158 87 6MB
German Pages 860 [909] Year 2019
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 156 herausgegeben von
Rolf Stürner
Moritz Nissen
Das Recht auf Beweis im Zivilprozess
Mohr Siebeck
Moritz Nissen, geboren 1988; Studium der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2017 Promotion; Referendar am Kammergericht in Berlin.
ISBN 978-3-16-156213-6 / eISBN 978-3-16-156214-3 DOI 10.1628/978-3-16-156214-3 ISSN 0722-7574 / eISSN 2568-7255 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Times gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt. Es wurde von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit hat es zum Ziel, das Recht auf Beweis möglichst umfassend zu analysieren. Dabei wird zunächst der grundrechtliche Charakter des Rechts auf Beweis mitsamt seiner Gewährleistungen herausgearbeitet. Im Anschluss wird dieses Recht auf Beweis als Maßstab für die Überprüfung des geltenden Zivilprozessrechts herangezogen. Die Arbeit soll nicht nur Antworten auf grundlegende prozessund grundrechtliche Fragestellungen geben, sondern kann zugleich als Nachschlagewerk für die zivilprozessuale Praxis dienen. Naturgemäß haben an der Schaffung einer solchen Arbeit eine ganze Reihe von Menschen ihren Anteil. Daher möchte ich die nachfolgenden Zeilen für verschiedenste Danksagungen nutzen: Besonderer Dank gilt an erster Stelle Herrn Professor Dr. Alexander Bruns, LL.M. (Duke Univ.), der meine Themenwahl inspiriert und meine Arbeit betreut hat. Im Zuge dieser Betreuung hat er sich in jedem Stadium der Arbeit sehr viel Zeit für Fragen und Problemstellungen genommen. Unsere zahlreichen Gespräche haben mir immer wieder wertvolle Anregungen gegeben und diese Arbeit in erheblichem Maße mitgeprägt. Ganz herzlich danken möchte ich an dieser Stelle auch Herrn Professor Dr. Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner für die rasche Erstellung eines Zweitgutachtens und für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Schriftenreihe. Großer Dank gebührt ferner der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren Stipendiat ich vom Studium an und bis zum Ende meiner Promotion sein durfte. Ihre finanzielle und auch ideelle Förderung hat ganz erheblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Außerdem sei der Studienstiftung ius vivum ganz herzlich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses gedankt, der die rasche Veröffentlichung dieser Arbeit erleichtert hat. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem meinen Freunden aus Freiburger Zeiten. Ihr steter Zuspruch war mir eine große Hilfe und Motivation. Namentlich hervor heben möchte ich an dieser Stelle Lisa Majerus, Alex Duncker, Daniel Jehser, Matthias Dankemeyer und Niklas Burkart, die es auf sich genommen haben, Teile der Arbeit Korrektur zu lesen und wertvolle Hinweise zu ihrer Verbesserung zu geben. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle auch meiner Freundin Linda Heimisch. Ihre stetige und umfassende Unterstützung während der Entstehungszeit dieser Arbeit
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Vorwort
hat mir sehr viel Kraft gegeben und mich auch durch die Bearbeitung schwieriger Themenbereiche getragen. Abschließend gebührt meinen Eltern größter Dank. Sie haben mich von Studienbeginn an in jeder nur denkbaren Hinsicht unterstützt. Ohne ihre stetige Fürsorge wäre diese Dissertation in ihrer jetzigen Form kaum möglich gewesen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im Januar 2019
Moritz Nissen
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Einführung: die Bedeutung des Beweises im Zivilprozess . . . . 1 II. Die Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 III. Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts § 2 Rechtshistorische Betrachtung des Beweisrechts . . . . . . . . . . . . . 9 I. Der Zivilprozess im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 10 II. Der Zivilprozess im germanischen Recht von der Frühzeit bis zum Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 III. Der römisch-kanonische Prozess und seine Rezeption in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 IV. Der Prozess im gemeinen Recht in Deutschland . . . . . . . . . 53 V. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . 62 § 3 Rechtsvergleichende Betrachtung des U.S.-amerikanischen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I. Grundlagen und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Verfassungsrechtliche Grundlagen des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 III. Aufbau und Ablauf des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses in erster Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 IV. Das Recht auf Beweis in der pretrial Phase nach den FRCP . . . 84 V. Das Recht auf Beweis im U.S.-amerikanischen Zivilprozess nach den FRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VI. Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
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Inhaltsübersicht
2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta § 4 Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . 137 I. Zur Begründung der zwingenden Existenz eines Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Die Existenz eines Rechts auf Beweis in der EMRK und der GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 § 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . 148 III. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der EMRK . 168 IV. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der GRC . . 178 V. Das Verhältnis der untersuchten Grundrechtsordnungen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 § 6 Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . 199 I. Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 II. Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Die Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas als zentrale, immanente Grenze des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . 221 IV. Die weiteren immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . 234 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 § 7 Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I. Der weitere Gang der Untersuchung: die Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 II. Berechtigte und Verpflichtete des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 III. Grundlegende Gewährleistungen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 IV. Beweisantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 V. Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 VI. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Inhaltsübersicht
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VII. Beweisbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 § 8 Die Grenzen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . 401 I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 II. Die Definition eine Eingriffes in das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 III. Die Voraussetzungen einer zwangsweisen Einschränkung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . 411 IV. Die Voraussetzungen eines Verzichts auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . 446 VI. Zusammenfassung: Die Grenzen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
3. Hauptteil: Die Ausgestaltung des Rechts auf Beweis in der deutschen Zivilprozessordnung § 9 Beweisrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Das Recht der Prozessparteien auf Information . . . . . . . . . . 461 III. Die Ausgestaltung der mittelbaren Drittwirkung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 IV. Der Grundsatz der formellen Beweisunmittelbarkeit in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 V. Das Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 VI. Die vorprozessuale und prozessuale Beweissicherung in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 § 10 Beweisantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 I. Die formalen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 II. Die inhaltlichen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 III. Die zeitlichen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 § 11 Grundlagen der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 I. Der Grundsatz des Strengbeweises im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 II. Die weiteren Beweismittel der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
XII
Inhaltsübersicht
III. Der weitere Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 584 IV. Die allgemeinen Gründe für die Ablehnung einer Beweisaufnahme in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 § 12 Die einzelnen Beweismittel des Strengbeweises in der ZPO . . . . . . 637 I. Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 II. Sachverständigenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 III. Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 IV. Urkundenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 V. Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 § 13 Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 I. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 II. Die gesetzlichen Beweisregeln iSd § 286 II ZPO . . . . . . . . . 777 § 14 Beweisbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 I. Die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 II. Die gesetzlichen Ausnahmen von Begründungspflichten in den §§ 161, 313a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 § 15 Der Zivilprozess vor dem Amtsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 I. Das Recht auf Beweis im Zivilprozess vor den Amtsgerichten nach § 495a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 § 16 Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 I. Die historischen und rechtsvergleichenden Grundlagen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 II. Das Recht auf Beweis im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . 820 III. Die Ausgestaltung des Rechts auf Beweis in der deutschen ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.
Einführung: die Bedeutung des Beweises im Zivilprozess . . . . 1
II.
Die Ziele der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Der Entwurf des abstrakten Wertesystems eines Rechts auf Beweis 3 2. Die Anwendung des Rechts auf Beweis auf das geltende deutsche Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
III. Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts § 2 Rechtshistorische Betrachtung des Beweisrechts . . . . . . . . . . . . . 9 I.
Der Zivilprozess im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Der Zivilprozess in vorklassischer und klassischer Zeit . . . . . . . 10 a) Der Legisaktionenprozess: Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . 10 b) Veränderung des Verfahrens durch den Formularprozess . . . . . 12 c) Das Beweisrecht vorklassischer und klassischer Zeit . . . . . . 13 aa) Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 bb) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Der Kognitionsprozess in klassischer und nachklassischer Zeit . . . 17 a) Der klassische Kognitionsprozess: Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 b) Beweisrecht im klassischen Kognitionsprozess . . . . . . . . . 19 c) Veränderungen des Prozesses in nachklassischer Zeit . . . . . . 21 d) Beweisrecht im nachklassischen Kognitionsprozess . . . . . . . 22 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 bb) Beweismittel und Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . 23
XIV
Inhaltsverzeichnis
II.
Der Zivilprozess im germanischen Recht von der Frühzeit bis zum Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Der Zivilprozess im germanischen Recht von der Frühzeit bis zu den leges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 aa) Grundlagen und Ziel des Beweises . . . . . . . . . . . . . 30 bb) Beweismittel und Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . 30 cc) Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Der Zivilprozess im Frankenreich des frühen Mittelalters . . . . . . 35 a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Königsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Der Zivilprozess im Hoch- und Spätmittelalter bis zur Rezeption des römischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 aa) Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 bb) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
III. Der römisch-kanonische Prozess und seine Rezeption in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Die Rezeption des römischen Rechts in Oberitalien und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Grundlagen und Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
IV. Der Prozess im gemeinen Recht in Deutschland . . . . . . . . . 53 1. Entstehung und Entwicklung des gemeinen Prozesses in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Praktische Rezeption im 15. Jahrhundert bis zum jüngsten Reichsabschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) Prozessuale Kodifikationen und die weitere Entwicklung bis zum Erlass der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Ablauf und Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Beweisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Grundlagen des Beweisurteils und des Beweisverfahrens . . . . 58 b) Beweismittel und Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . 59
V.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . 62 1. Die Entwicklung des zivilprozessualen Beweisrechts im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Die Entwicklung in der Geschichte des römische Zivilprozesses 63 b) Der Einfluss des römischen Zivilprozessrechts auf die ZPO . . . 64 2. Die Entwicklung im germanischen Recht bis zum Spätmittelalter . 66 3. Die weitere Entwicklung bis hin zur Schaffung der ZPO . . . . . . 67
Inhaltsverzeichnis
XV
4. Schlussfolgerungen für ein Recht auf Beweis im heutigen Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
§ 3 Rechtsvergleichende Betrachtung des U.S.-amerikanischen Zivilprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 I.
Grundlagen und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
II.
Verfassungsrechtliche Grundlagen des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Die due process clause des 5. und 14. Zusatzartikels der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Das Kriterium der deprivation of life, liberty or property interests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 b) Der prozessuale Gewährleistungsgehalt der due process clause . 76 aa) Der herrschende Ansatz eines balancing tests . . . . . . . . 76 bb) Anerkennung eines right to present evidence durch Teile der Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 c) Die Bedeutung der Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien im adversary system . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Die Garantien des 7. Zusatzartikels: Das Recht auf ein jury trial . . 82
III. Aufbau und Ablauf des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses in erster Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 IV. Das Recht auf Beweis in der pretrial Phase nach den FRCP . . . 84 1. Grundlagen und Bedeutung der pretrial discovery . . . . . . . . . . 85 2. Ablauf und Stationen der discovery . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Umfang und Grenzen der discovery . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Das Kriterium der relevance in Rule 26 (b) (1) FRCP . . . . . . 88 b) Die Zulässigkeit von fishing expeditions nach Rule 26 (b) (1) FRCP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Die Begrenzung der discovery durch privileges und ihre Reichweite 90 a) Grundlagen und Telos der privileges . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Die privileges der U.S.-amerikanischen Verfassung . . . . . . . 93 aa) Privilege against self-incrimination . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Privilege concerning improperly obtained evidence . . . . . 95 c) Die anerkannten privileges qua Gesetz und nach dem common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Marital privilege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 bb) Attorney-client privilege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 cc) Physician-patient und psychotherapist-patient privilege . . 99 dd) Governmental secrets privilege . . . . . . . . . . . . . . . 101 ee) Weitere privileges nach dem Recht der Einzelstaaten . . . . 102 d) Die Begrenzung durch die work-product rule . . . . . . . . . . 102 5. Die einzelnen Instrumente der discovery . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Interrogatories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Production of documents and things . . . . . . . . . . . . . . . 105 c) Requests for admission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 d) Physical and mental examinations . . . . . . . . . . . . . . . . 107
XVI
Inhaltsverzeichnis
e) Depositions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 6. Der Schutz mittels protective orders . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 7. Sanktionen bei Verletzung der Pflichten im Rahmen der discovery . 111 a) Sanktionen nach Rule 37 FRCP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Verurteilung wegen contempt of court . . . . . . . . . . . . . . 112
V.
Das Recht auf Beweis im U.S.-amerikanischen Zivilprozess nach den FRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die Zulassung von Beweismitteln nach Rule 401, 402 FRE . . . . . 113 a) Grundsatz: Die Zulassung jeglicher Beweismitteln nach Rule 402 FRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Das Zulassungskriterium der relevance in Rule 402 FRE . . . . 114 2. Die weiteren Schranken der Beweiszulassung nach Rule 403 FRE . 116 a) Die Beweisausschlussgründe der FRE und ihre teleologischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Unfair prejudice, confusion of the issus, missleading of the jury 117 c) Undue delay, waste of time, needless presentation of cumulative evidence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 d) Sonderfall: Die character evidence nach Rule 404–415 FRE . . 120 3. Die privileges der Rule 501, 502 FRE . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4. Weitere Schranken der Beweiszulassung nach Rule 402 FRE . . . . 122 a) Hearsay rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Der Grundsatz in Rule 802 FRE und seine Ratio . . . . . . 123 bb) Definition von hearsay in Rule 801 FRE . . . . . . . . . . 125 cc) Ausnahmen qua Gesetz und common law . . . . . . . . . . 125 b) Die weiteren Schranken der Rule 602 sowie 701–706 FRE . . . 126 c) Leading Questions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 d) Best evidence rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
VI. Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta § 4 Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . 137 I.
Zur Begründung der zwingenden Existenz eines Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
II.
Die Existenz eines Rechts auf Beweis in der EMRK und der GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I.
Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Inhaltsverzeichnis
II.
XVII
Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . 148 1. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den prozessualen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Das Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Das Recht auf rechtliches Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Der Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Grundlagen und dogmatische Herleitung . . . . . . . . . . 154 bb) Der Justizgewährungsanspruches iSe Rechts auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der Literatur 155 a) Das Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Das Recht auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) H.L.: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Eigene Ansicht: Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Geringer Überschneidungsbereich mit dem Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Die Unterschiede zum Recht auf rechtliches Gehör . . . . . . . 160 c) Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Die Herleitung aus den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 bb) Der Justizgewährungsanspruch als ein Recht auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 cc) Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
III. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der EMRK . 168 1. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde in Art. 13 EMRK . . . . 168 2. Das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK . . . . . . . . 169 a) Das Recht auf Zugang zu Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Der Grundsatz der Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . 171 c) Die Konkretisierung des fairen Verfahrens in Art. 6 III lit. d EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 d) Das Recht auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3. Eigene Ansicht: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . 175
IV. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der GRC . . 178 1. Die justiziellen Grundrechtsgewährleistungen des Art. 47 GRC . . . 179 a) Das Recht auf effektiven Zugang zu Gericht in Art. 47 I GRC . . 179 b) Der Grundsatz prozessualer Waffengleichheit in Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Das Recht auf rechtliches Gehör in Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . 181 d) Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens . . . . . . . . 182 2. Eigene Ansicht: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . 183
XVIII V.
Inhaltsverzeichnis
Das Verhältnis der untersuchten Grundrechtsordnungen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Das Verhältnis von GRC und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Die rechtliche Bindung der GRC an die EMRK über Art. 52 III S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Die Bedeutung des Art. 52 III S. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . 189 c) Art. 52 III S. 2 GRC und mehrpolige Grundrechtsverhältnisse . . 190 2. Das Verhältnis von GRC und GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Der Anwendungsbereich der GRC in Bezug auf das nationale Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Der Vorrang des Europarechts vor dem nationalen (Verfassungs-)Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Das Verhältnis von EMRK und GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Die EMRK als einfaches Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Das Gebot EMRK-konformer Auslegung des nationalen (Verfassungs-)Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 § 6 Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . 199 I.
Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
II.
Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Die gemeinsame Wertebasis des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Gemeinsames Wertefundament im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Inhaltliche Kongruenz des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Das Recht auf Beweis als eigenständiges prozessuales Grundrecht 204 3. Das Recht auf Beweis als Recht einer jeden Partei des Zivilprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Die Herleitung des Rechts auf Beweis aus den materiellen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Die Anerkennung des Rechts auf Beweis als prozessuales Grundrecht aller an einem Zivilprozess beteiligten Parteien . . . 207 4. Ausschluss eines negativen Gewährleistungsgehalts iSe Rechts auf Nichterhebung von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5. Die abstrakten Grundlagen der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Die Bedeutung des Rechts auf Beweis im Lichte seiner Wertebasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Der Orientierungspunkt einer Inhaltsbestimmung für das Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 aa) Der Prozesszweck nach der ZPO: Die Durchsetzung privater Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
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XIX
bb) EMRK und GRC: Maßgeblichkeit des jeweiligen nationalen Prozesszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 cc) Der abstrakte Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis 216 6. Das Recht auf Beweis als Gewährleistung effektiven Nachweises eigener Rechte in einem Parteiprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7. Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . 219 a) Die Existenz immanenter Grenzen des Rechts auf Beweis . . . . 219 b) Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . 219 c) Die argumentative Begründung immanenter Grenzen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
III. Die Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas als zentrale, immanente Grenze des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . 221 1. Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit in EMRK und GRC 221 a) Das Kriterum der Entscheidungserheblichkeit in der EMRK . . 222 b) Das Kriterkum der Entscheidungserheblichkeit in der GRC . . . 223 c) Eigene Ansicht: Gleichlauf mit dem nationalen Recht . . . . . . 223 2. Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit im GG . . . . . . . 224 a) Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer Tatsachen . . . . . . . 225 b) Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen (Indizienbeweise) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Rechtsvergleichend: Das Kriterium der relevance in Rule 401–403 FRE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4. Eigene Ansicht: Die Entscheidungserheblichkeit eines Beweisthemas als immanente Grenze des Rechts auf Beweis . . . . 229 a) Informationspflichten des Gerichts über entscheidungserhebliche Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 b) Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . 230 aa) Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer Tatsachen . . . . 230 bb) Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen . . . . . 231 cc) Grundsatz: Ermessensentscheidung des Gerichts . . . . . . 231 dd) Die Grenzen des gerichtlichen Ermessens und seine Überprüfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
IV. Die weiteren immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . 234 1. Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC: Maßgeblichkeit des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . 234 2. Substantiierung eines Beweisantrages . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Die Substantiierungsanforderungen in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Eigene Ansicht: Substantiierung eines Beweisantrages als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Beweisbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 a) Die weitere Unterteilung des Kriteriums der Beweisbedürftigkeit 238 b) Fehlende Beweisbedürftigkeit als immanente Grenze . . . . . . 239 c) Offenkundigkeit einer Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) Das Merkmal der Allgemeinkundigkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
XX
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bb) Das Merkmal der Gerichtskundigkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 cc) Eigene Ansicht: Offenkundigkeit als immanente Grenze . . 242 d) Erwiesenheit einer Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 aa) Das Kriterium der Erwiesenheit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 bb) Eigene Ansicht: Die Erwiesenheit einer Tatsache als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 e) Unbestrittenheit einer Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 aa) Die Wahrheitsfiktion unbestrittener Tatsachen als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 bb) Das Kriterium der Unbestrittenheit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 cc) Eigene Ansicht: Die Unbestrittenheit einer Tatsache als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 dd) Exkurs: Die Fiktion des § 138 III ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 f) Geständnis einer Tatsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Das Geständnis nach § 288 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 bb) Eigene Ansicht: Das Geständnis einer Tatsache als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 cc) Exkurs: Das Geständnis nach § 288 ZPO als Form des Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 g) Exkurs: Die gesetzliche Vermutung einer Tatsache . . . . . . . . 251 4. Ungeeignetheit eines Beweismittels . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) Das Kriterium der Ungeeignetheit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Eigene Ansicht: die naturwissenschaftlich belegte Ungeeignetheit eines Beweismittels als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . 254 5. Unerreichbarkeit eines Beweismittels . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Das Kriterium der Unerreichbarkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Eigene Ansicht: Die faktische Unerreichbarkeit als immanente Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 6. Die gerichtliche Entscheidung über die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 a) Grundsatz: Gerichtliche Ermessensentscheidung im jeweiligen Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b) Begründungspflichten und Überprüfbarkeit der Ablehnungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 7. Die weiteren Beweisablehnungsgründe in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 a) Die Annahme weiterer Ablehnungsgründe durch Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 b) Eigene Ansicht: Rechtfertigungsbedürftigkeit weitergehender Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 8. Die Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 244 StPO im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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XXI
a) Die Nutzbarmachung des § 244 StPO durch Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 b) Eigene Ansicht: Keine pauschale Übertragbarkeit des § 244 StPO 261
V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 § 7 Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I.
Der weitere Gang der Untersuchung: die Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Der Begriff des „Rechts auf Beweis“ in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Die Systematik der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis . . . 269 3. Die Aufeinanderfolge von GG, EMRK und GRC in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
II.
Berechtigte und Verpflichtete des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Berechtigung aller Parteien eines Zivilprozesses . . . . . . . . . 272 b) Verpflichtung des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Ausnahme: Verpflichtung der jeweils anderen Prozesspartei im Rahmen einer mittelbaren Drittwirkung des Rechts auf Beweis . . . 273 a) Konstellationen einer unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Die mittelbare Drittwirkung des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 aa) Die Ansätze einer Drittwirkung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 bb) Eigene Ansicht: Keine Drittwirkung in EMRK und GRC . . 275 c) Die mittelbare Drittwirkung des Rechts auf Beweis im GG . . . 276 aa) Die Entwicklung einer mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 bb) Eigene Ansicht: Anerkennung einer mittelbaren Drittwirkung im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
III. Grundlegende Gewährleistungen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Das Recht der Parteien auf Information . . . . . . . . . . . . . . . 280 a) Das Recht auf Information im GG . . . . . . . . . . . . . . . . 280 b) Das Recht auf Information in der EMRK . . . . . . . . . . . . . 281 c) Das Recht auf Information in der GRC . . . . . . . . . . . . . . 283 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 aa) Orientierung am Prozesszweck: Information als Grundlage für die Stellung sachgerechter und zulässiger Beweisanträge 284 bb) Informationsrechte im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 285 (1) Information über Anträge, Schriftsätze und sonstige Ausführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
XXII
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(2) Information über die Ansicht des Gerichts zur Sachund Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 e) Die gegenseitigen Aufklärungs- und Vorlagepflichten der Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 aa) Die Aufklärungs- und Vorlagepflichten von Beweismitteln im GG nach Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . 286 (1) Teile der Literatur: Anerkennung einer allgemeinen Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (2) H.M.: Keine allgemeine Anerkennung von prozessualen Aufklärungs- und Vorlagepflichten . . . . . . . . . . . 289 bb) Eigene Ansicht: Anerkennung einer Aufklärungs- und Vorlagepflicht als Ausfluss der mittelbaren Drittwirkung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . 291 (1) Inhalt: Aufklärungs- und Vorlagepflicht von Beweismitteln im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . 292 (2) Grenzen: Überwiegende Gegenrechte der anderen Partei oder Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Die formelle Unmittelbarkeit einer Beweisaufnahme im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 a) Die formelle Beweisunmittelbarkeit im GG . . . . . . . . . . . 293 aa) BVerfG: Kein verfassungsrechtlicher Gehalt der Beweisunmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Teile der Literatur: Gewährleistung der Beweisunmittelbarkeit im GG . . . . . . . . . . . . . . . . 294 b) Anerkennung der formellen Beweisunmittelbarkeit als Teilgehalt des Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 aa) Orientierung am Prozesszweck: Eigener Eindruck der zu würdigenden Beweismittel als wichtiger Baustein des effektiven Rechtsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 bb) Gewährleistung der formellen Beweisunmittelbarkeit . . . . 296 cc) Ausnahmen: Ermöglichung einer Beweiserhebung als solcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (1) Der Konflikt zwischen Beweisunmittelbarkeit und einer Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (2) Insbesondere: Erhebung im Ausland belegener Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 3. Das Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme . . . . . . . . . 298 a) Das Teilnahmerecht einer Beweisaufnahme im GG . . . . . . . 299 aa) Die Auffassung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 bb) Die Ansicht der Fachgerichte und der zivilprozessualen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 b) Das Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme nach Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 c) Das Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme nach Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
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aa) Orientierung am Prozesszweck: Grundlage einer aktiven Mitwirkung der Parteien an einer Beweisaufnahme . . . . . 302 bb) Gewährleistung eines Rechts auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4. Finanzielle Voraussetzungen eines Beweisverfahrens . . . . . . . . 304 a) Finanzielle Voraussetzungen eines Beweisverfahrens im GG . . 304 aa) Anerkennung einer Kostentragungspflicht durch das BVerfG 304 bb) Weitergehende Ausnahmeerfordernisse nach der Literatur . 306 b) Finanzielle Voraussetzungen eines Beweisverfahrens in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 aa) Anerkennung der Prozesskostenhilfe als Ausfluss des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 bb) Das Erfordernis verhältnismäßiger Gerichtskosten nach Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 c) Finanzielle Voraussetzungen eines Beweisverfahrens in der GRC 309 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 aa) Orientierung am Prozesszweck: Kostenrisiko der Beweisaufnahme als faktisches Zugangshindernis einer durch die Parteien initiierten Beweisaufnahme . . . . . . . 310 bb) Grundsatz: Keine Gewährleistung eines kostenfreien Beweisverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 cc) Gewährleistung äquivalenter und verhältnismäßiger Gebühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 dd) Das Recht finanzschwacher Parteien auf eine effektive Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 5. Beweismaß und das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Beweismaß und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 aa) Grundsatz: Orientierung des Beweismaßes am materiellen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 bb) Ausnahme: Absenkung des Beweismaßes zwecks effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 cc) Teile der Literatur: Weitergehende Einwirkung durch die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 b) Beweismaß nach EMRK und GRC: Regelungskompetenz der jeweiligen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 aa) Orientierung am Prozesszweck: Beweismaß als feststehender Rahmen des Prozesses und Maßstab des Rechtsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 bb) Grundsatz: Keine Gewährleistung eines bestimmten Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 cc) Ausnahme: Strukturelle Nichterreichbarkeit des Beweismaßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6. Beweislast und das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . 320 a) Beweislast und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 aa) Grundsatz: Keine Einwirkung der Grundrechte auf die Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 bb) Ausnahme: Abweichende Verteilung zwecks effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
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cc) Teile der Literatur: Weitergehende Beweislastverteilung durch das GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 b) Beweislast nach EMRK und GRC: Regelungskompetenz der jeweiligen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 aa) Orientierung am Prozesszweck: Beweislast als weiter, abstrakter Rahmen des Prozesses im Falle der Nichterweislichkeit einer Tatsache . . . . . . . . . . . . . . 324 bb) Grundsatz: Keine Gewährleistung einer bestimmten Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 cc) Ausnahme: Strukturelle Unterlegenheit durch die Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 7. Sicherung von Beweismitteln im Vorfeld einer Beweisaufnahme . . 326 a) Die Sicherung von Beweismitteln im GG . . . . . . . . . . . . 326 aa) BVerfG: Anerkennung eines Rechts auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 bb) Teile der Literatur: Explizite Gewährleistung einer Beweissicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 b) Keine Gewährleistung in EMRK und GRC nach Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 aa) Orientierung am Prozesszweck: Sicherung von Beweismitteln als Grundlage eines späteren Rechtsnachweises . . 328 bb) Recht der Parteien auf eine effektive Sicherung von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 8. Die weiteren beweisrechtlichen Grundsätze nach Rechtsprechung und Literatur in ihrem Verhältnis zum Recht auf Beweis . . . . . . 330 a) Das Recht auf eine faire Handhabung des Beweisrechts aus Art. 2 I iVm Art. 20 III GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 b) Das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren aus Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . 331
IV. Beweisantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 1. Das Recht auf Stellung von Beweisanträgen im GG . . . . . . . . . 334 2. Das Recht auf Stellung von Beweisanträgen in der EMRK . . . . . 334 3. Das Recht auf Stellung von Beweisanträgen in der GRC . . . . . . 335 4. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 a) Orientierung am Prozesszweck: Beweisantrag als Initiativrecht der Parteien zum aktiven Nachweis eigener Rechte . . . . . . . 336 b) Anerkennung eines Rechts auf Stellung von Beweisanträgen . . 336 c) Inhalt: Formlose Antragsstellung in jedem Stadium des Prozesses 337
V. Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Das Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel . . . . . . . . . 337 a) Das Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel im GG . . . . 338 aa) BGH: Verpflichtung zur Ausschöpfung aller Beweismittel aus § 286 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 bb) BVerfG: Anerkennung eines Rechts auf Erhebung beantragter Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338
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(1) Das Recht auf Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 (2) Das Recht auf tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 cc) Literatur: Anerkennung eines Rechts auf Erhebung beantragter Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 (1) Kommentarliteratur: Art. 103 I GG iVm den Grundsätzen der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 (2) H.L.: Herleitung aus dem Justizgewährungsanspruch . . 343 dd) Exkurs: die materielle Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 b) Das Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel in der EMRK 346 c) Das Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel in der GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 aa) Orientierung am Prozesszweck: Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel als wesentliche Grundlage effektiven Rechtsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 bb) Subjektives Recht auf Erhebung aller beantragten Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 cc) Verhältnis des Rechts auf Beweis zur materiellen Beweisunmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Verbot einer antizipierten Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . 350 a) Das Verbot antizipierter Beweiswürdigung im GG . . . . . . . . 350 aa) Grundsatz: Striktes Verbot einer antizipierten Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 bb) Ausnahmen: Prozesskostenhilfe und Schadensschätzung nach § 287 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 b) Das Verbot antizipierter Beweiswürdigung in der EMRK . . . . 352 c) Das Verbot antizipierter Beweiswürdigung in der GRC . . . . . 353 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 aa) Orientierung am Prozesszweck: Antizipierte Beweiswürdigung als Hindernis eines effektiven Nachweises insbesondere atypischer Sachverhalte . . . . . 353 bb) Gewährleistung eines strikten Verbots antizipierter Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 cc) Abgrenzung: Fehlende Beweiseignung und antizipierte Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote . . . . . . . . . 355 a) Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote im GG . . . 355 aa) Abgrenzung: Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 bb) TvA: Generelle Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 cc) TvA: Generelle Unverwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 dd) H.M.: Erfordernis einer Abwägung der betroffenen Rechte im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 b) Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote in der EMRK 358
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aa) Grundsatz: Keine expliziten Regeln der Beweiserhebung und -verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 bb) EGMR: Abwägung anhand aller Umstände des Einzelfalles 359 cc) Abwägungskriterien nach dem EGMR . . . . . . . . . . . 360 c) Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote in der GRC 360 aa) Grundsatz: Keine expliziten Regeln der Beweiserhebung und -verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 bb) EuGH: Abwägung aller Umstände des Einzelfalles nach Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 aa) Grundsatz: Erfordernis einer Abwägung der betroffenen Rechte im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 bb) Ausgangspunkt: Gleichwertigkeit von Beweiserhebung und Gegenrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 cc) Kriterien der Einzelfallabwägung . . . . . . . . . . . . . . 365
VI. Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 1. Die Anforderungen des GG an eine Beweiswürdigung . . . . . . . 366 a) Die Verpflichtung zur Würdigung erhobener Beweismittel . . . 366 aa) BVerfG: Implizite Herleitungsmöglichkeit aus dem Justizgewährungsanspruch iVm dem Willkürverbot . . . . 366 bb) BGH und Literatur: einfach-gesetzliches Gebot des § 286 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 b) Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im GG . . . . . . . 368 aa) H.M.: keine verfassungsrechtliche Absicherung der freien Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 bb) TvA: Gewährleistung eines Kerngehaltes freier Beweiswürdigung im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 c) Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Inhalt der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 aa) Vollständigkeit der Würdigungsbasis . . . . . . . . . . . . 370 bb) Willkürverbot als allgemeine Grenze freier Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 d) Einzelne Fallkonstellationen einer Beeinträchtigung der Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 aa) Würdigung eines Sachverständigengutachtens . . . . . . . 372 bb) Annahme eigener Sachkunde des erkennenden Gerichts . . 372 cc) Abweichende Würdigung von Beweismitteln in der Berufungsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 2. Die Anforderungen der EMRK an eine Beweiswürdigung . . . . . 374 a) Grundsatz: weites Ermessen der nationalen Gerichte . . . . . . 374 b) Anforderungen an die gerichtliche Ermessensausübung nach dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 3. Die Anforderungen der GRC an eine Beweiswürdigung . . . . . . 376 a) EuGH: Geltung der freien Beweiswürdigung im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 b) Prüfung der gerichtlichen Beweiswürdigung anhand bestimmter Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 4. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
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a) Orientierung am Prozesszweck: Freie Würdigung erhobener Beweismitteln als Grundlage eines effektiven Nachweises eigener Rechte im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 b) Gewährleistung einer freien Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 c) Korrespondierende Verpflichtung zur tatsächlichen Würdigung erhobener Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 d) Umfang freier Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 e) Grenzen freier Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
VII. Beweisbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1. Die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen im GG . . . . . 384 a) Die Verpflichtung zur Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 aa) BVerfG: Begründungspflicht aus dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 103 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 bb) Literatur: Anerkennung einer entsprechenden Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 b) Umfang der Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen . . . 386 aa) Zurückhaltende Auffassung des BVerfG . . . . . . . . . . . 386 (1) Umfang verfassungsrechtlicher Begründungspflichten 386 (2) Keine Begründungspflicht letztinstanzlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 bb) H.L.: Herleitung von Mindestanforderungen aus dem GG . 388 (1) Grundsatz: Keine umfassenden Begründungspflichten aus dem GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 (2) Ablehnung einer Ausnahme für letztinstanzliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 cc) TvA: Anerkennung weitergehender Begründungserfordernisse aus dem GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 dd) BGH: Weitergehende einfach-rechtliche Begründungspflichten der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 2. Die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen in der EMRK . 390 a) Grundsatz: Herleitung von Begründungspflichten aus Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 b) Umfang: Bestimmung im Einzelfall anhand bestimmter Kriterien 391 3. Die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen in der GRC . . 392 a) Grundsatz: Anerkennung von Begründungspflichten aus Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 b) Betonung der Bedeutung von Begründungspflichten durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 c) Umfang: Bestimmung im Einzelfall anhand der Kriterien des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 4. Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 a) Orientierung am Prozesszweck: Effektuierung des Rechtsnachweises durch Begründungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . 393 b) Umfassende Begründungspflichten des erkennenden Gerichts . . 395 aa) Begründung der Ablehnung von Beweisanträgen . . . . . . 396 bb) Dokumentation der Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . 397
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cc) Dokumentation der Beweiswürdigung und Begründung ihres Ergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 dd) Erhöhte Begründungspflichten bei Ermessensentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 § 8 Die Grenzen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . 401 I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 II.
Die Definition eine Eingriffes in das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. Abgrenzung: Ausgestaltung von und Eingriff in prozessuale Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 a) BVerfG: Justizgewährungsanspruch und Art. 103 I GG als Leistungsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 b) EGMR und EuGH: gesetzgeberisches Ermessens bei der Ausgestaltung prozessualer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . 405 c) Eigene Ansicht: Das Recht auf Beweis als Leistungsgrundrecht 406 2. Die Definition eines Eingriffes in das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 a) Der Eingriff in den Justigewährungsanpruch des GG . . . . . . 407 b) EGMR: Anerkennung eines weiten Eingriffsbegriffes iRd Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 c) EuGH: Anerkennung eines weiten Eingriffsbegriffes iRd Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 d) Eigene Ansicht: Die Definition eines Eingriffs in das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
III. Die Voraussetzungen einer zwangsweisen Einschränkung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . 411 1. Die Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . 411 a) Die Einschränkbarkeit des Justizgewährungsanspruches im GG 411 aa) Keine Anerkennung einer Schrankenleihe . . . . . . . . . . 412 bb) BVerfG: Einschränkbarkeit vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 b) Die Einschränkbarkeit des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . 413 aa) Die allgemeinen Schranken des Art. 6 I S. 2 und des Art. 15 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 bb) EGMR: Anerkennung einer ungeschriebenen Einschränkbarkeit des Rechts auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 cc) EGMR: Übertragbarkeit auf das Recht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 dd) Teile der Literatur: Ablehnung einer ungeschriebenen Einschränkbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 c) Die Einschränkbarkeit des Art. 47 II S. 1 GRC über Art. 52 I GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
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aa) Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis in der GRC durch Art. 52 I GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 bb) Die ungeschriebenen Schranken des Rechts auf Beweis in GG und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 2. Die formellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 a) Die Einschränkung des Justizgewährungsanspruches im GG . . 419 aa) Erfordernis einer hinreichend bestimmten, gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 bb) Weitere formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 b) Die formellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 aa) Erfordernis einer gesetzlichen Regelung der Einschränkung 422 bb) Hinreichende Bestimmtheit und allgemeine Zugänglichkeit der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 c) Die formellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 aa) Erfordernis einer hinreichend bestimmten und zugänglichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 bb) EuGH: Entwicklung einer Wesentlichkeitstheorie . . . . . . 424 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 aa) Erfordernis einer gesetzlichen Regelung jeder Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 bb) Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 cc) Einhaltung der weiteren, formellen Rechtmäßigkeitsanforderungen des GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 3. Die materiellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 a) Die Einschränkung des Justizgewährungsanspruches im GG . . 428 aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 428 (1) Modifizierte Anwendbarkeit auf den Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 (2) Erfordernis eines legitimen Zieles . . . . . . . . . . . . 429 (3) Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Einschränkung 429 (4) Angemessenheit einer einschränkenden Regelung . . . 430 bb) Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG . . . . . . . . 431 b) Die materiellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 432 (1) Besonderheiten der Einschränkbarkeit prozessualer Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 (2) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 (3) Umfassende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles 434 bb) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 cc) EGMR: Ausgleichsmöglichkeit von Einschränkungen im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 c) Die materiellen Voraussetzungen einer Einschränkung des Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
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aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 52 I GRC . . . . . . 436 (1) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 (2) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . 437 (3) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . 438 bb) Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 I GRC . . . . . . . . . . 439 d) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 aa) Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . 440 (1) Definition legitimer Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . 441 (2) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . 443 (3) Angemessenheit: Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 bb) Garantie des Wesensgehalts des Rechts auf Beweis . . . . . 445
IV. Die Voraussetzungen eines Verzichts auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . 446 1. Der Verzicht auf die Gewährleistungen des Justizgewährungsanspruches des GG . . . . . . . . . . . . . . . . 446 a) Disponibilität des Justizgewährungsanspruches . . . . . . . . . 446 b) Die Voraussetzungen einer wirksamen Einwilligung . . . . . . . 447 aa) Ausdrückliche oder konkludente Einwilligungserklärung . . 447 bb) Freiwilligkeit der Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . 448 2. Der Verzicht auf die Gewährleistungen des Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 a) Grundsatz: Disponibilität des Rechts auf ein faires Verfahren . . 449 b) Voraussetzungen eines wirksamen Grundrechtsverzichts . . . . 450 aa) Freiwilligkeit des Verzichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 bb) Unzweideutige Verzichtserklärung . . . . . . . . . . . . . 450 cc) Gewährleistungen eines Mindestmaßes an prozessualen Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 3. Eigene Ansicht: Der Verzicht auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 a) Grundsatz: Disponibilität des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . 451 b) Terminologie: Verzicht auf einzelne Gewährleistungen im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 c) Abgrenzung: Förmlicher Verzicht und faktische Nichtausübung 452 d) Voraussetzungen eines wirksamen Verzichts . . . . . . . . . . . 453 aa) Freie und informierte Bildung des Verzichtswillens . . . . . 454 bb) Unzweideutige Verzichtserklärung . . . . . . . . . . . . . 454 cc) Rechtsfolge: Rechtfertigung eines Eingriffes in das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
VI. Zusammenfassung: Die Grenzen des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
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XXXI
3. Hauptteil: Die Ausgestaltung des Rechts auf Beweis in der deutschen Zivilprozessordnung § 9 Beweisrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 1. Die Prüfung der ZPO am Maßstab des Rechts auf Beweis . . . . . 459 a) Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 b) Prüfungsumfang im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 2. Der Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460
II.
Das Recht der Prozessparteien auf Information . . . . . . . . . . 461 1. Die gerichtliche Hinweispflicht des § 139 I und II ZPO . . . . . . . 462 a) Die Auslegung des § 139 I und II ZPO . . . . . . . . . . . . . . 462 aa) Grundlagen der Hinweispflicht nach § 139 I und II ZPO . . 462 bb) Die Hinweispflicht des § 139 I und II ZPO im Beweisrecht 465 b) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 aa) § 139 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . 467 bb) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 2. Das Recht auf Einsicht in die Prozessakten nach § 299 ZPO . . . . 470 a) Das Akteneinsichtsrecht in Rechtsprechung und Literatur . . . . 470 b) Eigene Ansicht: § 299 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . 472
III. Die Ausgestaltung der mittelbaren Drittwirkung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 1. Grundlagen: Die Auslegung der §§ 141, 142 und 144 ZPO . . . . . 473 2. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens nach § 141 ZPO . . . 474 a) § 141 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . 474 b) Eigene Ansicht: § 141 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . 476 3. Die Anordnung der Urkundenvorlage nach § 142 ZPO . . . . . . . 476 a) § 142 I S. 1 Alt. 1 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . 477 b) § 142 I S. 1 Alt. 2 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . 479 c) Eigene Ansicht: § 142 I S. 1 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 aa) § 142 I S. 1 Alt. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 bb) § 142 I S. 1 Alt. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 cc) Die Rechtsfolgen der Nichtvorlage durch eine Partei oder Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4. Die Anordnung des Sachverständigen- und Augenscheinsbeweises nach § 144 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 a) Die Anordnung gegenüber den Parteien . . . . . . . . . . . . . 485 b) Die Anordnung gegenüber Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . 486 c) Eigene Ansicht: § 144 I ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . 487 aa) Die Anordnung gegenüber der anderen Prozesspartei . . . . 487 bb) Die Anordnung gegenüber einem Dritten . . . . . . . . . . 489 cc) Die Anordnung nach § 144 I S. 3 ZPO in Bezug auf die Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
XXXII
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dd) Die Rechtsfolgen einer Weigerung durch eine Partei oder Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 5. Die Verpflichtung der Parteien zur Erklärung über die Kenntnis von Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 a) H.M: Ablehnung einer allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 b) Eigene Ansicht: Die mittelbare Drittwirkung des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
IV. Der Grundsatz der formellen Beweisunmittelbarkeit in der ZPO 495 1. § 355 I S. 1 ZPO als Ausgestaltung des Rechts auf Beweis . . . . . 495 2. Die Delegation einer Beweiserhebung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 a) Die Delegation der Erhebung von Aussagen . . . . . . . . . . . 496 b) Die weitere Delegation des Augenscheins- bzw. Urkundenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 c) Eigene Ansicht: Die Delegationsnormen im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 aa) Die Delegation der Beweiserhebung von Aussagen . . . . . 499 bb) Die Delegation des Augenscheins- bzw. Urkundenbeweises 501 d) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 502 e) Exkurs: § 372 I ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . 503 3. Die schriftliche Einvernahme von Zeugen nach § 377 III ZPO . . . 504 a) Die Auslegung des § 377 III ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 b) Eigene Ansicht: § 377 III ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis 505 4. Die Verwertbarkeit von Beweiserhebungen aus einem vorangegangenen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 a) Die Verwertbarkeit protokollierter Zeugen- und Parteiaussagen 507 aa) H.M.: Anerkennung einer Verwertbarkeit im Wege des Urkundenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 bb) Eigene Ansicht: Die Verwertbarkeit früherer Aussagen im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . 508 b) Die Verwertbarkeit früherer Sachverständigengutachten nach § 411a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 aa) Die Auslegung des § 411a ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 bb) Eigene Ansicht: § 411a ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 5. Die Verwertung von Beweisergebnissen nach einem Richterwechsel in erster Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 a) Rechtsprechung und Literatur: Verwertbarkeit als Grundsatz . . 510 b) Eigene Ansicht: Die Verwertbarkeit von Beweisergebnissen nach einem Richterwechsel im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . 511
V.
