seiner Spätzeit jene subjektphilosophische Grundlegung nochmals vertieft. Dies tut er dadurch, dass er – dem analogischen Charakter des Fremdverstehens entsprechend –2 autobiographisches Verstehen als Ermöglichungsbedingung von Biographie herausstellt. Diesen Konnex aufzuweisen, ist das Ziel des nächsten Unterabschnittes (b.i). In den beiden darauffolgenden Abschnitten wird es um Dil­theys Theorie des biographischen Selbstverstehens als solches gehen (b.ii–iii). Vor dem Hintergrund der fundamentalen Bedeutung jenes Analogieverhältnisses soll abschließend der Bogen zum ersten Abschnitt zurückgeschlagen werden, indem nach Korrespondenzen zwischen der Struktur von Geschichtsverstehen überhaupt und der Struktur geschichtlicher Selbstanschauung gefragt wird (b.iv).

a.  Methodologische Grundlagen der Geschichtswissenschaft i.  Der konstruktive Charakter von Historie Die Ausbildung derjenigen Einstellung zur Welt des Menschen, die man später als historisches Bewusstsein bezeichnet hat, kommt innerhalb der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ihrer vollen Ausbildung. Im Zuge dessen wird die historische Wissenschaft nicht mehr lediglich in einer funktionalistischen Perspektive herangezogen,3 sondern dem Erfassen geschichtlicher Wirklichkeit wird nun ein eigenständiger Wert beigemessen, was sich dann auch institutionell in der Etablierung des eigenständigen Universitätsfaches ‚Geschichte‘ niederschlägt.4 Dil­ they stand dieser Entwicklung bekanntermaßen zutiefst positiv gegenüber und hat in ihr einen entscheidenden Fortschritt in der Ausbildung eines modernen Selbstbildes des Menschen von sich und seiner Geschichte gesehen. Ihm zufolge ist hier die Einsicht erlangt worden, dass das geschichtlich Besondere weder als bloßer Unterfall eines Allgemeinen noch lediglich als Durchgangsstadium eines teleologischen Geschichtsprozesses betrachtet werden könne, sondern immer 2  Siehe

dazu oben den Abschnitt III.2.b. denken wäre hierbei etwa an die Konzeption der Historie als bloße Hilfswissenschaft für Jurisprudenz und Theologie, als Instrument der Staats- und Reichshistoriographie oder als unselbständiges Moment einer philosophischen Konstruktion von Geschichte (vgl. G. Scholtz: Geschichte/III. Der G.‑Begriff vom Humanismus bis zur Aufklärung). 4 Vgl. J. Rüsen: Historismus als Erkenntnisprinzip und Wissensform, 22; ders.: Von der Aufklärung zum Historismus, 29. 3 Zu

216

III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

auch in seinem jeweiligen Selbstwert zu würdigen sei.5 Er macht nun allerdings darauf aufmerksam, dass das historische Bewusstsein in seiner Hingebung an die geschichtlichen Gegebenheiten mitunter Gefahr laufe, die subjektive Bedingtheit und mithin den konstruktiven Charakter seines eigenen Vorgehens unterzubelichten. Insbesondere bei Ranke und dessen methodischem Ideal einer ‚objektiven Geschichte‘ sieht er dieses Problem gegeben. In unmissverständlicher Anspielung auf Letzteren heißt es bereits in seinen frühen erkenntnispsychologischen Ausarbeitungen an einer Stelle: „wenn jemand sich wünscht, er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie sind,6 so würde mit dieser Vernichtung der Antrieb wegfallen, überhaupt zu sehen“ (XIX 161, Hvh. v. Verf.).7 Sosehr Dil­they das Bemühen um eine Würdigung des vergangenen Lebens in dessen Eigenwert gutheißt, betont er doch in kritischer Einstellung, dass Geschichtsverstehen alles andere als eine unmittelbare Auffassung des Vergangenen, „wie es eigentlich gewesen“,8 darstellt.9 Gegenüber Dil­theys  – wahrscheinlich durch Droysens Urteil bedingter –10 etwas vorschneller Verurteilung ist allerdings daran zu erinnern, dass Ranke die Forderung der Selbstauslöschung lediglich als ‚Ideal‘ postuliert hatte. Die Konstruktivität allen Geschichtsverstehens arbeitet Dil­they vor allem in drei Hinsichten heraus. Der erste Punkt betrifft die Problematik, dass sich schon das Bezugnehmen auf bestimmte geschichtliche Sachverhalte als solche als hochgradig konstruktiv erweist (1). Der zweite Punkt behandelt den Umstand, dass der Gehalt dessen, was es historisch zu verstehen gilt, nicht einfach unmittelbar abgelesen werden kann, sondern nur vermittels kritisch-hermeneutischen Quellenstudiums zu erfolgen vermag (2). Im Anschluss daran soll schließlich die von Dil­they nachdrücklich herausgearbeitete Nähe zwischen Historiographie und künstlerisch-poetischer Wirklichkeitsbeschreibung zum Thema gemacht werden (3).

5  „Die Auffassung des Singularen, Individualen bildet in ihnen [sc. den Geisteswissenschaften] […] so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten“ (I 26). Für jene Auffassung stehen die historischen Geisteswissenschaften. 6  Die entsprechende Äußerung bei Rankes lautet: „Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“ (L. v. Ranke: Englische Geschichte, 103). 7  Vgl. auch V 281. 8  So die originale Formulierung Rankes (vgl. L. v. Ranke: Geschichte der romanischen und germanischen Völker, VII). 9  Diese Reserve Dil­theys gegenüber Ranke würde ich zu bedenken geben angesichts Michael Murrmann-Kahls Identifikation: „Dil­they knüpft […] am Objektivitätsideal Rankes von der Selbstvergessenheit des erkennenden Subjekts an“ (M. Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte, 144). 10  Droysen hatte Ranke eine Unterbelichtung des subjektiven Verstehensmomentes vorgeworfen, das Droysen zufolge bereits bei der Feststellung dessen in Anschlag zu bringen ist, was in der Gegenwart überhaupt als Quelle des vergangenen Lebens angesehen werden kann. Vgl. dazu: U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 194–203.



4.  Das Geschichtsverstehen

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(1) Der konstruktive Umgang des Historikers mit dem geschichtlichen Gegenstand zeigt sich Dil­they zufolge nicht erst in dessen kritisch-hermeneutischer Erschließung der geschichtlichen Quellen, sondern ist bereits eine Stufe darunter anzusetzen. Denn schon die Identifizierung derjenigen historischen Objekte, die für eine bestimmte Fragestellung als relevant eingestuft werden, verdankt sich der individuellen Art des Zugriffs durch den Geschichtsschreiber.11 Dieser Sachverhalt erwächst Dil­they zufolge aus einer basalen Eigenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit. Für sich genommen stellt letztere nämlich ein „unermeßliche[s] Ganze[s]“ (I 29)12 dar, das sich aus einer nicht zu überschauenden Vielzahl unterschiedlicher Zustände und Prozesse zusammensetzt. Angesichts dessen kann Dil­they geradezu vom „Rätsel der geschichtlichen Welt“ (I  XVI) sprechen. Aufgrund ihrer immensen Komplexität kann sie für den Historiker niemals als solche zum Gegenstand der Betrachtung werden. Vielmehr muss er notwendig eine „Auswahl“ (I 28) dessen treffen, was überhaupt erfasst und dargestellt werden soll. Diese Selektion vollzieht sich in mehreren Stufen: Zunächst muss eine Leitperspektive entwickelt werden, unter der an das prinzipiell unendliche Material herangetreten wird. Diese kann von ganz unterschiedlichen Einstellungen bedingt sein: etwa durch Orientierungsbedürfnisse im Blick auf gegenwärtige soziale und kulturelle Zustände,13 die Mobilisierung ethisch-politischer Kräfte in der Gegenwart,14 den Wunsch nach Vergewisserung der Kontinuität mit vergangenen Zeiten,15 die Frage nach dem Wesen des Menschen16 oder auch schlicht den Reiz der Begegnung mit fremdem Leben.17 Sodann „faßt“ die „Geschichtschrei11  Dil­they differenziert zunächst nicht ausdrücklich zwischen Geschichtswissenschaft, geschichtswissenschaftlicher Forschung und Geschichtsschreibung. Dies hat seinen Grund darin, dass sich diese Unterscheidungshinsichten in dieser Zeit überhaupt erst herauszubilden beginnen (vgl. J. Rüsen: Von der Aufklärung zum Historismus). Erst in späten handschriftlichen Ergänzungen zu seinem Hermeneutik-Aufsatz differenziert er einmal klar zwischen „methodischen Tätigkeiten“ und „geschichtlicher Darstellung“ (V 337). 12  Vgl. auch in Dil­theys Psychologievorlesung von 1885/86 XXVI 253. 13  Im Blick auf die soziokulturellen Verwerfungen und Gestaltungsfragen, die der modernen Gesellschaft durch die Französische Revolution entstanden sind, heißt es in der Einleitung: „Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden“ (I 4, Hvh. v. Verf.). 14  In einer frühen Rezension zu Wilhelm Baurs Das Leben des Freiherrn vom Stein heißt es, „auch ethisch soll die Geschichte wirken, indem sie Begeisterung für die Ideen erweckt, die das Individuum aus seiner Vereinzelung zu tätigen Gliedern größerer Organisationen erheben und ungeordnete Massen zu Nationen bilden und in Staaten vereinigen“ (XVI 91). Dieser – wohl durch die borussische Geschichtsschule beeinflusste – Aspekt tritt bei Dil­they später dann aber zurück. 15  Vgl. in der Einleitung zur ersten Auflage von Dil­theys Schleiermacher-Biographie: XII, XXXV, Anm. 1. 16  „Alle letzten Fragen nach dem Wert der Geschichte haben schließlich ihre Lösung darin, daß der Mensch in ihr sich selbst erkennt“ (VII 250). 17  „So kann der von innen determinierte Mensch in der Imagination viele andere Existen-

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

bung […] einen einzelnen Teil dieses unermeßlichen Ganzen zusammen, der des Interesses unter irgendeinem Gesichtspunkt wert erscheint“ (I 29). Damit kommt es zur Auswahl eines zu bearbeitenden historischen Gegenstandes, der freilich in ganz unterschiedlichen Sachverhalten gefunden werden kann, sei es in einem besonderen Geschichtsereignis, einem besonderen Geschichtsverlauf, einer besonderen Epoche oder auch einer bestimmten Person. Schließlich wird aber auch das solcherart ausgesonderte Geschichtsobjekt nicht in seiner realen Ganzheit betrachtet, sondern nur diejenigen Aspekte, die sich im Blick auf die fragliche Sache als wesentlich erweisen. Deshalb liegt – wie Dil­they dann im Aufbau sagt – auch „in der Einheit eines Gegenstandes, der das Thema des Historikers bildet, ein Prinzip der Auswahl, das in der Aufgabe der Erfassung gerade dieses Gegenstandes gegeben ist“ (VII 164 f.). Dil­they ist sich dabei völlig im Klaren darüber, dass die historische Stoffauswahl insgesamt analytisch-abstraktive Gedankenoperationen impliziert.18 Der einzelne Geschichtsschreiber zeige hierfür allerdings häufig kein Bewusstsein,19 „da aus einer solchen Richtung des Blickes schon die Auswahl der Züge der Quellen entspringt; aber wer die wirkliche Leistung desselben mit dem ganzen Tatbestand der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vergleicht, muß es anerkennen“ (I 28). Im Spätwerk hat Dil­they die Auswahlproblematik nochmals mithilfe des Bedeutungsbegriffs näher zu bestimmen gesucht. Im hiesigen Zusammenhang liegt der systematische Ansatzpunkt seiner Einführung in dem eben geschilderten Umstand, dass „[d]er Historiker […] nicht von einem Punkt aus dem Nexus der Begebenheiten nach allen Seiten ins Endlose nach[geht]“ (VII 164), sondern aus der prinzipiell unendlichen Wirklichkeit sowohl einen Gegenstand als auch die für diesen relevanten Züge auswählt. Wie gesehen, weist alle Auswahl eine evaluative Dimension auf, denn Gegenstandsselektion gehorcht der Frage, was für den betreffenden Leitgesichtspunkt relevant ist und was nicht; wobei die Thematisierung des betreffenden Gegenstands dann nochmals einer Auswahl unterzogen wird, die wiederum zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften desselben unterscheidet. Darüber hinaus können Sachverhalte in Verbindung gebracht werden, die chronologisch wie ursächlich nicht in einem direkten Verhältnis miteinander stehen, so wie umgekehrt von unmittelbaren Zeit- und Kausalzusammenhängen abgesehen werden kann, insofern als sie nicht entscheidend sind für die Erfassung dessen, was es mit dem fraglichen Gegenstand auf sich hat. Nimmt man beide Aspekte zusammen, so „macht sich nun […] geltend, daß die zen erleben. Vor dem durch die Umstände Beschränkten tun sich fremde Schönheiten der Welt auf und Gegenden des Lebens, die er nie erreichen kann“ (VII 216). 18  Deshalb kann auch der Zweck der „Geisteswissenschaften, das Singulare, Individuale der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen […] nur vermittels der Kunstgriffe des Denkens, vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden“ (I 27). 19 „Ohne es zu wollen, ja oft ohne es zu wissen, vollzieht auch er [sc. der Geschichtsschreiber] beständig eine Abstraktion“ (I 91, Hvh. v. Verf.).



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Aussonderung nur dadurch möglich ist, daß eine Bedeutungseinheit Veränderungsreihen verbindet“ (VII 270, Hvh. v. Verf.). Ihre Gegenstände sind der Geschichtswissenschaft nicht im Sinne ontologischer Gegebenheiten zugänglich, sondern werden von ihr letztlich auf der Ebene von Bedeutung zur Auffassung gebracht. (2) Bereits im Zuge der Aufklärungshistorie hatte sich die geschichtswissenschaftliche Grundeinsicht Bahn gebrochen, dass der Blick des Historikers niemals direkt auf die Vergangenheit als solche gerichtet sein kann, sondern nur vermittels von in der Gegenwart des Geschichtswissenschaftlers vorfindlichen Sachverhalten aus zu erhellen ist, die als Überreste des vergangenen Lebens und damit als Zeugnisse desselben verstanden werden können. Die entscheidenden Schlagwörter sind Quellenkritik und Quelleninterpretation. Der damit erreichte Standpunkt bezeichnet auch für Dil­they die selbstverständliche Grundlage alles historischen Arbeitens. So hat er etwa in der Einleitung die „kritische[ ] Sichtung der Überlieferung, Feststellung der Tatsachen, Sammlung derselben“ geradezu als „erste umfassende Arbeit“ (I 25) des Geschichtsschreibers hervorgehoben. Und in einer späteren Schrift zur Geschichte der Historiographie heißt es klar: „Sichere Geschichtsschreibung beginnt erst mit einer Quellenkritik, welche aus den Überresten der Handlung selber und den Berichten darüber den wirklichen Tatbestand feststellt“ (III 219).20 Dil­they hat die mit dieser Methode verbundenen Einzelschritte nicht weiter ausgeführt, sondern sich auf die Feststellung ihrer prinzipiellen Bedeutung beschränkt. Das dürfte vor allem damit zu erklären sein, dass er das quellenkritische Verfahren zu seiner Zeit als eine Selbstverständlichkeit erachtet hat, die er unbeschadet der herausragenden Leistungen von Niebuhr und Ranke auf diesem Gebiet bereits in der „kritischen Tätigkeit der Philologen und Theologen […] im 17. Jahrhundert“ (ebd.) grundgelegt sieht. Die „Kritik der Quellen“ (III 271) ist nun aber für sich genommen keineswegs ausreichend. Denn nicht nur muss der in den Quellen sedimentierte Gehalt hermeneutisch gehoben werden. Darüber hinaus müssen die in der Gegenwart des Forschers gegebenen Überreste der Vergangenheit überhaupt erst einmal als Quellen vergangenen Lebens verstanden werden. Deshalb beginnt „wahre Geschichtschreibung erst mit einer Quelleninterpretation, welche diesen Tatbestand als Äußerung menschlichen Innenlebens zu verstehen vermag“ (III 219). In einem Manuskript aus dem Umfeld des Aufbaus heißt es parallel dazu: Alle Arbeit des Historikers „ist Auslegung der Reste, die zurückgeblieben sind“ (VII 279). Sowohl die kritische Konstitution der Quellen als auch deren hermeneutische Erschließung – die beide einander nicht starr gegenüberstehen, sondern wechselseitig aufeinander verweisen – stellen Dil­they zufolge nun aber alles andere als mechanisch ablaufende und gänzlich methodisierbare Verfahren dar, sondern sind maßgeblich von der subjektiven Urteilskraft abhängig, die ihrerseits sowohl von 20  Mit der Rede vom ‚Überrest‘ zeigt Dil­they wiederum seine Beeinflussung durch Droysen, von dem dieser Begriff stammt (vgl. J. G. Droysen: Grundriß der Historik, 397).

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einem gewissen Talent als auch vom jeweils errungenen Wissens- und Erfahrungsumfang bedingt ist. Der Begriff des Geschichtsverstehens ist damit aber noch nicht erschöpft. Denn in der eben beschriebenen Weise steht er zunächst nur für die Erarbeitung der einzelnen Quellenbestände. Wenn Dil­they aber, wie eingangs gesehen, die Auffassungsleistung der Geschichtswissenschaft insgesamt als ‚Verstehen‘ apostrophieren kann, so kann letzterer Begriff in der kritisch-hermeneutischen Erschließung der Quellen allein nicht aufgehen. Denn die Erarbeitung historischer Zustands- und Verlaufsbilder ist ja nicht deckungsgleich mit der philologischen Erschließung einzelner Dokumente – so sehr diese eine wesentliche Grundlage von jener bildet. Inwiefern ist es aber sinnvoll, auch im Blick auf jene Einzelnes übergreifenden Gesamtbilder von einem durch den Historiker erbrachten ‚Verständnis‘ zu sprechen? Diese Frage leitet zum folgenden Punkt über. (3) Der subjektiv-konstruktive Charakter des Geschichtsverstehens lässt sich Dil­ they zufolge nämlich auch anhand einer dritten Problemdimension aufweisen, die in seinen Augen einen wesentlichen Bestandteil desselben bildet. So stellt er in der Einleitung an einer Stelle fest, die Geschichtsschreibung sei „eine Kunst“ (I 40). Dabei ist ‚Kunst‘ hier nicht im aristotelischen Sinne von ‚techne‘ zu verstehen, d. h. im Sinne eines regelgeleiteten und durch Übung geschulten Verfahrens. Solche Aspekte spielen zwar auch für Dil­they eine Rolle.21 Im hiesigen Zusammenhang aber stellt der fragliche Begriff auf etwas anderes ab. Es geht um ‚Kunst‘ im engeren, ästhetisch-dichterischen Sinne. Denn Dil­they behauptet nichts anderes, als dass Historiographie und künstlerische Produktion in bestimmter Hinsicht eine tiefgreifende Gemeinsamkeit aufweisen.22 Das tertium comparationis besteht darin, dass beide Auffassungs- und Darstellungsweisen nicht ohne ein spezifisches Vermögen bewussten Lebens zur Geltung kommen, nämlich die produktive Einbildungskraft. So ist die Geschichtsschreibung darum „eine Kunst, weil in ihr, wie in der Phantasie des Künstlers“ (I 40), Wirklichkeit zur Anschauung gelangt. Dil­they hat vor allem zweierlei vor Augen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine wesentliche Funktion der Geschichtsschreibung für ihn darin zu erblicken sei, dass der „Geschichtschreiber“ aus „seinen Quellen […] Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will“ (I 32). Das Ziel der Historiographie besteht folglich darin, konkrete Geschichtsbilder zu schaffen, angesichts derer ein betreffender Vergangenheitsausschnitt für den gegenwärtigen Betrachter innerlich nachvollziehbar wird. Aus dem empirischen Datenmaterial, das dem Historiker qua – eigenem oder fremdem – Quellenstu21  So sagt er etwa an einer Stelle, dass er die „Wirklichkeit sehen lehren [möchte] – eine Kunst, die lange geübt sein will“ (I 42). 22  Rudolf Makkreel hat diesbezüglich von einer „Ästhetik der Geschichte“ (R. A. Makkreel: Dil­they, 16) gesprochen. Vgl. auch ders.: Kant, Dil­they, and the idea of a Critique of Historical Judgment.



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dium vorliegt, kann ein solches anschauliches Bild aber nicht direkt entnommen werden. Denn jenes Material stellt zunächst ja nichts anderes als eine bloße Ansammlung überlieferter Einzeltatbestände dar. Letztere können dabei überaus disparat und mitunter geradezu gegensätzlich verfasst sein, gehören unterschiedlichen Teilzusammenhängen der geschichtlich-kulturellen Gesamtwirklichkeit an und sind im Blick auf die in ihnen zum Ausdruck kommende Geschichtsrealität niemals vollständig.23 Der Geschichtsschreiber hat deshalb die Aufgabe, das durch Identifikation, Sammlung und Sicherung von Daten gewonnene Material nicht einfach als solches aufzufassen und zu präsentieren, sondern es gleichsam zu lebendigen Ganzheiten zu vereinigen, in denen sich die Vergangenheit vor dem inneren Auge des Betrachters erhebt. Dazu gehört nicht nur die Darstellung geschichtlicher Einzelzustände, sondern insbesondere auch die Produktion von Verlaufsbildern, in denen singulare Geschichtsmomente zu biographischen oder interbiographischen Handlungen – im narrativen Sinne des Wortes – verknüpft werden. Genau an diesem Punkt nun kommt bei Dil­they die Phantasie ins Spiel. Denn da sich eine solche Anschauung angesichts des Charakters des empirischen Materials aus diesem nicht ableiten lässt, vermag der Historiograph jene Datenfetzen nur unter Zuhilfenahme seiner produktiven Einbildungskraft in die geforderte Einheit zu überführen. So „ergießt“ die „Macht unserer Imagination […] einen Schimmer von Leben und Innerlichkeit“ (I 36) über die überlieferten Tatbestände.24 „[E]rst wenn der geschichtliche Fortgang an den tiefsten Punkten, an welchen ein Fortrücken stattfindet, von der Phantasie nacherlebt wird, entsteht ein gründliches Verständnis der geschichtlichen Entwicklung“ (I 254). Jene imaginative Leistung wird in analoger Weise dann auch vom Rezipienten historiographischer Werke gefordert. Denn die geschichtliche Darstellung kann ja nur im Durchgang durch ihre einzelnen Teile zur Auffassung gelangen, so dass auch aufseiten des Lesers das vom Geschichtsschreiber intendierte Gesamtbild erst dadurch zum Aufbau gelangt, dass es von jenem mithilfe eines phantasiegestützten Nacherlebens reproduziert wird. In dieser rezeptionsästhetischen Hinsicht zeigt sich damit zugleich eine weitere Parallele zwischen Kunst und Historiographie. In einem späten Fragment heißt es denn auch: „Die Erzählung des Romanschriftstellers oder Geschichtschreibers, die dem historischen Verlauf nachgeht, erwirkt in uns ein Nacherleben. Der Triumph des Nacherlebens ist, daß in ihm die Fragmente eines Verlaufs so ergänzt werden, daß wir eine Kontinuität vor uns zu haben glauben“ (VII 215).

23  Vgl. zu dieser Aufzählung – mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Dil­they – U. Barth: Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie, 338. 24  Das Zitat entstammt einem Kontext, in dem Dil­they die Betrachtung der Natur und die Betrachtung gesellschaftlicher Einzelzustände einander gegenüberstellt. Der Sache nach dürfte es aber berechtigt sein, diese Äußerung auch für den historiographietheoretischen Zusammenhang heranzuziehen.

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Damit ist die Funktion, die Dil­they der Phantasie im Aufbau historiographischen Erkennens zuweist, jedoch noch nicht erschöpft. So heißt es weiterhin: Die Geschichtsschreibung sei darum „eine Kunst, weil in ihr, wie in der Phantasie des Künstlers selber, das Allgemeine in dem Besonderen angeschaut […] wird“ (I 40). Wie Dil­they sich jenes Anschauen denkt, hat er nicht näher ausgeführt. Durch Andeutungen hat er aber zu verstehen gegeben, dass er dabei nicht zuletzt die Geschichtskonzeption Rankes vor Augen hat. Ranke hat dem Geschichtsschreiber bekanntlich25 die Aufgabe zugewiesen, Individualität und Universalität nicht voneinander gesondert, sondern in ihrer inneren Einheit zu betrachten. Seinen Grund hat dies in Rankes Überzeugung, dass alles geschichtlich Wirkliche immer durch eine Verschränkung von Besonderem und Allgemeinen ausgezeichnet sei, weshalb diesem Umstand auch auf der historiographischen Darstellungsebene Rechnung getragen werden müsse. Die Geschichte der Völker und Staaten war dann sein bevorzugter Gegenstand, da sich in ihr jene innere Einheit bevorzugt studieren lasse. Die unterschiedlichen Staaten und Völker stehen nun aber nicht bloß in einem äußeren Zusammenhang nach Art eines bloßen Aggregats, sondern sind aufgrund ihrer lebendigen Wechselwirkung zu einem allgemeinen Ganzen innerlich verbunden, woraus jedem Besonderen sein allgemeiner Kontext erwächst. Letzterer ist jedoch prinzipiell unendlich, weswegen jede konkrete geschichtliche Anschauung Ranke zufolge immer auch den Bezug auf eine letzte Allgemeinheitsvorstellung impliziert. Diese Allgemeinheit kann aber nicht in begrifflichen Formeln konzipiert werden, aus denen dann etwa das Einzelne deduziert werden könnte, sondern das Einzelne wird von Ranke als ein ‚Real-Geistiges‘ begriffen, dessen originale Hervorbringungen niemals restlos ableitbar. Für die Erfassung des Allgemeinen bedeutet das, dass dieses nicht als ein fertiges Begriffsverhältnis vorangestellt werden, sondern nur in und mit der Betrachtung des Einzelnen und dessen geschichtlichem Verlauf aufgefunden werden kann  – wobei letztere von einem ‚Mitgefühl des Alls‘ geleitet werde. In Form der Geschichtserzählung findet diese anschauliche Verbindung von Individuellem und Allgemeinen dann ihren darstellungsmäßigen Niederschlag. Wenn Dil­they in der Einleitung nun festhält, die „Kunst des Geschichtschreibers“ bestehe darin, „das Allgemeine des Zusammenhangs menschlicher Dinge im Besonderen zu schauen“ (I 90), wobei das „Band zwischen dem Singularen und Allgemeinen […] in der genialen Anschauung des Geschichtschreibers liegt“ (I 92), die dieser dann in „seine[r] Erzählung“ (I 32) zur Darstellung bringt, so ist es angesichts des eben Ausgeführten mehr als wahrscheinlich, dass er sich hierbei stillschweigend an Ranke orientiert. In seinem Spätwerk hat er der geschichtstheoretischen Einsicht in den inneren Nexus von

25 Für die folgende Ranke-Rekonstruktion vgl. U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, 171–193.



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geschichtlicher Individualität und Universalität mithilfe bedeutungstheoretischer Reflexionen eine kategoriale Grundlage verschafft.26 Die Pointe, auf die es in unserem Zusammenhang ankommt, besteht vor allem darin, dass Dil­they es nicht bei der Konstatierung jenes Nexus belassen hat, sondern nach der Ermöglichungsbedingung für dessen Aufbau innerhalb des subjektiven Bewusstseinshaushalts fragt. Und Dil­they zufolge zeigt sich auch hier wieder eine Analogie zwischen der Anschauungsweise von Künstler und Historiker. Denn wie jener ist auch dieser auf eine geistige Operation angewiesen, derer er für die Erfassung und Darstellung seines Gegenstandes notwendig bedarf, die sich aber der Kontrolle des Verstandes entzieht und sich daher auch nicht restlos methodisieren lässt – worin man quasi Dil­theys Vorwegnahme der Frage nach dem Verhältnis von historischer ‚Wahrheit und Methode‘ sehen könnte.27 Die Grenze der Analogie besteht freilich darin, dass der dichterische Künstler nicht durch die methodisch kontrollierte Erarbeitung von Überlieferungsquellen gebunden ist, die die Produktion seiner konkreten Bilder einschränken würde. Mit der Beobachtung der Nähe zwischen Kunst und Geschichtsschreibung erweist sich Dil­ they als äußerst aktuell.28 Ziehen wir an dieser Stelle ein Fazit. Das Ausgangsproblem hatte darin bestanden, dass die mit dem Aufkommen des geschichtlichen Bewusstseins geforderte Hingabe des Historikers an das vergangene Leben in eine objektivistische Grundhaltung umzuschlagen drohte – auch wenn Ranke seine Forderung nach Selbstauslöschung und Betrachtung der Dinge, wie sie waren, lediglich als Ideal aufgestellt hatte. Dieser Unterlaufung des kritischen Niveaus sucht Dil­they vorzubeugen, indem er darauf aufmerksam macht, in welchen wesentlichen Hinsichten sich jedes historische Verstehen als das Ergebnis eines konstruktiven Aktes erweist. Geschichtliche Anschauung ist keine rein objektive Widergabe dessen, was gewesen ist, sondern erweist sich als Produkt des forschungs- und darstellungsbezogenen Bearbeitungsprozesses konkreter Subjekte. So sehr das vergangene Leben nicht mehr – wie etwa im Fall der pragmatischen Geschichtsschreibung  – bloß als Durchgangsstadium einer auf die Gegenwart des Historikers 26  So gelte es zum einen „in der ganzen Breite der Wirklichkeit den Begriff der Bedeutung anzuwenden“ (VII 255). Dieser Begriff stehe zum anderen aber für die Bezeichnung eines „Verhältnis[ses] von Teilen des Lebens zum Ganzen“ (VII 233). Geschichtlich Singulares kann folglich nur in Bezug auf ein Ganzes verstanden werden, als dessen Teil es fungiert. Angesichts dessen aber, dass jede Ganzheit wiederum auf ein jeweils höheres Ganzes verweist, ist allem Geschichtsverstehen von vornherein ein Zug ins Universale eigen. Diesen Zusammenhang hat in jüngerer Zeit nachdrücklich hervorgehoben: W. Pannenberg: Über historische und theologische Hermeneutik, 141 ff. 27  Gadamer ist dieser Zusammenhang in Dil­theys Geschichtsdenken jedoch vollkommen entgangen. 28  So hat etwa Arthur C. Dantos die „historische[ ] Imagination“ (A. C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, 198) als eigentliche Grundlage des kreativen Prozesses der Geschichtsschreibung hervorgehoben. Ebenso könnte ein Bezug zu Hayden Whites Analysen zur ‚historischen Einbildungskraft‘ hergestellt werden (vgl. H. White: Metahistory).

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zielenden Entwicklung aufgefasst und an dieser Gegenwart zugleich gemessen werden, sondern gerade auch in seinem Eigenwert zur Geltung kommen soll, so sehr erweist sich jede Inblicknahme der Vergangenheit unhintergehbar durch die Individualität und konkrete Lebenssituation des Historikers bedingt.29 Geschichte wird in Dil­theys Augen folglich niemals einfach vorgefunden, sondern eröffnet und erschließt sich dem Betrachter immer erst vermöge einer Vielzahl interpretativer Erkenntnisleistungen.30 ii.  Verstehen und Erklären von Geschichte Im Rahmen ihrer voranschreitenden Ausbildung als enzyklopädisch und institutionell eigenständige Disziplin hatte sich die historische Wissenschaft im 19. Jahrhundert nicht zuletzt auch von allen Versuchen philosophischer Großkonstruktionen der Geschichte weithin zu lösen versucht – so sehr sie von letzteren freilich nicht unbeeinflusst blieb. Infolge dieser Reserve gegenüber geschichtsphilosophischen Verfahren hatte sich die Geschichtswissenschaft vielfach von jeder theoretischen Befassung der geschichtlich-kulturellen Welt bewusst distanziert. Besonders deutlich zeigt sich dies etwa bei Leopold von Ranke, der ausdrücklich festgehalten hatte, dass es „aus der allgemeinen Theorie […] keinen Weg zur Anschauung des Besonderen“31 gebe. Später wurde diese Haltung im sogenannten Methodenstreit für die darauffolgenden Dezennien wirkmächtig festgeschrieben. Dil­they hat die Emanzipation der Historie als eine eigenständige Betrachtungsart der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt und als eine selbständige Disziplin durchaus begrüßt. Darüber hinaus hat er – wie gleich zu zeigen sein wird – eine prinzipielle Differenzierung zwischen Geschichtswissenschaft und systematischen Geisteswissenschaften in Rechnung gestellt. Unbeschadet dessen hat er aber in dem programmatischen Theorieverzicht weiter Teile der zeitgenössischen Historikerzunft zugleich ein nicht unerhebliches Problem gesehen. Denn so sehr ‚Geschichtsphilosophie‘ angesichts des immensen Erfahrungsaufschwungs der Wissenschaften auch in Dil­theys Augen keinen wissenschaftlich gangbaren Weg mehr darstellt, so sehr dringt er zugleich darauf, Historie und Theorie nicht nach Art eines starren Gegensatzes aufzufassen. Vielmehr müsse diese Differenzierung 29 Im Aufbau hat Dil­ they dies ganz klar ausgesprochen: Die „Historiker […] unterwerfen geschichtliche Personen, Massenbewegungen, Richtungen ihrem Urteil, und dieses ist von ihrer Individualität, der Nation, der sie angehören, der Zeit in der sie leben, bedingt. Selbst wo sie voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis bestimmt“ (VII 137). 30  Stephan Ottos Feststellung, Dil­ they gehe davon aus, dass Geschichte einfach gegeben sei, erscheint vor diesem Hintergrund als zu scharf (vgl. S. Otto: Rekonstruktion der Geschichte, 15). 31  L. v. Ranke: Politisches Gespräch, 325. An anderer Stelle heißt es: „Menschliche Dinge kennen zu lernen, gibt es zwei Wege: den der Erkenntnis des Einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte“, ders.: Vorlesungseinleitungen, 87.



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auf eine solche Weise begriffen werden, dass auch die konstruktiven Berührungspunkte beider Seiten hervortreten. Für die Geschichtswissenschaft hat dies zur Konsequenz, dass sie sich nicht unabhängig von den auf dem Feld des theoretischen Erkennens gewonnenen Grundeinsichten zu betätigen vermag, wenn sie nicht Gefahr laufen will, ihren wissenschaftlichen Anspruch von vornherein zu unterlaufen. Um deutlich zu machen, was ihm hierbei vor Augen steht, soll im Folgenden zunächst umrissen werden, wie er sich die Differenz von Geschichtswissenschaft auf der einen und theoretischen Disziplinen auf der anderen Seite zurecht legt (1). Im Anschluss daran soll die Funktion der letzteren für die Historie ins Auge gefasst werden (2). (1) Dil­they kommt wiederholt auf die fragliche Unterscheidung zu sprechen. So findet sich in der Einleitung die Differenz von „geschichtlicher Wissenschaft“ (I XVI) und den „theoretischen Einzelwissenschaften“ (I 66) ausgesprochen. In den Beiträgen zum Studium wird eine analoge Differenzierung zwischen „Geschichtswissenschaft“ und „systematischen Geisteswissenschaften“ (V 257) vorgenommen.32 Dil­they entwickelt diese Unterscheidung, indem er zwei unterschiedliche Differenzierungshinsichten miteinander verbindet, deren eine die Art der jeweiligen Heuristik und deren andere den Status des jeweils zu formulierenden Wissens betrifft. Zunächst zu erstgenannter Hinsicht. Die Geschichtswissenschaft ist in ihrer Stoffauswahl prinzipiell allen Gegenständen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber offen. Zwar fokussiert sie in konkreter Forschung und Darstellung bestimmte Zeiten und Sachverhalte. Als Gesamtdisziplin aber kann sie sich jedem möglichen Sachzusammenhang zuwenden. Dies ist bei den theoretischen bzw. systematischen Einzelwissenschaften anders. Denn für diese ist es konstitutiv, jeweils eine bestimmte sachliche Leitperspektive zu besitzen, von der her sich ihre spezifische Bezugnahme auf die Wirklichkeit ergibt. Den unterschiedlichen Grundperspektiven korrespondiert dabei eine bereits innerhalb des sozialen und kulturellen Lebens enthaltene Strukturierung in unterschiedliche, relativ gleichbleibende Teilbereiche, die sich aufgrund dieser ihrer Beständigkeit als Systeme betrachten lassen (Staat, Recht, Wirtschaft, Religion etc.).33 Jede theoretische Einzelwissenschaft ist also dadurch ausgezeichnet, einen bestimmten Teilzusammenhang in den Blick zu nehmen und dabei von anderen möglichen Systemperspektiven abzusehen. Darin besteht ihr grundlegend abstraktiver Charakter. Das Theoretische an den theoretischen Wissenschaften tritt aber erst dann vollkommen in den Blick, wenn man beachtet, was für eine Art Wissen von ihnen produziert wird – womit wir zur zweiten Differenzierungshinsicht kommen. Aufgabe des Geschichtsschreibers ist es, Tatbestände in ihrer Singularität 32  Vgl.

auch im Aufbau, VII 141–146. 160 ff. dazu auch oben den Abschnitt III.3.a.

33  Siehe

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zu würdigen, aufzufassen und zur Darstellung zu bringen.34 Der im Rahmen einer theoretischen Einzelwissenschaft sich bewegende Forscher nimmt dem gegenüber zwar ebenfalls beim historischen Material seinen Ausgang,35 betrachtet dieses nun aber nicht mit dem Ziel, historische Individualitäten zu rekonstruieren, sondern stellt sich die Aufgabe, im Blick auf das ihm vorliegende Material „das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit“ (I 26) zu entwickeln, wofür er sich eines abstraktiven, vergleichenden und induktiven Verfahrens bedient. Hierher gehört für Dil­they auch die Aufstellung von Wesensbegriffen.36 Insofern die theoretischen Einzelwissenschaften solche Strukturformen theoretisch zu erfassen suchen, werden sie von Dil­they auch als „Hilfsmittel“ zur „Erklärung […] der Geschichte“ (I 94) bezeichnet. Die Differenz von ‚Verstehen und Erklären‘ wird von Dil­they demnach nicht etwa nur herangezogen, um Geistes- und Naturwissenschaften auseinander zu halten, sondern der Erklärungsbegriff kann von ihm auch für die Geisteswissenschaften selbst in Anschlag gebracht werden.37 Dies ist dann übrigens auch der Grund dafür, dass Dil­they der Windelband-Rickertschen Kategorisierung aller Geistes- und Kulturwissenschaften als ausschließlich idiographische Wissenschaften ablehnend gegenüber stand.38 Dil­they kann mitunter sogar so weit gehen, das letzte Erkenntnisziel der theoretischen Wissenschaften in der Aufstellung von gesetzmäßigen Zusammenhängen innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erblicken.39 34  Vgl. in der Einleitung, I 26; dazu auch in handschriftlichen Zusätzen zum Hermeneutikaufsatz, V 337. 35 Vgl. I 26. 29 passim. 36  Paradigmatisch durchgeführt im Wesen. 37  Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang der Ästhetik als „Modell der Geisteswissenschaften“ (R. A. Makkreel: Dil­they, 118) bzw. als geisteswissenschaftliche „Modellwissenschaft“ (M. Jung: Der bewusste Ausdruck, 167, Anm. 158). In seiner Poetik hatte Dil­they das Programm formuliert, dass „hier“ – also im Bereich der ästhetisch-poetologischen Theoriebildung – „vielleicht […] es zuerst gelingen“ werde die „innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen“ vorzunehmen (VI 125). 38 Vgl. V 256 f. Diese Ablehnung bezieht sich dabei nicht nur auf eine in Dil­theys Augen unangemessene Kategorisierung des Bereichs der Kultur- und Geisteswissenschaften, sondern ist seines Erachtens auch im Blick auf die Naturwissenschaften unzutreffend. Denn letztere würden ebenso Teildisziplinen kennen, die idiographisch verführen, wofür Dil­they paradigmatisch auf die Beschreibung astronomischer Sachverhalte verweist. Solche Beschreibung sei mitnichten nur auf allgemeine Gesetze gerichtet, sondern mache daneben durchaus auch besondere Vorkommnisse als solche – in ihrem naturgeschichtlichen Gewordensein – thematisch. 39  Dil­they geht tatsächlich davon aus, dass sich auch im Bereich geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit Zusammenhänge von gesetzmäßiger Natur auffinden lassen. Er fasst damit also eine solche Form von Erklärung ins Auge, die man mit Georg Henrick von Wright als ‚echte Kausalerklärung‘ bezeichnen kann – im Unterschied zu lediglich quasi-kausalen Erklärungen (vgl. dazu G. H. v. Wright: Erklären und Verstehen). Dil­they behauptet allerdings nicht, dass sich individuelle Ganzheiten oder besondere geschichtliche Entwicklungsverläufe kausal-nomologisch ableiten ließen. Die kausalistische Betrachtungsweise bezieht sich lediglich auf die allgemeinen Grundlagen, auf denen die geschichtlich-gesellschaftlichen Konkretionen



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So verweist er in der Einleitung auf eine ganze Reihe von „exakten und fruchtbaren Gesetze[n] […], zu denen die Geisteswissenschaften bisher gelangt“ (I 111) seien. Dil­they nennt in diesem Zusammenhang unter anderem das Grimmsche Gesetz in der Sprachwissenschaft, das Thünensche Gesetz in der Volksökonomie oder auch das Comtesche Gesetz in der Wissenschaftstheorie.40 „Es sind Gleichförmigkeiten, gesetzliche Beziehungen, was diese systematischen Geisteswissenschaften entwickeln“ (V 257). Diesbezüglich wird man heute sicherlich vorsichtiger argumentieren als Dil­they das tut – wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Diskussion der Frage nach Gesetzen in der Geschichte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle gespielt hat.41 In den gegenwärtigen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen wird kaum mehr jemand den Anspruch erheben, für Zusammenhänge des soziokulturellen Lebens gesetzmäßige Aussagen behaupten zu können. Zudem haben einige der von Dil­they herangezogenen Gesetze mittlerweile ihren Geltungsanspruch verloren. Beispielsweise gilt das Thünensche Gesetz als überholt, weil sich die Transportmöglichkeiten derart verbessert haben, dass die von Thünen behauptete Steigerung des Preises eines Produktes nach Maßgabe der Entfernung des Verkaufs- vom Produktionsort einer Ware schon bald nicht mehr zutraf. Hier scheint Dil­they in seinem Zutrauen in den Gesetzescharakter allzu optimistisch. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass systematisch-theoretische Arbeit sich in seinen Augen nicht in nomologischen Ableitungssequenzen erschöpft. Daneben versteht er darunter auch die weichere Form der theoretischen Wirklichkeitsdurchdringung, die auf die Erfassung von lediglich ‚gleichförmigen Verhaltensweisen‘ innerhalb der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit abstellt. Diese Behauptung einer gleichsam mittleren Theorieförmigkeit des soziokulturellen Wissens dürfte auch heutzutage noch einen selbstverständlichen Bestandteil von Kultur- und Sozialwissenschaften bilden – zumindest dann, wenn sie auf Klärung ihrer kategorialen Grundlagen Wert legt. Im Blick auf die für die Philosophiegeschichtsschreibung erforderliche Kategorie der ‚Philosophie‘ hat Dil­they eine solche Klärung im Wesen unternommen.42 Ob mit nomologischer Zuspitzung oder ohne: Entscheidend ist für Dil­theys Sicht auf die Differenzierung von Historie und Theorie, dass beide zwar voneinander zu unterscheiden sind, dabei aber nicht voneinander getrennt werden dürfen. Ihre Differenz ist folglich nur relativer Natur: Beide weisen wechselseitig aufeinander zurück und bedingen sich gegenseitig. Für die „Begriffsbildung aufruhen. Mithilfe einer Binnendifferenzierung des Erklärungsbegriffs, die von Wright ausgearbeitet hat (vgl. aaO.: 59–63. 124–127), könnte man sagen: Die geisteiswissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten stellen keine solchen Kausalerklärungen dar, die Antwort auf die Frage geben, warum etwas notwendig so geschehen ist, wie es geschehen ist, sondern sollen lediglich begreiflich machen, warum etwas so geschehen konnte, wie es geschah. 40 Vgl. I 111. 41  Vgl. C. G. Hempel: The Function of General Laws in History. 42  Vgl. dazu C. Plaul: Theologie unter den Bedingungen der Moderne, 115–118.

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der systematischen Wissenschaften“ bedeutet das, dass auch sie „auf das Studium des historischen Lebens […] begründet“ ist (VII 145).43 Denn unter dem Vorzeichen des geschichtlichen Bewusstseins können Theorien nicht mehr einfach aus einer übergeschichtlichen Warte deduziert werden. Vielmehr müssen ihre Erklärungsprinzipien – wie bereits angedeutet – auf dem Wege von Induktion und vergleichendem Verfahren in Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Stoff gewonnen werden.44 Darüber hinaus müssen die von ihnen aufgestellten Grundsätze zugleich in der Lage sein, sich auf konkrete Geschichtsentwicklungen anwenden zu lassen.45 Seinen pointierten Ausdruck findet diese geschichtlichsystematische Vermittlung bei Dil­they in der Bildung historiographischer Reflexionsbegriffe, wie beispielsweise dem ‚Wesen‘ der Philosophie oder den ‚Typen‘ von Weltanschauung. (2) Welche Relevanz können die theoretischen Einsichten nun aber für den Aufbau geschichtlichen Verstehens besitzen, wo dieses doch seinem Wesen nach auf die Betrachtung von empirisch Einzelnem als Individuellem gerichtet ist? Dil­ theys Ausführungen lassen sich im Wesentlichen nach drei Hinsichten gliedern: einer wissenssoziologischen, einer erkenntnistheoretischen sowie einer objektivitätstheoretischen. Zunächst zu erstgenannter. Ein erster Hinweis findet sich bereits in einer 1872 verfassten Rezension zu Hermann Grimms Raffael-Biographie. Relativ zu Beginn dieses kleinen Textes ist zu lesen: „Nur wenn der Geschichtsschreiber die Begebenheiten inhaltlich durchdringt und beherrscht, […] entsteht die ruhige Reife der Darstellung“ (XVI 268). Das bedeutet, der Historiker kann die Dinge, die er verhandelt, nur dann angemessen erfassen und beschreiben, wenn er sozusagen weiß, wovon er spricht. Solides historisches Arbeiten kommt nicht ohne eine hinreichende Vertrautheit mit den unterschiedlichen Sachlogiken des jeweils zu bearbeitenden Gegenstandes aus. Dil­they deutet dabei zugleich an, dass er solche Sachkenntnis vielerorts nicht gegeben sieht, wenn er festhält, dass die geforderte Reife der Darstellung „in der historischen Wissenschaft so selten ist“ (XVI 269). Die Frage danach, wie der Historiker zu einer hinreichenden Gegenstandsvertrautheit zu gelangen vermag, beantwortet Dil­they in diesem frühen Text mit Verweis auf eine durch das jeweilige Leben des Historiographen gedeckte Authentizität, die etwa zur Anwendung kommt, „wenn ein Soldat eine Kriegsgeschichte, ein Staatsmann politische Geschichte, jemand, 43  Vgl. auch VII 143 f., vgl. dazu auch C. Plaul: Theologie unter den Bedingungen der Moderne, 119–125. 44  „Unter seinem [sc. dem geschichtlichen Bewusstsein] Einfluß wurden die systematischen Geisteswissenschaften auf Entwicklungsgeschichte und vergleichendes Verfahren gegründet“ (VII 105). 45  So habe Comte etwa durch seine Anwendung des enzyklopädischen Gesetzes – der logischen Abhängigkeit der wissenschaftlichen Wahrheiten voneinander – auf die Wissenschaftsgeschichte im Grundsatz erklären können, warum bestimmte Wissenschaften früher als andere aus ihrem theologisch-metaphysischen Stadium getreten seien (vgl. I 23. 107. 111).



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der sein Leben unter Gemälden verbracht hat, Geschichte der Malerei schreibt“ (XVI 268 f.). Später gibt er diesbezüglich eine etwas andere Antwort – die direkt auf den im hiesigen Kontext interessierenden Zusammenhang hinführt. So findet sich der Gedanke einer notwendigen Sachkenntnis des Historikers in der Einleitung wieder aufgenommen, wird von Dil­they nun aber in einer entscheidenden Weise modifiziert. Die Anforderung an die Vertrautheit mit den zu verhandelnden Gegenständen bleibt zwar bestehen. Für eine gediegene Forschung und Darstellung wird vom Geschichtsschreiber aber nicht mehr verlangt, dass sie durch eine entsprechende Lebensweise erworben sein muss. Stattdessen klagt Dil­they nun eine hinreichende Bekanntheit mit den einschlägigen Bereichsforschungen ein, aus deren Wissensbeständen der historisch Forschende die Grundlagen seiner jeweiligen Perspektive auf die Wirklichkeit zu empfangen hat. So heißt es nun: das „Verständnis jedes Teils von Geschichte fordert die Anwendung der vereinten Hilfsmittel verschiedener Einzelwissenschaften des Geistes“ (I 94).46 Über das eben Gesagte hinaus hat Dil­they die Angewiesenheit der Geschichtswissenschaft auf die theoretischen Disziplinen in der Einleitung mithilfe einer erkenntnistheoretischen Überlegung vertieft. Damit kommen wir zum zweiten Aspekt. Ihren Ausgang nimmt jene Überlegung in dem Aufweis, dass jede Geschichtsdarstellung sich notwendig theoretischer Vorannahmen bedienen muss, mithilfe derer sich der Historiker die Wirklichkeit prinzipiell zurecht legt. „Irgendeine wenn auch noch so schwankende und verworrene Allgemeinvorstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entsteht in jedem, der sich mit ihr beschäftigt“ (I 95). Dies hat seinen Grund letztlich darin, dass die Möglichkeit, geschichtliche Individualität anzuschauen, dadurch bedingt ist, dass dieselbe unter Voraussetzung einer allgemeinen Gemeinsamkeit thematisiert wird. Denn ohne Annahme einer solchen ließe sich das betreffende Singulare überhaupt nicht verstehen. Deshalb muss auch der Historiker irgendeine Form von Allgemeinheit voraussetzen, wenn er sich der Betrachtung und Darstellung eines IndividuellBesonderen widmet. Da das Ziel der Historiographie nicht in der Fixierung theoretischer Grundwahrheiten, sondern in der Beschreibung individueller Einzelereignisse bzw. Ereigniszusammenhänge besteht, treten diese theorieförmigen Vorannahmen in der Regel nicht hervor47 – oder wenn doch, dann nur in Form kurzer Zwischenreflexionen.48 Das bedeutet aber nicht, so Dil­they, dass sie der Arbeit des Geschichtsschreibers nicht zugrunde liegen würden. Denn „das Verstehen [setzt]“ – wie es im Aufbau heißt – „die Verwertung [allgemeiner, v. Verf.] 46  Diese Orientierungsfunktion nehmen die geisteswissenschaftlichen Teildisziplinen freilich nicht nur im Blick auf die Produktion von Geschichtswissen wahr, sondern bringen sie Dil­they zufolge ebenso hinsichtlich gegenwärtiger Gestaltungsfragen zu Geltung (vgl. I 27 f.). 47  Die Geschichtsschreibung ist „eine Kunst, weil in ihr […] das Allgemeine in dem Besonderen angeschaut, noch nicht durch Abstraktion von ihm gesondert und für sich dargestellt wird, was erst in der Theorie geschieht“ (I 40). 48  „[…] wo eine Generalisation auftritt, beleuchtet sie nur blitzartig die Tatsachen und entbindet auf einen Moment das abstrakte Denken“ (I 40).

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geisteswissenschaftlicher Wahrheiten voraus“ (VII 142). In der historischen Darstellung wird von ihnen aber – bewusst oder unbewusst – abstrahiert. „Die Geschichte sieht von den Zügen im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft, welche in der von ihr darzustellenden Epoche denen aller anderen Epochen gleich sind, ab“ (I 28). Angesichts dessen fordert Dil­they nun nicht etwa, dass die Geschichtsforschung jene Allgemeinheitsmomente zum ausdrücklichen Thema ihrer Darstellungen machen solle, geschweige denn dass sie selbst Grundlagentheorie zu betreiben und für die unterschiedlichen Bezugsfelder geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit abstrakte Theorien auszuarbeiten hätte. Was er aber einklagt ist, dass der Historiker ein Bewusstsein dafür entwickeln müsse, dass auch er implizit immer schon von allgemeinen Annahmen ausgehe. Angesichts dessen könne er sich dann aber auch nicht einfach darauf zurückziehen, diese unkritisch in Rechnung zu stellen. Stattdessen müssten diese kritisch reflektiert werden, um nicht Gefahr zu laufen, den geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf die Objekte durch Dilettantismus zu verstellen. Da das allgemeine Wissen über die geschichtlich-gesellschaftliche Welt unter ausdifferenzierten und arbeitsteiligen Bedingungen der modernen Wissenskultur aber durch keine andere Instanz als die theoretischen Geisteswissenschaften bereitgestellt wird, muss sich der Geschichtsschreiber folglich notwendig auf letztere beziehen, um die sein Tun leitenden Allgemeinvorstellungen anhand des gegenwärtig gegebenen Sachwissens überprüfen und korrigieren zu können. Dil­they spricht dabei unmissverständlich aus, dass es nicht zuletzt die historiographische Konzeption einer ‚wahren‘ oder ‚objektiven Geschichte‘ Rankes ist, die ihm hierbei wiederum negativ vor Augen steht. Prinzipiell findet dessen Ansatz freilich auch Dil­theys Unterstützung: „Wenn Ranke einmal ausspricht, er möchte sein Selbst auslöschen, um die Dinge zu sehen, wie sie gewesen sind, so drückt dies das tiefe Verlangen des wahren Geschichtschreibers nach der objektiven Wirklichkeit sehr schön und kräftig aus“ (I 94). In einem entscheidenden Punkt erachtet er den damit bezeichneten Standpunkt jedoch für ungenügend bzw. unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt geradezu für naiv. So heißt es in der oben bereits teilweise zitierten Äußerung etwas süffisant: „Aber dies Verlangen muß sich mit der wissenschaftlichen Erkenntnis [sc. der systematischen Geisteswissenschaften] […] ausrüsten: sonst wird es diese Wirklichkeit nicht erobern, die nun einmal in bloßem Blicken, Gewahren nicht ergriffen wird“ (ebd.). Damit ist bereits der dritte, objektivitätstheoretische Punkt berührt. Im vorigen Abschnitt hatte sich gezeigt, dass das Geschichtsverstehen durch eine Reihe subjektiver Konstruktionsmomente gekennzeichnet ist: erstens die abstraktiv-analytische Stoffauswahl, zweitens die kritische Quellenkonstitution und -auslegung, sowie drittens die phantasiegestützte Rekonstruktion vergangenen Lebens. Darin liegen Größe und Schranke der Geschichtswissenschaft gleichermaßen. Die Größe besteht darin, dass der Einzelne in der Lage ist, sich die ge-



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schichtliche Wirklichkeit zur Anschauung zu bringen. Die Grenze ist darin zu sehen, dass das konkrete Geschichtsbewusstsein das individuelle Produkt eines historiographischen Subjekts darstellt. Auch diesbezüglich erweist sich der Rückbezug der Geschichtsschreibung auf theoretische Einsichten als unverzichtbar. Denn nur insofern sie sich letztere zueigen macht und ihre Betrachtung mit deren Hilfe grundlegt, steigert sie den Objektivitätsgrad ihrer Ausführungen. Freilich erreicht diese Objektivitätssteigerung niemals ihr Ziel, sondern vermag lediglich näherungsweise zu erfolgen. Im Psychischen Strukturzusammenhang hat Dil­they dies an einer Stelle klar formuliert: „die historische Darstellung des einmal Geschehenen [kann sich] nur auf der Grundlage der analytischen Wissenschaften der einzelnen Zweckzusammenhänge […] einer objektiven Erfassung ihres Gegenstandes […] nähern“ (VII 3). Ziehen wir auch hier ein kurzes Fazit: Die wiederholt hervorgehobene Nähe Dil­theys zum Positivismus49 ist angesichts von Dil­theys Zuspitzung geisteswissenschaftlicher Theoriebildung auf echte Kausalerklärung sicherlich nicht völlig unzutreffend. Worin seine Konzeption aber durchaus bedenkenswert ist, das ist der Sachverhalt, dass Dil­they klar gesehen hat, dass auch die Geschichtswissenschaft nicht ohne Bezug auf theorieförmiges Wissen auszukommen vermag. Und die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgende Öffnung der Geschichtswissenschaft für die Theorien und Methoden der Sozialwissenschaft50 haben ihm darin prinzipiell rechtgegeben. Allerdings hat Dil­they im Unterschied zu den neueren gesellschafts- und strukturgeschichtlichen Konzeptionen daran festgehalten, dass die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne ihr eigentliches Ziel in der Darstellung individueller Sachverhalte besitzt und die Ausarbeitung und Darstellung von Theorien den systematischen Disziplinen überlassen kann. Denn genauso wenig, wie die historische Darstellung im starren Gegensatz zur Theorie steht, muss sie deshalb selbst Theorie werden. Er plädiert darum gewissermaßen für ein arbeitsteiliges Programm, in dem verstehende und erklärende Aspekte jeweils für sich zu ihrem Recht gelangen, nicht aber unter wechselseitigem Ausschluss der jeweils anderen Seite. Seinen prononcierten Ausdruck hat dieses Programm in Dil­theys Formel von der „historische[n] Forschung in philosophischer Absicht“ (I 92) gefunden. Vor dem Hintergrund der idealtypisch konstruierten Entwicklung des Geschichtsdenkens von der ‚Aufklärung zum Historismus‘  – wobei beide Begriffe nicht nur Epochen, sondern auch geschichtswissenschaftliche Gesamtkonzeptionen bezeichnen – könnte man im Blick auf Dil­they daher von einer Position zwischen Aufklärung und Historismus sprechen. Für die in jüngerer Zeit erhobene geschichtswissenschaftliche Forderung nach einer „Er49 Vgl. M. Scheler: Die deutsche Philosophie der Gegenwart, 306; E. Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften, 261 f.; H.‑G. Gadamer: Das Unvollendete und das Unvollendbare, 434 f. 50 Vgl. J. Rüsen: Von der Aufklärung zum Historismus, 31.

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neuerung der Aufklärung“51 dürfte er sich dabei als ein interessanter Referenzpunkt erweisen.52 iii.  Die Rolle der Biographie In Dil­theys Konzeption von Geschichtswissenschaft besitzt die Biographie eine entscheidende Funktion.53 Damit erweist er sich insofern als Repräsentant seiner Zeit, als die biographische Betrachtung in der Historiographie des 19. Jahrhunderts spätestens ab der Jahrhundertmitte eine immer größere Rolle zu spielen beginnt.54 Diese gesteigerte Beachtung des individuellen Lebens war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass sich im Zuge der Aufklärung die Bedeutung des Individuums für die geschichtlich-gesellschaftliche Welt immer mehr gezeigt hatte. In Zeiten des Historismus gewann diese Einsicht umso mehr an Gewicht, je weniger die geschichtsphilosophischen Konstruktionen zu überzeugen vermochten.55 Dil­they selbst hatte mit seinem Leben Schleiermachers (1870) den Prototyp einer kulturgeschichtlichen Biographie entwickelt56 – und zwar zu einer Zeit, in der die historische Biographik weithin durch die politisch-geschichtliche Richtung der borussischen Schule geprägt war.57 Sein Standpunkt ist nun aber dadurch 51  Vgl. aaO., 76 ff. 52  Zusammen mit

Friedrich Jäger hat Jörn Rüsen Dil­theys Wissenschaftskonzeption denn auch – neben den Neukantianern und Max Weber – als wichtigen Beitrag einer den Historismus überschreitenden „Suche nach einer neuen Historik“ verhandeln können (vgl. Fr. Jäger/J. Rüsen: Geschichte des Historismus, 148–151). 53 Vgl. F. D’Alberto: Biographie und Philosophie, 96 ff. 54 Vgl. O. Hähner: Historische Biographik, 106 f. 135 ff. 55  Bereits 1833 erscheint Johann Gustav Droysens Geschichte Alexanders des Großen, knapp zwanzig Jahre später sein dreibändiges Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg (1851/52). Ab Mitte des Jahrhunderts kommt es dann insgesamt zu einem deutlichen Anstieg biographischer Arbeiten, vor allem aus den Federn von Historikern der borussischen Geschichtsschreibung (O. Hähner: Historische Biographik, 142–160). 1869 veröffentlicht Ranke seine Geschichte Wallensteins. Bei den Neorankeanern kommt die Biographieproduktion gewissermaßen zu ihrem Höhepunkt. 56  Vgl. dazu F. D’Alberto: Biographie und Philosophie, 53–86. 57  Der junge Dil­they lässt zuweilen aber durchaus Sympathien für die borussische Biographik erkennen. So kommt er in einer Rezension zu Wilhelm Baurs Das Leben des Freiherrn vom Stein, die im Oktober 1860 in der preußischen Zeitung erschienen war, auf eine Begründung der herausgehobenen Stellung der Biographie innerhalb der Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer ethisch-politischen Funktion zu sprechen. Dort heißt es, das Geschichtsstudium habe nicht nur die Aufgabe, den äußeren und inneren Zusammenhang geschichtlicher Tatbestände zu erfassen, sondern „auch ethisch soll die Geschichte wirken, indem sie Begeisterung für die Ideen erweckt, die das Individuum aus seiner Vereinzelung zu tätigen Gliedern größerer Organisationen erheben und ungeordnete Massen zu Nationen bilden und in Staaten vereinigen“ (XVI 91). Jene ethische Wirksamkeit entfalte sich aber am besten dadurch, dass sie den Blick auf die Lebensgeschichte „bedeutender Charaktere“ lenke. Denn solche Geschichte vermittle eine konkrete Anschauung davon, was es heißt, „mit großen inneren Mitteln für einen hohen Zweck gekämpft und gelitten haben“, so dass der Einzelne durch die Geschichtsbetrachtung in seiner sittlichen Kraft und Orientierung gestärkt werde. „Dies geistige Bedürfnis weist der historischen Biographie ihre eigentümliche und selbständige Bedeutung an“ (ebd.).



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charakterisiert, dass er der Biographie nicht nur überhaupt eine wichtige Rolle zuweist, sondern sie darüber hinaus geradezu als Fundament aller übrigen historischen Disziplinen einstuft. Das zeigt sich besonders deutlich daran, dass er ihren wissenschaftsenzyklopädischen Rang in der Einleitung ausdrücklich der grundlegenden Position analog setzt, die Anthropologie bzw. Psychologie im Blick auf die systematischen Fächer zukomme:58 „Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (I 33.) Hans-Ulrich Lessing hat darum zurecht von der Biographie als der „Grundwissenschaft der Geschichtswissenschaften“59 gesprochen. Wie aber begründet Dil­they diesen ihren besonderen Rang? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich letztlich nur geben, indem man sie von den allgemeinen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen seines Denkens her aufrollt. Deshalb sei zunächst etwas dazu gesagt, warum er überhaupt von einer hierarchischen Gliederung der Geisteswissenschaften ausgeht (1). Sodann ist zu klären, weshalb der Betrachtung der Lebenseinheiten in diesem Zusammenhang eine fundamentale Rolle zukommt (2). Diese fundamentale Rolle soll schließlich sowohl hinsichtlich der theoretischen als auch der historischen Geisteswissenschaften ins Auge gefasst werden, um dadurch jene besondere Stellung der Biographie begreiflich machen zu können (3). (1) Dil­theys eigenes Wissenschaftsunternehmen stellt zu großen Teilen eine kritische Auseinandersetzung mit den geschichts- und sozialwissenschaftlichen Konzeptionen des französischen Positivismus dar. Das bedeutet jedoch nicht, dass er sich allen dort formulierten Überlegungen gegenüber verschlossen hätte. Einige derselben erkennt er durchaus an und sucht ihnen innerhalb seiner eigenen Konzeption positiv Rechnung zu tragen. Im hiesigen Zusammenhang entscheidend ist dabei seine kritische Aneignung des von August Comte formulierten ‚enzyklopädischen Gesetzes‘, das Dil­they ausdrücklich zu den „exakten und fruchtbaren Gesetze[n]“ rechnet, „zu denen die Geisteswissenschaften bisher gelangt sind“ (I 111). Comte60 sucht darin den Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, dass die unterschiedlichen Wissenschaften nicht einfach koordiniert sind, sondern im Verhältnis logischer Abhängigkeitsverhältnisse zueinander stehen. Daraus ergibt sich ihm eine Hierarchie der wissenschaftlichen Disziplinen, die bei der Mathematik ihren Ausgang nimmt, sich über Astronomie, Physik, Chemie und Biologie fortsetzt, um dann in der Soziologie ihren Höhepunkt zu erreichen. Indem 58  Dil­they kann Anthropologie und Psychologie mitunter synonym verwenden, vgl. R. A. Makkreel: The Anthropological Import of Dil­they’s System of Ethics, 127. Freilich kann er beide Disziplinen auch differenziert betrachten, vgl. dazu aaO., 128 ff. Zu diesem schwierigen Problem der Dil­they-Interpretation vgl. jetzt auch: F. Rodi: Psychologie oder Anthropologie?. 59  H.‑U. Lessing: Dil­they als Historiker, 120. 60  Vgl. zum Folgenden W. Fuchs-Heinritz: August Comte, 146–155; G. Mikl-Horke: Soziologie, 17 ff.

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er diesen Gedanken auf die Geschichte der Wissenschaften anwendete, war es ihm möglich, deren jeweils unterschiedlich schnell verlaufenden Entwicklungen von einem ‚theologisch-metaphysischen‘ zu einem ‚positiven‘ bzw. ‚wissenschaftlichen‘ Stadium prinzipiell begreiflich zu machen: So hätten sich zunächst erst die grundlegenden Wissenschaften von ihrer Eingebundenheit in Theologie und Metaphysik befreien müssen, ehe auf dieser Basis dann auch die nächst höheren Wissenschaften eine entsprechende Umwandlung hätten durchlaufen können. Dil­they kritisiert zwar an Comte dessen einheitswissenschafliche Denkweise, die keinen qualitativen Unterschied zwischen den Verfahren der Wissenschaften der Natur und denen der Welt des Menschen in Rechnung stellt.61 Darüber hinaus erachtet er die Extrapolation jener wissenschaftsgeschichtlichen Einsicht zum geschichtsphilosophischen Drei-Stadien-Gesetz als unzulässige Metaphysik.62 In engeren Grenzen aber hält er die Comteschen Überlegungen durchaus für fruchtbar und sucht sie innerhalb seiner Philosophie der Geisteswissenschaften zur Anwendung zu bringen.63 Für die hier interessierende Fragestellung ist vor allem entscheidend, dass Dil­they den Gedanken einer „logischen Abhängigkeit der Wahrheiten untereinander“ (I 107) übernimmt, weswegen auch er von einer hierarchischen Anordnung der unterschiedlichen Wissenschaften nach Maßgabe der jeweiligen Reichweite ihrer Fundierungsfunktion im Blick auf die anderen Disziplinen ausgeht. Welche geisteswissenschaftlichen Disziplinen kommen nun aber als Fundierungswissenschaften in Betracht? Wie gesagt, sei die Antwort hierauf zunächst im Blick auf die systematischen Disziplinen gegeben, ehe anschließend die Entsprechung aufseiten der historischen Wissenschaften ins Auge gefasst werden sollen. (2) Die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit stellt für sich genommen ein „unermeßliche[s] Ganze[s]“ (XXVI 253)64 dar. Darum kann sie nur dadurch zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht werden, dass sie in unterschiedliche Wechselwirkungszusammenhänge zerlegt wird, die in ihrer jeweiligen Eigenlogik näher untersucht werden können. Eine grundlegende Perspektivierung dieser Art stellt für Dil­they etwa das Auseinanderhalten zweier unterschiedlicher Typen von Wechselwirkungsverhältnissen dar, deren eine Seite durch das soziale und politische Handeln gebildet wird und deren andere Seite in den kulturellen Tätigkeiten im engeren Sinne besteht. In wissenschaftssystematischer 61 Vgl.

I 106.

62 Vgl. I 107. 134–142, 63  „Indem Comte die

bes. 135 f. Beziehung zwischen diesem logischen Verhältnis von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander stehen, und dem geschichtlichen Verhältnis der Abfolge, in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die Grundlagen für eine wahre Philosophie der Wissenschaften“ (I 23; vgl. auch I 108. 133). Den Einfluss Comtes auf Dil­theys enzyklopädische Konzeption hebt auch hervor: G. Scholtz: Die Unterminierung der Aufklärungsideale durch Wissenschaftsfortschritt in der Zeit um 1900, 20, Anm. 3. 64  So Dil­they in seiner Psychologievorlesung von 1885/86.



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Hinsicht entspricht dieser Unterscheidung die Differenz von ‚Wissenschaften der äußeren Organisation‘ und den ‚Wissenschaften der Kultursysteme‘.65 Im hierbei beanspruchten analytisch-abstraktiven Verfahren66 unterscheiden sich die Geisteswissenschaften zunächst durch nichts von den Naturwissenschaften, die beide jeweils die Komplexität des von ihnen zu betrachtenden Wirklichkeitsbereichs dadurch reduzieren, dass sie ihn in Teilzusammenhänge zerlegen, an denen sich einzelne Wechselwirkungsverhältnisse studieren lassen. Die Analogie zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Verfahren lässt sich sogar bis dahin verfolgen, dass beide Analysehinsichten ihr Ziel darin finden, den von ihnen zu betrachtenden Wirklichkeitsbereich auf letzte Elemente zurückzuführen, aus deren Verbindungen sich die jeweiligen Wechselwirkungskomplexe aufbauen. Im Blick auf die Art dieser Elemente zeigt sich nun aber ein entscheidender Unterschied. Die basalen Bausteine, mit denen der Naturwissenschaftler operiert, sind Dil­ they zufolge nämlich „nur hypothetisch gewonnen[e]“ (I 29) Voraussetzungen, derer es bedarf, um Zustands- und Veränderungsprozesse von Materie erklären zu können. Als solche stellen sie jedoch „keiner selbständigen Existenz mehr fähige[ ], nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbare[ ] Elementarteilchen“ (ebd.) dar. Dil­they knüpft damit an die zeitgenössische naturwissenschaftliche Grundlagentheorie an, die im 20. Jahrhundert nicht unerheblich modifiziert worden ist. Die prinzipielle Bedeutung des Dil­theyschen Gedankens wird davon aber nicht tangiert. Ihm geht es um den allgemeinen Sachverhalt, dass Naturwissenschaften auf grundlagentheoretischer Ebene zur Erklärung der zu beobachtenden Phänomene ‚Elementarteilchen‘ postulieren müssen, um Zustände und Veränderungen aus übergeordneter Ebene ableiten zu können.67 Dies ist im Blick auf die Wechselwirkungsverhältnisse der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, so Dil­they, völlig anders. Die grundlegenden Elemente, auf die die Zergliederung hier stößt  – und derer sie bedarf, um soziokulturelle Wechselwirkungen verstehen und erklären zu können –, sind weder bloß hypothetisch konstruiert noch erscheinen sie in ihrem Dasein als völlig unselbständige Größen. Stattdessen sind „die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und Gesellschaft aufeinanderwirken“, für sich „Individua, psycho-physische Ganze“ (I 29).68 Deren Ganzheitlichkeit zeige sich zum einen darin, dass die Einwirkungen, die sie von 65  Siehe

dazu oben Abschnitt III.3.a. In methodologischer Hinsicht hat Dil­they ausdrücklich hervorgehoben, dass den Operationen von Analysis und Abstraktion in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine grundlegende Funktion zukommt. „Die Zwecke der Geisteswissenschaften“  – also auch der historische Zweck, „das Singulare […] zu erfassen“ – „können nur vermittels der Kunstgriffe des Denkens, vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden“ (I 27). 67  Dies ist unabhängig davon der Fall, ob es sich nun – wie bei Dil­they – um Atome oder – wie in der neueren Forschung – um Nukleone und Neutronen handelt. 68  „Die Individuen […] sind jedes für sich ein Singulares, jedes Individuum ist ein Wert für sich, nicht dem anderen gleich“ (XXI 253). 66 

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außen erfahren, nicht im kausalen Sinne Wirkungen zeitigen, sondern dass es hier stattdessen zu inneren und äußeren Reaktionen auf Basis individueller Wirklichkeitsverarbeitung kommt. Zum anderen zeigt sie sich daran, dass ein jedes Individuum angesichts der wechselnden Zustände, die es im Zuge seines zeitlich bestimmten Lebensvollzugs durchläuft, nicht in eine aggregierte Reihe von Diskreta zerfällt, sondern die unterschiedlichen Lebensmomente zu einer kontinuierlichen Entwicklung verbindet, innerhalb derer den einzelnen Teilen eine bedeutsame Stellung innerhalb der betreffenden Lebensgeschichte zukommt. Dil­they will damit keiner monadologischen Auffassung das Wort reden. Denn wie er wiederholt hervorgehoben hat, bestehen die einzelnen Individuen niemals einfach für sich,69 sondern fungieren zugleich als „Kreuzungspunkt[e]“ (V 63)70 der unterschiedlichen Teilsysteme eines bestimmten soziokulturellen Gesamtlebens. Aufgrund des unhintergehbaren Eingebundenseins des Einzelnen ist dieser als Individuum darum nur vermittels einer ‚abstraktiv-analytischen‘ Betrachtung in den Blick zu nehmen.71 Dass Dil­they bei aller Betonung der sozialen und kulturellen Natur des Menschen dem einzelnen Subjekt gleichwohl eine solche Bedeutung zumisst, hat seinen tieferen Grund darin, dass sich in erkenntnistheoretischer Hinsicht für Dil­they alle Einheitssetzung der inneren Erfahrung der Selbigkeit des Subjektes verdankt  – ohne dessen Bewusstsein, im Wechsel seiner Zustände mit sich identisch zu bleiben, auch in der äußeren bzw. Fremdwahrnehmung keine mit sich selbst gleichen Sachverhalte angenommen werden könnten.72 Aufgrund dessen setzen die mit der Welt des Menschen befassten Wissenschaften in Dil­theys Augen eben nicht – wie die Naturwissenschaften – als letzte Elemente lediglich hypothetisch erschlossene Ganzheiten voraus, sondern nehmen den Ausgang von einer Einheitsgegebenheit, die jedem Menschen im und durch sein eigenes Bewusstseinsleben unmittelbar zugänglich ist. Die Identifikation und das Verstehen fremden individuellen und soziokulturellen Lebens ruht zwar auf einer Art Übertragung der Selbigkeit des auffassenden Subjekts auf das aufzufassende Leben und hat folglich ebenso einen konstruktiven Charakter.73 Nichtsdestoweniger stellt die solcherart vorgenommene Setzung des Vorliegens fremder Subjektivität nicht in derselben Weise eine Konstruktion dar wie die lediglich heuristische Annahme letzter Elementarteilchen in den Naturwissenschaften. In Dil­theys Psychologievorlesung (1885/86) heißt es entsprechend: „während die Atome der Naturforscher eine bloße Hypothese sind, sind uns die Lebens-, und Gesellschaftsatome in der Erfahrung gegeben“ (XXI 253)74  – im 69  Hinsichtlich des Versuches, „Individuen, welche Elemente der gesellschaftlichen Wechselwirkung sind, aus dieser auszulösen“ spricht Dil­they von einem „falsche[n] Individualismus“ (V 60). 70 Vgl. I 37. 71  Siehe dazu oben Abschnitt III.3.a. 72  Siehe dazu oben Abschnit III.1.c. 73  Siehe dazu oben die Abschnitte III.2.a–b. 74  Vgl. dazu die Parallelstellen im Studium (V 60 f.) und in der Einleitung (I 28 f.).



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Blick auf uns selbst in der ‚inneren‘, im Blick auf andere Subjekte in der Verbindung von ‚innerer‘ und ‚äußerer‘ Erfahrung. Vor dem Hintergrund dieser subjekttheoretischen Vertiefung jener oben angestellten methodologischen Überlegung zur Auffassung soziokultureller Wechselwirkung ergibt sich für Dil­they nun folgende Konsequenz: Insofern die Analysis in den Individuen die grundlegenden Elemente von Gesellschaft und Geschichte finde, müsse „das Studium dieser Lebenseinheiten […] die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes“ (I 28) bilden. (3) Die Geisteswissenschaften lassen sich, wie gesehen, nach der Differenz von theoretischen und historischen Fächern gliedern. Folglich weist auch eben genannte fundamentale Wissenschaftsgruppe zwei Seiten auf. Insofern als die „Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten […] die Anthropologie und Psychologie [ist]“ (I 29, Hvh. v. Verf.), bilden diese beiden das Fundament der systematischen Disziplinenreihe. Sie abstrahieren dabei von den jeweils besonderen Erscheinungsformen, um nach den allgemeinen Eigenschaften des humanen Bewusstseinslebens zu fragen. Dadurch bilden sie die Grundlage aller weiteren theoretischen Geisteswissenschaften, da die von diesen zu beschreibenden Wechselwirkungsprozesse in nichts anderem als Handlungen und Aktionen von Subjekten zu erblicken sind. Um jene Prozesse aber angemessen thematisieren zu können, bedürfen sie eines hinreichenden Wissens davon, wodurch sich Subjekte überhaupt als Subjekte auszeichnen. Genau dies wird durch Anthropologie und insbesondere Psychologie bereitgestellt. Aus diesem Grund haben aber alle übrigen systematischen Geisteswissenschaften als „Theorien zweiter Ordnung75 […] die Wahrheiten der Anthropologie“ – und der Psychologie – „zu ihrer Voraussetzung, sie wenden diese Wahrheiten auf die Wechselwirkung der Individuen unter den Bedingungen des Naturzusammenhanges an, und so entstehen die Wissenschaften der Systeme der Kultur und ihrer Gestaltungen, der äußeren Organisation der Gesellschaft und der einzelnen Verbände innerhalb derselben“ (I 41). Dieser Gedanke hat seine Entsprechung in der Reihe der historischen Geisteswissenschaften. Denn die Elemente der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit können freilich nicht nur zum Gegenstand einer Strukturtheorie des bewussten Lebens gemacht, sondern auch einer solchen Betrachtungsart unterzogen werden, der es um die Erfassung und Beschreibung von Phänomenen in ihrer Singularität zu tun ist. Im Blick auf die unterschiedlichen Individuen angewendet, entsteht so die Biographie, die Dil­they als „Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit“ (I 33, Hvh. v. Verf.) definiert. Prinzipiell haben Psychologie und Anthropologie auf der einen und Biographie auf der anderen Seite also das gleiche empirische Material vor Augen. Während jene dasselbe aber in den Blick nehmen, um unter Absehung von den jeweiligen Besonder75  Parallel zu ‚Theorien zweiter Ordnung‘ spricht Dil­they auch von „Begriffe[n] zweiter Ordnung“ (I 45) bzw. von „Wahrheiten zweiter Ordnung“ (I 46).

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heiten strukturelle Gemeinsamkeiten aufzudecken, ist die biographische Blickrichtung umgekehrt durch eine Absehung vom Allgemeinen gekennzeichnet, indem sie ein konkretes Individualleben thematisiert. Dass in beiden Fällen ein Abstraktionsvorgang vorliegt, jeweils mit anderer Blickrichtung, hat Dil­they klar gesehen.76 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ausgangsfrage, warum die Biographie für Dil­they als Grundwissenschaft der Geschichtswissenschaft gilt, nun prinzipiell beantworten. Sie bildet deshalb das Fundament der geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen, weil sie sich den Elementen geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit in deren singularem Geschichtszusammenhang widmet. Damit bereitet sie gewissermaßen den Boden für „jede[ ] geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet“ (I 33). Angesichts dessen könnte man – was Dil­they allerdings nicht tut – statt von ‚Theorien erster‘ und ‚zweiter Ordnung‘ auch von Geschichtsanschauungen erster und zweiter Ordnung sprechen. Diese Antwort lässt sich aber noch etwas näher erläutern, wobei wir uns dafür vor allem auf ein Textfragment aus dem Umkreis des Aufbaus beziehen wollen. Ebenso wie in der Wirklichkeitsauffassung durch die Naturwissenschaften, wird auch die Geschichte in der historischen Anschauung als Abfolge unterschiedlicher Zustände bzw. Ereignisse betrachtet. Anders als unter jener Perspektive kann die geschichtliche Veränderung jedoch nicht nach Maßgabe eines Ursachenbegriffs, wie er in den Naturwissenschaften zur Anwendung gelangt, rekonstruiert werden. „Es gibt in der geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche Kausalität“ (VII 197). Der Grund für diese Abgrenzung liegt darin, „dass Ursache im Sinne dieser [sc. der naturwissenschaftlichen] Kausalität […] in sich [schließt], daß sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbeiführt“ (VII 197). Eine solche Form der Erklärung von Zustandsveränderungen, die anzugeben sucht, warum etwas notwendig so geschehen ist, wie es geschehen ist, schließt Dil­they im Blick auf geschichtliche Wirklichkeit aus.77 Nichtsdestoweniger können geschichtliche Zustände nicht allein aus sich selbst heraus verstanden werden, sondern müssen in ihrem Bedingtsein durch vorhergehende Zustände rekonstruiert werden, da anderenfalls der Aspekt geschichtlicher Entwicklung ausgeschaltet wäre. Wenn für die Erhellung dieses Bedingungsverhältnisses aber keine streng kausalistische Rekonstruktion dienen kann, ist zu fragen, auf welche Weise es dann angemessen beschrieben werden kann. Dil­they zufolge ist dies nur dadurch möglich, dass der Übergang von einer zur anderen Zu76 Vgl.

I 27; I 40. Binnendifferenzierung von (echt) kausalen Erklärungen vgl. H. v. Wright: Verstehen und Erklären, 59–63. 124–127. Von Wright differenziert hier (echte) Kausalerklärungen in solche Erklärungen, die begreiflich machen, warum etwas mit Notwendigkeit so geschehen ist, wie es geschah, und solche, die eine Antwort auf die Frage geben, warum etwas so geschehen konnte, wie es geschah. Den letzten Erklärungstyp lässt Dil­they für die geschichtliche Welt durchaus zu (siehe dazu oben Abschnitt III.4.a.ii). 77  Zur



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ständlichkeit nicht so begriffen wird, dass er mit gesetzmäßiger Notwendigkeit erfolgt, sondern so, dass hier eine Zwischeninstanz in Rechnung gestellt wird, die sich zwar durch zeitlich vorausliegende und soziokulturell umgebende Zustände bedingt erweist, aus letzteren aber nicht abgeleitet werden kann, sondern dieselben jeweils für sich einer individuellen Wahrnehmung und Bewertung unterzieht, um erst auf dieser Basis partiell neue Zustände hervorzubringen. Statt von Ursache-Wirkungsverhältnissen habe man in der Geschichte deshalb „von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und Reaktion“ (ebd.) auszugehen. Es ist nicht zuletzt dieses Verhältnis, das Dil­they dann im Begriff des ‚Wirkungszusammenhanges‘ zum Ausdruck zu bringen sucht – der sowohl für intersubjektive Zusammenhänge in struktureller und in diachroner Hinsicht,78 als auch im Blick auf das individuelle Bewusstseinsleben79 stehen kann.80 Die Apostrophierung jenes Wirkungsverhältnisses als ‚Zusammenhang‘ verweist darüber hinaus auf den Aspekt, dass die geschichtlichen Aktion-Reaktion-Beziehungen sich derart perspektivieren lassen, dass sie in synchroner und diachroner Hinsicht innerlich zentrierter Einheiten erscheinen – was etwa dadurch geschieht, dass ein Historiker die geschichtliche Welt in Zeitalter und Epochen gliedert oder strukturgeschichtliche Zusammenhänge wie etwa Kunst-, Religions- oder Politikgeschichte beschreibt. Die Biographie hat dabei nun aus zwei Gründen eine grundlegende Bedeutung. Zum einen sind die Orte, an denen sich geschichtliche Wirksamkeit ursprünglich vollzieht, eben die individuellen Lebenseinheiten mit der ihnen konstitutiven Duplizität zwischen relativer Bedingtheit und relativer Freiheit – so sehr sich deren intersubjektive Wechselwirkung in Geschichte und Gesellschaft dann auch zu unüberschaubarer Komplexität steigern kann. Zum anderen kommen die inneren Einheitsbezüge der Geschichte nur insofern und insoweit zustande, als sie durch Subjekte gleichsam in die Welt gesetzt werden. Denn auch wenn jedes subjektive Leben sich durch geschichtlich überlieferte und gegenwärtig bereit gestellte Handlungsrahmen und Deutungsmuster geprägt erweist, so finden letztere nur darin Aktualisierung und Fortschreibung, dass sie von Individuen verstanden, angeeignet und weitergebildet werden. So hat „[a]lle Geschichte […] Wirkungszusammenhang zu erfassen.“ Aber „[d]en ursprünglichsten unter diesen Zusammenhängen bildet der Lebensverlauf eines Individuums in dem Mi78  Dil­they kann sowohl ‚Kultursysteme‘ und ‚äußere Organisationen‘ als auch historiographische Reflexionskategorien wie Zeitalter, Epochen, historische Bewegungen, Generationen etc. als ‚Wirkungszusammenhang‘ bezeichnen (vgl. VII 152 ff.). 79 Vgl. VII 154. 80  In dieser abstrakten Differenzierung des Begriffs des Wirkungszusammenhangs  – wonach dieser sowohl psychisch-geistiges Leben als auch überindividuelle Zusammenhänge bezeichnen kann – kann in gewisser Hinsicht die Vorwegnahme der später geläufig gewordenen Unterscheidung von System und Umwelt erblickt werden. Diese begriffliche Beziehbarkeit kann den von Alois Hahn aufgestellten Parallelen zur soziologischen Systemtheorie (A. Hahn: Die Systemtheorie Wilhelm Dil­theys) noch hinzugefügt werden.

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lieu, von dem es Einwirkungen empfängt und auf das es zurückwirkt.“ (VII 246). Deshalb wird, wie Dil­they in der Einleitung sagt, auch „nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten [sc. den individuellen Einzelpersonen] aus die Geschichte aufbaut, […] die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen“ (I 34). Abschließend seien zwei mögliche Missverständnisse benannt, die sich gegenüber Dil­theys enzyklopädischer Einordnung der Biographie ergeben können. Das erste besagt, Dil­they wolle mit der Behauptung der grundlegenden Rolle des biographischen Elements zugleich behaupten, die Individuen und ihre Stellung innerhalb eines größeren Geschichtsganzen könnten einfach aus sich selbst heraus verstanden werden.81 Das zweite geht darüber noch hinaus und unterstellt Dil­they, die Erkenntnis allgemeiner Geschichtszustände und -verläufe aus der Erkenntnis des Einzelmenschen „ableiten zu wollen“.82 Der erstgenannten Ansicht gegenüber ist daran zu erinnern, dass Dil­they  – wie oben gesehen  – nachdrücklich hervorgehoben hat, dass keine Biographie umhin kommt, den von ihr zu betrachtenden Einzelmenschen in seiner Verbindung zu dem Milieu anzuschauen, innerhalb dessen er zu stehen kommt und mit dem er einen ‚Wirkungszusammenhang‘ bildet. Denn jeder Einzelne empfängt dauerhaft die Einwirkungen durch sein  – geschichtlich spezifiziertes  – soziales und kulturelles Umfeld, wie es etwa durch bestimmte ‚historische Bewegungen‘, ‚Generationen‘, ‚Zeitalter‘ oder auch die Grundsignatur einer ‚Epoche‘ (vgl. VII 177) gebildet wird. Dieser Umstand muss darum auch in der biographischen Betrachtung Berücksichtigung finden, wenn es um die Nachkonstruktion eines fremden Lebens geht. Dil­they selbst hat dies in seiner Schleiermacher-Biographie ausdrücklich als Problem hervorgehoben, indem er etwa auf die Bezogenheit des jungen Schleiermacher auf ein dreigliedriges Generationengefüge verwiesen hat, aus dem letzterer entscheidende Impulse gewann und auf das er – in unterschiedlichem Ausmaß – zurückgewirkt hat. Nimmt man beide Gesichtspunkte zusammen, so zeigt sich, dass Dil­theys Biographietheorie mitnichten darauf zielt, die Einzelperson als ein abgetrenntes Ganzes betrachten zu wollen, dessen individuelle Gehaltlichkeit in einer kontextlosen Besonderung erfasst werden könnte. Beim zweiten Missverständnis wird übersehen, dass Dil­they nicht nur hinsichtlich der Individualerkenntnis auf intersubjektive Zusammenhänge verweist, sondern dass er sich selbstverständlich darüber im Klaren gewesen ist, dass überindividuelle Geschichtsverläufe nicht deckungsgleich sind mit den Lebensgeschichten einzelner Personen.83 Deshalb meint er auch keineswegs, dass der 81 Vgl. O. Hähner: 82 Ebd.

Historische Biographik, 207.

83 Vgl. H.‑G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 210 f. Allerdings vermag Gadamer Dil­ theys Hervorhebung des (Auto-)Biographischen keinen Sinn abzugewinnen, was darin seinen Grund hat, dass er dessen Verschränkung von subjektphilosophischer Vertiefung geisteswissenschaftlicher Methodologie und enzyklopädischer Wissenschaftsordnung nicht beachtet.



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allgemeine Geschichtswissenschaftler sich auf die Betrachtung der individuellen Elemente geschichtlichen Lebens zurückziehen könnte. Sondern „nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, […] der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden“ (I 34, Hvh. v. Verf.). Allgemeingeschichtliche Rekonstruktionsarbeit bedeutet demnach für Dil­they alles andere als allein biographisch-individuelle Wirklichkeitsbetrachtung, sondern sucht geschichtliche Realität als eine Einheit aufzufassen, die synchron und diachron aus unterschiedlichen Einzelleben der Individuen und ihren jeweiligen Tätigkeiten zusammengesetzt ist. So muss die Geschichtswissenschaft „durch die [Interpretation] von Resten der Kultur ermöglichen, die innere Struktur des Menschen in einer gegebenen Zeit festzustellen, wobei diesem Begriff […] in der Darstellung der des Typus [entspricht]“ (XIX 294).84 Über die daraus entstehende Verkomplizierung geschichtlicher Rekonstruktionsarbeit hat Dil­they sich keine Illusionen gemacht. In einem späten Manuskript beschreibt er den Übergang von (selbst-)biographischer Betrachtung und allgemeiner Geschichte etwas pathetisch mit folgendem metaphorischen Bild: „Wir verlassen den Fluß des Lebensverlaufes, und das unendliche Meer nimmt uns auf“ (VII 252). Wenn Dil­they biographische Anschauung dennoch als Grundlage von Geschichtswissenschaft behauptet, so will er damit also nicht sagen, dass es für eine Erfassung allgemein-geschichtlicher Zusammenhänge ausreiche, lediglich biographische Verläufe zu betrachten. Er will damit auch nicht die Geschichtsschreibung gattungsmäßig auf das Abfassen von Biographien restringieren. Worauf er insistiert, ist vielmehr, dass auch die allgemeinen Geschichtszustände und -verläufe dadurch am angemessensten erfasst und zur Darstellung gebracht werden können, dass der methodische Ausgang bei den beteiligten Individuen genommen wird, da sich jene Verläufe ja aus deren Handlungen und Aktionen zusammensetzen. So hat er auch im Spätwerk klar daran festgehalten, „daß die Biographie für das Verständnis des großen Zusammenhanges der geschichtlichen Welt von einer eminenten Bedeutung sei! Ist es doch eben das Verhältnis zwischen den Tiefen der menschlichen Natur und dem universalen Zusammenhang des ausgebreiteten historischen Lebens, das an jedem Punkt der Geschichte wirksam ist“ (VII 247). 84  Beispiele eines solchen Typus wären etwa ‚der mittelalterliche Mensch‘ und ‚der moderne Mensch‘, die Dil­they in der Einleitung einander gegenüberstellt (vgl. I 351 ff. passim). Dabei weist er zum einen ausdrücklich darauf hin, dass die Bildung solcher historischer Typen lediglich heuristischen Näherungswert besitzt. Zum anderen kann sie nicht beanspruchen, auf realistische Weise abzubilden, sondern ist durch die individuelle Subjektivität des Historikers bedingt: „Nichts ist daher relativer, mag man auf die Allmählichkeit sehen, mit welcher es [sc. das Erzeugnis der Entwicklung eines typologisch beschriebenen Sachverhaltes] sich geltend macht, oder auf die Verschiedenheit des persönlichen Gefühls im Geschichtschreiber, von welchem aus ein solcher historischer Typus bestimmt wird“ (I 351).

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Diesbezüglich wäre es dann allerdings sinnvoll, deutlicher zu unterscheiden zwischen ‚Biographie‘ im gattungsmäßigen Sinne und lediglich biographischen Elementen, die in die allgemeine Geschichtsschreibung eingehen. Denn Biographisches kann ja nicht nur in Form eigenständiger Darstellungen zu stehen kommen, sondern auch als Teilbestand größerer Gesamtdarstellungen, wie Dil­they in seinen eigenen materialen Geschichtsstudien denn auch selbst vorgeführt hat. iv.  Grundzüge des biographischen Verstehens Das biographische Verstehen knüpft an die Problematik des Interpersonalitätsverstehens an. Im Zuge der – oben geleisteten –85 Rekonstruktion desselben hatte sich gezeigt, dass sich alles Erfassen der Innerlichkeit fremder Subjekte Dil­they zufolge in zwei Momente gliedert: ein elementares und ein höheres Verstehen. Ersteres bildet insofern die Basis, als es zum einen die Identifikation außenweltlicher Phänomene als Erscheinungen fremden Bewusstseins erbringt. Zum anderen steht es für die grundlegende Erschließung des jeweiligen inneren Zustands, in dem sich die andere Person aktuell befindet. Vor allem im Spätwerk hat Dil­ they hervorgehoben, dass beides nur in begrenztem Umfange durch anthropologische Übereinstimmungen zwischen den Subjekten bedingt ist, und dass der soziokulturelle Horizont hierbei eine gewichtige Rolle spielt. Da sich eine solche Verstehensleistung vor allem durch die Einordnung eines Einzelsachverhalts in überindividuelle Zusammenhänge (objektiver Geist) vollzieht, ist sie noch nicht auf die Erfassung des jeweiligen Lebens in seiner individuellen Totalität gerichtet. Letztere stellt erst den Gegenstand des höheren Verstehens dar. Allerdings hat Dil­they hervorgehoben, dass hier kein klarer Schnitt gezogen werden kann, sondern mit Übergängen zu rechnen ist. Die hermeneutische Erschließung der Eigentümlichkeit einer anderen Person ist nur dadurch möglich, dass bereits allgemein verstandene Einzelheiten mit anderen solchen Einzelheiten kombiniert werden, um mithilfe von deren Zusammenschau quasi induktiv ein Bild vom individuellen Ganzen des Anderen zu entwerfen. Bis hierher war der Problemzusammenhang des Fremdverstehens weiter oben verfolgt worden. Die Frage nach der Biographie eines Menschen knüpft direkt hieran an. Denn es ist klar, dass jenes gesuchte Bild vom inneren Zusammenhang eines Menschen nicht allein aus einer Kombination von dessen gegenwärtigen Lebensäußerungen gefunden werden kann. Um eine Idee davon entwickeln zu können, was es mit einem Menschen auf sich hat, ist es vielmehr notwendig, auch etwas über seine Lebensgeschichte zu wissen, d. h. die entscheidenden Lebensmomente zu kennen und sie in eine innere Beziehung setzen zu können. Von daher vollendet sich das Interpersonalitätsverstehen im biographischen Verstehen. Es wird sich allerdings zeigen, dass die Einbettung der Biographie-Problematik in den geschichtswissen85  Siehe

dazu die Abschnitte III.2.b.



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schaftlichen Kontext zu einigen Akzentsetzungen führt, die im Begriff des biographischen Verstehens als solchem nicht notwendig enthalten sind. Die folgenden Ausführungen stützen sich dabei vor allem auf späte Manuskripte Dil­theys, in denen er seine Auffassung biographischen Verstehens angedeutet und zugleich das von ihm nicht nur86 im Leben Schleiermachers praktisch bereits erprobte Verfahren theoretisch reflektiert hat. Zunächst stellt auch hier wieder die Stoffauswahl den grundlegenden Gesichtspunkt dar. Die Frage ist, welche Person überhaupt zum Thema gemacht werden soll. Prinzipiell ist Dil­they zufolge jedes Menschenleben wert, einer solchen Betrachtung unterzogen zu werden, da „[a]lles Menschliche […] uns zum Dokument [wird], das uns irgendeine der unendlichen Möglichkeiten unseres Daseins vergegenwärtigt“ (VII 247). Im Hintergrund steht die Schleiermachersche Individualitätstheorie, wonach jedes Individuum – und folglich auch jede Lebensgeschichte – eine eigentümliche Ausgestaltung des prinzipiell allen Menschen eignenden Merkmalsspektrums darstellt, so dass jedes Einzelleben auf irgendeine besondere Weise Aufschluss darüber gibt, was ‚der‘ Mensch ist und sein kann. Insofern aber die Biographie nicht nur für die Vollendung des Interpersonalitätsverstehens steht, sondern zugleich eine eminent historische Funktion besitzen soll, schränkt Dil­they die Weite des möglichen Bezugs auf solche Personen ein, die in der Geschichte merklich gewirkt haben, so dass die Folgen auch in der Gegenwart des Biographen noch feststellbar sind. Deswegen hebt Dil­they hervor, dass „der historische Mensch, an dessen Dasein dauernde Wirkungen geknüpft sind, […] in einem höheren Sinne würdig [ist], in der Biographie als Kunstwerk fortzuleben“. Dabei werden „diejenigen das Augenmerk des Biographen besonders auf sich ziehen, deren Wirkungen aus besonderen schwer verständlichen Tiefen menschlichen Daseins hervorgegangen sind und die daher in das Menschenleben und seine individuellen Gestalten einen tieferen Einblick gewähren“ (ebd.). Entsprechend der Struktur allen geschichtlichen Verstehens betrifft die Notwendigkeit der Selektion dann nicht nur die Auswahl der zu betrachtenden Person, sondern setzt sich im Blick auf deren konkrete Lebensgeschichte insofern fort, als diesbezüglich wiederum zu fragen ist, welchen Momenten innerhalb des Gesamtverlaufs Bedeutung zukommt. Der Gedanke, dass auch gewöhnliche Menschen in einer paradigmatischen Biographie  – etwa unter alltagsgeschichtlichem Gesichtspunkt  – von Interesse sein können,87 findet sich zwar auch bei Dil­they ausgesprochen.88 Er spielt bei ihm aber nur eine untergeordnete Rolle, womit er sich durchaus als Repräsentant 86  Nicht nur die Schleiermacher-Biographie, sondern auch die meisten anderen von Dil­ theys materialen Geschichtsstudien erweisen sich als „biographisch zentriert“ (H.‑U. Lessing: Dil­they als Historiker, 120). 87  Vgl. dazu O. Hähner: Historische Biographik, 162 f. 169–175. 88  „Jedes Leben kann beschrieben werden, das kleine wie das mächtige“ (VII 247).

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der zeitgenössischen historischen Biographik erweist.89 Im Unterschied zu den meisten geschichtswissenschaftlichen Fachvertretern widmet er sich nicht so sehr den in der politischen Geschichte bedeutenden Individuen,90 sondern fragt stattdessen auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht danach, welche Einzelnen sich als wirkmächtig erwiesen haben. Sowohl die Identifikation herausragender Biographien als auch bedeutsamer Lebensmomente innerhalb derselben liegen nicht positivistisch vor, sondern sind das Ergebnis konstruktiver Verstehensleistungen des Historikers. Diese lassen sich dabei in zwei – wechselseitig aufeinander bezogene – Seiten auseinanderlegen. Zum einen gilt es, den Gehalt der jeweiligen Lebensmomente für sich zu erschließen, was im Blick auf die unterschiedlichen Zeugnisse des betreffenden Lebens geschieht. Als konkretes Material kommen dabei prinzipiell all jene Sachverhalte in Betracht, die sich in der Gegenwart des Biographen auffinden lassen und die für die Erschließung des in Frage stehenden Lebens einen Wert besitzen: von expliziten Selbst- und Fremddarstellungen des betreffenden Individuums bis hin bis zu indirekten Lebensäußerungen desselben, die nicht durch eine expressive Absicht entstanden sind, die aber gleichwohl Aufschluss über es zu geben vermögen und in der Regel in Zeugnissen und Berichten über dessen äußeres Leben vorliegen.91 Angesichts der Bandbreite kultureller Artefakte wird man aber auch an nichtschriftliche Objekte denken können.92 „Die Aufgabe des Biographen ist nun, aus solchen Dokumenten […] zu verstehen“ (VII 246). Zum anderen ist mit der Auslegung der einzelnen Quellenbestände aber nur die eine Seite des biographischen Verstehens benannt. Denn mit den auf diesem Wege gewonnenen Einzelansichten ist noch kein Bild von der Lebensgeschichte als ganzer gegeben. Dafür müssen letztere in ihrer Bedeutung für das in Frage stehende Leben abgeschätzt und nach Maßgabe ihrer evaluativen Stellung in den Zusammenhang der individuellen Lebensgeschichte integriert werden, d. h. wichtige Begebenheiten werden hervorgehoben, während weniger entscheidende Sachverhalte zurücktreten. So sehr die biographische Anschauung und Darstellung dabei auch prinzipiell an den Verlauf des Lebens gebunden bleiben, so wenig fassen sie den Inbegriff der ihm zugehörigen Bestandteile ins Auge oder 89  Sowohl Ranke als auch Droysen und die borussische Historiographie sowie die Neorankeaner beziehen sich auf historisch bedeutende Individuen. 90  Die politische Geschichte stellt überhaupt den Schwerpunkt der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert dar (vgl. G. Scholtz: Historie IV). Dies wirkt sich dann auch auf den Gegenstand der historischen Biographik aus. So schreibt etwa Droysen eine Geschichte Alexanders des Großen (1833) sowie Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg (1851/52). 91  „Die Dokumente, auf denen vornehmlich eine Biographie beruht, bestehen in den Resten, welche als Ausdruck und Wirkung einer Persönlichkeit zurückgeblieben sind. Eine eigene Stellung nehmen naturgemäß unter ihnen Briefe derselben und Berichte über sie ein“ (VII 246). 92  Dil­they hat der Philologie und damit zugleich schriftlichen Texten für das geschichtliche Verstehen zeitlebens die größte Bedeutung unter allen Artefakten zugeschrieben (vgl. VII 261).



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sind in starrer Weise auf dessen chronologischen Ablauf gebunden. „Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinne des Ganzen hat“ (VII 199). Dil­they weist nun ausdrücklich darauf hin, dass das fragliche Individuum keinesfalls aus sich allein heraus verstanden werden kann, sondern dass sich der eigentümliche Gehalt seiner Lebensgeschichte nur unter Einbeziehung der betreffenden Lebensumstände erschließen lässt. Die entscheidende „Aufgabe des Biographen ist nun, aus solchen Dokumenten den Wirkungszusammenhang zu verstehen, in welchem ein Individuum von seinem Milieu bestimmt wird und auf dieses reagiert“ (VII 246). Hinter dieser methodischen Forderung steht dabei die konstitutionstheoretische Voraussetzung, dass kein Einzelner sein Leben für sich zu vollziehen vermag, sondern sich immer in einer natürlichen und soziokulturellen Umwelt vorfindet, von der her er Einflüsse und Prägungen empfängt und auf die hin er zurückwirkt. Darum kann die verstehende Rekonstruktion eines fremden Lebens dieses nicht isoliert für sich in den Blick nehmen, sondern muss es in den vielfältigen Verbindungen zu seinen jeweiligen Lebenskontexten zu erfassen suchen. Dabei stellt die vom Einzelnen ausgehende Wirkung keine bloß kausale Folge der Außenwelteinwirkungen dar. Die jeweiligen Zustände und Taten sind vielmehr das Ergebnis einer individuellen Wirklichkeitsverarbeitung, die durch die Umstände zwar mitgeprägt, aber nicht absolut bestimmt ist.93 Darüber hinaus erfolgt diese Wirklichkeitsverarbeitung nicht völlig beliebig – denn sie ist von innen her bedingt durch die konkrete Identität des Subjekts, die dasselbe im Zuge seiner Lebensgeschichte ausgebildet hat.94 Der zu rekonstruierende Bedeutungszusammenhang eines Lebens kann so gesehen als das Gesamtprodukt einer durch die Individualität des Einzelnen bedingten Verarbeitung kontingenter Lebensumstände angesehen werden, innerhalb derer sich jene Individualität zugleich erst entwickelt. Die Betrachtung der persönlichen Entwicklung muss in Dil­theys Augen daher einen wesentlichen Bestandteil der biographischen Rekonstruktion bilden. Insofern diese Betrachtung den Einzelnen innerhalb seines Milieus in den Blick nimmt, treibt die biographische Arbeit über sich hinaus ins geschichtlich Allgemeine. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo der Biograph nach der historischen Leistung des betreffenden Individuums fragt. Denn um diese bestimmen zu können, müssen die „allgemeine[n] Bewegungen“ mit in Betracht gezogen werden, die „durch das Individuum als ihren Durchgangspunkt hindurch[ge93 „Jedes bestimmte Einzeldasein in der Geschichte ist Kraft und steht zugleich in der Wechselwirkung mit anderen Kräften“ (VII 253, Hvh. v. Verf.). 94  Dil­they spricht diesbezüglich etwa von der „durch das Gesetz eines zunehmenden erworbenen Zusammenhanges bestimmte[n] Form des Verlaufs“ (VII 253). Den Begriff des ‚erworbenen Zusammenhanges‘ hat Dil­they am ausführlichsten in seinen Ideen entwickelt.

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hen]“ (VII 251). Das konkrete Milieu, innerhalb dessen eine einzelne Person zu stehen kommt, bietet Dil­they zufolge dabei nicht einfach eine unendliche Mannigfaltigkeit von Wirkungsfaktoren, sondern erweist sich bereits auf lebensweltlicher Ebene vorstruktuiert, indem es sich in unterschiedliche Zusammenhänge gliedert, die den Selbst- und Weltzugang eines jeden in ihm stehenden Individuums regulieren. Hierbei hat Dil­they die grundlegenden Formen soziokultureller Wechselwirkung vor Augen, wie sie durch ‚äußere Organisation‘ und ‚Kultursysteme‘ bereitgestellt werden.95 Diesbezüglich zeige sich nun aber eine „Schranke“ der Biographie, denn da das Individuum nur der Kreuzungspunkt jener systemischen Verbindungen ist, fragt Dil­they: „wie könnten sie aus ihm verstanden werden?“ (ebd.) Dafür bedarf es der Zuhilfenahme der geschichtlich-systematischen Geisteswissenschaften, die jeweils Entwicklungsgeschichten jener soziokulturellen Sphären erarbeiten. Denn erst auf Basis dessen vermag der Biograph den jeweiligen wissenssoziologischen Stand, wie er zu Lebzeiten des zu beschreibenden Subjekts geherrscht hat, zu eruieren, um auf dieser Grundlage dann das historische Verdienst des Einzelnen bestimmen zu können: Alle „historischen Leistungen [gehen] aus“ von „den Möglichkeiten, die in dieser inneren Struktur in einem historischen Moment enthalten sind“ (VII 248).96 In der Frage der Einordnung eines Lebens in überindividuelle Gesamtverläufe wird die historische Arbeit somit auf eine allgemeinere Stufe gehoben, auf der dem biographischen Bedeutungszusammenhang vor dem Hintergrund universaler Bedeutungszusammenhänge ein Wert zugeteilt werden kann. Umgekehrt stoßen die größeren historischen Verläufe damit zugleich auf die konkreten Knoten ihrer Entwicklung. Mit seinem Entwurf hat Dil­they einen durchaus originellen Beitrag in der Geschichte der Biographie als historiographischer Disziplin entwickelt. Zwar nimmt er unterschiedliche im 19. Jahrhundert vorliegende Tendenzen auf, verknüpft diese aber auf eigene Weise und entwickelt sie mit bestimmter Akzentsetzung weiter. Im Konsens zur damaligen Debattenlage geht es ihm darum, solche Individuen zu thematisieren, die sich für die historische Entwicklung als bedeutsam erweisen. Im Unterschied zur historischen Biographie im engeren Sinne, die das persönliche Moment in der Betrachtung zurückstellt,97 will er dabei die individuelle Entwicklungsgeschichte ausdrücklich mit einbezogen wissen. Dass der Historiker sich dabei nicht mit unwesentlichen Dingen beschäftigt, wird nicht zuletzt dadurch verhindert, dass er sich eben auf historisch herausragende Personen bezieht, deren innere Entfaltung nicht nur für das Verstehen dieser Per95  „Eben darauf beruht nun die Möglichkeit der Biographie […], daß das Individuum nicht einem grenzenlosen Spiel der Kräfte in der geschichtlichen Welt gegenübersteht: die Sphäre, in der es lebt, ist Staat, Religion, Wissenschaft“ etc. (VII 248). 96  Und „wenn das Leben […] nunmehr nach seiner Bedeutung gewürdigt werden kann, so ist dies doch nur möglich, indem der Zusammenhang mit dem Vergangenen, Wirkenden in der Umgebung, dem Erwirkten in der Zukunft durch die Auslegung der vorhandenen Dokumente festgelegt werden kann“ (VII 249). 97  Dafür steht, wie oben angedeutet, etwa die Biographik Droysens.



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son einen Wert besitzt, sondern darüber hinaus auf geschichtlich allgemeinerer Ebene Einsichten verspricht. Damit zeigt sich eine gewisse Nähe von Dil­theys Auffassung biographischer Historiographie zu derjenigen Rankes, der – im Unterschied etwa zu Droysen und in Anknüpfung an einer bis auf Goethe zurückgehenden Tradition – der Betrachtung der Entwicklung des Einzelnen ebenfalls eine wichtige Rolle zugewiesen hatte.98 Von dessen Auffassung unterscheidet Dil­they sich allerdings dadurch, dass er zum einen der kulturgeschichtlichen Perspektive eine ungleich größere Bedeutung zuweist. Seine Schleiermacher-Biographie ist dafür das beste Beispiel, da in ihr alle oben herausgearbeiteten Grundzüge biographischer Rekonstruktion nicht im Blick auf einen politisch Handelnden, sondern am Paradigma eines kulturell Schaffenden zum Vorschein kommen.99 Zum anderen räumt er durch den Verweis auf die Notwendigkeit, auch die Betrachtung der soziokulturellen Perspektiven mit einbeziehen zu müssen, hier wieder den nicht ausschließlich geschichtlich arbeitenden Einzelwissenschaften eine Mitwirkung ein.

b.  Das biographische Selbstverstehen i.  Biographie und Autobiographie Um deutlich machen zu können, in welcher Weise Biographie und Autobiographie in Dil­theys Augen zusammenhängen, seien kurz die entscheidenden Momente biographischen Verstehens rekapituliert, wie sie im vorangegangenen Abschnitt herausgearbeitet wurden. Erstens basiert dasselbe in unterschiedlicher Weise auf selektiven Akten, mithilfe derer nicht nur entschieden wird, welche Person überhaupt zum Gegenstand gemacht werden soll, sondern auch, welche Aspekte innerhalb der betreffenden Lebensgeschichte als bedeutsam anzusehen sind. Damit ging, zweitens, notwendig die interpretative Erschließung der un98 Vgl. O. Hähner: Historische Biographik, 125. Karl-Heinz Metz hat deshalb im Blick auf Ranke von einer „integrative[n] Biographik“ gesprochen, K.‑H. Metz: Grundformen historiographischen Denkens, 133. 99  Die von Olaf Hähner vorgenommene Identifizierung von Dil­theys Leben Schleiermachers als einer ‚paradigmatischen Biographie‘ (vgl. O. Hähner: Historische Biographik, 162) scheint mir nicht zutreffend zu sein. Denn dieser Begriff bezeichnet bei Hähner eine solche Betrachtungsart, die das Individuum lediglich als „Spiegel der Zeitumstände“ (aaO. 31) auffasst, wohingegen in der ‚syntagmatischen Biographie‘ „das Individuum als wirkend auf die Geschichte gedacht“ (ebd.) werde. Nun ist es aber Dil­theys erklärtes Ziel, Schleiermacher nicht nur als Repräsentanten seiner historischen Umstände zu schildern, sondern seinen eigenen Beitrag auf wissenschaftlich-kulturellem Feld zur Darstellung zu bringen. Angesichts dessen macht es keinen Sinn, hier von ‚paradigmatischer Biographie‘ zu sprechen. Vermutlich rührt diese Fehleinschätzung daher, dass Hähner im Zuge seiner Arbeit die Differenz von paradigmatisch und syntagmatisch unausgesprochen kurzschließt mit derjenigen von politischer Geschichte und Kulturgeschichte (vgl. dazu auch aaO. 161–163). Dies ist allerdings insofern verwunderlich, als Hähner selbst wesentliche Merkmale des Syntagmatischen mit ausdrücklichem Verweis auf den Kulturhistoriker Jacob Burckhardt entwickelt (vgl. aaO. 31).

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terschiedlichen herausgehobenen Lebenszustände einher, wie sie in den unterschiedlichen Zeugnissen dieses Lebens vorliegen. Das Ziel lag, drittens, darin, nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Zusammenhang eines individuellen Lebensverlaufes zu erfassen. Viertens war herausgestellt worden, dass die jeweilige Lebensgeschichte nur dann angemessen verstanden ist, wenn ihr Gehalt nicht etwa als das Erzeugnis eines autarken Subjekts, sondern als das Gesamtprodukt einer durch die Individualität des Einzelnen bedingten Verarbeitung kontingenter Lebensumstände rekonstruiert wird. Fünftens schließlich ging es um die Einordnung des Einzelnen in die übergeordneten historischen Zusammenhänge. Wie ebenfalls schon im vorigen Abschnitt gezeigt, stellt das biographische Verstehen in Dil­theys Augen gewissermaßen einen Spezialfall von Interpersonalitätsverstehen überhaupt dar. Da Dil­they mit ‚Biographie‘ die historische Biographie von Individuen des vergangenen Lebens meint, ist sie anders verfasst als die im alltäglichen Leben vollzogene Deutung anderer Personen. Der entscheidende Differenzpunkt liegt dabei darin, dass es sich zumeist um abgeschlossene Lebensgeschichten handelt, die nicht mehr durch reale Lebensakte des zu verstehenden Individuums erweitert und modifiziert werden –100 was freilich nicht bedeutet, dass der historische Blick auf die fragliche Lebensgeschichte nicht anhaltend Korrekturen und Modifikationen erfahren kann, in denen sich die veränderliche Perspektivität des rekonstruierenden Subjekts gleichsam spiegelt. Gleichwohl lässt sich die biographische Erschließung von Lebensgeschichten als besondere Form von personalem Fremdverstehen ansehen,101 wie umgekehrt das lebensweltliche Verstehen Anderer seinen regulativen Zielpunkt in einer Auffassung von dessen lebensgeschichtlichem Zusammenhang besitzt. Aus dieser Zusammenordnung biographischen und interpersonalen Deutens lässt sich für ersteres eine wichtige erkenntnistheoretische Konsequenz ziehen. Im Rahmen seiner Konzeption des Interpersonalitätsverstehens hatte Dil­they nachdrücklich herausgearbeitet, dass alles Verstehen fremden Lebens einem Subjekt nur dadurch möglich ist, dass es die inneren Zuständlichkeiten des Anderen in sich selbst nachbildet. Das Verstehenssubjekt kann diese Nachbildung aber nur dadurch vollziehen, dass es die in seinem eigenen Bewusstseinsleben gegebenen Strukturen auf den Anderen überträgt und sich kraft einer solcher Projektion ein lebendiges Bild davon entwirft, was es mit den einzelnen Zuständen und der Individualität des Mitsubjektes auf sich hat. Denn unabhängig davon, ob es eher um das Verstehen der Lebensäußerungen in ihrer Vereinzelung geht (elementares Verstehen) oder eher um das Verstehen derselben in ihrem individuellen Zusammenhang (höheres Verstehen): Immer muss das verstehende Subjekt sein eigenes Innenleben mobilisieren, um sich den Gehalt der fremden Ausdrucksphänomene 100  Darum vollzieht sich hier das „Verstehen […] an allen äußeren Begebenheiten. Diese sind vollständig bis zum Tode, und sie haben nur am Erhaltenen eine Stoffgrenze“ (VII 249). 101  Ähnlich hatte es bereits Droysen gesehen: „Unser historisches Verstehen ist ganz dasselbe, wie wir den mit uns Sprechenden verstehen“ (J. G. Droysen: Historik, 25).



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deutend erschließen zu können. Im Fall des elementaren Verstehens geschieht dies durch eine Art analogisierenden Rückschluss, in dem auf Basis der Kenntnis bestimmter Verbindungen im Eigenleben – etwa derjenigen bestimmter Affektzustände mit korrespondierendem Verhalten des Körpers oder bestimmter Handlungen mit einem kulturellen Sinn – angesichts äußerlich wahrnehmbarer Sachverhalte auf ein entsprechendes Inneres zurückgegangen wird. Im Fall des höheren Verstehens ist dies so nicht mehr möglich, weil es dabei nicht mehr um die Auffassung einzelner Äußerungen für sich geht, sondern diese in Bezug auf die gleichsam dahinter stehende Individualität thematisch werden. Aber auch hier gibt es Dil­they zufolge keine andere Möglichkeit, sich einen Zugang zum Fremden zu schaffen, als dadurch, dass der Auffassende sein eigenes Inneres so disponiert, dass ihm die Lebensvollzüge des Anderen nachvollziehbar werden.102 Abgekürzt gesagt: Alles aktuelle Fremdverstehen ist Resultat von jeweils vollzogenen (Re-)Konstruktionsakten des Verstehenden auf Basis der ihm aus seinem eigenen Bewusstseinsleben bekannten Zustände und Vollzüge – so sehr die durch das Verstehen Anderer gewonnenen Einsichten dann auch auf die Selbst- und Weltauffassung des Einzelnen zurückwirken. Dieser erkenntnistheoretische Aspekt wirkt sich nun auch auf das biographische Verstehen aus. Auch für das Verständnis eines fremden Lebens in dessen geschichtlichem Verlauf muss sich eine entsprechende Voraussetzung aufseiten des verstehenden Lebens namhaft machen lassen. Und Dil­they zufolge ist dies in der Tat der Fall. Er erblickt sie nirgends anders als in der jedem bewussten Leben eignenden autobiographischen Besinnung, mithilfe derer letzteres sein konkretes Identitätsbewusstsein ausbildet. Diese Strukturverfasstheit muss Dil­they zufolge jeder gleichsam immer schon mitbringen, der sich die Lebensgeschichte eines fremden Individuums vergegenwärtigen möchte. Mit anderen Worten: biographisches Verstehen setzt autobiographisches Verstehen voraus.103 „Der literarische Ausdruck dieser Besinnung des Individuums über seinen Lebensverlauf ist die Selbstbiographie. Indem aber diese Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen wird, entsteht die Biographie als die literarische Form des Verstehens von fremdem Leben“ (VII 247).104 Angesichts der These, dass sich das biographische Verstehen in erkenntnistheoretischer Hinsicht als durch die autobiographische Selbstthematisierung bedingt 102  Hierfür muss, so Dil­they, eine Vielzahl von konstruktiven Leistungen erbracht werden: Man muss von der eigenen Persönlichkeitsstruktur absehen können, indem man sich etwa die im eigenen Bewusstseinsleben untergeordneten psychisch-geistigen Eigenschaften gestärkt vorstellt; man muss sich in die äußere Lebenssituation eines Anderen hineinversetzen; man muss sich in dessen daraus resultierende Innenzustände einfühlen usw. Erst auf Basis solch vielzähliger Selbstdispositionen des Verstehenssubjekts eröffnet sich diesem das in Frage stehende fremde Leben. 103  Vgl. dazu auch: F. D’Alberto: Biographie und Philosophie, 151 ff. 104  Die Differenz von Besinnung und literarischem Ausdruck soll hier auf sich beruhen bleiben.

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erweist, muss sich also zeigen lassen, dass die wesentlichen Momente des ersteren bereits im Blick auf letztere in Anschlag zu bringen sind. Anderenfalls könnte Dil­they nicht behaupten, dass die Möglichkeit der Biographie darauf beruht, dass ein Subjekt die ihm aus seiner eigenen biographischen Selbstbesinnung bekannten Verstehensstrukturen auf das Leben einer anderen Person überträgt – infolgedessen es deren Lebensverlauf dann in Form einer Lebensgeschichte allererst zu deuten vermag. Um dies deutlich machen zu können, sei in den folgenden beiden Abschnitten Dil­theys Theorie der Autobiographie für sich geschildert, um im Anschluss daran nochmals auf die Biographie-Problematik zurückzublicken. ii.  Die Frage nach der Einheit des eigenen Lebensverlaufs Wenn Dil­they einmal sagt: „Was der Mensch ist, das sagt ihm nur seine Geschichte“,105 so ist dieser Ausspruch nicht nur im Hinblick auf die Kollektivgröße Menschheit zu verstehen. Und wenn er an anderer Stelle sagt: „Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion“ (VII 279), so ist das nicht allein gegen alle Versuche gerichtet, eine Wesensbestimmung des Menschen mithilfe einer introspektiven Betrachtung des eigenen Daseins zu gewinnen.106 Dass der Mensch sich nur aus seiner eigenen Geschichte heraus aufzufassen vermag, hat eine eminente Bedeutung auch für die Frage des einzelnen Subjektes danach, wer es selbst eigentlich sei und wodurch es zu dem wurde, was es gegenwärtig ist. Als Besinnung über den eigenen Lebensverlauf steht die Autobiographie für eine solche geschichtliche Selbstverständigung. Dil­they ist es so gesehen mit diesem Thema also auch um diejenige Problematik zu tun, die die neuere Rollen- und Sozialpsychologie dann unter dem Thema der individuellen Selbstthematisierung und Identitätskonstruktion107 verhandeln sollte.108 Er behandelt die Frage nach dem geschichtlichen Selbstverstehen eines Individuums dabei in der Regel noch diesseits der Überführung in eine literarisch elaborierte Darstellungsgestalt. Darum wird auch der Fokus unserer Ausführungen weniger auf eine solche Kunstform gerichtet sein, sondern stattdessen vornehmlich 105  VIII 224.226;

vgl. auch IV 529. ist einer der Grundvorwürfe Dil­theys gegenüber dem Denken Nietzsches, dem er eine Einstellung vorwirft, die die Bedingtheit des Individualerlebens durch überindividuelle Geschichtszusammenhänge aus dem Blick verliert. Besonders deutlich formuliert in den Grundformen (vgl. IV 528 f.). Zum Verhältnis Dil­they-Nietzsche vgl. auch W. Stegmüller: Philosophie der Fluktuanz. 107  Unter den neueren Soziologen hat Alois Hahn nachdrücklich auf den Wert von Dil­theys Theorie der Autobiographie für die soziologische Theoriearbeit hingewiesen (vgl. A. Hahn: Die Systemtheorie Wilhelm Dil­theys, 18–23). 108  Karl-Heinz Lembeck hat genau diesen Aspekt als Desiderat von Dil­theys Autobiographietheorie notiert (vgl. K.‑H. Lembeck: Selbstbiographie und Philosophiegeschichte, 64), wobei er damit ausdrücklich eine Feststellung fortschreibt, die sich schon bei Bollnow findet (vgl. O. F. Bollnow: Dil­they, 207). Es wird sich aber zeigen, dass er wesentlich zu Dil­theys Konzeption gehört. 106  Dies



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die bereits auf vorliterarischer Ebene angesiedelten Deutungsleistungen in den Blick nehmen. In diesem Abschnitt soll es um die aller biographischen Selbstthematisierung vorausgesetzte Einheit des Lebenslaufes gehen, bevor im nächsten Abschnitt die entscheidenden Verfahrensprinzipien autobiographischer Rekonstruktion thematisiert werden. Die wesentliche Aufgabe biographischer Selbstbesinnung ist Dil­they zufolge darin zu erblicken, dass ein Subjekt „in der Betrachtung des eigenen Lebensverlaufs“ (VII 201) nach dem „Zusammenhang in der Geschichte seines Lebens sucht“ (VII 200). Angesichts dessen stellen sich drei Fragen: Was für eine Art Zusammenhang wird hierbei eigentlich gesucht? (1) Warum fragen Subjekte überhaupt nach ihm? (2) Und warum spielt dabei die Retrospektive eine so wichtige Rolle? (3) (1) Bewusstes Leben vollzieht sich in der Form der Zeit und besitzt darum Verlaufscharakter. Dieser stellt dabei kein konturloses Kontinuum dar, sondern es kristallisieren sich diskrete „Lebensmomente“ (VII 199) in ihm heraus. Letztere bilden aber nicht etwa bloß sich summierende Bestandstücke, sondern fungieren als „Teile“ (VII 197) eines Ganzen. Der besondere Charakter dieses Ganzen besteht darin, dass es vom betreffenden Subjekt als „innere[r] Zusammenhang“ (VII 195) erlebt wird, „in welchem die Teile verbunden sind“ (VII 197). Die besondere Struktur desselben wird von Dil­ they mithilfe deutungstheoretischer Begriffe weiterbestimmt als „Bedeutungszusammenhang“ bzw. als „Sinn des Ganzen“, den „[j]edes Leben hat“, und von dem aus „sich die Bedeutung der Lebensmomente“ ergibt (VII 199).109 Im Lichte dessen tritt zugleich ein weiterer Grundzug der Struktur des Lebenszusammenhangs ins Auge. Er ist darin zu erblicken, dass jeder Teil jenes Bedeutungszusammenhanges nicht nur „eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat“, sondern zugleich immer auch „einen Eigenwert besitzt“ (VII 199). Man könnte sagen, Dil­they münzt hier die geschichtswissenschaftliche Grundeinsicht Rankes  – dass jede geschichtliche Epoche nicht nur ein Durchgangsmoment innerhalb eines größeren Verlaufszusammenhanges darstellt, sondern daneben immer auch einen eigenständigen Wert besitzt – autobiographietheoretisch aus. Für die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte besagt das: Letztere stellt eine solche Einheit dar, innerhalb derer die einzelnen Momente nicht nur Durchgangspunkte eines übergeordneten Verlaufs repräsentieren, sondern jeder Lebensmoment ist in sich nochmals zentriert und besitzt darum einen relativ eigenständigen Wert. Der allgemeine Ausdruck dessen ist, dass das eigene Leben als „Entwicklung“ (VII 198) begriffen wird. 109 Die ‚Bedeutung‘ „ist ganz allgemein die Kategorie, welche dem Leben und der geschichtlichen Welt eigentümlich ist; dem Leben wohnt sie ein als die eigentümliche Beziehung, die zwischen seinen Teilen obwaltet, und so weit das Leben sich erstreckt, wohnt ihm diese Beziehung ein und macht sie es darstellbar“ (VII 73).

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(2) Wenn Subjekte einen solchen „Zusammenhang der verschiedenen Teile ihres eigenen Lebensverlaufes“ (VII 198) thematisieren, so impliziert dies Zweierlei: zum einen, dass sie immer schon eine Einheit ihrer Lebensgeschichte voraussetzen – anderenfalls würde unbegreiflich, warum sie überhaupt nach einer solchen zu fragen vermögen; zum anderen, dass diese Einheit für sie nicht einfach offen zutage liegt – weil sie sich ansonsten nicht um sie zu bemühen bräuchten. Wie lässt sich aber erklären, dass Subjekte überhaupt auf die Idee kommen, nach der Einheit ihres Lebensverlaufs zu fragen? Anders gesagt: Warum begnügen sie sich nicht damit, die unterschiedlichen Lebensmomente und -Phasen bloß als Fragmente aufzufassen? Wie gesehen, besitzen Dil­they zufolge alle Momente der Geschichte eines Lebens eine ‚Beziehung zu einem Sinn des Ganzen‘. An einer anderen Stelle kommt er auf dasselbe Verhältnis von Teil und Ganzem zu sprechen, bestimmt den einheitlichen Bezugspunkt nun aber nicht sinntheoretisch, sondern subjektphilosophisch: „Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist“ (VII 195). Der Sachverhalt, dass jedes Erlebnis auf ein Selbst bezogen ist, bedeutet freilich nicht, dass die Vielheit der Erlebnisse auf eine Vielheit von Selbsten rekurriert. Stattdessen erweist sich die in jedem Erlebnis – wenn auch nur implizit – mitgesetzte Selbstbezogenheit als ein Bezug auf dasselbe Selbst, auf das sich auch die anderen Erlebnisse beziehen. Und dieses Selbst wiederum ist kein anderes als dasjenige, das auch die Erinnerungsleistung vollbringt. Aufgrund dessen stehen alle dem Subjekt in der Erinnerung zugänglichen Momente seiner eigenen Vergangenheit unter dem Vorzeichen, als Erlebnisse desselben Subjektes erinnert zu werden, das diese Erinnerungsleistung aktual erbringt, d. h. alle in Frage kommenden Sachverhalte werden – noch unabhängig davon, um was es sich bei ihnen jeweils konkret handelt – als Erfahrungen und Vollzüge des erinnernden Subjektes thematisch. „Wie der Lebensverlauf durch das Bewußtsein der Selbigkeit in seiner Abfolge zusammengehalten wird, haben alle Momente des Lebens in dieser Kategorie der Selbigkeit ihre Grundlage“ (VII 247). Aus dem Sachverhalt des Bewusstseins der Identität von Erinnerungssubjekt und erinnertem Subjekt sind alle betreffenden Erlebnisse und Handlungen innerlich verbunden, woraus zugleich das Bewusstsein einer inneren Einheit des Lebensverlaufs entspringt. Dass ein Subjekt überhaupt davon ausgeht, dass alle seine erinnerten Lebensmomente in einer inneren Beziehung zueinander stehen und infolge dessen eine Ganzheit bilden,110 erweist sich also bedingt durch das subjektive Identitätsbewusstsein. Dieses fungiert als Ermöglichungsbedingung dafür, dass das Projekt einer Deutung der konkreten Einheit überhaupt in Angriff genommen werden

110  Vgl.

dazu auch S. Haas: Philosophie der Erinnerung, 46 f.



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kann.111 Zugleich stellt jenes Identitätsbewusstsein zunächst nur einen formalen Sachverhalt dar. Indem aber die formale Identität auf den Lebensverlauf bezogen wird, entsteht dem Subjekt die Aufgabe, sich im Durchgang durch den eigenen Lebenszusammenhang seiner selbst zu vergewissern. Ein konkretes Verständnis von dessen materialem Gehalt ist damit allerdings noch nicht gegeben. Hierin liegt der zweite oben genannte Aspekt begründet: dass das Subjekt den Zusammenhang seines Lebens prinzipiell zwar bereits voraussetzen, dass es diesen aber zugleich immer erst ‚suchen‘ muss.112 Mit einer an Husserl angelehnten Terminologie – die sich bei Dil­they nicht findet – könnte dies vielleicht so formuliert werden: Die biographische Thematisierung der eigenen Lebensgeschichte setzt die Intention von deren Bedeutungszusammenhang voraus, erbringt deren Erfüllung aber erst im Durchgang ihrer konkreten Deutungsarbeit. Menschen befragen die Gesamtheit der von ihnen erinnerten Lebensmomente also darum nach deren Zusammenhang, weil letztere allesamt in Bezug auf ein einziges – und zwar das jeweils eigene – Selbst aufgefasst werden. Von diesem Selbstbezug aus lässt sich zugleich eine weitere wichtige Näherbestimmung des fraglichen Bedeutungszusammenhanges des Lebens treffen. Subjekte sind keine rein passivischen Wesen, sondern all ihre subjektiven Erfahrungen sind rückgekoppelt an die praktische Sphäre der Subjektivität. Aufgrund dessen ist der Ereignisverlauf eines Lebens niemals bloß reines Fatum, sondern ebenso – freilich in unterschiedlichem Grad – das Resultat subjektiver Steuerungsprozesse. Anders gesagt: Lebensgeschichten ereignen sich nicht einfach, sondern stellen immer auch das Produkt der Lebensführungspraxis eines Einzelnen dar, der „diesen Lebenslauf innerhalb eines bestimmten Milieus hervorgebracht hat“ (VII 200). Für das Verstehen einer Lebensgeschichte sind die in ihr enthaltenen Ereignisse folglich auf einen auktorialen Mittelpunkt zu beziehen, wobei im Falle der Selbstbiographie „der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch [ist] mit dem, der ihn hervorgebracht hat“ (ebd.). Sofern das Subjekt nach dem Sinn seines eigenen Lebens fragt, fragt es mithin nach beidem: dem Bedeutungszusammenhang von dessen Einzelmomenten sowie nach sich selbst als dem Autor der betreffenden Geschichte. Der allgemeine Ausdruck dessen ist, dass das eigene Leben nicht nur als ‚Entwicklung‘, sondern auch als „Gestaltung“ (VII 199) begriffen wird, wodurch zugleich ein teleologisches Moment in die geschichtliche Selbstbetrachtung Einzug hält.

111  So auch H. M. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte, 98: Die „Teile“ eines je eigenen Lebens kommen in einem inneren Zusammenhang zu stehen, weil sie „als Lebensmomente eines und desselben Subjekts“ gegeben sind. 112  In bedeutungstheoretischer Hinsicht hat Pannenberg diesbezüglich präzise festgehalten: Es sei gewiss, „daß überhaupt im Gange eines Lebens Bedeutung ‚stattfindet‘. Aber worin sie besteht, ist nicht auf jeder Stufe des Lebensverlaufes deutlich“ (W. Pannenberg: Über historische und theologische Hermeneutik, 143).

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(3) Warum aber nimmt nun gerade die retrospektive Besinnung hinsichtlich der Gewinnung eines konkreten Selbstbildes eine derart herausgehobene Stellung ein? Dil­they selbst weist darauf hin, dass freilich nicht erst der autobiographische Rückblick als Selbstdeutungsleistung des Subjektes angesehen werden kann, sondern dass bereits dort, wo ein Subjekt in der Gegenwart lebt oder sich handelnd auf zukünftige Gestaltungsprozesse ausrichtet, Deutungsvorgänge im Spiel sind: „Jede Gegenwart ist von Realität erfüllt. Dieser aber schreiben wir einen positiven oder negativen Wert zu. Und wie wir der Zukunft uns entgegenstrecken, entstehen die Kategorien des Zweckes, des Ideals, der Gestaltung des Lebens […]. Jeder dieser Begriffe umfaßt von seinem Gesichtspunkt aus das ganze Leben: so hat er den Charakter einer Kategorie, durch welche es verstanden wird“ (VII 236). Ein entsprechendes Selbstverständnis ist also bereits im tätigen Leben involviert, wenn ein Subjekt zu den ihm begegnenden Sachverhalten wertend Stellung bezieht und auf Basis dessen Zweckvorstellungen setzt, die auf die Realisierung bestimmter Möglichkeiten abzielen. Denn überall, wo ein Subjekt Gegenständen der Wirklichkeit gegenüber Wertabschätzungen vornimmt, sind diese davon mitbedingt, welches Verständnis der Einzelne von sich selbst innerhalb seines geschichtlich-gesellschaftlichen Milieus besitzt. Entsprechendes gilt für die Wahl der anzustrebenden Zukunftsmöglichkeiten. Gleichwohl besitzt der Rückblick eine gewisse Vorrangstellung wenn es darum geht, dass ein Subjekt sich seiner konkreten Identität zu vergewissern sucht. Der Grund dafür ist darin zu erblicken, dass weder die stellungnehmenden Akte hinsichtlich gegenwärtiger Sachverhalte noch die auf Zukunft ausgerichteten Zwecksetzungen für sich zu einem integralen Gesamtbild führen. Letzteres ist nämlich nur insofern gegeben, als ein solcher Zusammenhang zu Bewusstsein gelangt, innerhalb dessen alle Teile in einer inneren Beziehung zueinander stehen und infolgedessen ein organisches Ganzes bilden. Dies ist bei Wertschätzungen und Zweckvorstellungen Dil­they zufolge jedoch nur bedingt der Fall. So sind erstere unmittelbar gekoppelt an den Wechsel der in der Wahrnehmung gegebenen Realitäten, die dann jeweils einer Wertung unterzogen werden, von denen her das Subjekt seine Handlungen entwirft. Diese Wirklichkeitsevaluierungen erfolgen jedoch immer in Bezug auf partikulare Gegebenheiten des Wahrnehmungsvollzugs, so dass sie als solche keine umfassenden Zusammenhänge bilden, sondern lediglich eine Reihe von „Eigenwerte[n] der erlebten Gegenwart“ präsentieren, die „gesondert nebeneinander [stehen]“ (VII 236). Darum „erscheint das Leben unter dem Wertgesichtspunkt als eine unendliche Fülle von positiven und negativen Daseinswerten. Es ist ein Chaos von Harmonien und Dissonanzen“ (VII 202). Hinsichtlich der Zweckvorstellungen verschärft sich die Problematik in gewisser Weise. Denn zum einen setzt die „Kategorie des Zwecks oder Gutes, die das Leben unter dem Gesichtspunkt der Richtung in die Zukunft auffaßt, […] die des Wertes voraus“ (ebd.), so dass sich jene Zersplitterung gewissermaßen fortsetzt. Zum anderen aber kann auch dort, wo „ein oberster Zweck in



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ihm [sc. dem Leben] realisiert wird“ (VII 236), nicht von einem Selbstverständnis des Lebens im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Denn sofern „ein höchstes Gut [verwirklicht]“ werden soll, dem folglich „alle Einzelzwecke sich unterordnen“, herrscht nicht die für das Verstehen charakteristische Struktur eines inneren Bedeutungszusammenhanges. Die einzelnen Teile des Ganzen sind hier nämlich nicht im Sinne einer organischen Einheit zusammengefasst, die es möglich macht, Einzelnes zugleich in seinem Eigenwert wie in seiner Funktion für das Ganze zu betrachten. Stattdessen herrscht das Verhältnis „bloße[r] Unterordnung“ (ebd.), insofern den Teilen hier nur der Status von Mitteln zukommt. Sowohl hinsichtlich gegenwärtiger Wirklichkeitsbeurteilung als auch im Blick auf zukunftsorientierte Handlungsintentionen ergibt sich somit das Desiderat eines inneren Einheitssinnes. Damit sind die beiden entscheidenden negativen Punkte benannt, aufgrund derer Dil­they lediglich der geschichtlichen Selbstbesinnung die Funktion zuspricht, ein wahrhaft ganzheitliches Selbstverständnis zu ermöglichen. Die Einheitlichkeit des eigenen Selbst vermag das Subjekt für sich selbst und für Andere darum nur insofern angemessen zur Darstellung zu bringen, als es sich von seiner jeweils aktuellen Situiertheit partiell distanziert und das eigene Leben einer retrospektiven Betrachtung unterzieht. „Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens. Und wie Geschichte Erinnerung ist und dieser Erinnerung die Kategorie der Bedeutung angehört, so ist diese eben die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens“ (VII 202).113 Es scheint möglich und reizvoll, auch Dil­theys rollensoziologische Beschreibung des Menschen als ‚Kreuzungspunktexistenz‘114  – wonach das einzelne Individuum immer an „einer Mehrheit von Systemen“ (I 51) der Gesellschaft gleichzeitig partizipiert –115 auf die hier vorgestellte Problematik zu beziehen. Demnach findet sich ein Subjekt dort, wo es sich innerhalb der Bezüge seiner soziokulturellen Umwelt engagiert, immer in partikulare, mitunter gar disparate Einstellungsweisen eingespannt, die die Frage nach deren einheitlichem Fluchtpunkt virulent werden lassen. Die Sicht auf die je eigene konkrete Identität kann dadurch mitunter gewissermaßen verstellt werden. Indirekt bleibt letztere zwar immer in Kraft, aber ihre subjektive Bewusstheit kann angesichts jener Partikularitäten und Disparatheiten weit herabgemildert werden. Um sie zu artikulieren und damit zugleich zu stabilisieren, bedarf es darum der Rückschau auf das eigene Leben aus der Distanz gegenüber den gegenwärtigen Zu- und Anmutungen des täglichen Lebens. 113  „Allein in der Beziehung der Bedeutung der Lebensvorgänge zu Verständnis und Sinn des Lebensganzen gelangt der im Leben enthaltene Zusammenhang zu seiner angemessenen Darstellung“ (VII 236). 114  So schon im Studium (V 63), dann auch in der Einleitung (I 37. 51. 87) sowie schließlich im Aufbau (VII 135.154). 115  Siehe dazu oben Abschnitt III.3.a.

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Innerhalb der neueren Soziologie ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass das gesteigerte Interesse an der Problematik der Autobiographie als typischer Ausdruck der neuzeitlich-modernen Entwicklung anzusehen sei, durch die es zu einer Steigerung soziokultureller Komplexität mitsamt der zugehörigen Ausweitung von Freiheitsspielräumen aufseiten des Individuums gekommen ist.116 Diese Sichtweise ist dann auch über den Zeitraum von Neuzeit und Moderne hinaus ins Strukturelle ausgeweitet worden.117 In beiden Fällen aber wird die Notwendigkeit der Gegebenheit spezifischer, historisch bedingter Voraussetzungen im gesellschaftlichen Leben für das Aufkommen autobiographischer Selbstverständigung stark betont. Für Dil­they hingegen resultiert die Problematik biographischer Selbstreflexion aus strukturanthropologischen Sachverhalten und tritt folglich nicht nur unter bestimmten soziostrukturellen Voraussetzungen auf: „Solche [sc. selbstbiographische] Selbstbesinnung aber erneuert sich in irgendeinem Grade in jedem Individuum. Sie ist immer da, sie äußert sich in immer neuen Formen. Sie ist in den Versen des Solon so gut als in den Selbstbetrachtungen des stoischen Philosophen, in den Meditationen der Heiligen, in der Lebensphilosophie der modernen Zeit“ (VII 200 f.). In Fortführung Dil­theys hat Georg Misch deshalb später von der Autobiographie als etwas „dauernd Menschliche[m]“118 gesprochen.119 Dass diesem ‚dauernd Menschlichen‘ in der Moderne dann aber ein ungleich höherer Entfaltungsspielraum gegeben ist, ist zweifelsohne der Fall. iii.  Die verstehende Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte Wie baut sich der Prozess des autobiographischen Selbstverstehens Dil­they zufolge weiter auf? In dem bisher Gesagten ist bereits ein wesentlicher Grundzug benannt, nämlich dessen retrospektiver Charakter. Er besagt nichts anderes, als dass eine umfassende Selbstinterpretation nur vom „Rückwärtsblickenden“ im Modus „der Erinnerung“ (VII 198) vollzogen werden kann. Deutungsarbeit vollbringt ein Subjekt allerorten. Selbstdeutung im emphatischen Sinn aber erfolgt in der Retrospektive. „Den eigentümlichen Zusammenhang meines Lebens habe ich nach der Natur der Zeit nur, indem ich mich zurückerinnere an seinen Verlauf“ (VII 73 f.). Damit ist von vornherein eine zeitliche Differenz zwischen darstellendem und dargestelltem Subjekt behauptet. Bezüglich der retrospektiven Rekonstruktion sind allerdings folgende Einschränkungen zu berücksichtigen. Erstens kann es nicht darum gehen, die Gesamtheit aller möglichen Ereignisse einer Lebensgeschichte thematisieren zu wollen, da dies angesichts der „endlosen, zahllosen Vielheit“ (VII 200) von vornherein unmöglich wäre. Stattdessen kann es immer nur um eine „Auswahl“ (ebd.) 116  Vgl. 117 Vgl.

V. Drehsen: Lebensgeschichtliche Frömmigkeit. A. Hahn: Identität und Selbstthematisierung; ders.: Identität und Biographie. 118  G. Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 1/1, 11. 119  Ähnlich gesehen hat es H. Leitner: Die temporale Logik der Autobiographie, 319.



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aus dem Inbegriff aller möglichen Begebenheiten gehen. Zweitens kommen die solcherart selegierten Begebenheiten nicht notwendig in der Form eines zeitlichlinearen Ablaufs zur Darstellung, da die für einen Lebensverlauf entscheidenden Zusammenhänge häufig „durch lange Zeiträume geteilt“ (VII 72) sind und sich somit nicht einfach im Sinne einer pragmatischen Geschichtserklärung als Glieder einer fortlaufenden Kette einreihen lassen. Schließlich wird drittens „ein Zusammenhang aufgesucht, der nicht in der bloßen Relation von Ursachen und Wirkungen besteht“ (VII 199), sondern die fraglichen Ursachen und Wirkungen in Zweckbeziehungen einordnet. Mithin kommen hier teleologische Gesichtspunkte zum Zuge: Bestimmte Ereignisse werden im Rückblick als Ursprünge entscheidender Entwicklungslinien gesetzt; ebenso im Rückblick können bestimmte Entwicklungen als auf ein Ziel hin zulaufend verstanden werden, gleichsam als ob sie beabsichtigt gewesen wären. Die autobiographische Selbstkonstruktion bedient sich folglich eines reflektierenden Verfahrens, das unter Bezug auf Kants dritte Kritik als teleologisches Urteilen bezeichnet werden könnte.120 Nicht zuletzt deshalb kann sie denn auch nur in Form einer „Deutung des Lebens“ (VII 74) vollzogen werden, die „verstehend“ (VII 198) die gesuchte Einheit zu erhellen sucht. Da nicht alle realen Bestandteile des Lebensverlaufs vom Subjekt als gleichwertig wahrgenommen werden können, hebt es von der Gesamtheit des der Möglichkeit nach Erinnerbaren immer nur ausgewählte Momente hervor. Dabei liegt das „Prinzip dieser Auswahl […] in der Bedeutung, welche die einzelnen Erlebnisse für das Verständnis des Zusammenhangs meines Lebensverlaufs“ (VII 74) besitzen. Es geht also sowohl um die Identifikation bedeutsamer Begebenheiten als auch um die Konstruktion von deren Sinnzusammenhang – wobei sich beides wechselseitig bedingt. Der hierin zur Anwendung kommende Bedeutungsbegriff selbst weist somit zwei unterschiedliche Aspekte auf: Als bedeutend wird zum einen apostrophiert, was sich für das Lebensganze als wesentlich herausstellt; darin liegt eine evaluative Dimension beschlossen. Insofern sich die jeweilige Bedeutsamkeit aber danach bemisst, welche Stellung das ausgezeichnete Einzelne für das Verstehen des Ganzen besitzt, steht es zugleich in einer inneren Beziehung zu demselben; darin besteht die kontextuelle Dimension von Bedeutung. Solche Heraushebung von Begebenheiten als innerhalb des Lebensverlaufs bedeutsamen Elementen findet bereits unterhalb expliziter Selbstbesinnung statt und wird schon innerhalb des Lebensvollzugs erbracht. So ist „[s]chon im Gedächtnis […] eine Auswahl“ (VII 74) gegeben. Der Einzelne „hat in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, herausgehoben 120  In jüngster Zeit hat vor allem Rudolf A. Makkreel wiederholt auf die Verbindungslinien von Dil­they zu Kants Kritik der Urteilskraft hingewiesen. Vgl. dazu R. A. Makkreel: Dil­they, 262–291; ders.: Dil­they und die interpretierenden Wissenschaften, 71–73. In prinzipiellem Anschluss an Makkreels Position vgl. K.‑H. Lembeck: Über ästhetische und pragmatische Grundlagen der Hermeneutik; ders.: Kantianismus oder Neukantianismus in Dil­theys Psychologie?.