Das Recht auf Teilnahme an einer Beweisaufnahme in der ZPO 513 1. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit in § 357 ZPO . . . . . . . . 513 a) § 357 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . 513 b) Eigene Ansicht: § 357 ZPO als Ausgestaltung des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
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XXXIII
2. Die Tatsachenermittlung durch Sachverständige bzw. Augenscheinsmittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 a) H.M.: Anerkennung eines Teilnahmerechts der Parteien . . . . . 519 b) Eigene Ansicht: Das Recht auf Teilnahme an jeder Beweiserhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
VI. Die vorprozessuale und prozessuale Beweissicherung in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 1. Das selbstständige Beweisverfahren der §§ 485 ff. ZPO . . . . . . . 523 a) § 485 I Alt. 2 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . 523 b) Eigene Ansicht: § 485 I Alt. 2 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 c) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 527 2. Die Sanktionierung einer Beweisvereitelung nach der ZPO . . . . . 527 a) Die gesetzlichen Fälle einer Beweisvereitelung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 b) Die ungeschriebenen Sanktionen von beweisvereitelndem Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 c) Eigene Ansicht: Beweisvereitelung im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 aa) Der Schutz vor einer vorsätzlichen Beweisvereitelung . . . 534 bb) Der Schutz vor einer fahrlässigen Beweisvereitelung . . . . 537 d) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 538
§ 10 Beweisantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 I.
Die formalen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO 539 1. Die Form von Beweisanträgen nach der ZPO . . . . . . . . . . . . 539 2. Die Benennung von Beweismitteln in der Klageschrift . . . . . . . 540 3. Eigene Ansicht: Die Formerfordernisse im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
II.
Die inhaltlichen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 1. Die Substantiierung von Beweisanträgen in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 2. Das Verbot von Ausforschungsbeweisen in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 a) Verbot von Beweisermittlungsanträgen . . . . . . . . . . . . . . 544 b) Verbot von Beweisanträgen „ins Blaue hinein“ . . . . . . . . . . 545 3. H.M.: Entwicklung einer sekundären Darlegungslast . . . . . . . . 546 4. Eigene Ansicht: Die inhaltlichen Anforderungen im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 a) Die Substantiierung eines Beweisantrages . . . . . . . . . . . . 547 b) Das Institut des Ausforschungsbeweises . . . . . . . . . . . . . 548 aa) Das Verbot von Beweisermittlungsanträgen . . . . . . . . . 550 bb) Das Verbot von Beweisanträgen „ins Blaue hinein“ . . . . . 551 c) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 553 d) Exkurs: Die Möglichkeiten der Informationsgewinnung durch die Parteien des Zivilprozesses in Deutschland . . . . . . . . . . 554
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III. Die zeitlichen Anforderungen an einen Beweisantrag in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 1. Die Vereinbarkeit des § 296 I und II ZPO mit dem GG . . . . . . . 555 2. Die Auslegung des § 296 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 3. Die Auslegung des § 296 II ZPO iVm § 282 I und II ZPO . . . . . . 560 4. Eigene Ansicht: § 296 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG 562 a) Die obligatorische Zurückweisung von Beweisanträgen nach § 296 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 b) Die fakultative Zurückweisung von Beweisanträgen nach § 296 II ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 5. Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . 569
§ 11 Grundlagen der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 I.
Der Grundsatz des Strengbeweises im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 2. Der Grundsatz des Strengbeweises in Rechtsprechung und Literatur 572 3. Der Grundsatz des Strengbeweises im Lichte des Rechts auf Beweis 574 a) Die Erkenntnisquellen einer Beweiserhebung nach den §§ 355 ff. ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 b) Die Ausgestaltung des Rechts auf Beweis durch den Strengbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 c) Sonderfall: Die amtliche Auskunft als Erkenntnisquelle der ZPO 577 aa) Die amtliche Auskunft in Rechtsprechung und Literatur . . 577 bb) Eigene Ansicht: Die amtliche Auskunft im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
II.
Die weiteren Beweismittel der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 1. Die Eidesleistung in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 a) Der Beweiswert eines Eides in Rechtsprechung und Literatur . . 581 b) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 2. Das Beweismittel der eidesstattlichen Versicherung im Rahmen des § 294 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
III. Der weitere Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 584 IV. Die allgemeinen Gründe für die Ablehnung einer Beweisaufnahme in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 1. Die allgemeinen Ablehnungsgründe in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 2. Eigene Ansicht: Allgemeine Ablehnungsgründe und das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 3. Die Ablehnung einer Beweiserhebung mangels Eignung des Beweismittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 a) Die fehlende Beweiseignung als immanente Grenze des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 b) Abgrenzung zur fehlenden Beweiseignung nach Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
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c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 4. Die Ablehnung einer Beweiserhebung mangels Erreichbarkeit des Beweismittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 a) Die Unerreichbarkeit als immanente Grenze des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 b) Abgrenzung zur Auffassung in Rechtsprechung und Literatur . . 589 aa) Allgemein: Die Unerreichbarkeit in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 bb) Im Speziellen: Die weitergehenden Anforderungen des § 356 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 c) Eigene Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 5. Die Ablehnung einer Beweiserhebung wegen entgegenstehender Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 a) Inhalt und Grenzen der Rechtskraft in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 aa) Die materielle Rechtskraft in ihren objektiven Grenzen nach § 322 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 bb) Die subjektiven und zeitlichen Grenzen der materiellen Rechtskraft nach den §§ 325 ff. ZPO und § 767 II ZPO . . . 596 b) Eigene Ansicht: Die entgegenstehende Rechtskraft und das Recht auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 aa) Die Herausarbeitung möglicher Einschränkungen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 bb) Die Rechtfertigung von Einschränkungen des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 cc) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 6. Die Ablehnung einer Beweiserhebung aufgrund einer Interventionswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 a) Die Nebenintervention nach den §§ 66 ff. ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 b) Die Streitverkündung nach den §§ 72 ff. ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 c) Eigene Ansicht: Die Interventionswirkung und das Recht auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 aa) Die Nebenintervention im Lichte des Rechts auf Beweis . . 606 bb) Die Streitverkündung im Licht des Rechts auf Beweis . . . 607 d) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 608 7. Die Ablehnung einer Beweiserhebung im Anschluss an eine Parteiänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 a) Der Parteiwechsel in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . 609 aa) Der Wechsel auf Klägerseite in erster und zweiter Instanz . 611 bb) Der Wechsel auf Beklagtenseite in erster und zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 b) Die Parteierweiterung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . 612 aa) Die Erweiterung auf Klägerseite in erster und zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 bb) Die Erweiterung auf Beklagtenseite in erster und zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
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c) Eigene Ansicht: Die Parteiänderung im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 aa) Mögliche Einschränkungen des Rechts auf Beweis . . . . . 614 bb) Zustimmung der jeweiligen Parteien als Grundrechtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 cc) Die Rechtfertigung einer unfreiwilligen Bindungswirkung der Parteiänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 (1) Der Parteiwechsel auf Beklagtenseite in erster und zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 (2) Die Parteierweiterung auf Beklagtenseite in erster und zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 d) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 618 8. Die Ablehnung einer Beweiserhebung nach § 292 ZPO . . . . . . . 618 a) Die gesetzliche Vermutung nach § 292 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 b) Eigene Ansicht: § 292 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . 620 c) Eigene Ansicht: Die unwiderlegbare Vermutung im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 9. Die Ablehnung von Beweisanträgen aufgrund richterlichen Ermessens nach § 287 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 a) § 287 I und II ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . 622 b) Eigene Ansicht: § 287 I und II ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 aa) Mögliche Einschränkungen des Rechts auf Beweis . . . . . 626 bb) Die Rechtfertigung einer Beweisablehnung nach § 287 I S. 2, II ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 c) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 631 10. Sonderfall: Der Nachweis von Förmlichkeiten (§ 165 ZPO) und mündlichen Parteivorbringens (§ 314 S. 2 ZPO iVm § 165 S. 1 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 a) Der Nachweis von Förmlichkeiten in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 b) Der Nachweis mündlichen Parteivorbringens in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 c) Eigene Ansicht: § 165 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . 633 d) Eigene Ansicht: § 314 S. 2 ZPO iVm § 165 S. 1 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 aa) Mögliche Einschränkungen des Rechts auf Beweis . . . . . 634 bb) Die Rechtfertigung einer Beweismittelbeschränkung nach § 314 S. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 e) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC 635
§ 12 Die einzelnen Beweismittel des Strengbeweises in der ZPO . . . . . . 637 I. Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 1. Die Gewährleistungen der EMRK zum Zeugenbeweis . . . . . . . 638 a) Das Recht der Parteien auf Benennung und Befragung eigener Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638
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b) Tatsächliche oder rechtliche Hinderungsgründe der Zeugeneinvernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 c) Anforderungen an das Zeugnis vom Hörensagen . . . . . . . . . 640 2. Die Gewährleistungen der GRC zum Zeugenbeweis . . . . . . . . 641 a) Das Recht der Parteien auf Einvernahme von Zeugen . . . . . . 641 b) Tatsächliche und rechtliche Hinderungsgründe einer Zeugeneinvernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 c) Anforderungen an das Zeugnis vom Hörensagen . . . . . . . . . 644 3. Die Gewährleistungen des GG zum Zeugenbeweis . . . . . . . . . 644 a) Grundsatz: Das Recht auf Erhebung des Zeugenbeweises . . . . 645 b) Das Fragerecht der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 c) Das Recht auf wiederholte Einvernahme eines Zeugen . . . . . 646 d) Das Recht auf Erhebung eines Zeugnisses vom Hörensagen . . . 647 4. Eigene Ansicht: Die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis zum Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 a) Orientierung am Prozesszweck: Zeugenbeweis als häufigstes Beweismittel und wesentliche Grundlage eines effektiven Rechtsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 b) Das Recht auf Ladung und Vernehmung beantragter Zeugen . . 649 c) Nachforschungspflichten des Gerichts bei unbekanntem Aufenthalt von Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 d) Das Recht der Parteien auf Befragung von Zeugen . . . . . . . . 651 e) Das Recht auf Wortlautdokumentation von Zeugenaussagen auf Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 5. Die Ausgestaltung des Zeugenbeweises in der ZPO . . . . . . . . . 653 a) Das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichem Grund in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 aa) Ehegatten und Verwandte nach § 383 I Nr. 1–3 ZPO . . . . 655 bb) Die Ausnahmen des § 385 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . 656 cc) Berufsgeheimnisträger nach § 383 I Nr. 4 und 6 ZPO . . . . 658 dd) Die Ausnahmen des § 385 II ZPO . . . . . . . . . . . . . . 659 ee) Sonderfall: Presse und Rundfunk nach § 383 I Nr. 5 ZPO . . 661 b) Das Zeugnisverweigerungsrecht aus sachlichem Grund in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 aa) Die Gefahr von Vermögensschäden nach § 384 I Nr. 1 ZPO iVm § 385 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 bb) Die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung nach § 384 I Nr. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 cc) Berufsgeheimnisse nach § 384 I Nr. 3 ZPO iVm § 385 II ZPO analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 c) Sonderfall: Vernehmung bei Amtsverschwiegenheit nach § 376 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 aa) § 376 ZPO iVm den gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 bb) Die Verschwiegenheitspflicht von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . . . 668 d) Eigene Ansicht: Das Zeugnisverweigerungsrecht aus persönlichem Grund im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . 669 aa) § 383 I Nr. 1–3 ZPO iVm § 385 I ZPO . . . . . . . . . . . 670
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bb) § 383 I Nr. 4 und 6 ZPO iVm § 385 II ZPO . . . . . . . . . 672 cc) Der Sonderfall des § 383 I Nr. 5 ZPO . . . . . . . . . . . . 674 dd) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 e) Eigene Ansicht: Das Zeugnisverweigerungsrecht aus sachlichem Grund im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . 676 aa) § 384 I Nr. 1 ZPO iVm § 385 I ZPO . . . . . . . . . . . . . 676 bb) § 384 I Nr. 2 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 cc) § 384 I Nr. 3 ZPO iVm § 385 II ZPO analog . . . . . . . . 680 dd) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 f) Eigene Ansicht: Die Vernehmung bei Amtsverschwiegenheit im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 aa) § 376 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . 682 (1) § 376 ZPO iVm den gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten . . . . . . . . . . . . . . . 682 (2) Die Verschwiegenheitspflicht von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes . . . . . . . . . 684 bb) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 g) Das Recht der Prozessparteien auf Befragung von Zeugen . . . . 686 aa) § 397 ZPO iVm § 383 III ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 bb) Eigene Ansicht: § 397 ZPO iVm § 383 III ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . 688 (1) Das Fragerecht des § 397 ZPO . . . . . . . . . . . . . 688 (2) Das Vernehmungsverbot des § 383 III ZPO . . . . . . . 689 cc) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 h) Das Recht der Parteien auf eine Wortlautdokumentation von Zeugenaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 aa) Die Protokollierungspflichten des § 160 III Nr. 4, IV ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 691 bb) Eigene Ansicht: Die Auslegung des § 160 III Nr. 4, IV ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . 692
II. Sachverständigenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 1. Die Gewährleistungen der EMRK zum Sachverständigenbeweis . . 694 a) Grundsatz: Gleichstellung mit dem Zeugenbeweis . . . . . . . . 694 b) Die Rechte der Parteien in Bezug auf den Sachverständigenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 2. Die Gewährleistungen der GRC zum Sachverständigenbeweis . . . 695 a) Grundsatz: Gleichlauf von Zeugen- und Sachverständigenbeweis 695 b) Die Rechte der Parteien in Bezug auf den Sachverständigenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 3. Die Gewährleistungen des GG zum Sachverständigenbeweis . . . . 696 a) Das Recht der Prozessparteien auf sachverständige Begutachtung 696 b) Das Recht auf Offenlegung der Datengrundlage . . . . . . . . . 697 c) Das Recht auf Anhörung und Befragung des Gutachters . . . . . 697
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d) Die Anforderungen an die Würdigung eines Gutachtens . . . . . 698 4. Eigene Ansicht: Die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis zum Sachverständigenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 a) Orientierung am Prozesszweck: Effektivität des Nachweises komplexer Tatsachen und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 b) Das Recht auf Einholung eines Sachverständigengutachtens . . 700 c) Das Recht auf Bestimmung der Themen des Gutachtens . . . . . 700 d) Das Recht auf Offenlegung der Datengrundlage . . . . . . . . . 701 e) Das Recht auf Befragung eines Gutachters im Prozess . . . . . . 702 f) Das Recht auf Erstellung eines Gegengutachtens . . . . . . . . 703 5. Die Ausgestaltung des Sachverständigenbeweises in der ZPO . . . 703 a) Die Offenlegung der Datengrundlage nach § 404a IV ZPO . . . 704 aa) § 404a IV ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . 704 bb) Eigene Ansicht: § 404a IV ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 b) Das Recht auf Ladung und Anhörung eines Gutachters . . . . . 707 aa) § 411 III ZPO iVm § 286 I ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 bb) §§ 402, 397 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . 708 cc) Eigene Ansicht: §§ 402, 397 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 c) Das Recht auf Erstellung eines Gegengutachtens . . . . . . . . 710 aa) § 412 I ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . 710 bb) Eigene Ansicht: § 412 I ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 cc) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 d) Die Gutachtenverweigerungsrechte aus § 408 I ZPO . . . . . . . 713
III. Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 1. Die Gewährleistungen der EMRK zum Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 a) Grundsatz: Kein Anhörungsrecht der Parteien . . . . . . . . . . 714 b) Ausnahme: Die Sicherstellung der prozessualen Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714 2. Die Gewährleistungen der GRC zum Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 a) Grundsatz: Kein Anhörungsrecht der Parteien . . . . . . . . . . 715 b) Ausnahme: Die Sicherstellung der prozessualen Waffengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 c) Abweichungsmöglichkeit nach Art. 52 III S. 2 GRC . . . . . . . 715 3. Die Gewährleistungen des GG zum Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 a) Das Recht der Prozessparteien auf eine Parteivernehmung . . . 716 aa) H.M.: Verfassungskonformität der Parteivernehmung in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 bb) Sonderfall: Konstellationen eines sog. Vier-AugenGespräches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
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cc) H.L.: Unvereinbarkeit der Restriktionen einer Parteivernehmung mit dem GG . . . . . . . . . . . . . . . 718 b) Das Fragerecht der Prozessparteien . . . . . . . . . . . . . . . . 718 4. Eigene Ansicht: Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis zum Beweis durch Parteivernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . 719 a) Orientierung am Prozesszweck: Parteivernehmung als Mittel der aktiven Teilnahme einer Partei am Beweisverfahren . . . . . 719 b) Das Recht der Prozessparteien auf eine Parteivernehmung . . . 720 aa) Das Recht auf Einvernahme jeder beteiligten Parteien . . . 720 bb) Weigerungsrechte aufgrund überwiegender Gegenrechte . . 722 c) Das Fragerecht einer Partei bei Vernehmung der jeweils anderen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 d) Die Verpflichtung zur Wortlautdokumentation auf Antrag . . . . 722 5. Die Ausgestaltung des Beweises durch Parteivernehmung in der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 a) Das Recht einer Prozesspartei auf Befragung der gegnerischen Prozesspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 aa) Die §§ 445, 448 ZPO in der Rechtsprechung . . . . . . . . 723 bb) Die §§ 445, 448 ZPO im herrschenden Schrifttum . . . . . 726 cc) Eigene Ansicht: § 445 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 (1) Mögliche Einschränkungen des Rechts auf Beweis . . . 728 (2) Der Ausschluss des Gegenbeweises nach § 445 II ZPO 730 dd) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 b) Das Recht einer Prozesspartei auf Herbeiführung ihrer eigenen Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 aa) Die Auslegung der §§ 447, 448 ZPO iVm § 141 ZPO in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 bb) Die Auslegung § 448 ZPO im herrschende Schrifttum . . . 733 cc) Eigene Ansicht: § 448 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734 dd) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 c) Das Fragerecht einer Partei bei Befragung der jeweils anderen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 aa) Die §§ 451, 397 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . 736 bb) Die §§ 451, 397 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . 736 d) Die Verpflichtung zur Wortlautdokumentation auf Antrag . . . . 737 aa) Die Protokollierungspflichten des § 160 III Nr. 4, IV ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 737 bb) Eigene Ansicht: Die Auslegung des § 160 III Nr. 4, IV ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . 738
IV. Urkundenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 1. Die Gewährleistungen der EMRK zum Urkundenbeweis . . . . . . 738 a) Das Recht auf Einbringung von Urkunden . . . . . . . . . . . . 739 b) Die weiteren Rechte in Bezug auf den Urkundenbeweis . . . . . 740 2. Die Gewährleistungen der GRC zum Urkundenbeweis . . . . . . . 740
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a) Das Recht auf Einbringung von Urkunden . . . . . . . . . . . . 741 b) Die weiteren Rechte in Bezug auf den Urkundenbeweis . . . . . 741 3. Die Gewährleistungen des GG zum Urkundenbeweis . . . . . . . . 741 a) Das Recht auf Einbringen von Urkunden . . . . . . . . . . . . . 742 b) Das Recht auf Einsichtnahme in zum Beweis erhobene Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 c) Das Recht auf Erbringung des Gegenbeweises . . . . . . . . . . 743 4. Eigene Ansicht: Die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis zum Urkundenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 a) Orientierung am Prozesszweck: Der Urkundenbeweis als zuverlässige Möglichkeit eines effektiven Rechtsnachweises . . 743 b) Das Recht auf Einbringung und Erhebung von Urkunden . . . . 744 c) Das Recht auf Einsichtnahme in Urkunden und Anfechtung der Echtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744 d) Die Beweisführung über die Echtheit einer Urkunde . . . . . . . 745 e) Das Recht auf Führung eines Gegenteilsbeweises . . . . . . . . 745 f) Das Recht auf Urkundenvorlage durch die jeweilige Gegenpartei 746 5. Die Ausgestaltung des Urkundenbeweises in der ZPO . . . . . . . 746 a) Die §§ 142, 144 ZPO und die §§ 421 ff. ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 b) Das Recht auf Einsichtnahme in eingebrachte Urkunden . . . . 747 aa) § 134 II ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . 747 bb) Eigene Ansicht: § 134 II ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748 c) Die Führung eines Gegenteilsbeweises in Bezug auf öffentliche Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 aa) § 415 I und II ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . 750 bb) Eigene Ansicht: § 415 II ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 cc) § 418 I und II ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . 753 dd) Eigene Ansicht: § 418 II ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 ee) § 417 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . 755 ff) Eigene Ansicht: § 417 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 gg) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 d) Die Führung eines Gegenteilsbeweises in Bezug auf private Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 aa) § 416 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . 758 bb) Eigene Ansicht: § 416 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
V. Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 1. Die Gewährleistungen von EMRK und GRC zum Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 761 2. Die Gewährleistungen des GG zum Augenscheinsbeweis . . . . . . 762 a) Das Recht der Parteien auf Einnahme eines Augenscheins . . . . 762
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b) Das Recht auf Teilnahme an einer gerichtlichen Augenscheinnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 c) Das Recht auf Äußerung zum Ergebnis einer gerichtlichen Augenscheinnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 3. Eigene Ansicht: Die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis zum Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 a) Orientierung am Prozesszweck: Der Augenschein als unmittelbare Erkenntnisquelle des Gerichts . . . . . . . . . . . 763 b) Das Recht auf Einnahme eines Augenscheins durch das Gericht 764 c) Das Recht der Parteien auf Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . 765 d) Die Informationspflichten des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . 765 e) Das Recht der Parteien auf Äußerung . . . . . . . . . . . . . . 765 4. Die Ausgestaltung des Beweises durch Augenschein in der ZPO . . 766 a) Eigene Ansicht: Das Recht auf Einnahme eines Augenscheins nach § 371 ZPO iVm § 144 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 b) Eigene Ansicht: Das Recht auf Teilnahme und Äußerung . . . . 768 aa) Das Recht auf Teilnahme nach § 357 ZPO . . . . . . . . . 768 bb) Das Recht auf Äußerung nach § 357 ZPO . . . . . . . . . . 768 c) Eigene Ansicht: Das Recht auf Information nach § 139 I und II ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 d) Eigene Ansicht: Das Recht auf Äußerung und Führung des Gegenbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 aa) Das Recht auf Äußerung nach § 285 I ZPO . . . . . . . . . 769 bb) Das Recht auf Führung des Gegenbeweises . . . . . . . . . 770
§ 13 Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 I.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 1. § 286 I S. 1 ZPO als Ausgestaltung des Rechts auf Beweis . . . . . 771 2. Die Verpflichtung zur umfassenden Würdigung erhobener Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 a) § 286 I S. 1 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . 772 b) § 286 I S. 1 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . 773 3. Die Kriterien einer Beweiswürdigung nach § 286 I ZPO . . . . . . 774 a) Die richterliche Überzeugungsbildung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775 b) Die richterliche Überzeugungsbildung im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 775
II.
Die gesetzlichen Beweisregeln iSd § 286 II ZPO . . . . . . . . . 777 1. Die Beweiskraft öffentlicher und privater Urkunden nach den §§ 415 ff. ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 a) Die Beweisregeln der §§ 415 ff. ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 b) Die Voraussetzungen der §§ 419, 440 ff. ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
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c) Eigene Ansicht: Die §§ 415 ff. ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 d) Die Besonderheiten des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC . 783 2. Die gesetzliche Beweiskraft des gerichtlichen Protokolls nach § 165 S. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 a) § 165 S.1 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . 783 b) Eigene Ansicht: § 165 S. 1 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis 785 3. Die gesetzliche Beweiskraft des Urteilstatbestandes nach § 314 S. 1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 a) § 314 S. 1 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . 787 b) Eigene Ansicht: § 314 S. 1 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis 788
§ 14 Beweisbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 I.
Die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 1. Die Protokollierungspflichten des § 160 II, III Nr. 2, 4, 5 ZPO in Auslegung Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . 792 2. Die Urteilsbegründung nach § 313 II und III ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 3. Zusammenfassung: Die Begründungspflichten des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 796 4. Eigene Ansicht: Die Protokollierungspflichten des § 160 II, III Nr. 2, 4, 5 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . 797 5. Eigene Ansicht: Die Urteilsbegründung im Lichte des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
II.
Die gesetzlichen Ausnahmen von Begründungspflichten in den §§ 161, 313a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 1. Der Verzicht auf eine gerichtliche Protokollierung nach § 161 ZPO 801 a) § 161 ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . 802 b) Eigene Ansicht: § 161 ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . 803 2. Der Verzicht auf Tatbestand und Entscheidungsgründe nach § 313a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 a) § 313a ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . 805 b) Eigene Ansicht: § 313a ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . 807
§ 15 Der Zivilprozess vor dem Amtsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 I.
Das Recht auf Beweis im Zivilprozess vor den Amtsgerichten nach § 495a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 1. Die Verfahrensgestaltung nach § 495a ZPO in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 2. Eigene Ansicht: § 495a ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis . . . 814
II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817
XLIV
Inhaltsverzeichnis
§ 16 Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 I.
Die historischen und rechtsvergleichenden Grundlagen des Rechts auf Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
II.
Das Recht auf Beweis im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . 820
III. Die Ausgestaltung des Rechts auf Beweis in der ZPO . . . . . . 824
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857
Abkürzungsverzeichnis aA andere Ansicht ABl.EU Amtsblatt der Europäischen Union AcP Archiv für die civilistische Praxis AnwBl Anwaltsblatt AöR Archiv des öffentlichen Rechts APR Allgemeines Persönlichkeitsrecht BB Betriebs-Berater – Zeitschrift für Recht, Steuern und Wirtschaft BBG Bundesbeamtengesetz BeamStG Beamtenstatusgesetz BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen BMinG Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung BNotO Bundesnotarordnung BRAK-Mitt. Bundesrechtsanwaltskammer Mitteilungen BRAO Bundesrechtsanwaltsordnung Brook.L.Rev. Brooklyn Law Review BSG Bundessozialgericht BT-Drs. Bundestagsdrucksachen BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfG-K Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht bzw. beziehungsweise Cal.L.Rev. California Law Review Colum.L.Rev. Columbia Law Review Cornell.L.Rev. Cornell Law Review DNoTZ Deutsche Notar-Zeitschrift – Verkündungsblatt der Bundesnotarkammer DRiG Deutsches Richtergesetz DRiZ Deutsche Richterzeitung DÖV Die öffentliche Verwaltung: Zeitschrift für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften EG Europäische Gemeinschaft EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EU Europäische Union EuBVO Verordnung die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen EuGH Europäischer Gerichtshof EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift
XLVI EuGVVO
Abkürzungsverzeichnis
Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen EuMahnVO Verordnung zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens EuR Zeitschrift Europarecht EuZVO Verordnung über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fla.L.Rev. Florida Law Review Fn. Fußnote FRCP Federal Rules of Civil Procedure F.R.D. Federal Research Devision FRE Federal Rules of Evidence Ga.L.Rev. University of Georgia Law Review ggf. gegebenenfalls Georg.L.J. Georgetown Law Journal GRC europäische Grundrechtecharta Harv.L.Rev Harvard Law Review Hastings.L.J. Hastings Law Journal h.L. herrschende Literaturauffassung Hous.L.Rev. Houston Law Review h. M. herrschende Meinung HS Halbsatz IBR Immobilien- und Baurecht Iowa.L.Rev. Iowa Law Review IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte iSd im Sinne des/der iSe im Sinne eines/einer iSv im Sinne von iRv im Rahmen von iRd im Rahmen des/der JR Juristische Rundschau JuS Juristische Schulung – Zeitschrift für Studium und Referendariat JZ JuristenZeitung LAG Landesarbeitsgericht LG Landgericht LPartG Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft MDR Monatsschrift für deutsches Recht Mich.L.Rev. Michigan Law Review mwN mit weiteren Nachweisen MüKo Münchner Kommentar n. Chr. nach Christi Geburt Neb.L.Rev. Nebraska Law Review NJ Neue Justiz – Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtsprechung NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report Zivilrecht NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NYU.L.Rev New York University Law Review
Abkürzungsverzeichnis NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZBau Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht NZFam Neue Zeitschrift für Familienrecht NZM Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht Rn. Randnummer Rutgers.L.J. Rutgers Law Journal sog. sogenannte StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung st. Rspr. ständige Rechtsprechung StV Strafverteidiger Tenn.L.Rev Tennessee Law Review Tex.L.Rev Texas Law Review tvA Teilweise vertretene Auffassung Tul.L.Rev. Tulane Law Review UCLA.L.Rev. University of California Law Review U.Chi.L.Rev. University of Chicago Law Review UrhG Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte U.Pa.L.Rev University of Pennsylvania Law Review Utah.L.Rev Utah Law Review Vand.L.Rev. Vanderbilt Law Review v. Chr. vor Christi Geburt VersR Zeitschrift für Versicherungsrecht, Haftungs- und Schadensrecht vgl. vergleiche VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz Wash.L.Rev Washington Law Review WM Wertpapier-Mitteilungen – Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankenrecht Yale.L.J. Yale Law Journal ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht z. B. zum Beispiel ZInsO Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht ZIS Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ZPO Zivilprozessordnung ZPR Zeitschrift für Rechtspolitik ZStrR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZZP Zeitschrift für Zivilprozess ZZPInt Zeitschrift für Zivilprozess International
XLVII
§ 1
Einleitung I. Einführung: die Bedeutung des Beweises im Zivilprozess Als Beweis lässt sich im Zivilprozess ein prozessualer Vorgang definieren, der dem Richter eine auf objektive Gründe gestützte Überzeugung von der Wahrheit tatsächlicher Behauptungen verschaffen soll.1 In der zivilprozessualen Literatur wird vielfach betont, dass die eigentliche Schwierigkeit eines Zivilprozesses regelmäßig in der Feststellung des wahren Sachverhaltes liegt und weniger in der anschließenden, rechtlichen Würdigung dieses Sachverhaltes.2 Das Stadium der Beweisaufnahme bildet daher oftmals den eigentlichen Kern eines Zivilprozesses. Dieser Befund des Schrifttums erscheint durchaus einleuchtend: So wird die tatsächliche Frage, ob zwei Prozessparteien in einem Gespräch unter vier Augen ohne schriftliche Aufzeichnung eine Vereinbarung über den Verkauf eines PKW gegen Zahlung eines bestimmten Betrages getroffen haben, regelmäßig nur schwer aufzuklären sein. Kommt das erkennende Gericht jedoch zu der Überzeugung, dass eine solche Vereinbarung tatsächlich geschlossen wurde, so wird die rechtliche Beurteilung einer etwaigen Klage auf Zahlung des Kaufpreises im Hinblick auf § 433 II BGB grundsätzlich keine allzu schwierigen Rechtsfragen aufwerfen. Das Erfordernis einer Tatsachenfeststellung im Zivilprozess ist bereits in der Natur der gerichtlichen Entscheidung selbst angelegt: Ein staatlicher Richter3 wird ja gerade als neutraler Entscheider eingesetzt, der bei den in Streit stehenden, tatsächlichen Geschehnissen eben nicht anwesend oder sonstig eingebunden war und sich im Verlaufe des Gerichtsprozesses seine eigene, gänzlich unabhängige Meinung bilden soll. Die Ungewissheit der entscheidenden Instanz über den streitigen Sachverhalt ist in der Rechtsschutzgewährung durch die staatliche Gerichtsbarkeit mithin strukturell angelegt und insoweit auch gewollt.
1 So die Definition von Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 3; ähnlich auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 2, Rn. 1 und MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 7 jeweils mwN. 2 In diesem Sinne äußern sich insbesondere die Darstellungen von Rechtspraktikern, siehe etwa Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Einleitung, Rn. 1 ff.; Jäckel, Beweisrecht der ZPO, Kapitel 1, Rn. 9; Baumgärtel/Laumen/Prütting-Laumen, Hdb. d. Beweislast I, Kapitel 1, Rn. 1. 3 In der nachfolgenden Arbeit wurde aus Gründen besserer Lesbarkeit die männliche Form gewählt. In der Sache sollen jedoch selbstverständlich sämtliche Geschlechter mitumfasst sein.
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§ 1: Einleitung
Gleichzeitig stellt die Erforschung des wahren Sachverhaltes im Zivilprozess jedoch eine elementare Voraussetzung für eine materiell-rechtlich richtige Entscheidung des staatlichen Gerichts dar: So ist es im Einzelfall stets denkbar, dass das erkennende Gericht durch Anwendung einer objektiv fehlerhaften oder zumindest im Instanzenzug korrigierten Rechtsansicht auf einen der Wahrheit entsprechenden Sachverhalt zu einer materiell-rechtlich fehlerhaften Entscheidung kommen kann. Demgegenüber führt selbst eine korrekte Rechtsanwendung auf einen fehlerhaften, nicht der Wahrheit entsprechenden Sachverhalt stets zu einer materiell-rechtlich falschen Entscheidung. Zum einen hängt die Wahl der anzuwendenden Rechtsnormen wesentlich von denjenigen Tatsachen ab, die einer Entscheidung zugrunde liegen. Zum anderen würde selbst im unwahrscheinlichen Fall einer – zufälligen – Auswahl derjenigen Rechtsnormen, die auch dem wahren Sachverhalt zugrunde liegen würden, die Subsumtion der fehlerhaften Tatsachen unter diese Rechtsnormen stets zu einem abweichenden, nicht der wahren Rechtslage entsprechenden Ergebnis führen. Diese beiden Überlegungen einer strukturellen Unkenntnis des Gerichts über den Sachverhalt bei gleichzeitiger Bedeutung der Kenntnis des wahren Sachverhalts für eine materiell-rechtlich richtige Entscheidung zeigen deutlich auf, dass die Wahrheitserforschung im Zuge der gerichtlichen Beweisaufnahme eine zentrale Rolle im Zivilprozess einnimmt. Fügt man diesen Überlegungen nun noch den Gedanken hinzu, dass den Menschen durch diverse Grundrechtsordnungen, wie das deutsche Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder die europäische Grundrechtecharta, eine Vielzahl privater (Grund-) Rechte gewährt werden, der Staat jedoch ein Gewaltmonopol für sich beansprucht und die praktische Durchsetzung dieser (Grund-) Rechte nahezu ausschließlich durch staatliche Gerichte und – ob ihrer struktureller Unkenntnis des wahren Sachverhaltes – den entsprechenden Nachweis dieser Rechte vorsieht4, so zeigt sich deutlich, dass der Nachweis dieser Rechte vor Gericht und damit die Erforschung des wahren Sachverhaltes im Zivilprozess auch eine grundrechtliche Dimension aufweist. Zugleich könnte eine umfassende Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ nicht nur der Durchsetzung privater (Grund-) Rechte dienen, sondern auf der anderen Seite auch eine Gefährdung dieser Grundrechte darstellen – man denke nur an eine hypothetische „Wahrheitsermittlung“ durch umfassende Videoüberwachung des öffentlichen und privaten Raumes. Auch würde eine umfassende Wahrheitserforschung bis hin zu einer absolut unumstößlichen Gewissheit oftmals in einer kaum endenden Beweisaufnahme resultieren und so das Recht auf einen Rechtsschutz in angemessener Zeit ad absurdum führen. Diese wenigen Überlegungen zeigen bereits die Bedeutung wie auch die Dimension der Thematik deutlich auf. Der Nach4 Zum
staatlichen Gewaltmonopol als zentralem Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips siehe etwa BVerfG NJW 1981, S. 39, 41 und BVerfG NJW 1992, S. 1673 f. jeweils mwN.
II. Die Ziele der Arbeit
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weis eigener Rechte ist in jedem Zivilprozess von zentraler Bedeutung. Dieser Rechtsnachweis hat eine grundrechtliche Dimension, bedarf jedoch zugleich einer Abwägung mit gegenläufigen Grundrechten und Allgemeingütern. Diese grundrechtlichen Wertungen bedürfen sodann einer Übertragung in das einfache Recht bis hin zu ihrer Anwendung im konkreten Einzelfall, um den Nachweis und die Durchsetzung eigener (Grund-) Rechte in Übereinstimmung mit anderen Grundrechten und Allgemeingütern zu ermöglichen.
II. Die Ziele der Arbeit Die letztgenannten Überlegungen führen unmittelbar zu den eigentlichen Zielen dieser Untersuchung. Die Arbeit lässt sich hierbei in zwei große, aufeinanderfolgende Teilbereiche mit ihren jeweiligen Zielsetzungen unterteilen:
1. Der Entwurf des abstrakten Wertesystems eines Rechts auf Beweis In ihrem ersten Teil hat es die nachfolgende Untersuchung zum Ziel die Rechtsdurchsetzung mittels eines Nachweises eigener Rechte vor Gericht abstrakt zu untersuchen. Es soll hierbei ein umfassendes Recht der Parteien des Zivilprozesses auf einen effektiven Nachweis eigener Rechte, mithin das Recht auf Beweis als ein in sich stimmiges Wertesystem aus dem deutschen Grundgesetz, der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta unter Einschluss rechtshistorischer und rechtsvergleichender Analysen des Beweisrechts hergeleitet und entwickelt werden. Die rechtshistorischen Untersuchungen sollen in einem ersten Schritt ein tieferes Verständnis des historisch gewachsenen Beweisrechts und seiner Grundprinzipien ermöglichen. Die rechtsvergleichende Betrachtung bietet einen Blick über den Tellerrand des nationalen Beweisrechts hinaus auf die beweisrechtlichen Grundprinzipien anderer Rechtsordnungen und etwaige unterschiedliche Lösungsansätze für identische, beweisrechtliche Fragestellungen. Die eigentliche Systembildung des Rechts auf Beweis soll mit der Postulierung seiner Existenz in den untersuchten Grundrechtsordnungen beginnen. Es soll hierbei nachgewiesen werden, dass die Existenz eines Rechts auf Beweis als solche in allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen gleichermaßen zwingend erscheint. Sodann wird dieses Recht auf Beweis über eine dogmatische Untersuchung der anerkannten, prozessualen Grundrechte in das geltende Wertesystem der drei Grundrechtsordnungen eingefügt. Durch die weitere Analyse von Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta unter Einschluss ihrer Auslegung in Rechtsprechung und Literatur sollen sodann die wesentlichen Gewährleistungen des Rechts auf Beweis herausgearbeitet werden und der abstrakte Inhalt des Rechts auf Beweis systematisch als konsistentes Wertesystem in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz
4
§ 1: Einleitung
herausgearbeitet werden. Komplettiert wird diese abstrakte Systembildung des Rechts auf Beweis durch die Untersuchung und Erarbeitung seiner Grenzen. Dabei soll sowohl die zwangsweise Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis als auch die Möglichkeit eines freiwilligen Verzichts auf seine Gewährleistungen in ihren jeweiligen Voraussetzungen in den Blick genommen werden. Aus der argumentativen Begründung seiner Existenz, der dogmatischen Einordnung in das bestehende System der Grundrechte und der Darstellung seiner wesentlichen Inhalte und Grenzen soll ein abstraktes Recht auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz als in sich konsistentes, grundrechtliches Wertesystem des Beweisrechts und als Maßstab für das geltende Recht und seine Anwendung im Einzelfall geschaffen werden
2. Die Anwendung des Rechts auf Beweis auf das geltende deutsche Zivilprozessrecht Das abstrakte Recht auf Beweis als Maßstab des einfachen Rechts führt sodann zum zweiten, zentralen Ziel und dem zweiten Teilbereich dieser Arbeit: Das Wertesystem des Rechts auf Beweis soll nicht allein als abstraktes Gebilde verbleiben, sondern vielmehr durch eine Überprüfung der wesentlichen Normen der deutschen Zivilprozessordnung (ZPO) und relevanten beweisrechtlichen Fallgestaltungen des Zivilprozessrechts mit Leben gefüllt werden. Das Ziel des zweiten Teilbereiches dieser Arbeit ist es mithin, die praktische Bedeutung des Rechts auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta als Maßstab für die Auslegung des einfachen Rechts aufzuzeigen: Das Recht auf Beweis soll durch das Zusammenspiel einer umfassenden, abstrakten Systembildung und einer ausführlichen, praktischen Anwendung auf eine Vielzahl von Normen der ZPO in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur zu einem handhabbaren, auch und gerade in der Praxis verwendbaren Maßstab für die Bewertung jeder denkbaren – bekannten und noch unbekannten – beweisrechtlichen Fallkonstellation werden, um eine Rechtsetzung und Rechtsanwendung in Übereinstimmung mit dem übergeordneten Wertesystemen von EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz zu ermöglichen.
III. Der Gang der Untersuchung Aufgrund dieser Zielsetzungen ist der eigentliche Gang dieser Untersuchung deutlich vorgezeichnet und lässt sich nun in wenigen Sätzen zusammenfassend skizzieren: Die Untersuchung beginnt mit einer rechtshistorischen Untersuchung des Beweisrechts von den Anfängen des römischen und germanischen Rechts bis hin zur
III. Der Gang der Untersuchung
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Schaffung der ZPO. Es schließt sich eine rechtsvergleichende Betrachtung des anglo-amerikanischen Rechtskreises an, um über das common law eine gänzlich andere Sicht auf das zivilprozessuale Beweisrecht zu erlangen. Diesen grundlegenden Vorarbeiten folgt sodann die eigentliche Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz sowie die Einordnung dieses Rechts auf Beweis in das bestehende System der jeweiligen Grundrechtsordnung. Im Anschluss werden Inhalt und Grenzen des Rechts auf Beweis umfassend und unter Einschluss des bisherigen Standes von Rechtsprechung und Literatur analysiert, um ein konsistentes, abstraktes Wertesystem des Rechts auf Beweis zu erhalten. Dieses Wertesystem wird in der Folge als abstrakter Maßstab auf das geltende deutsche Zivilprozessrecht und seine beweisrechtlichen Vorschriften und Fallge staltungen in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur angewendet, um ihre Vereinbarkeit mit dem Recht auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechte charta und Grundgesetz zu überprüfen.
1. Hauptteil
Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
§ 2
Rechtshistorische Betrachtung des Beweisrechts Das Beweisrecht hat eine ebenso lange Geschichte wie das Prozessrecht selbst. Seit Anbeginn seiner Entwicklung setzt jede Anwendung von Recht einen tatsächlichen Sachverhalt als Grundlage voraus. Damit stellte sich jedoch in jedem Prozess die elementare Frage, welcher tatsächliche Sachverhalt der betreffenden Entscheidung als bewiesen zugrunde gelegt werden kann. Die Geburtsstunde des Prozesses ist daher zugleich die Geburtsstunde des Beweisrechts.1 Aufgrund dieser langen Historie haben auch viele Entscheidungen und Einschränkungen im Beweisrecht ihre eigene Entstehungsgeschichte. Es erscheint am Beginn einer solchen Untersuchung daher lohnenswert, einen Blick auf die geschichtlichen Grundlagen zu werfen, um Herkunft und Eigenheiten unseres heutigen Beweisrechts verstehen zu lernen. Die Geschichte und Ursprünge einer Regelung im Beweisrecht auf Basis der damaligen Werteordnung zu kennen, erleichtert es, eine solche Regelung an unserer heutigen Werteordnung zu messen und ihre Legitimation in heutiger Zeit kritisch zu untersuchen.2 Den Beginn dieser Untersuchung soll das römische Recht bilden. Das römische Recht bietet sich aufgrund seines erheblichen Einflusses auf das heutige Prozessrecht als zeitliche Grenze der historischen Betrachtung an. Es folgt eine Darstellung des germanischen Prozessrechts mit seinem ganz eigenen Beweisrecht bis hin zum mittelalterlichen Recht. Abgerundet wird die Entwicklung durch die Rezeption des römischen Rechts ab dem späten Mittelalter ausgehend von den oberitalienischen Stadtstaaten und der daraus folgenden Entwicklung des gemeinen Rechts bis hin zur Entstehung der deutschen ZPO. Weiterhin gilt es für die nachfolgende Untersuchung zu bedenken, dass das Beweisrecht oftmals nicht aus sich selbst heraus vollumfänglich verständlich wird. Erforderlich ist vielmehr, das Beweisrecht im Kontext des gesamten Zivilprozesses zu betrachten. Daher erfolgt im ersten Schritt eine kurze Darstellung eben dieser Grundzüge und Grundprinzipien des jeweiligen Zivilprozesses, bevor sich sodann die Ausführungen zum Beweisrecht des jeweiligen Zivilprozesses anschließen.
1 Ebenso
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 7. argumentierend mit Blick auf Beweislastregeln Musielak, Grundlagen der Beweis-
2 Ähnlich
last, S. 190.