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und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit versinken lassen“ (VII 200). Dieser hochgradig konstruktive121 und vorreflexiv vollzogene Vorgang erfährt auf der Ebene der bewussten Rückbesinnung eine Fortsetzung auf höherer Stufe. Denn es bleibt nicht bei jener Selektion bedeutsamer Sachverhalte, sondern dieselbe wird nochmals einer bewussten Auswahl unterzogen. So erhält „jetzt, da ich zurückdenke, […] auch von dem, was mir noch reproduzierbar ist, nur dasjenige eine Stellung im Zusammenhange meines Lebens, was eine Bedeutung hat für dieses, wie ich es heute ansehe“ (VII 74). In dieser Differenz zwischen erster und zweiter Selektion kann zugleich die Grundlage für entsprechende Sortierungen im Zuge der Abfassung literarischer Autobiographien erblickt werden, die ebenfalls in einem solchen mehrstufigen Sinne verfahren.122 Dabei gilt es darauf hinzuweisen, dass Dil­they den eben beschriebenen Vorgang nicht im rein Innermentalen belässt, sondern ausdrücklich betont, dass der Einzelne sich vergangene Begebenheiten seines Lebens auch anhand äußerlich aufbewahrter Dokumente vergegenwärtigen kann, wie etwa Briefe oder Tagebucheinträge.123 Auch im Blick auf sie kommt es dann zur eben geschilderten zweiten Selektion. Damit ist zugleich ein weiterer entscheidender Zug innerhalb des biographischen Selbstdeutungsvorgangs von Subjekten angedeutet, nämlich das unaufhebbare Wechselbedingungsverhältnis von Vergangenheitsdeutung und gegenwärtigem Selbstverständnis: Einerseits bildet dieses das Resultat von jener. Andererseits erfolgt die Deutung der eigenen Vergangenheit nicht aus irgendeiner zeitenthobenen Warte heraus, sondern ist immer durch die Perspektive des je gegenwärtigen Standpunkts mitbestimmt. Dies zeigt sich zum einen daran, dass die Aussonderung von bedeutungsvollen Lebensmomenten nach Maßgabe des jeweils aktuellen Selbstbildes des Subjekts erfolgt. Zum anderen können aber auch kontinuierlich hervorgehobene Gehalte insofern eine Umdeutung erfahren, als sich die Beurteilungskriterien an der je aktuellen Selbstdeutungsgestalt bemessen und sich mithin ändern können. „Eben durch diese meine jetzige Auffassung des Lebens erhält jeder Teil desselben, der bedeutsam ist, im Lichte dieser Auffassung die Gestalt, in der er heute von mir aufgefaßt wird“ (VII 74).124 121  Zur

Konstruktivität der Gedächtnisleistung siehe oben Abschnitt III.1.a. diese Mehrstufigkeit im Prozess literarischer Produktion von Autobiographien hat später etwa Ingrid Aichinger hingewiesen. Demnach werden nicht alle Begebenheiten der eigenen Lebensgeschichte wiedergegeben, an die der Autor sich erinnert, sondern nur diejenigen, die er „in Auswahl, Akzentuierung und Wertung […] nach dem Prinzip der Bedeutung“ als entscheidend ansieht (I. Aichinger: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk, 170– 199; zit. n. V. Drehsen: Lebensgeschichtliche Frömmigkeit, 43; zum größeren Kontext vgl. auch dies.: Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes ‚Dichtung und Wahrheit‘ und die Auto­ biographie der Folgezeit). 123 Vgl. VII 87. 124  Treffend dazu Wolfhart Pannenberg: „Im Fortgang der Lebensgeschichte nämlich verschieben sich die Bedeutungsstrukturen früheren Erlebens, weil das Ganze des Lebens immer 122  Auf



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Die Komplexität jenes Wechselverhältnisses erfährt dann nochmals dadurch eine Steigerung, dass sich die Deutung der Vergangenheit nicht allein nach der gegenwärtigen Selbstauffassung bemisst, sondern ebenso davon abhängig ist, welches Bild eine Person von ihrer eigenen Zukunft entwirft. Denn auch „[w]as wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen“ (VII 233). Hinsichtlich der Konstruktion einer konkreten Identität kommt es somit zu einem komplexen Zusammenspiel von rückblickender Deutung des Lebenslaufs, Wertung des gegenwärtig Gegebenen, sowie zukunftsorientierter Zwecksetzung. Dadurch hält zugleich ein Moment von Kontingenz in die Selbstdeutungsarbeit Einzug. Es erwächst zum einen aus jener Rückkoppelung der retrospektiven Selbstdeutung an diejenige Perspektive, wie sie sich aus der gegenwärtigzukünftigen Lebensorientierung ergibt. Denn jene permanent zu vollziehenden Umakzentuierungen sind nicht zuletzt dadurch mitbedingt, welche neuen Erfahrungen ein Selbst macht und was für Zukunftsoptionen es daraus entwickelt. Welche Sachverhalte sich aber im Verlauf der Gegenwart als Realitäten gleichsam aufdrängen, das hat das Subjekt nur beschränkt in der Hand. Darüber hinaus ist aber nicht nur die jeweilige Ursache jener anhaltenden Standpunktverschiebungen kontingent, sondern damit zugleich auch das in die Selbstdeutung zu integrierende Material. So scheint „das, was bedeutsam für unser Leben wurde als herrlich oder als furchtbar, […] immer durch die Tür des Zufalls einzutreten“ (VII 74). Aufgrund dessen besitzt die biographische Selbstkonstruktion somit zugleich die Funktion von Kontingenzverarbeitung. Sie „ist eine Deutung des Lebens in seiner geheimnisvollen Verbindung von Zufall, Schicksal und Charakter“. Dieser Aufgabe kann Dil­they zufolge aber niemals restlos Genüge getan werden. „Nie werden wir mit dem fertig, was wir Zufall nennen“ (ebd.). Jedes Subjekt macht kontinuierlich Kontingenz- und Alteritätserfahrungen, die seine integrative Selbstdeutung dauerhaft herausfordern und auch nicht immer in die Form eines bruchlosen Identitätsbilds zu überführen sind.125 Von hier aus erwächst der Autobiographie-Problematik dann auch ein Zusammenhang mit religiöser Selbst- und Weltdeutung, wie ihn die jüngere Theologie und Religionssoziologie besonders herausgearbeitet hat.126 Dil­they wieder in neuer Perspektive, aus dem Blickwinkel neuer Erlebnisse, erscheint“ (W. Pannenberg: Sinnerfahrung, 107). 125  Dil­theys diesbezügliches Beispiel sind Augustins Confessiones, in denen dieser ja gerade keine in sich stimmige Entwicklungseinheit präsentiert, sondern vielmehr einen biographischen Bruch verarbeitet. Die „Bedeutung jedes früheren Lebensmomentes“ wird darum nicht nach Maßgabe des Gedankens von „Entwicklung“ rekonstruiert, sondern Augustin finde überall nur „Vorbereitung zu der Abwendung von allen vergänglichen Gehalten“ (VII 198). 126 Vgl. V. Drehsen: Die ‚Heiligung‘ von Lebensgeschichten; D. Rössler: Grundriß der Praktischen Theologie, 198–238; H. Luther: Religion und Alltag; W. Gräb: Rechtfertigung von Lebensgeschichten; ders.: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen; A. Hahn: Biographie und Religion.

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kommt hierauf einmal in einem späten Textfragment zu sprechen und exemplifiziert den Zusammenhang von Autobiographie und Religion mit Blick auf Konversionserfahrungen im frühen Christentum. Danach wären die Gläubigen „aus dem Rückblick über alle Stadien ihres Lebens, alle Werte und Unwerte in demselben, in der Erinnerung zu einer Zusammenfassung ihrer ganzen inneren Existenz gelang[t], aus der nun plötzlich Erfüllung hervorbricht“ (II 501). Über Dil­ they hinaus könnte man freilich fragen, ob die lebensgeschichtliche Konstruktion der eigenen Identität nicht bereits diesseits solcher emphatischen Erfüllungserlebnisse eine religiöse Dimension aufweist. In beiden Fällen aber wird jene Struktur einer ‚rückblickenden Zusammenfassung‘ vorausgesetzt, die Dieter Henrich später als den „transzendentalen Moment im Leben“127 bezeichnen hat: Die eigene Lebensgeschichte wird in ihrer Ganzheit thematisch und auf ihre uneinholbaren Voraussetzungen hin durchsichtig gemacht. Kommen wir nochmals zurück zur formalen Struktur lebensgeschichtlicher Selbstdeutung. Bedeutsamkeitsidentitfikation und Bedeutungskonstruktion können also niemals abschließend erfolgen, so als ob die herausgehobene Stellung bestimmter Sachverhalte und deren interne Beziehung ein für alle Mal festgestellt wäre. Vielmehr kommt es im Laufe der Lebensentwicklung ständig zu Umakzentuierungen sowohl im Blick auf die Identifikation als auch in Bezug auf die Anordnung bedeutsamer Bestandteile. Das Subjekt sieht sich ständig gefordert, seine an der Vergangenheit gewonnenen Selbstdeutungsentwürfe vor dem Hintergrund aktueller Wirklichkeitsverarbeitung zu erproben, anzupassen und gegebenenfalls auch umzuwerfen. Alois Hahn hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass hierin eine besondere Form des hermeneutischen Zirkels erblickt werden könne – wobei er Dil­theys Position nahe an Luhmanns systemtheoretische Konzeption heranzurücken sucht. So entspreche Dil­theys Einsicht in die Notwendigkeit einer permanenten Neukodierung des eigenen subjektiven Selbstverständnisses nach Maßgabe der jeweils aktuellen Gegenwart „den rekursiven Mechanismen, derer Sinnsysteme bedürfen, um Kohärenz des Erlebens und Kommunizierens zu sichern“.128 Wenn Hahn im gleichen Atemzug festhält, dass dieser zirkuläre Verstehensprozess für Dil­they „keinesfalls in einer Spiralbewegung zur immer besseren Erfassung der Wahrheit der Vergangenheit [führt]“,129 so ist dies im Blick auf Dil­they allerdings nicht ganz zutreffend. Denn Letzterer räumt durchaus die Möglichkeit ein, dass wir „das Leben […] in einer beständigen Annäherung [verstehen]“ (VII 236), worin in gewisser Hinsicht eine spezielle Anwendung des klassischhermeneutischen Topos des Besserverstehens erblickt werden kann. Demnach entwirft ein Subjekt von Beginn seines bewussten Lebens an immer schon Ge127 D. Henrich: Versuch über Kunst und Leben, 156. 128  A. Hahn: Die Systemtheorie Wilhelm Dil­theys, 19. 129 Ebd.



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samtdeutungen seiner selbst, weil nur vor dem Hintergrund solcher Sinnganzheiten den einzelnen Begebenheiten eine Bedeutung zugewiesen werden kann. Jene Bedeutungszuweisungen werden Dil­they zufolge dann aber von der jeweiligen „Zukunft […] berichtigt“, die dem betreffenden Subjekt gleichsam die „Täuschungen des Momentes über dessen Bedeutung“ (VII 200) vor Augen führt. Im Zuge dessen kommt es zu einer fortschreitenden Anpassung und Korrektur der Auffassung darüber, „[w]orin die Bedeutung des Lebens liege“ (VII  237). Dil­they geht also durchaus davon aus, dass sich im Laufe des eigenen Lebens und der subjektiven Selbstbeschreibung desselben ein gewisser Fortschritt in der Erfassung von dessen Bedeutungsgehalt ergeben kann. Damit ist freilich nicht behauptet, dass das Subjekt jemals zu einer Anschauung seiner selbst gelangen könnte, wie es an sich verfasst ist. Das ist schon aufgrund des konstruktiven Charakters des Selbstdeutungsprozesses unmöglich. Zugleich ist damit nicht behauptet, dass dieser Selbstdeutungsprozess hinsichtlich der Erfassung des eigenen Lebenssinns jemals zu einem definitiven Ende kommen könnte. Aber dass ein Mensch im Fortschritt seines Lebensalters beanspruchen kann, einen umfassenderen Überblick darüber zu besitzen, was sein individuelles Leben als solches auszeichnet – dieser Gedanken dürfte nicht aller Plausibilität entraten. Diesbezüglich könnte man etwa darauf verweisen, dass ein Mensch tiefere Einsicht hinsichtlich seiner eigenen charakterlichen Verfasstheit erst aus der Überschau der Geschichte seiner eigenen Handlungen gewinnt – ein Sachverhalt, auf den Dil­they wiederholt zu sprechen gekommen ist.130 So sehr das Verstehen der je eigenen Lebensgeschichte eine Aufgabe darstellt, vor die sich der Einzelne als Einzelner gestellt sieht und die ihm darum auch keiner abnehmen kann, so wenig erfolgt die selbstbiographische Konstruktion von einem autarken Standpunkt aus. Vielmehr spielt immer schon eine allgemeine Dimension mit hinein. Denn kein individuelles Leben steht für sich alleine, sondern weist vielfache Bezüge zu seiner – wiederum geschichtlich bedingten – soziokulturellen Umwelt auf. Der Lebensentwurf des Einzelnen steht immer in einem Horizont geschichtlich bereitgestellter Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten, die sich dann mehr oder weniger bewusst in der retrospektiven Selbsterschließung geltend machen. Dieses Eingebettetsein des Einzelnen in überindividuelle Zusammenhänge kann dabei nicht etwa nur im Sinne einer äußeren Beobachtung festgestellt werden. Zugleich besitzt auch der Einzelne jeweils für sich bereits ein Bewusstsein davon, Teil solcher allgemeinen Strukturen zu sein, die die notwendige Voraussetzung für die jeweils in Frage stehende Selbstgestalt 130  So heißt es schon im Studium: „in uns verläuft nur der Zusammenhang von Handlung und Motiv im Bewußtsein; die Motive aber treten auf eine uns gänzlich rätselhafte Weise hervor. Daher ist der Charakter des Menschen für ihn selber ein Geheimnis, welches ihm nur seine Handlungsweise teilweise sichtbar macht“ (V 67 f.). In der Einleitung hat Dil­they diese Äußerung übernommen (I 62).

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bilden.131 Die Geprägtheit des Einzelnen von einem bestimmten gesellschaftlichkulturellen Umfeld aus macht sich dann aber nicht etwa nur auf der Gegenstandsseite, d. h. im Blick auf die zu betrachtende Lebensgeschichte – in diesem Fall: der eigenen – geltend, sondern formiert darüber hinaus auch die Art und Weise, in der die je eigene Lebensgeschichte zur Auffassung gelangt.132 Dil­they ist sich allerdings sehr wohl dessen bewusst, dass ein Subjekt in der Konstruktion der Bedeutungszusammenhänge seines Lebens auch handfesten Selbstmissverständnissen erliegen kann. In seinen späten Fragmenten hat er diesen Aspekt zwar nicht weiter thematisiert. Zieht man jedoch einige frühere Ausführungen mit heran, so wird deutlich, dass er die prinzipielle Möglichkeit und faktische Vorfindlichkeit entsprechender Fehleinschätzungen ausdrücklich mit in Rechnung stellt. Eine der prägnantesten Ausführungen dazu findet sich in der Einleitung seines 1891/93 verfassten Manuskripts Leben und Erkennen. Unter dem Thema der „Täuschungen der inneren Wahrnehmung“ (XIX 335) kommt Dil­ they hier auf drei unterschiedliche Ursachen zu sprechen. Die erste besteht darin, dass vergangene Gemütszustände nicht mehr in der gleichen Lebendigkeit wachgerufen werden können, in der sie damals empfunden worden sind, woraus sich eine Unterbewertung hinsichtlich der ihnen eigenen Dramatik ergeben kann. „So erklärt sich die leichte Art, in welcher selbst Biographen wie Rousseau und Goethe über die Leiden der Jugend hinweggehen“ (ebd.). Ein zweiter Grund ist darin zu erblicken, dass die subjektive Zeit „verschiedene Grade und verschiedene Maßstäbe der Messung […] hat“ (XIX 336), was in der Erinnerung leicht zu falschen Annahmen über die objektive Dauer bestimmter Zustände führen kann. Als dritte „Quelle innerer Selbsttäuschungen“ kommt Dil­they auf den Umstand zu sprechen, dass ein Subjekt sein Innenleben immer auch gedanklich zu sortieren unternimmt. Dabei aber kann es leicht geschehen, „daß wir in der Erinnerung falsche Verbindungen zwischen jetzigen oder vergangenen Zuständen und ihren Ursachen herbeiführen“ (ebd.). Es ist nicht möglich, diese drei Punkte zu Dil­theys späteren Ausführungen genau ins Verhältnis zu setzen, da er im Kontext seiner späteren AutobiographieTheorie darauf keinen Bezug genommen hat. So könnte ein Teil derjenigen 131  „Den ursprünglichsten unter diesen [sc. geschichtlichen] Zusammenhängen bildet der Lebensverlauf eines Individuums in dem Milieu, von dem es Einwirkungen empfängt und auf das es zurückwirkt. Schon in der Erinnerung des Individuums ist ihm dies Verhältnis gegeben“ (VII 246, vgl. auch VII 278). In dieser Hinsicht ist Pannenbergs Einschätzung zuzustimmen, „daß die individuelle Lebenseinheit für das Individuum überhaupt erst aus der Erfahrung übergreifender Bedeutungszusammenhänge faßbar […] wird“ (W. Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, 499). Er geht aber zu weit, wenn er im selben Kontext sagt, jene Lebenseinheit werde überhaupt erst durch die Erfahrung übergreifender Bedeutungszusammenhänge „als Bewußtseinseinheit konstituiert“ (ebd.). Wie oben gesehen, stellt die Bewusstseinseinheit für Dil­they eine Voraussetzung autobiographischer Selbstbetrachtung, nicht deren Resultat dar. 132  So sagt Dil­they etwa im Blick auf Rousseaus Autobiographie, dass in dem Ziel von dessen Selbstdarstellung „doch das Ideal seiner Zeit lag“ (VII 199).



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Vorgänge, die er hier als ‚Täuschungen‘ beschreibt, vor dem Hintergrund seiner späteren Konzeption auch unter dem Gedanken der Umkodierung betrachtet werden, etwa indem man die Hochschätzung der Jugendzeit im reifen Alter auch als eine Neubewertung derselben unter anderem Gesichtspunkt betrachtet.133 Vor allem der dritte Aspekt aber dürfte eine bleibende Einschränkung biographischer Selbstreflexion hinsichtlich ihrer prinzipiellen Fehlbarkeit bezeichnen. Dies hängt damit zusammen, dass ein Subjekt Beziehungen zwischen unterschiedlichen Tatbeständen der Erinnerung herstellt. Hier ist eine ganze Reihe von Missdeutungen denkbar, die sich insgesamt in der Spannung bewegen, entweder faktisch vorliegende Verhältnisse zwischen vergangenen Begebenheiten nicht zu Bewusstsein zu bringen oder aber Verhältnisbeziehungen zu konstruieren, die gar nicht vorgelegen haben. „Hierher gehören“ etwa „unsere Selbsttäuschungen über unsere Motive“ (XIX 336): Unbewusst gebliebene Beweggründe können in der Rekonstruktion übersehen werden oder es können vorübergehende Vorstellungen zu dauerhaften Handlungsursachen stilisiert werden.134 Bezieht man darüber hinaus den Sachverhalt mit ein, dass Erinnern ein hochgradig konstruktiver Vorgang ist, dann vergrößert sich der Möglichkeitsraum biographischen Falschverstehens noch einmal: So können unzutreffend erinnerte oder gar eingebildete Begebenheiten an die Stelle tatsächlicher Sachverhalte treten. Umgekehrt können stattgefundene Tatbestände nicht nur vergessen, sondern auch verdrängt werden. Im Verbund mit jener Anordnung und Interpretation können sich daraus dann Missdeutungen des eigenen Selbst-Welt-Verhältnisses ergeben, die von bloßen Einseitigkeiten oder leichten Fehleinschätzungen in der Selbstwahrnehmung bis hin zu massiven Störungen des Selbstbildes führen können.135 Welche Konsequenzen daraus für den Aufbau eines realitätsgerechten Selbstbildes methodisch zu ziehen sind, hat Dil­they nur ansatzweise erörtert. Zum einen wäre auf die oben genannte Funktion äußerer Vergangenheitsdokumente zu verweisen, die es zumindest partiell möglich machen, bestimmte Verhältnisse des vergangenen Lebens zu rekonstruieren. Darüber hinaus hat Dil­they aber noch einen weiteren, eher indirekten Hinweis gegeben. Sonach sind für die eigene Selbstthematisierung immer auch „die Wirkungen derselben [sc. unserer Handlungen] auf andere“ sowie die „Urteile[ ] über uns, die“ von Anderen „ausgesprochen“ (VII 87) worden sind, miteinzubeziehen. Kein Subjekt ist in der Konstruktion seiner materialen Identität sonach gänzlich auf sich selbst zurück133  Die biographisch frühen Erlebnisse würden dann gewissermaßen einer neuen Betrachtung unterzogen, durch welche die etwaigen Leiden gegenüber anderen damaligen Sachverhalten, die nun als wesentlich erscheinen, in ihrer Bedeutung herabgestuft werden. 134 „Aus hindurchfliegenden Wunschbildern werden in der Erinnerung böse Absichten etc.“ (XIX 336). 135  Karl-Heinz Lembeck hat diesbezüglich mit Blick auf Dil­they von einer „Fiktion innerhalb einer via Erinnerung konstituierten Erlebnisgeschichte“ gesprochen – die in der bewussten „literarischen Fiktion im [sc. lebens-]historischen Bericht“ nochmals eine markante Steigerung findet (K.‑H. Lembeck: Geschichte und Erinnerung, 253).

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geworfen. Vielmehr befindet er sich auch hier in einem sozialen Konnex, der nicht nur darin besteht, Anderen von sich zu erzählen, sondern auch darin, die Einschätzung Anderer bereits in die innere Selbstdarstellung mit einfließen zu lassen.136 Festzuhalten bleibt: Die prinzipielle Fehlbarkeit allen biographischen Selbstverstehens bildet die Rückseite von dessen grundlegender Verfahrensweise. So gelangt das Subjekt in der autobiographischen Arbeit niemals zu einem restlosen Verstehen seiner selbst. Eine unmittelbaren Widergabe des eigenen Lebens, wie dieses an sich verlaufen ist, ist unmöglich. Das Resultat solchen Selbstverstehens stellt darum auch „nicht ein einfaches Abbild des realen Lebensverlaufs“ (VII 200) dar, sondern ist das Produkt eines konstruktiven Selbstentwurfs, wie er aus einer bestimmten Perspektive vollzogen wird. iv.  Die geschichtswissenschaftliche Begründungsfunktion der Autobiographie Es hatte sich gezeigt, dass das grundlegende Element geschichtlichen Verstehens Dil­they zufolge in der biographischen Rekonstruktion einer individuellen Lebensgeschichte besteht. Dies war vor allem deshalb der Fall, weil die Aufgabe der Biographie Dil­they zufolge nicht darin bestehen kann, ein Individuum als eine abgetrennte autarke Lebenseinheit zu betrachten, sondern dessen Lebensverlauf als einen Wirkungszusammenhang zwischen fraglichem Selbst und dessen geschichtlich-soziokultureller Umwelt aufzufassen – was soweit gehen kann, dass die äußeren Grenzen des zu betrachtenden Einzellebens transzendiert werden: rückwärts durch betreffende Beobachtungen zur Vorgeschichte, vorwärts durch Einbezug der Wirkungsgeschichte. Die biographische Historiographie treibt demnach bereits von sich aus ins Allgemeine. Nun hatte Dil­they zugleich die weiterführende These aufgestellt,137 dass das biographische Fremdverstehen nur dadurch möglich ist, dass das solcherart verstehende Subjekt die ihm aus der Auffassung seiner eigenen Lebensgeschichte her bekannten Vollzugsmomente des Verstehens in Bezug auch auf fremdes Leben in Anschlag bringt. Anders gesagt: Nur dadurch, dass ein Subjekt von sich selbst weiß, wie geschichtliches Leben zur Auffassung gelangt, vermag es sich auch ein Bild von den Lebensgeschichten Anderer zu machen. Dil­they bleibt nun aber hierbei nicht stehen, sondern vertieft die Frage nach der Grundlegung des Geschichtsverstehens noch einmal. So spricht er in einem späten Manuskript im Blick auf die biographische Selbstbesinnung von der „Urzelle der Geschichte“ (VII 246) überhaupt. Was dies besagen soll, ist alles andere als selbsterklärend, und Dil­they hat diese These kaum weiter erläutert. Eine erste mögliche Antwort lässt sich dahingehend geben, dass er damit die wichtige Funktion des individuellen Erinnerns für den Aufbau von Geschichts136 

Hier wäre zugleich der Anknüpfungspunkt für etwaige psychotherapeutische Konzepte. dazu oben Abschnitt III.4.b. i.

137  Siehe



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bewusstsein hervorheben will. Karl-Heinz Lembeck hat diesen Interpretationsvorschlag gemacht138 und Dil­they unter Berufung auf die Protagonisten des in neuerer Zeit wieder stärker vertretenen Konzeptes von ‚Geschichte als Erinnerung‘139 – die sich selbst zum Teil auf Dil­they berufen –140 stark zu machen gesucht: Das individuelle Erinnern besitze eine „geschichtskonstitutiv[e]“141 Funktion, weil alle dauerhafte Aufbewahrung von Momenten des Geschichtsverlaufs in den Erinnerungsleistungen von Subjekten ihren Ursprung habe, so dass die Historie nicht einfach an der individuellen Erinnerungsleistung vorbei gehen kann – wie dies in den Modellen des ‚kollektiven‘142 oder ‚kulturellen Gedächtnisses‘143 mitunter der Fall sei. Lembeck verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf eine Äußerung aus einem späten Manuskript Dil­theys, wonach in der Selbstbiographie „das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan“ (VII 200) sei. Diese Lesart ist sicherlich nicht unzutreffend im Blick auf Dil­theys Einschätzung der Leistungskraft autobiographischer Besinnung. Wenn er an anderer Stelle aber auch davon sprechen kann, dass letztere zugleich im Blick auf das Reich der allgemeinen Geschichte als ein „Hilfsmittel der Orientierung“ (VII 252) zu fungieren vermag, so scheint er indes noch auf etwas anderes zu zielen: den Sachverhalt nämlich, dass die für jeden historischen Verstehensvollzug wesentlichen Verfahrensmomente bereits in der geschichtlichen Selbstanschauung des Einzelnen angelegt sind. Dies gilt es im Folgenden zu zeigen. Dafür seien nochmals diejenigen Gesichtspunkte rekapituliert, die sich einerseits im Blick auf Geschichtsbetrachtung insgesamt als zentral erwiesen haben,144 denen andererseits aber zugleich ein funktionales Pendant im autobiographischen Verstehen zugewiesen werden kann. Sieben Punkte sind vor allem zu nennen. Als erster Aspekt ist auf die Indirektheit allen Bezugs auf die Vergangenheit zu verweisen. Es hatte sich gezeigt, dass der Historiker das vergangene Leben niemals direkt in Augenschein zu nehmen vermag, sondern dass sein Zugang vermittelt ist durch gegenwärtig vorliegende Sachverhalte, die als Quelle für die Erhellung damaliger Zeiten angesehen und interpretiert werden können. Eine analoge Problematik war im Blick auf das geschichtliche Selbstverstehen zutage getreten. Auch dem auf den eigenen Lebenszusammenhang reflektierenden Subjekt sind die vergangenen Ereignisse seines Lebens nicht unmittelbar zugänglich, sondern können gleichsam nur auf dem Umweg der Erinnerungsrepräsentation bewusst gemacht und gegenwärtig gehalten werden. 138 Vgl. K.‑H. Lembeck: Geschichte und Erinnerung. 139  Als Protagonisten dieser Debatte verweist Lembeck auf

die Historiker Jörn Rüsen, Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern (vgl. aaO., 244). 140  Vgl. inbesondere C. Wischermann: Geschichte als Wissen, 71–75. 141  K.‑H. Lembeck: Geschichte und Erinnerung: 247, vgl. 249. 253 f. 142  Hierfür stehen nicht zuletzt die Arbeiten von Maurice Halbwachs. 143  Diese Konzeption verbindet sich bekanntlich mit dem Namen Jan Assmanns. 144  Siehe dazu oben Abschnitt III.4.a. i.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Der zweite Aspekt schließt daran unmittelbar an. Weder die Geschichtswissenschaft als Ganze, geschweige denn der einzelne Historiker vermag die geschichtliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Angesichts deren immenser Komplexität kann diese immer nur ausschnitthaft zum Thema gemacht werden, so dass jede geschichtliche Anschauung notwendig mit Auswahlprozessen vonseiten des betrachtenden Subjekts einhergeht. Letztere betreffen aber nicht nur die Auswahl des Gegenstandes, sondern setzen sich insofern in der Thematisierung desselben fort, als auch die einem konkreten Tatbestand zugehörigen Merkmale und Bedingungsfaktoren im Geschichtsganzen auslaufen. Auch im Blick auf sie ist eine Selektion zu vollziehen. Dieser geschichtsmethodologische Sachverhalt besitzt wiederum eine Entsprechung im autobiographischen Verstehen. Denn es hatte sich gezeigt, dass die geschichtliche Selbstanschauung des Einzelnen niemals den Inbegriff seiner vergangenen Momente und Zustände ins Auge zu fassen vermag, sondern dass er aus den vielfachen Momenten seines Lebens diejenigen herausgreift, die sich für ein Verstehen der inneren Einheit desselben als wesentlich bzw. als bedeutsam erweisen. Dil­they hatte, drittens, darauf hingewiesen, dass das Moment der Auswahl nicht erst dort zutage tritt, wo ausdrückliche Geschichtsbetrachtung am Werke ist, sondern dass bereits das Vorliegen dessen, was in einer Gegenwart als Anhalt für den Vergangenheitsbezug vorgefunden wird, von einer zuvor geleisteten Auswahl abhängig ist. Diese kann dabei sowohl bewusst erfolgt sein – etwa indem die Menschen einer vergangenen Zeit über Ereignisse, die ihnen wichtig waren, Nachrichten irgendeiner Form festgehalten haben. Sie kann aber auch unbewusst erfolgt sein – etwa indem Begebenheiten der Vergangenheit sich indirekt in vorfindlichen Sachverhalten niedergeschlagen haben, die zu späterer Zeit als Überreste damaligen Lebens aufgefasst und verstanden werden können. Wiederum zeigt sich eine Analogie zur selbstbiographischen Rekonstruktion. Denn auch im Zusammenhang ihrer Erörterung hatte Dil­they ausdrücklich hervorgehoben, dass die Selektion bedeutsamer Lebensmomente nicht erst im Zusammenhang der expliziten Rückschau erfolgt, sondern in einem nicht unerheblichen Umfang bereits auf vorbewusster Ebene getroffen worden ist. So nimmt eine Person schon im Vollzug ihres Lebens nicht alle Tatbestände in die Erinnerung auf, sondern lässt viele Begebenheiten und Zusammenhänge dem Vergessen anheimfallen. Viertens, sowohl die bewusste Auswahl dessen, was überhaupt zum Objekt der Geschichtsbetrachtung werden soll, als auch die hermeneutische Erfassung und Darstellung desselben vollzieht der Historiker nicht aus einer abstrakten Warte heraus, sondern ist darin immer rückgebunden an einen konkreten Lebenskontext, aus dem heraus die Vergangenheit in den Blick genommen wird. Eine entsprechende Problematik zeigte sich im Blick auf die Produktion autobiographischen Wissens: Sofern der Einzelne nach der inneren Einheit seines geschichtlich verlaufenden Lebens fragt, identifiziert er bedeutende Momente desselben und



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bringt sie mit anderen solchen Momenten in Verbindung, so dass sich ein konkretes Bild der eigenen Lebensgeschichte ergibt. Was er hierbei jedoch auswählt und wie er dieses Ausgewählte in das eigene Lebensganze einordnet, ist hochgradig davon bestimmt, wie er sich zum Zeitpunkt der jeweiligen geschichtlichen Lebensbetrachtung selbst versteht, was ihm wichtig ist und auf welche Zukunftsoptionen er sich ausstreckt – wobei sich zwischen rückblickender Deutung des Lebenslaufs, gegenwärtiger Beurteilung des Daseins sowie zukunftsorientierten Zwecksetzungen ein komplexes Wechselspiel ergibt. Für beide Fälle – das Verstehen von Geschichte überhaupt sowie die dezidiert biographische Selbstdeutung – ergibt sich daraus, fünftens, die Konsequenz, dass es in ihrem anhaltenden Vollzug jeweils zu einer kontinuierlichen Umakzentuierung im Blick auf die Identifikation bedeutsamer Momente sowie deren interpretatorische Erfassung, beurteilende Einordnung und narrative Anordnung kommt. Historisches Wissen steht nicht ein für allemal fest, sondern entwickelt sich dynamisch. Für die Autobiographieproblematik hat Dil­they dies besonders deutlich hervorgehoben. Man wird es aber letztlich für das Geschichtsverstehen insgesamt als ein wesentliches Merkmal einstufen können: Jede Gegenwart sieht die Geschichte neu; nicht etwa nur deshalb, weil neue Informationen über die Vergangenheit vorhanden wären. Dies mag zwar auch eine Rolle spielen; entscheidend ist aber, dass der historische Gegenstand in gewissem Sinne immer erst dadurch konstituiert und verstanden wird, dass sich bewusstes Leben mit spezifischen Orientierungsbedürfnissen auf die Vergangenheit bezieht. Das bedeutet aber zugleich, dass die kontinuierliche Rekonfiguration historischen Wissens so lange nicht zu einem Ende kommen kann, wie die Geschichte individuellen und sozialen Bewusstseins nicht zu einem Ende gekommen ist, weshalb jede Gegenwart dazu aufgefordert ist, sich ihr eigenes Geschichtsbild zu erarbeiten. Sechstens, nimmt man die bisher vorgetragenen Punkte zusammen, so ist klar, dass alle Geschichtsdeutung niemals ein reines Abbild der Wirklichkeit zeichnet, sondern ein hochgradig konstruktives Produkt darstellt. Die historische Verbindung einzelner Lebensmomente zu biographischen oder interbiographischen Gesamtzuständen und -verläufen nimmt jene Momente weder in ihrer Allheit in den Blick noch verbindet sie diese einfach nach ihrer chronologischen Ordnung oder nach der Aufeinanderfolge ihres geschichtlich-kausalen Wirkungszusammenhanges. Sie werden stattdessen zu ‚Bedeutungszusammenhängen‘ verknüpft, deren innere Struktur sich zu einem erheblichen Anteil der schöpferischen Kraft des historisierenden Subjektes verdankt. Im Blick auf die Autobiographie liegt diese Sichtweise Dil­theys klar auf der Hand. Dass er sie prinzipiell für alle geschichtshermeneutischen Zusammenhänge in Rechnung gestellt hat, zeigt sich daran, dass er zum einen das allgemeine Problem der historischen Stoffauswahl mithilfe des Bedeutungsbegriffs beschreiben konnte, zum anderen im Blick auf das von einem Historiker erarbeitete Gesamtbild von einem ‚Bedeutungszusammenhang‘ gesprochen hat.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Der letzte Punkt schließlich bezeichnet den systematisch tiefstliegenden. Dil­ they macht wiederholt deutlich, dass die geschichtliche Wirklichkeit insgesamt als eine Einheit aufgefasst werden kann. Diese für das moderne historistische Denken insgesamt maßgebliche Sichtweise besitzt ihren Ursprung in der Spätaufklärung – wo erstmals der Gedanke aufkam, die vom Weltbild des Menschen gemachte Wirklichkeit zerfalle nicht bloß in unterschiedliche Geschichten, sondern lasse sich zugleich als eine einzige Geschichte ansehen.145 Der Titel hierfür lautet ‚Universalgeschichte‘ und ist unbeschadet aller Differenzen zwischen Aufklärung und Historismus in bestimmter Hinsicht auch für diesen gültig geblieben – wobei die idealistischen Entwürfe von Geschichtsphilosophie ein wichtiges Bindeglied bilden. Diesbezüglich ist nun aber nach der Voraussetzung zu fragen, derer es bedarf, um solch einen Gesamtverlauf, der die unterschiedlichen Geschichtsmomente integriert, als möglich annehmen zu können. Dil­they erblickt sie in der Annahme einer „Gleichartigkeit der Menschennatur“ (I 44). Im Aufbau hat er von der „Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes in der Universalgeschichte“ (VII 191) gesprochen. Von einem einzigen geschichtlichen Gesamtzusammenhang lässt sich folglich nur insofern sprechen, als alle möglichen Geschichtsmomente als Ausdruck und Realisierung einer prinzipiell identischen Instanz verstanden werden, die im Blick auf die geschichtliche Gesamtwirklichkeit in der Größe ‚Menschheit‘ zu erblicken ist. Eine analoge Verstehensstruktur von Einzelmoment und identischem Zusammenhang hatte sich nun auch im Kontext der Rekonstruktion von Dil­theys Autobiographietheorie ergeben: so unterstellt der Einzelne seiner eigenen Lebensgeschichte darum eine innere Einheit, weil die erinnerten Momente derselben von seinem subjektiven Selbigkeitsbewusstsein zusammengehalten werden. In der verstehenden Rekonstruktion des eigenen Lebensverlaufs vergewissert sich das Individuum dann dieser inneren Einheit und macht sie sich in ihrem konkreten Gehalt bewusst. Nun setzt der Historiker im Blick auf den allgemeinen Geschichtszusammenhang freilich eine andere Art der Identität voraus, nämlich eine gattungsallgemeine, in der die historisch-kulturellen und persönlichen Eigentümlichkeiten aufgehoben sind. In Hinsicht auf Intention und Erfüllung einer einheitlichen Geschichte zeigt sich aber auch hier, dass der Betrachter allgemeiner Geschichte eine Grundstruktur in Anschlag bringt, die im Bewusstseinsleben eine Entsprechung besitzt. Die Autobiographie wird von Dil­they also nicht nur darum so hervorgehoben, weil sich mit ihr die Bedeutung des individuellen Erinnerns für das Geschichtsverstehen verbindet. Darüber hinaus nimmt sie insofern eine geradezu grundlegende Stellung ein, als sie in funktionaler Hinsicht die wesentlichen Strukturmomente geschichtlichen Verstehens überhaupt bereitstellt. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Historiker darum all die Verstehensschritte zu tun 145 Vgl.

R. Koselleck: Geschichte, Historie, 647 ff.



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vermag, die er für die Erschließung vergangenen Lebens zu gehen hat, weil er sie in prinzipieller Hinsicht vom Vollzug seines eigenen Selbstverstehens her kennt. Dabei geht individuelles Selbstverstehen keineswegs unter Ausblendung des Bezogenseins auf überindividuelle Sachverhalte und Zusammenhänge vonstatten, sondern kann und muss die Einbettung des eigenen Lebens in allgemeine, natürliche und soziokulturelle Strukturen mitbedenken, wenn es sein Ziel nicht von vornherein verfehlen will.

5.  Religion als Fall und Objekt von Verstehen Dil­theys Konzeption der Religion baut auf seinen kulturtheoretischen Überlegungen auf, vertieft diese aber zugleich auf besondere Weise. In Fortführung der bisher geschilderten Einsichten kann auch sie als ein hochgradig deutungsbetroffener Sachverhalt des individuellen und sozialen Lebens begriffen werden. Denn wenn alle Wirklichkeitssicht des Menschen letztlich als Interpretation einzustufen ist, dann ist klar, dass das auch für die Religion zutreffen muss. Ihre Verstehensleistung besitzt ihren subjektiven Ursprung im vorreflexiven Bewusstseinsleben des Menschen. Aufgrund der intersubjektiven Natur desselben bildet sich konkrete Religiosität aber nur im komplexem Zusammenspiel mit einer geschichtlich-kulturellen Umwelt aus: So erweist sich die individuelle Frömmigkeit zutiefst vom Kontext der sie umgebenden Kultur geprägt, wobei diese Prägung nicht allein die Seite der deutenden Artikulation betrifft, sondern bis auf die Erlebnissphäre hinabreicht. Umgekehrt stellt das religiöse Leben des Einzelnen nicht etwa bloß die Verwirklichung bereits vorliegender Strukturen dar, sondern besitzt diesen gegenüber immer auch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Originalität. Besonders zum Vorschein kommt letztere in den herausragenden Gestalten der Religionsgeschichte, die aufgrund einer besonderen religiösen Lebendigkeit größerer Modifikationen im Erlebnis- und Vorstellungshaushalt der Religion bewirken. Aber auch hier gilt: So sehr wesentliche Zäsuren im religionsgeschichtlichen Verlauf immer auf besonders kreative Personen zurückverweisen, so sehr sind auch sie durch einen konkreten Möglichkeitsraum bedingt, wie er ihnen zur Zeit ihres Auftreten gleichsam bereitgestellt wird. Dazu gehören nicht etwa nur kulturelle Artikulations- und Kommunikationsmuster, sondern auch handfeste soziale Faktoren. Im Unterschied zu anderen Bereichen von Gesellschaft und Kultur ist die religiöse Sphäre dadurch ausgezeichnet, dass es in ihr um eine „ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens“ (VI 237) geht, d. h. es geht nicht um – reproduktive oder produktive – Sinngewinnung real vorfindlicher Tatsachen und Sachverhalte als solchen. Stattdessen ist es der Religion darum zu tun, ein Verständnis von Wirklichkeit auszubilden, durch das die empirische Ebene transzendiert wird und die entsprechenden Erfahrungsgehalte auf eine höhere Sinnebene bezogen werden. In deren Licht können dann prinzipiell alle Begebenheiten des Lebens als Ausdruck und Symbol eines unendlichen bzw. unbedingt-überweltlichen Zusammenhangs verstanden werden. Dieses Religionsmodell soll im Folgenden nun ausführlich besprochen werden.



5.  Religion als Fall und Objekt von Verstehen

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In einem ersten Abschnitt (5.a) wird es um die religionstheoretischen Grundlagen gehen. Dafür soll zunächst Dil­theys Theorie des religiösen Bedürfnisses vorgestellt werden (a. i.). Sodann wird der religiöse Verstehensvorgang im engeren Sinne im Fokus stehen (a.ii.). Weiterhin ist die geschichtlich-kulturelle Dimension ins Auge zu fassen (a.iii.), ehe Überlegungen zur Rationalität und Irrationalität der Religion den Abschnitt beschließen (a.iv.). Dil­theys theoretische Betrachtungen zum Aufbau des religiösen Lebens sind zurückgebunden an entsprechende geschichtliche Untersuchungen. Letztere bilden das Thema des zweiten Abschnitts (5.b). Dafür wird zuerst auf den Zusammenhang der Religionsthematik mit Dil­theys Weltanschauungstypologie hinzuweisen sein, um vor diesem Hintergrund zwei Religionstypen zu gewinnen, mit deren Hilfe er den historischen Stoff grundlegend perspektiviert (b. i.). Im Anschluss daran sollen beide Typen nacheinander vorgeführt werden (b.ii/iii.), um schließlich nach möglichen religionsphilosophischen Konsequenzen jener Verhältnisbestimmung zu fragen (b.iv.).

a.  Die religiöse Wirklichkeitsdeutung i.  Die Theorie des religiösen Bedürfnisses Wie in anderem Zusammenhang gesehen,1 bedient sich Dil­they zur theoretischen Beschreibung des kulturellen Lebens des anthropologisch-psychologischen Schemas von Bedürfnis und Befriedigung. Danach gehen alle soziokulturellen Erlebens- und Handlungsweisen aus spezifischen Bedürfnisstrukturen hervor, die in den betreffenden Kultursystemen eine ihnen entsprechende Erfüllung finden. Alle Leitperspektiven, in denen es zu dauerhaften Koordinationen innerhalb des menschlichen Selbst- und Welt-Umgangs kommt (Wirtschaft, Sprache, Wissenschaft etc.), können darum als Darstellung basaler Anlagen der menschlichen Natur betrachtet werden. Dass Dil­they dieses Modell seiner Kulturtheorie zugrunde gelegt hat, bedeutet, dass es für jeden systemischen Bereich des geschichtlich-kulturellen Lebens vorauszusetzen ist. Insofern Religion für Dil­they einen wesentlichen Bestandteil des soziokulturellen Zusammenhanges bildet, muss jenes Schema auch für sie in Anschlag gebracht werden können. So spricht Dil­ they dann auch vom „Begriff des religiösen Bedürfnisses“ bzw. „des Bedürfnisses, das in der Religion Befriedigung findet“ (VII 267). Dies ist gerade auch im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Verstehen interessant, ist in diesem Zusammenhang doch auch die Rede von einem „Bedürfnis, die unverstandene Stummheit des Wirklichen aufzuheben“ (XIX 357). Angesichts dessen bietet es sich an, Dil­theys deutungstheoretisches Modell von Religion von jenem Grundbegriff aus zu rekonstruieren. 1  Siehe

dazu oben Abschnitt III.3.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Ganz allgemein resultiert das religiöse Bedürfnis aus bestimmten Erfahrungen, in denen dem Menschen sein Dasein fraglich wird. Die ersten klar greifbaren Äußerungen hierzu finden sich im dritten Kapitel von Leben und Erkennen. Hier werden zwei entsprechende Erfahrungstypen unterschieden. Der eine setzt sich aus unterschiedlichen Einzelerfahrungen zusammen, in denen das Leben eine „Last […] allmählich auf das Gemüt häuft“ (XIX 357). So sieht sich jeder Mensch – wenn auch auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Umfang  – dem Umstand ausgesetzt, dass die Wirklichkeit sich häufig nicht nach seinen Vorstellungen, Plänen, Wünsche und Hoffnungen richtet und mitunter geradezu feindliche Züge tragen kann. In jenem späteren – bereits herangezogenen – Textfragment spricht Dil­they diesbezüglich davon, der Mensch gewahre einen „Druck der umgebenden Welt […], die Unmöglichkeit, durch Eingriff ihn zu überwinden, die Unrealität derselben, Fragilität, Korruptibilität“ (VII 267). Das Leben erweist sich als brüchig, hemmend, unerfüllt, riskant, zerstörbar und unbeständig. Der Mensch häuft ständig Erfahrungen an, durch die ihm gewissermaßen die Gleichgültigkeit der Wirklichkeit gegenüber seinem eigenen Streben bewusst wird. „Der Mittelpunkt aller Unverständlichkeiten sind Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod.“ (VIII 80) Was Dil­they hiermit beschreibt, könnte man mithilfe eines später von Hermann Lübbe geprägten Begriffes auch als Kontingenzerfahrungen bezeichnen.2 Damit ist eine erste wesentliche Erfahrungsbasis benannt, auf der es zur Ausbildung des religiösen Bedürfnisses kommt. So will der Mensch „sich von der Last befreien, welche das Leben allmählich auf das Gemüt häuft“ (XIX 357, Hvh. v. Verf.). Er entwickelt „positiv ein Bedürfnis nach Festigkeit der Welt, Vertrauensmöglichkeit, Frieden“ (VII 267). Der Religion fällt die Aufgabe zu, hierauf eine Lösung zu bieten, indem sie eine Wirklichkeitskonzeption entwickelt, die vor dem Hintergrund sowohl jener Erlösungssehnsüchte als auch der faktischen Welt „die Gestaltung der Person zu einer befriedigenden Einheit (Seligkeit)“ (ebd.) ermöglicht.3 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Kontingenzerfahrungen der 2  H. Lübbe: Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung. 3  Gunter Scholtz hat kritisch gefragt, ob Dil­theys – an anderer

Stelle artikulierter – wissenschaftlich-kultureller Fortschrittsoptimismus nicht zur Konsequenz habe, dass die Bedürfnisbasis der Religion zu verschwinden drohe, da „der Zivilisationsprozess jene Erfahrungen [sc. von Unbefriedigung, Dissonanz, Leid] fast abgeschafft“ habe (vgl. G. Scholtz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung in der Sicht Dil­theys, 284). „[E]s fragt sich, ob die Religion sich nicht gemäß seinen [sc. Dil­theys] Ausführungen fortschreitend von ihrer ursprünglichen anthropologischen Basis entfernt“ (aaO., 285). Dem gegenüber gilt es meines Erachtens zu bedenken, dass auch solch ein Fortschrittsoptimismus nicht damit rechnen kann, dass grundlegende Kontingenzerfahrungen, wie etwa Geburt, Tod und Krankheit, verloren gehen werden. Von daher schätze ich Dil­theys Grundlegung im religiösen Bedürfnis nicht als inkonsistent ein. Dies lässt sich noch im Blick auf einen anderen Punkt untermauern. Scholtz fragt nämlich weiterhin, wie angesichts der – von Dil­they emphatisch gewürdigten – „weltbejahende[n], weltfreudige[n], pantheistische[n] Mystik“ (VI 297) des jungen Schleiermacher „die Sehnsucht nach Erlösung von den Leiden in der Welt eine wichtige Basis des religiösen Bewusstseins sein soll“



5.  Religion als Fall und Objekt von Verstehen

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eben beschriebenen Art nicht allein leidvoller Natur sein müssen, sondern auch in Erfahrungen der Lebenswertsteigerung bestehen können. Dil­they hat auf diesen Umstand zwar selbst hingewiesen.4 Er bleibt in seinen Ausführungen allerdings etwas unterbelichtet.5 Der andere Typ von Kontingenzerfahrung setzt sich nicht so sehr aus unterschiedlichen Einzelerfahrungen zusammen, sondern betrifft die jeweils eigene Daseinsstruktur als solche: Das bewusste Leben steht im Blick auf Grund und Ziel seiner Existenz vor einem unlösbaren Rätsel. Dil­they schildert dies mithilfe einer anthropologischen Bestimmung eines spezifischen Unterscheidungsmerkmals zwischen Mensch und Tier: Während dieses immer „ganz in der Gegenwart [lebt]“ (XIX 356), vermag jener sich in seinem Bewusstsein über den jeweils herrschenden Einzelzustand zu erheben und ihn in retentionaler und protentionaler Hinsicht zu überschreiten. Die Fähigkeit zur Transzendierung des gegenwärtigen Lebensmoments hat in letzter Konsequenz aber das Bewusstsein einer prinzipiellen Opazität der eigenen Daseinsverfasstheit zum Resultat. Denn im Unterschied zum Tier, das „weder von Geburt noch vom Tode“ etwas weiß, verliert sich menschliches Lebensbewusstsein nach beiden Seiten „im Dunkel. Dunkel ist der Anfang und dunkel das Ende des Lebens“ (XIX 357). Der Mensch vermag zwar ein Wissen davon auszubilden, dass er einmal zu existieren angefangen hat und dass er irgendwann zu existieren aufhören wird. Dieses Wissen führt aber zugleich zu der Einsicht, dass er Ursprung und Zweck des eigenen Lebens nicht anzugeben weiß, wodurch zugleich „Wert und Erreichbarkeit“ der zu verfolgenden „Lebenszwecke“ (ebd.) fraglich werden. Damit ist nun die zweite Erfahrungsbasis gegeben, auf deren Grundlage es zur Ausbildung eines entsprechenden Bedürfnisses kommt: Angesichts der grundsätzlichen Verborgenheit von Lebensgrund und Lebensziel entsteht die Sehnsucht, „das aus dem Dunkel in das Dunkel verlaufende Leben einem Zusammenhang ein[zu]ordnen, in welchem es begreiflich wird“. Zugleich möchte der Mensch „nach diesem Zusammenhang Lebenszwecke festlegen, deren Wert und Erreichbarkeit in demselben garantiert ist“ (XIX 357). (G. Schotz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung in der Sicht Dil­theys, 284). Es „wird fraglich, ob man die fortgeschrittene Religion der Transzendentalphilosophie noch Religion nenen darf“ (Ders.: Dilhteys ‚Problem der Religion‘, 273). Diesbezüglich wäre daran zu erinnern, dass sich auch in den Reden die Anweisung findet, angesichts des Problems des Todes nicht auf ein jenseitiges Weiterleben zu schielen, sondern gleichsam schon in der Gegenwart zu sterben (vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Reden, 131 f.). Dies wird man ohne Frage als eine Form des Umgangs mit menschlicher Endlichkeit einstufen können. 4  So „weist das Leben selber, […] in seiner Härte so durchgängig aus Leid und Glück so sonderbar zusammengesetzt, auf etwas hin, das von außen eindringt, aus eigenen Tiefen kommt, fremdartig auf dieses , als käme es aus Unsichtbarkeiten“ (VII 266, Hvh. v. Verf.). 5  Darum sind die leidvollen Erfahrungen in der Dil­ they-Forschung zumeist in den Vordergrund gerückt worden. Vgl. zuletzt M. Jung: Erfahrung und Religion, 53 ff.; G. Scholtz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung in der Sicht Dil­theys.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Dil­they steht mit diesen Überlegungen in partieller Nähe zur sogenannten radikalen bzw. genetischen Religionskritik.6 Die Parallele besteht in der Feststellung, dass der Mensch aufgrund tiefgreifender Beschränktheitserfahungen Projektionen7 einer Wirklichkeit vornimmt, die als von jenen Beschränktheiten unbetroffen vorgestellt wird. Im Unterschied zur religionskritischen Position zieht Dil­they aus der Einsicht in den projektiven Charakter des religiösen Bewusstseins aber nicht die Konsequenz, sie als illusorische Täuschung anzusehen und ihr damit eine wesentliche Funktion im Rahmen der Wirklichkeitsverarbeitung des Menschen abzusprechen. Er erachtet sie vielmehr als berechtigten und notwendigen Ausdruck innerlich erfahrener Werthaftigkeit menschlichen Daseins8 und schreibt ihr damit eine wesentliche Funktion für die humane Daseinsbewältigung zu.9 Was ist damit gemeint? Wie gezeigt, kann im Phänomen des religiösen Bedürfnisses ein indirekter Ausdruck des Leidens an der endlichen und kontingenten Verfasstheit menschlicher Existenz erblickt werden. Dieses Leiden, das zur Artikulation religiöser Bedürfnisse führt, setzt aber voraus, dass der Mensch den betreffenden Wirklichkeitszuständen und -strukturen gegenüber die Idee eines höheren Lebens mitbringt, das nicht durch jene Beschränkungen gekennzeichnet ist. Anderenfalls würde er nicht zur Einsicht in deren Endlichkeit und Kontingenz gelangen, geschweige denn diese Einsicht als leidvoll bewerten. In den vorfindlichen Lebenszusammenhängen keine Ruhe zu finden, ist folglich nicht nur Ausdruck davon, mit der Wirklichkeit nicht zurande zu kommen, sondern kann umgekehrt auch als Zeichen dafür gelesen werden, dass dem menschlichen Lebensvollzug eine innere Unendlichkeitsdimension eignet, die sich mit dem Vorfindlichen von Grund auf nicht zufrieden geben kann, sondern alles Faktische auf dessen möglichen Unendlichkeitsaspekt hin transzendiert. Mit Blick auf diesen Transzendierungsvollzug kann Dil­they die Religion in der Einleitung geradezu als „die alles Sichtbare überschreitende Lebensmacht“ (I 141) definieren. Religion setzt also streng genommen nicht erst bei der Artikulation entsprechender Bedürfnisse und schon gar nicht bei deren Erfüllung ein. Vielmehr ist ihr letzter Ursprung dort zu suchen, wo der Mensch bestimmte Zustände und Strukturen aufgrund einer mit dem inneren Leben gegebenen Unendlichkeitsintention überhaupt erst 6 Vgl. F. Wagner: Was ist Religion, 90–106; R. Barth: Religionskritik. 7  Auch Dil­they scheut nicht davor zurück, im Zusammenhang seiner religionsgeschicht-

lichen Studien wiederholt vom Begriff der Projektion Gebrauch zu machen (vgl. II 5. 11 f. 34 passim; V 403). 8  Für Dil­they wurzelt die Religion „in diesem Bedürfnis, das höhere Bewußtsein im Leben zu behaupten“ (VIII 497). Auf diese Äußerung aufmerksam gemacht hat schon P. Hossfeld: W. Dil­theys Stellung zur Religion und seine philosophischen Voraussetzungen, 110. So auch L. Schulz: Wesen und Begründung der Religion bei Wilhelm Dil­they, 27. 9  Dass Dil­theys Religionsmodell funktionale Züge trägt, darauf hat schon früh hingewiesen H. Richert: Dil­they als Religionsphilosoph, 55: „[d]ie Religion ist für ihn [sc. Dil­they] eine notwendige Funktion des Menschen“.



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als endlich erlebt. So entwickelt die Religion „Lebensbegriffe, welche ein […] unendlich wertvoller und gehaltvoller Ausdruck des Bewußtseins der Lebenseinheit von sich und ihren Zusammenhängen sind“ (XIX 358). Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Begriff des ‚religiösen Bedürfnisses‘ nochmals in einem anderen Licht. Wie eben gesehen, ist Religion bereits dort in Anschlag zu bringen, wo der Mensch das Vorfindliche auf letzte Zusammenhänge hin überschreitet. Dieses Überschreiten stellt gewissermaßen die Folge eines mit der Erlebnisstruktur des Menschen gegebenen Transzendierungsstrebens dar. Dieses Streben kann nun aber selbst nochmals als Resultat eines Bedürfnisses beschrieben werden, und zwar als ein dem menschlichen Geistesleben entspringendes Bedürfnis danach, Bedingtes auf Unbedingtes zurück zu führen, um jenes Bedingte von hier aus dann wiederum einer höheren Betrachtung zu unterziehen. Mit Schopenhauer könnte man diesbezüglich von einem ‚metaphysischen Bedürfnis‘ sprechen.10 Letzterer hatte diesen Begriff allerdings auf die der Vernunft innewohnenden Tendenz auf Letztbegründung gemünzt.11 Im Blick auf Dil­they ist darum besser von einem religiösen Bedürfnis zu reden.12 Abschließend ist auf jene eingangs zitierte Äußerung zurückzukommen, wonach der Religion die Funktion zukommt, ‚die unverständliche Stummheit des Wirklichen aufzuheben‘. Angesichts des oben Geschilderten lässt sie sich wie folgt aufschließen: Das bewusste Leben weist eine tiefgreifende Fremdheitserfahrung auf, kraft derer Sinn und Bedeutung des eigenen Daseins fraglich werden. Dabei bleibt es aber nicht stehen, sondern sucht jene ‚unverständliche Stummheit‘ mithilfe religiöser Wirklichkeitsdeutung aufzuheben. Religion hat folglich damit zu tun, eine bestimmte Form der Interpretation zu erbringen, durch die der Mensch seinem Bedürfnis nach letzter Sinnhaftigkeit Genüge tut. Dabei findet jene obige Rekonstruktion  – wonach Religion nicht erst im Überschritt von Leiden zu Bedürfnisartikulation ansetzt, sondern bereits als Bedingung jenes Leidens angesehen werden kann – nochmals eine Bestätigung. Indirekt hebt Dil­ they nämlich auch in jener Äußerung hervor, dass Religion nicht erst als Reflex auf irritierende Erfahrungen entsteht, sondern dass sie implizit bereits jenen Irritationen zugrunde liegt. Dies deutet er dadurch an, dass er das Bedürfnis nach religiöser Wirklichkeitsdeutung nicht gegenüber einer als gänzlich sinnlos erfahrenen Realität, sondern gegenüber der Erfahrung eines ‚Un-Verstandenen‘ in Stellung bringt. Diese Negativformulierung kann so aufgefasst werden, dass jenem Bedürfnis bereits eine ursprüngliche Verstehensintention zugrunde liegt. Angesichts jener nicht ohne weiteres integrierbaren Irritationserfahrungen bleibt 10  Mathias Jung hat auf diese Nähe hingewiesen (M. Jung: Erfahrung und Religion, 54) – allerdings lediglich mit kritischem Unterton und ohne Angabe dazu, wie sich der Begriff des ‚metaphysischen Bedürfnisses‘ zu jener anthropologischen Beschreibung des religiösen Bedürfnisses verhält. 11 Vgl. A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 3, 186–219. 12  Zum Verhältnis von Religion und Metaphysik bei Dil­they siehe unten Abschnitt III.5.a.iv.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

sie zunächst allerdings unerfüllt, woraus dann überhaupt erst das Leiden an jener ‚Stummheit‘ resultiert. Man könnte diesbezüglich auch von einem primordialen Bedürfnis des Lebens nach letzter Sinndeutung sprechen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass man eine kulturanthropologische Grundlegung der Religion, wie Dil­they sie bietet, nicht einfach als „funktionalistische Religionsdeutung“13 abzuqualifizieren braucht. Diesbezüglich sei bloß daran erinnert, dass auch ein Theologe wie Rudolf Bultmann in den alle Menschen bedrängenden Fragen nach Glück und Heil „ein existenzielles Wissen um Gott“14 gesehen hat. ii.  Das religiöse Verstehen im engeren Sinn Als Ergebnis des vorigen Abschnittes hatte sich herausgestellt, dass Religion für Dil­they die Aufgabe hat, gegenüber der empirisch vorfindlichen Lebenswirklichkeit des Menschen einen höheren Standpunkt einzunehmen, von dem aus dieselbe nochmals in einem prinzipiell anderen Licht betrachtet werden kann. Dabei hat er schon früh davon gesprochen, dass die Religion diese Funktion in Form eines Deutungsvorgangs erbringt. So ist etwa schon in Dil­theys Poetik (1886) im Blick auf die Religion von einem „Organ des Wirklichkeitsverständnisses“ (VI 116) die Rede. Eine ausgearbeitete Theorie religiöser Deutung bietet Dil­they zwar nicht. Mustert man aber sein Werk auf diese Frage hin durch, so stößt man auf eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, die begreiflich machen, was ihn dazu veranlasst hat, den Aufbau des „religiösen Bewußtseins“ (I 279)15 als einen Verstehens- bzw. Deutungsvorgang zu betrachten. Diese Problematik soll im Folgenden nach folgenden Gesichtspunkten aufgerollt werden: Zunächst sei etwas zu Dil­theys bewusstseinstheoretischer Ortsbestimmung der Religion gesagt (1). Sodann soll es um seine These einer grundlegenden Perspektivität des religiösen Lebens gehen (2). Daran wird die Beschreibung des Verhältnisses vorprädikativer und reflexiver Deutung (3) sowie die Rekonstruktion religiöser Erfahrung als ein in sich gestuftes Bewusstseinsphänomen anschließen (4). Weiterhin ist die kategorientheoretische Grundlegung des Religionsmodells zu erörtern (5), ehe schließlich Überlegungen zum Verhältnis von Religions- und Bedeutungsbegriff angestellt werden (6). (1) Der mentale Ausgangspunkt der Religion liegt für Dil­they nicht in der theoretischen Betrachtungsart, sondern gehört dem vorreflexiven Bereich menschlichen Bewusstseinslebens an. Dessen religiöse Dimension verdankt sich demnach nicht einem expliziten Denkakt des Subjekts, sondern baut sich innerhalb der prädiskursiven Sphäre auf. Diese Einschätzung hat Dil­they sich schon frühzeitig zu eigen gemacht. So hält er bereits im Novalis (1865) im Blick auf das Christen13  M. Jung: Erfahrung 14  R. Bultmann: Das 15 Vgl.

I 141. 153. 325.

und Religion, 54. Problem der Hermeneutik, 232.



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tum fest, dass das „Gemütsleben […] seine[ ] wahre[ ] Heimat“ (XXVI 204) sei.16 Für Dil­they hat diese bewusstseinstheoretische Ortsbestimmung aber nicht nur Bedeutung für das Christentum, sondern beschreibt letztlich einen Grundsachverhalt allen religiösen Lebens. Religion stellt für ihn im Grunde keine Sache der ‚theoretischen Vernunft‘ dar, sondern entspringt aus dem „ganz inneren Zusammenhang“ (ebd.) mit dem Gemüt.17 Für diesen religionstheoretischen Gedanken bensprucht er keineswegs Originalität, sondern gibt schon im Leben Schleiermachers klar zu erkennen, dass er ihm vor allem von Letzterem her überkommen ist.18 Allerdings weicht er dann in einer nicht unwesentlichen Hinsicht von Schleiermachers gemütstheoretischen Beschreibung ab, und auch diese ist bereits in letztgenanntem Werk zu greifen. Schleiermacher hatte die Religion im Gefühl verortet und den eigentlichen Gehalt des religiösen Bewusstseins in einer Passivitätserfahrung erblickt. Genau an diesem Punkt setzt Dil­theys Kritik an. Zwar gibt er Schleiermacher darin völlig recht, dass Religion ursprünglich nichts mit Denken oder Wissen zu tun habe. Einen nicht unerheblichen Mangel an Schleiermachers Konzeption erblickt er aber darin, dass dieser lediglich den passiven Erfahrungen des Menschen eine entscheidende religiöse Funktion beigemessen habe. Dem gegenüber markiert Dil­they, dass er es an dessen „Ausführung“ für „weder reif noch folgerichtig“ erachte, „wenn seine Anschauung der Religion […] die aktiven Elemente noch nicht würdigt, die in jeder wahren Religion liegen“ (XIII 428 f.). Dil­they will also eine Engführung von ‚Gemüt‘ und ‚Passivitätsgefühl‘ vermeiden und neben den emotiven Bewusstseinsvollzügen auch ein tätiges Element in seiner religiösen Valenz zur Geltung bringen, für das vermögenstheoretisch der volitionale Bereich steht. Damit ist eine partielle Distanzierung gegenüber Schleiermacher gegeben, die vor allem durch Dil­theys Auseinandersetzung mit dem Werk Albrecht Ritschls motiviert sein dürfte.19 In der Dil­they-Forschung hat dieser Umstand bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden.20 Darauf wird zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund fällt ein bezeichnendes Licht darauf, warum Dil­they letztlich einen anderen psychologischen Grundbegriff als den von Schleierma16  17 

Auf diesen frühen Beleg hat schon hingewiesen U. Herrmann: Dil­they, Wilhelm, 756. Entsprechend kann Dil­they dann auch in der Einleitung festhalten, dass die Metaphysik – nach deren geschichtlichem Ausgang sich das religiöse Erlebnis als deren tiefere und eigentliche Grundlage enthülle (vgl. I 136) – „ihre Macht nicht, wie Kant in seiner abstrakten und ungeschichtlichen Denkweise annahm, kraft der Schlüsse einer theoretischen Vernunft besessen [hatte]. Nie würde aus diesen die Idee der Seele oder der persönlichen Gottheit hervorgegangen sein. Vielmehr waren diese Ideen in der inneren Erfahrung begründet“ (I 384 f.). 18 Vgl. XIII 428. 19 Vgl. U. Herrmann: Art. Dil­they, Wilhelm, 752. 20  In der Regel begnügt man sich damit, eine entsprechende Beziehung zwischen Schleiermacher und Dil­they zu konstatieren, vgl. R. A. Makkreel: Dil­they, 403; G. Scholtz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung nach Dil­they, 276. Der mit dieser Beziehung zugleich gegebene Unterschied wird zumeist nicht bedacht.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

cher favorisiert: Während bei letzterem ab der zweiten Auflage der Reden der Begriff des Gefühls immer weiter in den Vordergrund rückt, bis er im reifen Werk dann – unter dem Zusatz ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ – zur religionstheoretischen Zentralkategorie avanciert, spricht Dil­they in der Regel weniger vom religiösen Gefühl, sondern zieht den Begriff des ‚religiösen Erlebens‘ vor. Dadurch kann er die bewusstseinsphänomenale Basis der Religion breiter anlegen als das bei Schleiermacher der Fall ist. Denn Gefühle stellen immer schon eine spezifische Bearbeitungsform von Erleben dar, insofern in ihnen dessen undifferenzierte Einheit bereits eine vorreflexive Artikulation gefunden hat. Von ‚Erleben‘ zu sprechen, impliziert einen Ansatzpunkt noch unterhalb der Ausdifferenzierung von Emotionen im Gemütsleben, so dass für die Rekonstruktion des religiösen Bewusstseinsaufbaus auch der volitionalen Dimension Rechnung getragen werden kann. So heißt es dann auch im Wesen, dass die Religion „ihren Mittelpunkt in dem religiösen Erlebnis“ (V 382) hat. Wenn Dil­they dann zwischen ‚religiösem Erlebnis‘21 und ‚religiöser Erfahrung‘22 unterschiedet, so deutet er damit differenzierte Grade von Unmittelbarkeit bzw. Vermitteltheit an. Wirklich durchgehalten hat er diese Begriffsunterscheidung aber nicht, weswegen sie im Folgenden auch keine weitere Beachtung finden wird. Das, was das religiöse Erlebnis als ein religiöses auszeichnet, kann Dil­they mit unterschiedlichen Kategorien beschreiben. So kann er sowohl von einem Bezug desselben auf ein ‚Unbedingtes‘23 als auch auf ein ‚Unendliches‘24 sowie auf ein ‚Unsichtbares‘25 sprechen. Dabei favorisiert er im Laufe seiner Entwicklung zunehmend letzteren Begriff, vermutlich weil ihm größere Unbestimmtheit eignet, so dass er auf ganz unterschiedliche Formen und Gestalten von Religiosität anwendbar ist. Unter Anlehnung an den Titel von Wilhelm Herrmanns LutherBuch26 kann Dil­they das religiöse Erlebnis dann geradezu definieren als „durch den Verkehr mit dem Unsichtbaren“ (II 500) bestimmt.27 Analoge Formulierungen finden sich sowohl im Wesen28 als auch in den Typen.29 Auf welche Weise sich jener Bezug auf das Unsichtbare aufbaut und auslegt, wird im Folgenden zu zeigen sein. 21  Vgl.

exemplarisch in der Einleitung I 79. 98. 135 passim.

25  Vgl.

ebd. W. Herrmann: Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dar-

22 Vgl. 23 Vgl.

I 141. 252. 274 passim. VIII 172. 24 Vgl. I 137. 26 Vgl.

gestellt. 27  Dil­they verweist auf dieses Buch erstmals in Auffassung und Analyse (vgl. II 56, Anm. 1). Die konstruktive Aneignung jenes Titels findet sich erst in Texten nach der Jahrhundertwende. 28  „Wo irgend der Name Religion auftritt, hat diese zu ihrem Merkmal den Verkehr mit dem Unsichtbaren“ (V 381, vgl. 382). Die begriffliche Orientierung Dil­theys an jenem Werktitel Herrmanns kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Dil­they vom „religiöse[n] Verkehr zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen“ (V 387) spricht. 29 Vgl. VIII 90.