10 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
I. Der Zivilprozess im römischen Recht Der römische Zivilprozess hat in sich in seinen Grundstrukturen und Verfahrensgrundsätzen mehrfach stark verändert. Mit der Wandlung Roms von einer kleinen bäuerlich geprägten Stadt zu einem Weltreich hat sich auch sein Zivilprozessrecht umfassend gewandelt. Daher kann nicht von einem einheitlichen römischen Zivilprozess gesprochen werden. Vielmehr gilt es, verschiedene Abschnitte zu unterscheiden.3 Gemeinhin wird der römische Zivilprozess nacheinander in drei Phasen unterteilt: den frühen Legisaktionenprozess nach den XII Tafeln, den Formularprozess und den Kognitionsprozess der Kaiserzeit.4 Die nachfolgende Untersuchung fasst den Legisaktionen- und Formularprozess unter dem Oberbegriff des vorklassischen und klassischen Prozesses zusammen. Der Formularprozess veränderte den Legisaktionenprozess um einige grundlegende Aspekte, so dass sich seine Eigenständigkeit rechtfertigt.5 Allerdings basierte der Formularprozess in vielen Punkten auch auf dem früheren Legisaktionenprozess, so dass sich unter einer gemeinsamen Überschrift Gemeinsamkeiten, wie auch Veränderungen einfacher darstellen lassen. Zudem wird die Unterteilung um die Unterscheidung des klassischen Kognitionsprozesses vom nachklassischen Prozess erweitert. In dieser nachklassischen Phase gab es gerade im Beweisrecht zahlreiche Veränderungen hin zu einem starreren, formaleren Recht, deren Entwicklung im historischen Kontext und anhand der zugrundeliegenden Motive beleuchtet werden sollten.6
1. Der Zivilprozess in vorklassischer und klassischer Zeit a) Der Legisaktionenprozess: Ablauf und Verfahrensgrundsätze Der Legisaktionenprozess erhielt seinen Namen nach den legis actiones.7 Es handelte sich um bestimmte Spruchformeln, die der Streiteinsetzung dienten und sich auf ein Gesetz zurückführen ließen.8 Ein solches Gesetz als Grundlage einer actio und
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 3 ff. Vgl. z. B. die Darstellungen bei Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 7 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 190 ff.; Krautstrunk, Beweisvereitelung, S. 12 ff. 5 In diesem Sinne Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 158 mwN; siehe zu den einzelnen Abschnitten des römischen Zivilprozesses auch Stürner, FS-Söllner, S. 1171 ff. jeweils mwN. 6 Diese Unterscheidung nimmt auch Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 435 ff. und S. 517 ff. vor. 7 Zur Terminologie vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 34 f. auch zu der Frage, wann sich der Begriff der legis actiones herausgebildet hat. 8 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 34 f.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 21 Rn. 56. 3 Vgl. 4
§ 2: Rechtshistorische Betrachtung des Beweisrechts
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des Erlangens von Rechtsschutz bildeten ursprünglich die um 450 v. Chr. entstanden XII Tafeln, später auch weitere Volksgesetze.9 Prägend für den Legisaktionenprozess war die Zweiteilung des Verfahrens in einen Abschnitt vor dem Prätor (in iure) und einen Abschnitt vor dem Urteilsrichter (apud iudicem).10 Im ersten Abschnitt vor dem Prätor wurden die Prozessformeln (legis actiones) aufgesagt, wobei bereits die geringste Abweichung von diesen Formeln oder ein sonstiger Versprecher den Prozessverlust nach sich gezogen hat.11 Wurden die Formeln korrekt aufgesagt und fand sich in den Gesetzen eine actio für das Begehren des Klägers, so wurde vom Prätor das vorgetragene Streitprogramm festgelegt und ein Urteilsrichter mittels litis contestatio eingesetzt.12 Weitere Prozessvoraussetzungen waren das Prozessieren zur richtigen Zeit13, am richtigen Ort14, unter privater Ladung der gegnerischen Partei15, zwischen solchen Parteien, denen das Prozessieren erlaubt war und über einen Gegenstand, über den nicht bereits ein Prozess anhängig war oder entschieden worden ist.16 Partei konnte grundsätzlich nur ein römischer Bürger sein, allerdings mutmaßlich unter Einschluss solcher Latiner, denen das commercium verliehen wurde.17 Der darauffolgende Prozessabschnitt apud iudicem beinhaltete die eigentliche Streitentscheidung und wurde vor einem Einzelrichter (iudex), einem Gerichtshof (Centumviri, decemviri) oder einem Streitschlichter (arbiter) abgehalten.18 Dieser Verfahrensabschnitt diente primär dem gegenseitigen Vortrag der Beweismittel und der anschließenden Urteilsfällung.19 Durch das Urteil wurde der Rechtsstreit abschließend zwischen den Parteien entschieden, ein weiteres Prozessieren über die-
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 35. Vgl. wiederum Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 20 Rn. 55 f.; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 32 f. und S. 44 ff. 11 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 35. 12 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 44 f. und S. 49 zur Streitfrage des genauen Inhalts der litis contestatio. 13 Ein Prozess begann nach den XII Tafeln in der Mittagszeit und musste bis zum Sonnenuntergang enden, Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 51 unter Verweis auf Tafel 1, 7 und 9; zudem war das Prozessieren an bestimmten Feiertagen (dies nefasti) verboten, ebd.. S. 44. 14 Als Gerichtsort des Prätors wurde in der Regel die Volksversammlung (comitium) oder der Marktplatz angesehen, vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 43 unter Verweis auf Tafel 1, 7. 15 Die Ladung (in ius vocatio) erfolgte allein durch die Parteien, allerdings notfalls durch formalisierte und staatlich erlaubte Eigenmacht, zur Ladung im Einzelnen Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 64 ff. unter Verweis auf Tafel 1, 1–3. 16 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 70. 17 Ausführlich Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 60 ff. 18 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 113 f. 19 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 115; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 20 Rn. 55. 9 Ausführlich 10
12 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts sen Gegenstand ausgeschlossen und die Vollstreckung ermöglicht. Rechtsmittel waren in diesem frühen Prozess noch nicht bekannt.20 Der Legisaktionenprozess zeichnete sich allgemein durch einen starken Formalismus aus und wurde nach seinem Leitbild weitestgehend von den Parteien beherrscht.21 Es galt ein strenges Mündlichkeitsprinzip22, die Öffentlichkeit des Verfahrens23 sowie in Grundzügen der Grundsatz beiderseitigen Gehörs.24 b) Veränderung des Verfahrens durch den Formularprozess Der Formularprozess entwickelte sich etwa ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. und leitet sich begrifflich von der formula ab, die der Prätor den Parteien erteilte, um Inhalt und Aufgabe des weiterhin vorhandenen Urteilgerichts festzulegen.25 Dieser Prozess basiert auf dem Legisaktionenprozess, erweist sich jedoch im Hinblick auf seine Form, wie auch den Rechtschutz als deutlich flexibler. Die erste, entscheidende Veränderung im Vergleich zum Legisaktionenprozess waren die Prozessformeln (formulae).26 Diese Prozessformeln wurden schriftlich abgefasst und ließen im Gegensatz zu den legis actiones mit ihren exakt festgelegten, feierlichen Formeln Raum für variable Anpassungen, und das Risiko eines Prozessverlustes durch einen bloßen Versprecher war durch die Schriftlichkeit ebenfalls gebannt.27 In den Prozessformeln wurde festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die gewährte actio des Klägers erfolgreich sein soll, welche tatsächlichen Umstände mithin vom Kläger zum Prozessgewinn im Verfahren vor dem Urteilsrichter zu beweisen waren. Zudem hatte der Beklagte zu seiner Verteidigung auf Antrag die Möglichkeit, eine exceptio in die Prozessformel aufnehmen zu lassen, die er nachzuweisen hatte und bei deren Nachweis die Klage abgewiesen wurde. Der Kläger wiederum konnte auf diese exceptio mit einer Gegeneinrede (replicatio) reagieren, bei deren Nachweis die Einrede des Beklagten wiederum hinfällig war.28 Durch dieses System der zu beantragenden Einrede und Gegeneinrede wurde das spätere Prozessprogramm durch die Parteien vor dem Prätor festgelegt. Zweiter entscheidender Unterschied war der Umfang des Rechtschutzes in diesem Prozess. Im Formularprozess hatten die Prätoren die Möglichkeit neuer RechtsZu den Urteilwirkungen Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 127 f. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 9 f. 22 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 10 f. 23 Vgl. einmal mehr Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 10 f. 24 Ausführlich zu Existenz und Inhalt des Grundsatzes rechtlichen Gehörs im römischen Zivilprozess Wacke, FS-Waldstein, S. 369, 376 ff. 25 Zu Begriff und Inhalt der formula vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 308 ff. mwN. 26 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 151 f. 27 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 151 f. 28 Zu diesem Wechselspiel zwischen Kläger und Beklagten vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 231 ff. und 256 ff. 20
21 Vgl.
§ 2: Rechtshistorische Betrachtung des Beweisrechts
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schöpfungen. Sie konnte Rechtschutz auch in solchen Fällen gewähren, in denen das Gesetz keine actio vorsah und eine Klage im Legisaktionenprozess zurückgewiesen worden wäre. Der Prätor erteilte dem Kläger in diesem Fall eine seinem Begehren angepasste actio in factum.29 Diese geringere Formenstrenge und der umfassendere Rechtschutz durch prätorische Rechtsfortbildungen erklären die zunehmende Beliebtheit des Formularprozesses, der den Legisaktionenprozess immer weiter zurückdrängte, bis derselbe durch Augustus 17 v. Chr. in den leges Iuliae iudicorum privatorum auch formal abgeschafft wurde.30 Die weiteren Prozessvoraussetzungen des Formularprozesses basierten – mit zahlreichen Veränderungen – ebenfalls auf dem Legisaktionenprozess. So blieb es bei der Zweiteilung des Verfahrens31, der Ort des Gerichts blieb das comitium32 und auch die Zeit des Gerichts waren allein die Feiertage (dies nefasti), wenngleich diese Regelung erneuert und für alle Magistrate vereinheitlicht wurde.33 Die Parteifähigkeit umfasste römische Bürger und nun auch ohne Einschränkungen Menschen ohne das römische Bürgerrecht (peregrine). Frauen waren nur prozessfähig, soweit sie gewaltfrei waren. Ausgeschlossen waren weiterhin Sklaven sowie grundsätzlich auch Hauskinder und Minderjährige (infantes).34 Die Ladung erfolgte durch den Kläger als privater Akt unter Aufsicht des Prätors, wenngleich der Gegner nun über die zu beantragende Formel und alle Beweismittel aufgeklärt werden musste (edi tio).35 Übereinstimmungen zeigen sich auch bei den Verfahrensgrundsätzen: So galt weiterhin die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit, das Verfahren war öffentlich und wurde durch die Parteien beherrscht. Zudem hatte das Gericht beiderseitiges Gehör zu gewährleisten.36 c) Das Beweisrecht vorklassischer und klassischer Zeit Das Beweisrecht im römischen Zivilprozess unterliegt insgesamt der Besonderheit, dass die römischen Juristen den gesamten Verfahrensabschnitt apud iudicem eher dem Bereich des Tatsächlichen zugeordnet haben. Daraus folgte, dass dieser Be29 Zu dieser Anerkennung prätorischer Rechtsschöpfung Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 238 f.; siehe auch Krautstrunk, Beweisvereitelung, S. 19 ff. jeweils mwN. 30 Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 192 mwN; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 161 f. 31 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 164 bezeichnet diese Zweiteilung als ein wesensbestimmendes Merkmal des Formularprozesses; ähnlich äußern sich Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, S. 108 f. 32 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 201. 33 Zu den Gerichtszeiten und den Verboten, Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 202 f. 34 Zur Parteifähigkeit insgesamt Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 204 ff. 35 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 221 f. 36 Vgl. zu den Verfahrensgrundsätzen, Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 10 f. und speziell zum Formularprozess S. 359 f.
14 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts reich kaum rechtlichen Regeln unterworfen war und durch Rhetoriker anstelle von Juristen dominiert wurde.37 Diese Besonderheit gilt für den Zivilprozess in vorklassischer und klassischer Zeit gleichermaßen. Eine Beachtung unter juristischen Gesichtspunkten fand das Beweisrecht erst in der späteren Kaiserzeit, insbesondere unter Justinian.38 Gesetzliche Regelungen im vorklassischen und klassischen Zivilprozess widmeten sich lediglich den Grenzen, in denen solche Beweismittel eingebracht werden konnten, die völlig ungeeignet erschienen.39 Das Beweisverfahren im Legisaktionen- und im Formularprozess fand ausschließlich vor dem Urteilsrichter im zweiten Abschnitt eines Prozesses statt. Die Parteien hatten die Herrschaft über das Beweisverfahren und waren dementsprechend auch zur Beibringung der Beweise verpflichtet, ohne dass ihnen staatliche Zwangsmittel zur Verfügung gestanden hätten.40 Diese Parteiherrschaft ging so weit, dass die Parteien den Urteilsrichter für das Verfahren apud iudicem gemeinschaftlich auswählen konnten. Der ausgewählte Richter musste wohl weder das römische Bürgerrecht inne gehabt haben noch gewaltfrei gewesen sein.41 Erforderlich war hiernach lediglich die Mündigkeit (pubertas) – generell ausgeschlossen vom Richteramt waren im vorklassischen und klassischen Prozess indes wohl Sklaven, Frauen, Taubstumme und Geisteskranke.42 Falls die Parteien sich auf keinen Richter einigen konnten, wurden subsidiär Richterlisten zur Auswahl eines Urteilsrichters geführt.43 Im Formularprozess entwickelte sich zudem das Rechtsinstitut der editio actio nis. Im Rahmen der Ladung musste der Kläger dem Beklagten sein Begehren mitteilen und des weiteren sämtliche Beweismittel ankündigen, auf die er sein Begehren stützen wird, um dem Gegner das Einfügen von exceptiones zu ermöglichen.44 Es erscheint denkbar, dass ein Verstoß gegen die Editionspflichten den Ausschluss mit des nicht-editierten Beweismittels für den späteren Prozess zur Folge hatte.45 In diesem Sinne würden die Editionspflichten in gewisser Weise Parallelen zu heutigen Präklusionsvorschriften für den Parteivortrag im Prozess aufweisen. 37 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 361 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 194 f. 38 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 519 f.; ausführlich zum Beweisrecht im justinianischen Prozess auch Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 135 ff. 39 In diesem Sinne Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 361 f. 40 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 119. 41 Zu den Anforderungen und zum Verfahren der Richterwahl Kaser/Hackl, römisches Zivilprozessrecht, S. 47 und 195 f., der diese Freiheit bei der Richterwahl auf die Frühzeit des Prozesses zurückführt, in der die Legitimation eines Urteils davon abhing, dass die Parteien sich „ihrem“ Richter im Vorhinein persönlich unterworfen hatten. 42 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 195 mwN. 43 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 195. 44 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 220 f. 45 In diese Richtung gehend, zugleich aber auf die schwierige Quellenlage hinweisend Kaser/ Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 357 ff. mwN.
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aa) Beweismittel Als Beweismittel kamen sowohl in vorklassischer als auch in klassischer Zeit bereits die uns bekannten Beweismittel in Betracht. So konnte der Beweis durch Zeugen (testes) und Parteiaussagen, Urkunden (instrumenta, tabulae), Sachverständige und Augenscheinnahme (aspectus) geführt werden46 Darüber hinaus kannten die Römer als Beweismittel Gesetze, Dekrete und Senatsbeschlüsse sowie Gerüchte (rumores), Vorentscheidungen (praeiudicia) und den Ruf einer Person (fama).47 Die Vorherrschaft der Rhetoriker führte dazu, dass eine Einteilung in solche Beweismittel erfolgte, die für den Redner im Vorhinein als unveränderbar feststanden (proba tiones inartifical) und solche Beweismittel, die der Rhetoriker künstlich erzeugte (probationes artifical).48 Die erstere Gruppe umfasst die vorher genannten Beweismittel, letztere beinhaltete Indizien (signa), logische Schlüsse (argumenta) und typische Beispiele (exempla).49 Vorliegend soll es primär um die erste Gruppe der Beweismittel (probationes inartifical) gehen, die der Ermittlung der Wahrheit dienen und daher mit den Beweismitteln nach heutigem Verständnis übereinstimmen. Der Zeugenbeweis war in vorklassischer und klassischer Zeit das wohl wichtigste Beweismittel, unterlag jedoch zugleich einer Reihe von Beschränkungen. So gab es keine allgemeine Zeugnispflicht, vielmehr wurde das Zeugnis eher als „freiwilliger Freundschaftsdienst“ denn eine staatlich auferlegte Pflicht angesehen. Daher war es auch Sache der Parteien, die Zeugen beizubringen und zu befragen.50 Einschränkungen gab es ferner bei der Frage, welche Personen Zeugen vor Gericht sein konnten. So waren wohl Freigelassene, Unmündige und gewisse Ehrlose nicht zeugnisfähig. Gleiches galt für nahe Angehörige. Sklaven galten nur bei solchen Aussagen als zeugnisfähig, die durch Folter erzwungen wurden.51 Zudem war ein Zeugnis vom Hörensagen generell unstatthaft.52 Eine Besonderheit und Schnittstelle zwischen zwei Beweismitteln stellte die Zeugenurkunde dar (testio). In dieser Urkunde hat ein Zeuge seine Aussage schriftlich festgehalten, was von Urkundszeugen
Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 365 ff. Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 365 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 194 f. 48 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 365 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 194 f. 49 Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 194 f. mwN; Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 365, Fn. 27. 50 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 367 f., Ausnahme war ein Zeugniszwang bei Geschäftszeugen, die eben für dieses Zeugnis hinzugezogen wurden. 51 Vgl. die Auflistung bei Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 367, teilweise zweifelnd bezüglich der Übertragbarkeit auf den Zivilprozess. 52 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 13; in diese Richtung auch Wenger, Institutionen, S. 188 jeweils mwN. 46 Vgl. 47
16 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts mit Siegel beglaubigt wurde. Diese Urkunde wurde vor Gericht schließlich geöffnet und verlesen.53 Der Urkundenbeweis spielte im vorklassischen Prozess nur eine untergeordnete Rolle, gewann jedoch in klassischer Zeit mehr und mehr an Bedeutung.54 Eine Vorlagepflicht bestand nur ausnahmsweise. Die Fälschung einer Urkunde war strafbar.55 Sachverständigenbeweis und Augenscheinnahme waren bekannt und als Beweismittel zugelassen. Allerdings spielten sie in dieser Epoche keine übergeordnete Rolle.56 Der römische Zivilprozess in dieser Zeit kannte das Beweismittel der Parteiaussage, allerdings ist fraglich welche Beweiskraft eine solche Aussage hatte.57 Selbst eine behauptete Tatsache, die von der gegnerischen Partei zugestanden wurde (con fessio), hatte wohl keine formal feststellende Wirkung.58 Es erscheint zudem zweifelhaft, ob es im klassischen Formularprozess noch einen Parteieid über Tatsachen gab.59 Bekannt waren zwei Formen des Eides, die vor dem Prätor im Verfahrensabschnitt in iure geleistet werden konnten. Zu unterscheiden ist zwischen dem freiwilligen/übernommenen Eid und dem auferlegten Eid durch den Prätor.60 Der freiwillige Eid war in jedem Formularverfahren zulässig und wurde jeweils vom Kläger oder Beklagten der anderen Partei „zugeschoben“. Wenn eine Partei den ihr zugeschobenen Eid geleistet hatte bzw. von der Leistung befreit war, so wurde formal die Begründetheit bzw. die Unbegründetheit der Klage festgestellt.61 Der derart obsiegende Kläger erhielt eine entsprechende actio in factum, der Beklagte eine exceptio iurisi urandi und im nachfolgenden Verfahren war lediglich Existenz und Inhalt des Eides zu klären.62 Der auferlegte Eid betraf nur wenige Ansprüche und wurde vom Kläger dem Beklagten zugeschoben, der den Eid auf den Kläger zurückschieben konnte.
53 Vgl. zur Erstellung und Bedeutung dieser Zeugenurkunde Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 368. 54 Vgl. zur Bedeutung der Urkunde im vorklassischen und klassischen Prozess, Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 120 und S. 369. 55 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 369. 56 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 369 unter Nennung der Feldmesser als Beispiel für den Augenschein und die Bestätigung der Schwangerschaft durch drei Hebammen als Beispiel für den Sachverständigenbeweis. 57 Zweifelnd bezüglich einer eigenständigen Beweiskraft Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 366. 58 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 366 mwN und zur confessio in iure vor dem Prätor, S. 270 ff.; in diese Richtung tendierend auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 12. 59 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 366 und S. 339 f. zum Schätzungseid (iu siurandum in litem) als einzigem gesicherten Eid über die dem Kläger gebührende Leistung. 60 Vgl. zu diesen Eiden Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 266 ff. mwN. 61 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 267 f. 62 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 268.
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Der Unterschied zum freiwilligen Eid lag darin, dass der Prätor eingriff, wenn der Beklagte den Eid verweigerte ohne ihn auf den Kläger zurückzuschieben.63 bb) Beweiswürdigung Eine weitere Besonderheit des römischen Zivilprozessrechts war die Beweiswürdigung. Frühe Rechtskulturen zeichneten sich in der Regel durch sehr strenge Beweisregeln aus, die dem urteilenden Richter strikte Vorgaben machten.64 Das römische Recht hat demgegenüber bereits früh den Weg der freien Beweiswürdigung beschritten.65 Als Gegenbeispiel wird zwar oftmals eine Beweisregel verwendet, nach der ein Besitzer einer gestohlenen Sache, die bei einer Hausdurchsuchung aufgefunden wurde, formal als schuldig feststand.66 Dennoch ist im römischen Zivilprozess bereits im vorklassischen Legisaktionenprozess von einer weitgehend freien Beweiswürdigung auszugehen.67 Jedenfalls im klassischen Formularprozess kann von einer freien Beweiswürdigung gesprochen werden.68 Selbst Urkunden hatten keinen gesteigerten Beweiswert, vielmehr unterlagen sie ebenfalls der freien Beweiswürdigung durch den Urteilsrichter.69 Allerdings gilt es in diesem Zusammenhang zugleich die Dominanz der Rhetoriker zu bedenken: So stand im Mittelpunkt des Beweisverfahrens oftmals eher der Versuch, das Gericht von der eigenen Glaubwürdigkeit anstelle des eigentlichen Sachverhaltes zu überzeugen und auch das Gewicht eines Zeugen wird sehr stark von seiner sozialen Stellung und seinem Ruf (fama) abhängig gewesen sein.70
2. Der Kognitionsprozess in klassischer und nachklassischer Zeit Der Kognitionsprozess meint begrifflich zunächst einmal alle Verfahrensarten, die ab der Kaiserzeit dem herrschenden Formularprozess gegenüberstanden.71 Es hanZum Verfahren Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 268 f. Vgl. beispielsweise Seidl, Geschichte des Zivilprozesses, S. 178. 65 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 195 f.; Seidl, Geschichte des Zivilprozesses, S. 178 f.; zurückhaltender und von einem weiten Ermessen sprechend Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 117 f., 363 f., der die frühe Überwindung jedoch zugleich als eine der bedeutendsten rechtsethischen Errungenschaften der Römer ansieht. 66 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 117 f.; Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 f. mit eben diesem Beispiel. 67 In diesem Sinne Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 195 f.; Seidl, Geschichte des Zivilprozesses, S. 178 f. 68 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 12 mwN. 69 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 369; Walter, freie Beweiswürdigung, S. 13. 70 Diese Kritik übt Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 119 mwN, auch zur Funktion des Eides. 71 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 437 mwN. 63
64
18 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts delte sich um außerordentliche Verfahren, deren einigendes Band darin bestand, dass anstelle von Privatpersonen nun Magistrate oder kaiserliche Beamte als Richter berufen waren.72 a) Der klassische Kognitionsprozess: Ablauf und Verfahrensgrundsätze Diese Verfahren entwickelten sich in der Zeit des Prinzipats unter Augustus aus der kaiserlichen Rechtsprechungstätigkeit.73 Der Kaiser konnte kraft seiner Autorität (auctoritas princeps) auf Anrufung ein Verfahren in erster Instanz entscheiden oder – als Regelfall – ein bereits bestehendes Urteil nachprüfen.74 Ein zentraler Unterschied des Kognitionsverfahrens im Vergleich zum Formularprozess war die fehlende Zweiteilung des Verfahrens in die Abschnitte in iure und apud iudicem. Im Kognitionsprozess wurde das gesamte Verfahren von seiner Einleitung bis zur Urteilsfällung vom Kaiser oder seinen delegierten Beamten durchgeführt.75 Insgesamt war der Kognitionsprozess durch eine stärkere Zweckmäßigkeit anstelle von Förmlichkeit und eine deutliche Ausweitung des richterlichen Einflusses geprägt. Die Ladung der Parteien erfolgte wahlweise privat mit amtlicher Ermächtigung oder amtlich, in jedem Fall waren nun direkte Zwangsmittel möglich – etwa ein Versäumnisverfahren. Außerdem bedurfte es im Kognitionsprozess keines besonderen Unterwerfungsaktes der Partien unter die Gerichtsgewalt, wie es im Formularprozess mit der litis contestatio vonnöten war.76 Der Kläger musste die anspruchsbegründenden Tatsachen in der Klageschrift vortragen, der Beklagte erwiderte alle Tatsachen, auf die er seine Verteidigung stützte.77 Maßgeblich war allein der Vortrag derjenigen Tatsachen, die den materiell-rechtlichen Anspruch begründeten, eine prozessuale actio oder formula ist im Kognitionsprozess gerade nicht mehr erforderlich.78 Spiegelbildlich galt diese Freiheit ebenfalls für die Verteidigung des Beklagten, die nun ohne Erfordernis einer exceptio in der Prozessformel alle prozessualen und materiellen Einwendungen umfasst.79 Im weiteren Verfahrensverlauf hatte der Richter gleichfalls ein sehr weitreichendes Ermessen in der Ausgestaltung des konkreten Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 435 f. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 445 f. 74 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 446, der als weitere Legitimationsquelle der Kaiser für ihre Rechtsprechungstätigkeit, den Vergleich zu den Rechtsfortbildungen der früheren Prätoren sieht. 75 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 442; vgl. aber auch Kaser/Knütel/ Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 475 ff., der auf die Möglichkeit der Delegierung des Beweisund Urteilsverfahrens an einen iudex datus bzw. iudex padeneus hinweist. 76 Siehe Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 476 f. 77 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 485 ff. zu Klagantrag und Verteidigung des Beklagten. 78 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 485; Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 393. 79 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 486 f. 72
73 Vgl.
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Verfahrens und beherrschte alle Verfahrensschritte.80 Am Ende des Verfahrens stand ein schriftlich abgefasstes und den Parteien verlesenes Urteil, dessen Rechtskraft einem neuerlichen Prozess entgegenstand.81 Diese einschneidende Veränderung von einem Formularprozess, in dem die Parteien von der Richterwahl bis zur Verfahrensgestaltung entscheidenden Einfluss hatten, hin zu einem Kognitionsprozess, bei dem ein beherrschender staatlicher Einfluss bestand, wird mit Blick auf die veränderte Machtstruktur im Prinzipat erklärlich. Der Prozess wurde seinem Idealbild nach vom Kaiser persönlich geleitet und selbst im Falle einer typischerweise erfolgenden Delegation auf einen kaiserlichen Beamten, war dieser Beamte doch unmittelbarer Vertreter der kaiserlichen Autorität, die keinen rechtlichen Regelungen unterworfen war, sondern vielmehr selbst den Anspruch hatte, Recht zu schaffen, woraus ein nahezu uferloses richterlichen Ermessen resultierte.82 Hinzu trat in der absoluten Herrschaft der Kaiserzeit auch der wohlfahrstaatliche Gedanke, dass es die Pflicht des Kaisers sei, durch eine eigens geordnete Rechtspflege Recht und Ordnung sicherzustellen.83 Ein Ausdruck dieses wohlfahrtstaatlichen Gedankens wie auch der absoluten Machtfülle des Kaisers war zudem die Entstehung eines Instanzenzuges. Im Kognitionsprozess war es möglich, sich mit einer appellatio gegen ein Urteil direkt an den Kaiser zu wenden.84 Als weitere Verfahrensgrundsätze des klassischen Kognitionsprozesses sind schlussendlich die Grundsätze der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit, des beiderseitigen Gehörs und der Unmittelbarkeit einer Beweisaufnahme zu nennen.85 b) Beweisrecht im klassischen Kognitionsprozess Das Beweisrecht weist im klassischen Kognitionsprozess noch zahlreiche Parallelen zum Formularprozess auf. So war es auch in diesem Prozess Sache der Parteien, die Beweismittel beizubringen.86 Bedeutendster Unterschied war die Zusammenfassung der beiden Verfahrensabschnitte zu einem einheitlichen Verfahren. In diesem 80 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 442 f. und S. 481 ff.; Kaser/Knütel/ Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 475 ff. 81 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 494 ff. und S. 499 f. zur Rechtskraft von Urteilen. 82 Diese Erklärung für die veränderte Verfahrensgestaltung führen auch Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 475 f. und auch Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 442 ff. und S. 446 ff. 83 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 443. 84 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 501 ff. auch zu Gründen und Legitimation der appellatio. 85 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 448 (Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit, beiderseitiges Gehör) und S. 482 (Mündlichkeit); zur Gewährung beiderseitigen Gehörs vgl. auch Wacke, FS-Waldstein, S. 379 ff. mit Nachweisen aus den Primärquellen. 86 Siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 491.
20 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts einheitlichen Prozess war es dem Richter nun in jedem Verfahrensstadium möglich, Beweis zu erheben.87 Als Beweismittel kamen auch im Kognitionsprozess vor allem Zeugen, Urkunden, Sachverständige, Augenscheinnahme und die – eidliche – Parteiaussage in Betracht. Letztlich war jedoch als Beweis jedes Mittel zulässig, das den Richter vom tatsächlichen Sachverhalt überzeugen konnte.88 In der Praxis sorgte die Ausbreitung des Urkundenwesens für eine Verschiebung der Relevanz der Beweismittel vom Zeugenbeweis hin zum Urkundenbeweis. Zudem wurde durch die starke staatliche Prägung des Verfahrens auch die Vorlagepflicht für Urkunden ausgeweitet.89 Allerdings handelte es sich zu dieser Zeit tendenziell eher um ein praktisches Übergewicht dieses Beweismittels und noch nicht um eine rechtlich gefasste Privilegierung von Urkunden. Im klassischen Kognitionsprozess gab es noch keine starren Beweisregeln zugunsten der Richtigkeit des Inhalts einer Urkunde.90 Das Fehlen von Beweisregeln beschränkte sich im klassischen Kognitionsprozess nicht allein auf die Urkunden. Vielmehr wird im klassischen Kognitionsprozess insgesamt der Grundsatz einer freien Beweiswürdigung gegolten haben.91 So waren selbst die zugeschobenen Eide im Kognitionsprozess nur ein Beweismittel, das der freien Würdigung durch das Gericht unterlag. Eine formell prozessbeendende Wirkung kam diesen Eiden nicht zu. Eine solche Wirkung wurde allein dem gerichtlichen Anerkenntnis (confessio) zugestanden.92 Diese Freiheit der Beweiswürdigung korrelierte mit der generellen Entwicklung eines sehr weitreichenden, richterlichen Ermessens im Kognitionsprozess. Es ist kaum vorstellbar, dass diese Freiheit in der Verfahrensgestaltung in ihrer Herleitung aus der kaiserlichen Autorität nicht auch eine umfassende Freiheit der Würdigung von Beweismitteln umfasste.93 Der klassische Kognitionsprozess stellte ein Übergangsphänomen zwischen der republikanischen- und der Kaiserzeit dar. Ein Formularprozess, der den Staat allenfalls in der Rolle eines von den Parteien frei bestimmten, neutralen Schiedsrichters sah, passte nicht in das Bild eines Kaisertums – selbst in seiner Frühzeit unter Augus Kaser/ Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 491. So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 491 unter Benennung der üblichen Beweismittel. 89 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 492 zum Aufblühen des Urkundenwesens und der Stärkung der Vorlagepflicht jeweils mwN. 90 Vgl. insoweit die Ausarbeitung von Walter, freie Beweiswürdigung, S. 13; ebenfalls unter Verweis auf Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 492 f. 91 Vgl. Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 477; siehe auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 14 ff. der diesen Grundsatz erst im nachklassischen Kognitionsprozess stark eingeschränkt sieht. 92 Zu den Parteieiden wie auch der confessio vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 492. 93 Für eine Freiheit der Beweiswürdigung auch Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 491, allerdings mit dem Begründungsansatz einer Kontinuität zum Formularprozess. 87 Vgl. 88
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tus. Daher wurde das Verfahren in seiner Struktur und Ausgestaltung gestrafft, dem Parteiwillen entzogen und ganz in ein staatliches Verfahren umgewandelt, das der Gewalt des Gerichts unterworfen war. Allerdings waren die frühen Kaiser um eine Fortsetzung des Scheins der republikanischen Traditionen bemüht, so dass sich die inhaltliche Ausgestaltung des klassischen Kognitionsprozesses und insbesondere das Beweisrechts in dieser Phase kaum vom Formularprozess unterschieden haben. Einschneidende Veränderungen im Beweisrecht setzten erst im nachklassischen Prozess ein – etwa ab der Zeit Kaiser Konstantins Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr.94 c) Veränderungen des Prozesses in nachklassischer Zeit In nachklassischer Zeit wurde aus dem außerordentlichen Verfahren des Kognitionsprozesses ein ordentliches Gerichtsverfahren. Durch das Absterben der klassischen Jurisprudenz ging das erforderliche und prägende Fachwissen über den Formularprozess verloren, so dass er wohl bereits unter Diokletian faktisch keine Rolle mehr spielte. Formal abgeschafft wurde der Formularprozess erst in der Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr.95 Der Kognitionsprozess wurde in dieser Zeit durch einen nochmals stärkeren staatlichen Einfluss geprägt. So wurde die bis dato mögliche, halbamtliche Ladung (litis denuntatio) ab der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. endgültig durch die Einreichung einer Klageschrift (libellus conventionis) an das Gericht und eine amtliche Ladung ersetzt.96 Allerdings äußerte sich dieser staatliche Einfluss nicht in einer noch stärkeren Stellung und Ermessensfreiheit des Gerichts. Vielmehr wurde der Kognitionsprozess in nachklassischer Zeit zahlreichen gesetzlichen Regelungen unterworfen – insbesondere im Hinblick auf Form- und Fristen.97 Eine solch umfassende Regelungsdichte stand im Einklang mit dem Anspruch der Kaiser, jeden Lebensbereich zu regeln. Hinzu trat die Problematik einer oftmals ebenso korrupten wie juristisch wenig geschulten Richterschaft in nachklassischer Zeit. Mit dem Verlust der klassischen Jurisprudenz gingen die entsprechenden Fähigkeiten verloren und mit dem wirtschaftlichen Verfall des römischen Reiches kam die Korruption als flächendeckendes Problem auf.98
94 Zur
zeitlichen Abgrenzung von klassischem und nachklassischem Kognitionsprozess siehe Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 436 und insbesondere S. 518 ff. 95 Als Begründung für das Absterben der klassischen Jurisprudenz und die spätere Abschaffung des Formularprozesses nennt Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 435 und 518 f. eine Schwächephase des römischen Reiches zwischen 235 und 284 n. Chr.; ähnlich auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 201. 96 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 566 f. und S. 570 ff.; in diesem Sinne auch Wenger, Institutionen, S. 291. 97 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 520 f. 98 Insbesondere Korruption und Unfähigkeit macht Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 520 als Grund für die kaiserliche Regelungstätigkeit aus.
22 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Die Veränderungen des Kognitionsprozesses in nachklassischer Zeit zeigen sich besonders deutlich bei den Verfahrensgrundsätzen. So wurde das Verfahren in weitem Umfang der Schriftform unterworfen. Alle wesentlichen Parteihandlungen von der Ladung bis zur Klageerwiderung waren in ihrer Wirksamkeit von der Schriftform abhängig.99 Zwar wurde in erster Instanz noch mündlich verhandelt und auch das Urteil verlesen, indes wurde die eigentliche Entscheidung oftmals nach Aktenlage gefällt.100 Somit wurden die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit in weitem Umfang eingeschränkt. Einzig der Grundsatz beiderseitigen Gehörs scheint als Mindestmaß rechtlich garantierter Einflussnahme der Prozessparteien auch in nachklassischer Zeit fortbestanden zu haben.101 d) Beweisrecht im nachklassischen Kognitionsprozess Besonders nachdrückliche Veränderungen hat in nachklassischer Zeit auch das Beweisrecht des Kognitionsprozesses erfahren: aa) Grundlagen In dieser Zeit wurde das Beweisrecht erstmals als eine Materie angesehen, die dem Bereich des Rechts zuzuordnen war und daher konsequenterweise rechtlicher Regelungen bedurfte.102 Diese Sichtweise traf zusammen mit der benannten Änderung des Staatsgefüges hin zu einem noch stärkeren, kaiserlichen Machtanspruch und dem Anspruch, alle Lebensbereiche einer von eben dieser Macht geschaffenen, rechtlichen Ordnung zu unterwerfen.103 Eine der bedeutsamsten Veränderungen war die Abschaffung des Beibringungsgrundsatzes, der den römischen Zivilprozess seit dem frühen Legisaktionenprozess dominiert hat, zugunsten der Einführung des Untersuchungsgrundsatzes. Der Richter erhielt nun auch im Beweisverfahren gänzlich die Kontrolle über den Prozess und erhob die Beweise von Amts wegen ohne das Erfordernis von Mitwirkungshandlungen der Parteien.104 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 556 f. mwN. So Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 478; vgl. auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 mwN. 101 So die Analyse von Wacke, FS-Waldstein, S. 369, 379 ff. unter Verweis auf Textpassagen Diokletians; kritischer in diesem Zusammenhang Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11. 102 Vgl. zu dieser Entwicklung Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 520 f., der die Regelungen im Beweisrecht zudem auf das geringe Vertrauen in die Lauterkeit und die Fähigkeiten der Richterschaft zurückführt. 103 In diesem Sinne die Entwicklung beschreibend auch Wenger, Institutionen, S. 282 f. mwN; zur umfassenden Regulierungstätigkeit vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 519 ff. und Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1174 f. jeweils mwN. 104 Vgl. zu dieser Entwicklung Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 595 f.; ebenso Walter, freie Beweiswürdigung, S. 10; kritisch insoweit Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 375. 99 Vgl. 100
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bb) Beweismittel und Beweiswürdigung Als Beweismittel kam auch in nachklassischer Zeit jede Erkenntnismöglichkeit in Betracht, die den Richter von der Wahrheit bzw. Unwahrheit einer Tatsache überzeugen konnte. In der Regel wurde der Beweis mit den klassischen Beweismitteln in Form von Zeugen, Urkunden, Parteiaussagen, Augenschein und Sachverständigen geführt.105 Indes hat die gesetzliche Regelung des Beweisrechts sowohl in Bezug auf die Zulässigkeit von Beweismitteln als auch hinsichtlich ihrer Würdigung zahlreiche Veränderungen und Einschränkungen herbeigeführt. Die Zulässigkeit von einzelnen Beweismitteln wurde oftmals an strenge Voraussetzungen geknüpft und es entstanden Beweisregeln für die Würdigung von Beweismitteln.106 Die Urkunde hat den Zeugenbeweis in nachklassischer Zeit als wichtigstes Beweismittel abgelöst. Diese faktische Entwicklung hat mit dem Aufblühen des Beurkundungswesens im klassischen Kognitionsprozess ihren Anfang genommen. Sie wurde in nachklassischer Zeit durch die Einführung bestimmter Rechtsregeln verstärkt. Urkunden erhielten qua Gesetz eine erhöhte Beweiskraft gegenüber anderen Beweismitteln.107 Insoweit werden alle Urkunden diese Privilegierung genossen haben, allerdings hing die Qualifikation als Urkunde je nach Gattung von unterschiedlichen Voraussetzungen ab108: Protokolle waren Urkunden, die nur von einer dazu befugten Behörde errichtet werden konnten und dauernd die volle Beweiskraft für die zu beweisende Tatsache erbrachten, wobei ein Gegenbeweis möglich war.109 Eine weitere Gattung bildeten diejenigen Urkunden, die von einem beruflichen Urkundenschreiber (tabellio) verfasst wurden. Voraussetzung für die gerichtliche Anerkennung der Echtheit einer solchen Urkunde war jedoch das prozessuale Zeugnis des verfassenden Urkundenschreibers über Beurkundungsvorgang und Echtheit dieser Urkunde.110 Schlussendlich kannte der nachklassische Kognitionsprozess die privaten Urkunden (cautio nes, chirographa). Die Echtheit musste in einem impositio fidei genannten Prüfungsverfahren durch Zeugen und Schriftenvergleich nachgewiesen werden, wobei diese Beurteilung der Echtheit wohl noch der freien Beweiswürdigung des Gerichts Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 mwN. zu dieser Veränderung des Beweisrechts Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 595 ff.; zu den Einschränkungen der Beweiswürdigung durch den Richter siehe auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 11 ff. und Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1174 f. jeweils mwN. 107 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 600 ff.; zu dieser Entwicklung auch Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1174 f. jeweils mwN. 108 Vgl. wiederum Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 601 f. und Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1174 f. 109 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 601 unter Verweis auf die Digesten. 110 Vgl. zu dieser Art von Urkunde Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 601, der unter Verweis auf Primärquellen darauf hinweist, dass unter Justinian noch ein Eid des Urkundenschreibers erforderlich war. 105 Vgl. 106 Vgl.
24 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts unterlag.111 Allerdings galt unter Justinian auch hier die einschränkende Regel, dass eine Privaturkunde bei drei unterzeichnenden Zeugen der Urkunde eines tabellio gleichstand.112 Diese rechtlichen Privilegierungen von Urkunden gingen einher mit einer prozessualen Vorlagepflicht von Urkunden im Original durch ihren Besitzer und führten dazu, dass Urkunden in nachklassischer Zeit das vorherrschende Beweismittel wurden.113 Ihr lag die Vorstellung zugrunde, dass Urkunden als verfestigte Verkörperung von Gedanken nicht der Fehlerhaftigkeit des menschlichen Gedächtnisses unterliegen und daher eine höhere Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen könnten.114 Der Zeugenbeweis wurde in nachklassischer Zeit gleichfalls einem umfangreichen Regelwerk unterworfen. Allerdings hat dieses Beweismittel in dieser Zeit zunehmend seine Bedeutung im Zivilprozess zugunsten des Urkundenbeweises verloren.115 Zwar wurde der Zeugenbeweis unter Justinian durch eine allgemeine Zeugnispflicht aufgewertet.116 Allerdings unterlag der Zeugenbeweis im Laufe der Zeit weitreichenden Einschränkungen. Die Einschränkungen der Zeugnisfähigkeit setzten sich im Wesentlichen aus den früheren Prozessarten fort und wurden um Apostaten und Angehörige bestimmter Sekten ausgeweitet.117 Eine der entscheidendsten Einschränkungen erlebte der Zeugenbeweis unter Kaiser Konstantin im Jahr 334 n. Chr. mit der Regel „unus testis nullus testis“.118 Hiernach konnte ein Zeuge allein niemals genügen, um Beweis für eine Tatsache zu erbringen. Mithin war der Zeugenbeweis weitgehend entwertet, solange nur ein Zeuge vorhanden war. In speziell angeordneten Fällen gab es weitergehende Mindestzahlen an Zeu111 Zum Prüfungsverfahren siehe Walter, freie Beweiswürdigung, S. 203 f.; Die Zeugen konnten die Urkunde mitunterzeichnen und hierdurch bekräftigen, vgl. hierzu Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 601 f. 112 In diesem Sinne Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 601 f. mwN aus den Primärquellen. 113 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 602 ff., der zudem darauf hinweist, dass die prozessuale Bedeutung von Urkunden zu einem gewissen Gleichlauf im materiellen Recht durch das Aufkommen von Schriftformerfordernissen geführt hat; zur Bedeutung des Urkundenbeweises siehe Walter, freie Beweiswürdigung, S. 15 f. 114 So Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 600. 115 Siehe zu dieser Entwicklung Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 599 ff. mwN aus den Primärquellen. 116 Vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605 f. auch zu den Ausnahmen von Privilegierungen aufgrund gesellschaftlicher Stellung. 117 Insgesamt zur Zeugnisunfähigkeit ausführlich Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 232 ff.; vgl. auch Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605 f., auch zu der Zeugnisunfähigkeit von Juden und Häretikern gegenüber Christen, nicht aber im Prozess mit Angehörigen des eigenen Glaubens. 118 So Walter, freie Beweiswürdigung, S. 15 unter Verweis auf die Primärquellen; ebenso Ka ser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605, Fn. 60; vgl. ausführlich auch Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 248 ff.