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(2) Unbeschadet seines Ursprungs in der Innerlichkeit des Menschen vollzieht sich das religiöse Leben ursprünglich nicht in einfacher Unmittelbarkeit, sondern perspektiviert sich bereits auf primordialer Ebene. Diese Ansicht Dil­theys findet sich schon in der Einleitung angedeutet und ergibt sich zunächst aus einer vergleichsweise äußeren Textbeobachtung. Um dies vorführen zu können, müssen wir etwas weiter ausholen. Im zweiten Buch dieses Werks sucht Dil­they den Nachweis zu führen, dass die Metaphysik als eine Wissenschaft von Wirklichkeiten höherer Ordnungen im Zuge der Neuzeit ihre Geltung verloren hat und als wissenschaftliche Grundlagendisziplin nicht mehr zu fungieren vermag. Die Einzelheiten dieses Nachweises können hier auf sich beruhen bleiben. Entscheidend ist, dass Dil­they mit dem Zusammenbruch dieser Form von Metaphysik keineswegs das menschliche Trachten nach letzten Dingen zum Ende gekommen sieht. Mit der Einsicht in das Scheitern metaphysischer Beweisgänge sei vielmehr erst die eigentliche Grundlage in den Blick geraten, von der aus alles Trachten jener Art seinen Ausgang nimmt, nämlich das religiöse Erleben: „die Metaphysik ist vergänglich, und die Selbstbesinnung, welche die Metaphysik auflöst, findet in ihrer Tiefe abermals – das religiöse Erlebnis“ (I 136).30 Hinsichtlich der hier interessierenden Frage nach einer primordialen Perspektivierung desselben ist folgender Fortgang des Gedankens entscheidend: Die Dekonstruktion der Metaphysik erbringt zwei unterschiedliche Erlebnisweisen, in denen sich jeweils der Zug des menschlichen Geistes zu einem empirisch nicht aufweisbaren Zusammenhang zeige. So heißt es zum einen: „Die metaphysische Beweisführung, welche uns durch die ganze Geschichte der Metaphysik begleitet hat, ist als solche von jetzt an zerstört […]. Was zurückbleibt ist die metaphysische Stimmung, ist jenes metaphysische Grundgefühl des Menschen, welches diesen durch die lange Zeit seiner Geschichte begleitet hat“ (I 364). Zum anderen ist zu lesen: „[D]ie metaphysische Wissenschaft ist ein historisch begrenztes Phänomen, das meta-physische Bewußtsein der Person ist ewig“ (I 386). Prima facie scheinen beide letztgenannten Zitate dasselbe zu besagen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass beide unterschiedliche religiöse Grundhaltungen des Menschen bezeichnen. Jene ‚meta-physische Stimmung‘ wird von Dil­they nämlich im Sinne einer immanentistischen Weltfrömmigkeit expliziert,31 innerhalb derer sich das Subjekt als unselbständiger Ausdruck einer unendlichen Ordnung empfindet. Das ‚meta-physische Bewusstsein der Person‘ hingegen wird der Dimension des sittlich-religiösen Willenslebens 30  Schon Ernst Troeltsch hatte gesehen, dass Dil­theys Einleitung als „Analyse der psychologischen und geschichtlichen Erscheinungen der Religion“ (E. Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, 421) gelesen werden kann. 31  „Dieses metaphysische Grundgefühl […] beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes, welcher ein Symbol der Unendlichkeit ist, auf dem reinen Lichte der Gestirne, das auf eine höhere Welt zu deuten scheint, vor allem aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache Bahn, die ein Gestirn am Himmel beschreibt, zu unserer geometrischen Raumanschauung in eine geheimnisvolle aber lebendig empfundene Beziehung setzt“ (I 364).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

zugewiesen, in dem der Mensch seine Unbedingtheit der Naturordnung gegenüber und seine Teilhabe an einem übernatürlichen Zusammenhang gewahrt, zu dessen tatkräftigem Mitaufbau er sich zugleich aufgerufen findet.32 Es sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass darin werkgeschichtlich der Entdeckungszusammenhang derjenigen Differenz erblickt werden kann, die Dil­they im Rahmen seiner weltanschauungstypologischen Beobachtungen dann auf den Gegensatz von ‚objektivem Idealismus‘ und ‚Idealismus der Freiheit‘ gebracht hat.33 Dil­they geht also von einer basalen Grundspannung der Religiosität aus, die ihre religionsgeschichtliche Entsprechung dann in der Ausbildung des Gegensatzes zwischen den „Religionen der Personalität“ und der „pantheistische[n] Religiosität“ (II 338) findet, wie Dil­they in seinem späten Pantheismus (1900) herausgearbeitet hat. Von den historiographischen Bezügen soll in diesem Zusammenhang aber noch abgesehen werden.34 An dieser Stelle geht es lediglich darum, dass er die Basis dieses Gegensatzes im religiösen Erleben selbst angelegt sieht. Das bedeutet: Bereits letzteres weist unterschiedliche Grundperspektiven auf, die nicht etwa erst durch die hinzutretende Reflexion hervorgebracht sind. In einem späten Aufsatz kann er diesbezüglich geradezu von den „beiden“ irreduziblen35 „Ausgangspunkte[n] alles Glaubens“ (II 339) sprechen. Beiden gemeinsam ist der Bezug auf einen die empirische Wirklichkeit überschreitenden Gesamtzusammenhang. Je nach Gesichtspunkt kann sich jener Bezug aber auf ganz unterschiedliche Weise konkretisieren. In seinen späten Schriften hat Dil­ they dann ausdrücklich hervorgehoben, dass bereits jede solche Perspektivierung als eine Deutungsleitung betrachtet werden kann: „Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung“ (VIII 81). (3) Die Konkretion des religiösen Lebens setzt sich in unterschiedlichen Deutungsvollzügen fort, in denen sich das Subjekt über seine Erlebnisgehalte zunehmend klar zu werden sucht. Diese Deutungsanreicherung erfolgt zunächst weiterhin auf vorreflexiver Ebene, ehe sie im Zuge des Entfaltungsprozesses des religiösen Bewusstseins dann auch zu einer vorstellungsmäßigen Vergegenständlichung führt. Dil­they hat diesen mentalen Deutungsvorgang für beide Typen der Religiosität vorgeführt. Wir beschränken uns im Folgenden darauf, ihn anhand des Paradigmas der Freiheitsreligion darzustellen. Dieses Vorgehen ist zum einen dadurch motiviert, dass es uns an dieser Stelle lediglich um die formale Struktur 32  „[A]us der Tiefe der Selbstbesinnung, die das Erleben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist, [entspringt] das Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch die Naturordnung, deren Gesetzen sein Leben nicht entspricht, sondern nur durch etwas, was dieselbe hinter sich zurück läßt“ (I 385). 33  Siehe dazu unten Abschnitt III.5.b. i. 34  Siehe dazu unten die Abschnitte III.5.b.ii–iii. 35 Vgl. XIV 14 f.



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religiöser Deutung geht. Zum anderen sind Dil­theys Ausführungen zum pantheistischen Typus vergleichsweise bekannt,36 während seine Theorie ‚personalistischer Religion‘ kaum geläufig ist. Der Ausgangspunkt dieser Religionsform ist in der Freiheitserfahrung des Menschen zu erblicken, wie sie mit dem sittlichen Vollzug des menschlichen Willens gegeben ist. Den Grundzug des moralischen Lebens erblickt Dil­they37 mit Kant darin, dass die einer Handlung zugrunde liegende Willensmaxime ihren Wert nicht durch Bezug auf äußere Faktoren erhält, sondern sich allein einer entsprechenden Gesinnung des Handelnden verdankt,38 wobei die ethische Grundaufgabe des Subjekts in der Ausbildung eines einheitlichen Gesamtwillens zu erblicken ist.39 Im Unterschied zu Kant tritt Dil­they dann aber nicht für eine reine Formalethik ein, sondern ist um eine Synthese von Gefühlsethik und formaler Vernunftethik bemüht:40 Worauf er an dieser Stelle besonderes Augenmerk legt, ist der Sachverhalt, dass die Möglichkeit des Menschen, sich als ein sittliches Wesen zu begreifen und sein Leben entsprechend zu führen, ihn notwendig dessen innewerden lässt, nicht in der Naturordnung aufzugehen, sondern dieser in gewisser Hinsicht enthoben zu sein. Damit einher geht die Fähigkeit, angesichts moralisch empfundener Verbindlichkeiten sinnliche Bedürfnisse zurückstellen zu können, was im Phänomen der Aufopferung des eigenen Selbst für Anderes und Andere seinen höchsten Ausdruck findet.41 Genau hierin verortet Dil­they in der Einleitung nun die religiöse Valenz jener Freiheitserlebnisse: So „entspringt aus der Tiefe der Selbstbesinnung, die das Erleben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist, das Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch die Naturordnung, deren Gesetzen sein Leben nicht entspricht“ (I 385). Dadurch geht uns das „Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung d. h. als moralisch-religiöse Wahrheit“ (I 384) auf. Indirekt weist Dil­they darauf hin, inwiefern man diesbezüglich bereits von einem grundlegenden Deutungsvorgang auszugehen habe: „Nicht durch logische Folgerichtigkeit gezwungen, nehmen wir einen höheren Zusammenhang an, in den unser Leben und Sterben verwebt ist“ (I 385). Dieser Aussage kann 36 Vgl.

VIII 115 und VI 301. Dil­they hat sein ethisches Denken zwei Mal ausführlicher zur Darstellung gebracht, einmal innerhalb seines 1864 als Habilitation verfassten Versuchs (VI 28–55) und dann nochmals in seiner 1890 gehaltenen Ethik-Vorlesung (vgl. X), in die er viele Ausführungen aus der Habilitationsschrift wörtlich übernommen hat. Vgl. dazu Th. Herfurth: Dil­theys Schriften zur Ethik. 38  „Das unermeßliche Verdienst Kants liegt in der Entdeckung von dem absoluten Wert des guten Willens“ (VI 17). „Die moralische Organisation ist der Grund des Guten; das verwirklichte Gute ist die Gesinnung“ (VI 50). 39  „Erst wo der innere Zweck dieser [sc. der moralischen] Organisation unseren Willen, d. h. die Einheit unseres handelnden Geistes beherrscht, beginnt die Sittlichkeit“ (VI 20). 40 Vgl. VI 20. 41 Vgl. VI 45. 37 

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Zweierlei entnommen werden: Zum einen erfährt sich das Subjekt selbst in seinen eigenen sittlich-volitionalen Bewusstseinsvollzügen der Natur und Welt auf eine prinzipielle Weise überhoben, was im Blick auf die Mitsubjekte zur Annahme einer übernatürlichen Ordnung führt, in der die unterschiedlichen Freiheitsvollzüge der Individuen eine koordinierte Einheit bilden. Der Entsprechungsgrad des eigenen Willens mit jener Ordnung wird dabei nochmals einer eigenen Beurteilung unterzogen und schattet sich in dem „alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende[n] Gegensatz des Unvollkommenen und Vollkommenen“ (I 137) ab – dessen bewusstseinstheoretischer Ort das „Gewissen“ (ebd.) ist. Zum anderen aber hebt Dil­they ausdrücklich hervor, dass jene Setzung eines übersinnlichen Zusammenhangs nicht vermöge schlusslogischer Notwendigkeit erfolgt, d. h. sie stellt kein bloßes Produkt reinen Denkens dar, sondern erweist sich als eine vordiskursive Extrapolation dessen, was der Einzelne im Zuge der Betätigung seines sittlich bestimmten Willens erlebt. Nicht zuletzt aufgrund dieses überlogischen Charakters ist jenes ‚Annehmen eines höheren Zusammenhanges‘ als ein Deutungsakt einzustufen. Solche Deutung der meta-physischen Dimension des Willens verbleibt dabei zunächst noch gänzlich diesseits der Überführung in religiöse Vorstellungen, wie Dil­they im Blick auf den vordergründig areligiösen Menschen illustriert: „Diese Erfahrungen aber sind so persönlich, so dem Willen eigen, daß der Atheist dies Meta-Physische zu leben vermag, während die Gottesvorstellung in einem Überzeugten eine bloß wertlose Hülle sein kann“ (I 385).42 Die vorstellungsmäßige Artikulation bildet demgegenüber nochmals einen Interpretationsvollzug höherer Stufe, auf der jene innerliche Erfahrung bildlich vergegenständlicht und symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Dies stellt in Dil­theys Augen geradezu ein wesentliches Element im Aufbau des religiösen Bewusstseins dar: „Findet doch auch das innigste religiöse Seelenleben nur in einem Vorstellungszusammenhang seinen Ausdruck“ (I 252). Der entscheidende Grund hierfür besteht darin, dass der Mensch kein reines Geistwesen ist, sondern sein Leben als ein leiblich-seelisches Ganzes vollzieht. So sehr er sich seiner selbst zwar nur im Medium des Mentalen präsent wird, so sehr erlebt er sich in seinen mentalen Vollzügen immer als ein solches Wesen, das sich nicht anders als in einer konstitutiven Innen-Außen-Beziehung realisieren kann. Dies bringt es mit sich, nicht nur äußeren Sachverhalten – in reproduktivem oder produktivem Verstehen – Innerlichkeit zu unterlegen. Umgekehrt können auch die eigenen Innenzustände nicht anders als im Zusammenhang äußerer Vorstellungen bewusst gemacht werden. So heißt es etwa in Einbildungskraft und Wahnsinn an einer Stelle: „In unserem psychophysischen Wesen ist uns die Beziehung eines Innen und Außen gegeben, und diese übertragen wir überall hin“ (VI 99). Dabei hat er deutlich ausgesprochen, dass die Versinnlichung des innerlich Gewahrten 42 Vgl.

I 311.



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in Form äußerer Vorstellungen selbst als ein interpretativer Akt anzusehen ist. Er explizit fest: „Wir deuten […] unsere Zustände durch äußere Bilder“ (ebd.). Das mentale Vermögen dieses versinnlichenden Deutungsaktes bildet – entsprechend dem Titel letztgenannter Schrift – die Einbildungskraft bzw. Phantasie. Dil­they bezieht diese Überlegung im poetologischen Kontext zwar auf die dichterische Symbolproduktion. Sie lässt sich aber unschwer auch auf die Erzeugung religiöser Vorstellungen und Symbole übertragen.43 Seine Bestätigung findet diese Lesart durch ein spätes Textfragment, in dem er dichterische und religiöse Phantasie ausdrücklich parallelisiert hat.44 Wenn „die religiösen Erfahrungen […] in einem Vorstellungszusammenhang ausgedrückt werden“ (I 286) bzw. wenn das, „was dem Erlebnis angehört, nur in dem Zusammenhang unseres Bildes der Außenwelt vorgestellt werden“ (I 273) kann, so hat man es in diesem Zusammenhang also immer schon mit Deutungsvollzügen zu tun. Für das von uns herangezogene Beispiel personalistischer Religiosität nennt Dil­they in der Einleitung etwa die Vorstellung der ‚Schöpfung‘, des ‚Gegensatzes von Geist und Fleisch‘, der ‚Brüderlichkeit der Menschen‘ oder auch des ‚Reichs Gottes‘.45 Dass solche religiösen Bilder als Resultat schöpferischer Interpretationen dessen fungieren, was im religiösen Erleben seinen Ursprung hat, findet sich prägnant ausgesprochen in einem späten Textfragment aus dem Umkreis von Dil­theys Manuskripten zum zweiten – nie fertiggestellten – Band seiner Schleiermacher-Biographie. Da heißt es an einer Stelle: „Der Gehalt dieser [sc. der personalistischen] Religiosität ist das Höchste, was innerhalb der menschlichen Erfahrung liegt. Es ist der Mensch, der sein Eigenleben überwindet und dadurch den Naturzusammenhang überschreitet, der unter dem Gesetz der Erhaltung der Kraft steht […]. Die Freiheit, die Unsterblichkeit, der Gott, das sind alles nur in Begriffsbildern gegebene Deutungen dieses Erlebnisses“ (XIV 548, Hvh. v. Verf.). Mit seinem freiheitstheoretischen Religionskonzept steht Dil­they zum einen ganz in der Tradition der durch Kant und den frühen Fichte geprägten Ethikotheologie. Zum anderen zeigt er sich in der erlebnistheoretischen Rekonstruktion derselben vor allem von der religionstheoretischen Konzeption Lotzes bzw. Ritschls – der dessen Modell weiter ausgebaut hat – geprägt.46 Dil­they ist aber 43  In seiner Poetik hat Dil­they diesen Sachverhalt dann vor allem mit Sprache, Mythos und Metaphysik in Verbindung gebracht (vgl. VI 175 f.). Das Phänomen der Religion ließe sich leicht einfügen. 44 Vgl. II 501 ff. 45 Vgl. I 252. 46  Dil­they hat sich von Anfang seiner Entwicklung an sehr interessiert mit dem Werk Lotzes auseinandergesetzt, unbeschadet dessen, dass er sich dessen metaphysische Implikationen nicht zueigen gemacht hat (vgl. die kritische Bemerkung in Erfahren und Denken, V 82; zum Verhältnis Lotze/Dil­they vgl. auch E. W. Orth: Dil­they und Lotze). Ritschl war ihm zweifelsohne durch sein Theologiestudium vertraut. – Lotze erachtet die Religiosität des Menschen als grundlegend der Willenssphäre korrespondierend, wobei er davon ausgeht, dass dem Einzelnen

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nicht einfach religionstheoretischer Epigone, sondern geht im Weiteren durchaus eigene Wege.47 Rekapitulieren wir kurz den bisher erreichten Problemstand: Religiosität stellt ein komplexes mentales Gebilde dar, das sich durch unterschiedliche Formen und Stufen der Deutung einer ursprünglich im Erleben gegebenen Wirklichkeit aufbaut. Dieser Aufbau kann auch als zunehmende Konkretisierung beschrieben werden, die bei einer primordialen Perspektivierung ihren Ausgang nimmt, um über eine zunehmende Bewusstmachung eines darin enthaltenen Unbedingtheitsbezugs bis zu einer „Vergegenständlichung in bildlicher Symbolik“ (VIII 29) zu führen. Bevor wir zum nächsten Abschnitt übergehen, ist darauf hinzuweisen, dass Dil­they nicht davon ausgeht, religiöses Leben müsse seine Deutungen je und je auf spontane Weise gänzlich neu erzeugen. Stattdessen sind diesbezüglich Habitualisierungen in Rechnung zu stellen, wonach bestimmte Deutungsfiguren zu Mustern bzw. Schemata avancieren. Ihr Zustandekommen ist dadurch bedingt, dass das Individuum wiederkehrende Grunderfahrungen gleicher Art macht, die sich zu festeren Einstellungen verdichten. Dil­they spricht diesbezüglich unter anim Rahmen seiner sittlich-volitionalen Vollzüge die ‚Ahnung‘ einer ‚übersinnlichen Weltordnung‘ aufgeht, der gegenüber er sich angesichts seines moralisch qualifizierten Willens zugleich als zugehörig und als mitwirkend ‚fühlt‘. Lotze kommt auf dieses Ahnen nicht zuletzt im Kontext seiner Theorie des sittlichen Werturteils zu sprechen, in dem der Einzelne zum einen der prinzipiellen Entsprechung seines sittlichen Willenslebens mit jener übersinnlichen Weltordnung inne wird und in dem ihm zum anderen der Grad der Übereinstimmung zwischen eigenem Willensakt und allgemeinen Sittengesetz in Form moralischer Lust- oder Unlustgefühle zu mentaler Präsenz gelangt. Ritschl hat beide Sphären dann nochmals zu unterscheiden gesucht, indem er zwischen sittlichem Werturteil und religiösem Werturteil eigens differenziert hat (vgl. zu alledem M. Neugebauer: Lotze und Ritschl). Vor allem in seiner Gegenüberstellung von Natur und Freiheit, in deren Fluchtlinie die Begriffe von ‚Gott‘ und dem ‚Reich Gottes‘ liegen, dürfte Ritschl auf Dil­they gewirkt haben. So hat etwa die Schöpfungsvorstellung auch für Ritschl ihren Ausgang in der Willenserfahrung des Menschen (vgl. A. Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion, §§ 11, Anm. c). Dass es sich bei ihr um das Produkt einer Deutung handelt, darauf weist er zunächst hin, indem er davon spricht, sie erfolge „nur in Analogie mit der ursächlichen Kraft unseres auf Zwecke gerichteten Willens“ (ebd.). In späteren Auflagen hat er den deutungstheoretischen Charakter religiöser Vorstellungen klar ausgesprochen, wenn er „das religiöse Urteil“ (aaO., Ergänzung dritte Auflage) ausdrücklich als „Deutung“ (§ 13, zweite Auflage) bezeichnet. Darüber hinaus findet sich auch bei Ritschl die Feststellung, die Verwirklichung der sittlich verstandenen Größe ‚Menschheit‘ führe ob ihres übernatürlichen und überweltlichen Charakters (vgl. aaO., § 8) immer schon den Gedanken eines überweltlichen Gottes als mögliches Implikat mit sich (vgl. aaO., § 10). In Dil­theys obiger Rede – die eigene Freiheitserfahrung sei ‚so dem Willen eigen, dass selbst der Atheist das Meta-Physische zu leben vermag‘ – klingt dieser religionsphilosophische Gedanke an. Anderenorts hat er ihn ausdrücklich ausgesprochen: „[W]o irgendein Mensch sich opfert in der Arbeit, getragen von einem Zweckgedanken, der im Ewigen wurzelt, da ist es gleich, ob er von Gott wissen will; Gott ist, wo ein Wille ist, der den Naturzusammenhang überschreitet“ (XIV 550). 47 Ritschl hatte sein freiheitstheoretisches Religionsmodell ausdrücklich in Frontstellung gebracht nicht nur gegenüber zeitgenössisch weitverbreiteten materialistischen Wirklichkeitsauffassungen, sondern auch gegenüber allen solchen Formen von Religiosität, die er unter den Titel ‚Pantheismus‘ subsumiert. Dil­they ist es aber darum zu tun, gerade auch die pantheistische Religiosität als wertvolle Gestalt des Religiösen zur Geltung zu bringen.



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derem von ‚Stimmungen‘.48 In deren Lichte werden dann alle weiteren Erlebnisse aufgefasst – so sehr letztere jene freilich auch wiederum modifizieren. Über das Element des Habituellen ergibt sich zugleich ein Bezug des subjektiven Lebens zur soziokulturellen Welt. Denn solche gleichsam sedimentierten Deutungsmuster schafft der Einzelne nicht gänzlich für sich allein. Vielmehr sieht er sich von Anfang seines Lebens an auf spezifische Artikulationsgestalten religiösen Lebens bezogen, von denen sein eigenes Bewusstseinsleben mit figuriert wird. Jene Deutungsmuster bauen sich sonach aus einem komplexen Wechselspiel subjektiver Lebenserfahrung sowie kulturell vermittelter Formen auf. Beide Seiten können dabei in einem mal mehr, mal weniger harmonischen Verhältnis zueinander stehen, worin zugleich ein wesentlicher Ursprung geschichtlich-kultureller Dynamik der Religion zu erblicken ist.49 Derjenige Begriff, der subjektive und objektive Deutungsschemata umgreift, wird durch den der ‚Weltanschauung‘ gebildet. (4) Die Bewusstseinsgestalten, die im Zuge der bisher beschriebenen Prozesse zur Ausbildung gelangen, sind durch eine komplexe Struktur ausgezeichnet. Denn in der Religion nimmt der Mensch eine eigentümliche Doppelperspektive auf das Leben ein. Auf der einen Seite kommt dieses in seiner empirisch greifbaren Gestalt und Entwicklung in den Blick. Auf der anderen Seite bleibt es aber nicht bei der vordergründigen Betrachtung dessen, was der Fall ist. Stattdessen werden die Lebenserfahrungen nochmals aus einer anderen Perspektive angesehen, von der her sich dieselben in einen übergeordneten Sinnzusammenhang einfügen lassen, innerhalb dessen alles Einzelne eine tiefere Bedeutung erhält. Religiöses Bewusstsein kommt folglich nicht irgendwie unabhängig von den übrigen Erfahrungen des Menschen zu stehen. Gleichwohl unterscheidet es sich von diesen dadurch, dass in ihm alle Selbst- und Weltbezüge einem höheren Gesichtspunkt unterstellt werden, von dem her letztere nochmals daraufhin betrachtet werden, inwiefern sie als Ausdruck einer unendlichen oder unbedingten Wirklichkeitsdimension verstanden werden können. Religiöses Bewusstsein ist sonach durch die komplexe Struktur eines Stufungsverhältnisses ausgezeichnet. In seinem Spätwerk hat er genau diese Struktur im Zusammenhang seiner Theorie von religiösem Bedürfnis und religiöser Befriedigung nochmals eigenständig ins Auge gefasst. Wir können dabei auf bereits Gesagtes zurückgreifen.50 Wie gesehen, hatte es Religion grundsätzlich mit der Transzendierung vorfindlicher Wirklichkeit zu tun, wobei sich dieser Grundzug des religiösen Lebens bereits daran zeigte, dass der Mensch angesichts von Endlichkeits- und Kontingenzerfahrungen eine ideale Gegenwelt imaginiert, in der jene Endlichkeit und Kontingenz als aufgehoben vorgestellt werden. Hieraus war dem menschlichen Bewusstseinsleben eine tiefgreifende Grundspannung entstanden, aus der allererst 48 Vgl. VIII 81. 49  Siehe dazu unten 50  Siehe

Abschnitt III.5.a.iii. dazu oben Abschnitt III.5.a. i.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

das religiöse Bedürfnis eigentlich hervorgeht. So setzt religiöses Bewusstsein für Dil­they zweierlei voraus: „Erfahrungen innerhalb der Lebenswertgebung […], welche auf Grund einer bestimmten Tonart oder Färbung des Gemütslebens den Druck der umgebenden Welt […], die Unmöglichkeit, durch Eingriff ihn zu überwinden, die Unrealität derselben, Fragilität, Korruptibilität, Unfaßlichkeit betonen, andererseits positiv ein Bedürfnis nach Festigkeit der Welt, Vertrauensmöglichkeit, Frieden“ (VII 267). Der im hiesigen Zusammenhang entscheidende Gedanke besteht nun darin, dass mit der Artikulation jenes Bedürfnisses Dil­they zufolge noch nicht Religion im Vollsinn gegeben ist: „Dieses alles ist noch nicht religiöse Gemütsstimmung. Denn religiös ist Gemütsstimmung erst dann, wenn in dem Unsichtbaren das Mittel, die Gemütswelt auf Grund dieser Gefühle angemessen zu konstituieren, gefunden ist.“ (ebd.) Der mentale Aufbau von Religion kommt demnach erst dort zur vollen Entfaltung, wo es dem Subjekt gelingt, die im Ausgang der Endlichkeitserfahrungen seines Lebens gebildeten Transzendenzvorstellungen so auf jene Erfahrungen zu beziehen, dass diese von jenen her verstanden werden können. Anders gesagt: Im Bewusstseinsvollzug fungieren Vorstellungen dann als religiöse Vorstellungen, wenn die realen Lebenserfahrungen im Horizont des Unendlichen angeschaut werden und von dort her einen Sinn erhalten. Diese Stufung hat Dil­they dann auch explizit zum Ausdruck gebracht: Religion ist „aus den Erfahrungen des Lebens selber gebildet, die über dieses hinausgehen“ (VII 266). „Religiöser Wert […] setzt […] Erfahrungen innerhalb der Lebenswertgebung voraus“ (VII 267). Zusammengefasst kann man sagen: Religion schwelgt weder im Endlichen noch im Unendlichen jeweils für sich, sondern schwebt gleichsam zwischen beiden Polen – worin dann zugleich ein entscheidender Faktor für Dynamik und Entwicklung innerhalb der Religionsgeschichte zu erblicken ist. (5) Den deutungstheoretischen Charakter seiner Konzeption des religiösen Bewusstseins hat Dil­they nicht zuletzt dadurch nochmals eigens akzentuiert, dass er dieselbe – in sachlicher Nähe zu Simmel und Otto – auch mithilfe einer kategorientheoretischen Beschreibung durchführen kann.51 Dabei baut er auf seiner anderenorts entfalteten Kategorienlehre auf,52 gibt ihr im vorliegenden Kontext aber nochmals eine eigentümliche Wendung. Besonders deutlich ausgesprochen findet sich dieser Punkt in der Pantheismus-Studie. Um zeigen zu können, wie Dil­they sich die Sache zurecht legt, sei zuvor kurz an weiter oben Gesagtes erinnert. Es hatte sich gezeigt, dass Dil­they von einer grundlegenden Spannung menschlicher Religiosität ausgeht, die ihren letzten Ursprung in zwei unterschiedlichen Grundperspektiven des religiösen Erlebens besitzt. Dabei konkretisierte sich jede der beiden Perspektiven im Rahmen gestufter Deutungsvollzüge 51  Beide Autoren haben ebenfalls ein kategorientheoretisches Modell von Religion vertreten, vgl. U. Barth: Theoriedimensionen des Religionsbegriffs, 46. 52  Siehe dazu oben die Abschnitte III.1.c.



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weiter. Dies war oben exemplarisch im Blick auf das sittliche Freiheitserleben gezeigt worden, dem die religiösen Grundvorstellungen einer ‚moralischen Welt‘ bzw. des ‚Reiches Gottes‘ korrespondierten. Im Blick auf das Erleben unbedingter Abhängigkeit wäre die Grundvorstellung des ‚Universums‘ zu ergänzen. Entscheidend ist nun, dass jeder der beiden religiösen „Standpunkt[e]“ (II 339) Dil­they zufolge jeweils als Grundschema zur religiösen Wirklichkeitsdeutung fungieren kann, das sich dann nochmals in unterschiedliche kategoriale Teilvorstellungen abschattet. Im Blick auf die Religiosität der Freiheit stellt sich dies für Dil­they wie folgt dar: Geht „die Person von dem Bewußtsein ihres unendlichen Wertes, ihrer moralischen Würde aus: dann entstehen die Kategorien der Personalität, der Freiheit und einer moralischen Teleologie im Universum“ (II 340, Hvh. v. Verf.). Wenn sich das Subjekt in derjenigen religiösen Einstellung auf das Wirkliche bezieht, wie sie aus seinem sittlichen Freiheitserleben hervorgeht, dann begreift es sich selbst und andere Subjekte als moralischen Selbstzweck. Angesichts dessen werden alle Tatsachen und Sachverhalte der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung sittlicher Freiheit aufgefasst, infolgedessen die durch die Naturordnung vorgegebenen Fakta und Strukturen als Mittel intersubjektiver Freiheitsrealisierung erscheinen. Das Wirklichkeitsganze erhält vor diesem Hintergrund einen teleologischen Grundcharakter, dessen letztes Ziel im Aufbau eines übernatürlichen und überweltlichen Zusammenhangs bzw. des ‚Reichs Gottes‘ erblickt wird. Dil­they bietet an dieser Stelle jedoch nur eine knappe Auswahl möglicher aus jenem Grundschema hervorgehender Kategorien, weil es ihm hier nur um den basalen Gegensatz von pantheistischer und personalistischer Religiosität zu tun ist. Es lassen sich aber unschwer weitere wesentliche Kategorien benennen, die ebenfalls diesem religiösen Standpunkt zuzuzählen sind. Dafür bietet es sich etwa an, den Blick auf die oben bereits herangezogene Stelle in der Einleitung zu richten, in der Dil­they unterschiedliche, der Freiheitsreligion zugehörige Bewusstseinsphänomene aufzählt: „Nun sind Erfahrungen solcher Art die Freiheit des Menschen, Gewissen und Schuld, alsdann der alle Gebiete des inneren Lebens durchziehende Gegensatz des Unvollkommenen und Vollkommenen, des Vergänglichen und Ewigen sowie die Sehnsucht des Menschen nach dem letzteren“ (I 137). Behält man im Auge, dass Dil­they, wie eben gesehen, die ‚Freiheit‘ als eine Kategorie des religiösen Lebens betrachtet, dann wird man die übrigen im letzten Zitat genannten Erfahrungen ebenfalls als mögliche Kategorien ansehen können. So betrachtet wird deutlich, dass jene religiöse Weltauffassung immer auch mit einer entsprechenden Selbstauffassung – im Gewissen des Menschen – einhergeht, in der er seine Stellung innerhalb der göttlichen Weltordnung unter der Kategorie der Schuld bzw. des Gegensatzes von Vollkommenheit und Unvollkommenheit beurteilt. Auch damit wären die entsprechenden Kategorien noch nicht erschöpft. Weitere ließen sich unschwer nennen.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Das andere Grundschema bzw. dessen kategoriale Binnendifferenzierung stellt sich für Dil­they entsprechend umgekehrt dar: „Gehen wir von dem Universum aus, so finden wir an der Abhängigkeit von seiner Gesetzmäßigkeit, in dem religiösen Bewußtsein, daß auch wir ein Ausdruck seines göttlichen Wesens sind, in Hingabe und Resignation die Kategorien unseres religiösen Verhältnisses zu demselben“ (II 339f, Hvh. v. Verf.). Auf dem hier eingenommenen Standpunkt betrachtet sich das Subjekt nicht daraufhin, inwiefern es sich in seinem innerlich erfahrenen Eigenwert der Welt gegenüber unbedingt findet, sondern im Blick auf sein Eingebundensein in ein alles umfassendes Wirklichkeitsganzes. Sofern dieses dabei als ein gesetzmäßiger Zusammenhang angeschaut wird, rückt an die Stelle der Freiheitserfahrung des Menschen das Innewerden des Eingestelltseins in einen unendlichen Wirkungszusammenhang, der alles Endliche umgreift und ihm seine jeweils individuelle Signatur verleiht. Angesichts dessen gewahrt der Einzelne sich und andere dann nicht so sehr als tatkräftige Mitgestalter einer sittlich-moralischen Weltordnung, sondern als unselbständiger Teil des „unendlichen Zusammenhang[s] der Dinge“ (VI 295),53 der sich in allem Einzelnen jeweils auf bestimmte Weise artikuliert. Das Aktivitätsbewusstsein tritt folglich zurück und das Bewusstsein des Sichfügens rückt in den Vordergrund. Auch hier ließen sich wieder weitere Kategorien anfügen, nach denen jene religiöse Wirklichkeitssicht sich auslegt. Für die uns interessierende Frage nach der deutungstheoretischen Beschreibung der Struktur des religiösen Bewusstseins bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die von letzterem hervorgebrachten Anschauungen für Dil­they nicht als objektivistische Abspiegelungen höherer Wirklichkeitsstrukturen, sondern als Produkte des religiös deutenden Selbst- und Weltumgangs des Menschen anzusehen sind. Das trifft ihm zufolge auch dort noch zu, wo der Mensch sich selbst gerade nicht als eigenständigen Akteur vorstellt, sondern als individueller Ausdruck eines unendlichen Ganzen. Denn indem Dil­they auch diejenigen Teilvorstellungen, die dieser mentalen Einstellungsweise korrespondierenden, als ‚Kategorien‘ apostrophiert, macht er deutlich, dass auch die an der Passivitätsvorstellung orientierte Selbst- und Weltanschauung durch das betreffende Subjekt in Form eines 53  Die Formulierung des ‚Zusammenhangs der Dinge‘ stellt die Eindeutschung des lateinischen Begriffs des ‚nexus rerum‘ dar, der in etwa dasjenige bezeichnet, wofür bei Kant der Weltbegriff steht. Den Begriff des ‚Zusammenhangs der Dinge‘ dürfte Dil­they von Lotze übernommen haben, dessen Mikrokosmos im neunten Buch mit der Überschrift „Der Zusammenhang der Dinge“ ausmündet (H. Lotze: Mikrokosmos, Bd. 3, 455). Die metaphysischen Implikationen bei Lotze hat Dil­they sich aber, wie gesagt, nicht zueigen gemacht, sondern jenen Gedanken im Rahmen einer kritischen Philosophie zur Anwendung zu bringen gesucht. In dieser Form begegnet der Begriffsausdruck bereits in der Einleitung einmal (I 358). Durch das Epitheton ‚unendlich‘ sucht Dil­they die religiöse Tiefendimension dieser Vorstellung zum Ausdruck zu bringen. Dabei kann er ihn variieren, etwa indem er von einem „göttlichen Zusammenhang der Dinge“ (V 381) spricht. In dieser Form hat er bei Dil­they in der Regel eine pantheistische Konnotation. Er kann ihm aber auch in schöpfungstheologischer Redeweise begegnen, etwa wenn vom „göttlich bedingten Zusammenhang der Dinge“ die Rede ist (V 386).



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Deutungsvorgangs erzeugt werden muss. Im Blick auf die pantheistische Religionsauffassung des jungen Schleiermacher hat Dil­they dies auch nochmals eigens hervorgehoben: So sei für Schleiermacher „Religion das Bewußtsein von der Bedeutung und dem Wert des Lebens, das nicht in naiver Lebensfreude genossen wird, sondern in einem Geiste, der sich selbst nicht mehr zum Mittelpunkt macht; sondern sofern das Gemüt in das Universum den Mittelpunkt seines Daseins verlegt“ (XIII 566, Hvh. v. Verf.).54 Etwas zugespitzt formuliert: Religion vollzieht sich in Form einer freien Interpretation der Wirklichkeit nach Maßgabe von Freiheit oder Abhängigkeit. Im Spätwerk hat Dil­they seine kategorientheoretische Beschreibung religiösen Lebens dann auch im Blick auf archaische Religion fruchtbar zu machen versucht.55 (6) Wir kommen zum letzten Punkt, der das Verhältnis von Religionsproblematik und Bedeutungsbegriff betrifft. Dil­theys Ausführungen hierzu lassen sich nach zwei Aspekten unterscheiden, von denen der erste die Generierung idealer Bedeutung durch das religiöse Bewusstsein betrifft, während der zweite auf eine kulturwissenschaftliche Grundlegung religiösen Bewusstseins mithilfe des Bedeutungsbegriffs zielt. Beide Bezüge finden sich bei Dil­they indes nur annäherungsweise ausgeführt. Wir beginnen mit dem erstgenannten Sachverhalt. In einem späten Manuskript hat Dil­they eine kurze Betrachtung zum Problem der Geschichtlichkeit und der Geschichte von Religion angestellt, wobei er unter anderem auf das Auftreten prägender religiöser Persönlichkeiten – bzw. „religiöse[r] Genie[s]“ (II 500) – zu sprechen kommt. Auf den vorausgesetzten religionsgeschichtlichen Hintergrund braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden.56 Worauf es ankommt, ist eine spezifische Leistung, die Dil­they dem religiösen Genie zuspricht. So entsteht nämlich „[e]rst in diesem […] das religiöse Bewußtsein von der Bedeutung des Lebens“ (ebd.). Für welche Pointe die bedeutungstheoretische Zuspitzung der Theorie des religiösen Bewusstseins stehen soll, hat Dil­they nicht weiter ausgeführt. Ein gewichtiger Hinweis darauf, wie er sich dieses Problem gedacht hat, lässt sich dann jedoch finden, wenn man in Rechnung stellt, dass er Religion und Dichtung beiderseits unter den Begriff der ‚idealen Auffassung von der Bedeutung des Lebens‘ subsumieren konnte.57 Nimmt man diese doppelte Subsumption als Indikator für eine grundlegende Parallelität, so dürfte es nicht unangemessen sein, sich die Struktur der religiösen Bedeutung von seinen entsprechenden Ausführungen in der Poetologie her zu erschließen. 54  Dieses Zitat stammt aus einem kurzen Textfragment, in dem der alte Dil­they nochmals auf die religiöse Weltansicht der Reden reflektiert. 55  „Die Wirkungskraft des Unsichtbaren ist die Grundkategorie des elementaren religiösen Lebens“ (VIII 88 f.). 56  Siehe dazu unten Abschnitt III.5.a.iii. 57 Vgl. VI 237.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

In seiner Poetik hat er relativ klar benannt, wie sich der Vorgang der Bedeutungsbildung vollzieht. Die wichtigsten Ausführungen finden sich im Abschnitt zu den „Gesetze[n], nach denen sich unter dem Einfluß des Gefühlslebens die Vorstellungen frei über die Grenzen des Wirklichen hinaus umwandeln“.58 Die psychologische Grundlage solcher Umwandlung besteht für Dil­they darin, dass im Bewusstseinsprozess „Wahrnehmungsbilder“ (VI 132) entstehen, die in den „Erinnerungsbildern“ (VI 133) des Gedächtnisses auf eine konstruktiv-kreative Weise zurückgerufen werden,59 um schließlich in spezifischen Ausdrucksgestalten „nachgebildet“ (VI 134) zu werden. Dabei unterscheidet sich der Dichter vom Normalmenschen dadurch, dass er jede dieser drei Leistungen in markant gesteigerter Weise betätigt. Auf dieser Basis hebt die dichterische Bedeutungsbildung an, deren vermögentheoretische Instanz Dil­they in der produktiven „Einbildungskraft“ (VI 174) bzw. der „Phantasie“ (VI 175) erblickt. Diesbezüglich macht er dann drei Bildungsgesetze namhaft.60 Dem ersten zufolge verändern Bilder sich in der Erinnerung, indem bestimmte Bestandteile gleichsam verloren gehen.61 Dem zweiten zufolge verändern sie sich dadurch, dass in der Erinnerung die Wahrnehmungsintensität ihrer Teilbestandteile in verstärkender oder vermindernder Weise modifiziert wird.62 Bereits diese beiden Vorgänge bewirken in der künstlerischen Wirklichkeitsbetrachtung eine „Idealisierung der Bilder“ (VI 174). Das eigentliche Proprium der schöpferischen Imagination ist damit aber noch nicht erreicht.63 Letztere gelangt erst dort zum Ziel, wo auch das dritte Bildungsvermögen in Kraft tritt, durch das sich „Bilder und ihre Verbindungen ändern […], indem in ihren innersten Kern neue Bestandteile und Verbindungen eintreten und diesen ergänzen“. Kommen alle drei Funktionen zum Zuge, so „wird aus Bildern und ihren Verbindungen das Wesenhafte eines Tatbestandes, welches im Zusammenhang der Wirklichkeit demselben seine Bedeutung gibt, gewonnen“ (VI 174, Hvh. v. Verf.). Dichterische Bedeutungsbildung erfolgt also dadurch, dass bestimmte Tatbestände und Sachverhalte der Wirklichkeit nicht einfach unmittelbar reproduziert, sondern in einem hochgradig kreativen Akt der Phantasie umgebildet werden. Die Idealität dieser Betrachtungsart ist dabei vor allem darin zu erblicken, dass das imaginierende Subjekt das vorhandene Material in Form einer „Ergänzung“ (VI 175) überschreitet und so den Bezug auf eine ideale Wirklichkeitsdimension herstellt, die als solche im empirisch Vorhandenen niemals gefunden werden kann. Insofern jener Bezug aber nur im Ausgang eines 58  So

ein Teil der Überschrift zum 6. Abschnitt des zweiten Kapitels (vgl. VI 163). Gedächtnis erbringt für Dil­they dabei niemals eine einfache Wiederholung vergangener Wahrnehmungen, sondern bietet das zu Erinnernde immer schon in konstruktiver Verarbeitung (vgl. VI 172). 60  Zu dieser Dreiteilung vgl. R. A. Makkreel: Dil­they, 134 ff.; M. Jung: Dil­they, 103 ff. 61 Vgl. VI 172. 62 Vgl. VI 173. 63  „Eine Phantasie, die nur ausläßt, verstärkt oder vermindert, vergrößert oder verkleinert, ist schwächlich und erreicht nur flache Idealität oder Karikatur des Wirklichen“ (VI 175). 59  Das



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konkreten Gegenstands vollzogen werden kann, kommt diesem dann zugleich die Funktion eines ‚Symbols‘64 zu. Wenn Dil­they nun davon spricht, nicht nur das künstlerische, sondern auch das religiöse Genie verleihe der Wirklichkeit oder Teilen derselben eine Bedeutung, so dürfte er in etwa diese Grundstruktur vor Augen haben, wobei freilich die dritte Funktion – die der Ergänzung – die wichtigste Rolle spielt. Das hieße dann: Der religiös maßgebende Mensch nimmt bestimmte Tatbestände des Lebens nicht lediglich in ihrem jeweils empirisch greifbaren Gehalt wahr, sondern unterzieht dieselben einer schöpferischen Neubetrachtung, durch die die betreffenden Gegenstände zum Träger idealer Bedeutung avancieren. So wird dann beispielsweise das Ende des Lebens nicht mehr als unbegreifliches Faktum hingenommen, sondern etwa – mithilfe der Kategorien des religiösen Lebens – als Ausdruck der ewigen Bewegung des Alllebens, als sittlich-religiöses Opfer, als Abstreifen der irdischen Existenz oder auch als Eingang zu Gott interpretiert. Unabhängig davon, in welchen Formen und Gestalten solche Art der Sinnstiftung erfolgt: In all diesen Fällen wird eine Beziehung auf eine überempirischideale Wirklichkeitsdimension hergestellt, durch die die in Frage stehende Sache mit ‚symbolischer‘ Bedeutung gleichsam aufgeladen wird.65 „Das einzelne und Sichtbare meint und bedeutet hier etwas, das mehr als das ist, in dem es erscheint […] eben nach dem Verhältnis alles Erscheinenden, Sichtbaren zu dem Unsichtbaren bedeutet nur eines das andere und ist doch mit ihm eins.“ (V 385) Dil­they hat die Nähe religiöser und dichterischer Einbildungskraft denn auch selbst nochmals ausdrücklich hervorgehoben: „Und wie der schaffende Künstler zugleich sein Gebilde selbst betrachtet, dessen Eindruck empfängt und es beurteilt, so entsteht auch in der Sphäre der Religiosität aus jeder im Erlebnis gegründeten Konzeption ein Hinschauen auf dieselbe, ein Eindruck von ihr, eine Erfahrung von ihrem Wert und ihrer Gewißheit, welche das Bewußtsein zugesicherter Hilfe oder Gnade, die gegenständliche Auffassung des Unsichtbaren sicherer macht und weiter bildet“ (II 501 f.). Die Differenz zwischen dichterischer und religiöser Betätigung der Einbildungskraft liegt für Dil­they vor allem darin, dass die Dichtung – anders als die Religion – nicht so sehr auf integrale Gesamtdeutungen ausgreift und zudem ihre Wirklichkeitsdeutungen nicht mit demselben Maß an Verbindlichkeit ausstattet.66 Nicht zuletzt aus dieser Unterscheidung ergeben sich dann weitreichende Konsequenzen im Blick darauf, welches kul64 Dil­ they macht in seiner Poetik wiederholt vom Symbolbegriff Gebrauch (vgl. VI 212. 217 passim). 65  Dil­they macht vom Symbolbegriff auch im Kontext der Religionsproblematik Gebrauch (vgl. V 387. 388; VIII 29). 66 „[I]m Unterschied von der religiösen [sc. Weltanschauung]“ (V 396), in der „der furchtbare Ernst [liegt] […], daß sie den inneren Zusammenhang [sc. unserer Seele] in seiner objektiven Tiefe erfassen und aus dieser selber das Leben gestalten“ (V 378) will, schaltet die Dichtung „frei im ganzen Bereich der Wirklichkeit wie der Ideen“ (V 392).

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turelle System – Kunst oder Religion – angesichts der soziokulturellen Verfasstheit der Moderne in Dil­theys Augen höhere Resonanz zu beanspruchen vermag. iii.  Die geschichtlich-kulturelle Dimension der Religion Dil­they hat seine Auffassung religiösen Verstehens in ein geschichtlich-kulturelles Modell von Religion eingezeichnet. Dieses sei im Folgenden kurz skizziert. Wir werden uns dabei auf eine knappe Darstellung der formalen Grundstrukturen beschränken, weil eine Beschreibung der inhaltlichen Ausfüllung später eigens ins Auge gefasst werden soll.67 Dil­theys gesellschafts- und kulturtheoretischer Sichtweise entsprechend,68 vollzieht sich auch der Aufbau einer religiösen Erlebensund Erfahrungswelt niemals in der Form, dass das Subjekt dabei autark auf sich selbst gestellt wäre. Vielmehr erweist sich jener Aufbau immer schon durch geschichtliche und soziokulturelle Voraussetzungen bedingt, auf deren Basis die entsprechende Wirklichkeitssicht des Einzelnen erst entsteht und sich entwickelt. In seinen historiographischen Studien zur europäischen Religionsgeschichte in der Neuzeit hat Dil­they diesem Umstand eindrucksvoll Rechnung getragen.69 Für andere religionsgeschichtliche Phasen und Momente – insbesondere für die Entstehung des Christentums sowie seine antike und mittelalterliche Entwicklung –70 hat er es angedeutet.71 In einem späten Fragment hat er an dieser Problematik dann aber auch geradezu im Sinne einer strukturtheoretischen Beschreibung festhalten können. So findet sich in einem entsprechenden Manuskript die gleichsam stenographische Sentenz: „Grenze des religiösen Erlebnisses, daß es immer bedingt ist durch die in der Tradition enthaltenen Bestimmungen der religiösen Gegenstände“ (II 500). Für Dil­they gibt es sonach keinen religiösen Vollzug, der nicht immer schon mitbedingt wäre durch die zum zeitlichen und räumlichen Moment seines Auftretens bereits vorliegenden religiösen Grundvorstellungen. Dil­they hat dabei deutlich gemacht, dass jene geschichtlich-soziokulturelle Bedingtheit nicht etwa nur im Hinblick auf die Aktualisierung bereits vorhandener Deuteschemata in Rechnung zu stellen ist, sondern dass auch alle Formulierung neuer religiöser Ideen unter der Einschränkung steht, die Kontinuität der Religionsgeschichte niemals vollkommen sprengen zu können. So lautet jene zuletzt zitierte Sentenz im Ganzen denn auch: „Grenze des religiösen 67  Siehe

dazu unten Abschnitt III.5.b.

68  Siehe dazu oben Abschnitt III.3.b. 69  Vgl. dazu vor allem das Leben Schleiermachers

sowie die in Bd. 2 der Gesammelten Schriften gebotenen Studien. 70  Vgl. vor allem II 499–512; XIV 473–478. 544 f. 548 f. 71  Im Rahmen seiner späten Texte zur Weltanschauungstypologie hat er seine Sicht der Religionsgeschichte dann auch konsequent auf archaische Formen ausgeweitet. Entsprechende Ausführungen finden sich etwa im Wesen, in dem der „primitive Verkehr mit dem Unsichtbaren“ (V 385) als erste von drei wesentlichen Stufen einer religionsgeschichtlichen Gesamtentwicklung zur Darstellung kommt, die Dil­they auf den Seiten V 382 ff. verhandelt; vgl. im weiteren auch VIII 28 ff. 43 ff. 88 f.



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Erlebnisses, daß es immer bedingt ist durch die in der Tradition enthaltenen Bestimmungen der religiösen Gegenstände, die vor dem Aufstreben der originalen neuschaffenden religiösen Erlebnisse liegen“ (ebd.). Religion stellt deswegen nun aber nicht bloß die Perpetuierung bereits vorhandener Glaubenswelten dar. Vielmehr enthält sie, wie eben gesehen, immer auch ‚originale neuschaffende religiöse Erlebnisse‘. Deren entscheidende Hervorbringungsinstanzen sind Dil­they zufolge  – zumindest ab dem Aufkommen von Hochreligionen – vor allem in religiösen Genies zu erblicken. Im Unterschied zum Durchschnittsmenschen zeichnen sich diese dadurch aus, dass sie nicht lediglich aneignende Aktualisierungen von bereits vorhandenen Vorstellungsbeständen und Vorstellungsverknüpfungen vornehmen. Vielmehr gelangen sie in und durch ihren persönlichen Religionsvollzug zu solchen genuinen Neuschöpfungen, die dann auch für andere Personen eine prägende Kraft entfalten können. Somit stellen sie auf dem religiösen Feld die hervorgehobenen Repräsentanten derjenigen geschichtlich-kulturellen Grundstruktur dar, die Dil­they in allgemeinerem Zusammenhang auf die Formel gebracht hatte, dass „objektive[r] Geist und die Kraft des Individuums […] zusammen die geistige Welt [bestimmen]“ (VII 213). Die religiösen Genies übernehmen innerhalb der Religion also eine doppelte Funktion: Einerseits treiben sie deren geschichtliche Entwicklung durch die Auffindung neuer Ansichten voran; andererseits schaffen sie damit zugleich Wirklichkeitskonzeptionen, die anderen Menschen als Deutungsschemata ihrer eigenen Selbst- und Welterfahrungen dienen: „Da gewinnen nun einzelne […], getragen von der einheitlichen Größe der Person, Macht über die Menschen“ (V 379). Man könnte diesbezüglich auch an den in Schleiermachers Reden formulierten Gedanken erinnern, dass die religiös besonders Musikalischen in und durch ihr Leben ‚Zentralanschauungen‘72 entwerfen, die dann zum Zentrum einer ganzen Religion zu avancieren vermögen und anderen – weniger Begabten – zum Interpretament ihres eigenen Daseins dienen können. So sehr sich konkrete Hochreligion ganz entscheidend der Schöpfung durch kreative Individuen verdanken, so wenig bedeutet das für Dil­they, eine Religion könne normativ auf die Gestalt ihres Entstehungszusammenhanges festgelegt werden. Zwar besitzen positive Religionen einen historisch bestimmbaren Anfangspunkt. Wofür aber die kollektiv-individuelle Einheit einer einzelnen Religion ihrem Grundgehalt nach steht, kann nicht allein im Blick auf ihren religionsgeschichtlichen Beginn eruiert werden, geschweige denn hinsichtlich irgendeines anderen Einzelmoments ihrer Geschichte. Dies lässt sich vielmehr nur im Blick auf die betreffende Gesamtentwicklung beantworten. Auf das eben Gesagte zurückbezogen hieße das, religiöse Zentralanschauungen werden nicht nur aus-, sondern in entscheidenden Punkten auch weitergebildet. Solche Weiterbildungen sind dabei wiederum die Leistung quasi untergeordneter religiöser Genies, 72  F. D. E.  Schleiermacher:

Reden über die Religion, 260 passim.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

die die grundlegende Sicht eines Religionsstifters mit neuen religiösen Ideen anreichern. Dil­they hat diese religionsgeschichtliche Prinzipienlehre vor allem im Blick auf das Christentum zur Geltung zu bringen gesucht. So hat er ausdrücklich festgehalten, das Christentum realisiere sich in Form einer „fortschreitende[n] Entwicklung […]; diese Entwicklung hat ihren Quellpunkt in Christus, aber nicht ihre Norm“ (XIV 475). Vor diesem Hintergrund hat er dann auch im Methodischen scharfe Kritik geübt: zum einen an dem von Schleiermacher für die ‚historische Theologie‘ projektierten Verfahren, im Urchristentum die reinste Form der Darstellung des Christentums zu suchen und deshalb alle späteren Lehrsätze am neutestamentlichen Kanon zu bewähren,73 zum anderen an Ritschls Polemik gegenüber dem mittelalterlichen Christentum.74 Beide Zugänge erweisen sich seines Erachtens in religionswissenschaftlicher Hinsicht darum als unhaltbar, weil sie dem Entwicklungscharakter und damit zugleich dem jeweiligen Eigenwert der unterschiedlichen Geschichtsperioden nicht gerecht zu werden vermögen. „So wenig wie auf irgendeinem andern Gebiete gibt es auf dem der Religiosität eine bindende Vollkommenheit am Ausgangspunkt oder eine bloße Wiederherstellung nach anderthalb Jahrtausenden[.]“ (XIV 475). Dil­they widerspricht also aufs Entschiedenste sowohl dem klassischen verfallsgeschichtlichen sowie dem Wiederherstellungsschema auf dem Gebiet des Christentums. Er redet aber auch keiner einfachen Perfektibilitätsidee das Wort. Sein Standpunkt dürfte am besten dadurch beschrieben sein, dass man ihn als Anwendung der allgemeinen historistischen Geschichtskonzeption im Sinne Rankes auf das Feld der (christlichen) Religion betrachtet: Geschichte heißt Entwicklung und diese Entwicklung wird weder durch ihren Anfangs- noch durch ihren Zielpunkt normiert, sondern durchläuft einen „Fortschritt“ (XIV 474), innerhalb dessen alle einzelnen Phasen einen selbständigen Eigenwert besitzen. Das Problem, worin ein sinnvolles Kriterium dafür erblickt werden kann, um aus dem prinzipiell unendlichen Stoff auswählen zu können, welche geschichtlichen Bestandteile überhaupt der überindividuellen Geschichtsgröße ‚Christentum‘ zuzuordnen sind – ein Problem, dem nicht zuletzt Schleiermachers Rückgang auf die Anfangsgestalt des Christentums abhelfen sollte –, hat Dil­they nicht weiter traktiert. iv.  Die Rationalisierung der Religion und ihre Grenze Es hatte sich gezeigt,75 dass religiöses Bewusstsein im Erleben seinen Ursprung besitzt, aber nicht in der Erlebnisunmittelbarkeit verbleibt, sondern sich mithilfe unterschiedlicher Deutungsleistungen artikuliert. Der erste Ansatzpunkt solch artikulierenden Deutens war bereits in Form einer basalen Erlebnisperspektivität 73 Vgl. 74 Vgl.

XIV 500 f. II 514 f.

75  Siehe

dazu unten Abschnitt III.5.a.ii.



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zutage getreten. Die daraus erwachsenden Bewusstseinsgehalte waren in der religiösen Erfahrung dann einer weiteren Deutung unterzogen worden, und zwar dergestalt, dass jene Gehalte – ebenfalls auf vorreflexiver Ebene – zu ganzheitlichen Wirklichkeitsannahmen extrapoliert wurden. Im Zusammenhang damit erfolgt schließlich eine Vergegenständlichung, indem die Bestände der religiösen Erfahrung mittels Vorstellungen, wie sie aus dem Selbst-Welt-Erleben des Menschen stammen, symbolisch zum Ausdruck gebracht wurden. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, bleibt die Vergegenständlichung aber hierbei nicht stehen, sondern sucht sich bis in die Welt des Begriffes auszudehnen. Hieraus erwachsen dann aber bestimmte Aporien, die sowohl die Natur der religiösen Darstellung als auch die Reichweite ihrer Geltung betrifft. Ehe darauf einzugehen sein wird (2), sei zunächst jedoch etwas zu jenem Begriffsstreben gesagt (1). (1) Dil­they hat eine terminologische Grundunterscheidung konzipiert, mit deren Hilfe er die beiden Bereiche vorbegrifflicher und begrifflicher Artikulation religiösen Lebens voneinander abzuheben sucht. Sie begegnet erstmals im 1892/93 erschienenen System. Dil­they unterteilt das Feld der entsprechenden Lebensäußerungen hier nach den beiden Grundgesichtspunkten von „Dogmen ersten Grades“ und „Dogmen einer zweiten Ordnung“ (II 137) bzw.  – wie es im Wesen später heißt – „Dogmen zweiten Grades“ (V 389).76 Jene stehen für solche Vorstellungen, in denen die produktive Einbildungskraft die Erfahrungsgehalte zu entsprechenden anschaulichen Größen vergegenständlicht. Dil­they spricht darum auch von den „gleichsam bildlichen Symbolen“, die „vorstellungsmäßig, sonach inadäquat, dennoch aber unvermeidlich das religiöse Erlebnis [bezeichnen]“. Als Beispiele für solche „primären Symbole, Dogmen ersten Grades“ (II 143) kommt er etwa auf ‚Schöpfung‘, ‚Sündenfall‘, ‚Offenbarung‘, ‚Gesetz Gottes‘, ‚Gemeinschaft Christi mit Gott‘, ‚Erlösung‘, ‚Opfer‘ oder auch ‚Genugtuung‘ zu sprechen.77 Für Vorstellungen dieser Art ist es charakteristisch, dass sie jeweils als Ausdruck spezifisch religiöser Erlebnisgehalte fungieren, d. h. sie bilden keine Produkte logischer Bestimmungen oder Schlussfolgerungen, sondern stellen das Ergebnis vorprädikativer Urteilsleistungen dar. So gehören sie „einer ganz anderen Region als der des Verstandes an“ (II 137).78 76  Auf die Bedeutung dieser Unterscheidung hat bereits hingewiesen G. Wobbermin: Die Philosophie Wilhelm Dil­theys, 327. 77  Als Anschauungsmaterial hat er etwa die österlich-nachösterlichen Verarbeitungen der Lebensgeschichte Jesu Christi vor Augen. So hat er mit Blick auf urchristliche und paulinische Glaubensvorstellungen in einem späten Textfragment davon sprechen können, dass alle diese „Symbole ersten Grades […] in dieser Bewegung entwickelt [sind], welche nur die nächsten Dezennien nach dem Tode Christi umfaßt“ (II 514). 78  Angesichts der von Dil­they hervorgehobenen konstitutiven Bedeutung dogmatischer Artikulation für das religiöse Leben ist Erich Füllings Einschätzung zu widersprechen, Dil­they sei „ein Vertreter der auch heute noch nicht erledigten Auffassung, daß es ein Christentum ohne Dogma geben könne“ (E. Fülling: Geschichte als Offenbarung, 58).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Die ‚Dogmen zweiten Grades‘ sind das Resultat eines Rationalisierungsprozesses jener ‚primären Symbole‘. Sie entstehen aus einer Erkenntnishaltung, die jene geistigen Größen nicht in ihrer erlebnisexpressiven Funktion belässt, sondern bestrebt ist, sie dem logisch-gesetzmäßigen Zusammenhang der Welterkenntnis anzupassen, wie er zu einem gegebenen Zeitpunkt vorliegt. „Hier begegnen ihnen [sc. den Symbolen] geschichtliche und Naturgesetze, begrifflicher Zusammenhang, kausale Erkenntnis“ (II 137). Die primären „Dogmen [werden] den Kategorien des Weltzusammenhangs eingeordnet“ (V 389). Religiöse Bilder werden in Formeln begrifflich-rationaler Natur überführt, womit sich der Anspruch verbindet, die religiösen Erfahrungsgehalte in Form allgemeingültiger Wissenssätze zu behaupten.79 Diese von Dil­they zunächst  – und werkbiographisch schon früh –80 im Blick auf die europäische Religionsgeschichte ausgearbeitete Grundstruktur hat er im Wesen dann auch auf außereuropäische Gestalten von Religion auszuweiten gesucht.81 Jenes Rationalisierungsunternehmen kommt dabei nicht etwa erst aufgrund eines externen Zugriffs auf das religiöse Leben zustande. Vielmehr erwächst es – wie Dil­they vor allem in letztgenannter Schrift betont hat – aus bestimmten „innere[n] Bedürfnis[sen]“ (V 388) der Religion selber. So möchten sie zum einen „ihrer objektiven Geltung sich versichern“, zum anderen ist ihr die Tendenz eigen, „den Gehalt dieser Dogmen [sc. ersten Grades] aufzuklären und die in ihnen enthaltenen Anschauungen göttlicher und menschlicher Dinge herauszuheben“.82 Da dies aber „nur in begrifflichem Denken […] erreicht werden“ (ebd.) kann, strebt das religiöse Leben bereits von sich aus danach, die ihm eigenen Gehalte und Vorstellungen in Form jenes rationalen Schematisierungsprozesses umzusetzen. (2) Diesem Selbstanspruch vermag die Religion aber prinzipiell niemals Genüge zu tun. Vielmehr verfällt „die Innerlichkeit der Religion einem tragischen Schicksal“ (II 137).83 Das Bedürfnis nach Selbstaufklärung und Systematisierung der religiösen Vorstellungsgehalte ist Dil­they zufolge ja nur dadurch möglich, dass letztere nach Art begrifflicher Vorstellungen behandelt und entsprechend logisch verknüpft und geordnet werden. „Glücklich noch, wenn wenigstens diese Begriffe dem Leben entsprechen, welches sie ausdrücken sollen. Aber in jedem 79 Dil­ they hat auch hier durch einen Verweis deutlich gemacht, welche religions- bzw. theologiegeschichtlichen Phänomene ihm exemplarisch vor Augen stehen: Zum einen bezieht er sich etwa auf die dogmatischen Bekenntnisformeln, wie sie sich im Zuge der großen Lehrentscheidungen des antiken Christentums herausgebildet haben; zum anderen denkt er an das in der mittelalterlichen bzw. scholastischen Theologie verfolgte Unternehmen der Ausarbeitung einer Lehre von den Eigenschaften Gottes (vgl. I 137; V 389). 80 Vgl. U. Herrmann: Dil­they, Wilhelm 754. 81 Vgl. V 388. 82  Bereits in der Einleitung hatte Dil­ they festhalten können: das „Denken strebt notwendigerweise, diese die religiöse Erfahrung versinnlichenden Vorstellungen aufzuklären“ (I 274). 83 Vgl. V 389.



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Fall zerlegen und isolieren diese Begriffe die Momente des Lebens; sie stellen sie gegeneinander.“ (ebd.) Hier zeige sich, dass die im religiösen Erleben und der religiösen Erfahrung fundierten Grundanschauungen letztlich gar nicht in rationale Muster eingezeichnet werden können. Denn jenes Erleben generiert Strukturen, in denen Teilmomente zu einer inneren Einheit verbunden sind, deren intrinsischer Zusammenhang durch die Reflexion des Verstandes niemals eingeholt werden kann. In gewisser Weise wiederholt sich hier nochmals das Problem, das sich bereits im Zusammenhang der Problematik materialer Kategorien gezeigt hatte.84 Dort, wo das religiöse Erleben über seine performative Artikulation hinaus auch begrifflich-abstrakt zur Darstellung gebracht werden soll, verfängt sich diese Darstellung in Spannungen und Widersprüchen, die mit den Mitteln des Denkens niemals aufgelöst werden können. So hatte Dil­they schon in der Einleitung festhalten können, „daß die inneren religiösen Erfahrungen in einem verstandesmäßigen Zusammenhang nicht dargestellt werden können (I 274 f.). Das materiale Phänomen, an dem Dil­they diesem Problemzusammenhang exemplarisch tiefer nachgegangen ist, ist in dem mittelalterlich-scholastischen Projekt einer Lehre von den göttlichen Eigenschaften zu erblicken. Dieses mündet in eine ganze Reihe von Antinomien, die er bereits im zweiten Buch des letztgenannten Werks herausgearbeitet hat.85 Im Wesen hat er diesen Zusammenhang dann nochmals aufgerufen.86 Angesichts dessen stellt sich „in dieser begrifflichen Arbeit selber […] ihre [sc. der Religion] gänzliche Unzulänglichkeit zu solchem Unternehmen heraus“ (V 388). Religiöse Ideen und Vorstellungen können niemals einen Anspruch objektiver Gültigkeit für sich beanspruchen, wie dies im Bereich des Wissens der Fall ist. „Religiosität ist subjektiv, in den sie bestimmenden Erlebnissen partikular, ein Unauflösliches, höchst Persönliches ist in ihr“ (V 390). Religion bleibt also konstitutiv rückgebunden an die Innerlichkeit bzw. Subjektivität konkreter Personen. So sehr sich der Religionsvollzug also in Vorstellungsgebilden artikuliert, so wenig können diese Vorstellungsgehalte in die Form von Wissensbeständen überführt werden. Die Evidenz religiöser Gehalte lässt sich darum auch niemals einfach andemonstrieren, sondern vermag sich nur 84  Diese hatten sich als solche Einheitsprinzipien erwiesen, die ihren Ursprung nicht im Verstand haben, sondern aus vorreflexiven Bezügen des Bewusstseinslebens erwachsen (siehe dazu oben Abschnitt III.1.c). In der Religion gelangt dieser Sachverhalt insofern in seiner grundlegenden Bedeutung zur Darstellung, als es hier um eine Sicht auf die Wirklichkeit im Ganzen geht. 85  Er kommt hierbei auf folgende Widerspruchsreihen zu sprechen: auf die „Antinomie zwischen der Vorstellung des allmächtigen und allwissenden Gottes und der Vorstellung der Freiheit des Menschen“ (I 279 ff.); auf die „Antinomien in der Vorstellung Gottes nach seinen Eigenschaften“ (I 286 ff.) sowie auf den „[i]nnere[n] Widerspruch der mittelalterlichen Metaphysik, der aus der Verknüpfung der Theologie mit der Wissenschaft vom Kosmos entspringt“ (I 317 ff.), wobei hierzu auch die „Antinomie zwischen der Vorstellung des göttlichen Intellekts und der Vorstellung des göttlichen Willens“ (I 318 ff.) und die „Antinomie zwischen der Ewigkeit der Welt und ihrer Schöpfung in der Zeit“ (I 324 ff.) gehören. 86 Vgl. V 389.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

dadurch zu realisieren, dass sie von einem Subjekt erlebnismäßig produziert bzw. angeeignet wird.87 Unter offensichtlicher Anspielung auf die berühmte Äußerung im ersten Korintherbrief bringt Dil­they diesen Umstand dadurch zum Ausdruck, dass der Gehalt einer Religiosität „jedem, der nicht an den Erlebnissen teilnimmt, als ‚eine Torheit‘88 erscheinen muß“. Er kann auch von der „Wehrlosigkeit“ (ebd.) der Religiosität gegenüber Wissenschaft, Denken oder weltlicher Bildung sprechen. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als ob Dil­they diese kritische Einsicht nur dem externen Beobachter zubilligen würde. Damit wäre seine Sichtweise jedoch nicht wirklich getroffen. Ihm zufolge wird die Einsicht in die Unmöglichkeit der Überführung religiöser Vorstellungen in theologisch-metaphysische Begrifflichkeiten bereits von der Religion selbst hervorgebracht. Besonders deutlich findet sich dies in der Einleitung ausgesprochen, und zwar im Zusammenhang von Ausführungen zu derjenigen Gestalt religiöser Erfahrung, die wir als Freiheitsreligiosität bezeichnet hatten.89 So verbleibt „doch die Inhaltlichkeit des menschlichen Willens in der Burgfreiheit der Person. Hierin hat keine Metaphysik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Protest der hierin klaren religiösen Erfahrung zu kämpfen gehabt“ (I 385, Hvh. v. Verf.). In religionsgeschichtlicher Perspektive steht hierfür der ‚Protest‘ „von den ersten christlichen Mystikern ab, welche sich der mittelalterlichen Metaphysik gegenüberstellten und darum nicht schlechtere Christen waren, bis auf Tauler und Luther“ (ebd.). Die Unmöglichkeit der Durchführung eines begründbaren Anspruchs auf objektive Geltung bedeutet für Dil­they jedoch nicht, dass die Religion sich unter gänzlichem Verzicht auf Geltungsansprüche realisieren und zur Darstellung bringen würde. Sie bedeutet nur, dass sich die Überzeugungskraft ihrer Ideen und Vorstellungen nicht in Form logischen Zwangs oder begrifflicher Notwendigkeit, sondern nur in Form einer Anmutung kommunizieren lässt. Die intersubjektive Übertragung ist hier immer rückgebunden an konkrete Individuen, die nicht so sehr auf Basis ihrer theoretischen Gedanken, sondern vor allem durch die Art ihrer Lebensführung die Relevanz der betreffenden Wirklichkeitsperspektive verbürgen. In Leben und Erkennen heißt es dazu: „Kein Beweis, nur die überredende Macht der größten Menschen, die als Religiöse oder Dichter über die Erde gegangen sind“ (XIX 385). Diese ‚überredende Macht‘ verdankt ihre Wirkung nicht so sehr der Folgerichtigkeit eines korrekt durchgeführten Argu87  Hier ist meines Erachtens auch der systematisch entscheidende Grund dafür zu erblicken, warum Dil­they für die hermeneutisch-reproduktive Erschließung der Welt der Religion der psychologischen Betrachtung einen hohen Stellenwert einräumt. Eine Fokussierung der religiösen Gestalten des objektiven Geistes bliebe ohne eine solche Grundlage unvollständig. Dieser Zusammenhang scheint mir in Gunter Scholtz‘ Kritik an Dil­theys Forderung nach religionspsychologischer Grundlegung etwas außen vor zu bleieben (vgl. G. Scholtz: Dil­theys ‚Problem der Religion‘, 276). 88  Vgl. 1Kor 1,18; 1,23; 1,25; 2,14. 89  Siehe dazu oben Abschnitt III.5.a.ii.