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gen für einen Beweisantritt.119 Zudem veränderte sich die rechtliche Wertigkeit des Zeugenbeweises. Die rechtliche Gleichwertigkeit aller Beweismittel war noch unter Konstantin anerkannt, während unter Justinian auch diese Gleichwertigkeit verändert wurde. Der Zeugenbeweis hatte hiernach eine gegenüber Urkunden geringere Beweiskraft.120 Als Begründung für diese Schwächung des Zeugenbeweises wird auf einen allgemeinen Rückgang von Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit verwiesen, ebenso wie auf eine Vulgarisierung des Rechts insgesamt.121 Der Beweis durch Sachverständige wie auch durch Augenschein spielte weiterhin eine eher untergeordnete Rolle im Zivilprozess. Hinzu trat lediglich der Schriftensachverständige, zwecks Schriftenvergleich und Feststellung der Echtheit einer Urkunde.122 Eine praktische Relevanz dieser beiden Beweismittel im Vergleich zu Zeugen, Urkunden und Parteiaussagen ist jedoch nicht zu konstatieren.123 Von Bedeutung waren jedoch Parteiaussagen und Parteieide. Die Veränderungen des Prozesses zeigten sich auch bei diesem Beweismittel. So wurde die Befragung einer Partei im Rahmen ihrer Aussage nicht mehr durch die jeweils andere Partei, sondern durch das Gericht vorgenommen.124 Die Eide unterteilte Kaiser Konstantin in den notwendigen, freiwilligen und richterlichen Eid, die nun nicht mehr auf spezielle Ansprüche beschränkt waren.125 Allerdings unterlag die Eidesleistung umfangreichen Zulässigkeitsvoraussetzungen und wurde als letzte Beweismöglichkeit angesehen.126 Eine zentrale Veränderung bestand in der Wirkung der Eidesleistung. Der Prozess wurde nun nicht mehr formal durch den Eid beendet und das Urteil nicht durch den Eid ersetzt. Allerdings galt das Eidesthema wohl formal als bewiesen, so dass der Eid gleichsam den Inhalt des Urteils selbst bestimmte.127
Vgl. zu diesen Fällen Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 606, beispielsweise mit dem Fall einer durch Urkunde bewiesenen Schuld, bei dem zwecks Führung eines Gegenbeweises eine Mindestzahl von fünf Zeugen erforderlich war. 120 Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605. 121 So insbesondere zur Ehrlichkeit der Gesellschaft Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605. 122 Vgl. Wenger, Institutionen, S. 285. 123 So auch Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 607 unter Verweis auf S. 369. 124 Vgl. zu Bedeutung und Ablauf insgesamt Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 599 f. 125 Zu dieser Unterteilung Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 590 f. 126 So Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 351 zur Bedeutung des Eides und S. 323 ff.; ähnlich Wenger, Institutionen, S. 287 f. 127 Zum Verfahren der Eidesleistung und seiner Wirkung vgl. Wenger, Institutionen, S. 286 ff.; ausführlich mit Verweis auf die Primärquellen auch Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 315 ff. und insbesondere S. 343 f. 119
26 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
II. Der Zivilprozess im germanischen Recht von der Frühzeit bis zum Mittelalter Eine Darstellung des germanischen Rechts sieht sich insbesondere für die Frühzeit mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. So ist für die Frühzeit bis hin zur Völkerwanderung äußerst fraglich, ob zwischen den einzelnen Stämmen überhaupt ein solches Maß an Homogenität und innerer Bindung bestand, dass von „den Germanen“ gesprochen werden könnte.128 Allerdings soll es an dieser Stelle der Einfachheit halber genügen, „Germanen“ im geographischen und sprachlichen Sinne zu verstehen als Bewohner Mitteleuropas und Skandinaviens mit einer gemeinsamen indogermanischen Sprachgruppe.129 Ein weiteres Problem ist in den Zeitabschnitten zu sehen, in denen dem germanischen Recht pikanterweise besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde: Zunächst im 19. Jahrhundert unter Gleichsetzung der Begriffe „germanisch“ und „deutsch“ und sodann in der Zeit des Nationalsozialismus.130 Daher müssen Forschungen aus dieser Zeit – soweit überhaupt verwendbar – einem besonders kritischen Blick unterzogen werden. Gerade diesen Problempunkt gilt es bei der Darstellung des germanischen Prozessrechts zu beachten und stets im Hinterkopf zu behalten. Schließlich wird eine Darstellung dadurch erschwert, dass schriftliche Primärquellen und Überlieferungen erst mit den Rechtssammlungen der Germanenreiche (insbesondere in früherer Zeit als leges barbarorum definiert) in der Zeit der Völkerwanderung ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. aufkamen. Für die Frühzeit der Germanen fehlt es an solchen Quellen. Vielmehr wird allein auf archäologische Quellen, schriftliche Zeugnisse römischer Gelehrter und Rückschlüsse vom späteren auf das frühere Recht zurückgegriffen.131 Allerdings ist gerade dieser Rückschluss von den leges auf das ursprüngliche germanische Recht insoweit fraglich geworden, als ein Einfluss des römischen Rechts auf diese leges nachgewiesen wurde.132 Aufgrund dieser schwierigen Quellenlage für die Frühzeit soll der Zeitabschnitt bis einschließlich der leges im Folgenden einheitlich abgehandelt werden. 128 Vgl. zu diesem Problem beispielsweise Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 102 f.: eingehend zu dieser Frage Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 27 f. und Kroeschell, Studien, S. 81 ff. 129 In diesem Sinne zusammenfassend auch Hähnchen, Rechtsgeschichte; diese Problematik nur kurz erwähnend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 41 mwN. 130 Auf diese Problematik weist insbesondere Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 105 hin. 131 Vgl. zu diesem Problem Kroeschell, Studien, S. 68 ff.; ähnlich Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 105 ff. jeweils unter Verweis auf die Beschreibung der Germanen durch Tacitus und die Probleme der Deutung dieser Quelle aufgrund der politischen Hintergründe von Tacitus Schrift; Eine Rekonstruktion älteren Rechts aus jüngeren Quellen hat beispielsweise v. Amira, Grundriss, versucht, insb. S. 6 ff. zu seiner Methode. 132 So in neuerer Zeit beispielsweise Kroeschell, Rechtsgeschichte I, S. 50 ff. unter Verweis auf die Forschung von Ernst Levy, Weströmisches Vulgarrecht; ähnlich Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 19 ff. und Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 108 ff.
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Zum einen wird man zumindest einige, vorsichtige Rückschlüsse aus den leges ziehen könne, zum anderen lassen sich so zumindest für die spätere Zeit gesichertere Erkenntnisse festhalten.
1. Der Zivilprozess im germanischen Recht von der Frühzeit bis zu den leges a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze Die Gerichtsbarkeit in der Frühzeit der Germanen wurde durch eine Gerichtsversammlung aller wehrfähigen Männer eines Stammes ausgeübt, das sog. Ding.133 Diese Versammlung fand grundsätzlich an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten statt (sog. echtes Ding).134 Zudem wurde die Verhandlung an einem ganz bestimmten Ort – der Dingstätte – abgehalten, die in dieser Frühzeit wohl stets im Freien lag. Es handelte sich in aller Regel um einen besonders herausgehobenen Ort – etwa einen Hügel, ein Menhir oder eine ringförmige Baumgruppe – der für den Stamm oft auch eine Kultstätte darstellte und zudem vor dem Abhalten des Gerichts durch einen Geistlichen besonders geweiht wurde.135 Den Vorsitz des Gerichtes hatte der Richter inne, bei dem es sich um einen Fürsten bzw. Häuptling des Stammes gehandelt haben wird.136 Allerdings wurde der Streit bei diesem Gerichtsverfahren primär zwischen den Parteien selbst geführt und durch die Gemeinschaft lediglich in geregelte Bahnen gelenkt. Aus dieser Fixierung auf die Parteien lässt sich schließen, dass dem Richter allenfalls eine formelle Verhandlungsleitung zukam.137 Dieser Charakter des Prozesses als ein „Kampf der Parteien“138 führte zum Erfordernis der Anwesenheit beider Parteien, blieb der Beklagte dem Prozess fern, so konnte derselbe nicht beginnen.139 Der Beklagte musste im Vorhinein privat durch 133 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 251 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44 f.; vgl. auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 209 mwN; zur Entwicklung des Wortes „Ding“, siehe Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 75 f. 134 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 251 ff.; ebenso Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44 f. jeweils unter Verweis auf die Möglichkeit ein solches Ding auch außerhalb dieser Zeiten einzuberufen, sog. gebotenes Ding. 135 Vgl. zu diesen Gerichtsorten eingehend Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 63 ff.; vgl. auch v. Amira, Grundriss, S. 252 f. unter Darstellung der seinerzeitigen Terminologie für diesen Gerichtsort. 136 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45; ausführlich Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 65 f.; zur terminologischen Unterscheidung zwischen Fürst und Häuptling anhand der Übersetzung der Quelle von Tacitus, vgl. Gmür/Roth, Grundriss der Rechtsgeschichte, S. 14 ff. 137 Vgl. schon v. Amira, Grundriss, S. 264 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45. 138 In diesem Sinne bereits v. Amira, Grundriss, S. 264; ebenso Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45. 139 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44.
28 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts den Kläger geladen werden und vor dem Ding erscheinen.140 Sobald beide Parteien anwesend waren mussten sie sich zunächst dem Gericht durch ein sog. Streitgedinge unterwerfen.141 Problematisch erscheint, inwieweit der Beklagte in der Frühzeit verpflichtet war, dieser Ladung Folge zu leisten, mithin eine Dingpflicht bestand.142 Teilweise wird aus den späteren, expliziten Regelungen in den leges geschlossen, dass eine Dingpflicht nur sehr eingeschränkt bestanden haben kann.143 Oftmals wird jedoch bereits für die Frühzeit angenommen, dass der unentschuldigt nicht erschienene Beklagte als Rechtsfolge seines Fehlens der Friedlosigkeit anheimfiel.144 In Anbetracht des Umstandes, dass der gesamte Stamm sich zum Zwecke des Gerichtsverfahrens versammelt hatte, erscheint ein solcher Ausschluss desjenigen, der durch sein Nichterscheinen diese Versammlung missachtete, die naheliegendere Sanktion gewesen zu sein. Der eigentliche Prozess begann mit der Klageerhebung in feierlicher Form durch den Kläger vor dem Richter.145 Der Beklagte konnte die Klage entweder anerkennen oder bestreiten. Im Falle des Anerkenntnisses wurde der Beklagte der Klage gemäß verurteilt.146 Bestritt der Beklagte die Klage, so erging ein sog. zweizüngiges Urteil: Es wurde festgelegt, welche Tatsachen des Beweises bedurften und es wurde die jeweilige Rechtsfolge für den Fall des Gelingens bzw. Scheiterns dieses Beweises ausgesprochen.147 Diese Urteilsfindung und die Urteilsverkündung unterlagen im germanischen Prozess wohl einer Zweiteilung.148 Der Richter wurde beraten durch sog. Urteilsfinder, denen die Aufgabe oblag, einen Urteilsvorschlag herauszuarbeiten, ohne jedoch die Autorität zu haben, diesem Vorschlag auch zur Wirksamkeit zu verhelfen.149 Dieser Urteilvorschlag bedurfte vielmehr der Billigung durch die geVgl. zur privaten Ladung v. Amira, Grundriss, S. 264 f. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44 unter Hinweis auf die Ähnlichkeit dieses Unterwerfungsaktes zur litis contestatio im klassischen römischen Prozess. 142 Ausführlich zu dieser Fragestellung Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 61 ff. 143 In diesem Sinne Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 61 ff., allerdings auch unter Nennung einer Textstelle der Lex Salica (c. 1, 1), die eine ebensolche Dingpflicht vorgesehen hat. 144 So Mitteis/Liebreich, Rechtsgeschichte, S. 44; Ebenso Gmür/Roth, Rechtsgeschichte, S. 32; ebenso schon v. Amira, S. 264 f. und S. 237 ff. mit der Beschreibung der Friedlosigkeit als Ausschluss aus dem Stamm und damit dem Verlust jeglichen Schutzes. 145 Vgl. Mitteis/Liebreich, Rechtsgeschichte, S. 45; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 209 f. mwN. 146 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 210 mwN. 147 Zu diesem Urteilsspruch siehe beispielsweise Kroeschell, Rechtsgeschichte, S. 40; Schrö der/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f. vgl. auch Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 481 f. der davon ausgeht, dass diese Urteile in nördlicheren Teilgebieten nicht vorkamen. 148 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45; ähnlich schon v. Amira, Grundriss, S. 255 f.; zurückhaltender mit Blick auf die schwache Quellenlage Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 203 ff. 149 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45; zu einzelnen Stämmen vgl. Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 203 ff. 140
141 Vgl.
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samte anwesende Gemeinschaft. Im Falle dieser Billigung wurde das Urteil durch den Richter verkündet und erlangte aufgrund der Verkündung durch die richterliche Autorität seine Wirksamkeit.150 Der germanische Prozess in der Frühzeit wurde in sehr weitem Umfang von den Parteien getragen, es galten nach unserem heutigen Verständnis eine strenge Dispositionsmaxime und der Parteibetrieb.151 Zudem lässt sich aus dieser Ausrichtung auf die Parteien schließen, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs gegenüber der jeweils anderen Partei zwingender Bestandteil des Prozesses gewesen sein wird.152 Die Öffentlichkeit des Prozesses wurde durch das Tagen an einem Ort und das Anwesenheits- und Zustimmungserfordernis des Urteilsvorschlages gleichfalls in sehr weitem Umfang gewährleistet.153 Prägendstes Merkmal dieses germanischen Prozesses in der Frühzeit war jedoch sein überaus strenger Formalismus.154 Kläger wie Beklagter mussten ihre Klageerhebung und -erwiderung Wort für Wort aufsagen, wobei bereits ein Versprecher oder Stotterer zum Prozessverlust führte.155 Hieraus lässt sich zugleich ein strenger Mündlichkeitsgrundsatz ableiten.156 Dieser Formalismus ist typisch für eine frühe Rechtskultur und zeigt die starke Verbindung eines solchen Prozesses, wie auch des Rechts insgesamt, mit sakralen Elementen.157 Allein die höheren Mächte konnten nach dieser Vorstellung Recht erzeugen und deren Anrufung hing von der Einhaltung der bestimmten, kultischen Form ab, so dass allein der formal richtige Vollzug einer Handlung Rechtswirkungen zeitigte.158 b) Beweisrecht Dieser Formalismus hat den gesamten Prozess in der Frühzeit durchzogen und sich daher auch im Beweisrecht niedergeschlagen. 150 Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45; Jeder anwesende Teilnehmer des Dings hatte wohl die Möglichkeit den Urteilsvorschlag zu „schelten“, sich also gegen diesen Vorschlag auszusprechen, was zugleich den Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung beinhaltete. In der Folge musste der Scheltende selbst einen Vorschlag unterbreiten, der wiederum der Zustimmung aller Anwesenden bedurfte, vgl. zur Urteilsschelte v. Amira, Grundriss, S. 255 f.; in neuerer Zeit Mitteis/ Liebreich, Rechtsgeschichte, S. 46. 151 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 264 f.; Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 252. 152 In diese Richtung auch Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 44 f.; v. Amira, Grundriss, S. 264 f. 153 Vgl. Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 252; v. Amira, Grundriss, S. 266 f. 154 So auch Mitteis/Liederich, Rechtsgeschichte, S. 45; v. Amira, Grundriss, S. 266 f.; Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 252 f.; ausführlich Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 71 ff. 155 So Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 72; ähnlich schon Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 90 f. und Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 45, die jeweils von einer sog. Prozessgefahr (vare) bei prozessualen Handlungen gesprochen haben. 156 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 266 f. 157 Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 71. 158 Ähnlich wiederum Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 71.
30 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts aa) Grundlagen und Ziel des Beweises Allgemein wurde auch das Beweisrecht von den Parteien beherrschten. Sie hatten selbst Beweis anzutreten und zu erbringen.159 Aufgrund des Erlasses zweizüngiger Urteile war es sogar möglich, das anschließende Beweisverfahren außerhalb des Gerichtsprozesses stattfinden zu lassen.160 Zum näheren Verständnis des Beweisrechts dieser Zeit muss man sich vor Augen führen, dass eine Anklage nicht allein den Streit „in der Sache“ beinhaltete, sondern stets zugleich ein Unwerturteil über eine Person darstellte.161 Dieser prozessuale Streit auf einer persönlichen Ebene macht die Besonderheiten des germanischen Beweisrechts zumindest verständlicher. Ein Beweis hatte – anders als im heutigen Prozess – nicht die Wahrheitsfindung iSd Aufklärung des wahren Sachverhaltes zum Ziel. Vielmehr ging es um den Nachweis bzw. die Wiederherstellung und Reinigung der Ehre des Beklagten durch Beweis.162 Aufgrund dieser Zielsetzung war das Beweisrecht rein formal ausgestaltet.163 Sobald die beweisbelastete Partei die bestimmte Form des Beweismittels einhielt, galt der Beweis als erbracht.164 Durch den Beweis wurde nicht lediglich die Tatsachenbasis für die spätere Rechtsfindung ermittelt. Vielmehr wurde durch den formgerechten Beweis seinerseits die Wahrheit im konkreten Fall (neu) erschaffen.165 Die Möglichkeit eines Gegenbeweises war aufgrund dieser „Erschaffung“ der Wahrheit durch Beweis wie auch durch die Zielsetzung dieses formalen Beweisrechts gerade ausgeschlossen.166 bb) Beweismittel und Beweiswürdigung Die Beweismittel im germanischen Prozess der Frühzeit orientierten sich am Ziel des Beweises. Die Beweismittel hatten daher nach heutigem Verständnis größtenteils irrationalen Charakter, da sie gerade nicht auf die Wahrheitsfindung ausgelegt
159 Vgl. bereits Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; v. Amira, Grundriss, S. 269; Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256 f. 160 Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 210 mwN; vgl. auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 41 f., der aufgrund des außergerichtlichen Charakters nur einschränkend von einer Beweisaufnahme im heutigen Sinne spricht. 161 Ausführlich zu diesem Punkt v. Bethmann-Hollweg, germanischer Zivilprozess I, S. 24 ff. 162 Vgl. schon v. Amira, Grundriss, S. 269; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; ebenso in neuerer Zeit Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 46 f. 163 Vgl. Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256 f.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; v. Amira, Grundriss, S. 269 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 46 f. 164 Vgl. Brunner, Schwurgerichte, S. 48 ff.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 210 mwN. 165 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 71 f. zum Verhältnis von Form und Recht in frühen Rechtskulturen. 166 V. Amira, Grundriss, S. 269; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 211 mwN.
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waren.167 Primäres Beweismittel in diesem Prozess war der Eid.168 Es handelte sich um eine bedingte Selbstverfluchung für den Fall, dass die eigene Aussage nicht der Wahrheit entsprach. Er wurde in der Regel durch ein formelhaftes, exakt festgelegtes Reden geleistet.169 Zudem war eine Eidesfähigkeit erforderlich, die bei bestimmten Personengruppen170 fehlen konnte, ebenso wie bei Personen, die eines vorherigen Meineides überführt waren.171 Oftmals genügte diese Eidesleistung alleine jedoch nicht den formalen Beweisanforderungen. Vielmehr war als weiteres Korrektiv die Bekräftigung des Eides durch sog. Eidhelfer erforderlich, deren Zahl je nach Bedeutung der Rechtssache variierte.172 Die Eidhelfer leisteten ihren Schwur nicht über das eigentliche Beweisthema. Sie hatten allein die Aufgabe, die Ehre und damit den Wert des Eides des „Hauptschwörenden“ zu bekräftigen, indem sie beschworen, dass sein Eid „rein und nicht mein“ sei.173 Teilweise wird als weiteres Korrektiv vertreten, dass ein solcher Eid ausgeschlossen war, wenn sich das Gericht entweder durch Augenschein von der Unwahrheit der zu beeidenden Behauptung überzeugen konnte oder das Gericht in der Vergangenheit bereits nachweislich anders entschieden hatte.174 Sobald dieser Eid unter Einhaltung der genannten Anforderungen geleistet wurde, galt der Beweis formal als erbracht, ohne die Möglichkeit eines Gegenbeweises.175 Der Beweisgegner hatte in diesem Fall lediglich die Möglichkeit, den Eid zu „schelten“. Eine solche Eidesschelte bedeutete den Vorwurf größter Ehrlosigkeit und führte in der Regel zu einer Entscheidung durch einen Zweikampf der Parteien, auch in Ermangelung anderer Beweismittel.176 Alternativ wird teilweise
167 Vgl. Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256 f.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 211 mwN. 168 V. Amira, Grundriss, S. 269 ff.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47; siehe auch Stür ner, FS-Söllner, S. 1171, 1175 ff. jeweils mwN. 169 So z. B. Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 257 ff.; vgl. zur terminologischen Herkunft des „Schwörens“ auch v. Amira, Grundriss, S. 269 ff. und Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 19 ff. 170 Eidesunfähig waren wohl Minderjährige, Frauen und Unfreie, vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47; Musielak, Grundlagen der Beweislast, mwN. 171 Vgl. Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 527 f.; eine gleichlautende Regelung hat sich bis in die heutige Zeit in § 452 IV ZPO erhalten. 172 Vgl. bereits Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 93; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47. 173 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 270 ff.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 93; Mitteis/ Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47. 174 Diese Durchbrechung des formalen Beweisrechts in den Fällen von evidenter Unwahrheit bzw. Präjudizialität vertritt v. Bethmann-Hollweg, germanischer Zivilprozess I, S. 33 f.; ähnlich v. Amira, Grundriss, S. 274. 175 Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256 ff.; zur rechtsgestaltenden Wirkung des Eides auch Hat tenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 68 f. 176 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 213; differenzierend Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 263 ff.
32 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts auch ein Gottesurteil als subsidiäre Möglichkeit des Streitentscheides in Betracht gekommen sein.177 Als weiteres Beweismittel kam der Beweis durch Zeugen in Betracht.178 Der Zeugenbeweis ist nach heutigem Verständnis ein rationales Beweismittel, zielt er doch auf die Aussage des Zeugen über seine eigenen Erlebnisse und Wahrnehmungen ab.179 Allerdings wurde dieser rationale Charakter im germanischen Prozess durch verschiedene Einschränkungen und Besonderheiten stark in Zweifel gezogen. So kamen als Zeugen ausschließlich Personen in Betracht, die entweder bei einem Geschäft zu eben diesem Zwecke hinzugezogen worden (sog. erwählte Zeugen)180 oder Personen aus dem näheren Umfeld des Beweispflichtigen waren, insbesondere Nachbarn oder Verwandten.181 Zufallszeugen iSv Personen, die in keiner Beziehung zum Beweispflichtigen standen, sondern lediglich zufällig relevante Eindrücke über das Beweisthema erlangt hatten, waren hiernach gerade ausgeschlossen.182 Eine weitere Einschränkung galt für die eigentliche Aussage: Zeugen beschworen unter Eid die Aussage des Beweispflichtigen Wort für Wort. Eine eigene Darstellung des Sachverhaltes war hiernach ausgeschlossen und die Frage, wie der Zeuge sein Wissen erlangt hat, irrelevant.183 Mithin unterschied sich der Zeuge vom Eidhelfer allein dahingehend, dass er formal die Aussage des Beweispflichtigen und nicht dessen Ehre beschwor.184 Eine Zeugenaussage war gegenüber dem Eid vorrangig und erbrachte formal den Beweis für die fragliche Tatsache.185 Die Aussage konnte wie der Parteieid mit der Folge eines gerichtlichen Zweikampfes gescholten werden.186
177 Insoweit ist streitig, ob es sich bei einem Zweikampf nicht bereits um ein Gottesurteil gehandelt haben kann, vgl. Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 17 ff. unter Verweis auf die „Edda“, in der die Vorstellung eines göttlich gelenkten Zweikampfes zum Ausdruck kommt; vgl. auch Brun ner, Rechtsgeschichte I, S. 263 ff. mwN. 178 Vgl. v. Amira, Grundriss, S. 273 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 48; ähnlich auch Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1176 f.; für die Frühzeit an der Zulässigkeit des Zeugenbeweises zweifelnd demgegenüber Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 214. 179 Vgl. etwa MüKo-Damrau, ZPO II, § 373 Rn. 2 f.; Stein/Jonas-Berger, ZPO V, Vor § 373, Rn. 11 f. 180 Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 256; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 213 ff. mwN. 181 Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 213. 182 Vgl. bereits Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; zu den Gründen dieses Ausschlusses ausführlich Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 278 ff. und Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 214 f. 183 Siehe v. Amira, Grundriss, S. 273 f.; Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 5 f. 184 Ausführlich zu dieser Unterscheidung Ruth, Zeugen und Eidhelfer, S. 1 ff. 185 So bereits Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 214 jeweils mwN. 186 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 48; Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 558 f.
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Die weiteren Beweismittel im germanischen Prozess waren der gerichtliche Zweikampf und das Gottesurteil.187 Ein gerichtlicher Zweikampf ermöglichte es, eine Entscheidung herbeizuführen, wenn die sehr begrenzt zugelassenen, formalen Beweismittel eine solche Entscheidung nicht ermöglichten. Wenn also keine Zeugen vorhanden waren bzw. diese Aussage oder ein Eid gescholten wurde, so verblieben als Entscheidungsmöglichkeiten lediglich das Gottesurteil oder der Zweikampf.188 Aufgrund der vorangegangenen Eidesschelte als Infragestellung der Ehre des Schwörenden erscheint der Zweikampf als die naheliegende Konsequenz.189 Ein solcher Zweikampf war zudem nur unter gesellschaftlich Gleichgestellten möglich und erbrachte eine unmittelbare Entscheidung.190 Der Zweikampf hatte sicherlich zumindest in seiner Frühzeit ein religiöses Element dahingehend, dass die Götter denjenigen unterstützen würden, der für eine gerechte Sache eintrat. Letztlich handelte es sich jedoch schlicht um eine Form der Selbsthilfe, die durch die anwesende Gemeinschaft gewissen Regelungen unterworfen und auf die kämpfenden Personen reduziert wurde.191 Gottesurteile kamen bereits seit der Frühzeit im germanischen Prozess vor und hatten die Bedeutung einer subsidiären Form der Entscheidung, wenn keine andere Entscheidungsmöglichkeit verblieb.192 Denkbar wäre ein solches Gottesurteil etwa, wenn es an Zeugen fehlte, ein Eid in Ermangelung der Eidesfähigkeit oder genügender Eidhelfer nicht in Betracht kam und auch ein Zweikampf an der fehlenden Gleichwertigkeit der gesellschaftlichen Stellung scheiterte.193 Gottesurteile kamen in zahlreichen Formen vor. So gab es den verbreitet den Kesselfang, das Tragen glühender Eisen oder auch die Wasserprobe.194 Es wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass derartige Gottesurteile oftmals denjenigen Begünstigten, der ruhig und konzentriert an diese Probe herangehen konnte. Daraus ließe sich auf eine primitive Form gesetzlicher Beweisregeln anhand von einfachsten typisierten Wahr187 Siehe Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 93 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47 f. 188 Vgl. Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 48; Walter, freie Beweiswürdigung, S. 44 mwN. 189 Vgl. zur Bedeutung der Eidesschelte Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 29 f. 190 In diesem Sinne Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 94 f. und Walter, freie Beweiswürdigung, S. 44. 191 So auch Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 48; ähnlich schon Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, der davon ausgeht, dass sich der gerichtliche Zweikampf aus dem stellvertretenden Zweikampf von Kriegern verschiedener Heeren zur Entscheidung einer Schlacht entwickelt hat. 192 Siehe Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 47; Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 21; zum Verhältnis von Gottesurteil zu gerichtlichem Zweikampf siehe Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 213 mwN. 193 Vgl. Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 21; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 215 f. 194 Ausführlich zu dieser Thematik und mit weiteren Beispielen Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 15 ff. und 213 ff.
34 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts scheinlichkeitsrechnungen denken.195 Indes entschied bei den allermeisten Gottesurteilen wohl schlicht der Zufall über ihren Ausgang. So lassen sich Verbrennungen durch glühende Eisen oder kochendes Wasser auch bei noch so hohem Konzentrationsaufwand nicht vermeiden. Daher sind die Gottesurteile zwar durch die transzendental-religiösen Vorstellungen archaischer Gesellschaften erklärlich196, für diese Untersuchung soll es indes bei dieser kurzen Darstellung verbleiben. Eine Beweiswürdigung durch das Gericht war in diesem Prozess nicht existent und – aufgrund der formalen Natur des Beweisrechts – insoweit auch nicht erforderlich.197 Die Parteien erbrachten einander den Beweis und gerade nicht gegenüber dem Gericht.198 Außerdem erbrachte allein die Einhaltung der vorgeschriebenen Form den Beweis, ohne die Möglichkeit der Führung eines Gegenbeweises, so dass es schlicht nichts gab, was einer gerichtlichen Würdigung bedurft hätte.199 cc) Beweisführung Eine weitere Besonderheit des germanischen Prozesses war die Berechtigung zur Beweisführung. Nach heutigem Verständnis muss jede Partei grundsätzlich den Beweis der für sie günstigen Tatsachen führen, mithin muss der Kläger regelmäßig im ersten Schritt die anspruchsbegründenden Tatsachen beweisen.200 Im germanischen Recht oblag die Beweisführung indes regelmäßig dem Beklagten.201 Diese Regelung ist im Zusammenhang mit dem Verständnis einer Klage als persönlichem Angriff auf die Ehre des Beklagten zu sehen. Hiernach war es ein Zugeständnis an den Beklagten, sich dieses Vorwurfes unmittelbar erwehren zu dürfen, ohne auf das Gelingen der Begründung dieser Klage warten zu müssen.202 Zudem war das Recht zur Beweisführung insoweit günstig für den Beklagten, als ein Gegenbeweis in diesem frühzeitlichen Prozess aufgrund des formalen Beweisrechts nicht zugelassen wur-
195 In diese Richtung Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 217, der darauf hinweist, dass die Gottesurteile derart ausgestaltet gewesen seien, dass der ruhige, von seiner gerechten Sache Überzeugte eher obsiegen konnte; ähnlich auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 69 ff. 196 Ausführlicher dazu Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 68 ff. 197 So auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 42. 198 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 42 199 Siehe wiederum Walter, freie Beweiswürdigung, S. 42. 200 Vgl. zu diesem Grundsatz etwa MüKo-Prütting, ZPO I, § 286, Rn. 110 ff. und Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZPR, § 115, Rn. 9 ff. jeweils mwN. 201 Vgl. bereits Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 92 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 46; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 217 ff. mwN und den Ausnahmen des Zeugenbeweises durch den Kläger sowie das sog. Handhaftverfahren. 202 In diese Richtung v. Bethmann-Hollweg, germanischer Zivilprozess I, S. 28 f. unter Verweis auf die Lex Salica und das Edictus Rothari; ähnlich v. Amira, Grundriss, S. 273, der sogar von einer Pflicht zum Vorgehen gegen den Vorwurf einer Klage spricht.
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de.203 Daher lässt sich erahnen, dass die Germanen in diesem Prozess ihre ganz eigene Interpretation eines „Rechts auf Beweis“ dahingehend verfolgten, dass einer bestimmten Partei einseitig das Recht zur Beweisführung zugestanden wurden.204
2. Der Zivilprozess im Frankenreich des frühen Mittelalters Der Zivilprozess richtete sich auch im Frankenreich lange Zeit nach den leges.205 Gewisse Veränderungen ergaben sich aus der Christianisierung der Franken durch die Taufe König Chlodwigs I um das Jahr 500 n. Chr.206 Allerdings betrafen diese Veränderungen in erster Linie die Anpassung der Eidesformel und der Gottesurteile an die christliche Religion.207 Erst unter Karl dem Großen fand im Zeitraum zwischen 770 und 780 n. Chr. eine Reform des Gerichtswesens statt, die einige grundlegende prozessuale Veränderungen mit sich brachte.208 a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze Die amtliche Ladung durch den Richter (bannitio) wurde gegenüber der Privatladung durch den Kläger (mannitio) zum Regelfall.209 Außerdem erfuhr das Gerichtswesen eine gewisse Abkehr von der Streitentscheidung durch den gesamten Stamm hin zu einer Spezialisierung der Rechtsfindung und Reduzierung der Zahl der Urteilenden. So wurde die Dingpflicht aller Mitglieder eines Stammes auf das echte Ding und damit einige wenige Termine im Jahr beschränkt.210 Zugleich wurden die bisherigen Urteilsfinder (Rachinburgen) durch sog. scabini ersetzt, die als ständige Ur203 Für einen Vorzug der Rolle des Beweisführenden ist etwa v. Bethmann-Hollweg, germanische Rechtsgeschichte I, S. 28 f.; Beyerle, Entwicklungsproblem, S. 416 f.; gegen diese Ansicht spricht sich Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 35 ff. aus; ausführliche Nachweise zu dieser Diskussion finden sich bei Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 218 ff. 204 In diesem Zusammenhang spricht v. Bethmann-Hollweg, germanischer Zivilprozess I auf S. 36 von einem „Recht zum Beweis“. 205 Älteste und wohl primäre fränkische Rechtsquelle war die Lex Salica, allerdings gab es zahlreiche weitere leges der einzelnen Stämme im fränkischen Reich, so beispielsweise die Lex Ribuaria, die Lex Bajuvariorum, die Lex Alamannorum, die Lex Saxonum und die Lex Francorum Chamavorum, vgl. insgesamt Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 131 ff. 206 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 121; ausführlich zur Geschichte der Taufe König Chlodwigs I Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 159 ff. 207 Vgl. etwa Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 101 f.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 146 f.; ausführlich bereits Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 439 f. 208 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 141 ff.; Planitz-Eckhard, deutsche Rechtsgeschichte, S. 104, jeweils auch zum Umfang der Umsetzung dieser Reform bei den einzelnen Stämmen im fränkischen Reich. 209 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 146 und Schröder/ v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 390 f. mwN. 210 Vgl. bereits Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 296 ff.; Planitz-Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 104.
36 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts teilsfinder fungierten und daher auf Lebenszeit ernannt waren, so dass eine gewisse Professionalisierung der Urteilsfindung eingetreten ist.211 Das gebotene Ding fand wohl mindestens alle 14 Tage statt. Allerdings waren zur Teilnahme lediglich der Graf als Gerichtsherr und Leiter des Prozesses sowie die scabini als Urteilsfinder verpflichtet.212 Dieses gebotene Ding war allein für kleinere, alltägliche Streitigkeiten zuständig, während die Beurteilung bedeutender Straf- und Zivilsachen der gesamten Gemeinschaft in einem echten Ding oblag.213 Mithin führte das Erstarken der königlichen Zentralgewalt in fränkischer Zeit auch im Gerichtswesen zu einem verstärkten Einfluss, der sich in der Dingpflicht, der amtlichen Ladung sowie der stärkeren Stellung des Gerichts insgesamt zeigte.214 Insoweit lief die Entwicklung bei Erstarken der staatlichen Gewalt parallel zum römischen Recht von einer privaten Streitentscheidung der Parteien hin zu einem staatlich beherrschten Zivilprozess. b) Beweisrecht Im Beweisrecht wurde die formale Erbringung des Beweises grundsätzlich ebenso beibehalten wie die Formstrenge.215 Allerdings machte sich auch in diesem Teilbereich des Prozesses der stärkere staatliche Einfluss bemerkbar. So wurden Zeugen und Eidhelfer nun durch den Richter zum Prozess geladen.216 Zudem erfuhren die Beweismittel einige Veränderungen, die gewisse Einschränkungen des formalen Beweises hin zur Erforschung des tatsächlichen Sachverhaltes erkennen ließen.217 So war es nicht länger alleinige Sache des beweisbelasteten Schwörenden, die Eidhelfer für das Gelingen seines Eides auszuwählen. Vielmehr wurde dem Beweisgegner ein Einfluss auf die Auswahl der Eidhelfer eingeräumt, der bis zum Recht der hälftigen Auswahl der Eidhelfer reichte.218 Hinzu kam, dass die Eidhelfer nun wohl nicht mehr gleichzeitig „mit einem Munde“, sondern vielmehr einzeln nach211 Aus diesem Begriff der scabini entwickelten sich die heute noch bekannten Schöffen, vgl. zu Terminologie, Berufung und Aufgabe der scabini, Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 141 f.; in Kürze auch Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 111 f. 212 Siehe Planitz-Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 104; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 141 f. 213 So etwa Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 142. 214 Vgl. Planitz-Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 111 und Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 146 f. 215 Vgl. etwa Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 101 f.; Gmür/Roth, Grundriss der Rechtsgeschichte, S. 34 f.; ausführlich zu den Beweismitteln Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 498 ff. 216 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 390 f.; Planitz-Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 111 f. 217 So insbesondere Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 111 f.; ähnlich Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 223. 218 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 391 f.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 101 f.; ausführlich zu den einzelnen leges Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 512 ff., insb. S. 519 f.
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einander den unterstützenden Eid leisten mussten.219 Außerdem wurde das Beweisrecht durch die Christianisierung der Franken verschiedentlich angepasst, so dass die Eide nun auf die Evangelien, den Altar oder ein geweihtes Kreuz zu leisten waren.220 Im Bereich des Zeugenbeweises gab es nun die Möglichkeit einer Befragung über der Glaubwürdigkeit des Zeugen im Vorfeld des Zeugeneides.221 Allerdings erfuhr der Zeugenbeweis zugleich weitere Einschränkungen. So wurde die formale Erbringung des Zeugenbeweises von der Aussage zweier bzw. dreier Zeugen abhängig gemacht, die zudem ein gewisses Vermögen ihr Eigen nennen mussten.222 Diese Regelungen sollten wohl typisierend darauf abzielen, besonders zuverlässige, respektable Zeugen zu erhalten und damit die materielle Wahrheitserforschung steigern. Allerdings handelt es sich um sehr weitreichende Einschränkungen des Zeugenbeweises, zumal Zufallszeugen weiterhin kein taugliches Beweismittel waren.223 Die bedeutendste Neuerung im Beweisrecht war das Wiederaufkommen des Urkundenbeweises in fränkischer Zeit durch das Erstarken der Kirche und die Neugründung von Klöstern.224 Zu unterscheiden waren zwei verschiedene Arten von Urkunden: echte Königsurkunden erbrachten den vollen Beweis für die Richtigkeit ihres Inhaltes und ihre Schelte wurde mit dem Tode bestraft.225 Zulässig war allein der Einwand der Fälschung dieser Urkunde.226 Bei sich widersprechenden Königsurkunden wurde teilweise der älteren Urkunde der Vorzug gegeben, teils wurde der Streitgegenstand geteilt.227 Privaturkunden erbrachten demgegenüber nur vollen Beweis, wenn der Beweisgegner die Urkunde als echt anerkannte.228 Bei Bestreiten der Echtheit musste die Urkunde mithilfe von Eiden und Zeugen bekräftigt wer219 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 391; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 148. 220 Vgl. etwa Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 101 f.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 147 f. 221 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 391; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 112. 222 Vgl. zu diesen Anforderungen an die Zeugnisfähigkeit und die Zeugenzahl Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 528 ff.; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 112. 223 Ausführlich Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 532 f. insbesondere unter Darstellung der Frage, ob die Lex Salica Zufallszeugen zugelassen hat; bejahend wohl Schröder/v. Künß berg, Rechtsgeschichte, S. 391; ablehnend etwa Nagel, Grundzüge, S. 151; vgl. auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 223 mwN. 224 So Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 391 f.; ähnlich Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 96 f. 225 Ausführlich Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 560 ff.; siehe auch Schröder/ v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 391 f.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 148. 226 Siehe Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 561; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 223 f. 227 Vgl. etwa Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 560 f. 228 Vgl. wiederum Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 561 f. mwN.
38 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts den.229 Eine Schelte der Urkunde führte unmittelbar zu einem gerichtlichen Zweikampf entweder zwischen den Parteien oder dem scheltenden Beweisgegner und dem Urkundenschreiber.230 Als weitere Beweismittel im Zivilprozess dienten auch in fränkischer Zeit der gerichtliche Zweikampf und das Gottesurteil.231 Die Kirche stand dem gerichtlichen Zweikampf sehr kritisch gegenüber, doch selbst nach der Christianisierung der Franken war es ihr nicht möglich, diese Form des Streitentscheides gänzlich aus dem Prozess zu verbannen.232 Die Gottesurteile wurden von der Kirche im frühen Mittelalter in ihren Ritualen an das Christentum angepasst, im Anschluss aber grundsätzlich gebilligt und sogar um weitere Gottesurteile erweitert.233 Eine freie Beweiswürdigung war auch dem Prozess in fränkischer Zeit aufgrund des weiterhin formalen Charakters des Beweisrechtes grundsätzlich unbekannt.234 c) Königsgerichte Eine neue Institution im fränkischen Prozessrecht war das Königsgericht, das zugleich eine besondere Verfahrensart bildete.235 Zuständig war dieses Gericht als erste Instanz für besonders bedeutsame Rechtssachen wie Todesurteile oder das Aussprechen der Acht, in zweiter Instanz bei Rechtsverweigerung oder teils auch bei einer Urteilsschelte.236 Zudem konnte der König kraft seiner Stellung und Autorität jede nicht erledigte Rechtssache der ordentlichen Gerichte an sich ziehen (ius evocandi).237 Die Ladung des Beklagten erfolgte durch königlichen Befehl, wobei vor dem Königsgericht ausnahmsweise auch eine gerichtliche Stellvertretung mög229 Vgl. Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 112; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 96 f., auch zur Unterteilung in verschiedene Arten von Privaturkunden mwN. 230 Vgl. Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 563 ff.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 148. 231 Siehe Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 538 ff.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 102. 232 Vgl. etwa Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 539 ff.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 397 ff.; siehe auch Nottarp, Gottesurteilsstudien, S. 350 ff., der die Gefahr für Leib und Leben als Grund für die kritische Haltung der Kirche gegenüber Zweikämpfen ansieht und insbesondere auf das Verbot von Zweikämpfen auf dem 4. Laterankonzil im Jahre 1215 unter Papst Innozenz III verweist. 233 Ausführlich Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 147 f. 234 Vgl. insbesondere Walter, freie Beweiswürdigung, S. 47, der sich auf eine kurze Beschreibung der verfahrensmäßigen Veränderungen beschränkt und erst im Hoch- und Spätmittelalter Veränderungen sieht. 235 Vgl. etwa Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 149 f.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 415 ff. 236 Ausführlich Kaufmann, Königsgerichte, S. 95 ff. 237 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 186 f.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 146.
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lich war.238 Den Vorsitz dieses Gerichtes hatte der namensgebende König inne.239 Eine der Besonderheiten des Königsgerichtes ergab sich aus der königlichen Autorität: Der König war als oberster Richter nicht an das Volksrecht gebunden, sondern konnte vielmehr nach seinem Ermessen bestimmen, was als „Recht“ anzusehen war und hierbei Aspekte der Billigkeit einfließen lassen.240 Dieses Ermessen ermöglichte außerdem eine freie Gestaltung des Prozessverlaufes und hatte insbesondere Einfluss auf das Beweisrecht: Es bildete sich mit dem Inquisitionsverfahren ein besonderes Beweisverfahren heraus.241 In diesem Beweisverfahren wurde insbesondere der Zeugenbeweis modifiziert und in den Mittelpunkt gestellt: Die Auswahl, Ladung und Vernehmung von Zeugen erfolgte amtswegig durch das Gericht.242 Die Zeugen konnten inhaltlich zum Beweisthema vernommen werden und eine Schelte eben dieser Aussage war vor dem Königsgericht nicht möglich, so dass dieses Inquisitionsverfahren zumindest in die Richtung einer materiellen Wahrheitsfindung tendierte.243 Das Königsgericht ermöglichte es durch seine große Ermessensfreiheit, eine flexiblere Alternative zum starren, ordentlichen Prozess zu bieten, so dass die weitere Entwicklung des ordentlichen Prozesses durch eben diese „Vorbildfunktion“ der Königsgerichte vorangetrieben wurde.244
3. Der Zivilprozess im Hoch- und Spätmittelalter bis zur Rezeption des römischen Rechts Das Gerichtsverfahren folgte bis zur Rezeption des römischen Rechts im Wesentlichen weiter den Regeln aus fränkischer Zeit.245 Der Beginn der Rezeption des römischen Rechts im Gebiet des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation kann kaum auf ein einzelnes Datum festlegt werden. Ein beginnender Einfluss lässt sich 238 So insbesondere Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 688; dieser Ansicht folgend Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 415; kritisch demgegenüber Kaufmann, Königsgerichte, S. 99. 239 Vgl. Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 182. 240 So insbesondere Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 687 ff.; ebenso Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 145 f.; kritisch Kaufmann, Königsgerichte, S. 9 ff., der den Begriff ae quitas mit „Gerechtigkeit“ anstelle von „Billigkeit“ übersetzen möchte, vgl. insb. S. 16 ff. 241 Vgl. Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 698 ff.; Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 111. 242 Siehe Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 149 f.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 415 f. 243 Ähnlich Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 149; Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 689. 244 Vgl. etwa Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 390 f.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 146. 245 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 385 ff.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 844 ff.