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ments, sondern der Stärke ihrer existenziellen Orientierungs- und Prägekraft. In dem Maße, in dem eine Person auf andere in dieser Weise zu wirken imstande ist, gewinnt sie dann eine spezifische Form des Einflusses auf ihre gleichzeitig oder später lebenden Mitmenschen, der – anders als im politischen Bereich – jedoch keine gewaltbasierte Machtausübung darstellt, sondern sich prinzipiell im Medium freier Partizipation realisiert. Diesen Gedanken hat Dil­they auch im Wesen nochmals deutlich hervorgehoben: „Da gewinnen nun einzelne derselben, getragen von der einheitlichen Größe der Person, Macht über die Menschen“ (V 379).90 Freilich bewegt sich Dil­they damit immer schon auf der Ebene von Hochreligionen,91 und zwar gleichsam in idealtypischer Beschreibung.

b.  Die Hermeneutik der Religionsgeschichte i.  Die religionstypologische Grundunterscheidung Dil­they hat nicht nur grundlegende kategoriale Überlegungen zur theoretischen Behandlung der Religionsproblematik angestellt. Darüber hinaus hat er sich auch historisch mit der Entwicklung von Religion auseinandergesetzt. Wirkungsgeschichtlich ist dieser Aspekt seiner Studien sogar der bekanntere. Am Anfang seiner religionsgeschichtlichen Beschäftigung stand dabei das Studium der Geschichte des Christentums – vor allem der mittelalterlichen Mystik und Religionsphilosophie –, das er bereits als frisch examinierter Theologe unternahm.92 Ursprünglich hatte er damit den Plan einer „Geschichte der christlichen Weltanschauung des Abendlandes“93 verbunden. Im Zuge dieser und weiterer Beschäftigungen erarbeitete er sich schon früh eine historische Gesamtanschauung der Entwicklung des westlichen Christentums von der Antike bis in die Neuzeit, deren erster größerer literarischer Niederschlag in entsprechenden Ausführungen 90  Diesem Aspekt hat Matthias Jung in seinen Arbeiten zu Dil­they keine Beachtung geschenkt. Dies hätte sich umso näher gelegt, als er an Dil­they eine Unterbelichtung geltungstheoretischer Überlegungen kritisiert. Allerdings ist es Jung dabei um „Geltungsansprüche kognitiver Art“ (M. Jung: Erfahrung und Religion, 57) zu tun. Solche sind für Dil­they im Blick auf das religiöse Leben in der Tat nicht aufweisbar. Ein religionsphilosophischer „Realismus“ (ebd.) lässt sich auf Basis von Dil­theys Überlegungen nicht begründen. Es ist aber zu fragen, ob Religionsphilosophie notwendig auf eine realistische Grundlegung hinauslaufen muss, wie Jung das suggeriert. Aus der neueren Debatte vgl. dazu exemplarisch die Auseinandersetzung zwischen U. Barth: Letzte Gedanken, 487 ff. und D. Henrich: Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn. 91  Archaische Religionen sind ihm zufolge weniger durch das Handeln großer Individuen, sondern mehr durch die in einer konkreten sozialen Gruppe geltenden Regeln geprägt: „Während der Gemeingeist in den früheren Stufen vorwiegend wirksam ist, vollzieht sich der Fortgang zu höheren Stufen durch das religiöse Genie, in den Mysterien, im Einsiedlertum, im Prophetentum“ (VIII 89). 92  Vgl. dazu U. Herrmann: Dil­ they, 754; G. Scholtz: Wilhelm Dil­they und die Entstehung der Hermeneutik, 475. 93  Tagebucheintrag vom 1. April 1860: C. Misch: Der junge Dil­they, 120.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

des – vordergründig wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten – zweiten Buchs der Einleitung zu erblicken ist. Vor allem in den 1890er Jahren unternahm er weitere Studien, die von seinen Schülern posthum unter dem Titel „Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie und Religion“ als zweiter Band der Gesammelten Schriften herausgegeben wurden. Daneben hat er sich aber – nicht zuletzt angestoßen durch seine Arbeit am Leben Schleiermachers – ausgiebig mit derjenigen Religionsform auseinandergesetzt, die man im späten 18. Jahrhundert unter dem Titel ‚Pantheismus‘ zusammenzufassen begann. Auch diesem Forschungszweig widmete er sich zeitlebens. In seiner späten Pantheismus-Studie (1900) hat Dil­they seine entsprechende Auffassung gebündelt zur Darstellung gebracht. Sein thematisches Engagement für die pantheistische Bewegung wurde und wird in der Forschung vielfach als Indiz dafür gelesen, dass Dil­theys eigener religiöser Standpunkt letztlich auf eine solche Option hinauslaufe.94 Und in der Tat gibt es sowohl in theoretischer als auch in historischer Hinsicht eine Reihe von Äußerungen, die eine solche Positionierung nahezulegen scheinen. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass er jener Option große Sympathien entgegengebracht und sie stets als berechtigte Möglichkeit religiöser Wirklichkeitsauffassung zu würdigen gesucht hat. Gerade seine geschichtlich-systematischen Untersuchungen machen aber deutlich, dass eine einfache Identifizierung seiner religionsphilosophischen Position als ‚Pantheismus‘ eine unangemessene Verkürzung darstellt. Wie zu zeigen sein wird, geht er nämlich mitnichten davon aus, dass das religiöse Leben – sei es in seiner subjektiven sei es in seiner kulturellen Dimension – auf eine pantheistische bzw. panentheistische All-Einheits-Anschauung hinauslaufe. Wie bereits an früherer Stelle gesehen,95 rechnet er vielmehr mit einer grundlegenden Spannung desselben, innerhalb derer die pantheistische Gestalt nur eine von zwei Seiten bildet. Daneben stellt er zugleich eine entgegengesetzte Frömmigkeitshaltung und Religionsform in Rechnung, die sich als mindestens ebenso wesentlich erweist – und auch in der Moderne keineswegs ihre Berechtigung verloren hat. Dieser Überzeugung korrespondiert die Aufstellung einer entsprechenden Typologie mit deren Hilfe die europäische Religionsgeschichte seines Erachtens perspektiviert werden kann. Da Dil­theys religionstypologisches Unternehmen methodisch wie inhaltlich in enger Verbindung zum Projekt einer Weltanschauungstypologie steht, werden wir den Einstieg bei letzterer nehmen (1), um von da aus auf die Religionsthematik zurück zu lenken (2). (1) In der Spätphase seines Werkes hat Dil­they die Ergebnisse seiner philosophiegeschichtlichen Studien mithilfe eines typologischen Ordnungssystems zu strukturieren gesucht. Dies erfolgt nicht nur aus einem historischen Sortierungsinte94 Vgl. E. Spranger: Weltfrömmigkeit, 14 f.; O. F. Bollnow: Dil­ they, 16f; U. Herrmann: Dil­they, 753. 95  Siehe dazu oben Abschnitt III.5.a.ii.



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resse heraus, sondern als Antwortversuch auf ein Problem, das Dil­they durch seine Diagnose der zeitgenössischen Situation der Philosophie aufgegeben ist. Worin besteht dieses Problem? Dem Kultursystem ‚Philosophie‘ weist Dil­they allgemein die Aufgabe zu, dem individuellen und sozialen Leben durch Besinnungsarbeit zu einem höheren Grad an Bewusstheit zu verhelfen, wodurch die vormethodische Lebenserfahrung in eine begründete Form von Wissen überführt wird, die dann auch eine mit Geltungsansprüchen versehene Orientierungsfunktion für die Lebensführungspraxis besitzt.96 Dem gegenüber stelle sich aber eine doppelte Schwierigkeit ein. Zum einen zeige sich nämlich, dass es keinen Standpunkt gibt, dem nicht ein anderer entgegensteht, so dass es zum Bewusstsein einer „Anarchie dieser Systeme“ (VIII 78) kommt. Zum anderen wisse die moderne Philosophie nicht nur die Entwürfe der vergangenen Denker, sondern auch das eigene Tun unintergehbar unter den Vorbehalt der Geschichtlichkeit gestellt. Der damit gegebene „Widerspruch zwischen schaffenden Geistern und dem geschichtlichen Bewußtsein“ sowie die damit verbundene Einsicht in die prinzipielle „Relativität und Vergänglichkeit“ stellt Dil­they zufolge „das eigenste still getragene Leiden der gegenwärtigen Philosophie“ (V 364) dar.97 Wie sieht Dil­theys Lösungsvorschlag aus? Auf methodischer Ebene plädiert er für die Verschränkung zweier Verfahren, die er in einem späten Text auf die Formel einer „psychologische[n] und geschichtssystematische[n] Auslegung des Historischen“ (VIII 86) gebracht hat. Letzteres Moment steht dabei für die Anwendung „historische[r] Vergleichung“ (IV 544), die es ermöglichen soll, unterschiedliche Personen zu relativ einheitlichen Gruppen zusammenzustellen.98 Dieses geschichtssystematische Vorgehen wird von Dil­they mit einem psychologischen überkreuzt, das die unterschiedlichen quasi idealtypischen Gruppen auf die psychische Struktur des humanen Bewusstseinslebens abbildet und ihnen insofern eine Art psychologische Ableitung zuteilwerden lässt. Dabei geht Dil­ they davon aus, dass die psychische Struktur mit ihrer Dreigliedrigkeit  – von 96 Vgl. V 374 f. Zu Dil­theys Philosophieauffassung vgl. G. Scholtz: Dil­theys Philosophiebegriff. 97  Mit Sorge betrachtet er dabei zeitgenössische Tendenzen, sich der „schweren Last von Vergangenheit“ entledigen zu wollen und „einmal gründlich aufzuräumen mit derselben und das Gepäck zu erleichtern“ (IV 528). Ein solches Vorgehen entrate nämlich nicht nur aller Orientierungsgewinne, die die philosophiehistorische Arbeit ermögliche, sondern bedeute zudem einen „Rückzug von der Erkenntnis auf geniale, fragmentarisch sich äußernde Subjektivität“ (IV 529). Als abschreckendes Beispiel einer solchen historisch unreflektierten philosophischen Position nennt Dil­they Nietzsche. Denn aufgrund des Desiderats einer geschichtlichen Selbstbesinnung seiner eigenen Position bemerke dieser nicht, dass sein normativer Typus des Machtmenschen lediglich Ausdruck der seit der Renaissance stattfindenden sozialen Transformationsprozesse darstelle. Zum Verhältnis Dil­they-Nietzsche vgl. W. Stegmaier: Philosophie der Fluktuanz. 98  Die Vergleichung erfolgt nach einem doppelten Kriterium: Die entsprechenden „Merkmale […] sind, von innen angesehen, ein Bewußtsein von Solidarität zwischen den ihr angehörigen Denkern, objektiv betrachtet, die ihnen gemeinsame Struktur“ (IV 544).

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erstens: äußerem Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, zweitens: Trieb und Gefühl sowie drittens: Wollen – in der Regel eine Akzentuierung nach einer der drei Seiten aufweist, die sich dann auch dem jeweils individuellen Aufbau einer philosophischen Weltanschauung mitteilt. Dahinter steht freilich die Annahme, dass integrale philosophische Wirklichkeitsauffassungen niemals aus dem bloßen Denken resultieren, sondern aus der gesamten Lebenseinheit einer Person entspringen. Was das für jene Ableitung unterschiedlicher Weltanschauungstypen bedeutet, hat Dil­they besonders klar im Wesen ausgesprochen:99 Demnach kann die Konstitution einer systematischen Ansicht der Wirklichkeit vornehmlich bestimmt sein entweder durch das äußere Wahrnehmen und die damit verbundene Auffindung einer entsprechenden kausal-nomologischen Ordnung oder sie kann bestimmt sein durch das Trieb- und Gefühlsleben und die damit verbundene Auffassung der Wirklichkeit als eines wert-, bedeutungs- und sinnhaften Zusammenhangs oder aber die Weltanschauungskonstitution kann bestimmt sein durch das Willensverhalten und das mit ihm verbundene Bewussstsein der Freiheit und Unabhängigkeit des Geistes von der Natur. Auf dieser methodischen Basis ergibt sich für Dil­they die Möglichkeit, die vielfachen Phänomene der Philosophiegeschichte zu drei inhaltlich bestimmten Typen zusammenzunehmen. Alle Weltanschauung unter dem Vorherrschen der kognitiv-erkennenden Einstellung bezeichnet er als ‚Naturalismus‘; diejenigen aus der Perspektive des emotiven Lebens als ‚objektiven Idealismus‘; den dritten Typ bezeichnet er als ‚Idealismus der Freiheit‘. Näherhin steht der Naturalismus für eine solche Konzeption, in der alle geistigen Erscheinungen als bloßer Ausdruck physikalischer Prozesse angesehen werden – wobei die kritischen Naturwissenschaften diese Auffassungsweise lediglich im Sinne eines methodischen Reduktionismus vertreten. Der objektive Idealismus bezeichnet all diejenigen Modelle, nach denen die Wirklichkeit insgesamt als durch einen einzigen geistig-vernünftigen Zusammenhang strukturiert gedacht wird. Der Idealismus der Freiheit schließlich rechnet mit einer prinzipiellen Überlegenheit des Geistigen über die Natur.100 Die damit gegebene Sortierungsmöglichkeit des philosophiegeschichtlichen Feldes stellt Dil­theys metaphilosophische Antwort auf die Orientierungskrise der Philosophie dar. Denn auf diesem Weg lasse sich zeigen, dass die Philosophiegeschichte nur „scheinbar“ (IV 530) in eine unbestimmte Vielheit zerfließt. Tatsächlich sei, so Dil­they, eine Art Gesetzmäßigkeit festzustellen, nach der sich die Erscheinungen strukturell gliedern und innerhalb der jeweiligen Teilzusammenhänge dann auch in Form fortschreitender Entwicklungsverläufe begreifen lassen.101 In methodischer Hinsicht drängt sich freilich der Eindruck auf, dass 99 Vgl.

V 403.

100  Dil­they

verweist diesbezüglich etwa auf Anaxagoras, Sokrates, Platon, Aristoteles, Cicero, die christlichen Apologeten, die schottische Schule, Kant, Jacobi, Maine de Biran, Bergson (vgl. VIII 107). 101 Daraus ergibt sich dann eine doppelte Antwort im Blick auf die Anarchie und Ge-



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die ‚historische Vergleichung‘ durch die psychologische Grundlegung dominiert wird und sich ihre Ergebnisse letzterer unterordnen. Wie auch immer man diesen Zuschnitt bewerten mag, so gilt es trotzdem darauf hinzuweisen, dass Dil­ they nicht beansprucht, auf diesem Wege positivistische Eindeutigkeit erzielen zu können. Er verweist vielmehr ausdrücklich auf den subjektiv-konstruktiven Charakter seines Vorgehens sowie der aus diesem entspringenden Resultate und hebt deren vornehmlich heuristischen Wert ausdrücklich hervor.102 Zudem sollen damit keine starren Abgrenzungslinien gezogen werden, sondern „diese großen philosophischen Richtungen [sind] durch Zwischenglieder miteinander verbunden“ (IV 548).103 (2) Den damit verbundenen schwerwiegenden Problemen soll hier nicht weiter nachgegangen werden,104 sondern stattdessen danach gefragt werden, was das eben Gesagte für Dil­theys basale Typologisierung der Religionsgeschichte bedeutet. Diesbezüglich ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die idealistischen Typen ihre genetische Grundlage für Dil­they in bestimmten Weltbildern haben, wie sie im Zusammenhang der Entstehung von Hochreligionen ausgebildet wurden,105 der naturalistische Typ hingegen in der „weltlichen Lebensauffassung“, die „vom ersten Ansatz ab […] im Streit“ (VIII 90) mit der Religion gelegen schichtlichkeit der philosophischen Systeme: Zum einen „wird dieselbe Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins, welche ein so zerstörendes Werk an den großen Systemen getan hat, uns hilfreich sein müssen, den harten Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit in jedem philosophischen System und der historischen Anarchie dieser Systeme aufzuheben“ (VIII 78). Zum anderen kommt es zu einer „Auflösung dieses Widerspruchs“, da sich der Philosoph in seinem Schaffen wissen kann „als ein Glied in dem historischen Zusammenhang, in welchem er mit Bewußtsein ein Bedingtes erwirkt“ (V 364). Denn er kann darauf vertrauen, in seiner geschichtlich bedingten Arbeit an der übergreifenden Entwicklung des in sich gegliederten Strukturzusammenhangs ‚Philosophie‘ mitzuwirken. Diese Auflösung des Widerspruchs ist freilich nur zum Preis der Aufgabe des Anspruches auf strenge Allgemeingültigkeit möglich. In Dil­theys Augen braucht dieser Anspruch aber gar nicht aufrechterhalten zu werden, um eine hinreichende Orientierung über die grundsätzlichen Fragen und Probleme des Lebens erbringen zu können. 102  So heißt es in den Typen in Bezug auf das Ergebnis des typenbildenden Verfahrens: „Die Forschung muß hierbei gegenüber ihren Ergebnissen jede Möglichkeit einer Fortbildung sich fortdauernd offen halten. Jede Aufstellung ist nur vorläufig. Sie ist und bleibt nur ein Hilfsmittel, historisch tiefer zu sehen […]. Auch diese psychologische und geschichtssystematische Auslegung des Historischen ist den Fehlern des konstruktiven Denkens ausgesetzt“ (VII 86). „So hat das, was ich hier vorlege, einen ganz provisorischen Charakter […] Schon die Fassung derselben in eine geschichtliche Formel kann nur subjektiven Charakter haben. Ob man dann anders logisch arrangiert […] stelle ich jedem frei. Diese Typenunterscheidung soll ja nur dienen, tiefer in die Geschichte zu sehen, und zwar vom Leben aus“ (VIII 99 f.). 103  Ein Beispiel dafür wäre Aristoteles, den Dil­they einmal, wie gesehen, dem ‚Idealismus der Freiheit‘ zuordnet, ihn in den Grundformen aber auch dem objektiven Idealismus zuschlagen kann (vgl. IV 543). 104  Vgl. dazu O. Marquard: Weltanschauungstypologie; M. Jung: Dil­they, 180–193. 105 Dil­ they markiert im Wesen eine von zwei genetischen Grunddifferenzen religionsgeschichtlicher Entwicklung zwischen einer archaischen und einer höheren Stufe, auf der es zur Entstehung von Hochreligionen gekommen ist. Erst auf dieser Stufe ist ihm zufolge – im

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habe. Für die Frage nach einer typologischen Phänomensortierung auf dem Feld der Religion bedeutet das, dass Dil­they auch im Blick auf sie mit einer zweifachen Typologie rechnen müsste. Und dies ist in der Tat der Fall: So kommt er etwa auch im Wesen auf zwei grundlegende „Typen der religiösen Weltanschauung“ (V 391) zu sprechen, auf deren einer Seite er etwa die „Zarathustrareligiosität“ sowie „die jüdische und christliche Religiosität“ verbucht, und auf deren anderer Seite er Phänomene wie die emanatistischen Lehren „bei den Babyloniern und den Griechen“ oder auch die „chinesische Lehre von dem geistigen Zusammenhang in der natürlichen Ordnung und die indische von dem Schein und Leiden der sinnlichen Mannigfaltigkeit und der Wahrheit und Seligkeit der Einheit“ (ebd.) zurechnet.106 Der Grundunterscheidung zweier idealistischer Philosophietypen korrespondiert also die basale Differenz zweier religiöser Grundhaltungen. Im einige Jahre zuvor geschriebenen Pantheismus hatte er diesbezüglich eine eigene Bezeichnung angeboten. Sie ist nun keine andere als die eingangs genannte. So konstatiert Dil­they hier einen „unaufhebbaren Gegensatz in der Religiosität Europas“ (II 340), den er auf die begriffliche Differenz von „pantheistische[m] […] Element“ und „Standpunkt der Personalität“ (II 339) bringt. Der Grundunterscheidung von ‚objektivem Idealismus‘ und ‚Idealismus der Freiheit‘ korrespondiert so gesehen die basale Differenz von ‚pantheistischer Religiosität‘ und ‚Religion der Personalität‘. Dil­they zieht sie als heuristisches Hilfsmittel heran, um die europäische Religionsgeschichte idealtypisch zu perspektivieren. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass ein analoges methodisches Grundlegungsverfahren bis in die jüngste Zeit hinein auch von anderen Autoren zur Anwendung gebracht worden ist, um das mannigfaltige Feld der Religionsgeschichte einer heuristischen Strukturierung zuführen zu können.107 Oben hatte es geheißen, Dil­they verknüpfe bei der Formulierung seiner weltanschaulichen Grundtypen ein historisch-vergleichendes mit einem psychologischen Verfahren. Soll die eben behauptete Korrespondenz nicht willkürlich sein, müsste sich eine analoge Methodik auch im Blick auf die religiöse Typenlehre zeigen lassen. Und dies ist in der Tat möglich. Für das historisch-vergleichende Moment sei an dieser Stelle auf die beiden folgenden Abschnitte verwiesen. Hinsichtlich des psychologischen Moments kann an bereits Gesagtes erinnert Übergang von Monolatrie zu Monotheismus – die Ausbildung einer religiösen Weltanschauung erfolgt (vgl. V 384). Siehe dazu auch unten Abschnitt III.5.b.iii. 106 Über diese grobe Zweiteilung hinaus kann er dann auch noch kleinerschrittige und geistesgeschichtlich später erfolgende Bedingungsverhältnisse nennen (vgl. V 391). 107  Diesbezüglich kann etwa verwiesen werden auf Paul Tillichs Unterscheidung von ‚mystischer‘ und ‚ethischer‘ Religion (vgl. dazu C. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, 134–141), Dieter Henrichs Differenzierung von ‚Monismus‘ und ‚Theismus‘ (vgl. D. Henrich: Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen, 118) sowie jüngst Jörg Dierkens kritisch-konstruktiv an beide Konzeptionen anschließende Auseinanderhaltung von ‚Sinnabblendung durch mystische Teilhabe am Ganzen‘ und ‚ethischer Lebensdeutung‘ (vgl. J. Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion?, 146–220).



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werden: Wie gesehen,108 findet sich bereits in der Einleitung eine psychologische Theorie des religiösen Bewusstseinslebens, wonach dieses sich in zwei unterschiedliche Einstellungen differenziert: zum einen ein ‚metaphysisches Gefühl‘ des Menschen von der inneren Einheit mit dem Weltganzen, zum anderen das ‚meta-physische Bewusstsein der Person‘, in dem dem Einzelnen die Übernatürlichkeit seines freien Willens mental präsent ist. Diese bewusstseinsphilosophische Grunddifferenz kann als die psychologische Entsprechung jener historisch-heuristischen Unterscheidung angesehen werden. In seiner späten Schrift hat Dil­ they sie nochmals ausdrücklich hervorgehoben und sie darüber hinaus – eindeutiger als das zuvor der Fall gewesen ist – mit der Feststellung verbunden, dass die objektivideal-pantheistische Religionsgestalt einem Vorherrschen des Gefühlslebens korrespondiert,109 während die freiheitsideal-personalistische Religionsform unter der Dominanz des Willenslebens steht.110 Bevor wir nun Dil­theys Auslegung der Religionsgeschichte ins Auge fassen, seien vorwegnehmend drei methodische Grundentscheidungen Dil­theys benannt, die sein religionsgeschichtliches Vorgehen insgesamt prägen. Erstens ist darauf hinzuweisen, dass seine Historiographie der Religion weitestgehend auf Europa und deren Voraussetzungen in der antiken und jüdisch-orientalischen Kultur beschränkt ist. Zwar kommt er gelegentlich auch auf andere kulturelle Bereiche zu sprechen. Die von ihm gezeichneten Hauptlinien betreffen aber im Wesentlichen den europäischen Kulturraum. Zweitens ist seine religionsgeschichtliche Analyse und Darstellung durch eine Verschränkung ideengeschichtlicher und realgeschichtlicher Aspekte charakterisiert, wobei der Fokus der Gesamtschau darauf gerichtet ist, welcher Fortschritt auf dem Felde der religiösen Ideen getätigt worden ist. Der dritte Punkt betrifft einen Umstand, der bereits weiter oben hervorgetreten war: Dil­they versteht die von ihm herausgearbeiteten Grundtypen von Religion, deren Entwicklung er dann jeweils eigens in den Blick nimmt, weder als real existierende Entitäten noch als starr abgegrenzte Formationen. Denn zum einen stellen sie – wie gesehen – vor allem heuristische Hilfsmittel dar, zum anderen kommen sie nicht in qualitativen Gegensätzen zu stehen, sondern können durchaus Übergänge aufweisen. ii.  Der pantheistisch-panentheistische Typus Wie im vorigen Abschnitt geschildert, vertritt Dil­they die These, dass sich die europäische Religionsgeschichte strukturell nach zwei Hinsichten gliedern 108  Siehe

dazu oben Abschnitt III.5.a.ii. Wenn „die Weltanschauung […] von der Verhaltungsweise des Gefühlslebens bestimmt“ ist, dann entstehen „objektiver Idealismus, Panentheismus oder Pantheismus“ (V 403). 110 „Wenn aber das Willensverhalten die Weltauffassung bestimmt, dann entspringt das Schema der Unabhängigkeit des Geistes von der Natur oder seiner Transzendenz: in der Projektion auf das Universum bilden sich die Begriffe der göttlichen Personalität, der Schöpfung, der Souveränität der Persönlichkeit dem Weltlauf gegenüber“ (ebd.). 109 

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lässt. Deren eine Seite bezeichnet er als ‚Pantheismus‘ bzw. als ‚Panentheismus‘. Seine Ausführungen hierzu machen deutlich, dass er diesbezüglich einen Bogen zu schlagen sucht, der von der Antike über die frühe Neuzeit bis in die Moderne hinein reicht. Schon bevor man sich dies im Detail ansieht, mag jener großräumige Ausgriff irritieren. Das fragliche religionsphilosophische Stichwort ist erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts von John Toland geprägt worden.111 Später ist es dann zur begrifflichen Bezeichnung derjenigen religiösen bzw. religionsphilosophischen Positionen der Sattelzeit avanciert, die sich im Zusammenhang des sogenannten Pantheismus-Streites und der daran anschließenden Debatten nicht auf die Seite Jacobis schlugen, sondern umgekehrt vielmehr eine konstruktive Auseinandersetzung mit demjenigen System zu führen suchten, dessen vermeintliche Sinnlosigkeit jener gerade aufzuweisen versucht hatte: dem ‚Spinozismus‘ nach Bento d’Espinoza. Angesichts beider eben genannter Punkte – der relativ späten Bildung des fraglichen Begriffs sowie seiner spezifischen historiographischen Extension  – erscheint Dil­theys Rede von einem geschichtlichen Zusammenhang der pantheistischen Religiosität, der Erscheinungsformen vormoderner Zeiten mit umfasst, anachronistisch.112 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, mit welchen Gründen er einen solchen Zusammenhang annehmen zu können glaubt. Damit sollen zugleich die Grundzüge seiner Sicht desselben rekonstruiert werden. Am Anfang wird die Schilderung seiner Auseinandersetzung mit dem religionsphilosophischen Denken des jungen Schleiermacher stehen (1). Ausgehend von hier wird dann zu zeigen sein, inwiefern Dil­they den Blick auf immer frühere Realisationsgestalten wirft: zunächst auf Goethe (2), sodann auf Shaftesbury (3), des Weiteren auf Giordano Bruno (4) und schließlich auf antike Vorreiter (5). (1) Dil­theys erste ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema stellt sein 1870 veröffentlichtes Leben Schleiermachers dar. Der Grund für diesen werkbiographischen Ort liegt auf der Hand: In diesem Band – dem ursprünglich ein zweiter folgen sollte, dessen Fertigstellung Dil­they jedoch nicht realisierte – ist es ihm um die erste Hälfte der Schleiermacherschen Biographie zu tun, die er bis ins Jahr 1807 hinein verfolgt. Es ist also diejenige Lebensphase, in der dieser in religionsphilosophischer Hinsicht eine spinozistisch-pantheistische Option vertreten hat. Angesichts des Umstandes, dass Dil­they nicht zuletzt eine Rekonstruktion „der anschaulichen Darstellung seiner [sc. Schleiermachers] Weltanschauung“113 für diese biographische Periode zu bieten sucht, ist klar, dass jene Option ein zentrales Thema bilden muss. Schleiermacher selbst hatte sich in den Reden emphatisch zu Spinoza bekannt114 und seinen Anschluss an ihn unter anderem mittels 111  Vgl. C. Jamme: 112  AaO., 631. 113  XIII 183. 114 Vgl.

Pantheismus. II, 630.

F. D. E.  Schleiermacher: Über die Religion, 54.



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derjenigen Begriffsformel markiert, die Jacobi als Diktum Lessings kolportiert hatte:115 der Rede vom ‚Hen kai pan‘ bzw. – wie es bei Schleiermacher heißt – vom „Eins und Alles“.116 Die damit bezeichnete Nähe Schleiermachers zu Spinoza hat denn auch Dil­they in seiner Biographie mehrfach hervorgehoben: „Spinoza ist dergestalt in die Weltansicht Schleiermachers verschmolzen, daß ich die meisten dargelegten Anschauungen der Reden in der Ethik Spinozas hätte nachweisen […] können“ (XIII 337). Als entscheidende Punkte hebt Dil­they vier Aspekte hervor:117 Zunächst verweist er auf Übereinstimmungen zwischen einigen Grundanschauungen Schleiermachers und bestimmten metaphysischen Begriffen Spinozas. Dil­they denkt hierbei vor allem an dessen Begriff des Universums und die damit verbundene Konzeption einer unendlichen Substanz, die als immanente Ursache aller endlichen Dinge fungiert, in denen jene zum Ausdruck kommt. Sodann knüpfe Schleiermacher an die spinozanische Differenz in der Auffassung von Einzelnem als Teil des unendlichen Kausalnexus und der Auffassung desselben als immanenter Wirkung der göttlichen Substanz, in der die Existenz und das Wesen eines jeden Dings ihren Grund haben, an. Des Weiteren finde sich Spinozas dritte Erkenntnisart (scientia intuitiva), die allein jene Auffassungsleistung zu vollziehen vermag, im Begriff der ‚Anschauung des Universums‘ wieder aufgenommen. Schließlich verknüpfe Schleiermacher wie Spinoza jene Erkenntniseinstellung mit dem Affekt der Liebe.118 Dil­ they stellt also eine offensichtliche und tiefgreifende Bedingtheit von Schleiermachers Religionsauffassung durch die spinozanische Konzeption in Rechnung. Mit dem Aufweis dieser Nähe kann es für ihn aber nicht sein Bewenden haben. Denn bei näherem Hinsehen zeige sich, dass die in Schleiermachers Entwurf zum Tragen kommende Grundansicht von derjenigen Spinozas in wesentlichen Punkten abweicht. „Von Schleiermachers originalen Gedanken aus bildeten sich aber alle Grundbegriffe Spinozas um“ (XIII 339). Es sei bereits hier darauf hingewiesen, dass sich mit der Herausarbeitung dieses Gesichtspunktes in Dil­theys Behandlung der Problematik des sog. Pantheismus ein Grundzug abzuzeichnen beginnt, der dann seine gesamte weitere Rekonstruktion der Geschichte dieser Wirklichkeitssicht vorantreiben wird: So wird es ihm nicht zuletzt darum zu tun sein, jene Problematik von ihrer starken Verklammerung mit dem Werk Spinozas, die sie infolge des Pantheismus-Streits vielerorts erfahren hat, partiell zu entkoppeln und sie als von dessen Denken relativ unabhängigen 115 Vgl.

K. Cramer: Anschauung des Universums, 121. F. D. E.  Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 128.132. 117 Vgl. XIII 337 ff. 118  Erster und zweiter der von Dil­they namhaft gemachten Gesichtspunkte ist in der neueren Schleiermacher-Forschung aufgegriffen und ausführlich dargestellt worden, unter besonderer Berücksichtigung der – ebenfalls von Dil­they schon hervorgehobenen (vgl. XIII 175) – frühen Texte Schleiermachers: Kurze Darstellung des spinozistischen Systems und Spinozismus (vgl. C. Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva). 116 Vgl.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

Ideenkomplex aufzufassen. Dies tut er in zwei Hinsichten: Zum einen verweist er darauf, dass sich in den entsprechenden Konzeptionen der Sattelzeit eine Reihe von Vorstellungen aufzeigen lasse, die nicht allein von Spinoza her erklärt werden können – womit er der Behauptung Jacobis entgegentritt, „daß jeder konsequent zu Ende gedachte Pantheismus in den Spinozismus münde“.119 Infolgedessen sucht er zum anderen aufzuzeigen, inwiefern das spinozanische System auch nicht die einzige geistesgeschichtliche Quelle für den sog. Pantheismus der Goethezeit gewesen ist. In seiner großen Biographie steht erstgenannte Hinsicht im Vordergrund und wird hier nicht zuletzt im Blick auf Schleiermacher zur Darstellung gebracht. Damit kommen wir auf das Problem von dessen Umbildung spinozanischer Grundbegriffe zurück. Dil­they schildert diese Umgestaltung vor allem anhand zweier Aspekte. Der erste ist erkenntnistheoretischer Natur. Schleiermacher hatte sich bekanntlich120 schon vor Abfassung seiner Reden intensiv mit dem Denken Spinozas auseinandergesetzt, das er allerdings ursprünglich nicht aus direkter Quelle, sondern über den Umweg der Darstellung Jacobis kennengelernt hatte. In seiner Beschäftigung war er von der Grundüberzeugung getragen, dass sich Spinozas System in zentralen Punkten konstruktiv auf Kants Transzendentalphilosophie beziehen lasse, die er bereits vor seiner Bekanntschaft mit der spinozanischen Konzeption ausgiebig studiert hatte. Dieser Amalgamierungsversuch hatte aber nicht nur den Aufweis struktureller Parallelen zwischen beiden Denkern zur Folge, sondern musste unweigerlich auch zur kritischen Umformung zentraler Theorieelemente bei Spinoza führen. So kommt es bei Schleiermacher nun zu einer Rekonfiguration von Spinozas Attributenlehre vor dem Hintergrund der kantischen Erkenntnistheorie. Gegenüber Spinozas Annahme einer einzigen Substanz, die sich in den Modifikationen ihrer unendlich vielen Attribute konstituiert, von denen dem Menschen allerdings nur diejenigen der Ausdehnung und des Denkens zugänglich sind, sucht Schleiermacher folgende kritische Einsicht zur Geltung zu bringen: Spinoza habe jene beiden Attribute  – die Schleiermacher in terminologischer Anlehnung an Jacobi auch als ‚Ausdehnung‘ und ‚Vorstellen‘ bezeichnen kann – überhaupt nur dadurch aufzustellen vermocht, indem er den Ausgang bei strukturellen Eigenschaften des menschlichen Vorstellungshaushaltes genommen habe, die dann zu Bestimmungen des Absoluten aufgewertet worden seien. Angesichts dessen aber können Ausdehnung und Denken, deren systematische Bedeutung Schleiermacher mit derjenigen der beiden Anschauungsformen bei Kant parallelisiert, aber nicht einfach mit dem Anspruch versehen werden, dass es sich bei ihnen um aus dem Absoluten deduzierte göttliche Merkmale handle. Stattdessen müssen sie vielmehr konsequent als aus der Strukturverfasstheit des menschlichen Bewusstseins entnommen begriffen werden, was aber eine nicht unerheb119  K. Cramer: 120  Vgl.

Anschauung des Universums, 119. dazu C. Ellsiepen: Scientia Intuitiva, 140–271.



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liche Einschränkung ihres epistemischen Status zur Folge hat.121 Dil­they steht der eben geschilderte Zusammenhang klar vor Augen. So hält er diesbezüglich fest, dass nach „der originalen Konzeption dieses Autors [sc. Spinoza] […] durch die beiden Attribute des Denkens und der Ausdehnung […] dieselbe Wesenheit der göttlichen Substanz nur auf verschiedene Weise ausgedrückt“ wird, wohingegen Schleiermacher „[d]iese Fassung […] schon in jenem älteren Spinozaaufsatz von Kants transzendentalem Standpunkt aus umgebildet“ hatte, indem er sie „vom Bewußtsein aus“ rekonstruierte (XIII 340). Wenn wir Spinozas Unterscheidung der beiden dem Menschen zugänglichen Attribute aber – mit Schleiermacher – „unter Kants Gesichtspunkt stellen“, dann zeige sich, dass „das Vorstellen und die Ausdehnung nicht als Eigenschaften der Gottheit, sondern als Eigentümlichkeiten des Anschauenden anzusehen sind“ (XIII 317). Dil­they sieht auch klar, dass die Konsequenzen jener erkenntnistheoretischen Eingrenzung sich bis auf die Fundamente von Spinozas Konzeption hinab auswirken. Denn vor dem Hintergrund des eben Gesagten kann es Schleiermacher zufolge für den Menschen keinen anderen Zugang zum substanziellen Sein geben als denjenigen über die Vorstellungsarten, wie sie ihm qua epistemischer Struktur seines Bewusstseins eigen sind.122 Das bedeutet wiederum, dass die Substanz unabhängig von ihren Modifikationen für das vorstellende Subjekt vollkommen unzugänglich ist. Angesichts dessen aber sieht Schleiermacher Spinoza die Grenzen des Erkennbaren überschreiten, wenn dieser im Sinne der Rekonstruktion der metaphysischen Struktur des Absoluten genau zu jener Behauptung weitergeht – wobei Schleiermacher eine analoge Überschreitung auch in Kants These einer Pluralität von Noumena erblickt.123 Dil­they fasst diesen Punkt wie folgt zusammen: „Aber die von der kritischen Philosophie entdeckte Grenze der Erkenntnis wird auch von Spinoza überschritten […]. Wir dürfen in der Verstandeswelt so wenig mit Spinoza eine positive Einheit und Unendlichkeit annehmen, als mit Leibniz, und, wie es scheint, mit Kant eine Vielheit“ (XIII 176). Die Vorstellung einer allem Seienden zugrunde liegenden unendlichen Einheit kann nicht in Form begrifflicher Deduktion erwiesen werden, sondern stellt ursprünglich eine vorreflexive ‚Ahndung‘ des Menschen dar, die sich nicht in Erkenntnis im strengen Sinne überführen lässt. Im Pantheismus hat Dil­they dieses Ergebnis nochmals eigens als Leistung Schleiermachers hervorgehoben.124 Soviel zum erkenntnistheoretischen Aspekt. 121  Vgl. aaO., 214–221. Ellsiepen verweist diesbezüglich auch auf eine treffende Formulierung Hermann Timms, der in dieser Hinsicht von einer „Subjektivierung der Attributenlehre“ gesprochen hat (H. Timm: Amor Dei Intellectualis, 81, zit. n. C. Ellsiepen: Scientia Intuitiva, 221). 122 C. Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva, 196–201. 123  Vgl. aaO., 203 ff. 124  Dil­they spricht hier von „der erkenntnistheoretischen Form, welche der Pantheismus in ihm [sc. Schleiermacher] annehmen sollte“ (II 339).

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Der andere Gesichtspunkt betrifft Schleiermachers Abweichung hinsichtlich der Frage des Verhältnisses des Einzelnen zum unendlichen Ganzen. Dil­they ist nicht entgangen, dass Schleiermacher der Formel des ‚Eins und Alles‘ eine Lesart abgewinnt, die sich auf das System Spinozas gar nicht abbilden lässt. Im Blick auf diesen kann jene Formel nämlich nur bedeuten, dass alles Einzelne im Einen ist, nicht aber das Eine in allem Einzelnen. Dies ergibt sich aus dem Definitionsgefüge von Spinozas Ethik:125 Substanz und Modi unterscheiden sich dadurch, dass erstere eine solche Entität bezeichnet, die in sich ist und durch sich begriffen werden kann, während letztere für solche Entitäten stehen, die in etwas Anderem sind und nur durch Anderes begriffen werden können. Alles Existierende, das nicht die Bedingung erfüllt, in sich zu existieren und durch sich begriffen werden zu können, ist Modus und existiert folglich in etwas Anderem. Die Substanz ist aber per definitionem in nichts anderem als ihr selbst. Folglich sind alle einzelnen Dinge in der Substanz, diese aber – und darauf kommt es hier an – kann nicht in den einzelnen Dingen sein, wenn sie nicht aufhören soll, Substanz zu sein. Spinozas System stellt darum keinen Pantheismus im eigentlichen Sinne dar, sondern ist stattdessen als ‚Panentheismus‘ zu bezeichnen.126 Angesichts dessen lässt sich jene Lessingsche Formel im Hinblick auf Spinoza also nur nach einer Richtung lesen. Dil­they hat dies klar gesehen.127 Aus den Ausführungen Schleiermachers in den Reden geht nun aber unmissverständlich hervor, dass dieser jene Relation auch in umkehrte Richtung verstanden wissen will,128 womit ein wesentlicher Differenzpunkt zwischen ihm und Spinoza bezeichnet ist. Für Schleiermacher liegt gerade in der wechselseitigen Durchdringung von Endlichem und Unendlichem der innere Kern dessen, wofür Religion seines Erachtens steht. Dil­they hat Schleiermachers Position geradezu als einen Fortschritt über das monistische Denken Spinozas hinaus verstanden, und zwar vor allem aufgrund ihres individualitätstheoretischen Hintergrundes: Dil­they zufolge komme jeder einzelnen Entität nach Spinoza insofern der Status eines Einzelnen zu, als sie sich als bestimmt erweise; alle Bestimmtheit aber werde von Spinoza als Negation bzw. als Einschränkung verstanden,129 und zwar als Einschränkung des unendlichen Gehalts der Substanz zugunsten der endlichen Bestimmtheit des Einzelnen. Schleiermacher zufolge könne Individuelles nun aber nicht als eine Einschränkung verstanden werden, sondern werde von ihm, so Dil­they, als „besondere Bildung derselben im Universum lebendigen Kräfte“ konzipiert. „Mit diesen Sätzen ist nun die Schranke der spinozistischen Metaphysik […] durch eine ganz originale 125 Vgl. 126  Vgl.

K. Cramer: Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit. aaO., 155. 176–179. 127  „Der Gedanke Spinozas, Inhärenz aller endlichen Dinge im Unendlichen, ist Akosmismus“ (XIII 323). 128 Vgl. F. D. E.  Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 51. 53. 129  Dil­they verweist auf Spinozas berühmte, in Form einer brieflichen Äußerung gegebene Feststellung: ‚omnis determinatio est negatio‘ (vgl. XIII 324).



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Anschauung durchbrochen. Individualität ist nicht bloße Determination, Einschränkung des Unendlichen. Sie ist vielmehr Ausdruck, Spiegel des Unendlichen, selber unendlich“ (XIII 328). Auf Basis dieses „tiefere[n] Begriff[s] der Individualität“ (XIII 341) sei es Schleiermacher möglich gewesen, den „abstrakte[n] Gegensatz beider [sc. von Unendlichem und Endlichem]“ (XIII 324) zu überwinden, wie ihn Dil­they bei Spinoza anzutreffen meint.130 Soviel zum zweiten, individualitätstheoretischen Gesichtspunkt. Durch die Darstellung der beiden eben geschilderten Aspekte – der erkenntnistheoretischen Modifikation spinozanischer Grundanschauungen und der individualitätstheoretischen Aufwertung des Einzelnen – hat Dil­they einen ersten entscheidenden Schritt in Richtung einer ideengeschichtlichen Diversifizierung des modernen Pantheismus getan und damit zugleich gezeigt, dass das spinozanische System mitnichten die einzige Option einer ‚pantheistischen‘ Weltauffassung darstellt. Bevor nun der Frage nachgegangen wird, wie Dil­they im Leben Schleiermachers diese Problematik über Schleiermacher hinaus weiter treibt, sei auf zwei Probleme in Dil­theys Rekonstruktion hingewiesen. Zum einen sieht er zwar die Schwierigkeit, dass sich die eben geschilderte genuin pantheistische Verhältnisbestimmung von Einzelnem und Einem gedanklich letztlich nicht mehr rekonstruieren lässt. Diese Unbewältigbarkeit jener religiösen Ahnung durch das rekonstruierende Denken erachtet er als Ausdruck des überlogischen Charakters der dem Pantheismus zugrunde liegenden Zentralidee. Letztere könne darum nicht restlos aufgeklärt werden, sondern müsse in Form einer mystischen Schau erahnt werden, wie Dil­they im Blick auf Schleiermacher festhält.131 Ob dieses Verfahren restlos zu überzeugen vermag, kann gefragt werden. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Schleiermachers – konstellationstheoretische bzw. mischungstheoretische – Fassung von Individualität sich selbst als maßgeblich durch Spinoza beeinflusst erweist. Dieser nicht eben unwesentliche Aspekt scheint Dil­ they jedoch entgangen zu sein. Wie entwickelt Dil­they nun die Fragestellung über die Betrachtung Schleiermachers hinaus weiter? Innerhalb des Lebens Schleiermachers tut er dies zunächst dadurch, dass er einen eigenen Abschnitt einbaut, in dem er die Rolle der „deutsche[n] Literatur als Ausbildung einer neuen Weltansicht“ (XIII 183 ff.) beleuchtet. Welche wesentlichen zusätzlichen Aspekte hierdurch für den in Frage stehenden Problemkomplex gewonnen werden, wird nun zu zeigen sein. (2) Wie schon in seiner Baseler Antrittsvorlesung, so geht Dil­they auch in letztgenanntem Werk von der Grundüberzeugung aus, dass die moderne Geisteslage 130  Dil­they macht sich diese Auffassung selbst zu Eigen, wie aus einer Äußerung in der Einleitung zu entnehmen ist: „Die Auffassung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da sie die beständige Widerlegung des Satzes von Spinoza: ‚omnis determinatio est negatio‘ sind) so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten“ (I 26). 131  „Diese zweifache Tendenz eignet aller Mystik, aller auf Religion gegründeten Welt- und Lebensanschauung […]. Nur die Ahnung […] trägt uns dem Unendlichen entgegen“ (XIII 325).

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zwar in erkenntnistheoretischer Hinsicht maßgeblich den Einsichten der kritischen Philosophie Kants verpflichtet ist, dass die neuen, das kulturelle Leben prägenden Ideen sich aber letztlich weniger der Philosophie als vielmehr der neueren Dichtung von Lessing bis Schiller verdanken.132 Eine besondere Bedeutung schreibt er dabei dem Werk Goethes zu: „Der Wendepunkt des philosophischen Untersuchungsgeistes fällt in Kant; die Wende der Weltansicht […] liegt in Goethe“ (XIII 197). Für die hier interessierende Problematik ist dieser Hinweis auf Goethe nicht zuletzt deshalb von Gewicht, weil Dil­they letzterem gerade für die Ausbildung des modernen Pantheismus eine herausragende Rolle zuweist. So spricht er davon, dass Goethes Weltansicht „in jenem großen, beharrlich verfolgten Plan seines Lebens [liegt], die Einheit der Natur in der stetigen Steigerung ihrer Erscheinungen bis zu den höchsten geistigen zu erfassen, in der Form des Pantheismus, die hieraus hervorging“ (ebd.). Dabei ist es Dil­they zufolge offensichtlich, dass „die Verfassung Goethes, in der sich die schöpferische Konzeption des neueren Pantheismus in ihm [sc. Goethe] erhob“ (XIII 197), sich weithin von Spinoza geprägt erweist.133 In zwei Hinsichten aber markiert er einen klaren Unterschied dieses ‚neuen Pantheismus’‘ zu Spinoza. Dies betrifft einerseits die Vorstellung einer Geschichte der Natur, in der letztere in den bewussten Wesen zu sich selbst kommt, andererseits die Auffassung von der Natur als Kunst. Zunächst zu ersterem. Dil­they stellt diesbezüglich die These auf, dass sich die von Goethe vertretene „Form des Pantheismus […] von jeder früheren [unterscheidet], indem sie den Zusammenhang dieses Weltganzen als einen Prozeß, als eine Geschichte, in der die Natur sich ihrer selber bewußt wird, auffaßt“ (XIII 197 f.). Dil­they verweist diesbezüglich auf eine bestimmte Grundanschauung, die sich in einem kleinen Aufsatz ausgesprochen findet, der 1783 unter dem Titel Die Natur im Tiefurter Journal erschienen war und als dessen Verfasser zur Zeit von Dil­theys Abfassung der Schleiermacher-Biographie noch Goethe angenommen wurde.134 In jenem 132 Vgl.

XIII 183.

133  Dil­they

belegt dies mit einschlägigen Zitaten aus Briefen Goethes an Jacobi, in denen jener für Spinoza Partei ergriffen und sich dessen Konzept der ‚scientia intuitiva‘ zueigen gemacht hatte. Dil­they verweist zum einen auf folgende briefliche Äußerung Goethes: „Hier bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus“ (Goethe an Jacobi, Ilmenau, den 9. Juni 1785, in: J. W. Goethe: Briefe 1. Januar 1785 – 24. Juli 1786, 63 f.). Goethe spielt damit auf die Lehrsätze 24 und 36 aus Spinozas Ethik an (vgl. die Anmerkung der Herausgeber von Dil­theys Gesammelten Schriften, Bd. XIII, 197, Anm. 26) und zeigt sich damit in der Tat als intimer Kenner des spinozanischen Systems. Zum anderen verweist Dil­they auf eine Stelle im Brief vom 5. Mai 1786: „Wenn Du sagst, man könne an Gott nur glauben, so sage ich Dir, ich halte viel aufs Schauen, und wenn Spinoza von der scientia intuitiva spricht und sagt: Hoc ­cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum; so geben mir diese wenigen Worte Mut, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die ich reichen und von deren essentia formali ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann“ (Goethe an Jacobi, Ilmenau, den 5. Mai 1786, in: J. W. Goethe: Briefe, 212 ff.). 134  Erst später hat sich herausgestellt, dass Georg Christoph Tobler der Autor gewesen war,



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Aufsatz heißt es an einer Stelle: „Sie [sc. die Natur] hat sich auseinandergesetzt um sich selbst zu genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen“.135 Dil­they zitiert diese Äußerung im Leben Schleiermachers136 und interpretiert sie dergestalt, dass in ihr eine Art Selbstdifferenzierung der ‚Natur‘ behauptet werde, kraft derer diese nicht als ein rein bewusstloser Prozess in sich verbleibe, sondern bewusste Wesen hervorbringe, in denen sie für sich werde. Indem jene Bewusstwerdung aber nicht als ein übergeschichtlich-struktureller Sachverhalt, sondern als eine Entwicklung beschrieben werde, empfange die All-Einheitsperspektive dadurch zugleich eine geschichtliche Vertiefung. Wie bereits angedeutet, hat Dil­they jenen Text anfänglich als eine Goethe-Schrift aufgefasst. Aber auch nachdem er später von der anderen Autorschaft erfuhr, ist er – wie viele andere seiner Zeit –137 davon ausgegangen, durch Tobler nur die Ansichten Goethes zur Darstellung gebracht zu finden.138 Denn Goethe selbst hatte knapp vierzig Jahre nach Erscheinen dieser Schrift festgestellt, sich zwar nicht an deren Abfassung erinnern zu können, sich aber gleichwohl zu ihr bekannt.139 Denjenigen Sachverhalt, den Dil­they hier mit Blick auf Goethe beschreibt, hat er später auf den Begriff des ‚entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus‘140 gebracht und ihn als idealtypische Bezeichnung verwendet, die er dann auf ganz unterschiedliche Autoren anwenden konnte. Der andere Aspekt hängt mit dem eben Gesagten durchaus zusammen. Der späte Goethe hatte in seiner Schrift von der Einwirkung der neueren Philosophie (1820) – in der er sein Verhältnis zu zeitgenössischen philosophischen Positionen und zur Philosophie überhaupt erläutert – klar zu erkennen gegeben, dass er sich mit Kants Kritik der Urteilskraft intensiv auseinandergesetzt und in ihr geradezu eine philosophische Bestätigung seiner eigenen Naturanschauung gefunden habe. Insbesondere hebt er die durch Kants dritte Kritik ermöglichte Verbindung von Kunst und teleologischer Naturbetrachtung hervor, wie sie sich aus deren gemeinsamer Subsumierung unter das Vermögen der Urteilskraft ergebe.141 Dil­ they greift diese Einschätzung Goethes auf und bringt sie mit dem Aufsatz Die Natur in Verbindung: „Es war 1828, ein halbes Jahrhundert nach Abfassung jenes Aufsatzes über die Natur, als er ihn wieder in die Hand bekam. Nun erschien was dann auch Dil­they nicht entgehen sollte. Vgl. die Äußerungen in den Spinoza-Studien II 397. Während der Abfassung vom Leben Schleiermachers ging Dil­they aber noch von Goethe als Verfasser aus. 135  J. W. Goethe: Die Natur, 46. 136 Vgl. XIII 197. 137 Vgl. M.‑G. Dehrmann: Shaftesbury statt Spinoza, Anm 28. 138 Vgl. II 397. 139 Vgl. G. Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 41. 140  Vgl. den Titel von Dil­theys späterer Studie Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (II 312–390, bes. 312. 315). 141 Vgl. J. W. Goethe: Einwirkung der neueren Philosophie, 27 f.

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ihm die Anschauung der Natur darin als eine Weissagung, deren überschwengliche Erfüllung gekommen sei. Als diese Erfüllung bezeichnete er die wachsende Verkettung der Erscheinungen zu einer Technik der Natur. In einer solchen also schien ihm das Wesen enthüllt werden zu müssen, das ‚denkt, aber nicht als ein Mensch‘142. Das Vermögen aber, das eine solche Technik der Natur entwirft, klärte er sich an der Hand der Kritik der Urteilskraft von Kant auf“ (XIII 198). Der Begriff der ‚Technik der Natur‘ bezeichnet bei Kant die Vorstellung von der Natur als Kunst. Diese Vorstellung besitzt für Kant freilich nicht den Status einer objektiven Bestimmung, sondern erwächst aus einer bloß subjektiven Auffassung der Natur bzw. ihrer Produkte, auf deren Grundlage letztere nicht nach Maßgabe mechanischer Naturnotwendigkeit, sondern unter der Form von Zwecken beurteilt wird. In jenem von Dil­they herangezogenen Goethe-Text findet sich jener kantische Begriff indes nicht. Es ist also Dil­they selbst, der den Begriff der ‚Technik der Natur‘ heranzieht, um auf Basis von Goethes Kant-Wertschätzung dessen eigene Naturanschauung auf den Begriff zu bringen. So dient er Dil­they als Interpretament einer solchen Weltansicht, die die Natur nicht allein als einen blinden Mechanismus betrachtet, sondern in ihr eine künstlerische Kraft gewahrt, die in einer zweckmäßigen Entwicklung im Naturreich zum Ausdruck kommt. Es wird sich zeigen, dass Dil­they ihn in dieser Bedeutung später geradezu ins Strukturelle gehoben hat und ihn im Rahmen seiner weiteren Studien zur Geschichte des Pantheismus dann auch zur Bezeichnung der Weltansicht früherer Autoren verwenden kann. Durch die Inblicknahme der beiden eben vorgestellten Grundanschauungen Goethes – die geschichtliche Selbstdifferenzierung sowie die Technik der Natur – zeigt sich Dil­they zufolge einmal mehr, dass die pantheistischen Positionen der Sattelzeit mitnichten einfach auf Spinozismus reduziert werden können. Denn weder lässt sich die Konzeption, in der der Zusammenhang des Weltganzen in Form eines geschichtlichen Prozesses gedacht wird, auf Spinozas System abbilden noch wird in diesem System die Kausalität der unendlichen Substanz in Analogie zur Kunst beschrieben. Darüber hinaus unterscheidet sich Goethes Weltansicht freilich auch methodisch von derjenigen Spinozas, wird sie doch nicht in Form eines logisch argumentierenden Systems metaphysischer Begriffe, sondern in Form dichterischer und naturkundlicher Darstellungen entfaltet. Zusammen mit den Schlussfolgerungen, wie sie sich im Anschluss an Schleiermachers Umbildung der spinozanischen Grundbegriffe ergeben hatten, ist damit für Dil­theys Sicht der Geschichte des Pantheismus derjenige Problemstand erreicht, bis zu dem er im Leben Schleiermachers vorgedrungen war. In seinen späteren Studien zu Goethes Verhältnis zu Spinoza gibt Dil­they dann eindeutig zu verstehen, inwiefern Goethes religiöse Grundanschauung seines Erachtens nicht 142  Dil­they bezieht sich damit auf folgende Stelle im Naturaufsatz: „Gedacht hat sie [sc. die Natur] und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur“.



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etwa als Panentheismus – im Sinne Spinozas – einzustufen sei, sondern tatsächlich als Pantheismus, wie er ihn zuvor bereits in Schleiermachers Reden festgestellt hatte.143 Dem gegenüber kann allerdings gefragt werden, ob Goethe diesbezüglich nicht stärker an Spinoza orientiert gewesen ist, als Dil­they dies unterstellt.144 Die sich hieran anschließenden weiteren Fragen haben Dil­they dann nicht mehr losgelassen, sondern sind von ihm bis ins Spätwerk hinein weiter verfolgt worden. Im Zuge dessen hat sich die Problemperspektive dann immer mehr von ihrem ursprünglichen Bezug auf Schleiermacher losgelöst und – in der eingangs bereits angedeuteten Weise – auf die Gesamtperspektive der europäischen Religionsgeschichte hin entschränkt. Diese Entschränkung vollzieht sich im Wesentlichen in drei Schritten. (3) Der erste Schritt, den Dil­they in diese Richtung tut, knüpft sachlich an die bisher beschriebene Problemlage unmittelbar an, indem er danach fragt, inwie143  Vor allem die Spinoza-Studien sind diesbezüglich von Belang. Beide oben dargestellten Aspekte, im Blick auf die sich eine Abweichung zwischen Schleiermacher und Spinoza ergeben hatte – der erkenntnistheoretische und der individualitätstheoretische –, finden sich hier klar ausgesprochen. Allerdings werden sie nun in Bezug auf Goethe zur Geltung gebracht. So nimmt Dil­they im Zusammenhang von Erörterungen zu Goethes Studie nach Spinoza (1784/85) eine Gegenüberstellung von Goethe und Spinoza vor, wonach sich beide Autoren nicht zuletzt dadurch unterscheiden, dass dieser davon ausgeht, der höhere Zusammenhang der Wirklichkeit ließe sich auf dem Wege einer rationalen Konstruktion erheben und zur Darstellung bringen, während jener eine letzte Unerkennbarkeit des Wirklichkeitsganzen in Rechnung stelle. „Goethe erkannte im Universum […] ein Unerforschliches an. Nicht als Kantianer, sondern als Dichter“ (II 408). Der letzte Teil des Zitats legt es nahe, diese Äußerung auf Dil­theys Ausführungen zur Problemlage bei Schleiermacher zurück zu beziehen. Das würde bedeuten: Während letzterer die Unerforschlichkeit des Universums vor dem Hintergrund der kantischen Erkenntnistheorie aufzuzeigen unternommen habe, bringe Goethe einen analogen Gedanken im Medium dichterischer Weltauslegung zur Geltung. Es bestehe also durchaus eine Differenz zwischen beiden hinsichtlich der Form des Gedankens. Der Sache nach aber gingen sie darin überein, dass die Tiefenstruktur des Universums für den menschlichen Geist mit rationalen Mitteln nicht aufzuklären ist, sondern sich vorreflexiver ‚Ahndung‘ verdankt. Aber auch auf den anderen, individualitätstheoretischen Aspekt kommt Dil­they einige Seiten weiter zu sprechen. Dil­ they verweist (vgl. II 412) auf eine Äußerung Goethes in jener Studie, in der dieser festgehalten hat: „Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen, sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit“ (J. W. Goethe: Studie nach Spinoza, 7). Dil­ they zufolge liege hier insofern eine grundlegend andere Fassung des Verhältnisses von Einzelnem und unendlichem Ganzen vor, als das Einzelne nicht als dem Ganzen inhärierend, sondern als an ihm ‚teilnehmend‘ verstanden werde: „Das Verhältnis zum unendlichen Ganzen tritt aus dem von in se und in alio esse in das der Teilnahme an der Unendlichkeit“. Infolgedessen aber werde das „lebendige[ ] Einzeldasein“ in seinem „Charakter von immanenter Zweckmäßigkeit und Einheit […], das Unendliche und Unerforschliche an ihm“ erfasst (II 412). Auch hier springt die strukturelle Parallele zu Schleiermacher ins Auge. Auch dieser hatte, wie oben gezeigt, eine Unendlichkeitsdimension alles Endlichen behauptet, die es ermögliche, nicht nur alles Einzelne im Einen, sondern auch umgekehrt das Eine im Unendlichen anzuschauen. 144  Vgl. dazu: K. Cramer: ‚Anschauung des Universums‘, 135–139. Cramer kann zeigen, dass vieles dafür spricht, jene weiter oben zitierte briefliche Äußerung Goethes – er suche das Göttliche ‚in herbis et lapidibus‘ – ganz im Sinne von Spinozas anschauender Erkenntnis zu rekonstruieren.

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fern sich Goethes methodische und inhaltliche Abweichung von Spinoza ideengeschichtlich weiter aufhellen lasse. Angesichts der engen Verbundenheit Goethes mit Herder145 – die Dil­they schon im Leben Schleiermachers hervorgehoben hatte –146 geht er dieser Frage zunächst im Blick auf das Herdersche Werk weiter nach. In diesem Zusammenhang stößt er auf Einschätzungen des Werkherausgebers, Bernhard Suphan,147 in denen dieser die Bedeutung Shaftesburys für die Entwicklung Herders und Goethes hervorgehoben hatte.148 Ausgehend hiervon nimmt Dil­they Shaftesbury nun verstärkt in den Blick, da dieser ihm immer mehr zum Protagonisten der neueren pantheistischen Religiosität wurde. So hat er in dem kurzen Text Zu Goethes Philosophie der Natur (1889) – der dann weitgehend in die fünf Jahre später publizierten Aufsatz Aus der Zeit der Spinoza-Studien Goethes eingegangen ist – die herausragende Rolle Shaftesburys dadurch nachdrücklich hervorgehoben, dass er in einem motivgeschichtlichen Vergleich Shaftesbury, Herder und Goethe nebeneinander stellt, um damit den wesentlichen Einfluss des ersteren auf die beiden letzteren zu verdeutlichen.149 Darüber hinaus hat Dil­ they in Ergänzungen zum Leben Schleiermachers den ursprünglich mit ‚Spinoza‘ überschriebenen dreizehnten Abschnitt zu ‚Shaftesbury und Spinoza‘150 erweitert und dessen „ästhetischen Pantheismus“151 in einer kurzen Darstellung eigens skizziert. Während es nicht weiter problematisch erscheint, dass Dil­they den jungen Schleiermacher und Goethe als Vertreter einer pantheistischen Denkart behandelte, mag es auf den ersten Blick irritieren, dass er nun auch Shaftesbury als ‚Pantheisten‘ bezeichnet. Zumindest hatte dieser selbst seine Wirklichkeitsanschauung als ‚Theismus‘ verstanden.152 Hier ist also die erste wesentliche Ausweitung der historiographischen Anwendung der Pantheismus-Kategorie durch Dil­they zu erblicken, wie sie eingangs bereits angedeutet worden war. Was steht ihm diesbezüglich vor Augen? Shaftesbury153 hat eine Theorie der Sittlichkeit entworfen, die sich sowohl im Blick auf den mentalen Ort des sittlichen Bewusstseins als auch bezüglich des inhaltlichen Aufbaus der Ethik von den vorhergehenden klassischen Ethikent145  Der „intime Austausch zwischen Herder und Goethe in dieser Zeit [macht] eine völlige Auflösung der Frage, welchen Anteil diese beiden Personen an der Ausbildung des deutschen Pantheismus haben, unmöglich“ (II 397 f., Anm.). 146 Vgl. XIII 203. 147  Dil­ they selbst weist auf diese Anregung eigens hin und nennt diesbezüglich Suphans Aufsatz Goethe und Spinoza, den kürzeren Text Goethe und Herder sowie einige Anmerkungen desselben als Herausgeber von Herders Werken (vgl. II 398, Anm. 1). 148  Vgl. zu diesem Zusammenhang M.‑G. Dehrmann: Shaftesbury statt Spinoza. 149 Vgl. II 400–407. 150 Vgl. XIII 166. 151 Vgl. XIII 167. 169. 152 Vgl. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, 366. 153  Für die folgenden Ausführungen zu Shaftesbury vgl. aaO. sowie G. Raatz: Aufklärung als Selbstdeutung, 269–334.



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würfen markant unterscheidet. Für Shaftesbury ist es nicht so sehr die rationale Vernunft, die dem Einzelnen in Form von Gesetzen die Bestimmungsgründe seines Handelns vorschreibt. Als eigentliche Grundlage fungiert seines Erachtens vielmehr das sittliche Empfinden, in dem sich auf natürliche Weise der ‚moralische Sinn‘ eines Menschen artikuliert, wodurch aller moralischen Bestimmtheit zugleich ein subjektiv-individueller Charakter eigne. Die sittliche Tätigkeit realisiert sich für ihn dann zum einen im Aufbau einer harmonisch gestalteten Persönlichkeit, die sich von der Herrschaft der Leidenschaften zu befreien sucht, zum anderen in der Mitwirkung am Aufbau eines überindividuellen Ganzen von ebenso harmonischem Charakter, als dessen Teil sich der Einzelne begreift. Dil­ they spielt genau auf diese beiden Aspekte an, wenn er einerseits festhält, der sittliche Charakter stehe bei Shaftesbury für „die Harmonie, die richtige Proportion und Abmessung der natürlichen Antriebe in uns“ (XIII 170), und wenn er andererseits hervorhebt, dass der Einzelmensch Shaftesbury zufolge „als Teil […] nach dem Ganzen [gravitiert]“, wovon „in unserem Gefühlsleben die Folge [ist], daß unser eigenes Wohlsein an das Wirken für das Wohl der Gesellschaft gebunden ist“ (ebd.). Für Shaftesbury ist das Gefühl nun aber nicht nur Movens solchen Tuns, sondern zugleich auch die bewusst erlebte Freude an demselben, was Dil­they wiederum dadurch zum Ausdruck bringt, dass er davon spricht, nach Shaftesbury seien das „gleichsam Gefühle zweiten Grades; und diese sind nun die moralischen Gefühle: in ihnen erhebt sich die bildende Kraft in uns zu moralischem Bewußtsein, die sich an dem freut und das billigt, was in uns und andern besonnen, geordnet, in sittlicher Abmessung dem Wohle des Ganzen dient“ (XIII 171). Das übergreifende Ideal sei das einer „lebensfreudige[n] Menschlichkeit“ (XIII 169). Dabei ist darauf hinzuweisen, dass Dil­they auch in diesem Zusammenhang sozial- und kulturgeschichtliche Faktoren herausstellt, durch die die Ideen Shaftesburys in allgemeiner Weise mitbedingt gewesen seien.154 Der Bezug zur Religionsthematik ergibt sich bei Shaftesbury nun dadurch, dass sich der Mensch vermöge seines moralischen Sinns und der aus und mit ihm hervorgehenden Tätigkeit in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang eingestellt findet, an dessen Verwirklichung er zugleich mitwirkt. Die darin zum Ausdruck kommende Zweckmäßigkeit nimmt dabei bereits im Vorhumanen ihren Ausgang und findet ihren letzten Fluchtpunkt in der Harmonie des Universums. Dabei weist Shaftesbury ausdrücklich darauf hin, dass jene Ganzheitsperspektive keiner metaphysischen Stütze bedarf, sondern angesichts des unmittelbaren Eindrucks der planvollen Einrichtung der Welt unabhängig von solcher 154  Dil­they verweist zum einen auf die sozialen Umbrüche im Zusammenhang der englischen Revolution und der daraus hervorgehenden Neugestaltung des gesellschaftlichen Zustandes, der zu größerer politischer Freiheit und geistiger Autonomie des Menschen geführt habe (vgl. XIII 167 f.). Zum anderen sieht er in Shaftesburys Sittlichkeitsideal den Ausdruck „einer hohen Stufe der Kultur“, auf der allein „ein solches Ideal in den vornehmen Geistern entstehen“ (XIII 171) konnte.

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Spekulation im Bewusstsein entstehe. Gott wird dabei als schöpferischer Genius verstanden, dessen Wesen in der Natur unmittelbar widerscheint. Beide eben genannten Aspekte hebt dann auch Dil­they ausdrücklich hervor: Zum einen lasse sich jene Wirklichkeitssicht Shaftesbury zufolge nicht mit den Mitteln diskursiven Denkens herleiten,155 sondern eine „ästhetische Auffassung muß das Universum als Ausdruck und Erscheinung einer Weltseele auffassen“ (XIII 172).156 Zum anderen sei der ästhetische Charakter von Shaftesburys Weltanschauung nicht auf die bloße Betrachtungsform beschränkt, sondern teile sich auch dem Gegenstand mit: „Dieser ästhetischen Verfassung wird die Welt zum Kunstwerk“ (ebd.). Darüber hinaus fokussiert Dil­they Shaftesburys Vorstellung, dass „in der Tendenz der göttlichen Bildungskraft eine Technik der Natur [gelegen]“ sei, „kraft deren diese in den empfindenden und denkenden Wesen eine möglichst große Zahl von Zuschauern ihrer Szenen hervorbringt“ (XIII 173)  – was Dil­ they mit einem Zitat aus Shaftesburys Schrift The Moralists, a philosophical Rhapsody (1711) belegt.157 Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass Dil­they die Formel einer ‚Technik der Natur‘ Kants Kritik der Urteilskraft entnommen und ursprünglich auf Goethe bezogen hatte, um damit dessen ästhetische Naturauffassung zu bezeichnen. Nun bringt er sie auch im Blick auf Shaftesbury zur Anwendung und subsumiert darunter sowohl jenen ästhetischen als auch den Aspekt der Geschichtlichkeit des Alllebens. Alle Gesichtspunkte zusammen genommen besagt das nach Dil­they nichts anderes, als dass Shaftesbury letztlich eine pantheistische Immanenzlehre vertreten hat,158 die sich nicht zuletzt in dessen Aufnahme des stoischen Gedankens der „göttliche[n] Kraft als unsichtbar durch das Weltall verbreiteten Äther“ (XIII 173) widerspiegele.159 Vor diesem Hintergrund ist klar, was Dil­they vor Augen steht, wenn er von einem ‚ästhetischen Pantheismus‘ Shaftesburys spricht: Als ‚pantheistisch‘ kann dessen Denken deshalb angesehen werden, weil es eine solche Weltansicht zum Ausdruck bringt, nach der alles Einzelne seine Integration in einem harmonisch gedachten Ganzen findet, dessen göttliche Kraft in allen seinen Teilen enthalten ist. Als ‚ästhetisch‘ kann man diese Konzeption insofern ansprechen, als sowohl die entsprechende Auffassungsleistung als auch das Resultat derselben nach Maß155 Vgl.

XIII 173. Werkbiographisch verweist Dil­they neben anderen Schriften vor allem auf The Moralists, a philosophical Rhapsody (1711). Dil­they zitiert nach: Shaftesbury: Die Moralisten. 157  Dil­they bietet hierfür folgendes Zitat aus der Rhapsodie: „Die vergänglichen Wesen verlassen ihre erborgten Formen und treten die Elemente ihrer Substanz neuen Ankömmlingen ab. So wie die Reihe an sie kommt, ins Leben gerufen, schauen sie das Licht und vergehen im Schauen, damit auch andere Zuschauer der herrlichen Szene werden und größere Mengen des Geschenks der Natur genießen“, (zit. nach Dil­they: XIII 173). 158  „Shaftesbury muß Immanenz der göttlichen Kraft in der Welt lehren“ (XIII 172). 159  Dil­they verweist (vgl. XIII 173) diesbezüglich auf eine Stelle aus der Rhapsodie, in der Shaftesbury von der „unsichtbare[n] ätherische[n] Substanz“ (Shaftesbury: Die Moralisten, 471 f.) spricht. 156 



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gabe künstlerischer Betrachtung gebildet ist. Angesichts dessen bezeichnet Shaftesbury für Dil­they einen ganz eigenständigen Typus pantheistischer Religiosität, der sich von demjenigen des Spinoza in markanter Weise unterscheidet und die spätere Entwicklung mindestens ebenso bestimmt habe wie dieser. Im Blick auf die deutsche Debattenlage gegen Ende des 18. Jahrhunderts, die Dil­they ja vornehmlich im Blick hat, habe dieser Umstand nochmals umso stärkeres Gewicht, als Shaftesburys Schriften bereits seit 1777 auf Deutsch vorlagen, während Spinoza erst im Zuge des später erfolgenden Pantheismusstreits ins breitere Bewusstsein getreten sei. So ist Shaftesbury „damals der Repräsentant eines ästhetischen Pantheismus in der deutschen Literatur. Spinoza ist erst 1785 durch die Schrift Jacobis wiederentdeckt worden […]. Wenn Spinozas Gedanken auf Lessing, Herder, Goethe und Schiller mächtig wirkten, so wurde diese Wirkung überall vorbereitet, verstärkt und verändert durch die Schriften Shaftesburys. Von ihm empfing dieser Monismus eine dem Geist des 18. Jahrhunderts entsprechende Gestalt. Denn Shaftesbury war ein künstlerischer Geist und teilte den Zauber edelster Persönlichkeit jedem der Sätze mit, die er zögernd und sparsam niedergeschrieben hat“ (XIII 167). (4) Mit der Inblicknahme Shaftesburys gewinnt Dil­theys These einer übergreifenden Geschichte pantheistischer Religiosität in Europa weitere Kontur. Er ist hierbei aber nicht stehen geblieben, sondern hat seine ideengeschichtliche Rückverfolgung einer entsprechenden geistigen Bewegung weiter ausgedehnt. In diesem Zusammenhang gerät dann ein bestimmter Denker der frühen Neuzeit immer stärker in seinen Blick, dessen Bedeutung Dil­they je länger er sich mit ihm beschäftigt desto höher zu veranschlagen unternimmt. Die Rede ist von Giordano Bruno. Während dieser in der Erstauflage vom Leben Schleiermachers noch gar nicht begegnet, findet sich in einer späteren Ergänzung zu jenem Werk die Feststellung, dass er als der „Schöpfer des modernen europäischen Pantheismus“ (XIII 167) angesehen werden könnte. Damit sind wir beim zweiten Schritt angelangt, durch den Dil­they seine Problemperspektive im Blick auf die europäische Religionsgeschichte über das späte 18. Jahrhundert hinaus erweitert. Wodurch Dil­theys Einschätzung Brunos vermittelt worden ist bzw. unter welchen geistigen Einflüssen er sie ausgebildet hat, lässt sich nicht genau sagen. Im Unterschied zum rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund seiner Shaftesbury-Entdeckung liegen zur Entstehung und Entwicklung seiner Perspektive auf Bruno von ihm keine Äußerungen vor. Auch finden sich in der entscheidenden Studie kaum Bezugnahmen auf entsprechende Forschungsliteratur. Allerdings ist daran zu erinnern, dass Bruno schon zu Dil­theys Zeiten kein Unbekannter mehr war: Bereits Jacobi hatte in Bruno den Wegbereiter des Pantheismus gesehen und deshalb der zweiten Auflage seiner Briefe über die Lehre Spinozas (1789) in Auszügen eine Übersetzung von dessen De la causa beigefügt. Schelling hatte 1802 seine Schrift Bruno oder über das natürliche und göttliche Prinzip der Dinge veröffentlicht. In

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seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hatte Hegel auf Bruno Bezug genommen, in dessen System er „ganz objektive[n] Spinozismus“160 zu erkennen meinte, und neben F. J. Clemens’ Studie G. Bruno und Nikolaus von Cues (1847) ist schließlich an die dreibändige Arbeit Der Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen (1826/28/32) von Gottlob Benjamin Jäsche zu erinnern, in dem Bruno ein eigener Abschnitt gewidmet ist.161 Es steht zu vermuten, dass Dil­they die meisten – wenn nicht alle – der eben genannten Autoren bekannt gewesen sein dürften. Wenn er Bruno also als ‚pantheistischen‘ Denker apostrophiert und ihm die Bedeutung einer Galionsfigur des neuzeitlichen Pantheismus zuschreibt, bewegt er sich damit auf bereits angelegten Wegen. Dil­theys eigene konstruktive Leistung liegt vor allem darin, Brunos Werk in einer systematisch-wirkungsgeschichtlichen Doppelperspektive zu betrachten. Dabei tritt der – weiter oben bereits hervorgehobene – Grundzug seiner Darstellung der Geschichte des Pan(en)theismus wieder deutlich hervor: Entgegen der Gleichsetzung von Pantheismus und Spinozismus soll die Diversität und Variabilität pantheistischer Anschauungen in Neuzeit und Moderne herausgearbeitet werden, indem gezeigt wird, dass Spinozas System weder als einzig mögliche Option pan(en)theistischer Wirklichkeitsauffassung, geschweige denn als deren geschichtlicher Ursprung anzusehen ist. Dieses Anliegen zeigt sich besonders hinsichtlich seiner Ausführungen zu Bruno innerhalb des Pantheismus. Dil­theys Vorgehen kann also nach zwei Hinsichten betrachtet werden: Einerseits sollen konzeptionelle Vorläufer spinozanischer Figuren bei Bruno aufgespürt werden. Andererseits soll letzterer auch als Ideenstifter für die als ‚ästhetischer Pantheismus‘ bezeichnete Formation zur Geltung gebracht werden. Mithilfe der Formulierung von fünf „Haupts[ä]tz[en]“ (II 331) sucht Dil­they dies zu zeigen. Im Folgenden wollen wir uns zunächst der ersten Hinsicht, d. h. der Verhältnisbestimmung zu Spinoza widmen. Sie tritt im Blick auf drei jener fünf Punkte zutage. Der erste Hauptsatz besteht in Brunos „Einsicht in die Gleichartigkeit und den kontinuierlichen Zusammenhang aller Teile des Universums“ (II 326). Mit dieser Bestimmung sucht Dil­they im Wesentlichen dessen Fassung des Gedankens von der Unendlichkeit der Welt bzw. des Universums zum Ausdruck zu bringen. Bruno hatte sich bekanntlich das durch Kopernikus formulierte Weltbild, in dem die geozentrische Vorstellung von der Erde als dem Mittelpunkt des Universums verabschiedet worden war, zu eigen gemacht. Im Unterschied zu Kopernikus aber, der an einer äußeren Begrenzung desselben durch einen Fixsternhimmel festgehalten hatte, geht Bruno davon aus, dass der Gedanke einer solchen Begrenzung letztlich undurchführbar ist, weil er in unüberwindbare Wi160 Vgl. G. W. F.  Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 28 (zit. n. A. Eusterschulte: Giordano Bruno zur Einführung, 140). 161 Vgl. G. B. Jäsche: Der Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen, Bd. 2, 184–221.



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dersprüche führt. Deswegen ist die Annahme der Unendlichkeit des Universums für Bruno die einzig sinnvolle Möglichkeit, wie letzteres quantitativ kategorisiert werden kann. Dabei knüpft er ausdrücklich an Nikolaus von Kues’ Überlegungen zur Unendlichkeit der Welt an, geht über jene aber dadurch hinaus, dass er die Vorstellung, die unendliche Welt habe in Gott ihre Grenze, aufhebt und in der Totalität der Welt die Totalität Gottes widergespiegelt sieht.162 Dil­they hat diesen Problemkomplex vor Augen, wenn er von Brunos Konzeption eines „physische[n] Kontinuum[s] ohne Grenzen“ (II 328) und deren Fluchtpunkt in der Idee der „Unendlichkeit des Universums“ (II 329) spricht. Diese Brunosche Idee liegt Dil­they zufolge auch Spinozas System zugrunde: So „ist der Begriff eines physischen Ganzen, welches nach außen keine Grenzen hat und in sich sonach die Kräfte tragen muß, welche seine Daseinsformen bedingen, in dem Pantheismus, zunächst in dem des Spinoza, aufgenommen“ (II 330 f.). Der „zweite Hauptsatz“ (II 331) lautet: „Die Welt ist die notwendige Explikation der Gottheit“ (ebd.). Dil­they bezieht sich damit auf einen Grundgedanken Brunos, den dieser an unterschiedlicher Stelle seines Werkes zum Ausdruck gebracht hat: Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Einheit und Vielheit geht Bruno – schon in seinem italienischen Frühwerk De la causa, principio e uno (1584) –163 von der Voraussetzung eines ersten vollkommenen Prinzips aus, in dem alles Mögliche und alles Wirkliche ‚zusammengefaltet‘, ‚vereinigt‘ und ‚eins‘ ist. Angesichts dessen ist alles Einzelne als Resultat der ‚Explikation‘ jener ‚complikativen‘ Einheit zu begreifen, die sich in den einzelnen Dingen ‚auseinanderfaltet‘ und ‚zerstreut‘.164 Dil­they nimmt hierauf Bezug, wenn er festhält, Bruno gehe davon aus, dass „Vermögen und Wirklichkeit […] in der Gottheit dasselbe [sind]“ (II 332), woraus zugleich folge, dass dem Göttlichen keine Merkmale inhärieren könnten, die sich nicht zugleich als Seiendes auswirken würden. Vielmehr sei „in der Form des Grundes und der Einheit in ihm nichts, was nicht in der Welt entfaltet als Wirkung bestünde“ (ebd.). Dil­they weist darauf hin, dass Bruno damit zugleich der Idee einer räumlichen Unendlichkeit des Universums eine metaphysische Grundlage verschafft habe. Denn wenn alles Seiende die notwendige Entfaltung des göttlichen Grundes darstellt, dieser Grund als göttlicher aber unendlich ist, so kann das physisch Seiende auch keine Grenze haben, sondern muss sich ebenfalls unendlich ausdehnen. Dil­they erinnert diesbezüglich an Kues’ Lehre von der ‚coincidentia oppositorum‘, derer sich Bruno hierfür bedient habe. In umgekehrter Richtung stellt er fest, Bruno habe damit Spinozas Begriff der ‚causa sui‘ und der zugehörigen konstitutiven Relation von ‚Substanz‘ und ‚Attribut‘ vorgearbeitet.165 Darüber hinaus finde sich bereits bei Bruno die Vorstellung, dass „Körperliche[s] und Geistige[s]“ ihre „substantiale Einheit im Ab162 Vgl. 163  Vgl.

S. Otto: Giordano Bruno, 307. dazu: A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 29–45. 164  Alle diese Begriffsbestimmungen entstammen Bruno, vgl. dazu aaO., 37. 165 Vgl. II 332.

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soluten“ (II 331) haben,166 – wofür Dil­they sich auf eine Formulierung in oben genanntem Werk beruft, in der davon die Rede ist, dass sowohl die Materie als auch alle – durch die ‚Weltseele‘ inbegriffenen – Formen des Seienden ‚ein Sein und eine Wurzel‘167 besitzen.168 Damit sei sowohl die spinozanische Differenz von Ausdehnung und Denken bereits gegeben als auch dessen ‚omnia animata sunt‘.169 Im Blick auf das Verhältnis Spinozas zu Bruno hebt Dil­they schließlich in einem weiteren Hauptsatz eine prinzipielle Gleichartigkeit hinsichtlich der „ethischen Konsequenzen“ (II 335) zwischen beiden hervor. So entwickle Bruno die Vorstellung eines „Stufengang[s], in welchem der Mensch sich aus der Einschränkung leidenschaftlichen Eigenlebens und sinnlicher Weltauffassung zu der Äternität und dem einheitlichen universalen Zusammenhang erhebt, welcher der Seele in Gott aufgeht und ihr die kontemplative Seligkeit erwirkt“ (ebd.). In formaler Hinsicht setze Bruno damit die überkommene Anschauung eines Heilsweges fort,170 die sich – wie Dil­they an anderer Stelle ausgeführt hat – etwa bei Augustin, Bernhard von Clairvaux und in der franziskanischen Frömmigkeitsbewegung finde:171 Hier begegne überall die Vorstellung eines Seelenvorgangs, innerhalb dessen der Wille aus seiner Abgewandtheit vom Göttlichen und seiner Beherrschtheit durch die Leidenschaften die Sehnsucht nach Auflösung dieses Zwiespalts entwickle, um schließlich Seelenruhe in Gott zu finden. Dil­they zufolge habe nun aber „von dem Beginn der Renaissance ab eine Verweltlichung“ (II 19) dieses Vorgangs eingesetzt, wonach derselbe sein Ziel nicht mehr in einer jenseitigen Ordnung besitze, sondern der Mensch danach frage, wie er „in seinem Lebensdrang zur tranquillitas animi in diesem Leben […] gelange“ (II 22).172 Dieser Vorstellung der „Verweltlichung dieses inneren Vorgangs“ (II 335) habe Bruno systematisch-philosophischen Ausdruck verliehen. Bei Spinoza werde sie aufgenommen und fortgeführt – wobei er sicherlich an dessen Begriff des ‚amor Dei intellectualis‘ denkt, der gewissermaßen die Zielvorstellung der spinozanischen Ethik bildet. Mit den genannten drei Hinsichtnahmen Dil­theys ist seine Verhältnisbestimmung Spinozas zu Bruno im Wesentlichen erschöpft. Mit dieser ideengeschichtlichen Linienführung will Dil­they allerdings nicht behaupten, dass zwischen beiden keine Differenzen bestehen würden. Über den offensichtlich bestehenden 166 Dil­ they verweist diesbezüglich auf den Schluss des dritten Dialogs von Brunos Della causa, principio e uno (vgl. II 331). 167 Vgl. A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 35. 168  Dil­they kommt ausdrücklich auf jene Wurzelmetapher Brunos zu sprechen, wenngleich er sie nicht als Zitat ausweist (vgl. II 332). 169 Vgl. II 332, Anm. 1. 170 Vgl. II 335. 171 Vgl. II 18. 172 Dil­ they verweist diesbezüglich exemplarisch auf den Renaissance-Literaten und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca (vgl. II 19–23).



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methodischen Grundunterschied hinaus  – dass Spinoza seine Konzeption in Form eines logisch-axiomatischen Denkens entwickelt, das auf die Herstellung eines geschlossenen, sich in begrifflichen Abstraktionen artikulierenden Systems abzielt –173 hebt Dil­they vor allem folgenden inhaltlichen Gesichtspunkt hervor: Während Bruno die Natur als ein lebendiges Ganzes auffasse, ist Spinoza „durch die Bedingungen, unter denen er denkt, von Brunos Vitalismus weit entfernt worden“ (II 337). Es ist klar, woran Dil­they hierbei denkt: Spinoza hat bei der Abfassung seiner Konzeption ideengeschichtlich Descartes’ Philosophie und die mit ihr verbundene Auffassung der Natur als eines mechanisch wirkenden Gesetzeszusammenhangs im Rücken. Zwar übernimmt Spinoza dann nicht dessen Substanzdualismus, sondern konzeptualisiert die Differenz von Ausgedehntem und Geistigem als zwei Attribute einer einzigen Substanz. Mit dieser Neukonzeption ist aber nicht zuletzt der Anspruch verbunden, die cartesianische Auffassung des Naturzusammenhangs als eines nomologisch bestimmten Kausalzusammenhangs in eine stringentere Form überführt zu haben.174 In einer späteren Ergänzung des ursprünglichen Textes im Leben Schleiermachers hat Dil­they dies dann klar ausgesprochen: „Spinozas Pantheismus stand unter der Einwirkung dieser Philosophen der Renaissance. Aber darin war nun seine Originalität gegründet, daß er die mechanische Naturerklärung von Descartes und Hobbes durch die Lehre von den beiden Seiten des Weltzusammenhangs […] zu einer neuen Form des Pantheismus fortbildet“ (XIII 167).175 Wie man mit Dil­they im Blick auf Bruno von einem vitalistischen Pantheismus sprechen könnte, so könnte man Spinozas Konzeption angesichts dessen als einen mechanischen Pantheismus bezeichnen.176 Soviel zu Dil­theys Verhältnisbestimmung von Spinoza und Bruno. Kommen wir nun zur anderen Seite: der pantheistischen Entwicklungslinie, die Dil­they auf den Begriff des ‚ästhetischen Pantheismus‘ gebracht hatte und für die vor allem Autoren wie Shaftesbury und Goethe gestanden hatten. Der entscheidende Bezugspunkt hierzu ergibt sich für Dil­they im Blick auf ein bestimmtes Theorieelement in Brunos Konzeption – das er als dessen „dritte[n] Grundbegriff“ (II 334) bespricht. In De la causa, principio e uno hatte Bruno als Vermittlungsinstanz zwischen ‚göttlichem Intellekt‘ und ‚partikularem Intellekt‘ den ‚universalen Intellekt‘ eingeführt, den er als Formprinzip der Ausfaltung des göttlichen Geistes in den Dingen einführt und in dem er darum zugleich das grundlegende und wichtigste Vermögen der alles Einzelne beseelenden Weltsee173 Vgl. E. Hirsch: 174  AaO., 176.

Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 1, 175.

175  Angesichts dessen wird man sagen können, dass Dil­they – anders als von Mulsow insinuiert – dem „Cartesianismus in Spinoza“ (M. Mulsow: Dil­theys Deutung der ‚Geisteswissenschaften‘ des 17. Jahrhundert, 60) durchaus Rechnung zu tragen weiß. 176  Eine solche Formulierung legt indirekt nahe T. Matysik: Spinozist Monism, in ihrem dortigen Abschnitt zu „Dil­they on the Modern Monist-Pantheist Era: Between Vitalism and Mechanism“, 113–117.

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le erblickt. Worauf es in diesem Zusammenhang ankommt ist der Umstand, dass Bruno jenes Formprinzip nicht in solch abstrakter Fassung belässt, sondern es mithilfe ästhetischer Metaphern näher bestimmt. So kann er den universalen Intellekt geradezu als einen ‚inneren Künstler‘ (artefice interno) apostrophieren.177 Diesen Gedanken kann er dann auch auf den Begriff der Weltseele ausdehnen, den er in seinem späteren Werk Lampas triginta statuarum (1591) – unter nahezu wechselbegrifflicher Verwendung des Naturbegriffs –178 als „ars artium“ oder auch als „prima ars“179 bezeichnet. Dil­they hat genau diesen Zusammenhang vor Augen, indem er auf Brunos „Gedanken der Natur als einer künstlerischen Kraft“ (II 334) abstellt. „Alle Bewegung, jede Bildung zu bestimmter Gestalt und jede Einzelexistenz ist die Wirkung einer künstlerisch bildenden geistigen Grundkraft, welche in allen einzelnen Dingen gegenwärtig ist“ (II 336). Diese Idee war weiter oben das erste Mal im Blick auf Goethe hervorgetreten und im Zuge von Dil­theys weiteren Studien dann bis auf Shaftesbury zurückverfolgt worden. Der entscheidende Begriff, auf den Dil­they diese Auffassung gebracht hatte, war der einer ‚Technik der Natur‘. Genau dieser Begriff begegnet nun auch im Zusammenhang seiner Bruno-Darstellung wieder. So sei auch dessen Konzeption – in der gewissermaßen nur der philosophische Ausdruck der „ästhetischen Weltansicht der Renaissance“ zu erblicken sei – dadurch gekennzeichnet, dass in ihr „der Begriff einer Technik der Natur, welche sich in den Gestalten des Lebens künstlerisch auswirkt“ (ebd.), entstehe. Über diesen Bezugspunkt hinaus hebt Dil­ they schließlich einen letzten Hauptsatz hervor, dem zufolge sich von Bruno aus eine Linie in die spätere Entwicklung hinein verfolgen lasse. Dil­they geht es um denjenigen Aspekt, den er zuerst im Blick auf Schleiermacher, später dann aber auch für Goethe herausgearbeitet hatte: das Problem der Gegenwart des Göttlichen im Einzelnen. Genau diese Vorstellung sieht Dil­they bereits bei Bruno gegeben: So besteht ein weiterer „Grundbegriff, welcher, von Bruno zuerst formuliert, dann durch alle folgenden pantheistischen Systeme hindurchgeht“, nämlich „der des endlichen Dinges als eines Teiles des Universums, in welchem das Unendliche gegenwärtig ist und der sonach Ausdruck des Unendlichen ist“ (II 334). Hier begegnet wieder jene zweidirektionale Lesart des ‚Eins und Alles‘, die oben bereits im Blick auf Schleiermacher hervorgetreten war. Demnach ist nicht nur alles im Einen, sondern eben auch das Eine in allem Einzelnen. Diese Fassung hat Dil­they nun auch bei Bruno ausfindig machen zu können gemeint. Und bei Bruno begegnet in der Tat die Feststellung, dass „die Weltseele ebenso ganz im Ganzen der Welt und auch ganz 177  G. Bruno: De la causa, principio e uno, 233 (zit. nach: A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 33). 178  A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 110. 179  G. Bruno: Lampas triginta statuarum 61 (zit. nach: A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 110).



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in jedem ihrer Teile ist“.180 Bei Dil­they heißt es dazu, Bruno konzeptualisiere die Relation von Göttlich-Unendlichem und Weltlich-Endlichem in der Weise, dass die „göttliche Seele der Welt […] in allen Teilen derselben gegenwärtig“ (II 332) sei. Die neuere Forschung hat allerdings hervorgehoben, dass Vorsicht geboten ist, Brunos Weltseelenlehre vorschnell als ‚Pantheismus‘ zu etikettieren.181 Denn ‚göttliche Weltseele‘ auf der einen und Gott als letzter Grund allen Seins auf der anderen Seite sind für Bruno nicht deckungsgleich, sondern werden von ihm auseinandergehalten. Wenn also die göttliche Seele der Welt für ihn in allen Teilen gegenwärtig ist – wie Dil­they zutreffend festhält – so bedeutet das nicht zugleich, dass Gott in allen Teilen ist. Bruno geht hier stattdessen von einem Stufungsverhältnis aus. So dürfte auch Brunos Auffassung besser als panentheistisch denn als pantheistisch bezeichnet werden. (5) Mit jenen fünf Gesichtspunkten – Unendlichkeit des Universums, Explikation der absoluten Einheit in der Vielheit, Erhebung der Seele zum göttlichen Zusammenhang, ‚Technik der Natur‘, Schau des Einen im Einzelnen – sind die entscheidenden Grundlagen der diltheyschen These von Giordano Bruno als dem Schöpfer des modernen europäischen Pantheismus bzw. Panentheismus benannt. Wie bereits angedeutet, belässt er es aber nicht bei jener Ausweitung der historischen Rekonstruktion bis in die frühe Neuzeit hinein, sondern sucht, den Blick bis in die Antike hinein auszuweiten. Damit kommen wir zum dritten und letzten Schritt, den Dil­they im Vergleich zu den beiden zuvor genannten allerdings nicht mehr in derselben Ausführlichkeit dargestellt, sondern lediglich in groben Strichen entworfen hat. Um seine Sicht des fraglichen Problemkomplexes vor Augen zu bekommen, ist zunächst noch einmal auf Bruno zurück zu gehen. Im Rahmen seiner Rekonstruktion von dessen Werk weist Dil­they im Wesentlichen auf drei geschichtliche Faktoren hin, durch die sich dasselbe tiefgreifend bedingt erweist. Der erste ist bereits mehrfach berührt worden, nämlich das philosophische und theologische Denken des Nikolaus von Kues. Den zweiten Faktor erblickt Dil­they in den kulturellen und sozialen Umwälzungen, die man seit dem 19. Jahrhundert unter dem historischen Reflexionsbegriff der ‚Renaissance‘ subsumiert hat. Dil­they denkt dabei vor allem an folgende Phänomene:182 einen beginnenden Mentalitätswandel, der anstelle der Ausrichtung aufs Jenseits die diesseitige Welt fokussiert; die Auflockerung des mittelalterlichen Verbands180  G. Bruno: De la causa, principio e uno, 63 (zit. nach A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 34). 181 Vgl. W. Beierwaltes: Identität und Differenz, 176–240; ders.: Einleitung, XLVII; S. Otto: Giordano Bruno, 307. 182  Vgl. zu den folgenden Gesichtspunkten I 354ff; II 322 ff. In seiner Deutung der frühen Neuzeit ist Dil­they stark beeinflusst durch das Renaissance-Bild von Jacob Burckhardts Die Kultur der Renaissance (1860), was er durch wiederholten Verweis auf diesen auch zu erkennen gibt (vgl. II 212 passim). Zur Einordnung von Dil­theys Renaissance-Forschung in die Debattenlandschaft des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. M. Mulsow: Dil­theys Deutung der ‚Geisteswissenschaften‘ des 17. Jahrhunderts, 54 f. 67.

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lebens183 samt der damit einhergehenden sozialen Individualisierung sowie die Ausdifferenzierung unterschiedlicher gesellschaftlich-kultureller Systeme.184 Für den gegebenen Zusammenhang ist vor allem der dritte von Dil­they namhaft gemachte Faktor entscheidend, der mit dem zweitgenannten freilich eng zusammenhängt. Denn jener allgemeine Transformationsprozess in der ‚Renaissance‘ ging mit einer Wiederentdeckung geistesgeschichtlicher Quellen in der Antike einher, die in den Jahrhunderten zuvor in den Hintergrund getreten waren. So war Bruno Dil­they zufolge nicht nur insofern „Philosoph […] der Renaissance“ (II 336), als er die durch sie veränderte Selbst- und Welteinstellung des Menschen begrifflich zum Ausdruck brachte. Darüber hinaus war er dies auch darum, weil sein Denken nachhaltig durch die Wiederentdeckung antiker Autoren geprägt gewesen ist. Für die von Bruno konzipierte Weltansicht bedeutet das dann: Diese ist nicht nur als wichtige Vorläuferin entsprechender Konzeptionen der späteren Zeit anzusehen, sondern erweist sich zu einem gewissen Grad auch als Fortsetzung bestimmter, bereits in der Antike vorliegender Traditionen. So hat Dil­ they in einer Ergänzung im Leben Schleiermachers denn auch festhalten können: „In Giordano Bruno ward solch pantheistischer Monismus“ – wie er bereits in der griechischen Naturphilosophie anzutreffen gewesen sei – „wiedergeboren“ (XIII 167). Wie kommt Dil­they zu dieser These? Um diese Frage beantworten zu können, ist es sinnvoll, zunächst auf einen ideengeschichtlichen Zusammenhang aufmerksam zu machen, innerhalb dessen Brunos Werk zu stehen kommt. So zeigen sich in ihm markante Einflüsse antiker Philosophie, die über die auch im Mittelalter gelesenen Hauptautoren hinausgehen. Eine herausragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang unter anderem folgenden Gesichtspunkten zu: Zunächst ist auf Brunos Anknüpfung an die stoische Vorstellung des durch das gesamte Universum verbreiteten göttlichen Feuers bzw. des Äthers hinzuweisen, die Eingang in seine Weltseelenlehre gefunden hat.185 Modifiziert wurde sie sodann, durch seine Aneignung der neuplatonischen Spiritus-Lehre,186 die ihm vor allem durch den Renaissanceplatonismus des Marsilio Ficino vermittelt worden ist.187 Schließlich ist Brunos Bezugnahme auf den römischen Dichter und Philosophen Lukrez hervorzuheben, den er unter anderem heranzieht, um mithilfe des von diesem erbrachten Aufweises, dass un183  Dil­they stellt diesbezüglich sozioökonomische und politische Faktoren dezidiert mit in Rechnung. Die von verschiedener Seite gegenüber Dil­they immer wieder kritisch eingeforderte Ergänzung der Geistesgeschichte durch eine Sozialgeschichte kann also bei Dil­they selbst entscheidende Anknüpfungspunkte finden. Vgl. dazu auch G. Cacciatore: Die Idee der Moderne bei Dil­they und Cassirer, 73 f. 184  Auch in der Einleitung und in Auffassung und Analyse hat Dil­they deutlich gemacht, dass er sich in seiner Analyse zur Entstehung der frühen Neuzeit maßgeblich an Jakob Burckhardt anlehnt (vgl. I 354; II 46. 48. 212). 185  Vgl. dazu A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 98. 157, Anm. 71. 186  Vgl. dazu W. Beierwaltes: Einleitung, XVI. XLII, Anm. 33. 187  Vgl. dazu aaO., XLIII, Anm. 40.



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sere Sinne immer nur begrenzte Dinge wahrzunehmen vermögen, die Einführung des Gedankens der Unendlichkeit des Universums vorzubereiten.188 Alle drei Bedingungsverhältnisse werden auch von Dil­they gesehen189 – wobei über Dil­they hinaus auf die Platon-Anknüpfung Brunos in dessen Begriff der ‚Weltseele‘ hinzuweisen wäre.190 Es ist dieser Hintergrund, vor dem Dil­they die Konsequenz zieht, dass Brunos Werk zwar den Geburtsort des Pan(en)theismus in der Neuzeit bilde, letzterer der Sache nach aber bis in die Antike zurückreiche. Insbesondere die geistige Bewegung der Stoa steht ihm hierbei vor Augen. Das Feld der in der Stoa enthaltenen Ideen strukturiert Dil­they, indem er es nach drei Prinzipien hin ordnet, deren erstes er in „der Einheit des gesamten Universums“ (II 316) erblickt. Das besagt zum einen, dass alle Erscheinungen der Natur einen Zusammenhang bilden, der zugleich den Charakter einer geregelten Ordnung besitzt. Zum anderen besagt es, dass dieser Zusammenhang auf eine letzte Kraft zurückgeführt werden kann, als deren Verwirklichung er begriffen werden kann. Der Fluss der Erscheinungen verlaufe nicht etwa willkürlich, sondern sei durch eine bestimmte Regelhaftigkeit determiniert, die aus der vernunftgemäßen Weltordnung des Logos resultiere, wobei es im Zusammenhang damit dann auch zur Annahme einer prinzipiellen Gleichartigkeit aller Weltkörper ihrem Stoffe nach gekommen sei. Das zweite Prinzip stellt letztlich eine Implikation des eben Gesagten dar und ist in der Vorstellung von der „Immanenz der Naturdinge in dieser einheitlichen Kraft“ (II 317) zu sehen. Im Blick auf diese beiden Prinzipien habe die Stoa ältere Traditionen aufgenommen. Sie habe sie dann aber dahingehend weitergebildet, dass sie sie durch die „Auffassung des Universums als einer von Vernunft beseelten Organisation“ (ebd.) ergänzt habe. Infolgedessen avanciere die Weltvernunft zur ‚Weltseele‘,191 das Verhältnis von derselben zu dem von ihr hervorgebrachten Einzelnen werde nach Maßgabe der Kategorie des Ganzen und seiner Teile aufgefasst,192 und jedes Einzelding erscheine nun als „beseelt, zweckmäßig und organisch, da die einwohnende Kraft seine Form bestimmt“ (II 316). So habe der „pantheistische Monismus Griechenlands […] seine vollkommene Form in dem stoischen System“ (II 315) empfangen. Dil­they belässt es bei diesen knappen Ausführungen. Für das zugrunde liegende Beweisziel ist das Ergebnis aber ausreichend. Denn mit dem bisher Geschilderten ist die These eingeholt, dass die philosophie- und religionsgeschichtliche Entwicklung pan(en)theistischer Konzeptionen nicht nur ein neuzeitspezifisches,

188  Vgl. dazu A. Eusterschulte: Giordano Bruno, 189  Zur stoischen Äther-Vorstellung vgl. II 329 f.; zu

47. Brunos Bezugnahme auf Lukrez vgl. II 327 f. 330; die neuplatonischen Hintergründe deutet Dil­they an in II 321. 331 f. 190  Vgl. dazu W. Beierwaltes: Einleitung, XVI. 191 Vgl. II 316. 192 Vgl. II 316. 317.

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geschweige denn modernes Phänomen darstellt, sondern sich zu einer geschichtlichen Reihe ausdehnen lässt, die bis in die Antike zurück reicht. iii.  Der Typus personalistischer Freiheitsreligion Im ersten Abschnitt dieses Unterkapitels hatten wir Dil­theys religionstypologische Grundthese dargelegt, wonach sich die europäische Religionsgeschichte nach zwei basalen, nicht aufeinander reduzierbaren Typen hin perspektivieren lasse. Im vorigen Abschnitt wurde diese These im Blick auf den von ihm als ‚pan(en)theistisch‘ bezeichneten Typus dargestellt. Im Folgenden soll es nun um den anderen Typus der Religion gehen, den Dil­they die „Religion[ ] […] der Personalität“ (II 337) nennt – und dem der philosophische Weltanschauungstyp des ‚Idealismus der Freiheit‘ korrespondiert. Sondiert man Dil­theys Werk im Blick darauf, welche religionsgeschichtlichen Ausführungen er in dieser Hinsicht bietet, so zeigt sich, dass seine Darstellung des fraglichen Religionstypus letztlich anhand des Paradigmas der christlichen Religion erfolgt. Seine Historiographie der Religionsgeschichte personalistischer Religion stellt so gesehen eine Ausarbeitung der religiösen Ideengeschichte des Christentums dar. Dabei standen ihm entscheidende Grundlinien schon relativ früh vor Augen. Denn – wie erwähnt –193 hatte er bereits im Anschluss an sein Theologiestudium umfangreiche Untersuchungen zu dessen antiker und mittelalterlicher Gestalt angestellt und sie im zweiten Buch der Einleitung erstmals ausführlicher dargestellt. Angesichts dessen soll der Ausgangspunkt der folgenden Rekonstruktion bei diesen Ausführungen genommen werden, um von hier aus nach entsprechenden Erweiterungen und Vertiefungen in späteren Studien zu fragen. Dabei kann es nicht das Ziel sein, alle Einzelheiten von Dil­theys historiographischer Darstellung der Christentumsentwicklung zu diskutieren. Stattdessen begnügen wir uns mit den wesentlichen Zügen. Diese sollen im Folgenden in fünf Schritten nachgezeichnet werden. Zunächst wird es um Dil­theys Exponierung des Christentums als Ausdruck einer neuen, in der Antike sich herausbildenden Bewusstseinslage des Menschen gehen (1). Sodann soll herausgearbeitet werden, welche Bezüge er zu vorausliegenden religionsgeschichtlichen Erscheinungen gezogen hat (2). Danach ist die von ihm in Rechnung gestellte Transformation der anfänglichen Gestalt des Christentums in spätantiker Zeit zu schildern, die ihm zufolge auch dessen mittelalterliche Gestalt wesentlich geformt hat (3). Im Anschluss daran soll seine Sicht auf die Umformung christlicher Religion in der Reformation behandelt werden (4), ehe abschließend auf ihre neuzeitlich-moderne Entwicklungen einzugehen sein wird (5). (1) Das zweite Buch der Einleitung bietet eine Darstellung der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft von der griechischen Antike bis in die Neuzeit. 193  Siehe

dazu oben Abschnitt III.5.b. i.



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Innerhalb dieser breit angelegten Darstellung findet sich ein Kapitel, in dem es um die Entstehung des Christentums geht, und das zwischen die Abschnitte zur Ausbildung von Wissenschaft und Metaphysik in der Antike und den Abschnitt zur mittelalterlichen Wissenschaftsgeschichte eingefügt ist.194 Dil­theys Grundthese besteht darin, dass mit der Genese des Christentums eine grundlegende Verschiebung in der Wirklichkeitssicht des antiken Menschen zum Ausdruck kommt. Sie enthält „die Bedingungen in sich, unter welchen die Schranken der antiken Wissenschaft durchbrochen werden konnten und allmählich durchbrochen worden sind“ (I 251). Entscheidend ist nun, dass er in der Schilderung dieses Sachverhalts zugleich auf wesentliche Züge zu sprechen kommt, durch die das christlich-religiöse Leben seines Erachtens grundsätzlich charakterisiert wird. Er schildert diese Problematik, indem er die christliche Gotteserkenntnis vor dem Hintergrund dessen illustriert, was er den ‚griechischen Geist‘195 nennt. Im Wesentlichen sind es vier Gesichtspunkte, auf die er abhebt. Der erste betrifft gewissermaßen den vermögenstheoretischen Ort der Thematisierung Gottes. Vor dem Hintergrund des „Vorherrschen[s] des Räsonnements im griechischen Geiste“ (I 209) erfolge diese bei Aristoteles im Rahmen der theoretischen Vernunft. Dem gegenüber sei es im christlich-religiösen Leben insofern zu einer Verlagerung der ursprünglichen Gottesthematisierung gekommen, als diese nun in der „Selbstgewißheit der inneren Erfahrung des Willens und des Herzens“ (I 252) ihren Ursprung findet. Die Beziehung zu Gott wird sonach nicht mehr mittels theoretischer Betrachtung hergestellt, sondern erfolgt auf der Basis volitiver und emotiver Erlebnisse des Menschen. Die damit gegebene Verinnerlichung des Gottesverhältnisses lässt sich aber noch weiter verfolgen  – womit wir zum nächsten Gesichtspunkt kommen. Dil­they weist an einer Stelle darauf hin, dass die griechische „Metaphysik an astronomischen Schlüssen einen positiven, wissenschaftlichen Rückhalt hatte“ (I 211), die „in der Schönheit und Gedankenmäßigkeit der Bahnen der Himmels194  Dieses Vorgehen mag auf den ersten Blick überraschen, da es in jenem Werk letztlich um wissenschaftsgeschichtliche Fragen geht, eine Betrachtung des Christentums jedoch religionsgeschichtlicher Natur ist. Dil­they geht jedoch von der wissenssoziologischen Voraussetzung aus, dass alles Wissen und Erkennen – und folglich auch die methodisch geleitete Wissenschaft – durch kulturell vermittelte Bewusstseinshaltungen geprägt sind, die sich nicht zuletzt gerade auch im religiösen Leben artikulieren. Eine Betrachtung der Genese des Christentums ist in diesem Zusammenhang darum von Bedeutung, weil sich mit dessen Aufkommen eine „tiefe[ ] Veränderung im Seelenleben“ (I 250) des europäischen Menschen vollzogen habe, die primär zwar auf dem Feld der Religion erfolgte, darüber hinaus jedoch zugleich für eine allgemeine Wandlung der Bewusstseinsstellung des Menschen stehe, die eben auch für das wissenschaftliche Denken entscheidende Konsequenzen besaß. Das ist der Grund dafür, dass Dil­they sie in seine wissenschaftsgeschichtliche Darstellung einbaut. Für uns ist freilich nicht so sehr letztere für sich interessant, sondern die in ihrem Kontext gleichsam nebenbei abfallenden Bestimmungen dazu, welche Art Wirklichkeitsauffassung sich mit dem Aufkommen des Christentums Bahn gebrochen hat. 195 Vgl. I 209. 251 passim.

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körper eine Stütze für den Monotheismus [sucht]“ (I 214). Damit bezieht er sich nicht zuletzt wiederum auf Aristoteles. Für ihn sind die Gestirne als unvergängliche Gegenstände bekanntlich nicht etwa – wie es bei anderen seienden Gegenständen der Fall ist – nur mittelbar durch Gott bewegte Größen, sondern werden in ihrer Bewegung direkt durch den ‚ersten Beweger‘ bestimmt. Insofern die Gestirne aber sichtbare Himmelsgrößen darstellen, findet das Wirken Gottes – in der supralunarischen Welt und der in ihr gegebenen Ordnung und Objektbewegung – geradezu eine äußerliche Anschaulichkeit. Der christliche Glaube mit seinem Ankerpunkt im Gefühls- und Willensleben des Menschen hingegen erfasst das Göttliche gerade nicht vorrangig im Blick auf Sachverhalte der Außenwelt, sondern baut die Gottesbeziehung in der Innerlichkeit menschlicher Subjektivität auf. Die „Erfahrungen des Willens und des Herzens verschlingen mit ihrem ungeheuren Interesse jeden anderen Gegenstand des Wissens“ (I 251). Der dritte Aspekt hängt damit zusammen und betrifft die Art der Vorstellung göttlicher Vollkommenheit. Das eben geschilderte Paradigma äußerlicher Anschaulichkeit des göttlichen Vernunfthandelns zielt nämlich vor allem darauf, Gott in solchen Strukturen der Wirklichkeit abgebildet zu finden, die sich als vernünftig und zweckmäßig geordnet erweisen. Das Wesen Gottes zeigt sich somit in der Wohlgeordnetheit der physikalischen Welt, die als solche als dessen Widerspiegelung erkannt werden kann. Für das christliche Gottesbewusstsein ist es nun aber charakteristisch, dass „die Verbindung“ desselben „mit der gedankenmäßigen Schönheit des Weltalls […] zurück[tritt]“ (I 250). An deren Stelle treten spezifische Erlebnisgehalte von Fühlen und Wollen, deren Dignität nicht von Vorstellungen äußerlicher Wohlgeformtheit abhängig ist. „Nun soll die Vollkommenheit der Gottheit selber mit Knechtgestalt und Leiden zusammengedacht werden oder vielmehr nicht gedacht: sie sind im religiösen Erlebnis eins. Das Vollkommene hat nicht nötig, im Glanz der Gestirnwelt zu strahlen und in Glück und Macht sich zu sonnen. Gottes Reich ist nicht von dieser Welt.“ (ebd.) Schon im Blick auf die drei bisher genannten Gesichtspunkte wird deutlich, warum Dil­they behauptet, in der christlich-religiösen Wirklichkeitsauffassung sei eine Welteinstellung des Menschen zu greifen, die die Voraussetzungen des ‚griechischen Objektivismus‘ aufgehoben habe. Die tiefste Wahrheit, die der Mensch erreichen kann, die Erkenntnis des Göttlichen, wird der Äußerlichkeit entkleidet und in das Innere des Menschen verlagert. Indem der göttliche Grund nun aber einerseits zu einem innerlich erfahrbaren Gegenstand des religiösen Erlebnisses wird, andererseits von den an der äußeren Welt ablesbaren Ordnungsstrukturen relativ entkoppelt wird, avanciert das sittlich-religiöse Bewusstsein zum eigentlichen Ort, an dem Gott für den Menschen wirklich ist. Die Frage nach einer äußerlich anschaubaren Entsprechung jenes religiösen Gehalts wird in ihrer Bedeutung herabgemindert. „Wissen war für den griechischen Geist Abbilden eines Objektiven in der Intelligenz. Nunmehr wird das Erlebnis zum Mittelpunkt aller



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Interessen der neuen Gemeinden; dieses ist aber ein einfaches Innewerden dessen, was in der Person, im Selbstbewußtsein gegeben ist“ (I 251). Der letzte Gesichtspunkt betrifft die bereits mehrfach berührte Aufwertung des Willensmoments. Wiederum verdeutlicht Dil­they diese Problematik durch Vergleich mit Aristoteles bzw. genauer: mit dessen Lehre vom ‚unbewegten Beweger‘. Aristoteles entwickelt diesen Gedanken bekanntlich wie folgt: Er geht von der allgemeinen Voraussetzung aus, dass alles Seiende dynamisch verfasst ist und folglich nur in unterschiedlichen Formen von Bewegung wirklich ist. Ein jedes Bewegtes ist nun aber dadurch in Bewegung, weil es von einem anderen bewegt wird, das wiederum von einem anderen bewegt wird und so fort. Jene Ursachenkette kann aber nicht ins Unendliche gehen, weil die Annahme einer unendlichen Reihe keine Erklärung darstellt für die in der Erfahrung gegebenen Wirkungen. Also muss es ein Erstes geben, das bewegt ist, in dieser Bewegung aber nicht durch ein anderes bedingt ist, sondern sich durch sich selbst bewegt. Als solches ist es zugleich ewig und notwendig und steht für die reine Aktualität der absoluten Wirklichkeit (‚actus purus‘). Dil­they kommt auf diese Argumentation eigens zu sprechen.196 Er hält demgegenüber fest, Aristoteles’ Beweisführung zeige „deutlich, wie innerhalb dieser Metaphysik für den Willen, welcher von innen anfängt, keine Stelle ist, so daß diejenige Transzendenz, deren Wesen ist, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für sie noch nicht da ist“ (I 212 f.). Was ist damit gemeint? Im Zuge seines Willenslebens macht der Mensch die Erfahrung, durch die mundanen Umstände nicht restlos determiniert zu sein, sondern – um mit Kant zu sprechen – von sich aus eine Reihe anfangen zu können. Den höchsten Ausdruck dieser Fähigkeit stellt der sittlich bestimmte Wille dar, der sich dem Naturzusammenhang gegenüber als frei weiß.197 Für Aristoteles aber ist alles Wirkliche in einen ewigen und notwendigen Kreislauf aufgehoben, so dass er dieser Seite der menschlichen Wirklichkeitserfahrung keine Geltung zu verschaffen mag. Genau hieran dockt Dil­they seine Würdigung des Christentums an, insofern in letzterem „der Wille seinen eigenen metaphysischen Charakter [erfährt]“ (I 251). Seinen höchsten Ausdruck findet diese neue Wirklichkeitsstellung in der Vorstellung von der Schöpfung der Welt, in der die für allen Freiheitsgebrauch beanspruchte Unabhängigkeit des Willentlichen von dem natürlich Gegebenen auf das Sein als Ganzes ausgeweitet wird. So war die „christliche Schöpfungslehre […] der vorstellungsmäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transzendenz des Willens gegenüber der Naturordnung“ (I 325). Das Christentum ist im Kern eine Willensreligion, und zwar sowohl auf196 Vgl. I 212 ff. 197  „[A]us der Tiefe

der Selbstbesinnung, die das Erleben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist, [entspringt]das Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch die Naturordnung, deren Gesetzen sein Leben nicht entspricht, sondern nur durch etwas, was dieselbe hinter sich zurückläßt“ (I 385).

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seiten der religiösen Einstellung als auch aufseiten ihres Korrelats. In dieser Einschätzung dürfte Dil­they nicht zuletzt durch die Theologie Albrecht Ritschls beeinflusst sein, der die christliche Religion ganz im Lichte sittlich ausgerichteter Religiosität aufgefasst hat. (2) Die mit „dem Erlebnis des Christentums“ (I 253) gegebene Innerlichkeit der Religion habe sich zunächst dann aber nur bedingt durchzusetzen vermocht. Ehe diese Problematik ins Auge gefasst werden soll, sei zunächst auf eine wichtige Ergänzung aufmerksam gemacht, die Dil­they seiner bisher geschilderten Historiographie der Religionsgeschichte in späteren Texten zuteilwerden ließ. Dil­they war von Anfang an klar, dass das Christentum zwar als eine eigenständige Gestalt der Religionsgeschichte aufgefasst werden kann, dass es mit dieser Geschichte aber in einem komplexen Zusammenhang steht, innerhalb dessen nicht zuletzt die jüdisch-israelitische Religion eine besondere Rolle einnimmt.198 Besonders wichtig ist diesbezüglich ein Abschnitt aus dem Wesen, in dem es um das Verhältnis von philosophischer und religiöser Weltanschauung geht,199 der aber zugleich eine gedrängte religionsgeschichtliche Skizze bietet, in der die Entwicklung der Religion von den archaischen zu den Hochreligionen nachgezeichnet wird. Die vordergründige Funktion dieser Ausführungen besteht in dem allgemeinen Aufweis, dass sich bereits innerhalb des religiösen Lebens eine zunehmende Rationalisierung ausmachen lässt, durch die aus der Religion selbst heraus ein Übergehen derselben in Philosophie erfolgt. Sie werfen darüber hinaus aber auch entscheidende Grundeinsichten ab für Dil­theys Bild des genetischen Längsschnitts desjenigen Religionstyps, dem auch das Christentum angehört, also des Typs der Freiheitsreligion bzw. Religion der Personalität. Angesichts dessen bietet es sich an, die Entwicklungsskizze als einen vertiefenden Kommentar zur den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen jenes Typs heranzuziehen. Dil­theys Darstellung bietet das Bild eines zweistufigen Verlaufs. Auf der ersten, archaischen Stufe hängt die Religion eng mit der unmittelbaren Daseinsbewältigung des Menschen zusammen. Dieser findet sein Leben vielfach von Faktoren bestimmt, die ihm unbegreiflich sind und sich seinem direkten Einfluss entziehen, die für ihn aber sowohl im Negativen wie im Positiven existenziell relevante Auswirkungen zeitigen. Dil­they nennt etwa „Geburt, Tod, Krankheit, Traum, Wahnsinn“ (V 384). In den Typen kommt er darüber hinaus auch auf „Alter, […] Hinsterben der Frau, der Kinder, der Herde“ (VIII 88) zu sprechen. Durch solche Ereignisse sieht der Mensch sich Einflüssen ausgesetzt, die „[j]enseits des Berrschbaren liegen“ (ebd.) und die er allesamt erfährt, „als kämen sie aus Unsichtbarkei198  Diesen Sachverhalt hatte er schon in der Preisschrift Schleiermachers religionsgeschichtlicher Christentumsbetrachtung gegenüber zur Geltung gebracht, siehe dazu oben die Abschnitte II.1.d.vi und II.3.d. 199 Vgl. V 381–392.



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ten“ (VII 266). Da hier keine unmittelbare Manipulation möglich ist, der Mensch aber dennoch das Bedürfnis besitzt, sich ihnen nicht gänzlich ausgeliefert zu finden, entwickelt er Vorstellungen und Handlungsweisen, mit deren Hilfe er auf sie einzuwirken sucht, um eine bessere Gestaltbarkeit des Lebens zu erreichen. So ist „Religion […] den Naturvölkern die Technik, das Unfaßliche, der bloß mechanischen Veränderung Unzugängliche zu beeinflussen, seine Kräfte in sich aufzunehmen, sich mit ihm zu vereinigen, in erwünschtes Verhältnis zu ihm zu treten“ (V 383). Im Zusammenhang damit kommt es dann zur Ausbildung einer entsprechenden „Berufsklasse“, wie etwa der des „Zauberers, Medizinmannes oder Priesters“, die – trotz oder gerade wegen der ambivalenten Haltung, die die übrigen Teilnehmer des sozialen Verbands ihr gegenüber einnehmen – allmählich zu einem eigenen sozialen Stand avanciert, der von nun an den „Träger des ganzen religiösen Verhältnisses“ (ebd.) bildet und sich durch magische und asketische Handlungen von den übrigen Mitgliedern der sozialen Gruppe absetzt. Die kultursoziologische Voraussetzung bildet ein Entwicklungsstand, auf dem sich Wissenschaft noch nicht als selbständiges System ausdifferenziert hat.200 Von dieser Form archaischer Religion unterscheidet sich nun die zweite Stufe dadurch, dass an die Stelle jenes „primitiven Verkehr[s] mit dem Unsichtbaren“ (V 385) eine neue Form des „inneren Verkehr[s]“ (ebd.) tritt. Die Umgestaltung vollzieht sich „allmählich[ ]“ (V 384) und hängt soziologisch mit einer Art religiöser Elitenbildung zusammen,201 die ihren Ort in „den Mysterienkulten, in dem Einsiedlerleben, im Prophetentum“ (ebd.) besitze. Jene Innerlichkeit zeigt sich dabei daran, dass das religiöse Leben nicht mehr an singulären Ereignissen ausgerichtet wird, die es durch entsprechende Einzelhandlungen zu beeinflussen gilt, sondern die Beziehung zum Unsichtbaren wird ins Innere der Person verlagert. Dadurch kommt es gleichsam zu einer Systematisierung beider Relate der religiösen Beziehung: An die Stelle erfahrener oder versuchter Einzelwirkungen tritt „der Zusammenhang der Seele“ (V 384) und zugleich damit kommt es zu einer „Vereinheitlichung der Gottheiten“ (V 386). In „der Lehre von dem einen Unsichtbaren“ findet diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt – wodurch die Religion zugleich den „Fortschritt zu einer [sc. religiösen] Weltanschauung“ (V 384) vollzieht. Dil­they hat hierbei die Entstehung monolatrischer Gottesvorstellungen und deren Weiterentwicklung zu monotheistischen Weltanschauungen vor Augen, wie sie sich in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends im altorientalischen Raum ergeben hat.202 Nimmt man 200  In Dil­theys Ausführungen hierzu schimmert zum einen mitunter die aufklärerisch-religionskritische These des Priesterbetrugs durch, etwa wenn er von einem „heimlichen Bewußtsein des Mißbrauchs, der Fälschung derselben [sc. der naturdunklen Kräfte]“ (V 385) durch die mit ihrer Beeinflussung betrauten Funktionsträger spricht. Er kann der Priesterklasse aber auch durchaus positive Kulturleistungen zusprechen, wie etwa die Arbeit an der Vereinheitlichung der religiösen Vorstellungen zu relativ konsistenten Weltbildern (Vgl. VIII 29). 201  Dil­they spricht von einem „religiös vornehme[n] Kreis“ (V 384). 202  „Dieser Vorgang hatte sich bis um das Jahr 600 v. Chr. bei den wichtigsten Völkern des

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zu dieser Beschreibung den Sachverhalt hinzu, dass er in der Einleitung die Entstehung des Monotheismus auch für den griechischen Kulturkreis nachgezeichnet hat – der sich dort zunächst vor allem mit dem Werk von Anaxagoras verband –203 so kann man der Sache nach geradezu von einer partiellen Vorwegnahme der später von Karl Jaspers formulierten These der ‚Achsenzeit‘ sprechen.204 Für die uns interessierende Frage nach den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen des Christentums ist im Blick auf diese Ausführungen vor allem hervorzuheben, dass ein wesentlicher Ausgang der Religionsentwicklung in der religiösen Konzeption eines „ethische[n] Monotheismus der Freiheit“ (V 387) zu erblicken ist. Mit dem Stichwort des ‚ethischen Monotheismus‘ nimmt Dil­they eine Formel auf, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Forschungsdebatten zur Religionsgeschichte des Alten Israel begegnet.205 Wirkungsgeschichtlich verbindet sich mit ihr vor allem der Name des niederländischen Alttestamentlers Abraham Kuenen, der damit in seinem 1875 erschienenen Buch über die Propheten und die Prophetie des Alten Israel die Gottesvorstellung der israelitischen Schriftpropheten zu bezeichnen sucht.206 Von hier aus dürfte sie dann Julius Wellhausen übernommen haben, der sie in seinem Werk Israelitische und jüdische Geschichte (1894) ebenfalls verwendet.207 Dil­they selbst macht keine Angabe dazu, woher er den Begriff hat. Unabhängig davon aber, über welchen Autor ihm der fraglichen Terminus überkommen ist: Er zeigt sich damit durchaus auf der Höhe des Debattenstandes seiner Zeit. Festzuhalten bleibt, dass Dil­they die Entstehung und Entwicklung der Hochreligion nicht zuletzt in einer solchen Religiosität zu einem vorläufigen Höhepunkt kommen lässt, in der der Mensch eine Form des religiösen Bewusstseins ausbildet, die einerseits durch den Bezug auf eine überweltliche Sphäre ausgezeichnet ist, diesen Bezug andererseits auf Grundlage sittlich-volitionalen Erlebens herstellt. Wenn Dil­they nun festhält, dass „das transzendente Bewußtsein eines Geistigen […] ja selbst nur die Projektion208 des größten religiösen ErlebOstens durchgesetzt“. Dil­they führt folgende religiöse Ideen an: die „Einheit der Namen, die Herrschaft des im Sieg bewährten stärksten Gottes, die Einzigkeit der Heiligen, die Auflösung aller Unterschiede in dem mystischen religiösen Gegenstande, die Einsicht in die einmütige Ordnung der Gestirne“ (V 386). 203  Vgl. das zweite Kapitel des zweiten Abschnittes, das die Überschrift trägt: „Anaxagoras und die Entstehung der monotheistischen Metaphysik in Europa“ (I 158 ff.). 204 Vgl. K. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 19 ff. 205  K. v. d. Krone: Wissenschaft in Öffentlichkeit, 329 f. 344. 350. 355 f. 464. 467. 206  A. Kuenen, De profeten en de profetie onder Israël, 361. Vgl. dazu M. J. Mulder: Kuenen und der ‚ethische Monotheismus‘ der Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr. 207 Vgl. J. Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, 76. 77. 208  Mit dem Begriff der ‚Projektion‘ bedient Dil­they sich eines begrifflichen Mittels, das bekanntlich auch im Arsenal (radikaler) Religionskritik zur Anwendung kommt. Und auch Dil­they geht davon aus, dass religiöse Vorstellungen – unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt betrachtet – nichts anderes sind als Entwürfe des menschlichen Bewusstseins. Anders als die radikal-religionskritische Invektive ist darin aber eine positive Funktion zu sehen, die in den artikulatorischen Ausdeutungen des inneren Unbedingtheitserlebens des Menschen zu er-



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nisses [ist], in dem der Mensch die Independenz seines Willens vom ganzen Naturzusammenhang erfaßt“ (V 390), so stellt dies eine direkte Anknüpfung an die bereits in der Einleitung begegnende Formulierung dar, wonach die christliche Schöpfungsvorstellung nur ‚der vorstellungsmäßige Ausdruck ist für die innere Erfahrung der Transzendenz des Willens gegenüber der Naturordnung‘. Indem Dil­they sie im Wesen im Zusammenhang mit der Formel des ‚ethischen Monotheismus‘ verwendet, macht er den religionsgeschichtlichen Zusammenhang der christlich-religiösen Bewusstseinsgestalt mit der altisraelitischen Prophetie deutlich. Entsprechend dazu heißt es in einem späteren Textfragment: „Das Christentum hat zu seiner [sc. weltanschaulichen] Voraussetzung […] einen ethischen Monotheismus der Freiheit, wie er sich in der jüdischen Religiosität entwickelt hatte“ (II 505). Wie hat sich dessen weitere Entwicklung in Dil­theys Augen nun vollzogen? Damit nehmen wir den oben liegengelassenen Faden wieder auf und kommen zum nächsten Punkt. (3) Dil­they hat sich mit jener Frage ausführlich beschäftigt und sie in weiträumigen und perspektivenreichen Analysen untersucht. Wir konzentrieren uns auf die Hauptlinie seiner religionsgeschichtlichen Konzeption.209 Erste wesentliche Momente derselben finden sich wiederum in der Einleitung. Es war bereits darauf hingewiesen worden, dass mit der Entstehung des Christentums für Dil­they eine neue Bewusstseinsstellung erreicht worden war, deren wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung darin zu erblicken ist, dass hier ein neuer Erkenntnisstandpunkt formuliert worden sei, der den ‚griechischen Objektivismus‘ überwunden habe. Der damit gegebene Umschwung in der menschlichen Selbst- und Weltauffassung kann Dil­they zufolge kaum überschätzt werden. Dies sucht er durch eine bewusst anachronistische Betrachtung zu illustrieren. So sei mit der christlichen Entdeckung der Innerlichkeit des Wirklichkeitsbezugs prinzipiell bereits ein Zugang zu derjenigen Realitätsschicht gewonnen worden, von der her viel später dann die Konstitution menschlicher Wirklichkeitserfahrung rekonstruiert worden sei, nämlich ausgehend von den ‚Tatsachen des Bewusstseins‘.210 „Hätte gleich damals dieser Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entsprechende Wissenschaft entwickelt: so hätte diese in einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung bestehen müssen“ (I 251).211 Für den blicken ist und sich angesichts dessen als notwendig erweist: Das „religiöse Leben [ist] genötigt […], sich in einem Vorstellungszusammenhang auszudrücken“ (I 279). 209  Eine der frühesten Skizzen zu den Grundzügen von Dil­theys Sicht der Christentumsgeschichte findet sich bei H. Richert: Dil­they als Religionsphilosoph, 60–64. 210  „Sollte die Bedeutung der christlichen Erfahrung und ihres Inhaltes festgestellt werden, so führe das in eine Analysis der Tatsachen des Bewußtseins zurück. Denn im christlichen Bewußtseinsstande war zuerst eine Geistesverfassung gegeben, welche eine erkenntnistheoretische Grundlegung mit dem positiven Ziele, die Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte“ (I 257). 211  Zu dem dahinter stehenden erkenntnispsychologischen Programm Dil­theys siehe oben die Abschnitte III.1.a–d.

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Fortgang der Christentumsgeschichte, wie Dil­they sie schreibt, ist jedoch entscheidend, dass diese Möglichkeit nicht ergriffen worden ist212  – und letztlich auch noch gar nicht ergriffen werden konnte. „Dies war in der Übermacht der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Christentum nun langsam sich geltend zu machen begann“ (I 251). Uns interessiert an dieser Stelle wieder weniger der wissenschaftsgeschichtliche Aspekt als vielmehr der religionsgeschichtliche  – so sehr beide für Dil­they freilich miteinander zusammenhängen. Zwei Gesichtspunkte sind es, die er diesbezüglich besonders hervorhebt. Erstens sei es im Verlauf der weiteren Entwicklung zur Fortsetzung des metaphysischen Denkens gekommen, wenn auch auf anderer inhaltlicher Grundlage. Was Dil­they hierbei vor Augen steht ist der Zeitraum „vom Schluß des apostolischen Zeitalters bis zu Gregor dem Großen und dem Ende des sechsten Jahrhunderts“ (I 257). Zu dessen Beginn fallen die großen Konzilsbeschlüsse, die aus dem Ringen der unterschiedlichen christlichen Parteien um eine angemessene dogmatische Darstellung ihrer jeweiligen Frömmigkeitsintention hervorgegangen sind. Dil­they erkennt die prinzipielle Berechtigung dieses Anliegens, nämlich „den Gehalt seiner [sc. des Christentums] Erfahrung zu klarem Bewußtsein bringen“ (I 258) zu wollen, durchaus an. In der spezifischen Ausbildung jener dogmatischen Vorstellungswelt – deren wichtigste Ergebnisse das Trinitätsdogma (Konzil von Konstantinopel 381) und die Zweinaturenlehre (Konzil von Chalcedon 451) bilden – erblickt er dann aber eine unglückliche Amalgamierung des christlich-religiösen Bewusstseins mit griechischem Denken, die zu einer Art Verfremdung der Innerlichkeit jenes Bewusstseins durch verstandesmäßige Explikation mithilfe äußerer Vorstellungen geführt habe. „So war die Entwicklung dieses Gehaltes im Dogma zugleich seine Veräußerlichung […]. So wirkte nur zu vieles dahin, daß der Gehalt des Christentums in einem objektiven, von Gott aus abgeleiteten System dargestellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphysik entstand.“ (ebd.) Mit diesen Überlegungen schließt Dil­they sich partiell der Sichtweise Ritschls an, der bereits der Sache nach die – später dann von Harnack wirkmächtig formulierte – These eine ‚Hellenisierung‘ des Christentums vertreten hatte.213 Allerdings weist Dil­they darauf hin, dass die damit verbundene Rationalisierung nicht bloß als von außen übergestülpt anzusehen, sondern zugleich durch innere Faktoren bedingt ist, die bei allen Hochreligionen zu finden seien, die um eine systematische Ordnung ihrer Glaubensvorstellungen bemüht sind.214 212 „[D]ieser innere Zusammenhang, welcher in bezug auf die Begründung der Wissenschaft zwischen dem Christentum und einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntnis besteht, hat im Mittelalter eine entsprechende Grundlegung der Wissenschaft nicht hervorgebracht“ (I 251). 213 Vgl. W. Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, 122 f. 214  So heißt es in der oben zitierten Stelle nicht nur, das Christentum habe eine der inneren Erfahrung entsprechende Erkenntnishaltung aufgrund der Übermacht der antiken Kultur nicht entwickeln können. Darüber hinaus stellt Dil­they klar heraus: „Alsdann wirkte von innen



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Neben dieser durch die ‚Hellenisierung‘ des Christentums erfolgten Umbildung sei im selben Zeitraum aber, zweitens, „eine andere Art von Veräußerlichung“ (I 258) erfolgt, die aus der Synthese der christlichen Religion zunächst mit dem sozialen und insbesondere rechtlichen Leben des römischen Reiches erwachsen sei. So wurde nun das „Dogma […] als ein autoritatives System von dem Willen Gottes ausgehend […] entwickel[t], und ein solches System entsprach dem römischen Geiste, welcher seine Rechtsformeln bis in das Innere der christlichen Glaubenslehre hineinführte“ (ebd.). Dil­they zieht diesen Gedanken an dieser Stelle nicht weiter aus. Er rekurriert damit aber offensichtlich auf die zunehmende Ausbildung der Ämterstruktur und deren Hierarchisierung, die in der Folgezeit zu einer zunehmenden Institutionalisierung der bischöflichen Macht führte, der alle wesentlichen Elemente des Gemeindelebens unterstanden und der die Fixierung kirchenrechtlich verbindlicher Ordnungen in Form synodaler Entscheidungsgremien oblag. Nach der sog. Konstantinischen Wende fand diese fortschreitende Entwicklung einer kirchlich-autoritativen Vermittlung ihren vorläufigen Höhepunkt. Das Christentum wurde mehr und mehr im Sinne eines äußerlich regulierten Vermittlungssystems durchorganisiert. So wenig sich freilich die Entwicklung des kirchlich-religiösen Lebens im Ausgang der apostolischen Zeit in dem eben Geschilderten erschöpft, so sehr ist die Betrachtung beider eben genannter Momente ausreichend, um die tiefgreifende Wandlung zu ermessen, die das Christentum in jener Zeit genommen habe. Bei allen zu beachtenden Differenzierungen der weiteren Theologie- und Kirchengeschichte halten sich beide Momente Dil­they zufolge bis ins Mittelalter hinein durch. So sei auch der „mittelalterliche Mensch“ (I 352) dadurch charakterisiert, dass bei ihm der „Reichtum höheren Daseins zu einem von der Kirche geleiteten Zusammenhang verwebt“ gewesen sei, „in dem das Christentum sich an eine metaphysische Wissenschaft verlor“. Und „[d]ieser Zusammenhang der Bildung hatte in der äußeren Organisation der Kirche seinen Körper“, die das Verhältnis zum „transzendente[n] Reich“ durch „Kleriker und Sakrament“ (I 353) regulierte. Hierin ist – über die beiden eben genannten Gesichtspunkte hinaus – ein weiteres Moment von Veräußerlichung zu erblicken. Angesichts des noch zu zeigenden Sachverhalts, dass Dil­they der Reformation dann eine entscheidende Rolle für die Überwindung jener eben beschriebenen soziokulturellen Formation zumisst, könnte es auf den ersten Blick so scheinen, als ob er die als ‚Mittelalter‘ bezeichnete Geschichtsperiode lediglich unter dem Vorzeichen eines verfallsgeschichtlichen Schemas deuten würde. Dem ist aber nicht so. Dil­they ist auf dieses Problem wiederholt zu sprechen gekommen und hat dabei nicht zuletzt Albrecht Ritschl dafür kritisiert, den mittelalterlichen Katholizismus einer zu pauschalen Negativbewertung unterzogen zu haben, die es in derselben Richtung das Verhältnis der religiösen Erfahrung zu dem Vorstellen“ (I 252, Hvh. v. Verf.). An diesem Gedanken hat Dil­they zeitlebens festgehalten (vgl. V 388f; II 508).

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

unmöglich mache, die geschichtlichen Kontinuitäten angemessen herauszustellen215 – ein Anliegen, das Ritschl selbst eigentlich auch hatte.216 Dass Dil­they die mittelalterliche Entwicklung der Christentumsgeschichte keineswegs lediglich als gänzliche Verirrung ansieht, sondern dass er in ihr entscheidende Entwicklungsmomente findet, hat er dabei ebenfalls schon in der Einleitung deutlich gemacht. Er kommt hier wiederholt auf Vertreter einer solchen Frömmigkeit zu sprechen, die gegenüber der Intellektualisierung, Hierarchisierung und Sakramentalisierung das Bewusstsein für den ursprünglichen Ausgangspunkt der christlichen Wirklichkeitsauffassung im religiösen Erlebnis wach gehalten habe. So verweist er etwa in einem Abschnitt mit der Überschrift „Erster Zeitraum des mittelalterlichen Denkens“217 neben anderen Parteien, die das damalige religiöse Feld gebildete hätten, auf eine solche, deren Verdienst es gewesen sei, dass sie „die im Christentum angelegte Erkenntnis entwickelte, daß die inneren religiösen Erfahrungen in einem verstandesmäßigen Zusammenhang nicht dargestellt werden können“ (I 274). Und so sehr diese Partei durchaus auch mit jenen kirchlich herrschenden Kräften zusammengehen konnte, trat sie doch „mehr losgelöst vom Autoritätsprinzip auf, insbesondere in den mystischen Schulen“ (I 274 f.). Den nach vorne weisenden Strang der religionsgeschichtlichen Entwicklung im Mittelalter erblickt Dil­they also in der Mystik, d. h. in derjenigen Richtung, die im Zuge der Ausbildung der christlichen Kirche zum hierarchischen und dogmatischen System als Gegenbewegung entstanden war. Dil­they bietet allerdings weder eine begriffliche Fixierung noch eine geschichtlich klare Umgrenzung in Bezug darauf, was er unter diesem Phänomen genau versteht. Als repräsentative Autoren nennt er so unterschiedliche Figuren wie: Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor und Johannes Tauler. Was aus seinen Ausführungen deutlich wird ist der Sachverhalt, dass die von ihm ins Auge gefasste Bewegung insgesamt für eine Frömmigkeitshaltung steht, in der die religiösen Gehalte nicht so sehr in Gestalt metaphysischer Systeme expliziert werden. Stattdessen „unterhielten […] die Schulen der Mystik das Bewußtsein, daß das meta-physische Wesen des Menschen in der inneren Erfahrung, als Leben, auf eine individuelle, einen allgemeingültigen wissenschaftlichen Ausdruck ausschließende Weise gegeben ist“ (I 273).218 Man kann aber kritisch fragen, ob diese Beschreibung tatsächlich auf alle genannten Vertreter im gleichen Maße angewendet werden kann. In formaler Hinsicht kommt der Mystik für Dil­they also die Funktion zu, das religiöse Leben gleichsam gegenüber seiner Usurpation durch die metaphysisch-dogmatische Begriffsspekulation bewahrt zu haben. In inhaltlicher Hinsicht 215 Vgl. 216 Vgl.

II 514.

E. Mühlenberg: Epochen der Kirchengeschichte, 286.

217  I 273 ff.

218  „Die Independenz des persönlichen Glaubenslebens“  – gegenüber der theologischen Metaphysik – „wurde so von ihr durch Blüte und Untergang der mittelalterlichen Metaphysik hindurch gerettet“ (I 267).



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weist er ihr die Leistung zu, auch den spezifischen Gehalt des der christlichen Religiosität zugrunde liegenden Erlebnisses präsent gehalten zu haben. So heißt es in unmittelbarem Kontext einer Feststellung zur sittlich-religiösen Wahrheit, die als Erfahrung von der Unbedingtheit des sittlichen Willens aller Metaphysik als meta-physisches Bewusstsein vordiskursiv zugrunde liege: Diese „Erfahrungen des Willens in der Person […] können […] nicht zu zwingenden metaphysischen Schlüssen verwandt werden […]. [D]ie Inhaltlichkeit des menschlichen Willens [verbleibt] in der Burgfreiheit der Person. Hieran hat keine Metaphysik etwas ändern können, vielmehr hat jede mit dem Protest der hierin klaren religiösen Erfahrung zu kämpfen gehabt, von den ersten christlichen Mystikern ab, welche sich der mittelalterlichen Metaphysik gegenüberstellten und darum nicht schlechtere Christen waren, bis auf Tauler und Luther“ (I 385). Dil­they kann von der Mystik aus also eine Verbindung zur volitional-praktischen Frömmigkeitshaltung ziehen. Dafür spricht nicht nur die eben gesehene Verbindungslinie zu Luther, sondern auch die Bezugnahme auf Kant.219 Darüber hinaus hat er die mystische Frömmigkeit dafür gewürdigt, dass bereits durch sie die Einsicht angebahnt worden sei, dass der Glaube vornehmlich „ein rein ethisches Gut“ (II 208) sei – wofür er etwa auf die monastisch kultivierte Einübung der Tugenden von Gelassenheit und kontemplativer Freiheit verweist. Die Beurteilung der Mystik als einer die Grundintention des Christentums wach haltenden Frömmigkeitsrichtung und damit zugleich wichtigen Voraussetzung für die spätere Entwicklung dieser Religionsgestalt kann wiederum als Gegenthese zu der von Ritschl im ersten Band seiner Geschichte des Pietismus (1880) in Anschlag gebrachten Sichtweise gelesen werden, wonach Mystik und Reformation in einem antipodischen Verhältnis stünden. Darauf wird weiter unten nochmals zurückzukommen sein. (4) Dass sich das religiöse Potential der mittelalterlichen Mystik – wie noch zu zeigen ist  – in der Reformation Bahn gebrochen hat, hängt Dil­they zufolge tiefgreifend zusammen mit Verschiebungen des sozialen und kulturellen Lebens, wie sie sich im Zusammenhang der Entstehung der Neuzeit ergeben haben. Hierauf kommt er bereits in der Einleitung zu sprechen und hebt es auch in späteren Texten ausdrücklich hervor.220 Wir haben diese Verschiebungen schon im vorigen Abschnitt besprochen, so dass wir sie hier nicht nochmals beschreiben müssen. Im hiesigen Kontext sei vor allem an folgende Gesichtspunkte erinnert: 219  So endet die weiter oben zitierte Äußerung – dass die mittelalterliche Mystik die ‚Independenz des persönlichen Glaubenslebens gerettet‘ habe – mit der Feststellung, „diese Independenz“ habe „in Kant […] eine wissenschaftliche Begründung“ (I 267) erhalten. 220  Die reformatorische Bewegung „stand in einem notwendigen Zusammenhang mit der ganzen Entwicklung der germanischen Gesellschaft. Denn es war der ganze Zustand der deutschen Gesellschaft in seinem Zeitalter, es war unter umfassenderem Gesichtspunkte die ganze Bewußtseinslage des Abendlandes, was den Fortschritt forderte, welchen die Reformatoren vollbracht haben, und zu demselben die Mittel gewährte“ (II 212).

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Zum einen sei es zu einer tiefgreifenden Veränderung in der äußeren Organisation der Gesellschaft gekommen. Diese Veränderung habe ihren Ort zunächst vor allem in den Städten gehabt, in denen sich die vergleichsweise feste Struktur des mittelalterlichen Verbandslebens erstmals zu lockern begann. Zum anderen hätten die damit entstehenden sozialpolitischen und ökonomischen Zustände dem Einzelnen größere Freiheitsspielräume ermöglicht, mit Folgen dann auch für das kulturelle Leben. Für den jetzt in Frage stehenden Punkt ist schließlich Dil­theys mentalitätsgeschichtliche Perspektive entscheidend, wonach im Zuge jener Entwicklung ganz neue innere Einstellungen erwachsen seien, die sich als persönliches Lebensgefühl, Stimmungen, Interessen, Vorstellungen artikulierten. Die gestiegene Bedeutung des Einzelnen sowie die damit einhergehende Bedeutungssteigerung innerer Haltungen des Menschen bilden in Dil­theys Augen gleichsam den allgemeinen Nährboden dafür, dass sich nun auch auf dem religiösen Feld solche Bewegungen hervortun konnten, die eher auf Innerlichkeit und Subjektivität der Frömmigkeit setzten. Diese religionsgeschichtliche Konsequenz hat Dil­they in der Einleitung allerdings bloß angedeutet. Deutlich ausgearbeitet findet sie sich in entsprechenden Aufsätzen aus späteren Jahren. So ist etwa in Auffassung und Analyse (1891) die folgende für unsere Fragestellung bemerkenswerte Einschätzung zu lesen: „In dem Ringen von Renaissance und Reformation um die Befreiung des Geistes ging die Reformation auf die religiöse Stellung des Bewußtseins in ihrer natürlichen freien Lebendigkeit zurück“ (II 16). ‚Renaissance‘ und ‚Reformation‘ kommen folglich nicht in einem Gegensatz, sondern in einer großen Nähe zu stehen: Beide repräsentieren unterschiedliche Einstellungen, innerhalb derer die Individuen sich in ihrer Bedeutung entdecken, einmal hinsichtlich der soziokulturellen Form ihres Weltverhältnisses, einmal im Fall ihres Gottesverhältnisses. Dil­theys Einschätzung ist damit geradezu diametral entgegengesetzt derjenigen Nietzsches, der ebenso Burckhardt gelesen hat, der in der Reformation aber gerade die Verhinderung der in der Renaissance vollzogenen ‚Umwertung der christlichen Werte‘ erblickte.221 Luther kommt dabei eine herausragende Rolle zu:222 Zum einen habe er die Religiosität von der metaphysischen Äußerlichkeit des dogmatischen Denkens gelöst; sodann habe er die Äußerlichkeit der kirchlichen Vermittlung aufgehoben und schließlich sei durch ihn ein neues praktisch-religiöses Ideal formuliert worden. Bemerkenswert ist bei dieser Würdigung, dass zwei Elemente keine Rolle spielen, die in der Regel als entscheidende Gesichtspunkte hervorgehoben werden, nämlich Rechtfertigungslehre und sola-scriptura-Prinzip.223 Vor allem im 221 Vgl. 222 Vgl.

F. Nietzsche: Der Antichrist, 250 ff.

II 56 ff.