40 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts gegen Ende des 13. Jahrhunderts nachweisen.246 Eine bestimmende Rolle nimmt das rezipierte Recht indes erst Ende des 15. Jahrhunderts ein, insbesondere in der Reichskammergerichtsordnung aus dem Jahr 1495 n. Chr.247 a) Ablauf und Verfahrensgrundsätze Die wohl bedeutendste Neuerung im Prozessrecht des Hoch- und Spätmittelalters war die Herausbildung der Unterteilung in einen Zivil- und Strafprozess.248 Der Zivilprozess des Mittelalters kannte drei Klageformen: Um Schuld, um Gut (bewegliches Vermögen) und um Eigen und Erbe (unbewegliches Vermögen und Erbschaftssachen). Allerdings gab es auch weiterhin sog. gemischte Klagen, so dass von einer strengen Trennung der Prozessarten noch nicht gesprochen werden konnte.249 Eine weitere Besonderheit dieser Epoche war die starke Tendenz zur Zersplitterung der Gerichtsbarkeit anhand der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe. So gab es Lehnsgerichte, Dienstmannengerichte, Markgerichte, Berggerichte, kirchliche Gerichte und selbst Universitäten hatten teils ihre eigene Gerichtsbarkeit.250 Die Leitung des Verfahrens oblag dem Richter. Allerdings bestimmten die Parteien weiterhin Gegenstand, Umfang und auch den Fortgang des Verfahrens. Es galten daher nach unserem heutigen Verständnis eine strenge Dispositionsmaxime und der Parteibetrieb.251 Die Parteien stellten Anträge zum Fortgang des Verfahrens, über die der Richter einzeln entscheiden musste, so dass sich das Wechselspiel von Antrag und Zwischenurteil durch das ganze Verfahren zog.252 Die Zweiteilung der entscheidenden Personen in den verfahrensleitenden Richter und die rechtsfindenden Schöffen blieb bis zur Rezeption bestehen.253 Die Urteilsschelte führte nun häufiger
246 So verweisen etwa Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 870 f. auf das Werk Specu lum iudiciale von Durantis aus dem Jahr 1271, als eines der bedeutendsten prozessualen Werke seiner Zeit; ebenso Nagel, Grundzüge, S. 166. 247 Vgl. etwa Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 870 ff.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 289 ff. 248 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 385; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 228; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 845 ff. 249 Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 385; ausführlich zu den Klagearten Schröder/ v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 845 ff. 250 Eine umfängliche Aufzählung findet sich etwa bei Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 374 ff.; ausführlich zu den einzelnen Gerichtsbarkeiten auch Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 592 ff. 251 Vgl. Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 228. 252 Siehe Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 308 f.; ähnlich Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 385. 253 So verweist Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 285 auf das bayrische Landrecht von 1335/46 und die dortige Zusammenführung von Richter und Urteiler für bestimmte Fälle aufgrund des Einflusses des rezipierten Rechts.
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zu einer Entscheidung eines oberen Gerichtes anstelle eines bloßen Zweikampfes der Parteien, so dass sich allmählich ein Rechtsmittelzug herausbildete.254 Der strenge Formalismus der Frühzeit blieb bestehen, indes schwand zusehends die religiöse Fundierung als frühere Legitimationsgrundlage dieses Formalismus, so dass derselbe zunehmend als Schikane wahrgenommen wurde.255 Eine Erleichterung stellte die Person des Vorsprechers dar. Diese Person hat die streng formalen Prozesshandlungen für eine Partei mündlich vorgetragen und die Partei konnte diesen Vortrag bei richtiger Vornahme für sich gelten lassen, bei Fehlern jedoch die Genehmigung verweigern und nochmals vortragen.256 Zudem wurde die Prozessvertretung – ausgehend von den Königsgerichten – auch im ordentlichen Prozess häufiger anerkannt.257 b) Beweisrecht Der starre Formalismus durchzog grundsätzlich auch weiterhin das Beweisrecht. Allerdings begann im Hoch- und Spätmittelalter allmählich eine Wende hin zu einem Beweisrecht, dessen Ziel die Erforschung der materiellen Wahrheit darstellte.258 Insbesondere wurde im Spätmittelalter erstmals die Führung eines Gegenbeweises zugelassen.259 aa) Beweismittel Der Eid blieb weiterhin im Kreise der Beweismittel. Allerdings wandelte er sich mit der Zeit in Richtung eines Alleineides und das Institut der Eidhelfer wurde immer stärker zurückgedrängt.260 Demgegenüber trat mit der materiellen Wahrheitserforschung auch der Zeugenbeweis in den Vordergrund. So wurden Zufallszeugen nun im ordentlichen Prozess als Beweismittel zugelassen.261 Außerdem wurde der vor254 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 387 f.; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 852 f. 255 So etwa Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 308. 256 Ausführlich zum Rechtsinstitut des Vorsprechers, Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 159 ff. 257 So Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 386; zurückhaltend Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 845. 258 Vgl. bereits Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 229; ähnlich beurteilen dies Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 232 und Walter, freie Beweiswürdigung, S. 47 f. 259 Vgl. schon Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 579; Mayer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 272 f.; hierauf verweisend Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 385. 260 Vgl. Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 229; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851 f. 261 Für die Zulässigkeit etwa Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 229; Schröder/ v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851 f.; einschränkend Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 360 f.
42 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts mals gleichfalls dem Königsgericht vorbehaltene Inquisitionsbeweis zunehmend auf das ordentliche Verfahren übertragen, so dass von Amts wegen Zeugnisse eingeholt werden konnten.262 Ob die Zulassung des Zeugenbeweises wie in fränkischer Zeit an bestimmte Zeugenzahlen gebunden war, erscheint fraglich.263 Eine Neuerung in diesem Zusammenhang war das Gerichtszeugnis. Hierbei wurden entweder Richter, Urteiler oder ein sonstiger Prozessbeteiligter vernommen, wobei im Falle der Vernehmung Letzterer eine Bekräftigung der Aussage durch weitere Gerichtspersonen erforderlich war.264 Das Gerichtszeugnis zeichnete sich durch seine Unscheltbarkeit und die rein formale Erbringung des Beweises aus.265 Der Urkundenbeweis erfuhr eine Aufwertung durch die Anerkennung von gesiegelten Privaturkunden, insbesondere im süddeutschen und sächsischen Raum.266 Eine derart versiegelte Urkunde erbrachte formal den Beweis für ihren Inhalt – ähnlich einer öffentlichen Urkunde.267 Der Beweisgegner konnte allein die Echtheit der Urkunde rügen. Allerdings musste es sich wohl um die Originalurkunde mit intaktem Siegel handeln, während eine bloße Abschrift demgegenüber gerade keinen gesteigerten Beweiswert innehatte.268 Als weiteres Beweismittel trat nun der gerichtliche Augenschein (blickende Schein) hinzu. Hierbei machte sich das Gericht bzw. einzelne beauftrage Gerichtsmitglieder ein eigenes Bild von Sachen oder Personen, die für den Rechtsstreit von Bedeutung waren.269 Einen Sonderfall in Grenzstreitigkeiten bildete der Kundschaftsbeweis, bei dem die Inaugenscheinnahme durch vom Gericht beauftragte Dritte durchgeführt und das Ergebnis durch das Gericht verwertet wurde.270 Der Beweis durch Gottesurteil aus der Frühzeit verlor nach seiner kirchlichen Ächtung auf dem 4. Lateranenkonzil im Jahre 1215 n. Chr. immer mehr an Bedeutung.271 Gottesurteile wie die Kesselprobe oder die Wasserprobe waren allenfalls als letztes Beweismittel zulässig und wurden ab dem Ende des 13. Jahrhunderts immer Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851. Für das Erfordernis bestimmter Zeugenzahlen im Strafprozess Ruth, Zeugen und Eideshelfer, S. 10 f.; hierauf verweisend Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 233. 264 Vgl. Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 229. 265 Siehe Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851. 266 Vgl. Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 229; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 851 f. 267 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 370 f.; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 149. 268 Ausführlich zu den diesbezüglichen Anforderungen und Rügemöglichkeiten, Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 366 ff. 269 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 386 f.; Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 371 ff. 270 Siehe zu diesem Spezialfall des Augenscheins Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 371 ff. 271 Ausführlich zur Entwicklung der Gottesurteile Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 387. 262 Vgl. 263
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weiter eingeschränkt.272 Der gerichtliche Zweikampf hielt sich trotz der andauernd ablehnenden Haltung der Kirche noch längere Zeit, insbesondere in den Strafgerichten.273 Allerdings wurde der Zweikampf gerade in den aufblühenden Städten oftmals gänzlich untersagt und durch andere Beweismittel ersetzt. Diese Entwicklung setzte sich fort, bis der Zweikampf ab dem 14. Jahrhundert allein den höheren Gerichten und allen voran dem Königsgericht vorbehalten war.274 bb) Beweiswürdigung Eine der bedeutendsten Veränderungen im Hoch- und Spätmittelalter war die allmähliche Herausbildung einer richterlichen Beweiswürdigung.275 Grundsätzlich verblieb es in der ganzen Epoche des Mittelalters bei einem nach unserem Verständnis formalen Beweisrecht. Allerdings zeigt die Zulassung weiterer Beweismittel wie auch die Veränderung der bestehenden Beweismittel, dass sich eine Wende hin zu einem materiellen Beweisrecht andeutet.276 So lässt sich für das Spätmittelalter belegen, dass das Gericht die Urteiler befragte, ob „mit Zeugen und Urkunden genug zu recht fürgebracht und geweist sei“.277 Mithin wurde der Beweis nicht allein durch den Akt des formal richtigen Einbringens eines Beweismittels, sondern vielmehr durch seine inhaltliche Würdigung erbracht.278 Als Schritte dieser Entwicklung werden die Aufgabe des Grundsatzes der Unvereinbarkeit verschiedener Beweismittel und die Anerkennung des Gegenbeweises angeführt.279 Zudem wird auf die Verlagerung der Beweisaufnahme unmittelbar vor das Gericht hingewiesen, so dass ein Beweis nun nicht der anderen Partei, sondern gegenüber dem Gericht selbst erbracht werden musste.280 Problematisch wurde in dieser Zeit die Frage, welche Partei die Pflicht und insbesondere das Recht innehatte, Beweis zu erbringen. Es verblieb bis zum späten Mittelalter bei der Einseitigkeit der Beweisführung, allerdings ging zusehends der Glaube daran verloren, dass formalen Handlungen zur Beweiserbringung aufgrund
272 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 387 und Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 852. 273 Vgl. Planitz-Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 229; Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 852. 274 Siehe Conrad, deutsche Rechtsgeschichte I, S. 387. 275 Vgl. Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 384 ff.; hierauf bezugnehmend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 50 f. 276 Siehe Walter, freie Beweiswürdigung, S. 50 f. 277 Vgl. Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 386. 278 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 48 ff. 279 Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 385 ff.; bezugnehmend und zustimmend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 50 f. 280 Diesen Punkt ergänzt Walter, freie Beweiswürdigung, S. 50 f.
44 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts göttlichen Eingreifens eine rechtsgestaltende Kraft innewohnt.281 Eben dieser feste Glauben an die göttliche Leitung des Prozesses hin zu einem „richtigen“ Ergebnis war jedoch die Legitimation des formalen Beweisrechts, so dass selbiges immer stärker zum Relikt wurde und die Einseitigkeit der Beweisrolle einer neuen Legitimation bedurfte.282 Diese Frage, nach welchen Grundsätzen sich das Beweisführungsrecht einer Partei richtete, ist unklar und streitig. So wird teils davon ausgegangen, dass die beklagte Partei grundsätzlich weiterhin das Recht zur Beweisführung innehatte.283 Andere sehen die Legitimation des Rechts zur Beweisführung in typisierten Wahrscheinlichkeitserwägungen.284 Festzuhalten ist jedenfalls, dass im Hoch- und Spätmittelalter jede Partei in den Genuss des einseitigen Beweisführungsrechts kommen wollte. Diese Einseitigkeit der Beweisführung bildete ein bloßes Relikt des Prozesses der Frühzeit, so dass sich in der Konsequenz letztlich die Anerkennung des Gegenbeweises abzeichnete.285
III. Der römisch-kanonische Prozess und seine Rezeption in Deutschland Die Rezeption bezeichnet den Vorgang der Integration des römischen Rechts in den Kreis des geltenden Rechts und der Rechtspraxis.286 Rezipiert wurde das römische Recht in Form des spätrömischen, justinianischen Prozessrechts.287Allerdings lässt sich nicht von einer bloßen „Aufnahme“ des römischen Rechts iSe unveränderten Übernahme sprechen. Vielmehr wurde das römische Recht im Rahmen der Rezeption und wissenschaftlichen Bearbeitung vielfach abgeändert.288 Zudem entstammte der spätere sog. gemeine Prozess (ius commune) einer Verbindung des römisch-ka-
Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 61 ff., insbesondere S. 82 f.; ausführlich auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 236 ff. mwN. 282 Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 236 ff. 283 So insbesondere Planck, Gerichtsverfahren II, S. 12 ff.; ablehnend demgegenüber Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 2 ff. jeweils mwN. 284 So namentlich Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 13 ff. 285 Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 226 ff. und Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 23 ff. mwN; zur Anerkennung des Gegenbeweises Schlosser, spätmittelalterlicher Zivilprozess, S. 384 ff. 286 Ausführlich zu Begriff und Gegenstand der Rezeption, Bookmann/Grenzmann/Moeller/ Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 116 ff.; vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 124 ff. 287 Ausführlich Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 173 ff.; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 286 ff. 288 Ausführlich zu diesem Verhältnis von übernommenem römischen Recht und eigenen Entwicklungen Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1177 ff. mwN. 281 Vgl.
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nonischen Prozessrechts mit dem germanisch geprägten, sächsischen Prozess im Rahmen des jüngsten Reichsabschiedes aus dem Jahr 1654 n. Chr.289
1. Die Rezeption des römischen Rechts in Oberitalien und Deutschland Die erste Phase der Rezeption lässt sich bereits gegen Ende des 11. Jahrhunderts verorten.290 In dieser Zeit begann in den Universitäten Oberitaliens, insbesondere in Bologna die theoretische Durchdringung und Kommentierung der Digesten Justini ans (sog. Frührezeption oder theoretische Rezeption).291 Bereits ab dem 9. Jahrhundert lässt sich eine Rechtsschule in Pavia zum langobardischen Recht nachweisen und die „Wiederentdeckung“ der Digesten wird um das Jahr 1050 n. Chr. in Pisa datiert, zumal das römische Recht in Italien verständlicherweise niemals vollständig in Vergessenheit geraten war.292 Die Rezeption in Deutschland wurde in der Frühzeit von den zahlreichen Studenten aus den deutschen Landen getragen, die das rezipierte Recht in den Universitäten Norditaliens erlernten und in der Folge in ihre Heimat zurückkehrten.293 Im Zuge der fortschreitenden Territorialisierung und Zersplitterung des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation schufen die Landesfürsten eigene Verwaltungen, so dass zahlreiche Studenten in diesen Verwaltungen zu Posten und Einfluss kamen, was in der Folgezeit wiederum die Verbreitung des rezipierten Rechts, das sie erlernt hatten, förderte.294 Die spätere Phase der Rezeption lässt sich im 15. Jahrhundert ansiedeln. Insbesondere die Errichtung des Reichskammergerichts und die Erstellung der ersten Reichskammergerichtsordnung im Jahre 1495 n. Chr. lassen sich als ein entscheidendes Datum der Rezeption festhalten.295 Eben diese Reichskammergerichtsordnung bestimmte in § 3, dass das Reichskammergericht zu richten habe „nach des Reichs gemainen Rechten“, mithin dem rezipierten römischen Recht.296 Zwar galt dieses Recht hiernach nur subsidiär, allerdings verlangte die Gerichtsordnung in eben diesem § 3, das vorrangige, germanische Recht
289 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 137 ff.; Nagel, Grundzüge, S. 169; zum gemeinen Prozess siehe IV. 290 Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 100; ebenso Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 286 f. 291 Vgl. etwa Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 118 mwN. 292 Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 100. 293 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 115 f. unter Verweis auf die Hochschulmatrikeln dieser Zeit. 294 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 115 f. und S. 148 f.; ausführlich auch Trusen, Anfänge, S. 102 ff. 295 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 176 ff.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 189 ff.; Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 136 ff. 296 § 3 RKGO abgedruckt bei Zeumer, Quellensammlung, S. 285.
46 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts müsse „ für sy pracht werden“ und mithin bewiesen werden.297 Eben dieser Nachweis war nach der Rechtsprechung des Reichskammergerichts nur sehr schwer zu führen. Diese Rechtsprechung wandte sogar Verjährungsregeln auf das einheimische, germanische Recht an, so dass faktisch vielmehr von einem Vorrang des römischen Rechts im Prozess des Reichskammergerichts gesprochen werden konnte.298 Die Rechtsprechung des Reichskammergerichts hatte zudem eine Ausstrahlungswirkung auf die unteren Gerichte und so gelang dem gemeinen Recht der Durchbruch. Daher handelt es sich bei dieser Rechtsprechung um eine der wesentlichen Ursachen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland. Mit Gründung des Reichskammergerichts lässt sich von der Phase der Vollrezeption sprechen, bei der sich das römische Recht gegenüber den alten germanischen Rechten durchgesetzt hat.299 Die weiteren Gründe und Ursachen für die weitreichende Rezeption des römischen Rechts in Deutschland waren sicherlich vielfältig und werden auch ebenso vielfältig vertreten und unterschiedlich gewichtet. Einen Aspekt stellte die verfassungsrechtliche Gewichtung des römischen Rechts in dieser Zeit dar. Die Kaiser des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation sahen sich in der direkten Nachfolge der römischen Kaiser (sog. translatio imperii), so dass das römische Recht zugleich Teil des Kaiserrechts war und allein aufgrund seiner Herkunft als römisches Recht hohe Autorität genoss.300 Zudem schwand im Hoch- und Spätmittelalter die starke religiöse Prägung der Bevölkerung immer weiter, so dass die Legitimationsbasis des formalistischen, germanischen Prozesses gleichsam geringer wurde. Das rezipierte römische Recht stellte demgegenüber ein wissenschaftlich aufbereitetes, systematisches und schriftliches Prozessrecht als Alternative zum oftmals mündlich überlieferten, germanischen Prozessrecht bereit.301 Weiter führte die fortschreitende Territorialisierung und hierdurch eintretende Rechtszerplitterung zum Bedürfnis eines einheitlichen Rechts, so dass sich die Anwendung des römischen Rechts anbot.302 Teils wird auch darauf verwiesen, dass die Bestimmungen des römischen Rechts sehr viel detailliertere Regelungen für komplexere wirtschaftliche Vorgänge enthiel-
297 § 3 RKGO, Zeumer, Quellensammlung, S. 285; zum Beweiserfordernis vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 191; Planitz/Eckhardt, deutsche Rechtsgeschichte, S. 255. 298 So etwa Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 189 ff.; ähnlich Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 138 ff. 299 Vgl. Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 118 ff. 300 Ausführlich Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 149 ff. mwN; differenzierend Krause, Kaiserrecht und Rezeption, insb. S. 145 ff.; demgegenüber wurde die Annahme, das römische Recht sei unter Kaiser Lothar III. per Gesetz zum Reichsrecht erhoben (sog. „Lotharsche Legende“) worden, bereits durch Hermann Conring wiederlegt, vgl. etwa Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 100 f. 301 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 112 ff.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 174 f. 302 Hierauf verweist insbesondere Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 98 ff.
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ten und damit eine bessere Grundlage für den aufblühenden Handel in den norditalienischen Städten und darüber hinaus boten.303 Die Entwicklung des kanonischen Prozessrechts und die Ausweitung der geistlichen Gerichtsbarkeit waren ebenfalls mitbestimmend für die Rezeption des römischen Rechts.304 Die Kirche sah sich in einer durchgehenden Tradition seit dem römischen Reich, so dass das kanonische Prozessrecht stark durch das römische Recht geprägt wurde.305 Die Grundlage des kanonischen Prozesses war die Bearbeitung des römischen Rechts, ergänzt und verändert durch päpstliche Dekretalien.306 Der Einfluss dieses kanonischen Prozesses auf die weitere Entwicklung des weltlichen Prozessrechts wird mit einem Blick auf den Einfluss der kirchlichen Gerichtsbarkeit erklärlich. So beschränkte sich die Zuständigkeit dieser Gerichte grundsätzlich auf sog. geistliche Sachen, mithin Ketzerei, Ehe- und Erbschaftssachen, Meineid sowie weitere Sachverhalte mit kirchlichem Bezug.307 Allerdings spiegelte sich die wachsende Macht der Kirche im Früh- und Hochmittelalter auch im Umfang der von ihr beanspruchten Gerichtsbarkeit wider: Die geistige Gerichtsbarkeit dehnte in dieser Zeit ihre eigene Zuständigkeit immer weiter in Richtung rein „weltlicher“ Sachverhalte aus, bis diese Entwicklung mit dem Wiedererstarken der Staatsgewalt ein Ende fand.308 Durch diese umfängliche kirchliche Gerichtsbarkeit erlangte das rezipierte römische Recht in Form des kanonischen Prozessrechts weitgehende Verbreitung.309 Außerdem handelte es sich bei dem kanonischen Prozess um einen wissenschaftlich fundierten Prozess, der durch einen gelehrten Berufsrichter geleitet wurde. Dieser Prozess stand damit in einem starken Kontrast zum Prozess vor weltlichen Gerichten, so dass das kanonische Recht in dieser Zeit eine gewisse Vorbildfunktion für die weltlichen Gerichte einnehmen konnte.310
303 So etwa Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 174; ablehnend demgegenüber etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 150 f.; ebenso Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 331. 304 Diesen Aspekt hervorhebend Nörr, gelehrter Prozess, S. 2 ff.; ähnlich Trusen, Anfänge, S. 13 ff. 305 Gestützt auf den Grundsatz: Ecclesia vivit lege Romana, vgl. Nagel, Grundzüge, S. 163; siehe auch Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 161 unter Verweis auf die Lex Ribuaria. 306 Vgl. Trusen, Anfänge, S. 13 ff.; ausführlich zur Rolle der päpstlichen Dekretalien Nörr, Iudicium, S. 53 ff. 307 Eine ausführliche Darstellung der Zuständigkeit findet sich bei Trusen, Anfänge, S. 34 ff.; vgl. auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte S. 355 ff. 308 Zu diesem Konflikt Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 355 ff. 309 So behandelt das Speculum iudiciale des Durantis aus dem Jahr 1271 n. Chr. das kanonische Prozessrecht, wird aber zugleich auch für die weltlichen Gerichte als bedeutendstes prozessuales Lehrbuch seiner Zeit angesehen, vgl. Schröer/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 870; ebenso Na gel, Grundzüge, S. 147. 310 Vgl. etwa Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 155 ff. mwN.
48 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
2. Ablauf und Verfahrensgrundsätze Der Prozess begann mit der Ladung des Beklagten durch den Richter auf Antrag des Klägers und der Überreichung der Klageschrift, bestehend aus Rechtsbehauptungen, auf die sich der Beklagte zu erklären hatte.311 Bei einem Anerkenntnis des Beklagten erging ein entsprechendes Urteil, zudem wurden prozesshindernde Einreden vorab entschieden.312 Bestritt der Beklagte die Klageforderung nach materiellem Recht, so musste er alle ihm zur Verfügung stehenden Einwendungen vorbringen. Durch dieses Vorbringen wurde die litis contestatio vollzogen, mithin der Streitgegenstand festgelegt und die eigentliche Verhandlung begonnen.313 Der Prozess war geprägt durch eine Aufteilung in eine Vielzahl von Terminen. So stellte die Überreichung der Klageschrift ebenso einen eigenen Termin dar, wie die Erwiderung des Beklagten durch Vorbringen seiner Einwendungen.314 Jede weitere Replik und Duplik erforderte eigene Termine, die nach einer bestimmten Abfolge aufeinanderfolgen (Reihenfolgeprinzip).315 Diese Zergliederung führte zu einer Verlangsamung des Prozesses, so dass bereits in der Frühzeit des römisch-kanonischen Prozesses Maßnahmen zu seiner Beschleunigung ergriffen wurden.316 So wurden strenge Präklusionsvorschriften eingeführt, die Fristen für das – auch nur hilfsweise – Vorbringen sämtlicher Einreden des Beklagten, wie auch der Beweismittel beider Parteien vorsahen. Nach Ablauf dieser Fristen war die Geltendmachung dieser Einreden bzw. Beweismittel unzulässig. Es zeichnet sich hierbei die beginnende Herausbildung der heutigen Eventualmaxime ab.317 Zudem mussten die Parteien sich zu Beginn des Prozesses einen Eid zur redlichen Prozessführung schwören, den sog. Kalumnieneid.318 Prägend für das Verfahren war die Einheit von prozessleitendem Richter und Urteiler. Der Prozess wurde von einem gelehrten, in der Regel auf Lebenszeit bestimmten Berufsrichter geleitet und in der Folge entschieden.319 Der römisch-kanonische Prozess kannte keine Beweisurteile und keine Zweiteilung des
Eichmann, Codex Iuris Canonici, S. 23; Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 73 f. Siehe Eichmann, Codex Iuris Canonici, S. 23; Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 73 f. 313 Ausführlich zur Bestimmung des Streitgegenstandes Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 73 f. 314 Eine ausführliche Aufzählung liefert beispielsweise Nörr, Iudicium, S. 19 ff. 315 Vgl. wiederum Nörr, Iudicium, S. 19 ff.; siehe auch Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 76 f. 316 Vgl. Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 78 ff.; zu dieser Entwicklung auch Nörr, Iudicium, S. 22 ff., der jedoch zugleich von einer moderaten Prozessdauer aufgrund des freien richterlichen Ermessens bei der Festlegung der Länge von Fristen zwischen den einzelnen Terminen ausgeht. 317 So bereits Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 81 f.; vgl. auch Eichmann, Codex Iuris Canonici, S. 22 f. 318 Zu diesem Eid Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 75; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 248 mwN. 319 Vgl. Kroeschell/Cordes/Nehlsen-von Stryk, Rechtsgeschichte II, S. 15 f. mwN.; zu dieser Entwicklung auch Kern, Geschichte der Gerichtsverfassung, S. 21 ff. 311 Vgl. 312
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Prozesses mehr, vielmehr lief der Prozess von seiner Einleitung über die Beweisaufnahme bis hin zum Urteil vor einem Richter ab.320 Der römisch-kanonische Zivilprozess wurde von der Verhandlungsmaxime beherrscht.321 Im Übrigen verlief der Prozess größtenteils schriftlich und geheim.322 Diese weitgehende Schriftlichkeit führte zudem zu einer starken Beschränkung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme: Oftmals genügte dem Richter die protokollierte Beweisaufnahme durch eine beauftragte Person.323 Allein der Grundsatz rechtlichen Gehörs wurde auch im römisch-kanonischen Prozess gewahrt.324
3. Beweisrecht Das Beweisrecht basierte gleichfalls auf dem römischen Recht, so dass die Ermittlung der Wahrheit das Ziel jeden Beweises darstellte und die Führung von Beweis wie auch Gegenbeweis zulässig waren.325 Allerdings zeigten sich zugleich die Einflüsse des germanischen Prozessrechts, dessen Formalismus den römisch-kanonischen Prozess hin zu einer legalen Beweistheorie lenkte.326 Entscheidend war die Überzeugung des Richters von der Wahrheit, so dass der Beweis dem Gericht gegenüber geführt wurde. Allerdings war der Zivilprozess vom Beibringungsgrundsatz bestimmt, so dass die Beweisführung in den Händen der Parteien lag.327 Die beginnende Ausbildung der Eventualmaxime zum Zwecke der Prozessbeschleunigung schränkte die Geltendmachung von Beweismitteln indes signifikant ein. Beweismittel mussten in bestimmten Terminen zu Beginn des Verfahrens geltend gemacht werden, um nicht in einem späteren Termin von Amts wegen zurückgewiesen zu werden.328
320
Siehe Kroeschell/Cordes/Nehlsen-von Stryk, Rechtsgeschichte II, S. 15 f. mwN. Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 75 f.; ausführlich hierzu Nörr, Stellung des Richters,
321 Vgl.
S. 7 ff. 322 Vgl. Eichmann, Codex Iuris Canonici, S. 22 f.; Kern, Geschichte der Gerichtsverfassung, S. 21; kritisch zur Annahme eines Schriftlichkeitsprinzips im heutigen Sinne Nörr, Iudicium, S. 27 ff. 323 So insbesondere Walter, freie Beweiswürdigung, S. 26 f. unter Verweis auf Groß, Beweistheorie II, S. 112. 324 So wiederum Walter, freie Beweiswürdigung, S. 27; der Verweis auf Groß, Beweistheorie I, S. 121 f. betrifft indes den kanonischen Strafprozess. 325 So etwa Groß, Beweistheorie I, S. 18 ff.; ähnlich Nagel, Grundzüge, S. 166 ff. 326 Vgl. bereits Eichmann, Corpus Iuris Canonici, S. 18 f.; ähnlich Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 71. 327 Vgl. Nagel, Grundzüge, S. 166 f.; Groß, Beweistheorie I, S. 112 ff., insb. S. 117. 328 Ausführlich Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 81 f. mwN; vgl. auch Eichmann, Corpus Iuris Canonici, S. 22 f.
50 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts a) Grundlagen und Beweismittel Die Anzahl der Beweismittel im Prozess schwankte je nach Einteilung derselben durch die Autoren dieser Zeit. Die heutigen Beweismittel des Zeugen, des Sachverständigen, des Augenscheins und der Urkunden waren bekannt.329 Allerdings wurden der gerichtliche Augenschein und das gerichtliche Geständnis der Notorietät zugewiesen. Hierbei handelte es sich um eine spezielle Kategorie des römisch-kanonischen Prozessrechts, die oftmals als eigenständiges Beweismittel angesehen wurden.330 Der Zeugenbeweis orientierte sich an den römischen testes, anstelle des germa nischen Systems. Zeuge war hiernach, wer über das eigentliche Beweisthema aus eigenem Wissen oder vom Hörensagen berichten konnte.331 Zudem bestand grundsätzlich eine allgemeine Zeugnispflicht.332 Allerdings kannte der römisch-kanonische Prozess umfangreiche Einschränkungen bei der Zeugnisfähigkeit. Das Mindestalter für die Zeugnisfähigkeit betrug 14 Jahre.333 Die Unfähigkeit zum Zeugnis konnte sich aus religiösen Gründen ergeben, etwa bei Exkommunizierten oder „Ketzern“, weiterhin aus der gesellschaftlichen Stellung einer Person, so etwa bei der Zeugnisunfähigkeit von Meineidigen oder sonstig Rechtlosen und schlussendlich aus der Ermangelung entsprechender physischer oder psychischer Fähigkeiten, etwa bei Geisteskranken.334 Darüber hinaus waren Personen vom Zeugnis ausgeschlossen, die zu einer Prozesspartei oder der Prozesssache in einem besonderen Verhältnis standen, vermögen dessen ihre Aussage beeinflusst sein könnte.335 Zudem war es Klerikern verboten, im Zivil- wie auch im Strafprozess als Zeugen bezüglich im Rahmen der Beichte erlangten Wissens aufzutreten.336 Der Sachverständigenbeweis wurde teils als Unterfall des Zeugenbeweises angesehen, teils als eigenes Beweismittel verstanden.337 In jedem Fall wurden zahlreiche Regelungen des ZeugenbeVgl. die Nachweise bei Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 249 f. So etwa Meile, Beweislehre, S. 147 f. für die Notorietät und S. 81 f. für Vermutungen; kritisch aus heutiger Sicht Walter, freie Beweiswürdigung, S. 32 ff.; ähnlich bereits Groß, Beweis theorie I, S. 48 ff. 331 Vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 5 ff.; Meile, Beweislehre, S. 49. 332 Vgl. etwa Groß, Beweistheorie II, S. 26 f.; ebenso Eichmann, Corpus Iuris Canonici, S. 145. 333 Siehe Groß, Beweistheorie II, S. 9; Meile, Beweislehre, S. 51. 334 Aufzählungen finden sich bei Groß, Beweistheorie II, S. 8 ff. und Meile, Beweislehre, S. 49 ff., der bei den genannten Eigenschaften von absoluter, mithin gegenüber jedermann bestehender Zeugnisunfähigkeit spricht. 335 Vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 13 ff. 336 So etwa Meile, Beweislehre, S. 50 f., der zudem zwischen Beicht- und Amtsgeheimnis unterscheidet, wobei letzteres lediglich ein Zeugnisverweigerungsrecht bewirkt; ähnlich Groß, Beweistheorie II, S. 11 f. 337 Für die Selbstständigkeit des Sachverständigenbeweises Groß, Beweistheorie II, S. 29 ff. unter Darstellung des Konfliktes des Sachverständigen zwischen Beweismittel der Parteien und Hilfsperson des Richters. 329 330
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weises übernommen. So führten die Gründe für die Zeugnisunfähigkeit zugleich zur Unfähigkeit, als Sachverständiger berufen zu werden.338 Das Beweismittel der Urkunde teilte sich in öffentliche und private Urkunden.339 Öffentliche Urkunden mussten durch eine Amtsperson in einer bestimmten Form errichtet werden und erbrachten, bei Nachweis ihrer Echtheit, vollen Beweis für den beurkundeten Inhalt.340 Ein Gegenbeweis gegen die Echtheit der Urkunde war möglich, allerdings sprach eine Vermutung zugunsten der Echtheit einer öffentlichen Urkunde.341 Der Kategorie der Privaturkunden unterfielen alle Schriftstücke, die keine öffentliche Urkunde darstellen.342 Die Echtheit der Privaturkunde musste explizit nachgewiesen werden. In diesem Fall stand eine Privaturkunde dem außergerichtlichen Geständnis der gegnerischen Partei gleich.343 Beinhaltete die Urkunde die Aussage eines Dritten, so stand die Urkunde demgegenüber einer Zeugenaussage gleich.344 Der Parteieid hatte in diesem Prozess nur eine eingeschränkte Bedeutung. Seine Funktion erschöpfte sich in einem ergänzenden Beweismittel, falls die vorgebrachten Beweismittel nach den Wertungen der legalen Beweistheorie noch keinen vollen Beweis zugunsten des Klägers erbracht hatten bzw. der Beklagte sich von dem nicht vollständig erbrachten Beweis reinigen musste.345 Mithin erforderte die Möglichkeit der Eidesleistung stets eine vorangegangene Beweisführung mit anderen Beweismitteln, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für oder gegen die zu beweisende Tatsache erbracht hat. Die Eidesleistung erbrachte in der Folge den vollständigen Beweis über die fragliche Tatsache.346 Der Eid wurde einer Partei durch den Richter von Amts wegen zugeschoben. Die Kriterien dieser Eideszuschiebung gegenüber einer Partei wurden nicht einheitlich beurteilt. Vielmehr entwickelte sich eine reiche Kasuistik, welcher Partei in welchem Fall der Eid zugeschoben werden sollte.347 Darüber hinaus kannte der römisch-kanonische Prozess die sog. Notorietät. Das Charakteristikum dieses Instituts war es, dass hierdurch ein Beweis überflüssig wurSo wurde der Sachverständigenbeweis sogar als testimonium bezeichnet, in Anlehnung an den Zeugenbeweis, vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 32 ff.; siehe auch Meile, Beweislehre, S. 59 ff. 339 Siehe Meile, Beweislehre, S. 67 und Groß, Beweistheorie II, S. 45 ff. 340 Vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 313; Meile, Beweislehre, S. 71 f. 341 Ausführlich Groß, Beweistheorie II, S. 44 ff.; Meile, Beweislehre, S. 69 f. 342 Vgl. Meile, Beweislehre, S. 67 f.; Groß, Beweistheorie II, S. 56. 343 Siehe Meile, Beweislehre, S. 69 ff.; vgl. auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 251 f. mwN. 344 Vgl. Groß, Beweistheorie II, S. 313 f.; Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 251 f. mwN. 345 Ausführlich zur Bedeutung des Eides Kleinfeller, Tatsacheneid, S. 60 ff.; ähnlich in seiner Analyse Walter, freie Beweiswürdigung, S. 35 f.; die verschiedenen Arten von Eiden listet Meile, Beweislehre, S. 82 ff. auf. 346 Zu Voraussetzungen und Beweiskraft der Eidesleistung vgl. Meile, Beweislehre, S. 82 ff.; Groß, Beweistheorie, S. 67 ff. 347 Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 252 f. mwN; ähnlich schon Groß, Beweis theorie, S. 68 ff. 338
52 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts de. Insofern war bereits in dieser Zeit umstritten, ob es sich um ein Beweismittel handelte.348 Eine exakte Definition dieses Institutes findet sich nicht. Als notorisch konnte wohl jedenfalls alles dasjenige bezeichnet erden, „was dem Richter und den Parteien entweder in ihrer Eigenschaft als solchen oder vermögen ihrer allgemeinen menschlichen Eigenschaften so bekannt ist, dass ein Wegleugnen desselben selbst durch pfiffige Verdrehungen nicht leicht zu bewerkstelligen wäre.349 Die Notorietät umfasste jedenfalls das notorium facti (insbesondere den Augenschein), das notori um iuris (insbesondere das gerichtliche Geständnis), sowie das notorium praesump tionis (insbesondere gesetzliche Vermutungen).350 Abschließend wurden gerichtliche Vermutungen gleichfalls den Beweismitteln zugeordnet.351 Hierbei wurde von dem Nachweis einer bestimmten Tatsache als Indiz auf eine andere Tatsache geschlossen. Die Schlussfolgerung sollte den typischerweise in dieser Situation ablaufenden Geschehensverlauf nachzeichnen und auf der Lebenserfahrung basieren.352 Es wurde seinerzeit unterteilt in gewagte Vermutungen (praesumptio temeraria), ernste Vermutungen (praesumptio probabilis) und vollständig zuverlässige Vermutungen (praesumptio violenta).353 Erstere Vermutungen hatten wohl keinen spezifischen Beweiswert, Zweitere erbrachten halben Beweis und Letztere den vollen Beweis, wobei ein Gegenbeweis möglich blieb.354 Insgesamt hatte sich eine kaum zu überblickende Vielzahl solcher Vermutungen in Rechtsprechung und Lehre herausgebildet, deren Fundierung in der Lebenserfahrung oftmals durchaus zweifelhaft war.355 b) Beweiswürdigung Das Beweisrecht im römisch-kanonischen Prozess war auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichtet, mithin auch die richterliche Überzeugung von derselben.356 Allerdings zeigt sich an dieser Stelle gleichfalls die Prägung dieses Prozesses durch das spätrömische wie auch das germanische Prozessrecht: Der römisch-kanonische Pro348 In diesem Sinne wohl Meile, Beweislehre, S. 147 f., der zumindest die Notorietät selbst als beweisbedürftig ansieht; vgl. auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 253 f. mwN. 349 So Groß, Beweistheorie I, S. 51; hierauf verweisend auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 32. 350 Ähnliche Einteilung bei Meile, Beweislehre, S. 147; in der Sache ähnlich Groß, Beweistheo rie, S. 51 ff. 351 In diesem Sinne etwa Meile, Beweislehre, S. 80 ff.; ausführlich zu dieser Fragestellung und letztlich ablehnend Motzenbäcker, Rechtsvermutung, S. 334 ff. mwN. 352 Vgl. Meile, Beweislehre, S. 76; Groß, Beweistheorie, S. 57 f. 353 Vgl. zu dieser Einteilung Meile, Beweislehre, S. 77 ff.; zahlreiche weitere Einteilungsarten finden sich bei Motzenbäcker, Rechtsvermutung, S. 276 ff. und S. 283 ff. 354 Vgl. Groß, Beweistheorie, S. 61 ff.; Meile, Beweislehre, S. 78 f. 355 Zu diesem Ergebnis kommend Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 255 und Walter, freie Beweiswürdigung, S. 35. 356 Vgl. etwa Groß, Beweistheorie I, S. 19 f.; ausführlich auch Meile, Beweislehre, S. 91 f.
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zess folgte einer legalen Beweistheorie und stellte mannigfaltige Beweisregeln auf, die den Richter banden.357 So galt die Beweisregel unus testis, nullus testis. Erforderlich und zugleich ausreichend waren daher zwei Zeugen zur Erbringung eines vollen Beweises.358 Es gab genaue Regelungen zur Bestimmung des Beweiswertes einzelner Beweismittel und zum Verhältnis der Beweismittel zueinander: So gingen ältere Zeugen den Jüngeren vor, adlige Zeugen den Nichtadligen, reiche Zeugen den Armen.359 Außerdem ging die Zeugenaussage teils dem Urkundenbeweis vor.360 Durch diese Zuweisung fester Beweiswerte wurde das Beweisrecht Stück weit „mathematisiert“. Es wurde festgelegt, unter welchen Voraussetzungen ein halber Beweis oder auch voller Beweis erbracht war.361 Diese zahlreichen Beweisregeln sollten in der Theorie die subjektive Sicht des Richters auf ein Minimum reduzieren und richterlicher Willkür vorbeugen.362 Von einer freien Beweiswürdigung konnte in diesem Prozess jedoch keinesfalls gesprochen werden.363
IV. Der Prozess im gemeinen Recht in Deutschland Der gemeine Prozess hatte zwar lediglich subsidiäre Geltung gegenüber lokalem oder sonstig kodifiziertem Recht. Zudem gab es aufgrund der fortschreitenden Territorialisierung und Rechtszersplitterung auf dem Gebiet des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation eine nahezu unübersehbare Vielzahl an Einzelkodifikationen.364 Indes wurden diese Kodifikationen ihrerseits oftmals sehr nachhaltig durch den gemeinen Prozess geprägt.365 Daher ist sein Einfluss auf die weitere prozessuale Entwicklung nicht zu unterschätzen und eine Konzentration auf diesen Prozess angezeigt, zumal eine eingehende Untersuchung auch nur der größeren prozessualen Kodifikationen den Umfang dieser Untersuchung sprengen würde.
357 Siehe Walter, freie Beweiswürdigung, S. 37 unter Verweis auf Nörr, Stellung des Richters, S. 62 ff.; vgl. auch Eichmann, Corpus Iuris Canonici, S. 18 f. 358 Ausführlich zu dieser Beweisregel und ihrer Geschichte Schott, FS-Elsener, S. 222 ff.; zur Geltung im kanonischen Prozess vgl. etwa Groß Beweistheorie, S. 300 ff. 359 Vgl. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 38 mwN. 360 Siehe wiederum Walter, freie Beweiswürdigung, S. 38 mwN. 361 Vgl. zu dieser Unterteilung Groß, Beweistheorie I, S. 21 f. und Meile, Beweislehre, S. 131 ff. 362 So etwa Endemann, Civilprozess, S. 23 ff.; Schmidt, Zivilprozessrecht, S. 71 f.; dieses System positiv als Hilfestellung für den Richter herausstellend Meile, Beweislehre, S. 128 ff. 363 So insb. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 37 f.; ebenso Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 257 f. 364 Vgl. zur Subsidiarität wie auch zur Rechtszersplitterung Schwartz, Zivilprozessgesetzgebung, S. 727 ff. und Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 339 ff. 365 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 465 ff. mwN.