223  Es ist dabei nicht etwa so, dass Dil­they beide einfach übersehen hätte. Im Gegenteil, er kommt sogar ausdrücklich auf sie zu sprechen. Er erblickt in ihnen jedoch nicht den springenden Punkt der reformatorischen Frömmigkeit. „Ich leugne durchaus, daß der Kern der reformatorischen Religiosität in der Erneuerung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung



5.  Religion als Fall und Objekt von Verstehen

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Hinblick auf die ersten beiden Hinsichten zeigt sich für Dil­they, dass Luthers Standpunkt in gewisser Hinsicht als Weiterentwicklung der mittelalterlichen Mystik angesehen werden kann. So gilt es für ihn auszusprechen, „was Luther rückwärts mit der deutschen Mystik […] verbindet“ (II 55).224 Damit hat Dil­they eine Einsicht vorweggenommen, die durch die spätere Luther-Forschung dann nachdrücklich herausgearbeitet worden ist.225 An dieser Stelle ist auf Dil­theys Verhältnis zur historischen Beurteilung der Mystik durch Albrecht Ritschl zurückzukommen. Ritschl hatte diese, wie gesagt, in eine fundamentale Oppositionsstellung zum Protestantismus gebracht,226 nicht zuletzt deswegen, weil er damit der zeitgenössisch verbreiteten Sichtweise entgegentreten wollte, die Vertreter der mystischen Frömmigkeitsbewegung im Mittelalter könnten als eine Art ‚Reformatoren vor der Reformation‘ angesehen werden.227 Im Unterschied dazu bestimmt er die mittelalterliche Mystik – wegen ihrer Aufnahme platonischer Elemente – geradezu als ein ‚unterchristliches‘ Unternehmen und als entschiedenen Ausdruck katholischer Frömmigkeit. Zudem stünde sie durch ihr kontemplatives Wesen im Gegensatz zur Reformation mit ihrem weltgestaltenden Charakter. Wilhelm Herrmann hat diese Sichtweise später fortgeschrieben. Dil­they hat Ritschl darin zugestimmt, dass vorreformatorische Mystik und reformatorische Frömmigkei aus den eben beschriebenen Gründen nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen.228 Aber in der harten Frontstellung, die Ritschl zwischen beiden aufmacht, übersehe dieser die kritische Funktion der ersteren. In einem späten Textfragment bemerkt Dil­they diesbezüglich: „Dies ganze Verhältnis kann aber nur verstanden werden, wenn man den von Ritschl eingenommenen Standpunkt bloßer polemischer Abgrenzung vom Katholizismus und seinen Leistungen aufgibt. Das ist der Standpunkt des Symbolikers, nicht des Geschichtschreibers“ (II 514). Bevor wir den weiteren Gang von Dil­theys religionsgeschichtlicher Darstellung betrachten, sei an dieser Stelle eine mögliche Irritation seiner weltanschauungstypologischen Einordnung der Reformation angesprochen. Dil­they ordnet durch den Glauben enthalten ist […]. Ich muß sonach auch in Abrede stellen, daß der Zurückgang auf die Schrift als die zureichende Quelle für den christlichen Lebensprozeß der Kern des reformatorischen Glaubens sei“ (II 211). Denn beide Motive seien zum einen schon bei früheren Autoren zu finden, zum anderen seien sie auch von Zeitgenossen Luthers vertreten worden, ohne dass diese darum der reformatorischen Bewegung beigetreten wären. Dil­they zufolge mache es darum keinen Sinn, sie zu den entscheidenden Grundeinsichten zu stilisieren. 224  „Indem Luther dies vollbringt, schließt in ihm vollends die tiefste Bewegung des Mittelalters, das franziskanische Christentum und die Mystik ab“ (II 58). Vgl. auch im Pantheismus: II 325. 225  Vgl. dazu jetzt V. Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. 226  Vgl. zum Folgenden G. Neugebauer: Die Religionshermeneutik Max Webers, 286– 291. 227  So der Titel und die These von Carl Ullmanns zweibändigem Werk Die Reformatoren vor der Reformation (1841/42). 228 Vgl. II 207, wo sogar die Formel der ‚Reformatoren vor der Reformation‘ begegnet.

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sie – wie ja das Christentum überhaupt – klar dem Typus des Freiheitsidealismus’ zu. So bezeichnet er an einer Stelle des Pantheismus „diese[ ] [sc. die reformatorische] Religionsform“ als einen „Idealismus der Schöpfung, der Person und der Freiheit“ (II 235). Dieser Einschätzung korrespondiert im Rahmen der von ihm konstruierten religiösen Kategorienlehre229 mit einer der beiden ‚Ausgangspunkte alles Glaubens‘, nämlich der der ‚Verantwortlichkeit der Person‘ – dem Dil­they den anderen Ausgangspunkt der ‚Abhängigkeit und Verwandtschaft im Verhältnis zu dem Universum und seinem Grunde‘ gegenüberstellte. Jene reformationstheoretische Sichtweise mag auf den ersten Blick verwundern. Denn so sehr etwa Luther auch die Rede von der ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ geführt hatte: In letzter Hinsicht hatte er die menschliche Freiheit nicht gerade positiv gewürdigt. Das dürfte auch Dil­they nicht entgangen sein. Die von ihm vorgenommene kategoriale Einordnung wird daher nur auf Basis seiner religionstheoretischen Grundlage nachvollziehbar. Ihr zufolge resultieren die religiöse Vorstellung eines personalen Gottes und einer Schöpfung der Welt aus einer solchen Wirklichkeitsdeutung, in der der Mensch ein Bild von der Welt als ganzer nach Analogie subjektiver Willenserfahrung entwirft.230 Das bedeutet aber: Auch dann, wenn der Mensch sich in weiterer Folge als Geschöpf Gottes begreift, von dem er schlechthin abhängig ist, so findet diese religiöse Sichtweise letztlich im menschlichen Freiheitserleben ihren Ursprung. Ganz ähnlich hatte es übrigens auch Albrecht Ritschl gesehen,231 dessen Religionsphilosophie Dil­they sich an diesem Punkt – unbeschadet jener Differenz – durchaus verpflichtet erweist. (5) Den weiteren Gang der christlichen Religion beschreibt Dil­they vorrangig im Blick auf die protestantische Bewegung.232 Dabei geht er so vor, dass er zunächst die geschichtlichen Schranken des reformatorischen Aufbruchs und der daraus hervorgehenden Transformation des religiösen Lebens hervorhebt. Dadurch kann er Entwicklungspotentiale identifizieren, deren allmähliche Realisierung er dann der nachreformatorischen Zeit zuschreibt. Die Schranken erblickt Dil­ they vor allem in drei Aspekten: Als erstes stellt er auf den Umstand ab, dass die Reformation ihr soziales und religiöses Reformanliegen nur teilweise umgesetzt habe und schon bald auf halbem Wege stecken geblieben sei. Er nennt hierbei eine ganze Reihe zusammenwirkender Faktoren, macht einen der Hauptpunkte 229  Siehe

dazu oben Abschnitt III.5.a.ii. transzendente Bewußtsein eines Geistigen ist ja selbst nur die Projektion des größten religiösen Erlebnisses, in dem der Mensch die Independenz seines Willens vom ganzen Naturzusammenang erfaßt“ (V 390, vgl. V 403). 231  Die „Welterschaffung durch Gott […] [wird] nur in Analogie mit der ursächlichen Kraft unseres auf unsere Zwecke gerichteten Willens [richtig gedacht]“ (A. Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion, § 11, Anm. c). 232  Dahinter steht die unausgesprochene These einer höheren Modernitätstauglichkeit des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus, wie sie für die zeitgenössische liberale Theologie insgesamt charakteristisch war. 230 „[D]as



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aber daran fest, dass die Reformation sich zum einen als Wiederherstellung des urchristlichen bzw. apostolischen Zustandes zu begreifen versuchte, zum anderen aber mit ihrer religiösen Aufwertung der Weltlichkeit einen Standpunkt gewonnen hatte, der sich von der damaligen Weltstellung des Christentums tiefgreifend unterschied. Aufgrund dessen konnte sie von dort her keine Antworten auf die gegenwärtigen Fragen finden, und so ermangelte die neue religiöse Formation „ausreichende[r] Prinzipien zur Gestaltung der Gesellschaft“ (II 70). Dies hatte in Dil­theys Augen einen nicht unerheblichen Einfluss darauf, dass „aus dieser neuen Willensstellung des Menschen nicht in gerader Linie die erstrebte Neuordnung der kirchlichen, bürgerlichen und politischen Gesellschaft sich ergab“ (ebd.). Stattdessen begann die reformatorische Bewegung „etwa seit 1524 zu erstarren“ (II 72). Der zweite Umstand, auf den Dil­they abstellt, betrifft den Sachverhalt, dass der Protestantismus schon bald eine Rückkehr zur Metaphysik vollzog, wodurch die reformatorische Grundlegung der Frömmigkeit in Herz und Gewissen partiell zurückgenommen wurde. Im Blick auf diese von der lutherischen Orthodoxie vertretene Theologiekonzeption hält Dil­they lapidar fest: „Die Danaidenarbeit der theologisch-metaphysischen Systembildung begann in dieser Kirche von neuem“ (II 73). Der dritte von Dil­they in Anschlag gebrachte Aspekt betrifft seine Einschätzung der Bedeutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre. In ihrer traditionellen Gestalt steht diese bekanntlich für die soteriologische Auffassung, dass der Einzelne niemals dahin zu kommen vermag, vor dem Maßstab göttlichen Gerichts qua eigener Anstrengung selbst für seine Rechtfertigung sorgen, sondern dieselbe nur qua Glauben an das durch Jesus Christus vollbrachte Heilswerk erlangen zu können. Dil­they hebt hinsichtlich dieser Lehre nachdrücklich hervor, dass er sie nicht nur nicht dem Wesenskern der protestantischen Religion zurechnet, sondern dass er sie darüber hinaus geradezu als eines seiner rückschrittlichen Momente betrachte. Die Gründe seiner Einschätzung hat Dil­ they klar dargelegt. So macht er darauf aufmerksam, dass der rechtfertigungstheologische Vorstellungskomplex auf bestimmten dogmatischen Fundamenten aufruht, ohne die jener gar nicht verstanden werden könne. Dabei sind es vor allem zwei Voraussetzungen, die er in diesem Zusammenhang hervorhebt: die Erbsündenlehre und die Lehre vom stellvertretenden Opfertod Christi.233 Beide hätten sich dem sittlich-religiösen Erleben und kritischen Nachdenken der Folgezeit als unhaltbar erwiesen, weswegen es nicht möglich sei, in jener Lehre einen modernitätstauglichen Bestandteil des reformatorischen Aufbruchs zu erblicken. Damit setzt er sich abermals von Albrecht Ritschls Luther-Deutung ab. Zwar hatte auch Ritschl herausgearbeitet, dass an die Rechtfertigungslehre in ihrer juridisch-forensischen Gestalt der Reformationszeit nicht mehr ohne weiteres angeschlossen werden könne. Auf Basis einer annerkennungstheoretischen Refor-

233 Vgl.

II 57.

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mulierung behalte sie aber weiterhin ihre religiös-theologische Bedeutung.234 Dil­they hat solchen Umkodierungsversuchen der alten Lehre im Blick auf den modernen Menschen jedoch keine Erfolgsaussichten zugebilligt. Die „Rechtfertigung allein durch den Glauben […] ist aber dem heutigen Menschen gänzlich fremd“ (II 517). Damit will Dil­they nicht etwa einer Bestreitung der essentiellen Funktion von Fehlbarkeits- und Schuldbewusstsein das Wort reden.235 Er will dieses Bewusstsein auch nicht rundheraus seiner religiösen Tiefendimension entledigen.236 Aber: „Sündenbewußtsein in Luthers Sinne ist das Bewußtsein gänzlicher Unfähigkeit zum Guten“. Das religiöse Problem, auf das die Rechtfertigungslehre antwortet  – wie erlange ich Gerechtigkeit (Luther) oder Anerkennung (Ritschl) vor Gott – stellt in Dil­theys Augen nicht mehr die Frage des modernen Menschen dar: „Auf niemandem von uns drückt der Widerstreit zwischen göttlichen Heiligkeitsansprüchen und unserem Handeln“ (ebd.). Damit zeigt Dil­they erneut eine Nähe zu Harnack, der in dieser Sache in ähnlicher Weise von Ritschl abgerückt war und den durch die Reformation vollzogenen religionsgeschichtlichen Fortschritt durchaus nicht in deren rechtfertigungstheologischer Konzeption erblickt hatte.237 Gegenüber dem prima facie naheliegenden Einwand, ohne Rechtfertigungslehre wäre die ideelle Gestalt des Protestantismus überhaupt nicht zu denken, ist daran zu erinnern, dass diese Lehre sich auch in Luthers Großem Katechismus nicht findet. Und auch die bekannte Rede vom ‚articulus stantis et cadentis ecclesiae‘ findet sich so bei Luther nicht, sondern verdankt sich späteren Zuschreibungen.238 Gleichwohl kann man Dil­they gegenüber fragen, ob es tatsächlich gänzlich unmöglich ist, jenem Theologumenon eine auch heute noch tragfähige Gestalt abzugewinnen.239 Auch wenn man hier nicht ganz so pessimistisch sein mag, wie er: Von ihm kann man lernen, welche erheblichen Übersetzungsleistungen dabei in Anspruch zu nehmen sind. Den weiteren Entwicklungsgang der christlichen Religion beschreibt Dil­they, indem er ihn mithilfe dreier historiographischer Reflexionsbegriffe strukturiert, die jeweils für unterschiedliche religiös-theologische Bewegungen stehen. Die erste derselben bezeichnet er als „orthodoxe[ ]“ (II 74) bzw. „kirchliche Theologie“ (II 110). Dies bezieht sich auf Personen, die an diejenige Gestalt der Reformation anknüpfen, die gegenüber den teils ungestümen Entwicklungen der 234  Die Rechtfertigung des Menschen besteht für Ritschl im Vertrauen darauf, dass Gott den Menschen trotz seiner Unvollkommenheiten in gnädiger Zuwendung und verzeihender Liebe prinzipiell anerkennt (vgl. U. Barth: Das gebrochene Verhältnis zur Reformation, 132 f.). 235  „Wir leiden, wenn wir das Reine in uns verletzen, andere Menschen schädigen, objektiven Anforderungen nicht entsprechen“ (II 517). 236  „Wir beziehen dies [sc. Leiden] auch auf unser Verhältnis zu jenem unsichtbaren Reich, in das wir hinzuwachsen streben“ (ebd.). 237 Vgl. U. Barth: Die Ambivalenz des reformatorischen Erbes, 381. 238 Vgl. T. Mahlmann: Articulus stantis et (vel) cadentis ecclesiae. 239 Vgl. W. Gräb/D. Korsch: Selbsttätiger Glaube.



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ersten Jahre ein stärkeres Maß an Ordnungsdenken entwickelten. Der gemeinsame Nenner aller hierunter subsumierten Repräsentanten besteht darin, dass sie der Kirche nicht zuletzt die Aufgabe zuweisen, „Wahrheit über unseren Zusammenhang mit dem Unsichtbaren zu gewähren“ (II 108). Da aber „der kirchliche Theologe nicht nur persönlich wahrhaft sein, sondern auch mit allen objektiven Wahrheiten in Übereinstimmung leben“ (II 109) muss, sind in diesem Zusammenhang durchaus große Verdienste auf wissenschaftlichem Felde erworben worden. Dil­they illustriert dies vor allem im Blick auf die Entstehung einer wissenschaftlichen Auslegungslehre bei Flacius, dessen Weiterentwicklung bei Glassius und Franz sowie der entsprechenden Kritik Richard Simons, wobei er auf die entsprechenden – bereits an anderer Stelle besprochenen – Partien aus der Preisschrift zurückgreift.240 Die Grenze des kirchlich-theologischen Unternehmens besteht für ihn darin, dass deren Vertreter noch meinten, letztlich auch das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen in Form dogmatischer Vorstellung objektiv bestimmen zu können. Für die zukunftweisenden religiös-theologischen Einsichten stehen vor allem die anderen beiden Richtungen, deren Vertreter aus dem sogenannten linken Flügel der Reformation hervorgegangen sind bzw. den später daran anschließenden Bewegungen angehören. „Und zunächst vollzog sich in Personen, die sich Luther unabhängig gegenüberstellten, sowie in den von Zwingli ausgehenden Kirchen und Sekten […] der theologische Fortschritt des 17. Jahrhunderts“ (II 73). Bei aller historischen Feindifferenzierung, die Dil­they der jeweiligen Beschreibung jeder der beiden Richtungen zuteilwerden lässt, kann in gewisser Zuspitzung festgehalten werden, dass die eine vornehmlich für die kritische Arbeit an den überkommenen biblischen und dogmatischen Voraussetzungen steht, während die andere eher die konstruktiven Unternehmungen beschreibt, in denen die mystisch-reformatorische Tendenz auf Verinnerlichung der Religion fortgesetzt worden ist. Zunächst zur kritischen Seite. Dil­they bezeichnet sie als theologischen „Rationalismus“ (I 129) und hat dabei vor allem Sozinianer und Arminianer vor Augen. Dabei macht er deutlich, dass er sich mit dieser Einschätzung an David Friedrich Strauß orientiert,241 der beide Bewegungen in seinem Werk Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1840) jeweils als modernitätsweisende Kräfte in Stellung gebracht hat.242 Die Arminianer zeichneten sich theologisch vor allem durch die Pflege bibelhumanistischer Tradition in religiös toleranter Geisteshaltung aus.243 Dil­they 240 Vgl. II 115–129; dieser Abschnitt ist ein wortwörtliche Übernahme von XIV 597–611; siehe dazu oben den Abschnitt II.1.c. 241 Vgl. II 137. 140. 242 Im ersten Band seiner Schrift Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung kommt Strauß wiederholt auf jene beiden Bewegungen als kritische Instanzen zurück, die die überkommene Lehrgestalt durchbrochen haben. Dil­they nennt dieses Werk nicht. Aus sachlichen Gründen ist aber davon auszugehen, dass er sich hierauf bezieht. 243 Vgl. T. Kaufmann: Arminianer.

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selbst stellt besonders auf ihre Verdienste um die von ihr angestoßene neuzeitliche Bibelkritik ab. Dies schildert er wiederum unter Rückgriff auf Abschnitte der Preisschrift, und zwar derjenigen, in denen er sich der Entstehung der grammatisch-historischen Interpretation gewidmet hatte (Grotius, Clericus, Turretini, Wettstein),244 und die er hier weitestgehend wörtlich übernimmt.245 Diesem von Dil­they schon frühzeitig in den Blick genommenen Zweig innertheologisch-kritischer Gelehrtenarbeit stellt er einen weiteren zur Seite, nämlich die sog. Sozinianer246 – wobei freilich beide Gruppen in einem engen Verhältnis zueinander standen und nicht scharf getrennt werden können. Dil­they fokussiert die letzte Bewegung als eine entscheidende Triebkraft neuzeitlicher Religionsentwicklung und sieht hier denn auch den entscheidenden Ort, an dem sich die weiter oben bereits in Rechnung gestellte Einsicht Bahn gebrochen habe, dass sowohl die Erbsündenlehre als auch der Opfergedanke unter moralisch-ethischer Perspektive nicht aufrecht zu erhalten sei: Die Erbsündenlehre ist unter logischen,247 theologischen,248 freiheitstheoretischen249 sowie ethischen250 Aspekten unannehmbar; ähnlich krankt die christliche Opfer- und Satisfaktionslehre an theologischen Problemen,251 vor allem aber an einer sittlich-religiösen Widersinnigkeit.252 Angesichts dieser ethischen Reflexionsarbeit kann Dil­they statt von ‚Rationalismus‘ dann auch von „moralische[m] Rationalismus“ (II 110) sprechen. Bei alledem stellt er ausdrücklich in Rechnung, dass die Kritik mit ihrem verstandesmäßi244 Vgl. 245 Vgl.

XIV 615–618. II 133–136. Siehe dazu oben Abschnitt II.1.d. i.

246  Dil­they spricht von der „Auflösung der Kirchenlehre durch Sozinianer und Arminianer“ (II 129). 247  „Diese eine Handlung erklärt schlechterdings nicht die gänzliche Verderbnis, von der die Kirchenlehre spricht“ (II 141). 248  „Ebenso ist das Übel unmöglich durch die Sünde in die Welt gekommen. Denn alle Endlichkeit ist nach ihrer Natur mit ihm behaftet“ (ebd.). 249  Es ist nicht klar, warum „dieser Mensch nun, da er getan, was er nicht sollte, aber was er doch konnte, das ganze Vermögen, weiterhin überhaupt zu können, das Gute zu können, einbüßen“ (ebd.) soll. 250  „Unerträglich ist die Lehre von der physischen Fortpflanzung der Sünde von Generation zu Generation, empörend und widerlich geradezu die Vererbung der Schuld und der Verdammnis“ (ebd.). 251  Dil­they nennt folgende Gesichtspunkte: erstens bedürfe Gott keines Blutopfers; zweitens widerspreche es der göttlichen Gerechtigkeit, Schuldige ungestraft zu lassen und einen Unschuldigen zu sanktionieren; drittens stehe die Sanktionsvorstellung im Gegensatz zu derjenigen der göttlicher Barmherzigkeit; viertens könne der Tod eines einzigen Menschen nicht für die Menschheit insgesamt genügen; fünftens könne der Tod der göttlichen Natur in Christus nicht für von Menschen verursachte Schuld herhalten; sechstens schließlich sei nicht klar, inwiefern aus Christi Gehorsam ein Überschuss für andere abfallen könne (vgl. II 141 f.). 252  „Der Kern der tiefsinnigen, uralt menschlichen Opferidee liegt in der Hingabe und dem Verzicht eben dessen, welcher ein Opfer darbringt, welchem es dann auch zugute kommt, eben weil es aus seinem Verzicht hervorgeht. In diesem Sinne ist jede entsagende, aus der Tiefe der Religion entsprungene Handlung ein Opfer. Wie verschoben ist doch nun dies ganze Verhältnis in der paulinischen Anwendung dieses Symbols auf den Tod Christi! Hier ist der, welchem das Opfer zugute kommt, ein anderer als der, welcher es bringt“ (II 142).



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gem Scharfsinn nicht immer den ursprünglichen religiösen Intentionen gerecht geworden sei, die sich vielfach in den altchristlichen Dogmen artikulierten253 – wie beispielsweise das Ringen darum, den religiösen Eindruck der Person Jesu mit dem Sachverhalt seiner Menschlichkeit in Ausgleich zu bringen. Unbeschadet dessen habe die sozinianische Dogmenkritik in formaler Hinsicht der Einsicht zur Durchsetzung verholfen, dass die ins metaphysische Denken gehobenen religiösen Vorstellungen keine absolute Geltung beanspruchenden Glaubensformeln darstellen.254 Denn sie erweisen sich als Ergebnis des Unternehmens, die religiösen Grundvorstellungen in begriffliche Fixierungen – Dil­they spricht von ‚Dogmen zweiten Grades‘ –255 zu überführen, deren gedankliche Spannungen und Widersprüche jedoch das Scheitern desselben deutlich machen. In materialer Hinsicht hebt Dil­they als Leistung vor allem die Bestreitung der christlichen Opferlehre positiv hervor.256 Die Wirkungsgeschichte der hier aufgefundenen Einsichten reiche dann über die spätere Aufklärungstheologie bis hin zu Kant und Schleiermacher. Soviel zur kritischen Richtung. Hinsichtlich der anderen, der konstruktiven verweist Dil­they auf solche Vertreter des religiös-theologischen Lebens, die man heute unter dem Begriff der Spiritualisten zusammenzufassen gewohnt ist. Die Entwicklung dieser Bewegung hat ihre geschichtlichen Anfänge bekanntlich ebenso in der Reformation und lässt sich von dort aus bis in die Moderne hinein verfolgen. Bei aller Heterogenität der ihr zuzurechnenden Personen und entsprechenden Programme besteht eine grundlegende Gemeinsamkeit darin, dass auf Basis der bereits in der mittelalterlichen Mystik angelegten und durch die Reformation zum Durchbruch gekommenen kirchenkritischen Motive die Unmittelbarkeit des Geistwirkens im Inneren des Menschen betont wird, was mit einer generellen Abwertung der Vermittlung durch Sakrament und äußere Kirchenbildung einhergeht.257 Zugleich verband sich damit häufig eine tolerante Grundhaltung hinsichtlich konfessioneller und religiöser Differenzen (Valentin Weigel, Dirck Coornhert),258 die unter Rückgriff auf stoizistisches Gedankengut in einer  – der Sache nach  – ‚natürlichen Religion‘ begründet werden kann (Jean Bodin).259 Neben den eben genannten Autoren wäre im Blick auf 253  Die „Kritiker [fühlten] das schlagende Herz in dem Körper nicht […], den sie sezierten […], was hatten diese Begriffe zu schaffen mit dem tiefsinnigen Geheimnis, das die altchristliche Dogmatik auszusprechen bestrebt gewesen war?“ (II 140). 254  „Und das ist nun die große Leistung dieser Kritik gewesen, daß sie den anmaßlichen Anspruch dieser Dogmen auf eine absolute Geltung ein für allemal vernichtet hat“ (II 137). 255 Zur Differenz von ‚Dogmen ersten‘ und ‚Dogmen zweiten Grades‘ siehe oben Abschnitt III.5.a.iv. 256 Wenn Dil­ they daher von einer „fortschreitenden Tendenz“ (II 79) des Christentums spricht, „den Opfergedanken […] endlich abzuschütteln“, dann hat er damit vor allem diesen, auch als „unitarische Richtung“ (II 80) bezeichneten Sozinianismus vor Augen. 257  Vgl. V. Leppin: Spiritualismus, I. 258 Vgl. H. Pfefferl: Weigel; A. de. Groot: Coornhert. 259  Vgl. C. Link: Bodin.

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III.  Das verstehenstheoretische Modell von Kultur und Religion

das Reformationszeitalter etwa auch an Hans Denck, Sebastian Franck, David Joris oder Kaspar von Schwenckfeld zu erinnern.260 Dil­they bringt dieser Bewegung die größte Wertschätzung entgegen und spricht von „der wissenschaftlich zukunftvollsten Richtung der Theologie“ (II 108). Die beiden Autoren, an denen er die Aspekte aufzeigt, die er als entscheidend erachtet, sind Sebastian Franck261 und Jean Bodin.262 Diesbezüglich hebt er eine ganze Reihe von Einsichten hervor, die sich in späterer Zeit als überaus bedeutsam erwiesen hätten, die aber bereits hier ihren Ursprung besäßen. Zu nennen wären die konsequente Grundlegung der Religiosität im moralisch-religiösen Vollzug, das Fokussieren von dessen subjektivem und innerlichem Charakter, die Auffassung religiöser Vorstellungen als Ausdrucksgebilde dieses inneren Vorgangs, die Annahme einer Geschichts- und Kulturgrenzen überschreitenden Gattungsallgemeinheit des religiösen Vermögens, und schließlich die damit verbundene Idee religiöser Toleranz. Gleichsam in idealtypischer Zuspitzung kann diese Bewegung darum mithilfe des gemeinsamen Merkmals beschrieben werden, „daß sie in der Geschichtlichkeit der einzelnen Religion, insbesondere des Christentums den Ausdruck eines Bewußtseinszusammenhanges sieht, welcher ewig in der Natur des Menschen und der Dinge gegründet ist“ (II 77).263 Dil­they sieht hierin nun insofern die ‚wissenschaftlich zukunftvollste Richtung der Theologie‘, als er in den eben genannten Punkten die Vorbereitung und partielle Vorwegnahme solcher religionsphilosophischer bzw. theologischer Positionen erblickt, wie sie dann auf dem Boden der Philosophie Kants und des deutschen Idealismus entstanden seien. Um diese ideengeschichtliche Linie zum Ausdruck zu bringen, kann er die hier in Frage stehende religiös-theologische Richtung denn auch als „transzendentale Theologie“264 bezeichnen. In ihrer Unterdrückung durch die Vertreter des sogenannten Hauptflügels der Reformation hat Dil­they – gerade aufgrund der historisch bedingten Nachvollziehbarkeit dieses Vorgangs –265 eine große Tragik gesehen.266 In der später auf transzendentalphilosophischem Boden ent260  Vgl. 261 Vgl.

V. Leppin: Spiritualismus, II.

II 80–89. 262 Vgl. II 145–153.

263  Die ihr zuzurechnenden „Schulen […] streben“, hiner „die gegebenen Formeln, Historien und Dogmen zurückzugehen […] auf ein immer und überall wirkendes menschlich Göttliches in der Seele, das alle diese Gestalten des religiösen Lebens hervorbringt“ (II 109). 264  II 109, vgl. 74. 77. 108 f. 145. 265  „Die Entscheidung gegen die Taufgesinnten“ – Dil­they unterscheidet noch nicht klar zwischen Täufern und Spiritualisten  – „ist durch die äußere politische Macht herbeigeführt worden: eine Notwendigkeit schon darum, weil ein Protestantismus ohne Widerstandsrecht und Schwert verloren gewesen wäre“ (II 78). 266  „Die grausame Verfolgung gegen sie durch Zwingli und Luther war eine der Ursachen für den Rückgang der Reformation“ (II 78). An anderer Stelle spricht Dil­they von der „gewaltsamen Unterdrückung der wissenschaftlich zukunftvollsten Richtung der Theologie“ (II 108), die zum Ergebnis gehabt habe, dass die „transzendentale Richtung, deren Heimat Deutschland war, […] sich dort der Kirchenlehre [fügte]“ und „ein kümmerliches und dumpfes Dasein [führte]“ (II 145).



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wickelten Religionstheorie Kants und seinen idealistischen und psychologischen Nachfolgern liegt demgegenüber die genuine Fortsetzung der ‚transzendentaltheologischen‘ Bewegung. Darüber hinaus hat er in ihnen geradezu den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung christlicher Religiosität erblickt. So heißt es in einem späten, unveröffentlicht gebliebenen Fragment: „Ich glaube, daß das Christentum keine Zeit von wohltätigerer Wirkung, freier von schlimmen Nebenwirkungen gehabt hat, als die, in der die Transzendentalphilosophie es ausgelegt hat“ (XIV 474). iv.  Religionsphilosophische Konsequenzen Den Ausgangspunkt dieses Unterkapitels hatte die Betrachtung der in der Forschung wirkmächtig vertretenen These gebildet, wonach Dil­theys religionstheoretische Konzeption auf eine pantheistische Position hinauslaufe. Dem gegenüber war zum einen daran erinnert worden, dass Dil­they bereits auf der Ebene der kategorialen Grundlegung seines Religionsbegriffs eine basale Spannung des religiösen Lebens in Rechnung stellt, die sich nach den beiden Seiten sowohl einer pantheistischen Weltfrömmigkeit als auch einer freiheitlich-personalistischen Religiosität auslegen kann. Dieser Sachverhalt war im Blick auf entsprechende Metareflexionen innerhalb der Einleitung zutage getreten, war dann aber auch im Pantheismus nochmals ausdrücklich zum Vorschein gekommen. Hier hatte Dil­ they damit die weitergehende These verbunden, dass die Beachtung jener Polarität auch zur Strukturierung der europäischen Religionsgeschichte herangezogen werden könne, so dass letztere sich in den Perspektiven einer polaren Typologie betrachten lasse. Dadurch hatte sich zum anderen gezeigt, dass die religionsgeschichtliche Entwicklung Europas Dil­they zufolge in der Moderne den doppelten Ausgang nicht nur einer Frömmigkeitsbewegung des Pan(en)theismus, sondern auch den einer personalistischen Religiosität kennt. So betrachtet er letztere keineswegs als eine Frömmigkeitsgestalt, die dem modernen Menschen nichts mehr zu sagen hätte, ganz im Gegenteil. Sie wird von ihm geradezu emphatisch gewürdigt. Denn der von ihm als ‚wissenschaftlich zukunftsvollsten Richtung der Theologie‘ bezeichneten Bewegung der ‚transzendentalen Theologie‘ wird nicht etwa nur ein Autor wie Goethe,267 sondern eben auch ein Denker wie Kant zugeordnet.268 Dil­they schreibt der ‚Religion der Personalität‘ also fraglos eine prinzipielle Funktion hinsichtlich der religiösen Selbst- und Weltdeutung des Menschen zu, die auch unter den soziokulturellen Bedingungen der Moderne nicht ihre Bedeutung verloren hat. Freilich ist dies in Dil­theys Augen nur insofern der Fall, als sich dieser Frömmigkeitstyp auf die neuzeitlich-modernen Verschiebungen von Gesellschaft und Kultur – an deren Zustandekommen die unter ihm versammelten Gestalten ja selbst maßgeblich mit beteiligt gewesen 267 Vgl.

268 Ebd.

II 109 f.

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sind – innerlich einlässt und die Transformation seiner selbst nicht zu unterdrücken sucht, sondern in ihrer prinzipiellen Geltung anerkennt. Denn unter den kulturellen Bedingungen der Religion in der Moderne hat das Christentum in Dil­theys Augen nur dann eine Chance, wenn es die durch die ‚transzendentale Theologie‘ angestoßene Entwicklungslinie fortsetzt und sich nicht an alte offenbarungstheologische oder metaphysische Bestände festklammert.269 Festzuhalten bleibt, dass die These einer einseitigen Pantheismus-Präferenz Dil­theys dessen religionsphilosophischer und religionsgeschichtlicher Grundauffassung nicht gerecht zu werden vermag. Im Blick auf das von ihm verwendete Religionsmodell kann nun freilich gefragt werden, wie sich jene beiden Seiten – Pantheismus und Personalismus – zueinander verhalten. Bei Dil­they ist diesbezüglich zu lesen: „Nie werden wir diese beiden Betrachtungsweisen in der Einheit eines systematischen Gesichtspunktes zusammen zu denken imstande sein. Die Philosophie vermag nur das Recht beider zur Erkenntnis zu bringen“ (II 340). Auf den ersten Blick scheint diese Äußerung nahezulegen, dass Dil­they von jeglichem Antwortversuch völlig abdizieren würde. Die Feststellung, beide religiösen Perspektiven stünden in einem „unaufhebbaren Gegensatz“ (ebd.) und könnten darum nicht mittels ‚systematischer Gesichtspunkte zusammengedacht‘ werden, wäre damit so zu verstehen, dass eine geschichtlich-deskriptive Erfassung des religiösen Lebens auf eine letzte unaufhebbare Grunddifferenz stößt, nach der sich die fraglichen Phänomene sortieren lassen. Für ein religionswissenschaftliches Verfahren wäre ein solcher Befund denn auch unproblematisch. Er liefe auf die – schon als solche bedenkenswerte – Grundthese hinaus, dass das individuelle und kulturelle Leben der Religion durch eine unhintergehbare antinomische Spannung gekennzeichnet wäre. Sonach gibt es zwei grundsätzliche „Ausgangspunkte alles Glaubens“ (II 339), von denen her sich ein Subjekt seine Lebenswirklichkeit als ganze zurecht legen kann: vom emotiv dominierten Ganzheitserleben oder vom willentlich bedingten Freiheitserleben aus. In der neueren Religions- bzw. Theologiegeschichte wird ersteres etwa durch den jungen Schleiermacher, letzteres durch Ritschl repräsentiert. Der damit gegebenen Polarität korrespondieren auf geschichtlicher Ebene entsprechende Religionskulturen, die durchaus auch in Konflikt miteinander geraten können.270 Über das Konstatieren einer solchen Differenz ist auf diesem methodischen Standpunkt nicht hinauszukommen. 269  „Ich stelle diese geschichtliche Anschauung voraus; im weiteren Verlauf werde ich erweisen, daß man entweder sie annehmen oder die christliche Kirche als zum Verfall oder Abbruch bestimmt ansehen muß, wie Strauß oder Feuerbach“ (XIV 476). 270 Im Pantheismus zeigt Dil­they dies etwa mit Blick auf die Verdrängung Brunos durch die reformatorische Bewegung: „[I]n den nordisch-protestantischen Ländern hat auf lange hinaus der Kern dieser Religionsform, der Idealismus der Schöpfung, der Person und der Freiheit, jede pantheistische Regung zurückgedrängt oder in die Opposition zu dem herrschenden Geiste getrieben“ (II 325).



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Wie jüngst Gunter Scholtz in Erinnerung gerufen hat, setzen sich für Dil­ they „beim Studium der Religion allgemeine Theorie und historische Forschung wechselseitig voraus“.271 Das bedeutet zum einen, was die Religion sei, das kann nur in kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte erhoben werden. Umgekehrt bedeutet das zum anderen aber auch, dass geschichtlichphänomenologische Befunde bei ihm nicht einfach auf der Ebene ‚historischer Forschung‘ zu stehen kommen, sondern immer auch auf eine ‚allgemeine Theorie‘ zielen. Führt man sich das vor Augen, dann stellt sich das Problem des Verhältnisses von ‚Pantheismus‘ und ‚Personalismus‘ nochmals anders dar. Dann kann es nicht genügen, es einfach beiseite zu schieben, sondern dann muss das Resultat der Geschichtsbetrachtung gleichsam auch einen systematischen Gewinn abwerfen. Und vielleicht ist ein solcher Gewinn sogar in jener zitierten Feststellung von Dil­they enthalten. Jedenfalls möchte ich abschließend ein Angebot machen, ihr auch in religionsphilosophischer Hinsicht eine eigene Pointe abzugewinnen, die über das bisher Gesagte hinausreicht. Dafür sei zunächst nochmals auf Dil­theys Weltanschauungstypologie zurück zu kommen, wie sie im ersten Abschnitt dieses Kapitels skizziert worden war. Denn darin macht Dil­they auf einen Sachverhalt aufmerksam, der sich auf die Religionsproblematik übertragen lässt und der ein bemerkenswertes Licht auf die eben aufgeworfene Frage wirft.272 Es hatte sich gezeigt, dass Dil­they mit zwei nicht-reduktionistischen Typen von Weltanschauung rechnet, dessen einer diejenige Grundhaltung bezeichnet, in der die Freiheitserfahrung des Menschen in den Vordergrund gestellt wird (Idealismus der Freiheit), während der andere Typ die menschliche Ganzheitserfahrung fokussiert (Objektiver Idealismus). Dabei hatte Dil­they ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich auch Zwischentypen oder nochmals anders gelagerte Strukturierungen bilden lassen.273 Für unseren Zusammenhang verbindet sich damit der wichtige Sachverhalt, dass jene Unterscheidung keine starre Trennung darstellt, sondern dass auch Bezüge der Unterscheidungsglieder in Rechnung zu stellen sind.274 Von hier aus lässt sich der Gedanke entwickeln, dass die durch eine der beiden idealistischen Weltanschauungstypen bezeichnete Grundeinstellung der jeweils anderen nicht einfach entgegengesetzt ist, sondern mit ihr in einem polaren Verhältnis steht, innerhalb dessen die eine Seite auf die jeweils andere verweist. So kommt beispielsweise der subjektive Freiheitsvollzug nicht ohne Inanspruchnahme einer intersubjektiven Ordnung aus. Umgekehrt bedarf letztere des ersteren, um nicht als tote Struktur zu bestehen, sondern sich in le271  G. Scholtz: Menschliche Natur und Religionsentwicklung bei Dil­they, 279. 272  Die folgenden Ausführungen orientieren sich an J. Dierken: Einleitung. Religion

als Kommunikation von Ganzheits- und Kontrafaktizitätsbewusstsein, indem sie die darin angestellten Überlegungen auf Dil­they zu übertragen suchen. 273  So sind „diese großen philosophischen Richtungen durch Zwischenglieder miteinander verbunden“ (IV 548). 274  Dil­they hebt diesen Umstand allerdings meistens weniger hervor, weil es ihm gerade um die mit jener Differenzierung verbundene heuristische Sortierungsfunktion zu tun ist.

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bendiger Prozessualität vollziehen zu können. Darüber hinaus ist auch das Bewusstsein eines einheitlichen Wirklichkeitszusammenhangs wiederum auf freiheitliche Vollzüge des Subjekts angewiesen. Denn jener Zusammenhang kann nur gewusst werden vermöge der Bewusstseinsaktivität einer epistemischen Instanz. Beide idealistischen Weltanschauungstypen verweisen also aufeinander und setzen mithin eine tiefere Einheit voraus, die deren jeweiliges Aufeinanderverweisen allererst ermöglicht. Entscheidend ist dabei, dass diese Einheit als solche keiner positiven Bestimmung fähig ist, da sie selbst nur als Voraussetzung jenes wechselseitigen Verweisens fungiert und daher nur innerhalb dieses Verweisungszusammenhangs und mit ihm zum Tragen kommt. Ebenfalls im ersten Abschnitt hatten wir deutlich gemacht, dass Dil­they jene weltanschauungstypologische Differenz im religiösen Leben grundgelegt bzw. ursprünglich gegeben sieht. So waren pan(en)theistische und personalistische Religiosität als die entsprechenden Korrespondenzglieder erschienen. Das macht es möglich, die eben vorgetragene Überlegung auf die religiöse Ebene zu übertragen. Dadurch ergibt sich folgende Konsequenz: Der Pan(en)theismus bzw. die objektiv-ideale Religiosität steht für das religiöse Bewusstsein eines Subjekt und Objekt umgreifenden Zusammenhangs, innerhalb dessen der Einzelne als ein relativ unselbständiger Teil existiert. Die personalistische Frömmigkeit hingegen geht von dem Bewusstsein der Würde und Freiheit des Einzelnen aus, durch das dieser sich aller natürlichen Bedingtheit enthoben und prinzipiell überlegen weiß. Im ‚Reich Gottes‘-Gedanken verweist aber auch diese Freiheitserfahrung bereits auf eine überindividuelle Ordnung. In der Auffassung der Natur als Mittel sittlich-religiöser Zwecksetzung kommt es darüber hinaus zur Voraussetzung einer weiteren Ordnung auf höherer Stufe. Umgekehrt beansprucht die pantheistische Wirklichkeitshaltung überall dort Freiheitserfahrungen, wo sie nicht in passiver Kontemplation verbleibt, sondern mit tätiger Lebensgestaltung einhergeht.275 So gesehen weisen auch die ‚pan(en)theistische‘ und ‚personalistische‘ Grundhaltung in ihrer jeweiligen Akzentuierung von Ganzheit oder Freiheit aufeinander zurück und setzten somit einen höheren Zusammenhang voraus, innerhalb dessen beide Seiten zur Einheit verbunden sind. Diese Einheit ist aber nicht für sich zu haben. Vielmehr entzieht sie sich jedem direkten Zugang und erscheint lediglich auf mittelbare Weise im Rahmen jenes doppelt wechselseitigen Verweisungszusammenhanges. Das Absolute vermag folglich nur in der Differenz wirklich zu werden, bleibt dabei aber zugleich immer auch verborgen. Deshalb kann es auch nicht in positivem Sinne bestimmt, sondern lediglich als Bedingung der Möglichkeit jener Differenz vorausgesetzt werden. Mit Blick auf diese prinzipielle Nichtbestimmbarkeit könnte hierbei 275  In Dil­theys Darstellung ist dafür Bruno selbst das beste Beispiel, in dem „sich der Enthusiasmus des Plotin […] zum aktiven heroischen Lebensgefühl“ (II 308) gesteigert habe. Ein solches Lebensgefühl steht an anderer Stelle aber gerade für den freiheitsidealistischen Typus (vgl. VIII 92).



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geradezu von einem negativ-theologischen Modell des Göttlichen gesprochen werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint das obige Dil­ they-Zitat nun nochmals in einem ganz anderen Licht: „Nie werden wir diese beiden Betrachtungsweisen in der Einheit eines systematischen Gesichtspunktes zusammen zu denken imstande sein. Die Philosophie vermag nur das Recht beider zur Erkenntnis zu bringen“. Darin wäre folglich nicht das bloße Abdizieren des Versuchs einer tiefer gehenden Verhältnisbestimmung zu lesen. Jene Äußerung stünde in einem tieferen Sinne für die negationstheoretische Einsicht in die grundsätzliche Unmöglichkeit, des Absoluten in kategorialer Hinsicht Herr werden zu können.

Schluss Die vorliegende Arbeit ist dem Verstehensbegriff Wilhelm Dil­theys gewidmet. Dieser Begriff hatte sich ihm – unter unterschiedlichen Einflüssen der geistesgeschichtlichen Lage im 19. Jahrhundert – in mehrere Dimensionen aufgefächert, was zu einer Komplexitätsanreicherung der Verstehensproblematik führte, die die klassische Restriktion auf die Frage nach der Erfassung des Sinns schriftlicher Texte weit übersteigt. Zwar ist Dil­they nicht der einzige Autor, bei dem eine solche Problemerweiterung zu beobachten ist, und er ist auch nicht der erste. Gleichwohl gilt er zurecht als einer der Protagonisten jener problemgeschichtlichen Entwicklung. Das Ziel der obigen Ausführungen bestand in einem Dreifachen: Erstens sollte deutlich gemacht werden, inwiefern sich jener Komplexitätsanreicherungsprozess im Blick auf Dil­they werkgeschichtlich und werksystematisch darstellt. Um dies zu zeigen, war zwischen einem ersten und einem zweiten Hauptteil unterschieden worden, von denen jener der Rekonstruktion von Dil­theys Preisschrift gewidmet war. In dieser frühen Schrift war es Dil­they um eine Beschreibung der Genese der neuzeitlichen Hermeneutik zu tun, im Zuge deren Erarbeitung er sich bereits entscheidende grundlagentheoretische Einsichten hinsichtlich dessen erwarb, auf welche Weise philologisches Verstehen fundiert werden muss, um den erkenntnistheoretischen Fragen der Moderne gerecht werden zu können. Im zweiten Hauptteil war es um über- und außerphilologische Zusammenhänge seiner Verstehenskonzeption gegangen, wie sie sich im Blick auf sein späteres Gesamtwerk identifizieren lassen. Diesbezüglich wurde sowohl dem Problem des Interpersonalitätsverstehens als auch dem des Kultur- und Geschichtsverstehens sowie dem des religiösen Verstehens nachgegangen. Ein leitendes Interesse hatte, zweitens, darin gelegen, die von Dil­they zur Geltung gebrachte Konstruktivität aller Verstehensbemühungen herauszuarbeiten. Dieses Anliegen bezog sich nicht zuletzt auf das bis heute vorherrschende Vorurteil, Dil­they vertrete vorrangig eine Einfühlungshermeneutik, die den vielfachen Vermittlungsmomenten im Verstehensvollzug nicht genügend Tribut zolle, so dass sie einerseits Unmittelbarkeitsprätentionen unterliege, andererseits dem Problem der Alterität im Verstehen nicht gerecht zu werden vermöchte. So sehr man im Einzelnen freilich Rückfragen an Dil­theys Konzeption stellen kann und stellen muss, so sehr hat sich dennoch gezeigt, dass diese begrenzte Wahrnehmung Dil­theys Position bei näherem Hinsehen nicht gerecht wird. Allerdings ist er selbst an jenem Eindruck nicht ganz unschuldig – sind die Theo-

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riebestandteile seiner Verstehensauffassung doch weit verstreut in seinem Werk und geben in ihren jeweiligen Einzelvorkommnissen zu Missverständnissen Anlass. Drittens war es um die Frage zu tun, wie sich das Phänomen der Religion in Dil­theys Verstehensauffassung einordnen lässt – ein Thema, das seitens der Forschung vernachlässigt worden ist. Letzteres ist deswegen unangemessen, weil die Religionsproblematik für Dil­they durchaus ein wichtiges Thema war, mit dem er sich vielfältig beschäftigt hat. Religion stellt – neben der Kunst – den paradigmatischen Fall eines solchen Verstehens dar, in dem der Mensch sich selbst und seiner Welt auf produktive Weise Sinn verleiht. Sie bildet für Dil­they nicht nur den Gegenstand hermeneutischer Erschließung von bereits objektiviertem Sinn, sondern ist auf elementare Weise an dessen subjektiver Erzeugung beteiligt. Solche Sinngebung schlägt sich dann wiederum in geschichtlich-kulturellen Ausdrucksgebilden nieder, weshalb die Religion zugleich Gegenstand hermeneutischer Erschließung werden kann. Diese drei Punkte sind im Zuge der Untersuchung ausführlich zur Darstellung gelangt und sollen hier darum nicht nochmals einzeln rekapituliert werden. Stattdessen sollen zentrale Ergebnisse der Arbeit abschließend in einer übergeordneten Perspektive thematisiert werden, um dadurch einen tiefer gehenden systematischen Zusammenhang hervorzuheben, der es erlaubt, die unterschiedlichen Problemdimensionen in ihrer inneren Einheit zu betrachten. In der Forschung ist wiederholt das Problem aufgeworfen worden, warum Dil­they als Bezeichnung für dasjenige Wissenschaftsfeld, dessen theoretischer Durchklärung er den überwiegenden Teil seiner Lebensarbeit gewidmet hat, eigentlich den Begriffsausdruck ‚Geisteswissenschaften‘ gewählt hat. In neuerer Zeit trifft dieser Begriff mitunter auf erhebliche Skepsis. Diese dürfte nicht zuletzt dadurch genährt werden, dass man ihm im Zuge der Verschiebungen, wie sie sich in Folge des sog. linguistic turn  – sowie der vielen weiteren turns auf dem Feld der soziokulturellen Wissenschaften – ergeben haben, als Relikt alter Zeiten erachtet. Vor dem Hintergrund der neueren Debatten scheint ihm kein rechter Sinn mehr abgewinnen zu werden können. Angesichts dessen lassen sich bei denjenigen Interpreten, die Dil­they gegenwärtig anschlussfähig halten wollen, im Wesentlichen zwei theoretische Strategien beobachten, mit jenem Begriff umzugehen. Auf der einen Seite wird hervorgehoben, schon Dil­they selbst habe auch andere mögliche Bezeichnungsweisen erwogen und seine eigene Begriffspräferenz lediglich mangels besserer Alternativen getroffen. Deshalb brauche man jene terminologische Entscheidung nicht allzu sehr aufzuladen. Darüber hinaus böten auch mögliche Ersatzbegriffe ihre Schwierigkeiten, so dass – quasi aus pragmatischen Gründen – dagegen spreche, den fraglichen Term beizubehalten.1 1 Vgl. G. Scholtz: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften, 17; vgl. auch ders.: Die Theorie der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, 309 f.

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Auf der anderen Seite wird der Geistbegriff rigoros abgelehnt. Das führt dann zu dem Unternehmen, die als wertvoll angesehen Grundeinsichten Dil­theys von besagter kategorialer Einordnung abzulösen, um sie unter weitestgehendem Verzicht auf jenen Begriff zur Geltung zu bringen.2 Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit angestellten Analysen soll beiden Ansätzen gegenüber ein anderer Zugang gesucht werden. Die im Folgenden zu plausibilisierende These besteht darin, dass der ‚Geist‘ der Geisteswissenschaften bei Dil­they auf eine für das geschichtlich-kulturelle Leben des Menschen sowie dessen wissenschaftliche Reflexion geradezu wesentliche Dimension verweist. Dies macht es fraglich, ob man ihn tatsächlich bloß als die weniger schlechte Wahl oder gar als verzichtbares Überbleibsel wird einstufen können. Sollte dem nicht so sein, verspräche die in Rede stehende Kategorie auch für die heutige wissenschaftstheoretische Debatte noch einen wichtigen Orientierungsgewinn bereitzustellen. Dil­they selbst hat die entsprechenden Linien allerdings nicht ganz klar ausgezogen. Es ist aber nicht unmöglich, letztere aus seinem Werk herauszuarbeiten. Darum sollen nochmals wesentliche Grundzüge des oben Erarbeiteten unter dem eben beschriebenen Blickwinkel betrachtet werden. Der Begriff der Geisteswissenschaften besitzt zwei Ebenen, auf denen das Thema ‚Geist‘ begegnet. Zum einen bildet es in wissenschaftstheoretischem Sinne die Gegenstandsseite jener Wissenschaftsgruppe. Hier bezeichnet der Geistbegriff die von den Wissenschaften vorauszusetzende Sphäre des Lebens des Geistes. Zum anderen gehören die Geisteswissenschaften ihrerseits aber selber diesem Leben an, so dass sich in ihnen der Vollzug des Geistes auf eine bestimmte Weise fortsetzt. Beide Ebenen seien im Folgenden beschrieben, wobei wir mit erstgenannter einsetzen. Das geistige Leben kann wiederum nach zwei grundlegenden Hinsichten betrachtet werden: nach seiner individuellen sowie nach seiner soziokulturellen Sphäre hin. Zunächst zu jener. Für Dil­they ist sich das Individuum auch für sich selbst niemals direkt erschlossen, sondern vermag sich nur über den Umweg der von ihm selbst erzeugten Ausdrucksphänomene ein Bild davon zu machen, wer oder was es eigentlich sei. Einen der herausragenden systematischen Zusammenhänge, in denen Dil­they diesen Sachverhalt eingehend verfolgt hat, stellt seine Theorie des biographischen Selbstverstehens dar. Wir haben diesen Problemkomplex oben ausführlich erörtert und fokussieren nur die hier relevanten Punkte. Den Ausgangspunkt biographischer Verstehensoperationen bildet die Frage des Einzelnen nach seiner konkreten Identität. Diese Frage kann er sich nicht anders als dadurch beantworten, dass er sich auf seine eigene Lebensgeschichte zurückbesinnt, indem er die erinnerten oder gleichsam äußerlich aufbewahr2 Vgl. M. Jung: Das Leben artikuliert sich, 40, vgl. auch ders.: „Der bewusste Ausdruck“, 125–181.

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ten Momente seiner Biographie in den Blick nimmt, um anhand ihrer das Bild eines Sinnganzen zu erzeugen, innerhalb dessen jene Einzelbegebenheiten als aufgehoben erfasst werden können. Entscheidend ist hierbei, dass das Subjekt nicht irgendwelche Begebenheiten als zu interpretierende Lebensäußerungen identifiziert, um anhand ihrer einen größeren Sinnzusammenhang zu entwerfen. Stattdessen handelt es sich um solche Begebenheiten, die es selbst erlebt bzw. in Form eigenen Handelns hervorgebracht hat. So sehr Dil­they betont, dass die Vollgestalt biographischer Selbstbesinnung erst am Ende eines gelebten Lebens ausgebildet werden kann, so wenig begrenzt er diese Art der Selbstthematisierung auf die späte Phase der Persönlichkeitsentwicklung. Sie setzt vielmehr in dem Moment ein, in dem ein Subjekt ein hinreichend klares Bewusstsein von sich selbst entwickelt hat, so dass die Frage nach der eigenen konkreten Identität virulent wird. Biographische Selbstreflexion steht darum nicht einfach am Ende der Entwicklung eines bewussten Lebens, sondern ist anhaltend verwoben in dessen gesamte Lebensführungspraxis. Dil­they hatte diesen Sachverhalt eingehend herausgearbeitet und dabei ein doppeltes Bedingungsverhältnis zwischen Vergangenheitsbetrachtung und Zukunftsentwurf konstatiert: Zum einen sind alle projektiven Vorstellungen davon abhängig, was für Erfahrungen durchlebt wurden, so dass jede gegenwärtige konkrete Identität gewissermaßen das Produkt einer Vergangenheit ist und als solche die Erwartungen künftiger Entwicklungen im Inneren wie im Äußeren bestimmt. Zum anderen bedingt aber auch die Setzung irgendwelcher Zwecke die Art und Weise, in der auf das Leben zurückgeblickt wird. Denn was für die Betrachtung ausgewählt, angeordnet und gewichtet wird, ist maßgeblich durch die jeweilige Gegenperspektive mitbestimmt. Die autobiographische Verstehensleistung geht also nicht einfach ortlos vonstatten, sondern ist in einen komplexen und relativ unabgeschlossenen Prozess zunehmender Selbstklärung eingebettet, in dem sich das Individuum seine gegenwärtige Daseinsverfasstheit bewusst macht, indem es im Blick auf die von ihm als bedeutsam festgehaltenen Vergangenheitsereignisse und Zukunftserwartungen ein konkretes Selbstbild entwirft. Mithilfe Dil­theyscher Kategorien lässt sich die mentale Struktur dieser Art des Selbstverstehens auch nochmals auf formalere Weise beschreiben. Dafür sei auf die bekannte und viel zitierte Begriffstrias von ‚Erleben–Ausdruck–Verstehen‘ zurückgegriffen. Danach gestaltet sich der konkrete Vollzug bewussten Lebens in der Art, dass dieses sich in ‚Erleben‘ bzw. Erlebnissen realisiert. Solches Erleben verbleibt aber nicht in sich, sondern geht kontinuierlich in Ausdruck über, wobei ‚Ausdruck‘ in einem ganz weiten Sinne zu nehmen ist, so dass damit sowohl intendierte und nicht intendierte als auch innermentale und extramentale Erscheinungen umfasst werden. All diesen unterschiedlichen Formen gemeinsam ist der Umstand, dass durch sie dem Erleben allererst zu einer bestimmten Konkretion verholfen wird. ‚Verstehen‘ stellt dann die Erschließung dieser Ausdrucksmodi dar, in der und durch die das Subjekt interpretativ auf sich selbst zurückkommt.

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Im Zuge dessen entsteht und entwickelt sich ein konkretes Selbstbewusstsein, aus dem heraus neue Erlebnisse gezeitigt werden, die sich wiederum innerlich und äußerlich artikulieren sowie in Folge dessen abermals Gegenstand von Selbstauslegungsprozessen werden können. Dabei kann es zur Entwicklung habitualisierter Verstehensmuster kommen, die alle weiteren Erlebnisse von vornherein präfigurieren – wozu nicht nur explizite Deuteschemata, sondern auch Stimmungen gehören. Umgekehrt können solche Erlebnisse gemacht werden, die sich in bestehende Muster nicht einfügen lassen und folglich eine Modifikation derselben bewirken. Individuelle Subjektivität entfaltet sich also in der Weise, dass sie weder bloß in unmittelbarem Erleben noch in der Selbstreferentialität des formalen Selbstbewusstseins verbleibt, sondern sich in Form eines kontinuierlichen Selbstdeutungsprozesses vollzieht. Vor diesem Hintergrund kann nun auch begreiflich gemacht werden, inwiefern es für Dil­they naheliegen konnte, sich des Begriffs des Geistes zu bedienen. Um deutlich zu machen, was damit gemeint ist, sei an einen bestimmten Grundzug von Hegels Theorie des Geistes erinnert, die er bereits in der Phänomenologie entworfen hat. Danach fungiert der Geistbegriff nicht mehr so sehr als Bezeichnung für die Sphäre des Mentalen überhaupt, sondern markiert eine hochgradig komplexe Struktur bewussten Lebens. Sieht man von den Näherbestimmungen der unterschiedlichen Wissensformen und deren innerer Teleologie einmal ab, so besteht dieses Spezifikum vor allem darin, dass sich ein konkretes Subjekt weder jemals in bloßer Unmittelbarkeit noch in reiner Mittelbarkeit bewegt. Stattdessen ist von einem kontinuierlichen Prozess von Unmittelbarkeitssetzung und deren Aufhebung auszugehen, der mit einer anhaltenden Bestimmtheitsanreicherung bzw. Konkretion des betreffenden Selbst einhergeht. „Man könnte auch sagen. Der Begriff ‚Geist‘ bezeichnet die mentale Struktur der Selbstauslegung bewußten Lebens.“3 Vergleicht man hiermit Dil­theys oben beschriebene Trias, so wird man sagen können, dass er im Grundsatz eine ähnlich gelagerte Auffassung vertritt: Auch für ihn stellt individuelle Subjektivität einen dynamischen Vorgang dar, in dem der Einzelne in der Weise auf sich zurückkommt, dass ihm daraus eine inhaltliche Anreichung seiner selbst erwächst. Nicht zuletzt deshalb ist dem bewussten Leben denn auch ein geschichtlicher Grundcharakter eigen, den Dil­they auf die bekannte Formel gebracht hat: „Was der Mensch ist, das sagt ihm nur seine Geschichte“.4 Wie bereits im Kontext der Rekonstruktion von Dil­theys Theorie der Autobiographie vermerkt, wird man dieses Zitat keineswegs nur auf die allgemeine Entwicklung der Menschheit insgesamt, sondern gerade auch auf die eines jeden bewussten Individuums beziehen dürfen. ‚Geist‘ steht so gesehen für jene komplexe Vollzugsstruktur, die durch ‚Erleben‘, ‚Gefühl‘, ‚Bewusstsein‘ oder auch ‚Selbstbewusstsein‘ nicht hin3  U. Barth: 4  VIII 224.

Bewußtsein und Geist, 195. 226, vgl. auch IV 529.

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reichend auf den Begriff gebracht wäre. Auch von hier aus ließe sich Dil­theys Denken als ‚hermeneutische Philosophie‘ bezeichnen und von seiner Betonung des Auslegungscharakters von Subjektivität Bezüge zur Phänomenologie des frühen Heideggers herstellen. Im Unterschied zu letzterem gibt Dil­they aber nicht die funktionale Bedeutung des Selbstbewusstseins für jenen Auslegungsvorgang preis, sondern betont dessen Notwendigkeit für den Aufbau jenes komplexen Ganzen. Damit ist das erste Moment skizziert. Jene Geiststruktur lässt sich aber nicht nur im Blick auf das Individuum beschreiben, sondern in analoger Weise ebenso für kulturelle Prozesse. Im Rahmen der Ausführungen zu Dil­theys kulturtheoretischem Modell hatte sich gezeigt, dass das individuelles Leben stets an eine bestimmte soziokulturelle Umwelt zurückgebunden ist, in deren Horizont es seine inneren und äußeren Erfahrungen macht und seine Zwecksetzungen vornimmt. Dieser Kontext lässt sich nach unterschiedlichen systemischen Leitperspektiven differenzieren, innerhalb derer sich Erfahrungs- und Handlungsmuster zu überindividuellen Zusammenhängen verbinden und kulturell objektivieren. Allen diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen gemeinsam ist der Umstand, dass sich in ihnen Wirklichkeitsauffassungen artikulieren, die nicht nur für ein einzelnes Individuum von Belang sind. Solche Konvergenzen können kulturprägend werden, indem sie ihrerseits sich zu festen Kulturmustern verdichten, deren kategoriale Funktion sich gleichsam in der Schwebe hält zwischen Deskription und Normativität. Als solche vermag ihnen dann jene Orientierungsfunktion für das Erleben und Handeln aller an der gemeinsamen Lebenswelt Partizipierenden zu eignen. Verwirklichen können sich solche komplexen Systeme aber nur, indem sie von realen Subjekten aktualisiert werden. Dies geschieht dadurch, dass letztere sich die in jenen Systemen aufbewahrten Sinngehalte aneignen und verstehend erschließen. Nur auf diesem Wege können kulturelle Sinnsysteme überhaupt eine erfahrungs- und handlungsprägende Funktion im Blick auf das individuelle Leben ausüben. Jede Aktualisierung solcher allgemeinen Muster geht aber immer zugleich mit deren Modifikation einher. Anders gesagt: die verstehende Aneignung bedeutet immer auch eine  – mehr oder weniger ausgeprägte  – kritischkonstruktive Fortschreibung. Das Bedingungsverhältnis verläuft nicht allein in eine Richtung: Nicht nur besitzen die gesellschaftlich-kulturellen Systeme eine Formierungsfunktion hinsichtlich der Erfahrungen der Einzelnen, sondern umgekehrt wirken letztere auch auf jene produktiv zurück. Aufgrund dessen gehört es gleichsam zum Wesen jener Systeme, dass sie nicht in einer fixierten Form vorliegen, sondern von den Teilnehmern teils unterschiedlich rezipiert, teils konstruktiv weiterentwickelt werden und sich insofern als wandlungsfähig erweisen. Folglich präfigurieren sie die Sicht der ihnen angehörigen Menschen nicht etwa aus einer überzeitlichen Warte heraus, sondern immer in konkreten geschichtlichen Verläufen, die sich im Zuge generationaler

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Lebensverläufe und intergenerationaler Abfolgen ständig modifizieren. Das kulturelle Leben besitzt somit einen dynamischen Charakter mit prinzipieller Unabschließbarkeit. Es ist tiefgreifend durch Rückgriffe auf Traditionsbestände und deren Fortentwicklung ausgezeichnet. Auf dem Feld des kulturellen Lebens stellt sich die Trias von Erleben, Ausdruck, Verstehen sonach wiederum in einem komplexen Wechselverhältnis dar. In ihm bilden Aneignung und Verstehen von Artikulationen, daraus resultierende Prägung und Synchronisation von Erfahrungen und Handlungen sowie Fortschreibung jener Artikulationen eine innere Einheit. Angesichts dessen kann also auch hier von einer Struktur der Selbstauslegung gesprochen werden, freilich in einem kollektiven Sinn. Und diese Selbstauslegungsstruktur ist dann auch der Grund dafür, dass das kulturelle Leben – in Analogie zum individuellen Leben – ebenso unter den Begriff des Geistes subsumiert werden kann. So wie sich oben die mentale Struktur geschichtlicher Subjektivität durch die je eigene Selbstund Weltauffassung konkretisiert, anreichert und vertieft, so ist auch das überindividuelle Profil von Kulturen durch vergleichbare Bewegungen ausgezeichnet. Einen der stärksten Belege dafür, dass Dil­they die Sache in der Tat so gesehen hat, bildet sein Umgang mit Hegels Begriff des ‚objektiven Geistes‘. In den bisherigen Ausführungen ist das Leben des Geistes – am Ort des Individuums und im Wandel der sozialen und kulturellen Systeme – in den Blick genommen wurden. In beiderlei Hinsicht bildet es aber auch den Gegenstand der Geisteswissenschaften. Während dort das Leben des Geistes in dessen Subjekt-Stellung zur Erscheinung kommt, wird es hier zum Objekt methodischer Forschung. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier der Geist gleichsam als Akteur auftritt. Darum ist zu fragen: In welcher Weise verfahren die Geisteswissenschaften, so dass sie als Vollzugsformen des Geistes kenntlich werden? Anders gefragt: Inwiefern lassen sich die unterschiedlichen Formen des Wissens selbst nochmals als Vollzugsgestalten des Geistes beschreiben. Die Notwendigkeit dieser Betrachtung ergibt sich aus der besonderen Verbundenheit dieser Wissensformen mit ihrem Gegenstand, die sich nach zwei Richtungen betrachten lässt. Die eine nimmt die Entstehung der Geisteswissenschaften aus dem soziokulturellen Leben in den Blick. Die andere Richtung betrachtet die Rückwirkung dieser Wissenschaften auf das Leben. Dies sei kurz geschildert, wobei wir bei dem genetischen Aspekt einsetzen. In den Geisteswissenschaften nimmt der Mensch auf die von ihm selbst hervorgebrachte Wirklichkeit Bezug mit dem Ziel, sich diese sowohl nach ihren Grundstrukturen als auch in ihren besonderen Erscheinungen bewusst zu machen. Eine solche Bezugnahme setzt nicht erst auf der wissenschaftlichen Ebene ein, sondern vollzieht sich bereits in der alltäglichen Einstellung. Dil­they spricht diesbezüglich von ‚Lebenserfahrung‘. Im Unterschied zu dieser Sicht der Dinge sind die Geisteswissenschaften dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht nur hochgradig bewusst, sondern darüber hinaus auch methodisch kontrolliert verfahren.

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So gesehen stehen die Geisteswissenschaften bei aller Objektverbundenheit zugleich in einer Distanz zum Leben. Unbeschadet dessen bleibt festzuhalten, dass die Geisteswissenschaften organisch aus der Lebenswelt erwachsen, deren Aufklärung sie dienen. Diese Relation kann aber auch in umgekehrter Richtung betrachtet werden. Die Geisteswissenschaften klären nicht nur das, was sie vorfinden, sondern orientieren auch über den Umgang mit ihm und strukturieren dessen Gestaltung. Aufgrund des inneren Verhältnisses zu ihrem Gegenstand liefern die Geisteswissenschaften bei allem Bemühen um Sachlichkeit keine neutralen Beschreibungen ihres Gegenstandsfeldes, und zwar nicht nur aus methodischen Mängeln, wie man aus der Perspektive der Naturwissenschaften zu unterstellen geneigt ist, sondern weil die Art der Fragestellung immer mit besagter Orientierungsfunktion zusammenhängt und insofern immer in einen praktischen Kontext eingebunden ist – wie direkt oder indirekt dieser auch greifbar sein mag. Anders gesagt: Die geisteswissenschaftliche Erkenntnisarbeit formt den von ihr in Augenschein genommenen Wirklichkeitsbereich immer mit. Als Kanäle solcher Rückwirkung kann zum einen etwa an die wissenschaftlich geleitete Berufsausbildung der soziokulturellen Akteure, zum anderen an die Bereitstellung von Expertise für die Beratung in gesellschaftlich-kulturellen Lebensfragen verwiesen werden. Darüber hinaus wäre aber auch an die indirekte Vermittlung in der allgemeinen Form populärwissenschaftlichen Wissens zu denken. Das bedeutet zugleich, dass geisteswissenschaftlich sublimierte Lebensvollzüge immer nur in solchen Gesellschaften anzutreffen sind, in denen sich ein gewisses Maß an Wissenschaftskultur etabliert hat. Was besagt dies im Hinblick auf obige Behauptung, dass sich in den Geisteswissenschaften die Struktur des Geistes auf einer höheren Stufe wiederholt? Es hatte sich gezeigt, dass das Spezifikum des Geistes in produktiven Selbstauslegungsprozessen besteht. Die Geisteswissenschaften sind darin zutiefst mit einbezogen. Denn sie reichern die Phänomene des individuellen und sozialen Lebens mit Sinnpotentialen an und tragen damit zum Aufbau der Kultur mit bei. Damit heben sie die Selbstverständigung des Menschen über sich selber auf eine neue Ebene, sind aber – und darauf kommt es hier an – zugleich Teil dieser Selbstverständigung. Mit seiner Rede von den Wissenschaften des ‚Geistes‘ rezipiert Dil­they einen Grundbegriff neuzeitlich-moderner Philosophie. Er wusste, wie sehr er damit in der Tradition Hegels stand. Was Hegel am Begriff des Geistes faszinierte, war – mit einer Formulierung Falk Wagners ausgedrückt  – die Struktur der Selbstexplikation am Ort des Anderen seiner selbst. Dil­they eignete sich diese Figur an in Gestalt dessen, was wir oben als Selbstauslegung beschrieben haben. Bei aller Nähe sind jedoch deutliche Modifikationen zu erkennen, die ihn in die Nähe Schleiermachers rücken. Zum einen erteilt Dil­they der Selbstherrlichkeit der Philosophie eine partielle Absage. Für ihn ist sie nur noch im engsten Verband mit den empirischen Wissenschaften möglich. Vorbild für diese Zuordnung

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war ihm Schleiermachers Dialektik. Die Philosophie verliert dadurch zwar den Nimbus des Endgültigen, sichert sich dadurch aber die Chance, von der Realität falsifiziert zu werden. Der andere – wie mir scheint – ungleich wichtigere Unterschied zu Hegel dürfte darin liegen, dass Dil­they den Geistbegriff und die Geisteswissenschaften insgesamt auf eine deutungstheoretische Grundlage stellt. Dies ermöglicht ihm den Einbau der Hermeneutik und sämtlicher ihrer Anwendungsformen: vom Deuten des eigenen individuellen Lebens über das Verstehen fremdpsychischen Lebens bis hin zur interpretativen Erschließung geschichtlichkultureller Umwelten. Die hier angestellten Überlegungen besitzen einen Wert, der über reine Dil­ they-Exegese hinausgeht. Denn von den geschilderten Einsichten können auch neure wissenschaftstheoretische Bemühungen profitieren. Dabei gilt es darauf hinzuweisen, dass das prima facie unzeitgemäß erscheinende Plädoyer für die ‚Geisteswissenschaften‘ nicht so gemeint ist, als ob kategorialen Alternativen dadurch die Berechtigung abgesprochen werden sollte. Natürlich besitzen auch ‚Kultur-‘, ‚Sozial-‘ und ‚Lebenswissenschaften‘ – um nur einige Kandidaten zu nennen – jeweils ihre begriffliche Stärke. Jenes Plädoyer ist darum nicht im Sinne eines Entweder/Oder, sondern eines Sowohl/Als auch gemeint. Das Festhalten am Begriff der Geisteswissenschaften hat vielmehr die Funktion, den Blick für eine bestimmte Problemdimension offen zu halten, die von jenen anderen Grundbegriffen nicht in derselben Weise akzentuiert wird. Als wichtiges Indiz für die bleibende Bedeutung der in Frage stehenden Kategorie kann dabei der Sachverhalt gelten, dass sich die grundbegriffliche Einordnung der nicht mit der Natur befassten Wissenschaften als ‚Geisteswissenschaften‘ bis heute selbstverständlich findet.5 Den damit korrespondierenden Begriffsanstrengungen6 ermöglicht die Beschäftigung mit Dil­theys Modell der Geisteswissenschaften einen spezifischen Reflexionsgewinn. Die zutage getretene Auslegungsstruktur des Geistes lässt sich unschwer auch auf das Feld der Religion übertragen. Zunächst zur Sphäre des individuellen Lebens. Den Ausgangspunkt bildet hier das religiöse Erleben, in dem sich dem Subjekt gleichsam der Sinn fürs Göttliche öffnet. Solches Erleben verbleibt aber nicht in sich, sondern geht in Ausdruck über, indem es sich in Form religiöser Vorstellungen artikuliert. Im Zuge verstehender Aneignung wirken diese Artikulationen auf weiteres Erleben zurück und bedingen dieses mit, indem sie es auf eine primordiale Weise disponieren. Dabei kann es auch in der religiösen Sphäre zur 5 Exemplarisch sei darauf verwiesen, dass die entsprechende Wissenschaftsgruppe an der Universität Hamburg im Jahr 2005 in einer neu gegründeten Fakultät für Geisteswissenschaften zusammengefasst wurde, vgl. dazu die Beiträge in: J. Dierken/A. Stuhlmann (Hg.): Geisteswissenschaften in der Offensive. 6 Vgl. J. Dierken: Einleitung. Was sind und wozu gibt es Geisteswissenschaften; G. Scholtz: Zu Begriff und Ursprung der Geisteswissenschaften; ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis; ders.: Die Theorie der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert.