54 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
1. Entstehung und Entwicklung des gemeinen Prozesses in Deutschland Den Anfang dieser Entwicklung stellt die Rezeption des römischen Rechts auf dem Gebiet des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation dar. Diese Rezeption des römischen Rechts hatte eine Vielzahl verschiedener Ursachen und führte in der Folgezeit zu einer vollständigen Übernahme des römischen Prozessrechts in der Form des „gelehrten“ römisch-kanonischen Prozesses durch das Reichskammergericht und sodann auch die unteren Gerichte.366 a) Praktische Rezeption im 15. Jahrhundert bis zum jüngsten Reichsabschied So vielgestaltig sich die Ursachen dieser Rezeption darstellten, so unterschiedlich war auch ihr Umfang in den einzelnen Territorien. So setzte sich das römische Recht insbesondere in Süd- und Westdeutschland rasch als herrschendes Prozessrecht durch.367 Demgegenüber waren Geschwindigkeit und Grad der Rezeption in den großen Städten Norddeutschlands und im sächsischen Rechtskreis deutlich geringer. Insbesondere in Sachsen existiere mit dem Sachsenspiegel und später den Kursächsischen Konstitutionen von 1572 n. Chr. ein geschriebenes einheimisches Recht. Dieses Recht erfuhr zudem durch die „Schöppenstühle“ und juristischen Fakultäten in Leipzig, Magdeburg und Wittenberg eine wissenschaftliche Bearbeitung und Pflege, so dass sich ein eigenes Prozessrecht entwickelte.368 Die Entwicklung vom rezipierten, römisch-kanonischen Prozess hin zum sog. „gemeinen Prozess“ erfolgte schließlich mit dem jüngsten Reichsabschied aus dem Jahr 1654 n. Chr.369 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Reichskammergericht allein das römisch-kanonische Prozessrecht als „des Reichs gemaine Rechte“ angewendet. Dieses Prozessrecht erfuhr im jüngsten Reichsabschied einige Veränderungen durch die Einführung von Elementen des sächsischen Prozessrechts.370 So wurde das Verfahren der Bildung von positiones aus dem römisch-kanonischen Recht zwecks Beschleunigung eingeschränkt, das summarische Klageverfahren übernommen und die Eventualmaxime weiter ausgeformt.371 Diese Verschmelzung des römisch-kano366
Vgl. Bookmann/Grenzmann/Moeller/Staehelin-Sellert, Recht und Verfassung I, S. 118 ff. mwN. 367 Zum Umfang der Rezeption vgl. ausführlich Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 226 ff. mwN. 368 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 180 ff. und S. 227; Engelmann, der Zivilprozess, II, 3, S. 121 ff. ausführlich zu diesem Prozess Schwartz, Zivilprozessgesetzgebung, S. 129 ff. 369 Vgl. etwa Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 456 ff.; so auch Bomsdorf, Prozessmaximen, S. 26 ff. 370 Siehe Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 456 ff.; Engelmann, der Zivilprozess II, 3, S. 128 ff. 371 Vgl. zu diesen Veränderungen im Einzelnen Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 459
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nischen Prozessrechts als Grundlage mit den Elementen des sächsischen Prozesses bildete den gemeinen Prozess.372 In der Zeit nach dem jüngsten Reichsabschied erlebte der gemeine Prozess immer wieder Veränderungen, die auf eine Beschleunigung des als äußert langwierig und schwerfällig beschriebenen Prozesses abzielten.373 Die wohl bedeutendste Veränderung stellte die Einführung des sog. Beweisinterlokuts dar. Der Prozess erfuhr ab dem 18. Jahrhundert eine Zweiteilung in eine richterliche Verhandlung, die mit einem Beweisurteil (Beweisinterlokut) endete und dem sich anschließenden Beweisverfahren.374 Bei diesem Beweisinterlokut handelte sich um ein selbstständig anfechtbares Zwischenurteil, das für Parteien wie Gericht bindende Feststellungen über Beweisthema, Beweislast und Beweisfrist aufstellte.375 In dieser Form hatte der gemeine Prozess in vielen Einzelkodifikationen bis zur Einführung der ZPO – zumindest subsidiäre – Geltung in weiten Teilen Deutschlands.376 b) Prozessuale Kodifikationen und die weitere Entwicklung bis zum Erlass der ZPO Allerdings wurde in den größeren Territorien auf dem Gebiet des Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation ab den 1750er Jahren im Zeitalter des Naturrechts eine Reihe prozessualer Kodifikationen geschaffen.377 Derartige Verschriftlichungen und Entwicklungen des Rechts hatte es zwar bereits im ausgehenden Mittelalter, insbesondere in den größeren Städten gegeben. Beispielhaft genannt seien hier die einflussreichen Stadtrechte Freiburgs, Lübecks und Magdeburgs.378 Indes erfolgten diese späteren Kodifikationen im Zeitalter des Naturrechts vor dem Hintergrund dieser Strömung und ihres Willens zur Systematisierung des Rechts.379 Nachfolgend soll indes allein das Verhältnis dieser Kodifikationen zum gemeinen Recht kurz skizziert werden. Siehe Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 456 ff.; Engelmann, der Zivilprozess II, 3, S. 131 ff. 373 Vgl. etwa Schwartz, Zivilprozessgesetzgebung unter Verweis auf die Schilderungen Goe thes aus seiner Zeit am Reichskammergericht; ebenso Kroeschell/Cordes/Nehlsen-von Stryk, Rechtsgeschichte II, S. 277 ff. mwN; siehe auch die gesammelte Kritik bei Engelmann, der Zivilprozess II, 3, S. 201 ff. 374 Ausführlich Planck, Beweisurteil, S. 222 ff.; kritisch gegenüber dieser Entwicklung des Beweisurteils demgegenüber Endemann, Beweisverfahren, S. 82 ff. 375 Vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 302; Martin, Gemeiner Prozess, S. 322 ff. 376 Vgl. etwa Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 456 ff.; Bomsdorf, Prozessmaximen, S. 28 ff.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 229 ff.; Engelmann, der Zivilprozess II, 3, S. 131 ff. 377 Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 237 ff.; ausführlich auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 322 ff. 378 Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 143; eine ausführliche Aufzählung findet sich auch bei Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 368 ff. 379 Zur Methodik des Naturrechts vgl. Nörr, Naturrecht, S. 24 ff. mwN. 372
56 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Den Beginn dieser Kodifikationen bildete Bayern im Jahre 1753 n. Chr. mit dem Codex Juris Bavarici Judiciarii. Dieses Werk wurde vom bayrischen Vizekanzler v. Kreittmayr verfasst und basierte auf dem gemeinen Recht.380 Gleiches gilt für die Allgemeine Gerichtsordnung, die Jospeh II im Jahre 1781 n. Chr. für Österreich in Kraft gesetzt hat. Die Grundsätze wie auch die Einzelheiten wurden dem gemeinen Recht entnommen und im Rahmen dieses Gesetzbuches systematisiert und in verständlicher Sprache niedergelegt.381 Gerade diese Systematisierung und Abstrahierung machte die wesentliche Neuerung der naturrechtlichen Kodifikationen aus, weniger hingegen die inhaltliche Veränderung des bisherigen Prozessrechts.382 Demgegenüber zeigte sich das preußische Recht deutlich reformfreudiger: Das Cor pus Juris Fridericianum aus dem Jahr 1781 n. Chr. sah eine sehr starke richterliche Stellung im Prozess vor. Insbesondere wurde dem Richter die Wahrheitsfindung von Amts wegen iSe Untersuchungsmaxime aufgetragen, so dass sich dieser Prozess in Bezug auf die Stellung des Richters und der Parteien deutlich vom gemeinen Prozess unterschied.383 Die „Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten“ von 1793 n. Chr. veränderte einige Bereiche, wie etwa die Art des Rechtsbeistandes der Parteien. Indes verblieb es auch in der allgemeinen Gerichtsordnung bei der starken Stellung des Richters und der Untersuchungsmaxime.384 Zusammenfassend basierten auch die großen Kodifikationen mehrheitlich auf dem gemeinen Recht – mit Ausnahme der preußischen Staaten. Der gemeine Prozess blieb in seiner Gestalt bis zur Einführung der ZPO weitgehend unverändert bestehen und hatte subsidiäre Geltung.385
2. Ablauf und Verfahrensgrundsätze Der gemeine Zivilprozess unterteilte sich ab dem 18. Jahrhundert in zwei verschiedene Verfahrensabschnitte: Im ersten Teil, dem sog. ersten oder vorbereitenden Verfahren, wurde der Sach- und Streitstand zwischen den Parteien erörtert und am Ende stand entweder ein Endurteil oder ein Beweisinterlokut.386 Diesem ersten Verfahren schloss sich die Beweisaufnahme als eigener Abschnitt des Prozesses an.387 380 Vgl. ausführlich Schöll, Codex Juris Bavarici Judiciarii, S. 4 ff. und zusammenfassend S. 290. 381 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 465 f. 382 So etwa Nörr, Naturrecht, S. 24 mwN; ähnlich Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 327 ff. 383 Vgl. Engelmann, der Zivilprozess II, 3, S. 204 ff.; Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 466 ff. 384 Zu diesen Veränderungen Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 468 f. 385 Vgl. Conrad, deutsche Rechtsgeschichte II, S. 456 ff.; zum Einfluss des französischen Zivilprozessrechts auf den gemeinen Prozess siehe etwa Stürner, FS-Söllner, S. 1171, 1180 ff. mwN. 386 Ausführlich Planck, Beweisurteil, S. 222 ff.; vgl. auch Endemann, Zivilprozessrecht, S. 669 ff. 387 Vgl. etwa Planck, Beweisurteil, S. 228 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 301 ff.
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Dieser erste Abschnitt begann mit der Einreichung einer Klage bei Gericht durch den Kläger.388 Es folgte eine erste Schlüssigkeitsprüfung dieser Klage, gegebenenfalls mit der gerichtlichen Aufforderung zur Behebung prozessualer Mängel.389 Eine ordnungsgemäße Klageschrift wurde sodann an den Beklagten weitergeleitet und derselbe zu einer Stellungnahme aufgefordert.390 Im Falle eines Anerkenntnisses erfolgte unmittelbar ein Anerkenntnisurteil.391 Bei Bestreiten des Anspruches mussten die Einlassungen des Beklagten aufgrund der strengen Eventualmaxime zugleich sämtliche Einreden und sonstigen Verteidigungsmittel enthalten, die der Beklagte vorzubringen hatte.392 Diese Klageerwiderung unterlag gleichfalls einer richterlichen Schlüssigkeitsprüfung, bevor dem Kläger die Gelegenheit zu einer Replik auf die Einlassungen des Beklagten gegeben wurde.393 Es folgte eine Duplik des Beklagten sowie die Möglichkeit weitere Einlassungen der Parteien – je nach Komplexität des Streitstoffes.394 In der Regel genügten Replik und Duplik zur hinreichenden Erörterung der Sach- und Rechtslage, so dass durch richterliche Anordnung die Akten geschlossen und ein Urteil gesprochen wurde.395 Sofern die Klage unzulässig oder der tatsächliche Sachverhalt unstreitig war, konnte ein Endurteil ergehen. Im Übrigen sprach das Gericht ein Beweisurteil aus.396 Der gemeine Prozess folgte der Verhandlungsmaxime.397 Zudem war eine sehr weitgehende Schriftlichkeit bestimmend für diesen Prozess, woraus zugleich seine Nichtöffentlichkeit resultierte.398 Prägend war zudem die strenge Eventualmaxime,
v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 250 f.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 614 f., der für Bagatellprozesse zudem auf die Möglichkeit einer Ladung des Beklagten vor Gericht durch den Kläger und Überreichung der Klageschrift unmittelbar im Prozess hinweist. 389 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 633 ff.; ebenso v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 259 ff. 390 Vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 259 f.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 635 f. 391 Eingehend zu Voraussetzungen und Wirkung eines Anerkenntnisses Endemann, Zivilprozessrecht, S. 387 ff. 392 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 658 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 264 ff. 393 Vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 277 ff. zu Prüfungsumfang des Richters und Inhalt der Replik. 394 Vgl. zu Prüfung und Inhalt der Dublik v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 282 f.; eine weitere Erörterung des Sachverhaltes stand im richterlichen Ermessen, vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 668 mwN. 395 Vgl. zum Aktenschluss v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 283 ff.; Martin, Gemeiner Prozess, S. 308 ff. 396 Zu den Urteilsarten Endemann, Zivilprozessrecht, S. 669 ff.; vgl. auch Martin, Gemeiner Prozess, S. 311 ff. 397 So etwa Martin, Gemeiner Prozess, S. 30 f.; ebenso Endemann, Zivilprozessrecht, S. 364 ff.; kritisch gegenüber der Geltung der Verhandlungsmaxime Bomsdorf, Prozessmaximen, S. 62 ff. 398 Zu diesen Grundsätzen und ihrem Zusammenhang Endemann, Zivilprozessrecht, S. 355 ff.; Linde, Zivilprozessrecht, S. 193 f. spricht indes von „schriftlichen Öffentlichkeit“ durch öffentliche Einsichtnahmemöglichkeit in die Akten. 388 Vgl.
58 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts obgleich versucht wurde, zumindest den Grundsatz rechtlichen Gehörs einzuhalten.399
3. Beweisrecht a) Grundlagen des Beweisurteils und des Beweisverfahrens Das Beweisverfahren ließ sich seinerseits in drei verschiedene Abschnitte unterteilen. Den Beginn bildete das Beweisantretungsverfahren, in dessen Rahmen das Beweisthema konkretisiert und die Beweismittel für den Haupt- und Gegenbeweis benannt wurden.400 Dieser Beweisantretung schloss sich das Produktionsverfahren an, in dessen Rahmen die Beweismittel sowie etwaige Einwendungen gegen dieselben eingeführt wurden.401 Dabei entschied das Gericht zunächst über die Einwendungen (Produktionsverfahren im weiteren Sinne), so dass im Anschluss lediglich diejenigen Beweismittel eingeführt wurden, die hiernach noch zulässig waren (Produktionsverfahren im engeren Sinne).402 Im anschließenden Hauptverfahren verhandelten die Parteien über das Ergebnis dieser Beweisaufnahme.403 Den Abschluss bildete das richterliche Urteil über die Ergebnisse der Beweisaufnahme.404 Das Ziel des Beweisverfahrens im gemeinen Prozess war die Überzeugung des Gerichts von vom wahren Sachverhalt und der Gegenstand des Beweises mithin Tatsachen.405 Indes begrenzten Verhandlungsmaxime wie auch Prozessökonomie das Beweisverfahrens dahingehend, dass lediglich streitige und zugleich entscheidungserhebliche Tatsachen zulässiger Gegenstand desselben waren.406 Daher wurde in der Regel eher vom Beweisziel der formellen Wahrheit gesprochen.407 Der Abschnitt des Beweisverfahrens folgte grundsätzlich den Maximen des vorbereitenden Verfahrens. Es handelte sich um einen schriftlichen, nichtöffentlichen Prozess, der durch die Verhandlungs- und Eventualmaxime geprägt wurde und in diesen Grenzen das rechtliche Gehör der Parteien sicherzustellen suchte.408 Außerdem 399 Zur Eventualmaxime vgl. etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 588 ff.; zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs im gemeinen Prozess siehe Martin, Gemeiner Prozess, S. 31 f. 400 Vgl. Martin, Gemeiner Prozess, S. 340 f.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 834 ff. 401 Siehe Martin, Gemeiner Prozess, S. 341; diese Abschnitte explizit unterteilend v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 318 f. 402 Vgl. Martin, Gemeiner Prozess, S. 340; inhaltlich ebenso v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 318 ff. 403 Siehe Martin, Gemeiner Prozess, S. 341 f.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 320. 404 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 838; Martin, Gemeiner Prozess, S. 342. 405 Vgl. dazu Endemann, Zivilprozessrecht, S. 672 ff.; Martin, Gemeiner Prozess, S. 297 f. 406 Vgl. zu diesen Anforderungen etwa Endemann, S. 674 ff.; zu den Instituten der Notorietät und der Rechtsvermutungen, die einen Beweis überflüssig machen sollten vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 321 ff. 407 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 672 ff. und S. 690; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 296 f. 408 Ausführlich zu den Maximen des Beweisverfahrens Endemann, gemeiner Prozess, S. 822 ff.
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wurde das Recht der Parteien zur Führung des Haupt- wie auch des Gegenbeweises betont.409 b) Beweismittel und Beweiswürdigung Der gemeine Prozess kannte die Beweismittel des Zeugen, Sachverständigen, Augenscheins, der Urkunden und des Parteieids.410 Die Beweiswürdigung erfolgte ähnlich dem römisch-kanonischen Prozess mittels festgelegter gesetzlicher Beweisregeln iSe legalen Beweistheorie.411 Es wurde durch zahlreiche Beweisregeln festgelegt, unter welchen Voraussetzungen ein Beweis formal korrekt erbracht worden war.412 Darüber hinaus wurde den Beweismitteln im Verhältnis zueinander für eine Vielzahl von Fällen jeweils eine bestimmte Wertigkeit gegeben. Diese Gewichtung war erforderlich, um Fälle zu lösen, in denen Beweis und Gegenbeweis jeweils formal korrekt erbracht wurden und mithin ein sich widersprechendes Beweisergebnis vorlag.413 So ging etwa der Sachverständige bei Begutachtung einer Sache allen anderen Beweismitteln vor, bei historischen Tatsachen war wiederum der Beweis durch Augenschein vorrangig und bei Widersprüchen zwischen der Aussage eines Zeugen und seiner früheren, in einer Urkunde festgehaltenen Aussage gab man der später erfolgten, aktuelleren Zeugenaussage den Vorzug.414 Der Zeugenbeweis wurde durch die Benennung der Zeugen und die Präzisierung des Beweisthemas angetreten.415 Zeugen wurden definiert als Personen, die am Prozess nicht selbst beteiligt waren und über Tatsachen aus eigener sinnlicher Wahrnehmung berichteten.416 Es herrschte eine allgemeine Zeugnispflicht.417 Allerdings kannte das gemeine Recht eine Reihe von Zeugnisverweigerungsrechten, so etwa aufgrund besonderer Näheverhältnisse (nahe Verwandte) oder bei Berufsgeheimnissen (Anwälte, Geistliche) sowie bei Gefahr der Selbstbelastung.418 Daneben übernahm der gemeine Prozess die mannigfaltigen Gründe für die Zeugnisunfähigkeit aus dem römisch-kanonischen Prozess. So die Zeugnisunfähigkeit Unmündiger, So etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 824 f.; ebenso Martin, Gemeiner Prozess, S. 342 ff. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 297 f.; etwas anders unterteilt Endemann, Zivilprozessrecht, S. 698 f. 411 Zusammenfassend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 76 ff. mwN; aus der Zeit des gemeinen Rechts siehe etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 690. 412 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 688 ff. und bei den jeweiligen Beweismitteln, S. 712 ff.; siehe auch Linde, Zivilprozessrecht, S. 297 f. und S. 329 ff. 413 Vgl. Martin, Gemeiner Prozess, S. 355 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 400 ff. 414 Diese Beispiele und eine Aufzählung weiterer Beweisregeln finden sich bei v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 400 ff.; siehe auch Martin, Gemeiner Prozess, S. 355 ff. mit einer ähnlichen Auflistung. 415 Vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 338 f.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 838 ff. 416 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 712 f.; Wetzel, System des Zivilprozesses, S. 206. 417 So etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 714 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 335. 418 Ausführlich und mit weiteren Fällen Endemann, Zivilprozessrecht, S. 716 ff. 409
410 Vgl.
60 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Ehrloser, naher Verwandter, Blinder und Tauber für die nicht sinnlich wahrnehmbaren Eindrücke und generell die Zeugnisunfähigkeit von Personen, die am Ausgang des Prozesses ein unmittelbares Interesse hatten.419 Allerdings kannte der gemeine Prozess weitere Abstufungen durch solche Personen, die lediglich „verdächtig“ waren. Diese Personen konnten als Zeugen gehört werden, ihnen kam jedoch nur ein geringer, durch das Gericht zu beurteilender Beweiswert zu.420 Als Beweisregel hatte sich der Grundsatz erhalten, dass die prozessordnungsgemäße Aussage zweier glaubwürdiger Zeugen vollen Beweis erbrachte.421 Allerdings wurden zunehmend Ausnahmen zugelassen, die einen Zeugen genügen ließen.422 Das Antreten des Sachverständigenbeweises erfolgte durch die Benennung des Gutachters und des Themas des Gutachtens.423 Der Sachverständige wurde teils als Gehilfe des Richters, teils als eigenständiges Beweismittel der Parteien betrachtet.424 Indes wurden die Regelungen über den Zeugenbeweis übereinstimmend in weitem Umfang auf den Sachverständigenbeweis angewendet.425 Der Inhalt des Gutachtens und sein Beweiswert unterlagen der freien richterlichen Würdigung.426 Der Urkundenbeweis wurde durch die Bezeichnung des Beweisthemas und die Überreichung der Urkunde bzw. die Bezeichnung der Urkunde im Falle des Urkundenbesitzes des Beweisgegners oder Dritter angetreten.427 Das gemeine Recht unterschied wiederum zwischen öffentlichen und privaten Urkunden: Öffentliche Urkunden waren alle diejenigen Urkunden, die von öffentlichen Behörden oder Beamten, die die publica fides innehatten, in dieser Eigenschaft errichtet wurden.428 Aufgrund des öffentlichen Charakters ihres Ausstellers wurde ihre Echtheit vermutet und die Urkunden erbrachten den vollen Beweis ihres Inhaltes.429 Privaturkunden wurden in der Regel negativ als alle Urkunden definiert, die keine öffentlichen Urkunden waAuflistungen finden sich bei Endemann, Zivilprozessrecht, S. 718 ff.; Linde, Zivilprozessrecht, S. 331 f.; Wetzell, System des Zivilprozesses, S. 206 ff. 420 Zu dieser Unterscheidung v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 333 ff.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 720 ff. 421 Vgl. etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 729 f.; Wetzell, System des Zivilprozesses, S. 218 f. 422 Zu diesen Ausnahmen und generell kritisch zur legalen Beweistheorie Endemann, Zivilprozessrecht, S. 730 f. 423 Siehe Endemann, Zivilprozessrecht, S. 845 ff.; Martin, Gemeiner Prozess, S. 404. 424 Für die Eigenständigkeit als Beweismittel v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 371 f.; zweifelnd dagegen Endemann, Zivilprozessrecht, S. 733 f. jeweils mwN. 425 Vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 372 f.; insoweit wiederum zustimmend Endemann, Zivilprozessrecht, S. 734 ff. 426 So insbesondere Endemann, Zivilprozessrecht, S. 735 f.; ebenso v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 372 f. 427 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 849 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 360. 428 So Endemann, Zivilprozessrecht, S. 743 ff.; ähnlich v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 349 f. 429 Zu diesen Wirkungen v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 351 ff.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 745 ff.; Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 837 ff. mit Quellennachweisen. 419 Ausführliche
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61
ren.430 Ihre Echtheit musste positiv nachweisen, wenn sie nicht durch den Beweisgegner anerkannt wurde. Dieser Beweis sollte primär durch die Vorlage liquider Beweismittel in Form von Zeugen, anderen Urkunden sowie sachverständigem Schriftenvergleich geführt werden.431 Subsidiär gab es das Institut des sog. Dessissionseides, dessen ordnungsgemäße Ableistung vollen Beweis der Echtheit der Urkunde erbrachte.432 Der Beweiswert richtete sich nach dem Inhalt der Privaturkunde: Bei einer Aussage der Gegenpartei wurde die Urkunde gleich einem gerichtlichen Geständnis behandelt, bei einer Aussage Dritter fanden die Regelungen über den Zeugenbeweis Anwendung.433 Die gegnerische Partei konnte bei öffentlichen wie auch privaten Urkunden ihre Echtheit, ihren Inhalt sowie formale Fehler der Urkunde angreifen und stets einen entsprechenden Gegenbeweis führen.434 Bei einer Urkunde im Besitz des Beweisgegners oder eines Dritter konnte die beweisführende Partei unter gewissen Voraussetzungen eine Herausgabe derselben erzwingen (sog. Editionsverfahren).435 Eine allgemeine Editionspflicht kannte das gemeine Recht nicht. Eine Urkundenedition wurde zum einen zugelassen bei einer materiellrechtlichen Berechtigung an der Urkunde. Zum anderen aus prozessualen Gründen, bei öffentlichen Urkunden im Besitz einer Behörde, zugunsten des Fiskus bzw. bei einem überwiegenden Interesse der beweisführenden Partei an der Herausgabe.436 Der Augenscheinsbeweis wurde durch einen Antrag der Parteien angetreten und war nicht allgemein als Beweismittel anerkannt. Vielmehr wurde er teilweise als Beweissurrogat betrachtet, das einen Beweis überflüssig machte.437 Die Beweisaufnahme erfolgte durch die formgemäße Augenscheinnahme der betreffenden Tatsache durch das Gericht unter Anwesenheit der Parteien und erbrachte bei Einhaltung der Förmlichkeiten vollen Beweis derselben.438 So etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 748; ähnlich v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 350. Zu den Anforderungen an die Echtheit und ihrem Nachweis Endemann, Zivilprozessrecht, S. 859 ff.; ähnlich v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 364 ff. 432 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 862 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 364 ff. geht hingegen nicht von der Subsidiarität dieses Eides aus; zur dogmatischen Einordnung vgl. auch Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 857 ff. 433 So etwa v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 352 f.; ähnlich einteilend Endemann, Zivilprozessrecht, S. 749 f. 434 Vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 859 ff. und S. 866; zu den formalen Anforderungen an eine Urkunde siehe v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 353 ff.; ausführlich auch Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 848 ff. 435 Ausführlich zu den Fällen einer Editionspflicht Endemann, Zivilprozessrecht, S. 851 ff.; ähnlich Linde, Zivilprozessrecht, S. 355 ff. jeweils mwN. 436 So Endemann, Zivilprozessrecht, S. 852 ff.; v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 355 ff.; ähnlich bereits Wetzell, System des Zivilprozesses, S. 249 f. 437 Für die Anerkennung als Beweismittel v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 370; für ein Beweissurrogat dagegen Endemann, Zivilprozessrecht, S. 704 ff. 438 Übereinstimmend v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 370 f. und Endemann, Zivilprozessrecht, S. 704 ff. 430
431
62 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Der Beweisantritt durch Parteieid erfolgte schließlich beim Schiedseid durch Antrag einer Partei und beim Erfüllungs- bzw. Reinigungseid durch gerichtliche Auferlegung.439 Eidesunfähig waren Geisteskranke und Meineidige, während bei eidesunmündigen Kindern und juristischen Personen der Schwur durch die gesetzlichen Vertreter ausgeführt wurde.440 Der Schiedseid bezog sich im gemeinen Recht ausschließlich auf Tatsachen und wurde einer Partei von der anderen Partei zugeschoben. Seine Ableistung hatte eine formal feststellende Wirkung bezüglich der beschworenen Tatsachen.441 Die Eidesleistung konnte jedoch durch das Vorbringen anderer Beweismittel für die betreffende Tatsache abgewendet werden (sog. Gewissensvertretung durch Beweis).442 Der Reinigungs- bzw. Erfüllungseid stellte ein subsidiäres Beweismittel für diejenigen Fälle dar, in denen die bisherige Beweisaufnahme mittels aller anderen verfügbaren Beweismittel zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Tatsache, indes keinen vollständigen Nachweis erbracht hatte.443 In diesem Fall wurde je nach Wahrscheinlichkeit der Tatsache und Nähe der Parteien zum Beweis entweder dem Kläger der Erfüllungseid oder dem Beklagten der Reinigungseid aufgegeben.444 Dagegen stand die vorgelagerte Frage, ob einer der Parteien ein solcher Eid auferlegt werden sollte, nicht im richterlichen Ermessen. Vielmehr hatten die Parteien ein Recht darauf, dass dieser Eid auferlegt wurde.445
V. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 1. Die Entwicklung des zivilprozessualen Beweisrechts im römischen Recht Der terminus technicus eines Rechts auf Beweis war den Römern wohl in allen Prozessformen fremd. Zudem unterlag das Beweisrecht im römischen Zivilprozess im Laufe der Zeit so starken Veränderungen, dass auch die Frage, ob der römische Zivilprozess inhaltlich einem solchen beweisrechtlichen Mindeststandard nahe kam, nicht einheitlich beantwortet werden kann.
Endemann, Zivilprozessrecht, S. 867 ff.; Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 868 ff. So etwa Endemann, Zivilprozessrecht, S. 783 ff.; Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 876 ff. 441 Zu Anforderungen und Wirkung dieses Eides vgl. Endemann, Zivilprozessrecht, S. 781 ff.; Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 870 ff.; Martin, Gemeiner Prozess, S. 409 ff. 442 Hierzu Martin, Gemeiner Prozess, S. 419 ff.; zu diesem Institut auch Endemann, Zivilprozessrecht, S. 796 ff. 443 Vgl. Bayer, Gemeiner Zivilprozess, S. 910 ff.; Endemann, Zivilprozessrecht, S. 808 ff. 444 Zu diesen Regelungen die das diesbezügliche richterliche Ermessen lenkten vgl. v. Linde, Zivilprozessrecht, S. 398 ff.; ähnlich Martin, Gemeiner Prozess, S. 353 ff. 445 So ausdrücklich Endemann, Zivilprozessrecht, S. 810; ähnlich Martin, Gemeiner Prozess, S. 353 f. 439 Vgl. 440
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a) Die Entwicklung in der Geschichte des römische Zivilprozesses Es spricht viel dafür, dass die Berechtigung der Parteien Beweismittel jeder Art vorzubringen im Legisaktionen- und auch im Formularprozess unzweifelhaft vorhanden war. Dafür lassen sich die strikte Herrschaft der Parteien über diesen Verfahrensabschnitt und die Parteiverantwortung für die Beibringung der Beweismittel anführen. Hinzu kommt der Grundsatz beiderseitigen Gehörs, der bereits in frühen Stadien gewisse Ausprägungen erfahren hat. In einem Verfahren unter strenger Geltung dieser Grundsätze wird die Berücksichtigung des Parteivorbringens vermutlich für die römischen Juristen evident gewesen sein, so dass auch eine schriftliche Niederlegung des „Selbstverständlichen“ unterbleiben konnte.446 Mithin werden die Parteien ihre Beweismittel vollumfänglich selbst präsentiert haben und Forderungen, Beweismittel zuzulassen, zumindest zum Urteilsrichter durchgedrungen sein. Weiter lassen sich auch die zahlreichen bereits bekannten Beweismittel im Legisaktionenprozess anführen. Eine solche Vielfalt der Beweismittel würde wenig Sinn ergeben, wenn ihr Einsatz und Nutzen vor Gericht ungewiss oder gar ausgeschlossen gewesen wäre. Allerdings kannte der Zivilprozess in vorklassischer und klassischer Zeit auch etliche Einschränkungen. So wurde der Ausschluss völlig ungeeigneter Beweismittel gesetzlich geregelt und auch die Beweismittel kannten Einschränkungen. Der Zeugenbeweis fand durch die umfängliche Zeugnisunfähigkeit verschiedener Personengruppen weitreichende Einschränkungen. Diese umfangreichen Bestimmungen zur Zeugnisunfähigkeit war hierbei wohl Ausdruck einer altertümlichen, zutiefst hierarchisch organisierten, römischen Gesellschaft. Zudem zeigte sich die Kehrseite der strikten Parteiherrschaft dahingehend, dass es kaum staatliche Unterstützung bei der Sicherung und Herbeischaffung von Beweismitteln gab. Eine weitere, einschneidende Beschränkung ist in den Parteieiden zu sehen, die bei ihrer Leistung das Verfahren formal entschieden und eine Beweisaufnahme ausschlossen. Eine solche, formale Prozessbeendigung lässt sich wohl nur als ein Relikt aus vorklassischer Zeit erklären, bei dem die prozessuale Rechtsfindung noch mit religiösen Elementen verbunden war.447 Die seinerzeitigen Einschränkungen bei völliger Ungeeignetheit des Beweismittels finden sich noch in heutiger Zeit im Prozessrecht.448 Die umfangreichen Regelungen der Zeugnisunfähigkeit sind in ihren Motiven mit unserem heutigen Wertekanon absolut unvereinbar und finden sich daher konsequenterweise nicht im heutigen Prozessrecht. Die Frage, inwieweit eine fehlende Editierung von Beweismitteln bei der Ladung eine Verwendung derselben im Prozess ausgeschlossen hat, ist anhand der Quellen So die Erklärung von Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 359 für die fehlende Verschriftlichung von Prozessprinzipien durch die römischen Juristen. 447 Zum Verhältnis von Prozessrecht und sakralen Elementen vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 117 f., insbesondere auch zur diesbezüglich unsicheren Quellenlage. 448 Ausführlich unten in § 6 IV. 4. 446
64 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts schwierig zu beantworten.449 Ein gänzlicher Ausschluss von Beweismitteln, die nach der Editierung aufgefunden wurden, wäre eine starke beweisrechtliche Einschränkung der Parteien. Eine solche Regelung erscheint insofern zweifelhaft, als sie im gänzlichen Widerspruch zur Vielfalt der Beweismöglichkeiten und der Freiheit der Beweiswürdigung im Prozess stehen würde. Jedenfalls ist eine solche „Präklusion“ von Beweismitteln mangels editio wohl eine Konsequenz der strikten Zweiteilung des Verfahrens und findet kein Äquivalent im heutigen Zivilprozessrecht. Insgesamt lässt sich für die vorklassische und insbesondere die klassische Zeit des Formularprozesses festhalten, dass den Parteien ein für diese Epoche sehr freies Beweisrecht zur Verfügung stand. Diese Freiheit blieb auch im klassischen Kognitionsprozesses zeitweise noch vorhanden. Veränderungen ergaben sich insbesondere bei der Verfahrensgestaltung und seinem Ablauf. Es entstand ein staatlich bereitgestellter und amtswegig betriebener Zivilprozess. Die Kontrolle über den Verfahrensablauf wurde den Parteien entzogen und in den Händen der als Richter fungierenden, kaiserlichen Beamten gebündelt. Das Beweisrecht durchlebte erst in nachklassischer Zeit tiefgreifende Veränderungen. Die Zulässigkeit von Beweismitteln wurde an strenge Voraussetzungen geknüpft und die Beweiswürdigung durch den Richter festen Regeln unterworfen. Der Urkundenbeweis wurde rechtlich privilegiert und in den Vordergrund gestellt. Die festgelegte Beweiskraft einer Urkunde band den Richter in seiner Beweiswürdigung, es verblieb lediglich die Würdigung der Echtheit einer Urkunde. Der Zeugenbeweis sank demgegenüber im Ansehen der herrschenden Kaiser und wurde qua Gesetz gegenüber anderen Beweismitteln herabgesetzt. Allein die Regelung unus testis, nul lus testis450 dürfte den Zeugenbeweis in der Rechtspraxis oftmals vollumfänglich entwertet haben. Gleiches gilt für die Mindestzahl an Zeugen, die in speziellen Fallkonstellationen gefordert wurden.451 Diese Einschränkungen und Reglementierungen des Beweisrechts machen bereits deutlich, dass in nachklassischer Zeit von einem freien Beweisrecht nur noch in sehr begrenztem Maße die Rede sein konnte.452 b) Der Einfluss des römischen Zivilprozessrechts auf die ZPO Die Frage nach dem Einfluss des römischen Zivilprozessrechts auf das heutige Beweisrecht der ZPO ist nicht leicht zu beantworten. Schwierigkeiten bereitet insbesondere die Unterschiedlichkeit des Zivilprozesses in den einzelnen Epochen des römischen Rechts. So lässt sich wohl am ehesten konstatieren, dass die heutige ZPO Vgl. die Darstellung von Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 357. Walter, freie Beweiswürdigung, S. 15 und Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 605, Fn. 60. 451 Eine Auflistung solcher Fälle spezieller Mindestzahlen von Zeugen findet sich z. B. bei Simon, Justinianischer Zivilprozess, S. 253 ff. mit entsprechenden Quellenangaben. 452 Ähnlich bezgl. der Beweiswürdigung Walter, freie Beweiswürdigung, S. 17. 449
450 Vgl.
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in Deutschland in gewissem Umfang inhaltliche Anleihen aus allen Arten des römischen Zivilprozesses enthält: Der formale Verfahrensablauf mit amtlicher Ladung und einem staatlich bestellten Richter entspricht eher dem Kognitionsprozess. Auch nach modernem Staatsverständnis hat der Staat eine funktionsfähige Justiz bereitzustellen und für einen reibungslosen Verfahrensablauf in möglichst kurzer Zeit zu sorgen. Indes weist die heutige ZPO in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung des Verfahrens mit seinen Grundsätzen und der Freiheit des Beweisrechts deutlich mehr Ähnlichkeiten mit dem klassischen Legisaktionen- und Formularprozess auf. Grundsätze, wie die Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens sowie das beiderseitige Gehör sind für den Zivilprozess nach der ZPO prägend und finden sich bereits im klassischen Legisaktionen- und Formularprozess. Gleiches gilt für den Dispositions- und Beibringungsgrundsatz als wesentliche Grundsätze der ZPO.453 Die Parteien mussten mithin die rechtserheblichen Tatsachen vortragen und beweisen, das Verfahren lag insoweit vollständig in ihrer Hand. Zudem entwickelte sich bereits sehr früh im römischen Recht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, welcher auch im heutigen Zivilprozess in § 286 I ZPO normiert ist. Insoweit lassen sich viele Grundsätze des Zivilprozesses der ZPO auf den klassischen Legis aktionen- und Formularprozess zurückführen. Allerdings erscheint es plausibel, dass auch einige heutige Beweisregeln den Kognitionsprozess zum Vorbild hatten. So findet sich in den §§ 415 ff. ZPO auch heute noch eine Unterteilung in öffentliche und private Urkunden (§§ 415, 416 ZPO). Diese Regelungen stellen eine Ausnahme iSd § 286 II ZPO vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 286 I ZPO dar.454 Bei Nachweis der Echtheit der Urkunde erbringen diese Urkunden den vollen Beweis des beurkundeten Vorganges, § 415 I ZPO, bzw. der enthaltenen Erklärung, § 416 ZPO. Die Ähnlichkeit der Einteilung, Voraussetzungen und Rechtsfolge dieser Beweisregeln spricht für eine gewisse Vorbildfunktion des Kognitionsprozesses in diesem Zusammenhang.455 Insgesamt hinterlässt der Einfluss des römischen Zivilprozesses auf die heutige ZPO ein zweigeteiltes Bild: Der formelle Verfahrensablauf orientiert sich stärker am späteren Kognitionsprozess, während die inhaltliche Ausgestaltung des heutigen Zivilprozesses mit seinen Verfahrensgrundsätzen sehr viel eher den klassischen Legis aktionen- und Formularprozess zum Vorbild hatte.456 Zum Prägung des Legisaktionen- und Formularprozesses vgl. Kaser/Hackl, Römisches Zivilprozessrecht, S. 9 f.; bzgl. der ZPO vgl. beispielsweise MüKo-Rauscher, Einleitung, Rn. 290 ff. und Rn. 306 ff. 454 Vgl. zu den Beweisregeln der ZPO Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 286 Rn. 84 ff. 455 Zur Entstehungsgeschichte der §§ 415 ff. ZPO vgl. etwa MüKo-Schreiber, ZPO II, § 415 Rn. 2 f. mwN. 456 Grundsätzlich in eine ähnliche Richtung gehend Kaser/Hackl, römisches Zivilprozessrecht, S. 6 f. 453
66 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
2. Die Entwicklung im germanischen Recht bis zum Spätmittelalter Die Herausarbeitung eines Einflusses des germanischen Rechts mit seinem formalen Beweisrecht auf das heutige Zivilprozessrecht ist gleichfalls schwierig. Viele Eigenarten des germanischen Prozessrechts lassen sich unter Verweis auf deren archaische Kultur in ihrer engen Verbindung von Recht und Religion erklären.457 Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich dieses formale Beweisverfahren seit der Frühzeit zumindest an rudimentären, typisierenden Wahrscheinlichkeitserwägungen orientiert hat.458 Außerdem hat der germanische Prozess von seiner Frühzeit bis zum späten Mittelalter eine Wandlung vollzogen. Mit dem Aufkommen einer staatlichen Gewalt wurde der Prozess – ähnlich wie im römischen Recht – der alleinigen Herrschaft der Parteien entzogen und die richterliche Gewalt gestärkt. Dennoch lässt sich nicht darüber hinwegsehen, dass bis zum späten Mittelalter ein streng formaler Prozess mit einem ebenso formalen Beweisrecht unter Einschluss mannigfaltiger Beschränkungen der Parteien in Bezug auf das Beweisrecht vorherrschte. Die Einseitigkeit der Beweisführung, der Ausschluss des Gegenbeweises, die Beschränkungen des Zeugenbeweises durch Bindung an Mindestzahlen und strenge Voraussetzungen der Zeugnisfähigkeit, der lange vorherrschende Ausschluss von Zufallszeugen, die Unanfechtbarkeit bestimmter Urkunden sind nur einige Beispiele für die Beschränkungen, die diesem formalen Beweisrecht immanent waren. Eben jenes formale Beweisrecht, wie auch der germanische Prozess insgesamt muten nach heutigen Maßstäben sehr eigentümlich an, so dass sich der Einfluss des germanischen Prozesses auf die heutige ZPO in engen Grenzen hält. Eine Ausnahme bilden in gewissem Umfang die Regelungen über die Eidesleistung. Der Eid war lange Zeit das wichtigste Beweismittel des germanischen Zivilprozesses.459 Diese zentrale Bedeutung kommt dem Eid in der heutigen ZPO keinesfalls mehr zu. Allerdings ist es auffällig, dass die §§ 478 ff. ZPO eine Nähe zu den Regelungen in der Frühzeit und im Mittelalter aufweisen. So sieht § 481 I–IV ZPO eine in ihrem Wortlaut exakt festgelegte Formel für die Eidesleistung vor, unter feierlichem Erheben der rechten Hand als Schwurhand. § 481 V ZPO trifft eine Regelung für mehrere Eidesleistungen, die inhaltlich eine Parallele zu der Entwicklung der Eideshelfer hin zu einem Eid jedes einzelnen Eidhelfers aufweist. Auch lässt sich der Ausschluss von der Eidesleistung bei erwiesenem, vorangegangenem Meineid in § 452 IV ZPO bis in die Frühzeit des germanischen Prozesses nachweisen.460 Insoweit ist bei diesem Beweismittel ein Einfluss des germanischen Rechts unverkennbar vorhanden. hierzu Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 68 ff. Meyer-Homberg, Beweis und Wahrscheinlichkeit, S. 23 ff. 459 Vgl. etwa Brunner, Rechtsgeschichte I, S. 257 ff.; Hähnchen, Rechtsgeschichte, S. 200. 460 Vgl. bereits Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 527. 457 Ausführlich 458 Vgl.
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Ebenfalls gilt es zu erwähnen, dass ab dem frühen Mittelalter die Urkunde als Beweismittel wiederentdeckt wurde. Dabei wurde – wie im heutigen Recht – zwischen der öffentlichen (Königs-) Urkunde und der etwas später aufkommenden privaten Urkunde mit Siegel unterschieden. Zudem wurde Urkunden ein festgelegter Beweiswert zugemessen, was sich indes im formalen Beweissystem des germanischen Prozesses als eine notwendige Voraussetzung darstellte. Ob dieses System der Urkunden sich nun am römischen Recht orientierte oder unabhängig davon herausbildete, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten.461 Es zeigt sich jedoch für den römischen wie auch den germanischen Prozess, dass die Unterscheidung verschiedener Arten von Urkunden und die Beimessung eines bestimmten, festgelegten Inhalts eine lange Historie aufweisen.
3. Die weitere Entwicklung bis hin zur Schaffung der ZPO Das römische Recht wurde nach dem Zerfall des römischen Reiches zunächst allein durch kirchliche Gerichte angewendet und dem römisch-kanonischen Prozess zugrunde gelegt. Im Zuge der Rezeption dieses Rechts in den norditalienischen Städten gelangte das römische Recht nach Deutschland und entwickelte sich in der Folge zum vorherrschenden Recht. Mit dem jüngsten Reichsabschied vereinigte sich diese Basis des römischen Rechts mit Elementen des germanischen Prozessrechts in Form des wissenschaftlich bearbeiteten, sächsischen Prozesses. Der hieraus entstandene gemeine Prozess bildete die Grundlage für die zahllosen Einzelkodifikationen und Modifikationen in den einzelnen deutschen Territorien. Sein Beweisrecht zeichnete sich durch eine legale Beweistheorie mit den ihr immanenten Regelungen und Beschränkungen aus. Allerdings galt der gemeine Prozess bereits in damaliger Zeit als äußert langwierig und unnötig formalistisch. Daher hat die ZPO mit vielen Regelungen und Entscheidungen dieses Prozessrechts gebrochen und ihr ganz eigenes Regelwerk gefunden. Dabei hat sich das Gerichtsverfahren der ZPO im Hinblick auf die formale Verfahrensorganisation und Leitung an einer gemeinsamen Entwicklung des römischen und germanischen Rechts orientiert: In beiden Rechtsordnungen entwickelte sich der Prozess mit Erstarken des Staates hin zu einem staatlich geleiteten und organisierten Verfahren durch das jeweilige Gericht. Zeugen und Parteien wurden gerichtlich geladen, Beweise dem Gericht gegenüber beantragt und geführt. Inhaltlich jedoch hat die ZPO den Formalismus des germanischen Beweisrechts und auch des späteren gemeinen Beweisrechts überwunden und sich für eine weitergehende Freiheit des Beweisrechts entschieden.
461 Für eine Vorbildfunktion des römischen Rechts Schröder/v. Künßberg, Rechtsgeschichte, S. 288 ff.; Brunner/v. Schwerin, Rechtsgeschichte II, S. 560 ff.; zurückhaltender Mitteis/Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 96 f.
68 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
4. Schlussfolgerungen für ein Recht auf Beweis im heutigen Zivilprozessrecht Begrifflich kannten wohl keine der untersuchten Prozessordnungen das hier interessierende, grundrechtlich fundierte Recht auf Beweis. Inhaltlich lässt sich festhalten, dass alle Prozessordnungen zumindest in Ansätzen ein Recht auf rechtliches Gehör kannten. Den privaten Streitentscheidungen der Parteien, bei denen der Staat lediglich die Rolle eines Schiedsrichters innehatte, war das gegenseitige Gehör seit jeher immanent. Doch auch gerichtlich beherrschte Verfahren bei Erstarken der Staatsmacht behielten diesen Grundsatz in der Regel bei, um die Legitimation des Verfahrens zu erhöhen und zumindest den Anschein von Objektivität zu behalten. Der Nachweis einer historischen Fundierung einzelner Rechtsinstitute, bestimmter Ausgestaltungen oder auch Einschränkungen des Beweisrechts fällt schwer. Allein in einigen wenigen Fällen zeigen sich historische Vorläufer heutiger prozessrechtlicher Institute. So verlangt das heutige Verfahren der Eidesleistung eine feierliche, symbolische Handlung, die sich in Ansätzen bis in die germanische Zeit zurückverfolgen lässt. Insbesondere der Verlust der Eidesfähigkeit bei vorangegangener Überführung des Meineides findet sich bereits in frühester Zeit und hat in § 452 IV ZPO auch heute noch eine Entsprechung. Auch die Eventualmaxime lässt sich seit dem römisch-kanonischen Prozess als Versuch nachweisen, der vorsätzlichen Verschleppung, wie auch der generellen Schwerfälligkeit eines Prozesses entgegenzuwirken. Demgegenüber haben sich Beweismittel wie etwa der Zeugenbeweis grundlegend gewandelt. Die mannigfaltigen Zeugnisunfähigkeitsgründe waren Ausdruck einer streng hierarchischen Gesellschaftsordnung, die unter Geltung des Grundgesetzes keinen Raum mehr beanspruchen könnte. Auch die lange Historie festgelegter Zeugenzahlen hat mit der Anerkennung der freien Beweiswürdigung in der ZPO ein Ende gefunden. Für den Urkundenbeweis lässt sich die Einteilung in öffentliche und private Urkunden ebenso wie ein formal festgelegter Beweiswert des Urkundenbeweises im römische und germanische Recht gleichermaßen nachweisen – unabhängig von der Frage einer etwaigen Übernahme oder eigenständigen Entwicklung dieser Regelungen. Ergiebiger als die bloße Betrachtung einzelner Rechtsinstitute erscheint ein Blick auf die „großen Linien“ des Beweisrechts. So lässt sich durchaus ein gewisses Muster in der Ausgestaltung des Beweisrechts erkennen, das sich – wie alles Recht – letztlich an gesellschaftlichen Realitäten orientiert. Je stärker sich die staatliche Macht auf Wenige oder gar einzelne Personen zentriert, desto strenger reglementiert war tendenziell auch das Beweisrecht. In der frühen republikanischen Zeit Roms hatten die Parteien die Herrschaft über das Beweisverfahren und durften in weitem Umfang darüber disponieren, über welchen tatsächlichen Sachverhalt das Gericht Recht sprechen sollte. In der Zeit des späteren Kaisertums war dieses Dispositionsrecht – ganz ähnlich dem späteren Absolutismus der Neuzeit – quasi aufgehoben
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worden. Die Frage, inwieweit die Parteien allein festlegen dürfen, welcher Sachverhalt einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegt, ist auch die Grundsatzfrage, welches Verständnis ein Staat von sich selbst hat und welches Vertrauen er seiner Bevölkerung entgegenbringt. Es passte nicht in das Bild einer absoluten Herrschaft, dass die Parteien der staatlichen Gewalt etwas vorschreiben durften. Dies galt umso mehr bei der elementaren Frage nach Recht und Gerechtigkeit, die vom Staat in Form seiner Gerichte beantwortet werden sollte. Je absoluter der Machtanspruch eines Staates war, desto geringer fiel tendenziell die Freiheit der Parteien des Zivilprozesses auch und gerade im Beweisrecht aus. Dieses Misstrauen setzte sich gleichfalls bei den Richtern als einzelnen staatlichen Entscheidungsträgern fort. Das richterliche Ermessen und seine Entscheidungsfreiheit im Zivilprozess wurden gleichsam zusammen mit der Freiheit der Parteien beschnitten und Regelungen unterworfen. Auch die Freiheit des Richters, mit seiner Würdigung im Einzelfall denjenigen tatsächlichen Sachverhalt festzustellen, der einer rechtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollte, war mit dem absoluten Machtanspruch Einzelner in einigen Epochen unvereinbar. Vielmehr sollte von Anfang an durch gesetzliche Regelungen „von Oben herab“ festgelegt sein, welches Ergebnis am Ende des Prozesses zu stehen hatte. Diese „große Linie“ eines tendenziellen Zusammenhanges zwischen dem Grad der Freiheit einer Gesellschaft insgesamt und der Ausgestaltung dieser Freiheit im zivilprozessualen Beweisrecht lässt sich als ein Ergebnis der Untersuchung der historischen Grundlagen festhalten.
§ 3
Rechtsvergleichende Betrachtung des U.S.-amerikanischen Zivilprozessrechts Nach dieser Betrachtung der historischen Entwicklung des Beweisrechts in Deutschland, soll nun ein rechtsvergleichender Blick über den Tellerrand auf andere Rechtsordnungen mit ihrer jeweiligen Ausgestaltung des Beweisrechts gewagt werden – stets im Hinblick auf die Frage nach Existenz und Ausgestaltung eines Rechts auf Beweis im Zivilprozess. Ziel dieses Rechtsvergleiches ist es, ein umfassenderes Bild über andere, existierende Ausformungen des Beweisrechtes zu erhalten und so den eigenen Horizont zu erweitern. Die Kenntnis solcher Alternativen zum eigenen, nationalen Beweisrecht erlaubt es außerdem zugleich auch einen kritischen Blick auf dasselbe zu werfen.1 Erst das Aufzeigen der funktionierenden Möglichkeit einer anderen rechtlichen Ausgestaltung gibt dem eigenen Recht einen Maßstab auf, an dem es sich messen lassen muss. Allerdings gilt es bei allem Enthusiasmus über das Auffinden von anderen Ausgestaltungen des Beweisrechts stets zu bedenken, dass die rechtlichen Regeln eines anderen Landes eng verbunden sind mit den sozialen und kulturellen Eigenheiten dieses Landes.2 Daher dient die Rechtsvergleichung weniger der unbesehenen Übernahme rechtlicher Regelungen anderer Rechtskulturen, als vielmehr dem Gedankenaustausch und der Anregung zur Schaffung ähn licher Regelungen unter Beachtung der eigenen Rechtskultur und Dogmatik.
I. Grundlagen und Methodik Dieses Ziel einer Anregung der eigenen Kreativität durch eine gänzlich andere Rechtsordnung ist insbesondere bei der Auswahl der zu vergleichenden Länder relevant. Das überwiegende Schrifttum in der Rechtsvergleichung unterteilt die Rechtsordnungen dieser Welt in verschiedene sog. Rechtskreise. Dabei werden mehrere Rechtsordnungen nach bestimmten Kriterien in eine Gruppe zusammengefasst, um die Rechtsvergleichung anhand dieser Ordnung zu vereinfachen und zu systematisieren. Problematisch und streitig bleibt indes die Auswahl dieser einzel1 Ausführlich zu den allgemeinen Zielen der Rechtsvergleichung und mit einem kritischen Blick auf die Frage nach diesen Zielen Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 12 ff. 2 Zu diesem Problem Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 10 ff.
72 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts nen Kriterien, die von der geographischen Lage über die historische Entwicklung bis hin zum Rechtsstil der einzelnen Rechtskreise reichen.3 Die Auswahl einer verwandten Rechtsordnung verringert die kulturellen und sozialen Unterschiede und vereinfacht daher die Adaption einer rechtlichen Regelung. Allerdings werden sich die zu vergleichenden Rechtsordnungen inhaltlich zumindest in weiten Teilen entsprechen und die Unterschiede eher formaler Natur sein. Für das formulierte Ziel eines Gedankenaustausches und der Anregung der eigenen Kreativität erscheint es daher am sinnvollsten, den Vergleich mit einem gänzlich anderen Rechtskreis zu suchen und nach diesem Kriterium das Vergleichsland auszusuchen. Als naheliegendes Vergleichsland in unmittelbarer Nachbarschaft könnte sich Frankreich anbieten, das allgemein zum romanischen Rechtskreis gezählt wird.4 Indes gehören Deutschland und Frankreich in gewissem Umfang bereits einer gemeinsamen Rechtsordnung an: Beide Staaten haben die EMRK unterzeichnet und sind zugleich Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so dass auch die europäische Grundrechtecharta Geltung beansprucht. Diese beiden Grundrechtskataloge enthalten prozessuale Gewährleistungen zugunsten der Parteien eines Zivilprozesses und beide Normkomplexe unterliegen einer einheitlichen Auslegung durch den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bzw. den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Bedenkt man weiter, dass zumindest die europäische Grundrechtecharta aufgrund des Vorranges des EU-Rechts die wohl stärkste Grundrechtsgewährleistung in beiden Staaten darstellt5, so erscheint ein Rechtsvergleich zwischen diesen Staaten wenig ergiebig. Daher soll sich der nachfolgende Rechtsvergleich mit dem anglo-amerikanischen Rechtskreis des common law befassen. Als Mutterrechtsordnungen dieses Rechtskreises werden gemeinhin das englische und das U.S.-amerikanische Recht angesehen.6 Diese Untersuchung konzentriert sich auf das U.S.-amerikanische Recht im Hinblick auf die Bedeutung und Verbreitung dieser Rechtsordnung in der Welt sowie die größeren kulturellen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem U.S.-amerikanischen Recht, die den besagten Gedankenaustausch anregen sollen. Innerhalb des U.S-amerikanischen Rechts stehen seinerseits 50 einzelstaatliche Zivilprozessordnungen, ebenso wie die Bundeszivilprozessordnung zur rechtsvergleichenden Wahl. Diese Untersuchung wird sich auf die Zivilprozessordnung des Bundes beschränken, mithin die Federal Rules of Civil Procedure (FRCP) und die 3 Ausführlich zu diesen Kriterien Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 62 ff., die sich letztlich für das Kriterium der Rechtsstile entscheiden, diesen Stil jedoch auch nur als Überbegriff für verschiedene weitere Kriterien ansehen. 4 So etwa Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 73 ff. mit der historischen Entwicklung dieses Rechtskreises. 5 In diesem Sinne bereits des EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1269 ff. – Costa / ENEL und EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, S. 1135 ff. – internationale Handelsgesellschaft; ausführlich zum Verhältnis der untersuchten Grundrechtsordnungen zueinander unten § 5 V. 6 Vgl. Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 133 ff. und S. 233 ff.
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Federal Rules of Evidence (FRE). Eine Bearbeitung der einzelstaatlichen Zivilprozessordnungen würde den vorliegenden Rahmen bei weitem sprengen und auch inhaltlich erscheint eine solche Konzentration gerechtfertigt: Die Bundeszivilprozess ordnung hat eine Ausstrahlungswirkung auf die Einzelstaaten, so dass sich deren Zivilprozessordnungen in den letzten Jahrzehnten den Regelungen der Bundeszivilprozessordnung immer weiter angenähert haben.7 Daher kann diese Bundeszivilprozessordnung zumindest für die vorliegende Untersuchung beispielhaft für das U.S.-amerikanische Recht insgesamt stehen. Methodisch steht am Anfang einer jeden rechtsvergleichenden Untersuchung die Festlegung einer Fragestellung, anhand derer die ausgewählten Rechtsordnungen verglichen werden sollen.8 Die Qualität eines Rechtsvergleiches steht und fällt mit der exakten Formulierung dieser Fragestellung. Insbesondere sollte diese Fragestellung keinen terminus technicus der eigenen Rechtsordnung enthalten, sondern vielmehr eine bestimmte gesellschaftliche/rechtliche Problemlage rein funktional umschreiben.9 Im Hinblick auf das Recht auf Beweis und die Frage nach seiner Existenz und Ausgestaltung sollte das U.S.-amerikanische Recht anhand folgender Fragestellungen untersucht werden: 1. Welche prozessualen Gewährleistungen kennt die U.S.-amerikanische Bundesverfassung für die Parteien des Zivilprozesses, insbesondere im Hinblick auf das Recht, ihre Beweismittel im Prozess vorzubringen? 2. Wie ist das Bundesrecht der Federal Rules of Civil Procedure und der Federal Rules of Evidence anhand dieser Gewährleistungen ausgestaltet worden? In welchem Umfang und in welchen Grenzen dürfen die Parteien nach diesen Regelungen Beweismittel aufdecken und Beweis antreten? Anhand dieser ausgewählten Fragestellung werden jeweils einzelne Landesberichte erstellt, die die Rechtslage in den zu vergleichenden Rechtsordnungen für die ausgewählte Fragestellung darstellen.10 Eine Rechtsvergleichung im strengen Sinne des Wortes erfordert im Anschluss eine detaillierte Gegenüberstellung und Abgleichung eben dieser Länderberichte.11 Die nachfolgende Untersuchung soll indes gerade der Grundlagenarbeit für die darauffolgende Bearbeitung des deutschen Rechts dienen. Ein Vergleich beider Rechtsordnungen im eigentlichen Sinne könnte daher allenfalls im Anschluss an diese Untersuchung des deutschen Rechts erfolgen. Ziel dieser zum Beweisrecht der FRE etwa Mueller/Kirk, Evidence, S. 3 ff., die davon ausgehen, dass ca. ¾ aller Einzelstaaten inzwischen das Beweisrecht des Bundes nahezu inhaltsgleich adaptiert haben. 8 So etwa Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33. 9 Vgl. wiederum Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33 ff. 10 Zur Erstellung eines Länderberichts als methodischer Schritt in einem Rechtsvergleich siehe Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 42 ff. 11 So insbesondere Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 42 ff. 7 Vgl.
74 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Untersuchung ist demgegenüber allein die Erweiterung des eigenen Horizontes für eine alternative Ausgestaltung des Beweisrechts.
II. Verfassungsrechtliche Grundlagen des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses Die ursprüngliche Bundesverfassung der USA aus dem Jahr 1776 enthielt nur wenige Grundrechte und insbesondere keinerlei prozessuale Garantien. Allerdings wurde diese Verfassung bereits im Jahr 1791 um ihre ersten 10 Zusatzartikel erweitert. Der wohl wichtigste Inhalt dieser eingefügten Zusatzartikel war der darin enthaltene Grundrechtskatalog, die sog. Bill of Rights.12 Dieser Katalog enthält einige explizite Garantien für den Strafprozess und darüber hinaus im 5. Zusatzartikel die sog. due process clause als eine Generalklausel, die allgemein einen rechtsstaatlichen Prozess garantiert. Diese Generalklausel findet sich gleichlautend auch im 14. Zusatzartikel. In diesem Artikel wird die due process clause für die Einzelstaaten der USA verbindlich erklärt (sog. Inkorporation), so dass die Bundesverfassung insoweit einheitliche prozessuale Mindeststandards sicherstellt.13 Aufgrund dieses einheitlichen Schutzniveaus konzentriert sich die nachfolgende Untersuchung auf die Bundesverfassung der USA.
1. Die due process clause des 5. und 14. Zusatzartikels der Bundesverfassung Die due process clause stellt eine verfassungsrechtliche Generalklausel für die prozessualen Garantien dar.14 Bei jeder Beschränkung des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums einer Person (Deprivation of life, liberty or property interests) hat der Betroffene hiernach das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren – ihm ist mithin due process of law zu gewähren.15 a) Das Kriterium der deprivation of life, liberty or property interests Auf Tatbestandsseite ist somit stets eine Beschränkung des Betroffenen in Leben, Freiheit oder Eigentumsrechten erforderlich: Denkbar wäre im Zivilprozess eine Beschränkung der Freiheit des Betroffenen durch die Einschränkung der MöglichVgl. zur historischen Entwicklung Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 396 f. Zur Inkorporation der due process clause des 5. Und 14. Zusatzartikels durch die Rechtsprechung vgl. Duncan v. State of La., 391 U.S. 145; zu dieser Entwicklung auch Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 461 ff. 14 Vgl. etwa Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 681 ff. mwN. 15 So der Wortlaut des 5. und 14. Zusatzartikels (Section 1) der Bundesverfassung der USA, abgedruckt bei Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 1684 und S. 1686 f. 12 13
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keit, Beweismittel im Prozess vorzubringen. Der Freiheitsbegriff der due process clause enthält nach seiner Auslegung durch die Rechtsprechung neben der körperlichen (Bewegungs-) Freiheit auch die „geistige“ Freiheit einer Person.16 Diese Freiheit unterteilt sich wiederum in solche Freiheitsrechte, die die Bundesverfassung in ihrem Text explizit nennt und diejenigen impliziten Freiheiten (sog. rights with spe cial constitutional protection), die aufgrund ihrer Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaft den expliziten Freiheiten gleichgestellt werden (sog. rights, that are fundamental to freedom in American society).17 Die impliziten Freiheitsrechte der due process clause enthalten unter anderem das Recht der Vertragsfreiheit (right to contract).18 Im Hinblick auf diese Vertragsfreiheit ließe sich argumentieren, dass eine Beschränkung des Rechts der Parteien, Beweismittel im Prozess vorzubringen, zugleich die Möglichkeit der Parteien beschränkt, ihre durch vertragliche Vereinbarung geschaffenen Rechte durchzusetzen. Die fehlende prozessuale Durchsetzbarkeit würde die materiell-rechtliche Garantie der Vertragsfreiheit in weitem Umfang entwerten, so dass man sich ein „Durchschlagen“ der materiell-rechtlichen Vertragsfreiheit auf die prozessuale Garantie der due process clause vorstellen könnte. Diese Konstruktion würde das Äquivalent zum deutschen Justizgewährungsanspruch darstellen, wird in der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung und Lehre indes – soweit ersichtlich – nicht diskutiert.19 Vielmehr werden die prozessualen Garantien der due process clause im Zivilprozess auf eine Beschränkung der Eigentumsinteressen des Betroffenen gestützt. Nach Rechtsprechung und Schrifttum stellt jede gerichtliche Entscheidung über ein vermögenswertes Recht für die von einer bejahenden oder ablehnenden Entscheidung betroffenen Person eine deprivation of property interests dar, die unter die Garantie der due process clause fällt (Fallgruppe der sog. debt actions).20 Die Diskussion in der U.S.-amerikanischen Literatur konzentriert sich hierbei auf Fälle der staatlichen 16 Vgl. insoweit Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 43 S.Ct. 625, A.L.R. 1446, 67 L.Ed. 1042; aus der Literatur Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 648 f. 17 Vgl. zum Schutzumfang der liberty interests Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 597 ff. 18 Vgl. wiederum Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 43 S.Ct. 625, A.L.R. 1446, 67 L.Ed. 1042; bestätigt in Board of Regents v. Roth, 408 U.S. 564, 572, 92 S.Ct. 2701, 33 L.Ed.2d 548. 19 Diskutiert wird allein ein Recht auf Zugang zum Gericht (right to judicial process – acess to the court) im Hinblick auf die Höhe der Gerichtsgebühren, vgl. hierzu Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 720 ff.; ein solches Recht wird vom Supreme Court jedoch grundsätzlich nicht anerkannt, allenfalls in besonderen Ausnahmesituationen staatlicher Beschränkungen, die einen bestimmten Prozess voraussetzen und keine alternative Möglichkeit der Grundrechtsausübung ermöglichen, vgl. zum Scheidungsprozess Boddie v. Connecticut, 401 U.S. 371, 91 S.Ct. 780, 28 L.Ed.2d 113. 20 Ausführlich Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 695 ff.; unter Verweis auf Sniadach v. Family Finance Corp. of Bay View 395 U.S. 337, 89 S.Ct. 1820, 23 L.Ed.2d 349, in diesem Fall stellt der Supreme Court die Betroffenheit der porperty interests bei einer Zwangsvollstreckung in Lohnforderungen fest.
76 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Zwangsvollstreckung sowie gerichtlicher Entscheidungen, die im Vorfeld des eigentlichen Prozesses mangels Substantiierung bzw. Verteidigung einer Klage stattgeben bzw. sie abweisen.21 Die gerichtliche Entscheidung im Rahmen eines Zivilprozesses wird als solche kaum diskutiert – unter Verweis auf die Argumentation, es sei ja gerade zu einem umfänglichen Prozess gekommen (sog. full trial) und daher due process of law gewährt worden.22 Indes impliziert diese Argumentation insoweit, dass der Prozess nicht bloß formal stattfinden, sondern auch inhaltlich den Anforderungen von due process of law genügen muss.23 Mithin muss jeder Zivilprozess, in dessen Rahmen über ein vermögenswertes Recht entscheiden wird (sog. commercial cases), den inhaltlichen Anforderungen der due process clause des 5. und 14. Zusatzartikels der U.S.-amerikanischen Bundesverfassung genügen. b) Der prozessuale Gewährleistungsgehalt der due process clause Nachdem nun die tatbestandlichen Voraussetzungen einer deprivation of life, liberty or property interests geklärt wurden, gilt es die Rechtsfolgen der Gewährleistungen von due process of law zugunsten des Betroffenen zu beleuchten. Die abstrakte Bestimmung des Inhalts und Umfanges der due process clause fällt jedoch schwer. Der Supreme Court vermeidet eine abstrakte Festlegung auf einen bestimmten Inhalt der due process clause und geht vielmehr von einer Bestimmung ihres Umfanges anhand des konkreten Einzelfalles aus. 24 aa) Der herrschende Ansatz eines balancing tests Als wesentlicher Kerngehalt und Grundgedanke von due process kann der Rechtsprechung des Supreme Court allerdings das Recht der Parteien auf ein faires Verfahren (fair trial) entnommen werden.25 Dieses Recht auf ein faires Verfahren unterteilt sich nach dieser Auffassung wiederum in eine Anzahl weiterer Verfahrensgarantien, die allesamt als Ausformung dieses übergeordneten fair trial Gedanken angesehen werden.26 Die bekannteste Bestimmung dieses Gewährleistungsgehaltes wurde durch den Supreme Court Richter Friendly in seinem Artikel Some Kind of Vgl. hierzu Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 695 ff. So eher beiläufig Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 672. 23 Vgl. etwa die Ausführungen zur due process clause in den Zivilprozessrechtslehrbüchern Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 176 ff.; Clermont, Civil Procedure, S. 277 ff. 24 So etwa im Fall Schweiker v. McClur, 456 U.S., 188, 200, 102 S.Ct. 1665, 72 L.Ed.2d 1 (1982); mit Verweis auf Morrissey v. Brewer, 408 U.S. 471, 481, 92 S.Ct. 2593, 2600, 33 L.Ed.2d 484 (1972) 25 Vgl. etwa In re Murchison, 349 U.S. 133, 136, 75 S.Ct. 623, 625, 99 L.Ed. 942 (1955); eine ausführliche Darstellung in der Literatur bieten Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 656 ff. 26 So etwa Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 656 ff. mwN. 21 22
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Hearing formuliert.27 Hiernach umfasst die due process clause folgende Verfahrensgarantien28: 1. An unbiased tribunal 2. Notice of the proposed action and the grounds asserted for it 3. An opportunity to present reasons why the proposed action should not be taken 4. The right to present evidence, including the right to call witnesses 5. The right to know opposing evidence 6. The right to cross-examine adverse witnesses 7. A decision based exclusively on the evidence presented 8. Opportunity to be represented by the counsel 9. Requirement that the tribunal prepare a record of the evidence presented 10. Requirement that the tribunal prepare written findings of fact and reasons for its decision Für diese Untersuchung sind insbesondere die Punkte 4 bis 10 interessant. Hiernach würde die due process clause den Parteien auch im Zivilprozess umfängliche beweisrechtliche Gewährleistungen bieten. Angefangen bei dem Recht, seine Beweismittel im Prozess einbringen zu dürfen, über das Recht auf Kenntnis der gegnerischen Beweismittel und ihrer Erwiderung, bis hin zu einer dezidierten Begründung der Beweiswürdigung im jeweiligen Fall. Diese genannten 10 Punkte werden in der Literatur – mit mancher Abwandlung – als Gewährleistungsgehalt der due process clause herangezogen.29 Der Supreme Court hatte bereits im Fall Goldberg v. Kelly etliche dieser Punkte als Garantien von due process of law verortet und auf ihre Einhaltung im Prozess bestanden.30 Ein interessanter Aspekt des Gewährleistungsgehaltes von due process of law ist eine Paralleldiskussion im Strafprozess, in dessen Rahmen auch vom Supreme Court ein right to present evidence explizit als verfassungsmäßiges Recht anerkannt wurde.31 Eine gleichlaufende Anerkennung eines solchen Rechtes im Zivilprozess hat indes nicht stattgefunden, vielmehr äußerte der Supreme Court in Übereinstimmung mit dem herrschenden Schrifttum gewisse Zweifel an einer Übertragbarkeit der diesbezüglichen Wertungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess.32 Friendly, 123 U.Pa.L.Rev., 1267, 1279 ff.; siehe auch die Auflistung bei Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 644 ff. 28 Vgl. wiederum Friendly, 123 U.Pa.L.Rev., 1267, 1279 ff. 29 Vgl. die inhaltlich ähnliche Zusammenstellung der Garantien eines fairen Verfahrens bei Nowak/Rotunda, Treatise of Constitutional Law II, S. 644 ff. 30 Siehe die Entscheidung Goldberg v. Kelly, 397 U.S. 254, 90 S.Ct.1011, 25 L.Ed.2d 287. 31 Leading Case Washington v. Texas, 388 U.S. 14, 87 S.Ct. 1920, 18 L.Ed.2d 1019; weitergeführt in Chambers v. Mississippi, 410 U.S. 284, 93 S.Ct. 1038, 35 L.Ed.2d 297. 32 In diese Richtung tendierend in United States v. Nixon, 418 U.S. 683, 712 94 S.Ct. 3090, 41 L.Ed.2d 1039 mit der Betonung, dass allein über den strafprozessualen Teil des Falles entschieden werde; für das herrschende Schrifttum siehe Westen, 73 Mich.L.Rev. 71, 133; Cohen, 13 Rutgers 27
78 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Eine weitere Einschränkung hat der Gewährleistungsgehalt von due process durch die einige Jahre später im Fall Mathews v. Eldrige entwickelte Kosten-Nutzen-Analyse erfahren, die der Supreme Court nunmehr in ständiger Rechtsprechung anwendet.33 Dabei sind drei Aspekte in diese Abwägung mit einzustellen: 1. The private interest that will be affected by the official action 2. The risk of an erroneous deprivation of such interest through the procedures used, and the probative value, if any, of additional procedural safeguards 3. The governments interest, including the fiscal and administrative burdens that the additional or substitute procedures would entail Mithin geht der Supreme Court davon aus, dass die due process clause gerade nicht die Einhaltung jeder Einzelnen der oben genannten Verfahrensgarantien in jedem einzelnen Fall erfordert. Vielmehr richtet sich der Umfang nach einer Abwägung im konkreten Fall.34 Dabei gilt es zu bedenken, dass auch die monetären Kosten der Verwaltung bzw. der Justiz in die Abwägung einzustellen sind, so dass es sich letztlich um eine Kosten-Nutzen-Analyse handelt.35 Es ist gerade dieser monetäre Aspekt, der in der Literatur Kritik hervorruft. So wird betont, dass die prozessualen Garantien der Verfassung einen Wert für sich darstellen, der gerade nicht durch eine rein utilitaristische Kostenrechnung unterlaufen werden dürfe.36 Ungeachtet dieser Kritik betont der Supreme Court in ständiger Rechtsprechung die Geltung dieser Kosten-Nutzen-Analyse und stellt durch die in den USA geltende doctrine of stare decises37 die einheitliche Anwendung dieses balancing tests für alle Gerichte sicher.38 Die Einzelfallbezogenheit dieses balancing tests erschwert auch im Rahmen dieser Untersuchung abstrakte Aussagen über seine praktische Handhabung durch den Supreme Court. Tendenziell verlangt das Gericht zur Wahrung von due process zumindest die Kenntnisgabe, dass ein Prozess anhängig ist (resonable notice) und die Gewährung rechtlichen Gehörs (opportunity to be heard) im Vorfeld der Entscheidung.39 Diese Anhörung im Vorfeld einer Entscheidung ist grundsätzlich eher L.J. 361, 369; ausführlich auch Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 8 ff. mit der Darstellung gegenläufiger Tendenzen anderer Entscheidungen. 33 Leading Case Mathew v. Eldrige, 424 U.S. 319, 96 S.Ct. 893, 47 L.Ed.2d 18. 34 Kritisch zu dieser Abwägung im Hinblick auf die Rechtssicherheit- und Vorhersehbarkeit auch Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 692 ff.; eine ausführliche, kritische Analyse bietet auch Mashaw, 44 U.Chi.L.Rev. (1976), S. 28 ff. 35 Vgl. hierzu Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 663 f. zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Weber, Einführung, S. 229 ff. 36 Eine kritische Analyse diesen balancing test liefert bereits Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 323 ff. mwN. 37 Zu diesem Grundprinzip des common law vgl. die Darstellung bei Blumenwitz, Einführung, S. 25 ff. mwN. 38 So etwa Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 663. 39 Vgl. zum Erfordernis der notice Mullane v. Central Hanover Bank & Trust Co., 339 U.S. 306, 314, 70 C.St. 652, 94l.Ed. 865. Die grundsätzliche Notwendigkeit einer vorherigen Anhörung wird
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auf Entscheidungen der Exekutive im Verwaltungsverfahren gemünzt. Indes wird die Geltung dieser Standards für alle Prozessarten – auch und gerade im Hinblick auf den offenen Wortlaut der due process clause – betont, so dass die Gewährung einer opportunity to be heard auch im Zivilprozess eine Mindestanforderung von due process of law darstellt.40 Weiter gilt es die Ausnahmen vom Erfordernis der Gewährung von due process of law in den Fällen einer gerichtlichen Entscheidung über vermögenswerte Rechte zu beachten: Zum einen haben die Parteien die Möglichkeit, durch vertragliche Vereinbarung auf ihre prozessualen Garantien von due process of law zu verzichten.41 Allerdings hat der Supreme Court bislang lediglich in einen Fall einen solchen Verzicht anerkannt, in dem die Parteien nachweislich über diesen Verzicht ausdrücklich verhandelt und sich vertraglich auf denselben verständigten hatten.42 Die exakten Kriterien sind jedoch nicht weiter konkretisiert worden. In der Literatur wird für eine Übernahme der Verzichts-Kriterien aus dem Strafprozess (sog. knowing and intelligent waiver) plädiert.43 Zum anderen ist eine Ausnahme in Form einer sog. emergency limitation of due process rights anerkannt.44 Hierbei handelt es sich jedoch insbesondere um Fälle der Sicherstellung von Gegenständen im Rahmen der Zwangsvollstreckung, um eine Vereitelung der Vollstreckung durch den Schuldner zu verhindern.45 bb) Anerkennung eines right to present evidence durch Teile der Instanzgerichte Ein anderer Ansatz in der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung und Literatur geht von einem expliziten right to present evidence als Kerngehalt von due process of law aus. Postuliert wurde die Existenz eines solchen Rechtes insbesondere durch einen Artikel von Imwinkelried.46 Diese Ansicht geht von einer Vergleichbarkeit von etwa in Connecticut v. Doehr, 501 U.S. 1, 111 S.Ct. 2105, 115 L.Ed. 1 betont; ausnahmsweise soll jedoch auch eine nachträgliche Anhörung genügen, so etwa in Mitchell v. W.T. Grant Co. 416 U.S. 600, 94 S.Ct. 1895, 40 L.Ed.2d 406; vgl. insoweit auch Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 686 ff. mwN aus der Rechtsprechung. 40 Vgl. insoweit Friedenthal/Miller/Kane, Civil Procedure, S. 184 ff.; Clermont, Civil Proce dure, S. 278 ff.; ausführlich und für eine Ausweitung der verfassungsrechtlichen Garantien des Zivilprozesses auch die Analyse von Leubsdorf, 63 Tex.L.Rev. 579 ff. 41 Vgl. Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 698 mwN aus der Rechtsprechung. 42 Entschieden im Fall D.H. Overmeyer Co. v. Frick Co., 405 U.S. 174, 92 S.Ct. 775, 42 L. Ed.2d 751. 43 Vgl. zu dieser Forderung Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 717. 44 Dabei wird insbesondere die Entscheidung Calero-Toledo v. Pearson Yacht Leasing Co. 416 U.S. 663, 94 S.Ct. 2080, 40 L.Ed.2d 452 zitiert und als Extremfall kritisiert; vgl. zur Kritik Nowak/ Rotunda, Constitutional Law, S. 717 f. 45 Ausführlich zur emergency limitation of due process Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 717 ff. mwN. 46 Ausführlich Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1 ff. mwN aus Rechtsprechung und Lehre; siehe
80 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Straf- und Zivilprozess aus und damit zugleich von einer Geltung des strafprozessualen right to present evidence im Zivilprozess.47 Weiter wird mit der Bedeutung eines solchen Rechtes für das adversary-system argumentiert und die Wichtigkeit einer Partizipationsmöglichkeit des Einzelnen in jeder Art von Prozess betont.48 Abschließend wird der rechtspolitische Nutzen eines solchen Rechtes auf Beweis als Initialzündung für eine Liberalisierung des U.S.-amerikanischen Beweisrechtes und insbesondere der Beweisregeln hervorgehoben.49 Allerdings geht auch diese Auffassung davon aus, dass der Umfang eines solchen Rechtes einer Abwägung unterliegt. Dabei sollen the Partyʼs Need for the Evidence und the Governmental Interests sup porting the Exclusionary Rules of Evidence als Kriterien gegeneinander abgewogen werden.50 Mithin unterliegt auch das nach dieser Ansicht postulierte Recht auf Beweis einer Abwägung im Einzelfall, zumal diese Auffassung anerkennt, dass im Rahmen des Strafprozesses ein strengerer Maßstab zu gelten hat.51 Der Unterschied zum herrschenden Ansatz ist in der expliziten Anerkennung des verfassungsmäßigen Rechts auf Beweis unabhängig vom konkreten Einzelfall zu sehen. Hiernach existiert ein solches Recht der Parteien, so dass jede Beweisregel, die die Einbringung von Beweismitteln durch die Parteien beschränkt, sich an diesem Recht messen lassen muss.52 Somit unterscheiden sich die beiden Ansichten mehr in ihrem Ausgangspunkt, als in ihrem konkreten Ergebnis: Während der Supreme Court den Gewährleistungsgehalt von due process in einer Abwägung im Einzelfall mit einzelnen Anforderungen auflädt, die zusammengenommen als Recht auf Beweis angesehen werden können, erkennt die gegenteilige Auffassung ein solches Recht auf Beweis im Grundsatz an, lässt aber im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung wiederum Einschränkungen dieses Rechtes durch andere, übergeordnete Rechte zu. auch Holman v. Cayce, 873 F.2d 944, 27 Fed. R. Evid. Serv. 999; Suarez v. United States, 582 F.2d 1007, 42 A.F.T.R.2d 78-6164, 78-2 USTC P 16, 304; in diese Richtung tendierend auch Mueller/ Kirk, Evidence, S. 331 ff. 47 So Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 18 ff., der eine Unterscheidung vorschlägt, die nicht zwischen Zivil- und Strafprozess, sondern vielmehr zwischen einem adversary und einem accusa torial system verläuft. 48 Ausführlich wiederum Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 14 ff. mwN. 49 So Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 45 ff. 50 In diesem Sinne Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 24 ff. unter Berufung auf den Supreme Court in der Entscheidung Chambers v. Mississippi, 410 U.S. 284, 93 S.Ct. 1038, 35 L.Ed.2d 297, wobei es sich wie bereits dargestellt um einen strafrechtlichen Fall handelt und zudem nicht ganz klar wird, ob es sich hierbei nicht um eine Anwendung des ohnehin vom Supreme Court vertretenen balancing-test handelt. 51 Siehe Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 24, 27 ff. mwN aus der Rechtsprechung. 52 So Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 45 ff. der durch die Abwägung anhand dieses verfassungsrechtlichen Maßstabes eine Liberalisierung und Vereinfachung des U.S.-amerikanischen Beweisrechts erreichen möchte.
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81
c) Die Bedeutung der Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien im adversary system Zum Abschluss dieser Diskussion über den Gewährleistungsgehalt von due process soll noch einmal die grundsätzliche Bedeutung hervorgehoben werden, die der Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien im U.S.-amerikanischen Zivilprozess nach allgemeiner Meinung beigemessen wird. So gehen Rechtsprechung und Literatur gleichermaßen davon aus, dass die Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien zu einer bestmöglichen Aufklärung der Wahrheit führt und allein auf der Grundlage dieser materiellen Wahrheit eine gerechte Entscheidung ergehen kann.53 Dabei wird nach dem herrschenden Ansatz ein right to present evidence im Zivilprozess nicht grundsätzlich, sondern nur im Einzelfall auf die Stufe einer Verfassungsgarantie gehoben. Dennoch wird die Bedeutung dieses Rechtes der Parteien, Beweismittel im Prozess einzubringen auch durch die herrschende Meinung stets als wesentlicher Bestandteil der due process clause betont.54 Dabei wird oftmals keine klare systematische und dogmatische Verortung vorgenommen, ob man diesem Prinzip nun Verfassungsrang zuschreiben möchte, oder es eher als ein Grundprinzip des common law ansieht.55 Ungeachtet dieser dogmatischen Einordnung wird der Sachverhaltsaufklärung jedoch ein Eigenwert zugeschrieben. Sie wird bei jeder Einschränkung der Erforschung oder Einbringung von Beweismitteln aufgrund übergeordneter (Verfassungs-) Rechte als Gegengewicht in eine Abwägung eingestellt und ihre fundamentale Bedeutung betont.56 Diese Hervorhebung der Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien erscheint letztlich als logische Konsequenz des U.S.amerikanischen adversary-systems, nach dessen Grundkonzeption die Parteien in der Pflicht stehen, den Prozess voranzubringen. Die Freiheit der Parteien, den Prozess nach ihrem Willen zu gestalten und dementsprechend sämtliche Beweismittel aufzudecken und einzubringen, ist in diesem System von vornherein angelegt. Bei der weiteren Untersuchung wird dieser Eigenwert der Sachverhaltsaufklärung immer wieder eine Rolle spielen, so dass dieser Umstand und seine Hintergründe im Blick zu behalten sind.
53 Vgl. etwa die Ausführungen bei Lilly, Principles of Evidence, S. 320 ff.; ebenso Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 322 f. und S. 331 ff. allerdings mit der benannten, verfassungsrechtlichen Fundierung der Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien. 54 Ausführlich Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 14 ff.; siehe auch Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 644 f. und 55 In diese Richtung wohl Lilly, Principles of Evidence, S. 320 ff.; für eine verfassungsrechtliche Fundierung demgegenüber Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 331 ff. 56 Vgl. dazu insbesondere die jeweiligen Ausführungen zu den privileges, die eine Beweisaufnahme ausschließen, Lilly, Principles of Evidence, S. 320 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 322 f. und S. 331 ff.; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 465 ff.
82 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts
2. Die Garantien des 7. Zusatzartikels: Das Recht auf ein jury trial Eine weitere, zentrale Fragestellung des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses ist diejenige nach dem zuständigen Organ für die Würdigung der vorgebrachten Beweismittel. Der 7. Zusatzartikel garantiert den Parteien eines Zivilprozesses das Recht auf ein jury trial ab einem Streitwert von U.S. $ 2057, so dass die Frage der Beweiswürdigung eine verfassungsrechtliche Dimension erhält. Dabei gilt dieses Recht auf ein jury trial nach dem Wortlaut der Verfassung nur für solche Prozesse at common law. Indes wurde diese alte Unterscheidung zwischen Prozessen in equity und at common law mit der Einführung der Federal Rules of Civil Procedure im Jahr 1938 abgeschafft.58 Daher müssen die Gerichte durch eine historische Auslegung klären, ob ein geltend gemachter Anspruch einem früheren Prozess at common law zugeordnet werden kann, so dass die verfassungsmäßige Garantie eines jury trial eingreift.59 Dabei gilt es zu beachten, dass der Supreme Court das Recht auf ein jury trial hochhält und im Zweifel von einer Zuordnung eines Anspruches zum Bereich at common law und damit von einem Recht auf ein jury trial ausgeht.60 In der Praxis wird nur noch ein kleiner Prozentsatz aller Zivilprozesse tatsächlich durch ein jury trial entschieden.61 Allerdings wird der Beteiligung von Laien als demokratischem Element im U.S.-amerikanischen Zivilprozess weiterhin große Bedeutung beigemessen.62 Dieser Einfluss zeigt sich etwa an den Federal Rules of Evidence, die das jury trial weiterhin als den Regelprozess ansehen, so dass sich auch eine einzelrichterliche Entscheidung grundsätzlich an diesen Regelungen zu 57 Vgl. wiederum die U.S.-Verfassung bei Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 1684; diese Garantie unterliegt nach dem Supreme Court zwar nicht der Inkorporation durch den 14. Zusatzartikel, allerdings haben nahezu alle Staaten in ihren Verfassungen eine identische Garantie, vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 508 f. 58 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 520 f.; diese Zusammenführung der civil actions erfolgt durch die Rule 1 and 2 FRCP. 59 Vgl. etwa Beacon Theatres, Inc. v. Westover, 359 U.S. 500, 79 S.Ct. 948, 3 L.Ed.2d 988; ausführlich zum historical test und auch seiner Kritik, Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 524 ff. mwN. 60 Zu diesem Ergebnis kommen Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 525 ff. unter Verweis auf die neuere Rechtsprechung ab Beacon Theatres, Inc. v. Westoverm 359 U.S. 500, 79 S.Ct. 948, 3 L.Ed. 2d 988; mwN aus der Rechtsprechung und einer gewissen Einschränkung durch unterschiedliche Auffassungen innerhalb des Supreme Courts, die im Urteil Markman v. Westview Instruments, Inc. 517 U.S. 370, 388, 116 S.Ct. 1384, 134 L.Ed.2d 577 deutlich wurden. 61 So gehen Mehren/Murray, Law in the United States, S. 227 ff. davon aus, dass nur 1–2 % aller Streitfälle von einer Jury entschieden werden. Allerdings rechnen sie in diesen Anteil auch diejenigen Fälle ein, die im Vorfeld verglichen werden, mithin weder von einem Richter noch von einer Jury vor Gericht entschieden werden. 62 In diese Richtung beispielsweise Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 508 ff.; ähnlich Mehren/Murray, Law in the United States, S. 206 ff.; vgl. auch Yeazell, Civil Procedure, S. 546 f.