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Entwicklung habitualisierter Verstehensmuster kommen, die sich bis auf die vorreflexive Ebene erstrecken, etwa im Aufbau religiöser ‚Stimmungen‘ oder innerer Haltungen. Auch Dil­theys Begriff der ‚Weltanschauung‘ kann in diesem Zusammenhang verwendet werden. Freilich sind auch hier Erlebnisse in Rechnung zu stellen, die durch bestehende Einstellungen nicht aufgefangen werden können und folglich eine Modifikation derselben bewirken. So gesehen kann das religiöse Leben als ein dynamischer Auslegungsprozess beschrieben werden, innerhalb dessen es sich im komplexen Wechselspiel von Erleben, Ausdruck und Verstehen zunehmend konkretisiert. Dieser Prozess besitzt sein Pendent auf geschichtlich-kultureller Ebene. Alles religiöse Erleben vollzieht sich zwar nur in der subjektiven Perspektive eines Individuums. Aber jeder solche Erlebnisvollzug ist immer schon geprägt durch die in einer bestimmten Lebenswelt vorfindlichen religiösen Vorstellungswelten. Darum kommt es dann auch zu einer relativen Synchronisation und Gleichartigkeit des religiösen Lebens zu bestimmten Zeiten und Orten. Die Religionsgeschichte weist aber auch eine innere Dynamik auf, in der sich Phasen der Habitualisierung von solchen der produktiven Neuschöpfungen abwechseln. Erstere sind dadurch gekennzeichnet, dass die individuelle und soziale Frömmigkeit relativ gleichbleibend verläuft, während letztere dadurch ausgezeichnet sind, dass es zu schöpferischen Neuproduktionen im religiösen Ideenhaushalt kommt. Der allgemeine Grund hierfür ist darin zu erblicken, dass schon die Religiosität des Einzelnen niemals eine bloße Aktualisierung kulturell bereitgestellter Wirklichkeitsauffassungen darstellt, sondern jede gelebte Religion die überlieferten Gehalte und Ideen immer auch modifiziert. In jenen von Kontinuität geprägten Verlaufsphasen tritt dies nicht so stark hervor, dass daraus grundlegende Verschiebungen erwachsen würden. In den produktiven Phasen hingegen kann dies zu tiefgreifenden Transformationen im religiösen Erlebnis- und Vorstellungshaushalt führen. Diese Rolle übernehmen bei Dil­they solche Figuren, die er als ‚religiöse Genies‘ bezeichnet. In etwas urbanerer Terminologie könnte man auch von den „maßgebenden Menschen“ (Karl Jaspers) sprechen. Gemeint sind religionsgeschichtliche Phänomene wie Stifter, Propheten oder auch Reformatoren. Die von ihnen in die Religionsgeschichte gleichsam eingespeisten Impulse können dann auch Anderen als Muster ihrer eigenen Frömmigkeit dienen, so dass es zu neuen rezeptiven Phasen kommt. Eine Reflexivitätssteigerung eigener Art gewinnt das religiöse Leben dadurch, dass es zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion wird. Dies hat seinen Ursprung in jenem Leben selbst, etwa wenn Religionsgemeinschaften beginnen, eigene Theologien zu entwerfen, mithilfe derer sie ihre eigene Praxis theoretisch zu orientieren suchen. Die dadurch erzielten Einsichten schweben darum auch nicht einfach im luftleeren Raum, sondern sind – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – bezogen auf konkrete Frömmigkeitspraktiken, aus deren Orientierungsbedürfnis sie allererst hervorgegangen sind. Deshalb wirken sie auf die

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eine oder andere Weise denn auch auf letztere zurück und modifizieren damit zugleich den Gegenstand, der ihrer Betrachtung ursprünglich zugrunde liegt. So ergibt es denn einen guten Sinn, dass Dil­they auch die Theologie zu den Geisteswissenschaften rechnet. Die Etablierung der neuen Disziplin der Religionswissenschaften hat er später aber auch überaus wohlwollend beobachtet. Nimmt man alle drei Momente zusammen – das Wechselverhältnis von Erleben–Ausdruck–Verstehen, das Wechselverhältnis von individueller und kultureller Frömmigkeit sowie das Wechselverhältnis von religiöser Praxis und wissenschaftlicher Reflexion –, so erweist sich die Religion geradezu als exemplarischer Anwendungsfall derjenigen Auslegungsstruktur, für die der Begriff des Geistes steht.

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Cacciatore, G. 19, 326 Cassirer, E. 326 Chalybäus, H. M. 90 Cherbury, H. v. 9 Chladenius, J. M. 42–45, 49 f., 58, 101 Clausen, H. N. 22, 28 Comte, A. 191, 228, 233 f. Coornhert, D. V. 347 Cramer, K. 130, 137, 146, 307 f., 310, 315 D’Alberto, F. 167, 22, 249 D’Anna, G. 2 Danneberg, L. 19 Danto, A. C. 223 Danz, C. 304 Därmann, I. 133 f., 158 Dehrmann, M.‑G. 313, 316 Dibelius, M. 66 Dierken, J. VIII, 202, 304, 351, 363 Dierse, U. 81, 136, 180 Drehsen, V. 256, 258 f. Droysen, J. G. 75, 116, 118, 207, 214, 216, 219, 244, 247 f. Eichhorn, J. G. 52, 59 Ellsiepen, C. 307–309 Ernesti, J. A. 21–25 Ernst, Ch. 195 Eusterschulte, A. 320–322, 324, 336 f. Evang, M. 10 Feldmann, H. 10 Fichte, J. G. 63, 74, 88–92, 108 f., 115, 129 f., 136, 139 f., 183, 185, 207, 283 Flacius Illyricus 26–31, 34, 39, 51, 54, 64 f., 67, 70, 345 Francke, A. H. 38–41

388

Namenregister

Frank, M. 84 Friederich, C. 43 Fries, J. F. 71 Frost, U. 81 Fuchs, E. 12 f. Fuchs-Heinritz, W. 233 Fulda, H. F. 202 Fülling, E. 295 Gadamer, H.‑G. 1, 13, 15, 27, 49, 109, 158, 207 f., 223, 231, 240 Geertz, C. 196, 212 f. Geiger, T. 191 Geldsetzer, L. 43 Goethe, J. W. 125, 146, 247, 258, 262, 306, 308, 312–316, 318 f., 323 f., 349 Goubet, J.‑F. 41 Gräb, W. 74, 76 f., 259 Graf, F. W. 3, 6 Gremmels, C. 9 Groot, A. de 347 Grotius, H. 32–36, 59, 346 Grove, P. 89 Gunkel, H. 66 Güttler, C. 5 Haardt, A. 136 f. Haas, S. 252 Habermas, J. 158, 190 Hahn, A. 191, 239, 250, 256, 259 f. Hähner, O. 232, 240, 243, 247 Hamann, J. G. 81, 106 Hammann, K. 10 Hegel, G. W. F. 13, 75 f., 90, 113, 159, 180 f., 198–207, 320, 359, 361–363 Heidegger, M. 1, 11, 360 Heinrici, G. 23 Heinz, M. 184 Hempel, C. G. 227 Henrich, D. 260, 299, 304 Herder, J. G. 37, 41, 51, 59–63, 72, 79, 81, 84, 87, 106 f., 115, 184, 316, 319 Herfurth, T. 74, 281 Hermann, R. 7 Herrmann, U. 277, 26, 299 f. Herrmann, W. 11, 86, 278, 341 Heyne, C. G. 59, 107 Hillmann, K.‑H. 191

Hirsch, E. 7 f., 23 33, 35, 45, 56, 70 f., 184 f., 203, 216, 222, 316, 323 Höffe, O. 67, 142 Hofmann, R. 36 Holste, K. VIII Holl, K. 7–9, 16, 32 f. Horkheimer, M. 181 Hossfeld, P. 274 Hübener, W. 19, 49, 109 Hübner, H. 10, 11 Husserl, E. 89, 125 f., 159, 172, 180, 210 f., 253 Huxel, K. 186 Ineichen, H. 126, 136 Irmscher, H. D. 60–62 Jacobi, F. H. 42, 131, 302, 306–308, 312, 319 Jäsche, G. B. 320 Jaspers, K. 1, 334, 364 Jerusalem, W. 191 Johach, H. 2, 121, 124, 150, 159, 166, 185, 187, 190, 199, 201, 207 Jung, M. 1 f., 119, 122, 124, 132, 144, 165 f., 168 f., 187, 190 f., 198 f., 201, 207, 226, 273, 275 f., 290, 299, 303, 357 Kant, I. 6, 55 f., 63 f., 66–70, 74, 86 90, 94, 108 f., 115, 124, 126, 130, 141–145, 149, 180, 182, 184, 220, 257, 277, 281, 283, 288, 302, 308 f., 312–314, 318, 331, 339, 347–349 Kaufmann, T. 345 Keil, C. A. G. 21 f., 24 f., 106 Kierkegaard, S. 10, 12 Köhler, W. 3–5 Korsch, D. 344 Körtner, U. H. J. 10, 13, 36 Koselleck, R. 268 Kreiter, E. 204 Krone, K. v. d. 334 Krückeberg, E. 60 Kubik, A. 88,191, 193, 196 Kuenen, A. 334 Kühl, S. 191 Kühne-Bertram, G. 2, 21, 25, 32, 90, 95, 204 Kumlehn, M. 81

Namenregister

Landgrebe, L. 210 Lange, L. 86 Leibniz, G. W. 55, 66, 309 Leitner, H. 256 Lembeck, K.‑H. 125, 250, 257, 263, 265 Lenk, H. 152 Lenk, K. 191 Leonhardt, R. VIII Leppin, V. 41, 347 f. Lessing, G. E. 5, 307, 310, 312, 319 Lessing, H.‑U. 1, 21, 25, 32, 90, 95, 116 f., 121, 204, 23, 243 Link, C. 347 Lombardi, P. 36 Lorenz, S. 200 Lotze, H. 283 f., 288 Lowth, R. 59, 107 Lübbe, H. 272 Lücke, F. 22, 24, 99 Luther, H. 259 Luther, M. 7 f., 13.21, 39, 278, 298, 339– 345, 348 Lutz, J. L. S. 28, 70 Madonna, L. C. 47 Mahlmann, T. 344 Majetschak, S. 81 Makkreel, R. A. 201, 212, 220, 226, 233, 257, 277, 290 Mannheim, K. 191 Marquard, O. 303 Matešić, J. 28 Matysik, T. 323 Meier, G. F. 19 Meinecke, Fr. 41 Metz, K.‑H. 247 Meuters, N. 169 Mikl-Horke, G. 233 Misch, C. 26, 110 Misch, G. 1, 128, 159, 256 Mohl, R. 183 Mopsuestia, T. v. 10 Moxter, M. 74 Mühlenberg, E. 338 Mulder, M. J. 334 Mulert, H. Müller, H. 42 Müller, K. O. 61

389

Mulsow, M. 323, 325 Murrmann-Kahl, M. 125, 137, 216 Nellen, H. J. M. 33–35 Nelson, E. S. 2 Neugebauer, G. VIII, 341 Neugebauer, M. 284 Nietzsche, F. 152, 191, 250, 301, 34 Orth, E. W. 283 Otto, R. 286 Otto, S. 224, 321, 325 Pannenberg, W. 4, 10, 13–16, 223, 252, 258 f., 262, 336 Papilloud, C. VIII Percy, T. 59 Peschke, E. 38, 40 Peters, T. R. 9 Pfefferl, H. 347 Pfleiderer, G. 3 f. Picht, G. 313 Plaul. C. 23, 38, 100, 227 f. Plümacher, E. 24 Plunder, V. 201 Preger, W. 28 Raatz, G. 316 Ranke, L. v. 183, 216, 219, 222–224, 230, 244, 247 Ratschow, C. H. 7 Reckwitz, A. 195, 213 Redeker, M. 25 Reinhold, C. L. 88, 122 f. Rendtorff, T. 67 Reventlow, H. Graf v. 33 Richert, H. 2, 247, 335 Rickert, H. 180, 206 Ringleben, J. 81 Ritschl, A. 283 f., 337–339, 34–344, 350 Rodi, F. 2, 21, 124, 146, 150, 159 f., 166, 201, 207, 211, 233 Rogge, H. C. 33, 36 Rohls, J. 112 f. Rothacker, E. 1, 166, 231 Rudolph. O.‑P. 41 Rüsen, J. 214 f., 217, 231 f., 265 Rütsche, J. 22

390

Namenregister

Scheler, M. 191, 231 Scherer, E. 41 Scherer, W. 25, 32, 121 Schiller, F. 312, 319 Schlegel, F. 25, 103, 108 Schleiermacher, F. D. E. 5, 12 f., 19–22, 24–27, 30, 37, 40, 49, 51, 59, 63, 71–84, 86–113, 115, 117, 126, 158, 170 f., 175, 183, 185, 194, 217, 240, 243, 247, 272 f., 277 f., 283, 289, 293 f., 306–312, 315 f., 324, 347, 350 Schlossberger, M. 6 Schmidt, B. 131 Schmidt, S. 183 Schmidt, W. 24 Schmidt-Phiseldek, C. O. 368 Schnädelbach, H. 203 f. Scholtz, G. VIII, 2, 26, 49, 76 f., 79, 99 f., 102 f., 105, 107, 109 f., 116 f., 126, 135, 193 f., 215, 234, 244, 272 f., 277, 298 f., 301, 351, 356, 363 Scholtz, O. R. 19 Schönert, J. 19 Schopenhauer, A. 200, 275 Schramm, M. 86 Schröder, M. 78, 93, 97 Schröder, W. 200 Schröter, M. VIII, 24, 52, 54 Schulz, L. 274 Schumpeter, J. A. 182 Schweizer, A. 74 Semler, J. S. 36 f., 49, 52–58, 63, 67 f., 72 Shaftesbury, A. Ashley Cooper Earl of 306, 313, 316–319, 323 f. Siemeck, J. M. 89 Siemers, H. 3, 5 Simmel, G. 191, 199, 206, 286 Sinn, G. 10 f.

Sparn, W. 195 Stange, C. 7 Stegmüller, W. 250 Steinthal, H. 85 f., 199 Stemme, F. 41 Sticht, F. W. 11 Ströker, E. 210 Stuhlmann, A. 363 Szondi, P. 112 Thielen, J. 116, 180, 182, 214 Thouard, D. 26, 75 Timm, H. 309 Titzmann, M. 26 Trendelenburg, F. A. 75, 204 Troeltsch, E. VIII, 3–6, 15 f., 78, 115, 279 Vico, G. 78, 81, 87 Vollhardt, F. 19 Wagner, F. 274 Wagner, H. 195 Weber, A. 191 Weber, M. 206, 22 Wehrung, G. 36 f. Weigel, V. 347 Wellhausen, J. 334 de Wette, M. L. 70 f., 112 White, H. 223 Wischermann, C. 265 Wobbermin, G. 295 Wolff, C. 42 f., 45–49, 51 f., 72 Wright, H. 226 f., 238 Wüstenberg, R. K. 9 Yorck. v. Wartenburg, P. 166, 232, 244 Zimmerli, W. C. 136

Sachregister Abhängigkeit 278, 287, 289, 342 Absolute, das 352 Ahnung / Ahndung 71, 284, 309, 311, 315 Ästhetik 78, 190, 220, 226 Akkomodation 36 f., 57, 79 All-Einheit 300, 310, 313 Allgemeinheit 29, 76 f., 82, 83, 92, 143, 160, 222, 229 Altes Testament 33, 35, 40, 59, 111 f. Analogia fidei 31, 39 f., 54, 64 Aneignung 8, 56, 94, 160, 180, 196, 210, 360 f. Anerkennung 344 Antike 27, 33, 77, 85, 116, 292, 296, 299, 305 f., 325–329, 336 – Spätantike 85, 328 Antinomie 297, 350 Anthropologie 2, 13, 40, 83, 146, 169, 184, 187, 197, 233, 237, 242, 256, 262, 271 ff., 275 f. Arbeitsteilung 184 f., 230 Artikulation 71, 84, 96, 109, 145 f., 149, 151, 168, 171, 173, 175 f., 270, 274, 278, 282, 286, 295, 297, 361 – Artikulationsform 175 – Artikulationsgestalt 145, 285 – Artikulationsmuster 270, 363 – Artikulationsweise 84, 86 – Bedeutungsartikulation 45 – Bedürfnisartikulation 275 Aufklärung 5, 19, 23 f., 32, 36 f., 49 f., 52, 54, 94, 100, 103, 109, 184, 215, 217, 231 f., 234, 268, 316, 362 – Frühaufklärung 32 – Selbstaufklärung 296 – Spätaufklärung 268 Aufklärungshermeneutik 25, 107, 117 Aufklärungstheologie 347

Ausdifferenzierung 42, 186 ff., 230, 278, 326, 333 Ausdruck 7, 28, 34, 43, 61, 82, 86, 104, 109, 123, 125, 128 f., 132, 138, 142, 144, 146, 158, 160–163, 165–171, 174 ff., 178 f., 196, 198, 208 ff., 291, 295, 302, 311, 314, 318, 324, 328 f., 331, 335, 338, 348, 357 f., 361, 363, 365 – Ausdrucksbegriff 165, 167, 173, 176, 211, 226, 249, 270, 274 f., 279, 282, 285, 288 – Ausdrucksbewegung 175 f. – Ausdrucksbildung 118 – Ausdrucksdimension 169 – Ausdrucksformen 160, 176 – Ausdrucksgebilde 116, 173, 177, 348, 356 – Ausdrucksgestalt 164, 290 – Ausdrucksgröße 163, 174, 197 – Ausdruckshandeln 169 – Ausdruckskategorie 167 f., 173 – Ausdruckklasse 173 – Ausdruckskultur 192 – Ausdrucksmodell 211 – Ausdruckmodi 358 – Ausdrucksphänomene 118, 151, 159, 165, 168, 170, 172, 176 ff., 192, 196, 198 f., 208 ff., 248, 357 – Ausdrucksrelation 170 – Ausdruckstätigkeit 173, 176, 211 – Ausdruckstheorie 153, 168 f., 173, 175, 211 – Ausdrucksqualität 65 – Ausdrucksträger 196 – Ausdrucksverhalten 158, 169 – Ausdrucksvollzug 171 – Ausdruckswelt 192, 196 – Ausdrucksweisen 87

392

Sachregister

– Begriffsausdruck 84, 200, 288, 356 – Erlebnisausdruck 173 – Gefühlsausdruck 174 – Sprachausdruck 210 Äußerung 10, 154, 160, 164, 167, 175 f., 178, 196, 209, 219, 249, 256 – Äußerungshandeln 167 – Äußerungsverhalten 167 – Äußerungsvollzüge 168 – Äußerungsweisen 175 – Fremdäußerung 161 – Gefühlsäußerung 151, 173 – Lebensäußerung 71, 95, 153, 154, 157 f., 160, 162, 164 f., 168 f., 173 f., 176, 192 f., 196, 200, 205, 207–212, 242, 244, 248, 295, 358 Auslegung 10, 16, 29 ff., 34, 39, 40, 42 f., 44, 48, 51 f., 54, 59 f., 63, 65, 70, 79, 98, 105, 116 f., 219, 244, 246, 280, 305 – Auslegungscharakter 360 – Auslegungsergebnis 29 – Auslegungsgegenstand 29 – Auslegungsgeschichte 55 – Auslegungsgestalt 36 – Auslegungshinsichten 14, 32, 35, 65 – Auslegungsinstanz 67 – Auslegungskunst 8, 108 – Auslegungslehre 27 ff., 31, 36 f., 41, 43, 51, 54, 58, 97 f., 99–104, 106–110, 345 – Auslegungsmethode 37 – Auslegungsmittel 31 – Auslegungsmomente 31 – Auslegungsperspektiven 65 – Auslegungsprinzipien 53, 64 – Auslegungsproblem 41 – Auslegungsprozess 29, 40, 364 – Auslegungsregeln 29, 43 f. – Auslegungsstruktur 363, 365 – Auslegungstheorem 36 – Auslegungstheorie 39, 44, 48, 107 – Auslegungsverfahren 29, 60, 64, 105 – Auslegungsvorgang 28, 44, 360 – Auslegungsweise 28, 47, 56 – Auslegungswissenschaft 23, 27 – Bibelauslegung 31, 33, 36, 53, 67, 70, 110 f. – ästhetische A. 108 – geschichtssystematische A. 301, 303

– historische A. 48, 52, 110 – juristische A. 27 – logische A. 44 – philologische A. 112 – psychologische A. 38, 43, 301 – Quellenauslegung 230 – Selbstauslegung 359, 361 f. – Selbstauslegungsprozess 359 – Selbstauslegungsstruktur 361 – synthetische A. 107 – technische A. 105 – Schriftauslegung 27, 35, 54, 67, 70 – Sonderauslegung 23, 25, 27 – Weltauslegung 315 Autobiographie 25, 212, 247, 249 ff., 254, 256– 259, 260, 262, 264, 266 ff., 359 – Autobiographieproblematik 267 – Autobiographietheorie 1, 123, 250 f., 262, 268 – Selbstbiographie 249 f., 253, 265 Autonomie 5, 9, 92, 317 Bedeutsamkeit 212, 257 Bedeutsamkeitsidentifikation 260 Bedeutung 40, 56, 68, 83, 88, 119, 145 f., 151, 174, 208–212, 219, 223, 243 f., 246, 251, 251, 253, 255, 257 ff., 261, 263, 270, 275, 285, 289 – Bedeutungsabschätzung 177 – Bedeutungsartikulation 45 – Bedeutungsbegriff 15, 146, 208, 218, 257, 267, 276, 289 ff., 302, 340 – Bedeutungsbildung 290 – Bedeutungsdimension 209 – Bedeutungseinheit 219 – Bedeutungsgehalt 211 f., 261 – Bedeutungsgesichtspunkt 207 – Bedeutungshintergrund 44 – Bedeutungshorizont 212 – Bedeutungsintention 210 – Bedeutungskategorie 15 – Bedeutungskern 79 – Bedeutungskonstruktion 146, 260 – Bedeutungskonzeption 43 – Bedeutungsreichtum 86 – Bedeutungssphäre 44 – Bedeutungsstruktur 15, 258

Sachregister

– Bedeutungstheorie 16, 43, 82, 178, 180, 198, 208, 223, 253, 289 – Bedeutungszusammenhang 84, 146, 195, 212 f., 245 f., 251, 253, 255, 262, 267 – Bedeutungszuweisung 261 – Einzelbedeutung 212 – Wortbedeutung 84 bedeutungsverleihender Akt 210 bedeutungsvoll 209 ff., 213, 258 Berufsbildung 194, 362 Berufsklasse 333 Besinnung 34, 44, 68, 72, 249 f. Bewusstsein 89 ff., 94, 109, 123–131, 133 f., 136, 139, 145, 150, 153, 155, 170, 172, 174, 207 f., 210, 215 f., 218, 223, 228, 230, 236, 242, 252, 254, 261, 267, 273 f., 277, 279 f., 282, 288, 305, 308 f., 316, 318, 334 ff., 338 f., 344, 352, 358 f. – Außenweltbewusstsein 120, 131, 134– 137, 140, 148, 159 – Bewusstseinsakt 137, 167 – Bewusstseinseinheit 154, 262 – Bewusstseinsgestalt 124, 138, 285, 335 – Bewusstseinshaltung 174, 329 – Bewusstseinshaushalt 135, 147, 223 – Bewusstseinsleben 69, 106, 120, 123 f., 126 f., 129 ff., 135, 138 ff., 144 f., 148, 154, 166, 168 f., 170, 172, 186, 194, 236 f., 239, 248 f., 268, 270, 276, 285, 297, 301, 305 – Bewusstseinsphänomene 42, 136, 150, 276, 278, 287 – bewusstseinsphänomenologisch 148, 153 – bewusstseinsphilosophisch 139, 305 – Bewusstseinstatsache 123, 127 f., 130, 136 f., 153, 174 – Bewusstseinstheorie 135, 167, 276 f., 282 – Bewusstseinsvollzüge 5, 120, 123 ff., 135, 140, 147 f., 153, 169, 277, 282, 286 – Objektbewusstsein 89, 133 f., 138, 141 f., 155 – religiöses Bewusstsein 274, 277 f., 280, 282, 285 f., 288 f., 294, 305, 330, 334, 336, 352

393

Bibel 23, 27, 31, 33, 35 f., 38, 47, 53, 54 ff., 59 f., 65 f., 70, 116, 198 – Bibelganzes 64 – bibelhumanistisch 345 – Bibelkanon 64 – Bibelkritik 346 – Bibelwissenschaftler 34 – Bibelstellen 65 – Bibelumgang 67 Biographie 53, 94, 165, 192, 212, 215, 217, 221, 228, 232 f., 237–244, 246–250, 256, 259, 264, 283, 306 f., 308, 312, 358 – Biographietheorie 240 – b. Geschichtsschreibung 163 – b. Historiographie 247, 264 – b. Selbstkonstruktion 259 – b. Selbstreflexion 256, 263, 358 – interbiographisch 221 – historische B. 248 – paradigmatische B. 247 – syntagmatische B. 247 – werkbiographisch 39, 47, 52, 55, 88, 102, 121, 198, 296, 306, 318 – Wissenschaftsbiographie 52 Böse, das 40, 66, 68, 263 Christentum 4, 9, 13, 68, 70 f., 78, 93, 97, 111 f., 185, 260, 277, 292, 294 ff., 299, 328 f., 331 f., 334–339, 341 ff., 347–350 – Christentumsbetrachtung 332 – Christentumsentwicklung 328 – Christentumsgeschichte 74, 76 f., 335 f., 338 – Urchristentum 294 Christologie 7 f., 10 f., 40, 183, 207, 216, 221 f. Darstellen 93 f., 115, 174, 176, 179, 182, 256, 278 Darstellung 69, 77 f., 94, 96, 109 f., 154, 161, 169, 171, 174 ff., 178, 217, 221 ff., 225 f., 228–231, 237 f., 241 f., 244, 247, 255, 257, 265 f., 271, 294 f., 297 f., 306, 314, 336 – Außendarstellung 172 – Begriffsdarstellung 69 – Darstellungsebene 222 – Darstellungsfindung 105

394

Sachregister

– Darstellungsgestalt 250 – Darstellungsproduktion 107 – Darstellungsrelation 170 – darstellungstechnisch 51 – Darstellungsverhältnis 175 – Darstellungsweisen 69, 220 – Fremddarstellungen 244 – Gesamtdarstellungen 242 – Geschichtsdarstellung 229 – Lehrdarstellung 71 – religiöse D. 295 – Selbstdarstellung 200, 258, 262, 264 Dasein 93, 146, 156, 190, 208, 235, 243, 249 f., 267, 272, 274 f., 289, 293, 337, 348 Deuten 116 f., 119, 149, 163, 192–196, 248 ff., 270, 283, 288, 294, 337, 363 f. Deutung 35, 151 f., 194 f., 248, 252, 257 ff., 267, 276, 281 f., 284, 295, 323, 325, 343 Dichtung 61, 146 f., 149, 152, 172, 195, 258, 289, 291, 312 diesseitig 325 Dogmatik / dogmatisch 4, 24, 31, 40, 42 f., 47 f., 51, 53 ff., 64 ff., 69 ff., 295 f., 336 ff., 340, 343, 345, 347 – Dogmenkritik 347 Eigentümlichkeit 57, 59, 61, 63, 72, 77 f., 83 f., 86, 93, 97, 101 f., 105, 111 f., 116, 161, 211, 242 f., 245, 256, 268, 309 Einbildungskraft 8, 43, 89 f., 125, 172, 220 f., 223, 282 f., 290 f., 295 Einfühlen / Einfühlung 62, 168, 249 – Einfühlungshermeneutik 61, 355 – Einfühlungstheorem 36 Einheit 9, 15, 31, 35, 48, 50, 54 f., 57 f., 64, 66, 72, 74, 76, 78, 84, 86, 110 f., 129 f., 138 f., 141–144, 148 f., 151, 170, 175, 189, 203, 218, 221 f., 235, 239, 241, 250 ff., 255, 257, 266, 268, 272, 278, 281 f., 293, 297, 299, 300 f., 304 f., 309 f., 312, 315, 321 f., 325, 327, 334, 350, 352 f., 356, 361 – Bedeutungseinheit 219 – Einheitliche, das / Einheitlichkeit 78, 129, 144, 182, 255, – Lebenseinheit 120, 124, 146, 170, 186, 233, 237, 239 ff., 262, 264, 275, 302

Einstellung 23, 38 f., 42 f., 55, 79, 138, 152, 162, 169, 172 f., 178, 194, 196, 209, 215 ff., 250, 302, 305, 332, 340, 361, 364 Empfindung 90, 133, 140, 142, 144 empiristisch 80, 141 Endlichkeit 204, 206, 208, 273, 274, 285 f., 346 Erfahrung 14 f., 40, 42, 47, 120–124, 126, 128 ff., 133 f., 140, 144–147, 150 f., 154, 163, 171, 198 f., 201, 207, 236 f., 252 f., 259, 262, 272 f., 275 f., 277 f., 281 ff., 285 ff., 291, 295–299, 329 ff., 335–339, 358, 360 f. – Erfahrungswissenschaft 122, 125, 136 – Freiheitserfahrung 281, 284, 288, 351 f. – Kontingenzerfahrung 272 f., 285 – Konversionserfahrung 260 – Lebenserfahrung 206, 285 f., 301, 361 – Passivitätserfahrung 277 – Sinnerfahrung 15, 259 – Widerstandserfahrung 131, 133 f., 136 – Willenserfahrung 159, 284, 342 – Wirklichkeitserfahrung 105, 128, 149, 180, 331, 335 Erinnern 123, 125, 134, 167, 252, 263 ff., 268, 290 Erinnerung 123, 125, 134, 245, 252, 255 ff., 260, 262 f., 265 f., 290, 351 Erkennen 82, 99, 118, 120, 139, 141–145, 147–151, 166, 173–176, 194, 205, 207, 216, 222, 225, 232, 262, 272, 298, 302, 329 – Wirklichkeitserkennen 172 Erkenntnis 46, 58, 69, 81, 120, 125, 128, 141, 160, 162, 195, 206, 208, 214, 217, 224, 230, 240, 296, 301, 309, 315, 330, 336, 338, 350, 353 – Gotteserkenntnis 329 Erkenntnisanthropologie 124 erkenntniskritisch 122, 156 Erkenntnispsychologie 17, 119–124, 126, 131, 136 f., 147, 153, 159, 214, 216, 335 Erkenntnistheorie 5, 76, 82, 99, 117 f., 120–124, 126, 131, 135 f., 142, 150, 174, 181, 183, 194, 201, 210, 214, 228 f., 236, 248 f., 308 f., 311 f., 315, 334 f., 355 Erleben 7 f., 12, 15, 146, 148, 150, 154, 156, 165 f., 168, 173, 175, 178 ff., 182,

Sachregister

211, 218, 258, 260, 271, 278–281, 283 f., 286 f., 294, 297, 331, 334, 343, 358–361, 363 ff. – Einheitserleben 145, 151 – Erlebenswelt 292 – Freiheitserleben 287, 342, 350 – Ganzheitserleben 350 – Individualerleben 250 – Nacherleben 8, 115, 123, 128, 132, 139, 158, 221 – Unbedingtheitserleben 334 – Selbst-Welt-Erleben 295 Erlebnis 123, 125 f., 128, 138, 146, 165 f., 168, 176, 197, 252, 257, 259, 261, 263, 277 ff., 283, 285, 291 ff., 295, 297 f., 329 f., 332, 338 f., 342, 358 f., 364 – Bekehrungserlebnis 40 – Erfüllungserlebnis 260 – Erlebnisausdrücke 173 – erlebnisbasiert 135 – erlebnisexpressiv 296 – Erlebnisgehalt 280, 295, 330 – Erlebnisgeschichte 263 – Erlebnisgrundlage 8 – Erlebnishaushalt 270, 364 – Erlebniskonzeption 146 – Erlebnisperspektivität 294 – Erlebnissphäre 270 – Erlebnisstruktur 146, 154, 275 – erlebnistheoretisch 283 – Erlebnisunmittelbarkeit 294 – Erlebnisvollzug 170, 364 – Erlebnisweisen 156, 279 – Erlebniswelt 156 – Freiheitserlebnis 281 – Gefühlserlebnis 174 f. – Individualerlebnis 207 Erlösung 272, 295 Ethik 73–78, 80 ff., 97, 99, 101–103, 111 f., 183, 185, 281, 307, 310, 312, 316, 322 – Ethikentwurf 316 – Ethikkonzept 74 – Formalethik 281 – Gefühlsethik 281 – Gesinnungsethik 185 – Güterethik 73 ff., 77, 95 f., 101, 103 – Individualethik 77 – Kulturethik 185

395

– Pflichtenethik 74, 92 – Sollensethik 75 – Sozialethik 77 – Vernunftethik 281 Ethikotheologie 283 Ethnologie 118 Evidenz 128, 297 – Evidenzbewusstsein 62 Ewige, das / Ewigkeit 91, 284, 287, 297 Exegese 10, 27 f., 31, 33 ff., 41, 47, 51 f., 55, 57, 63 f., 66, 70, 71, 108, 363 – Bibelexegese 23 – e. Anschauung 55, 57 – e. Kunst 26 f. – e. Schriften 33 – e. Technik 10 Existenz 10 f., 123, 128, 175, 189, 204, 235, 260, 273 f., 291, 307, 315 Falschverstehen 194, 263 Form / Formel 31, 51, 57, 60, 62, 65, 68, 75 ff., 83, 86, 95 f., 100, 106 f., 111, 141 f., 160, 162, 179, 182, 193, 197, 200, 210, 222, 249, 251, 256, 257, 285, 296, 307 f., 312 Fortschritt 3, 8, 59, 72, 80 f., 84, 103, 215, 217, 261, 294, 304 f., 310, 333, 339, 344 f. Fühlen 120, 126, 150, 172, 177, 178, 186, 330 Freiheit / freiheitlich 33, 70, 91 f., 207, 239, 280 f., 283 f., 287, 289, 297, 302 ff., 317, 328, 331, 334 f., 339, 342, 349–352 – Freiheitserlebnis / Freiheitserleben 281, 287, 342, 350 – Freiheitserfahrung 281, 284, 288, 351 f. – Freiheitsgebrauch 331 – Freiheitsidealismus / freiheitsidealistisch 305, 342, 352 – Freiheitsrealisierung 287 – Freiheitsreligion / Freiheitsreligiosität 280, 287, 298, 328, 332 – freiheitstheoretisch 283 f., 346 – Freiheitsvollzug 91, 282, 351 – Systemfreiheit 52 Fremdverstehen 17, 152, 158, 165, 168, 215, 242, 248 f., 264 Frömmigkeit 4, 256, 258, 270, 338–341, 343, 352, 364 f.

396 – – – – – – – – –

Sachregister

Frömmigkeitsbewegung 322, 341, 349 Frömmigkeitsgestalt 111, 349 Frömmigkeitshaltung 338 f. Frömmigkeitsintention 336 Frömmigkeitshaltung 300 Frömmigkeitspraktiken 364 Frömmigkeitsrichtung 339 Frömmigkeitstyp 349 Weltfrömmigkeit 279 f., 349

Ganzheit 14 f., 61, 65, 111, 169, 212, 218, 221, 223, 226, 236, 252, 255, 260, 295, 351 f. Gedächtnis 125, 257, 265, 290 – Gedächtnisarbeit 197 – Gedächtnisleistung 125, 258 Gefühl 62, 71, 77, 128, 132 f., 137, 147, 150, 169, 171, 174 f., 177, 191, 204, 241, 277 f., 286, 302, 305, 317, 359 – Gefühlsleben 170, 290, 302, 305, 317, 330 – Gefühlswert 170 – Lebensgefühl 7, 137, 169 f., 340, 352 – Passivitätsgefühl 277 Gegenständlichkeit 134 Gegenstand 10, 23, 41, 54, 56, 61, 68 f., 82, 90, 98, 102, 106, 111, 124, 126 ff., 133 f., 137, 141, 143, 145, 147 f., 151, 153, 157, 169, 173 f., 189 f., 195, 200, 207, 209 f., 212 f., 217 ff., 222 f., 225, 228 f., 231, 234, 237, 242, 244, 247, 254, 266 f., 291 ff., 318, 330, 334, 356, 359, 361 f., 364 f. – vergegenständlichen / Vergegenständlichung 132, 171, 174, 280, 282, 284, 295 – Vergegenständlichungsleistung 173 Gehalt 7, 40, 43, 49, 55, 57, 67 f., 79, 89 f., 106, 120, 122 f., 125, 143, 150, 154, 163, 173, 197 f., 209 f., 212, 216, 219, 244 f., 248, 253, 258 f., 268, 277, 293, 295–298, 310, 330, 336, 338 f., 364 – Bedeutungsgehalt 211 f., 261 – Sinngehalt 40, 56, 65, 360 Gehirn 171 Geist / geistig 6, 10, 15 f., 32 f., 35, 39, 48, 51 ff., 56, 59–62, 66, 68, 73, 80, 84, 86 f., 89 ff., 94, 100, 103, 106, 108 f., 115 f., 121, 126, 128, 138, 141, 155,

156–162, 168, 171 f., 177 f., 179 ff., 185, 187, 190, 194 f., 197–210, 222 f., 226, 229, 232, 237, 239, 242, 249, 268, 279, 281, 283, 289, 293, 296, 298, 301, 302, 304 f., 312, 315, 317, 319, 321, 323 f., 327, 329 f., 334, 337, 340, 342, 350, 357, 359, 361 ff., 365 – Geistesbegriff 168, 203, 357, 359, 363 – Geistesgeschichte / geistesgeschichtlich 6, 16, 26, 32, 39, 41, 52 f., 304, 308, 326, 335 – Geistesgestalt 207 – Geisteshaltung 345 – Geisteslage 6, 41, 311 – Geistesleben 91, 275 – Geistesphilosophie 115 – Geistestätigkeit 91 – geistlich 35, 40 – geistreich 87 – Geiststruktur 360 – geisttheoretisch 178, 195 – Geistesverfassung 335 – Geistverständnis 79 f. – Geistwesen 282 – Geistwirken 347 – Gemeingeist 111, 299 – Gesamtgeist 199 – Nationalgeist 96 Geisteswissenschaften 1, 4 f., 13, 50, 75, 77, 78 f., 116, 118, 121, 152, 157, 165, 180, 187, 191, 193, 204, 206, 209 f., 216, 218, 224–228, 230 f., 233 ff., 237, 246, 323, 325, 356 f., 361 ff., 365 Geltung 5, 7, 11, 23, 34, 54, 65, 84, 91, 112, 118, 120, 126, 141, 151, 155, 168, 174 f., 190, 208, 220, 224, 227, 229, 277, 279, 284, 294 ff., 298, 308, 315, 320, 331, 332, 347, 350, 355, 357 Gemeinde 188, 331, 335 Gemeindeleben 337 religiöses Genie 289, 291, 293, 299, 364 Gerechtigkeit 344, 346 Gericht 343 Geschichte 2, 4, 8 f., 11 f., 14 ff., 19, 22 f., 33, 35, 43, 45, 52, 56–59, 67, 70–73, 75 ff., 79 ff., 85, 88, 95 f., 98 f., 103, 111 f., 115 f., 119, 121, 125, 143, 152, 166 f., 181 f., 186 f., 189, 198, 202 ff.,

Sachregister

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

207, 211 ff., 215 ff., 219 f., 222 ff., 226– 230, 232, 234 f., 237–241, 243–247, 250– 253, 255 f., 261, 263 ff., 267 f., 279, 289, 293 ff., 299 f., 303 f., 307, 312 ff., 316, 319 f., 323, 328, 332, 334, 339, 351, 359 Auslegungsgeschichte 55 Christentumsgeschichte 74, 76 f., 335 f., 338 Entwicklungsgeschichte 64, 228, 246 Erlebnisgeschichte 263 Frühgeschichte 8 Geistesgeschichte 6, 326 Geschichtsanschauung 58, 79, 238 Geschichtsauffassung 5, 11, 88, 96, 106, 201, 214 Geschichtsbegriff 72, 80 Geschichtsbild 96, 220, 267 Geschichtsbewusstsein / geschichtsbewusst 55, 72, 231, 265, Geschichtsdenken 11, 112, 223, 231 Geschichtsdeutung 267 Geschichtserklärung 257 Geschichtserzählung 44, 222 Geschichtsereignis 189, 218 Geschichtsformeln 96 Geschichtsforschung 73, 100, 230 Geschichtsglaube 67 Geschichtshermeneutik [siehe Hermeneutik] Geschichtskonzeption 222, 294 Geschichtskunde 75 f., 99 Geschichtsmodell 87, 111 Geschichtsmomente 221, 268 Geschichtsperioden 294, 337 Geschichtsphilosophie / geschichtsphilosophisch 3, 57, 118, 199, 224, 232, 234, 268 Geschichtsprinzipien 75, 96 Geschichtsschreibung/ Geschichtsschreiber 45, 55, 118, 163, 214, 217 ff., 220–223, 225, 227–232, 241 f., 322, 341 Geschichtstheorie / geschichtstheoretisch 56, 72 ff., 78, 117, 119, 206, 214, 222 Geschichtsverlauf 146, 190, 218, 240, 265 Geschichtsverstehen / Geschichtsverständnis 15, 80, 214 ff., 220, 223, 230, 264, 267 f., 355

397

– Geschichtswissenschaft 42, 73, 75, 80, 100 f., 116, 118, 206, 214 f., 217, 219 f., 224 f., 229–233, 238, 241–244, 251, 264, 266 – Geschichtszusammenhang / Geschichtsganzes 238, 240, 250, 266, 268 Geschöpf 342 Gesellschaft 13, 48, 50, 99, 111, 118, 126, 136, 151, 157, 159 ff., 166, 179–182, 184, 187–191, 200, 202 f., 205 f., 208, 214, 217 f., 221, 224 ff., 230 f., 232–239, 254 ff., 262, 270, 292, 317, 326, 339 f., 343, 349, 360, 362 Gesetz 69, 210, 227, 245, 283, 295 – Drei-Stadien-Gesetz 234 Gesinnung 281 Gewissen 282, 287, 343 Gewissheit 47, 62, 89, 123, 148 – Gewissheitscharakter 135 – Realitätsgewissheit 128 Glaube 14, 27, 71, 134 ff., 153, 158, 208, 221, 224, 280, 312, 330, 335, 339, 341– 344, 350 – Außenweltglaube 148 – Geschichtsglaube 67 – Glaubensanalogie 65 – Glaubensformeln 65, 347 – Glaubensformen 54 – Glaubensleben 338 f. – Glaubenslehre 4, 27, 96, 158, 337, 345 – Glaubenswelt 293 – Glaubensvorstellung 295, 336 – Kirchenglauben 56 f., 67 – Religionsglaube 67 Gnade 291, 344 Gott / göttlich 9, 14, 35 ff., 54, 69, 90, 276, 278, 283 f., 287 f., 291, 295 ff., 305, 307 ff., 312, 318 f., 321 ff., 325 f., 329 f., 334, 336 f., 342–346, 348, 352 – Gottesbewusstsein 330 – Gottesbeziehung 330 – Gotteserkenntnis 329 – Gottesfrage 15 – Gottesgedanke 14 – Gottheit 277, 309, 321, 330, 333 – Gottesverhältnis 329, 340 – Gottesvorstellung 282, 333 f.

398

Sachregister

Göttliche, das 278, 315, 321 f., 324 f., 330, 348, 353, 363 Grenzbegriff 83 Gute, das 254, 281, 344, 346 Habitualisierung 284, 364 Handeln / Handelnder 74–78, 81, 90, 102, 105, 177, 179, 182, 184 f., 190, 195, 200 f., 207, 211, 213, 234, 247, 254, 281, 281, 299, 317, 344, 358, 360 Handlung 89, 109, 117, 163 f., 173, 176 ff., 182, 184, 186, 188, 211, 219, 221, 237, 241, 249, 252, 254, 261, 263, 281, 333, 346, 361 – Handlungstheorie / handlungstheoretisch 74, 77, 166, 176, 184 f. – Tathandlung 89, 129 f., 139 heilig 39, 91 Heilige, das 256, 334 Heilige Schrift 23, 27–30, 35, 37, 39 f., 47, 54, 58, 64, 66, 70 Heiliger Geist 39 f. Heiligkeit 66 Heiligkeitsansprüche 344 Heiligung 259 Heilsgeschichte 125, 137, 216 Hen-kai-Pan 307 Hermeneutik 10–15, 19–22, 24–31, 38 f., 41–56, 58–64, 70, 72 f., 78, 88, 95, 97– 110, 112 f., 115 ff., 119, 128, 151, 157, 166 f., 223, 253, 257, 276, 299, 355 – Aufklärungshermeneutik 19, 25, 107, 117 – Bibelhermeneutik 26, 30, 47, 53 f., 59, 64 f. – Einfühlungshermeneutik 61, 355, 363 – Evangelienhermeneutik 221 – Hermeneutikgeschichte / hermeneutikgeschichtlich 19, 26, 28, 30 ff., 37, 40, 45, 49, 53, 59, 70, 72, 103, 107, 109 – Hermeneutikkonzeption / h. Konzeption 19, 22, 43, 45, 72, 98, 102 – Hermeneutikprinzip 30 – h. Billigkeit 19 – h. Besinnung 68 – h. Denken 53, 108 – h. Disziplin 27, 64, 98 f. – h. Grundsätze / Prinzipien 34, 73, 109

– – – – – –

h. Logik 128 h. Modell 8 h. Operationen 29, 65 f., 164 h. Philosophie 360 h. Regeln 29, 43, 50, 55, 65 h. System / Systematik 26, 48, 73, 108 – h. Theologie 12 f., 16 – h. Theorie 34, 39 – h. Tradition 19, 49, 109 – h. Verfahren 99, 109 – h. Wende 2, 165 f. – h. Wissenschaft 26, 108 – h. Zirkel 260 – Geschichtshermeneutik / geschichtshermeneutisch 36, 267 – Kulturhermeneutik / kulturhermeneutisch 191, 193, 195 f., 198, 212, 217 – Regelhermeneutik 63 – Religionshermeneutik 341 – Spezialhermeneutik 49 Historie 4, 43 f., 57, 68, 79, 112, 193, 215, 224 f., 227, 244, 265, 268, 348 – Aufklärungshistorie 219 Historiographie 19, 216, 219 ff., 229, 232, 244, 247, 264, 305, 328, 332 Historik 75, 100, 116, 118, 207, 214, 219, 232, 248 Historismus 3, 6, 12, 41, 100, 116, 201, 214 f., 217, 231 f., 268 Hochreligionen 293, 299, 303, 332, 334, 336 Höchstes Gut 74, 80, 255 Holismus 182 Idealismus / idealistisch 3, 5, 66, 92, 118, 185, 207 f., 214, 268, 280, 302–305, 328, 342, 348 f., 350 ff. – Freiheitsidealismus / freiheitsidealistisch 342, 352 – konstitutionsidealistisch 91 – nachidealistisch 9, 118 Identität / identisch 76 ff., 82 f., 93, 97, 99, 101 f., 111 f., 143, 158, 236, 245, 252– 256, 259 f., 263, 268, 325, 357 f. – Identitätsbewusstsein 249, 252 f. Individualisierung 84, 326 – Individualisierungsprozess 94

Sachregister

Individualität 4, 11 f., 72 f., 81, 92 ff., 98 f., 103 f., 107 f., 111 f., 115, 168, 222 ff., 226, 229, 245, 248 f., 311 – Individualitätstheorie / individualitätstheoretisch 62, 84, 88, 91 f., 243, 310 f., 315 Institution 77, 117, 187, 206, 215, 224 Interpretation 12, 29, 31, 36, 48, 53 ff., 59 f., 64 f., 70, 86, 104 f., 107, 109 f., 112, 117, 119, 148, 151, 162, 194 f., 241, 263, 270, 275, 283, 289 – allegorische I. 27 – ästhetische I. 32, 59 f., 62 – Bibelinterpretation 47 – existentiale I. 10 f. – grammatische I. 24, 32, 34, 36 f., 102, 104, 106, 110 – grammatisch-historische I. 32, 34 f., 346 – historische I. 25, 32, 34–37, 43, 52, 56– 59, 62, 79 f., 106, 111 – Interpretationsakt 194 – Interpretationsansatz 34, 64, 107 – Interpretationsleistung 150 f. – Interpretationsmodell 60 – Interpretationsperspektive 38 – Interpretationsprodukt 148 – Interpretationsprozess 151 – Interpretationsregeln 72 – Interpretationstätigkeit 61 – Interpretationsverfahren 65 – Interpretationsverständnis 62 – Interpretationsvollzug 28, 31, 40, 282 – Interpretationsvorgang 11, 38, 149 – Interpretationsweise 43 – logische I. 48, 51 – moralische I. 56, 63 f. – psychologische I. 37–42, 44 f., 50 – Quelleninterpretation 219 – Selbstinterpretation 256 – synthetische I. 30 – technische I. 110 – technisch-psychologische I. 102–105, 107 – Wirklichkeitsinterpretation 151 Interpretationismus 152 intersubjektiv 82, 99, 118, 157 f., 160 f., 179, 182–185, 187 f., 192, 196, 200 f., 211, 239 f., 270, 287, 298, 351

399

Intersubjektivitätstheorie 92 Irrationale, das / irrational 85 ff. Irrationalität 271 Jenseits, das 325 – Jenseitsreligion 9 Judentum 27, 37, 111, 304 f., 332, 334 f. Kategorie 57, 61, 76, 96, 117, 136, 138 f., 141–147, 149, 151 f., 165, 167, 171, 174, 183, 198 ff., 227, 251 f., 254 f., 278, 287 f., 291, 296 f., 327, 357 f., 363 katholisch 27, 30 f., 341 Kirche 6, 30, 186, 337 f., 343, 345, 350 – Kirchenbildung 347 – Kirchengeschichte 28, 337, 338 – Kirchenglaube 56 f., 67 – kirchenkritisch 347 – Kirchenlehre 346, 348 – kirchenrechtlich 337 – Kirchentum 23 – Kirchenväter 28 Kontingenz 191, 259, 274, 285 Kontingenzbewältigung 272 – Kontingenzerfahrung 272 f., 285 – Kontingenzverarbeitung 259 Körper / körperlich 132, 139, 153, 156, 172, 175, 178 f., 196, 249, 321, 337, 347 Kosmologie 42 Kosmos 297 – Mikrokosmos 288 – Wissenschaftskosmos 98 Kritik / kritisch 9, 22, 24, 33 f., 37, 44, 48, 54 f., 64, 67, 68 ff., 76, 78, 93, 97, 99 f., 104–110, 117, 121, 135, 139, 141, 172, 182, 206, 216 f., 219 f., 223, 230, 257, 302, 309, 312 ff., 318, 343, 345 – historisch-kritisch 23, 36 f. – Ideologiekritik 191 – Quellenkritik 219 – traditionskritisch 208 Kultur / kulturell 6, 13, 15 ff., 58, 61 f., 73, 76–79, 81, 83, 106, 111, 115, 117 ff., 151, 159 ff., 163, 166, 173, 179 ff., 183 ff., 186 f., 189–199, 205, 207 f., 211 ff., 217, 221, 224 f., 234, 236 f., 240 f., 244, 247, 249, 262 f., 268, 270 ff., 283, 292 f., 300,

400

Sachregister

305, 312, 325 f., 329, 336, 339 f., 349 f., 355, 357, 360 ff., 363 ff. – Kulturaneignung 192 – kulturanthropologisch 184, 276 – Kulturarbeit 184, 189, 197 – Kulturauffassung 201 – Kulturalität 197 – Kulturbegriff 184, 208 – Kulturethik 185 – Kulturgebiete 189 – Kulturgeschichte / kulturgeschichtlich 6, 83, 186, 232, 244, 246 f., 317 – Kulturgrenze 348 – Kulturhermeneutik / kulturhermeneutisch 191, 193, 195 f., 212 – kulturhistorisch 3 – Kulturkonzeption 211 – Kulturkreis 160, 192, 195, 334 – Kulturleben 200 – Kulturleistung 77, 333 – Kulturmodell 16, 185, 213 – Kulturmuster 180, 195, 360 – Kulturphilosophie / kulturphilosophisch 3, 17, 78 f., 181, 183 ff., 188, 192, 201 – kulturprägend 360 – Kulturprodukt 198 – kultursoziologisch 333 – Kultursphären 205 – Kultursystem / kultursystemisch 183– 186–191, 194 f., 197, 205, 212, 235, 239, 246, 271, 301, 361 – Kulturtheorie / kulturtheoretisch 73 f., 119, 159, 167, 171, 184, 190, 195, 208, 212 f., 270 f., 292, 360 – Kulturverstehen 355 – Kulturwissenschaften 1, 13, 118, 180, 226 f., 289, 363 – Kulturzusammenhang 191, 196, 212 – Organisationskultur 191 – Religionskultur 350 – Wissenschaftskultur 362 – Wissenskultur 230 Kunst / künstlerisch 26 f., 62, 75, 77, 97, 99 f., 102 f., 105, 110, 119, 125, 171, 173, 176, 183 f., 186 f., 190, 195, 205, 216, 220–223, 229, 258, 260, 290 ff., 312 f., 314, 319, 324, 356

Leben 5, 15, 21 f., 28, 90 f., 96, 111, 119 f., 122 f., 128–131, 135–140, 142 ff., 146, 148, 150, 154, 160, 164, 166 ff., 170 ff., 176, 179, 181 f., 186 ff., 192 ff., 199 f., 204 ff., 208, 217, 220 f., 223, 228 ff., 232, 236, 239, 243–251, 253–256, 259–262, 264 f., 267, 270, 272–275, 277, 279 ff., 284 f., 291 ff., 295 f., 298–301, 33, 306, 311–314, 316, 318 f., 322 f., 326, 329, 331 ff., 335, 337 f., 340, 350, 352, 357– 362, 364 Lebensgeschichte 232, 236, 240, 242–245, 247–253, 256, 258 ff., 261 f., 264, 264, 267 f., 295, 357 Leib / leiblich 126, 154, 156, 160, 168, 172, 175, 282 Leiden 204, 262 f., 272, 274 ff., 304, 330 Literatur 33, 52, 311, 319 Macht 188 f., 293, 298 f., 330, 337, 348 Mensch / menschlich 2, 5, 9, 11, 15, 23, 35, 40, 47, 52, 56, 68–72, 74 f., 77 f., 80– 84, 87, 89, 91–94, 96 f., 101 f., 109 ff., 118, 120, 123–126, 128–131, 135, 139, 144, 147, 149, 153, 157, 161 f., 163, 166– 169, 171, 173, 175 f., 178 f., 181–184 f., 187, 189 f., 192, 196 f., 199 ff., 204 f., 207 f., 211, 213, 215, 217, 219, 222, 224, 230, 234, 236, 241 ff., 250, 253, 255, 256, 261, 266, 268, 270–291, 293, 295–300, 305, 308 f., 314 f., 317, 322, 326, 328– 335, 337–340, 342–349, 351, 356 f., 359– 362, 364 – Menschheit 93 f., 96, 161, 184, 250, 268, 284, 346, 359 – Menschennatur 12, 120, 157, 184 f., 268 Metaphysik / metaphysisch 4 f., 7, 9, 13, 42, 48, 51, 53, 58, 68, 199, 201, 203, 206, 228, 234, 275, 277, 279, 282 f., 288, 297 ff., 305, 307, 309 f., 314, 317, 321, 329, 331, 334, 336–340, 343, 347, 350 Mittelalter 27, 179, 186 f., 241, 292, 294, 296–299, 325 f., 328 f., 336–341, 347 Moderne / modern 2 f., 5–8, 16, 26, 41, 50, 76 f., 94, 115, 120, 179, 187, 202, 208, 215, 217, 227 f., 230, 241, 256, 268, 292, 300 f., 306, 311 f., 319 f., 325 f., 328, 344, 347, 349 f., 355, 362

Sachregister

Monotheismus 96, 304, 330, 333 ff. Moral / moralisch 55–58, 63 f., 67–70, 74 f., 78 f., 92, 112, 281, 284, 287 f., 317 f., 346, 348 – moralphilosophisch 68 Mystik 9, 272, 298 f., 304, 311, 334, 338 f., 341, 345, 347 Mythos 199, 283 Natur / natürlich 2, 5, 11 ff., 29, 33, 40, 42, 47 f., 53, 57 f., 68, 69, 74–77, 80, 83, 85, 88, 96 f., 110, 117 f., 126 f., 147, 152, 163, 165 f., 184, 187, 192, 203, 212, 221, 226 f., 234, 236, 241, 245, 256, 269 f., 271 ff., 277, 282, 284, 295 f., 302, 304 f., 308, 312 ff., 316–319, 323 ff., 327, 329, 331, 340, 346 ff., 351 f., 363 – Naturordnung 280 f., 287, 331, 335 – naturrechtlich 33, 35, 92, 189 – Naturzusammenhang 237, 280 f., 283 f., 323, 331, 335, 342 – Übernatur / übernatürlich 40, 69, 200, 280, 282, 284, 287, 305 Naturwissenschaft / naturwissenschaftlich 4, 11, 13, 79, 116, 145, 147, 149 f., 152, 172, 193, 195, 209 f., 226, 235 f., 238, 302, 362 Neues Testament 22, 28, 30, 34 f., 52, 59, 71 Neologie 23 Neuzeit / neuzeitlich 5 f., 13, 16, 19, 21, 25 ff., 31, 37, 53, 64, 78 f., 93, 97, 100, 103, 107, 109, 115, 117, 120, 171, 179, 256, 279, 292, 299, 306, 319 f., 325–328, 339, 346, 349, 355, 362 Norm / normativ 6, 61, 74 f., 85, 93, 188, 293 f., 301 Objekt 10, 89, 123, 127, 133, 136 f., 140, 145, 158, 163, 190, 210, 266, 270, 352 Objektivität 10 f., 140, 197, 206, 208 f. Offenbarung 14, 69, 71, 111 f., 295 – Offenbarungsmitteilung 36 – offenbarungstheologisch 40 f., 47, 350 – Schriftoffenbarung 23 Ontologie 42, 186 Ordnung 39, 71, 160, 188, 195, 202, 237 f., 267, 279, 282, 295, 302, 304, 322, 327, 330, 334, 336, 351 f.

401

Organisation 183, 188 f., 191, 199, 202, 235, 237, 246, 281, 327, 337, 340 Orthodoxie 34, 48, 53, 343 Panentheismus / panentheistisch 300, 305 f., 310, 315, 325 Pantheismus / pantheistisch 5, 272, 280 f., 284, 286, 287 ff., 300, 304–316, 318–321, 323–327, 341 f., 349–352 Person 36, 111, 122, 146, 152, 156, 159– 165, 168, 175, 197, 218, 242 f., 246 f., 250, 259, 266, 272, 279, 287, 293, 298 f., 302, 305, 331, 333, 339, 342, 347, 350 Pflicht 74 Phänomenologie / phänomenologisch 4, 130, 210, 351, 359, 360 Phantasie 184, 220 ff., 283, 290 Philologie / philologisch 15 ff., 19, 23 ff., 31, 33 f., 36, 39 f., 52, 55, 61, 65 ff., 79, 103 f., 107, 108, 110, 112, 193, 212, 220, 244, 355 Philosophie 1 f., 9 f., 16, 20, 24, 33, 38, 41 f., 45 f., 51, 63, 66, 72 f., 75, 77 f., 88, 90, 92, 94 f., 100, 107 f., 115 f., 121, 128 f., 136, 141, 143, 152, 167, 174, 183, 185 ff., 190, 193, 196, 198 f., 203–206, 223 f., 227 f., 231 f., 234, 249 f., 252, 288, 295, 299–302, 309, 312 f., 316, 320, 323, 326 ff., 332, 348, 350, 353, 360, 362 f. Physik 24, 233 Philosophiegeschichte 90, 250, 302 Physiologie / physiologisch 171 f. Pietismus 38, 41, 339 Poesie 59 Poetik 79, 119, 149, 172, 195, 226, 276, 283, 290 f. Politik / politisch 9, 33, 77, 160, 181, 183, 188, 190, 202, 206, 217, 224, 228, 232, 234, 239, 244, 247, 299, 317, 326, 340, 343, 348 Polytheismus 96 Praxis / praktisch 3, 21, 62, 68, 89, 147, 163, 176, 185, 192 f., 194, 206, 243, 253, 259, 339 f., 362, 364 f. Priester 333 – Priesterbetrug 333 – Priesterklasse 333

402

Sachregister

Protestantismus / protestantisch 8 f., 23, 26–31, 34, 54, 65, 34–344, 348, 350 – altprotestantisch 31, 39 f., 53, 66 Psychologie / psychologisch 1, 4, 37, 38– 45, 48, 50, 58, 69 f., 95, 102–105, 107, 116, 118 f., 122–130, 134, 136, 138 f., 141, 146, 153, 155, 159 ff., 166, 169, 172 ff., 176, 181, 186 f., 233, 237, 257, 271, 277, 279, 290, 298, 301, 303 ff., 349 Rationalismus 5, 345 f. Rationalität 1, 271 Recht 27, 77, 116, 160, 183, 188 ff., 195, 199, 205, 225 Rechtfertigung 259, 341, 343 f. – Rechtfertigungslehre 7 ff., 16, 136, 340, 343 f. – rechtfertigungstheologisch 343 f. Reduktionismus 172, 302, 351 Reflexion 3, 26 ff., 37, 62, 69, 75, 89, 91, 127, 137, 204, 207, 280, 297, 357, 364, 365 Reformation / Reformatoren 4, 7 ff., 16, 27 f., 66, 189, 300, 328, 337, 339–345, 347 f., 350, 364 Reich Gottes 284, 352 Relativismus 6, 15 Religion 2–5, 7, 15, 47 f., 55–58, 64, 66– 71, 77, 93, 97, 112, 115, 119, 122, 146 f., 149, 152, 160, 171, 183, 186, 190 f., 195, 204 f., 225, 246, 259 f., 270–281, 283, 285 f., 289, 291–294, 297–300, 303 f., 305 ff., 310 f., 328 f., 332 f., 337, 342 f., 345–351, 356, 363 ff. Religionsgeschichte, religionsgeschichtlich 3 f., 16, 66, 111, 239, 270, 274, 280, 286, 289, 292 ff., 296, 298 ff., 303 ff., 315, 319, 327 f., 332, 334 ff., 338, 340 f., 344, 349 f., 364 Religionskritik, religionskritisch 274, 333 f. Religionsphilosophie, religionsphilosophisch 2, 4 ff., 67, 71, 201, 271, 274, 284, 299 f., 306, 335, 342, 348, 350 f. Religionssoziologie 259 Religionstheorie, religionstheoretisch 70, 271, 277 f., 283 f., 342, 349

Religiös 3 f., 7 f., 27 f., 32, 40 f., 56, 58, 69 ff., 150, 152, 179, 186 f., 199, 259 f., 270 ff., 274–289, 291–300, 303–306, 311, 314, 328 ff., 332–340, 342–346, 347–350, 352, 355, 363 ff. Religiöse, das 284 Religiosität 187, 270, 278, 280, 283 f., 286 f., 291, 294, 298, 304, 306, 316, 319, 332, 334 f., 340 f., 348 f., 352, 364 Religionswissenschaft 4, 78, 171, 294, 350, 365 Renaissance 9, 300 f., 322–326, 340 Revolution 189, 217, 317 Rollensoziologie 250, 255 Säkularisierung / Säkularität 9, 49 Säkularisation 41 Satisfaktionslehre 346 Schöpfung 115, 163, 283, 293, 295, 297, 305, 331, 342, 350 – kulturelle Sch. 61 – Neuschöpfung 293, 364 – Sprachschöpfung 61 – Schöpfungslehre 331 – Schöpfungstheologie 288 – Schöpfungsvorstellung 284, 335 Schriftprinzip 30, 39 f. Schuld 287, 346 – Schuldige, der 346 – Schuldbewusstsein 344 Schulphilosophie 53, 171 Seele 39, 42, 80, 106, 277, 291, 322, 325, 333, 348 – Seelenleben 129, 156, 158, 282, 329 – Weltseele 318, 322, 323 ff., 327 – Weltseelenlehre 325 f. Sekte 34, 345 Selbigkeit 144, 236, 252, 268 Selbigkeitsbewusstsein 268 Selbstbesinnung 27, 124, 153, 256 f., 250 f., 255, 264, 279 ff., 301, 331, 358 Selbstbewusstsein 89 ff., 124, 129 f., 136 ff., 142, 144, 169 f., 304, 331, 359 f. Selbstdeutung 94, 256, 258 ff., 267, 304, 316 – Selbstdeutungsarbeit 259 – Selbstdeutungsentwürfe 260 – Selbstdeutungsgestalt 258

Sachregister

– Selbstdeutungsleistung 254 – Selbstdeutungsoption 94 – Selbstdeutungsprozess 261, 359 – Selbstdeutungsvorgang 258 Selbstgefühl 138, 169 f. Selbstreflexion 42, 256, 263, 358 Selbstverständigung 250, 256, 362 Selbstverstehen 215, 247, 250, 256, 264 f., 269, 357 f. Seligkeit 272, 304, 322 semantisch 210 f. semiotisch 146, 208 Sensus grammaticus 23 Sensus literalis 38 Sensus litterae 38 Sensus mysticus 40 Sinn 27 f., 35, 39 f., 52, 57, 63, 70, 86 f., 119, 145 f., 152, 163, 212, 240, 245, 249, 251 f., 253, 255, 275, 286, 317, 356 Sinnlichkeit 141 Sittengesetz 66, 92, 284 Sittlichkeit 74, 78, 93, 183, 185, 190, 281, 316 f. Skepsis 122, 356 Sola-scriptura-Prinzip 29, 340 soteriologisch 343 Sozialphilosophie 181–184, 188 Sozialpsychologie 250 Soziologie 118, 191, 233, 256 Sprache 43, 46, 56, 73, 77, 79, 81–86, 88, 96–99, 101–104, 106 f., 110, 112, 168, 171, 174 f., 183, 185, 190, 194 f., 199, 205, 271, 283 Staat 77, 83, 181, 183, 188, 190, 202 f., 205, 217, 222, 225, 232, 246 Subjektivität 89, 92, 108, 120, 153, 156, 236, 241, 253, 297, 301, 330, 340, 359 ff. – intersubjektivitätstheoretisch / Intersubjektivitätstheorie 92 – subjektivitätstheoretisch / Subjektivitätstheorie 92, 131, 136, 138, 153, 183 Sünde 346 – Erbsündenlehre 343, 346 – Sündenbewusstsein 344 – Sündenfall 295 Symbol, symbolisch 69, 175 f., 270, 279, 282 f., 291, 295 f., 346 Symbolik 284

403

Teleologie 146, 186, 203, 287, 359 Theismus 304, 316 Theologie 2–7, 9–16, 23–26, 28, 30, 32– 35, 38, 40, 42, 45, 47, 56, 59, 64, 66 f., 70 f., 111 f., 203, 215, 227 f., 234, 259, 294, 296 f., 304, 316, 323, 332, 336, 342, 344, 348 ff., 364 f. Theologiegeschichte / theologiegeschichtlich 16, 26, 28, 55, 66, 296, 337, 350 Tod 248, 272 f., 332, 346 Toleranz 345, 347 f. Transzendental 76, 82, 110, 124, 157, 164, 184, 210, 260, 309, 348 ff. Transzendentalphilosophie / transzendentalphilosophisch 70, 76, 89, 91, 109 f., 116, 157, 273, 308, 348 f. Transzendenz / transzendent 164, 286, 305, 331, 331, 334, 335, 337, 342 Trinitätsdogma 336 Tugend 74, 339 Überlieferung 33, 219 – Textüberlieferung 33 – Überlieferungsgestalten 69 – Überlieferungsgut 23 – Überlieferungsquellen 223 Unbedingte, das 275, 278 – unbedingt 92, 270, 285, 287 f. – Unbedingtheit 280, 339 – Unbedingtheitsbezug 284 – Unbedingtheitserleben 334 unendlich 137, 217 f., 222, 241, 243, 246, 254, 270, 275, 279, 285, 287 f., 294, 307 f., 309 ff., 314 f., 321, 331 Unendliche, das 278, 286, 310 f., 315, 324 f., 331 Unendlichkeit 279, 309, 315, 320 f., 325, 327 – Unendlichkeitsaspekt 274 – Unendlichkeitsdimension 274, 315 – Unendlichkeitsintention 274 Universum 204, 287 ff., 305, 307–310, 315, 317 f., 320 f., 324–327, 342 Urteilskraft 69, 219, 257, 313 f., 318 Vernunft 23, 29, 47, 57, 66–70, 75–81, 88, 101, 117, 121, 134, 158, 182, 204, 275, 277, 317, 327, 329

404

Sachregister

– Vernunftreligion 56 Versöhnungslehre 37 Verstand 43 f., 51, 69, 86, 142, 144 f., 223, 295, 297 Verständnis 11, 15, 29, 33, 44, 51 f., 61 f., 66, 69, 72, 80, 87 f., 100, 104, 112, 119, 149, 164, 201, 204, 206, 209, 220 f., 229, 241, 249, 253 ff., 257, 270 – Interpretationsverständnis 62 – Missverständnis 168, 181, 200, 240, 356 – Selbstmissverständnis 262 – Selbstverständnis 254 f., 258, 260 – Textverständnis 29 – Vorverständnis 106 – Weltverständnis 149, 195 – Wirklichkeitsverständnis 276 – Wissenschaftsverständnis 47 Verstehen, das 8, 11 f., 16 f., 27, 39, 44, 50 f., 55, 63, 95, 100, 107, 109 f., 115– 119, 147, 149, 151 f., 153, 156 ff., 161– 165, 168, 178 f., 192 f., 196, 200, 207 ff., 212, 215, 220, 223 f., 226, 229, 236, 238, 242, 244, 246, 248 f., 253, 255, 257, 261, 264–267, 270 f., 276, 282, 355, 358, 361, 363, 365 – Ausdrucksverstehen 165, 168, 215, 242 ff., 247 ff., 265 f., Verweltlichung 322 Vollkommenheit 30, 287, 294, 330 Vorstellung 36, 68 f., 82, 89 f., 123, 130, 132, 138, 142, 144, 148 f., 170, 174, 177, 275, 283, 288, 297, 309, 312, 314, 318, 320 ff., 324, 326 f., 330 f., 342, 345 Wahrheit 56, 58, 79, 158, 207 f., 223, 228, 230, 234, 237, 240, 258, 260, 281, 304, 330, 339, 345 Wahrnehmung 49, 123, 126 f., 133, 134 f., 140, 144, 149–152, 154 ff., 167, 173, 177, 196, 239, 254, 262, 355 Wechselwirkung 120, 179, 181–184, 186, 196 f., 235 ff., 239, 245 f. Welt 9, 48, 73, 78, 81, 90 f., 112, 116, 118, 126, 134, 136, 140 f., 147, 157, 161, 170, 180 f., 192 f., 194, 196, 198, 200, 205 ff., 211, 215, 217 f., 224, 230, 232, 234, 236, 238 f., 241, 246, 251, 263, 271 f., 275, 279, 282, 285–288, 293, 295, 297 f., 311,

317 f., 320 f., 324 f., 330 f., 335, 342, 345 f., 356 Weltanschauung 1, 7, 9, 199, 228, 285, 288, 291, 299 f., 302, 304 ff., 318, 332 f., 351, 364 – Weltanschauungsbegriff 7 – Weltanschauungstypologie / weltanschauungstypologisch 204, 271, 280, 292, 300, 303, 351 f. Wert 6, 78, 145 ff., 151 f., 174–177, 217 f., 235, 243 f., 246 f., 251, 254, 260, 273, 281, 289, 291, 296 f., 303, 340, 363 – Daseinswert 254 – Eigenwert 62, 216, 224, 245, 251, 254 f., 288, 294 – Gefühlswert 170 – Selbstwert 163, 216 – Umwertung 340 – Wertbestimmung 172 – Wertgesichtspunkt 254 – Werturteil 284 Werten 147, 239, 254, 274, 303 Wille / willentlich 43, 69, 74, 126 f., 129, 132 f., 140, 147 f., 177, 179, 182, 188 f., 200 f., 275, 280 ff., 284, 297 f., 305, 322, 329 ff., 331, 335, 337, 339, 350 – Willensakte 126, 284 – Willensbestimmung 74 – Willenserfahrung 159, 284, 342 – Willensleben 279, 284, 305, 330 f. – Willensmaximen 68, 281 Wirtschaft 77, 183, 196, 225, 271 – Wirtschaftswissenschaft 78 Wissenssoziologisch / Wissenssoziologie 191, 193, 212, 228, 246, 329 Wollen 120, 126, 172, 177 f., 186, 302, 330 Würde 287, 352 Zeichen 82, 151, 154, 175, 208–211, 213, 228, 274 Zweck 31, 57 f., 61, 65, 78, 89, 99, 145 ff., 151 f., 177 f., 185, 190, 206, 216, 218, 232, 235, 254, 259, 273, 281, 284, 311, 314, 342, 358 – Einzelzweck 255 – Lebenszweck 185, 197, 273 – Selbstzweck 287 – Zweckbeziehung 257

Sachregister

– Zweckgedanken 284 – zweckmäßig / Zweckmäßigkeit 186, 189, 314 f., 317, 327, 330 – Zwecksetzung 172, 177, 254, 259, 267, 352, 360 – Zweckstruktur 147

405

– Zweckvorstellung 147, 254 – Zweckzusammenhang 185, 187, 189 f., 231 Zweifel 122 f. Zweinaturenlehre 336