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orientieren hat.63 Die Bedeutung des jury trial liegt also nicht allein im verfassungsmäßigen Recht auf eine bestimmte Art der Beweiswürdigung unter zwingender Beteiligung von Laien, sondern zugleich in dem Bewusstsein des jury trial als „Regelprozess“, an dem sich das U.S.-amerikanische Beweisrecht insgesamt orientiert.
III. Aufbau und Ablauf des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses in erster Instanz Zu Beginn der Untersuchung des „einfachen“ U.S.-amerikanischen Gesetzes- und Richterrechtes erscheint es sachdienlich, sich einen kurzen Überblick über den idealtypischen Ablauf eines Zivilprozesses in den USA zu verschaffen.64 Am Anfang eines jeden Zivilprozesses in den USA steht nach Rule 3 FRCP die Einreichung der Klage bei Gericht (filing of the complaint). Das Gericht erstellt eine Ladung (summons), die zusammen mit einer Kopie der Klageschrift dem Beklagten zugestellt werden muss. Für die Zustellung der Ladung, wie auch der Klageschrift gilt nach Rule 4 (c) FRCP grundsätzlich der Parteibetrieb. Die Klageschrift enthält lediglich eine kurze Beschreibung des Sachverhaltes sowie die Klageforderung und soll allein der Benachrichtigung des Beklagten dahingehend dienen, dass überhaupt ein Gerichtsprozess gegen ihn beginnt und mit welchen Ansprüchen er konfrontiert sein wird (sog. notice pleading). Es folgt eine Klageerwiderung seitens des Beklagten innerhalb einer bestimmten Einlassungsfrist. Dabei soll der Beklagte nach Rule 8 ff. FRCP alle Einwendungen gegen die erhobene Klage vorbringen und hat zugleich seinerseits die Möglichkeit gegen den Kläger etwaige Ansprüche geltend zu machen.65 Auf die Phase der pleadings folgt die – dem deutschen Recht insoweit unbekannte – Phase der discovery. Die discovery ist dem eigentlichen Prozess vorgelagert (sog. pretrial discovery). Sie dient insbesondere der Festlegung der streitigen Tatsachen und der Aufdeckung von Beweismitteln für den anschließenden Gerichtsprozess und läuft nach ihrem Idealbild allein zwischen den Parteien ohne Einschaltung des Gerichtes ab.66 Im Anschluss an diese pretrial Phasen kommt es erstmals zu einer intensiveren Einschaltung des Gerichtes. Zunächst können die Parteien im Hinblick auf die Ergebnisse der discovery einen Antrag auf eine gerichtliche Entschei63 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 507 ff., die allerdings zugleich festhalten, dass die Zahl der Zivilprozesse ohne jury Beteiligung in der Praxis überwiegt; siehe auch den Aufbau eines typischen Prozesses bei Lilly, Evidence, S. 6 f. 64 Ein kurzer, deutschsprachiger Überblick findet sich bei Schack, Einführung, S. 36 ff.; eine ausführlichere Beschreibung bietet Böhm, amerikanisches ZPR, S. 152 ff. und S. 257 ff. 65 Zur Phase des pleadings vgl. etwa Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 251 ff.; Cler mont, Civil Procedure, S. 37 ff. 66 Zur discovery Phase vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 396 ff.; Clermont, Civil Procedure, S. 57 ff.; Yeazell, Civil Procedure, S. 407 ff.
84 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts dung im Vorfeld der eigentlichen Hauptverhandlung nach Rule 56 FRCP stellen (sog. summary judgement). Eine solche stattgebende bzw. abweisende Entscheidung basiert darauf, dass die discovery keine hinreichenden Beweismittel zum Nachweis des Klaganspruches bzw. der Verteidigung gegen denselben erbracht hat und ein Richter bzw. eine jury daher im Prozess vernünftigerweise nicht anders entscheiden könnte, als dies nun in Form eines summary judgement beantragt wird.67 Falls keine derartige Entscheidung ergeht, kommt es zum eigentlichen Hauptverfahren (trial). Bei einem Prozess mit Laienbeteiligung (jury trial) gilt es zunächst, diese jury ordnungsgemäß zusammenzustellen.68 Dieser Verfahrensschritt entfällt natürlich bei einer reinen richterlichen Entscheidung (bench trial). Als Regelprozess ist in den Federal Rules of Evidence indes weiterhin ein jury trial vorgesehen.69 Das jury trial beginnt mit einem jeweiligen Eröffnungsplädoyer von Kläger und Beklagtem. Es folgt eine Darstellung aller Beweismittel von Seiten des Klägers, bevor sich die spiegelbildliche Darstellung des Beklagten anschließt. Beide Parteien haben zudem jeweils Gelegenheit, auf die Beweismittel der gegnerischen Partei zu antworten. Zum Abschluss des Gerichtsprozesses halten die Parteien jeweils ein Schlussplädoyer, bevor die jury durch den Richter instruiert wird und ihre Entscheidung über die Tatsachenseite des Falles (verdict) fällt. Auf Basis dieses verdicts der jury ergeht schlussendlich die richterliche Entscheidung über die Klage.70 Diese Entscheidung setzten den – erstinstanzlichen71 – Endpunkt eines Zivilprozesses in den USA.
IV. Das Recht auf Beweis in der pretrial Phase nach den FRCP Die Berührungspunkte der Federal Rules of Civil Procedure mit dem Recht auf Beweis finden sich primär im Verfahrensabschnitt der pretrial discovery. Die Möglichkeit, in dieser Phase umfängliche Untersuchungen des Sachverhaltes vorzuneh67
Vgl. zu den verfahrensmäßigen und inhaltlichen Anforderungen an ein summary judgement Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 468 ff.; Clermont, Civil Procedure, S. 77 ff. jeweils mwN; eine kritische Analyse findet sich bei Miller, 78 NYU.L Rev., 982 ff. 68 Vgl. zu den Anforderungen an die Zusammenstellung und die Ablehnungsmöglichkeiten der Parteien wiederum Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 556 ff.; Yeazell, Civil Procedure, S. 571 ff. 69 Dieser Umstand zeigt sich allein anhand der zahlreichen Beweisregeln in den Federal Rules of Evidence, die auf den Schutz der jury zugeschnitten sind. Diese Regeln werden in Prozessen ohne jury Beteiligung teilweise für unanwendbar gehalten. An dieser Diskussion zeigt sich aber zugleich, dass der jury Prozess qua gesetzlicher Konzeption den „Regelprozess“ darstellen soll; vgl. zur Anwendbarkeit der Beweisregeln bei bench trials Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 194 mwN. 70 Eine systematische Darstellung der einzelnen Stufen des trial findet sich etwa bei Friedent hal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 488 ff.; Clermont, Civil Procedure, S. 86 ff. 71 Zu den Rechtsmitteln der Berufung und Revision vgl. die Ausführungen bei Friedenthal/ Kane/Miller, Civil Procedure, S. 618 ff.; Clermont, Civil Procedure, S. 117 ff.
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men und hierbei Beweismittel für den späteren Zivilprozess aufzudecken, betrifft zahlreiche Fragestellungen über Inhalt und Grenzen eines Rechtes auf Beweis im U.S.-amerikanischen Zivilprozess. Diese grundsätzlich allein zwischen den Parteien ablaufende discovery wirft insbesondere die interessante Fragestellung auf, inwieweit die gegnerische Partei Adressat von Pflichten des Rechtes auf Beweis sein kann. Daher erscheint eine Untersuchung der discovery selbst eingedenk dessen lohnenswert, dass es an einem direkten Äquivalent zu dieser Phase im deutschen Zivilprozessrecht fehlt.72
1. Grundlagen und Bedeutung der pretrial discovery Die Phase der pretrial discovery ist kein Teil des ursprünglichen U.S.-amerikanischen Zivilprozesses nach dem common law. Die discovery in ihrer heutigen Gestalt wurde erst mit dem Erlass der Federal Rules of Civil Procedure im Jahr 1938 geschaffen.73 Seit dieser Zeit hat diese Phase jedoch eine beachtliche Blüte erlebt und sich zu einem der zentralen Bestandteile des U.S.-amerikanischen Zivilprozesses entwickelt.74 Die pretrial discovery läuft grundsätzlich allein zwischen den Prozessparteien ab, ohne dass es einer Einschaltung oder auch nur Benachrichtigung des Gerichtes bedarf.75 Allerdings steht den Parteien ein subjektives Recht auf Durchführung der dis covery zu.76 Daher kann es durchaus zu einer Hinzuziehung des Gerichtes zwecks Durchsetzung dieses Rechtes kommen. Die discovery hat im U.S.-amerikanischen Zivilprozess eine sehr große Bedeutung. Diese Bedeutung zeigt sich sowohl im grundsätzlich-theoretischen Bereich durch die Rolle, die der discovery qua Gesetz zugedacht wird als auch in der praktischen Anwendung derselben. Die theoretische Bedeutung lässt sich anhand der vielfältigen Zielsetzungen ablesen, denen die disco very dienen soll: Ein wesentliches Ziel ist die Beschaffung und Erhaltung von Beweismitteln, die in einem späteren Prozess mutmaßlich nicht mehr verfügbar sind. So können etwa Zeugen befragt werden, die aufgrund Wegzuges aus dem Gerichtsbezirk im eigent-
So etwa aus deutscher Sicht Schack, Einführung, S. 44 f.; aus U.S.-amerikanischer Sicht ebenso Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 398 f.; eine ausführliche, deutschsprachige Analyse dieses Prozessabschnittes findet sich bei Junker, Discovery. 73 Vgl. zur historischen Entwicklung der discovery in England und den USA etwa Friedenthal/ Kane/Miller, Civil Procedure, S. 397 ff. mwN. 74 Vgl. allein Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 397; Hazard, 76 Texas.L.Rev. 1665 ff.; siehe auch den Fall Piper Aircraft Co. v. Reyno, 454 U.S. 235, 102 S.Ct. 252, 1982 A.M.C. 214, 70 L.Ed.2d 419, bei dem die internationale Zuständigkeit der U.S. Gerichte auf den Vorteil der Existenz der discovery gestützt wird. 75 Vgl. Clermont, Civil Procedure, S. 64 f.; Yeazell, Civil Procedure, S. 408. 76 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 399 ff.; Yeazell, Civil Procedure, S. 408. 72
86 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts lichen Prozess nicht zur Verfügung stehen würden.77 Weiterhin soll die discovery durch den gegenseitigen Informationsaustausch dazu beitragen, den Streitstoff auf diejenigen Punkte zu begrenzen, die zwischen den Parteien letztlich tatsächlich streitig sind.78 Außerdem sollen durch die umfangreichen discovery Instrumente etwaige Überraschungseffekte zulasten einer Partei vermieden werden. Insoweit wird die discovery auch als ein Garant der prozessualen Waffengleichheit angesehen. Die schwächere Partei erhält so die Möglichkeit, eine etwaige Informationsasymmetrie gegenüber der gegnerischen Partei durch eine umfangreiche Nutzung der discovery auszugleichen.79 Neben dieser Ausgleichsfunktion bietet die discovery beiden Parteien die Möglichkeit der Aufdeckung von Beweismitteln für den späteren Zivilprozess. Die discovery erlaubt es den Parteien eine sehr umfangreiche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben.80 Dieser Anreiz zur umfänglichen Nutzung der discovery soll letztlich zu einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung durch die Parteien führen, welche ihrerseits die Basis für eine gerechte Entscheidung darstellen soll.81 Schließlich soll die discovery auch die Vergleichsbereitschaft der Parteien fördern. Hintergrund ist der Gedanke, dass ein umfassend aufgeklärter Sachverhalt eine bestmögliche Einschätzung der eigenen Chancen auf einen Prozessgewinn erlaubt. Wenn der tatsächliche Sachverhalt in sehr weitem Umfang feststeht, so verbleiben grundsätzlich nur noch Unklarheiten im Bereich der rechtlichen Bewertung durch das Gericht. Aufgrund der gesetzlichen Regelungen und etwaiger Präjudizen lassen sich die Chancen und Risiken des Prozesses klar festlegen und auf dieser Grundlage valide Vergleichsverhandlungen führen.82 Die Vielfalt und auch die Wichtigkeit dieser Ziele zeigt deutlich, welche Bedeutung der discovery vom Gesetzgeber, aber auch durch Rechtsprechung und Literatur beigemessen wird. Diese Bedeutung lässt sich zudem in der Praxis durch eine Besonderheit des U.S.-amerikanischen Rechtssystems untermauern: Die Zahl derjenigen eingereichten Klagen, die bereits vor Beginn des eigentlichen Prozesses erledigt In der frühen Entwicklungsphase war dieser Aspekt das primäre Ziel der discovery, vgl. etwa Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 397 f. 78 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 398; ausführlich auch Junker, Discovery, S. 111 ff. mwN. 79 Vgl. bereits den Fall Burton v. Weyerhaeuser Timber Co., 1 F.R.D. 571, 573, in dem die Vermeidung von Überraschung als Ziel der seinerzeit neuen FRCP dargestellt wird; siehe auch Junker, Discovery, S. 112 f. mwN. 80 Vgl. Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 501, 67 S.Ct. 385, 91 L.Ed. 451; ebenso Friedenthal/ Kane/Miller, Civil Procedure, S. 398 mwN aus der Rechtsprechung; vgl. auch Junker, Discovery, S. 114 mit einer Darstellung und Nachweisen zu der Streitfrage, ob die Aufdeckung von Beweismitteln Ziel oder nur Wirkung der discovery sei. 81 Vgl. etwa die Grundsatzentscheidung Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 501 ff., insb. 507, 67 S.Ct. 385, 91 L.Ed 451. 82 Vgl. Yeazell, Civil Procedure, S. 407, der zugleich den negativen, aber ebenfalls vergleichsfördernden Punkt des hohen Zeit- und Kostenaufwandes darstellt; Clermont, Civil Procedure, S. 57; ausführlich und mit Nachweisen wiederum Junker, Discovery, S. 108 ff. 77
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werden, ist außerordentlich hoch. So gelangen – je nach Schätzung – nur 1–2 % der eingereichten Klagen tatsächlich das Stadium des Prozesses. Alle anderen Klagen werden im Vorfeld insbesondere durch Vergleiche, aber auch mittels Klagerücknahme oder summary judgements erledigt.83 Mithin erreicht die allergrößte Zahl der Fälle lediglich das Stadium der pretrial discovery, so dass die praktische Bedeutung dieser Regelungen und ihrerAuslegung bei der Untersuchung des U.S.-amerikanischen Zivilprozessrechts kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.
2. Ablauf und Stationen der discovery Zu Beginn der discovery Phase fordert Rule 26 (a) FRCP einen umfangreichen Informationsaustausch zwischen den Parteien (initial disclosure). So müssen die Namen und Identitäten von etwaig relevanten Zeugen ebenso mitgeteilt werden, wie etwaig einzubringende Urkunden und weitere Informationen, die im Verlaufe des Prozesses relevant werden könnten. Aufbauend auf diesen Informationen folgt im Anschluss die Durchführung der eigentlichen discovery durch die Parteien mithilfe der verschiedenen discovery Instrumente. Diese Sachverhaltserforschung läuft zum allergrößten Teil ohne eine Mitwirkung oder auch nur die Kenntnis des Gerichtes ab.84 Allerdings sieht Rule 16 FRCP iVm Rule 26 (f) FRCP baldmöglichst nach Beginn der discovery die Einberufung eines Treffens zwischen den Parteien und dem Gericht vor (pretrial confe rence). Dabei soll zumindest in groben Zügen der Umfang, Ablauf und Endpunkt der discovery mit dem Gericht besprochen und ein entsprechender Plan entwickelt werden, Rule 26 (f) (3) (discovery plan). In der Praxis werden solche Treffen durch die Gerichte wohl oftmals erst kurz vor Beginn des eigentlichen Prozesses abgehalten, um die Ergebnisse der discovery zu besprechen und den Streitstoff zu sichten.85 Den Abschluss der discovery Phase bildet nach Rule 26 (a) (3) FRCP die – mindestens 30 Tage vor Beginn des Prozesses durchzuführende – gegenseitige Information der Parteien über alle Beweismittel, welche sie im Prozess zu präsentieren gedenken (pretrial disclosure).
3. Umfang und Grenzen der discovery Die abstrakte Definition des Umfanges der pretrial discovery fällt schwer. Nach Rule 26 (b) FRCP wird any non privileged matter that is relevant to the party´s claim or defense der discovery unterworfen. Aus dieser Definition lässt sich zum In diese Richtung die Schätzung bei Schack, Einführung, S. 59, mit Verweis auf die Statistiken unter www.uscourts.gov/statistics.aspx. 84 Zum Ablauf der discovery vgl. Clermont, Civil Procedure, S. 64 ff.; eine aktuelle, deutschsprachige Darstellung findet sich bei Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 190 ff. 85 So Clermont, Civil Procedure, S. 74. 83
88 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts einen der enorme Umfang derjenigen Informationen ableiten, die der discovery unterfallen. Grundsätzlich darf eine Partei nahezu sämtliche Informationen der gegnerischen Partei oder Dritter erforschen.86 Zum anderen zeigt Rule 26 (b) FRCP aber auch deutlich die Grenzen der discovery auf: das Kriterium der relevance stellt sich ebenso als Grenze der discovery dar, wie die privileged matters. Eine weitere Grenze der discovery kann nach Rule 26 (c) FRCP durch die Gerichte mithilfe von Anordnungen im Einzelfall (sog. protective orders) getroffen werden. Zudem enthalten die einzelnen Regelungen der discovery Instrumente (Rule 27–36 FRCP) weitere Konkretisierungen von Umfang und Grenzen der pretrial discovery. Weitere ab strakte Grenzen werden der discovery weder in den gesetzlichen Regelungen der Federal Rules of Civil Procedure noch in der praktischen Rechtsanwendung durch die U.S.-Gerichte gezogen. Insbesondere normiert Rule 26 (b) (1) FRCP ausdrücklich, dass der Gegenstand der discovery nicht zugleich im späteren Prozess nach den Federal Rules of Evidence zulässig sein muss. Vielmehr genügt es, wenn die zu erforschenden Informationen im Rahmen der discovery zu verwertbaren Beweismitteln führen können. a) Das Kriterium der relevance in Rule 26 (b) (1) FRCP Die erste zu untersuchende Grenze der discovery ist das Kriterium der relevance. Dieses Kriterium hat im Jahr 2000 seine bislang entschiedenste Veränderung erlebt. In seiner ursprünglichen Gestalt ließ Rule 26 (b) (1) FRCP any matter relevant to the subject matter involved in the action für die Zulässigkeit einer discovery genügen. Im Jahr 2000 wurde diese Norm schließlich als Ergebnis eines sehr lang andauernden Diskussionsprozesses reformiert und erhielt ihre heutige Formulierung: any matter relevant to the claim or defense of any party.87 Mithin wurde die Reichweite der discovery durch diese Änderung – zumindest nach der gesetzlichen Grundkonzeption – deutlich verringert.88 Das Kriterium der relevance in Rule 26 (b) (1) FRCP meint den Zusammenhang zwischen der zu erforschenden Information und den nach materiellem Recht für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen.89 Ein solches Kriterium findet sich auch in den Federal Rules of Evidence in Rule 402 als Grenze der Zulässigkeit von Beweismitteln im Prozess. Allerdings gilt es zu beachten, dass Rule 26 (b) (1) die Reichweite der discovery gerade von der Zulässigkeit der Beweismittel im späteren Proetwa Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 397 ff.; zum Verhältnis von Partei und Dritten siehe auch Junker, Discovery, S. 145 ff., insbesondere S. 148 f. 87 Vgl. zum Beginn dieser Diskussion in den 70er Jahren Junker, Discovery, S. 117 ff.; zum Reformprozess siehe auch Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 400 f.; die Gesetzesmaterialen finden sich unter 192 F.R.D. 340, 388 ff. 88 So auch Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 400 f.; vgl. indes zur Intention des Gesetzgebers hinter dieser Reform die Materialien, 192 F.R.D. 340, 388 ff. 89 So Yeazell, Civil Procedure, S. 408 f. 86 Vgl.
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zess abstrahiert, so dass die Definition der relevance in Rule 401 FRE nicht unbesehen auf die relevance iSd Rule 26 (b) (1) FRCP übertragen werden kann.90 Vielmehr reicht die discovery aufgrund der Normierung, dass die zu erforschenden Informationen im späteren Prozess nicht zwingend zulässig sein müssen, deutlich weiter als die Rule 402 FRE. Nach dem Supreme Court ist eine Information nur dann nicht mehr relevant iSd Rule 26 (b) (1) FRCP, „wenn sie keinen vorstellbaren Zusammenhang mit dem konkreten Fall aufweist“.91 In dieser Leitentscheidung ermutigt der Supreme Court die unteren Gerichte zudem, dieses Kriterium weit auszulegen und eine discovery grundsätzlich über jede Information zuzulassen, die in irgendeiner Weise zu einer Streitfrage werden könnte.92 Mithin lässt sich festhalten, dass das Kriterium der relevance in Rule 26 (b) (1) FRCP im Grundsatz lediglich einen minimalen Zusammenhang zwischen zu erforschender Information und den nach dem Gesetz entscheidungserheblichen Tatsachen im Prozess verlangt. Bereits dieser Grundsatz in Rule 26 (b) (1) FRCP erlaubt eine sehr weitreichende Sachverhaltserforschung durch die Parteien. b) Die Zulässigkeit von fishing expeditions nach Rule 26 (b) (1) FRCP Hinzu kommt, dass Rule 26 (b) (1) FRCP den Gerichten die Möglichkeit gibt, von diesem Grundsatz abzuweichen und den Umfang der discovery noch einmal zu erweitern. Ein Gericht kann „aus gutem Grund“ (for good cause) eine discovery nach dem alten Zulässigkeitskriterium (any matter relevant to the subject matter involved in the action) zulassen. In der Praxis stellen die Gerichte wohl sehr geringe Anforderungen an diesen „guten Grund“. Auf Antrag der Parteien wird die Reichweite der discovery in aller Regel auf die alte Fassung der Rule 26 (b) (1) FRCP erweitert.93 Diese sehr weite Interpretation der Ausnahmeregelungen der Rule 26 (b) (1) FRCP ist speziell im Hinblick auf den Hintergrund des Reformprozesses aus dem Jahr 2000 interessant: Die Diskussion entzündete sich an der oftmals als zu weitgehend empfundenen Reichweite der discovery, insbesondere im Hinblick auf Ausforschungsbeweise (sog. fishing expeditions).94 Ausforschungsbeweise meinten in diesem Zusammenhang Beweisanträge „ins Blaue hinein“, ohne eine bereits vorhandeVgl. zu diesem Zusammenhang auch Marcus/Redish/Sherman, Civil Procedure, S. 350 f. So im Fall Oppenheimer Fund, Inc. v. Sanders, 437 U.S. 340, 351 f., 98 S.Ct. 2380, 57 L.Ed.2d 253, allerdings zur alten Fassung der Rule 26 (b) (1), wenngleich das Kriterium der rele vance im Wortlaut identisch geblieben ist; zu dieser Entscheidung auch Junker, Discovery, S. 118. 92 So explizit im Fall Oppenheimer Fund, Inc. v. Sanders, 437 U.S. 340, 351 f., 98 S.Ct. 2380, 57 L.Ed.2d 253. 93 So ausdrücklich Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 400 mwN aus der Rechtsprechung; zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommt Schack, Einführung, S. 45 in seiner Analyse. 94 Vgl. zu dieser Diskussion: Für eine Begrenzung der Discovery Rifkind, 70 F.R.D. 79, 97 insbesondere 107 ff.; ähnlich positiv gegenüber dem Reformprozess sind Lundquist/ Schechter, 64 ABA.J. 59 ff.; demgegenüber gab es auch zahlreiche kritische Stimmen gegen eine Reform, vgl. die Nachweise bei Junker, Discovery, S. 118 f. 90 91
90 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts ne Tatsachengrundlage.95 Indes war es nach den Gesetzesmaterialien nicht die Intention des Reformgesetzgebers, die Reichweite der discovery grundsätzlich zu begrenzen. Vielmehr ging es dem Gesetzgeber allein um eine aktivere Rolle der Gerichte im Rahmen der pretrial discovery.96 Diese Einbindung des Gerichtes sollte durch die Begrenzung des Umfanges derjenigen discovery geschehen, die die Parteien ohne jede Mitwirkung des Gerichtes durchführen können. Die Zulassung einer weitergehenden discovery im Einzelfall sollte demgegenüber allein den Gerichten nach dem Kriterium for good cause vorbehalten sein und die Parteien zur Einbindung der Gerichte animieren.97 In der Praxis hat diese Intention wohl ihren Niederschlag gefunden. Die weite Auslegung des Merkmales for good cause ermutigt die Parteien, Anträge auf Erweiterung der discovery zu stellen und so die Gerichte einzubinden.98 Mithin spielen die Gerichte – wie vom Gesetzgeber gewünscht – eine aktivere Rolle in der pretrial Phase. Ob dieses Mitwirkungserfordernis jedoch zumindest eine Missbrauchskontrolle von discovery Anträgen und eine Ablehnung über offensichtliche Fälle hinaus ermöglicht, erscheint fraglich.99 Vielmehr lässt sich festhalten, dass Ausforschungsbeweise im U.S.-amerikanischen Zivilprozess weiterhin eine gängige und auch vom Gesetzgeber bei Einschaltung des Gerichtes mitgetragene Praxis darstellt.100
4. Die Begrenzung der discovery durch privileges und ihre Reichweite Eine weitere Grenze der discovery stellen die Weigerungsrechte (privileges) dar. Der discovery unterliegen nach Rule 26 (b) (1) nur non privileged matters. Der Begriff der privileges lässt sich im Hinblick auf seine Voraussetzungen und Rechtsfolgen am ehesten mit den Zeugnisverweigerungsrechten im deutschen Recht vergleichen. Allerdings umfasst der mögliche Personenkreis eines solchen privilege nicht nur Zeugen, sondern auch die Parteien und etwaige Sachverständige, so dass eher von Aussageverweigerungsrechten oder nach Junker von Weigerungsrechten gesprochen werden sollte.101 Diese Weigerungsrechte ermöglichen es ihrem Inhaber 95 Eine andere Begriffsbestimmung zeigt Junker, Discovery, S. 119 f. dahingehend auf, dass fishing expeditions das Verbot der Erforschung von solchen Tatsachen war, für die die gegnerische Partei die Beweislast trägt. 96 Vgl. die Gesetzesmaterialien, in: 192 F.R.D. 340, 388 ff. 97 Vgl. wiederum die Materialien, in: 192 F.R.D. 340, 388 ff. 98 Vgl. die Analyse von Frost, 37 Ga.L.Rev. 1039, 1079 ff. mwN.; vgl. auch Rowe, 69 Tenn.L. Rev. 13, 31 ff., der davon ausgeht, dass die Gerichte bereits vor der Reform in ähnlichem Umfange involviert waren. 99 Zweifelnd auch Schack, Einführung, S. 44 f. 100 Zu einem sehr ähnlichen Ergebnis kommen auch Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 400 f. und die Analyse von Frost, 37 Ga.L.Rev. 1039 mwN. 101 Dieser Begriff findet sich mit einer Erläuterung des Hintergrundes bei Junker, Discovery, S. 124 f.
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unter gewissen Voraussetzungen eine Aussage im Rahmen der discovery oder auch im späteren Prozess zu verweigern.102 Insoweit stimmen jedoch nicht allein die Rechtsfolgen in den verschiedenen Phasen des Prozesses überein. Vielmehr normiert Rule 1101 (c) FRE, dass die Regelungen der privileges in allen Phasen eines Prozesses gleichermaßen anwendbar sind. Mithin gelten die folgenden Ausführungen über Art und Umfang der privileges in der Phase der pretrial discovery gleichermaßen für die spätere Phase des trial und die Zulässigkeit der Einbringung von Beweismitteln nach den Federal Rules of Evidence.103 a) Grundlagen und Telos der privileges Die privileges werden im U.S.-amerikanischen Zivilprozess- und Beweisrecht als eine Besonderheit angesehen. Grundsätzlich haben Beweisregeln, die die Erforschung und insbesondere die spätere Einbringung von Beweismitteln beschränken nur zwei verschiedene Legitimationsmöglichkeiten: Zum einen soll die jury vor Verwirrung, Manipulation und Irreführung geschützt werden und zum anderen soll einer Zeit- und Ressourcenverschwendung entgegengewirkt werden.104 Ersteres soll direkt der Wahrheitsfindung dienen, indem unsichere Beweismittel im jury trial abgelehnt werden. Letzteres soll einen zügigen und kostensparenden Prozess zugunsten der Parteien sicherstellen. Mithin sind beide Einschränkungsmöglichkeiten ein Stück weit dem Prozess selbst immanent.105 Die privileges fallen aus diesem Muster erkennbar heraus: Eine relevante Aussage von Zeugen, Parteien oder Sachverständigen würde grundsätzlich weder die jury verwirren noch eine Zeitverschwendung darstellen. Vielmehr wird durch privileges nach U.S.-amerikanischem Verständnis eine an sich zulässige Erkenntnisquelle verschlossen und die Wahrheitserforschung hierdurch erschwert.106 An dieser Stellte zeigt sich deutlich der Eigenwert, welcher der Wahrheitserforschung im U.S.-amerikanischen Zivilprozessrecht beigemessen wird. Nach diesem Verständnis stellt die Wahrheitserforschung einen Wert für sich dar, dessen Einschränkung rechtfertigungsbedürftig ist.107 Mithin bedürfen die privileges generell einer Legitimation 102 Vgl. etwa Branzburg v. Hayes, 408 U.S. 665, 688, 92 S.Ct. 2646, 33 L.Ed.2d 626; siehe auch die Einleitung bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 ff. 103 Vgl. etwa Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 f.; siehe auch Junker, Discovery, S. 125 mwN. 104 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 465 ff.; ebenso Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 ff. 105 In diese Richtung gehen Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 f., wenn sie davon sprechen, dass die Rules of Evidence grundsätzlich dazu dienen, die Effizienz des Prozesses (litigation effi ciency) zu steigern. 106 Vgl. zu dieser Sichtweite auf die privileges beispielsweise Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 466 ff.; ebenso Lilly, Evidence, S. 320 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 ff. 107 Deutlich in diese Richtung gehend und von einem right to every man´s evidence sprechend der Supreme Court, etwa im Fall United States v. Nixon, 418 U.S. 683, 709 ff., 94 S.Ct. 3090, 41
92 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts und aus der Abwägung zwischen der Wahrheitserforschung auf der einen Seite und den privileges auf der anderen Seite ergibt sich zugleich die Reichweite der privile ges. Als Legitimationsgrund für die Anerkennung eines privileges werden in den USA zwei verschiedene Argumentationsstränge verfolgt: In der Regel wird eine utilitaristische Argumentationsweise vorgetragen. Ein pri vilege schütze ihren Inhaber und aus diesem Schutz heraus würde ein Anreiz für eine bestimmte Verhaltensweise des Inhabers geschaffen. Diese spezifische Verhaltensweise sei in hohem Maße sozial gewünscht und für die Gesellschaft von Nutzen, so dass hieraus die utilitaristische Rechtfertigung eines diese Verhaltensweise fördernden privileges resultiere.108 Der zweite – seltener hervorgehobene – Argumentationsstrang folgt einer idealistischeren Linie: Hiernach gibt es bestimmte, besonders wichtige Menschenrechte aus der Verfassung und dem common law, die jedem Menschen zustehen. Diesen Rechten könne – je nach Abwägung im Einzelfall – aufgrund ihrer überragenden Bedeutung für Inhaber dieser Rechte schlicht ein Vorrang vor dem Interesse an einer Erforschung der Wahrheit zukommen.109 Vorherrschend ist jedoch der utilitaristische Begründungsansatz von privileges, woraus sich gewisse Konsequenzen für die Sicht von Rechtsprechung und Literatur auf diese privileges ergeben. Wenn man ein privilege nicht als Schutzinstitut eines bestimmten Rechtes ansieht, sondern allein nach seinem gesellschaftlichen Nutzen dahingehend beurteilt, dass eine bestimmte Verhaltensweise gefördert werden soll, so folgt hieraus logischerweise eine gewisse Kosten-Nutzen Analyse.110 Ein privile ge wird nur soweit gewährt, wie sein utilitaristischer Nutzen reicht, mithin der Nutzen in Form der geförderten Verhaltensweise die Kosten in Form einer Einschränkung der Wahrheitserforschung aufwiegt.111 Daher kommt der exakten Bestimmung des Telos eines privilege und insbesondere der Benennung der geförderten Verhaltensweise eine große Bedeutung zu.112 Zudem gilt es für den Bereich der privileges eine weitere Besonderheit zu bedenken. Zwar ergeben sich einige privileges unmittelbar aus der U.S.-amerikanischen Bundesverfassung. Als Grundsatz normiert Rule 501 FRE indes, dass sich die privi leges allein aus dem common law und seiner Interpretation durch die U.S.-amerikaL.Ed.2d 1039; bekräftigt im Fall University of Pennsylvania v. EEOC, 493 U.S. 182, 189, 110 S.Ct. 577, 107 L.Ed.2d 571; vgl. auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 322 f. 108 Diese Unterscheidung hebt Lilly, Evidence, S. 321 f. hervor; inhaltlich ebenso Charles/ Broun/Dix, McCormick I, S. 467 f. 109 Zur Gewichtung der beiden Argumentationsstränge vgl. wiederum Lilly, Evidence, S. 321 f. und Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 467 f.; ausführlich Louisell, 31 Tul.L.Rv. 101, 113. 110 Vgl. etwa die Ausführungen von Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 323 f. zur Anerkennung neuer privileges; ähnlich Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 467 ff., insbesondere S. 474 ff. 111 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 474. 112 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 474 ff. und die Ausführungen bei den einzelnen privileges.
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nischen Gerichte ergeben. Diese Norm ist die Konsequenz der politischen Umstrittenheit der privileges in ihrer Anzahl und Reichweite. Ursprünglich sollten 9 verschiedene privileges in die Federal Rules of Evidence eingefügt werden. Allerdings konnten sich die politischen Parteien im Kongress nicht auf einen entsprechenden Gesetzesentwurf einigen, so dass die Ausgestaltung letztlich schlicht Rechtsprechung und Literatur überlassen und der Status quo perpetuiert wurde.113 Aufgrund des Fehlens expliziter privileges in den Bundesgesetzen wird die Rechtsprechung und Literatur in diesem Bereich umso wichtiger. Gleiches gilt für die Gesetzgebung der Einzelstaaten, die in aller Regel zumindest einige privileges normiert hat. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich daher auf diejenigen privileges, die in der Rechtsprechung ebenso anerkannt wurden, wie von der Gesetzgebung der Einzelstaaten und somit als „allgemein anerkannt“ angesehen werden können.114 Eine Darstellung aller speziellen privileges, die lediglich einer oder wenige Staaten anerkannt haben, würde den Umfang der rechtsvergleichenden Untersuchung sprengen. Vielmehr werden zum Abschluss der Darstellung diejenigen privileges dargestellt, die zwar nicht allgemein akzeptiert, aber doch zumindest mehrheitsfähig unter den Einzelstaaten sind. Abschließend gilt es zu beachten, dass aufgrund der fehlenden Bundesgesetzgebung zwar eine starke Rechtszersplitterung herrscht. Indes lassen sich für die allgemein anerkannten privileges gewisse Fragestellungen formulieren, die sich bei jedem privilege aufs Neue stellen, so dass sich folgendes Schema ergibt: 1. Telos des privilege 2. Tatbestandsvoraussetzungen und Reichweite 3. Inhaberschaft und Verzicht b) Die privileges der U.S.-amerikanischen Verfassung Im ersten Schritt soll nun ein Blick auf diejenigen privileges geworfen werden, die sich unmittelbar aus der Bundesverfassung ableiten lassen. Ihre Zahl ist indes überschaubar und ihr Bezugspunkt grundsätzlich der Strafprozess. Das Verbot der Selbstbelastung (sog. privilege against self-incrimination) ergibt sich aus dem 5. Zusatzartikel. Hinzu kommt ein Weigerungsrecht bei rechtswidrig erlangten Beweismitteln (sog. privilege concerning improperly obtained evidence), dessen Ursprung im 4. Zusatzartikel gesehen wird.115
113 Vgl. zum Gesetzgebungsverfahren der Federal Rules of Evidence Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 340 ff.; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 482 ff.; ausführlich Broun, 53 Hastings.L.J. 769, 772 ff. 114 Ebenso geht Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 214 ff. vor. 115 Vgl. zur Herleitung den Fall United States v. Janis, 428 U.S. 433, 96 S.Ct. 3021, 49 L.Ed.2d 1046; ausführlich zur Entwicklung auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 904 ff.
94 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts aa) Privilege against self-incrimination Das privilege against self-incrimination findet seine Legitimation nach U.S.-amerikanischem Verständnis im Rechtsstaatsprinzip. Kein Mensch soll gezwungen sein, aktiv an seiner eigenen Verurteilung mitzuwirken. Dieses privilege löst die Zwangssituation eines Menschen, zu einer wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet zu sein, sich aber bei Einhaltung dieser Pflicht zugleich einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt zu sehen.116 Seinem Wortlaut im 5. Zusatzartikel folgend, bezieht sich dieses privilege grundsätzlich allein auf den Strafprozess. Allerdings geht der Su preme Court im Hinblick auf den Telos dieses privilege auch von seiner Anwendbarkeit im Zivilprozess aus. Sinn und Zweck sei der Schutz eines rechtsstaatlichen Grundgebotes, so dass es nicht darauf ankommen könne, ob es sich um einen Strafoder Zivilprozess handelt.117 Entscheidend sei vielmehr, dass sich diese Zwangssituation auch im Zivilprozess stellen kann.118 Tatbestandlich ist eine natürliche Person erforderlich, die sich im Falle ihrer Aussage dem realen und spürbaren Risiko (real and appreciable danger) einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde.119 Diese Person ist zugleich alleiniger Inhaber des privilege.120 Nicht anwendbar ist das privilege daher bei bereits rechtskräftig verurteilten Personen, ebenso wie bei solchen, denen Immunität vor der Verfolgung der in Rede stehenden Tat eingeräumt wurde.121 Rechtsfolge ist ein Weigerungsrecht des Inhabers, das allerdings auf die Verweigerung einer mündlichen Aussage begrenzt ist. Körperliche Untersuchungen, etwa die zwangsweise Durchführung einer Blutentnahme und -untersuchung, werden nicht von diesem privilege erfasst.122 Zudem muss dieses privilege im Bereich des Zivilprozesses explizit geltend gemacht werden, wobei der Richter insoweit eine Aufklärungspflicht hat, wenn sich aus dem Zusammenhang der bisherigen Aussage ergibt, dass sich der Aussagende eventuell selbst belasten könnte.123 Fehlt es an einer Geltendmachung, so geht auch das privilege verloren. Ein Verzicht erfordert demgegenüber eine ausdrückliche und willentliche Erklärung des Inhabers.124 Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 692 ff. mwN. Entschieden im Fall McCarthy v. Arndstein, 266 U.S. 34, 40, 45 S.Ct. 16, 69 L.Ed. 158; vgl. zur Entwicklung auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 700 ff. 118 Vgl. die Ausführungen des Supreme Court im Fall McCarthy v. Arndstein, 266 U.S. 34, 40, 45 S.Ct. 16, 69 L.Ed. 158; aus der Literatur siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 700 ff.; Lilly, Evidence, S. 352. 119 Vgl. zu diesem Erfordernis United States v. Hubbell, 530 U.S. 27, 37 f., 120 S.Ct. 2037, 147 L.Ed.2d 24; siehe auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 707 ff. 120 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 705 f. 121 Vgl. zu diesen Ausnahmen Lilly, Evidence, S. 353; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 709 ff. 122 Vgl. wiederum Lilly, Evidence, S. 353; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 709 ff. mwN. 123 Vgl. Lilly, Evidence, S. 356. 124 Der Supreme Court hat im Fall Garner v. United States, 424 U.S. 448, 653 ff. klargestellt, 116 Vgl. 117
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bb) Privilege concerning improperly obtained evidence Der Ausschluss rechtswidrig erlangter Beweismittel (privilege concerning impro perly obtained evidence) wurde ursprünglich aus dem 4. Zusatzartikels durch die Rechtsprechung entwickelt.125 Seine Legitimation findet dieses privilege durch zwei verschiedene Argumentationsstränge. Die utilitaristische Rechtfertigung des privi leges wird in einem möglichen Lerneffekt für die rechtswidrig handelnden Personen gesehen. Deren Arbeit, diese Beweismittel zusammenzutragen, wird durch die rechtswidrige Art und Weise dieses Zusammentragens, selbst zunichte gemacht.126 Die idealistischere Argumentationslinie stellt heraus, dass die Gerichte sich durch die Verwendung rechtswidrig erlangter Beweismittel selbst zum Handlanger dieser Tat machen und ihre eigene Integrität gefährden würden.127 Dieses privilege zielt primär auf den Strafprozess und etwaiges, rechtswidriges Handeln der staatlichen Ermittlungspersonen. Zwar hat der Supreme Court dieses privilege auch im Zivilprozess für anwendbar erklärt. Indes handelte es sich hierbei um Fälle, in denen der Staat selbst Partei war.128 Bei der Anwendung dieses privilege auf einen Zivilprozess zwischen zwei rein privaten Akteuren ist die Rechtsprechung deutlich zurückhaltender. Zwar wird angedeutet, dass eine Anwendung nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist.129 Indes werden so hohe Anforderungen an die Anwendbarkeit gestellt, dass dieses privilege im Zivilprozess privater Parteien faktisch keine Rolle spielt.130 Mithin ist dieses privilege auch für die vorliegende Untersuchung von geringerem Interesse und daher auf die soeben erfolgte Darstellung seines Telos zu begrenzen. c) Die anerkannten privileges qua Gesetz und nach dem common law Eine größere Bedeutung kommt im Zivilprozess denjenigen privileges zu, die sich aus den Gesetzen der Einzelstaaten sowie aus dem common law nach der Rechtsprechung ergeben. Hiernach haben folgende Vertrauensverhältnisse einen Schutz durch die Anerkennung eines entsprechenden privileges erfahren: Das Verhältnis zwischen Ehegatten (maritial privilege), zwischen einem Mandanten und seinem Andass streng zwischen dem Verlust eines privileges durch Nichtgeltendmachung und einem bewussten und willentlichen Verzicht zu unterscheiden ist. 125 Vgl. den bereits benannten Fall United States v. Janis, 428 U.S. 433, 96 S.Ct. 3021, 49 L. Ed.2d 1046. 126 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 900 ff. mwN. 127 Vgl. die Ausführungen im Fall Elkins v. United States, 364 U.S. 206, 222 f., 80 S.Ct. 1437, 4 L.Ed.2d 1669; ausführlich auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 900 ff. mwN. 128 Vgl. die Nachweise bei Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 940 ff. 129 Siehe wiederum Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 939 mwN. 130 So Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 940 f. mwN; zu den Anforderungen siehe die Fälle United States v. Janis, 428 U.S. 433, 453 f., 96 S.Ct. 3021, 49 L.Ed.2d 1046 und I.N.S. v. Lopez-Mendoza, 468 U.S. 1032, 1041 ff., 104 S.Ct. 3479, 82 L.Ed.2d 778.
96 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts walt (attorney-client privilege), zwischen Arzt bzw. Psychologen und seinem Patienten (physican-patient bzw. psychotherapist-patient privilege) und abschließend in gewissem Umfang das Regierungshandeln (governmental privilege).131 aa) Marital privilege Das marital privilege umfasst in seinem Gewährleistungsgehalt zwei Aspekte: Den Schutz vor der strafrechtlichen Belastung des anderen Ehegatten (spousal testimoni al privilege) und den Schutz der vertraulichen Kommunikation innerhalb der Ehe (marital confidence privilege).132 Ersteres erschöpft sich in seiner Geltung jedoch im Strafprozess133, so dass sich diese Untersuchung auf den Aspekt des marital con fidence privilege konzentriert. Der Telos dieses privileges unterteilt sich wiederum in zwei Argumentationslinien: Vom utilitaristischen Standpunkt aus gesehen ist die Kommunikation innerhalb der Ehe etwas sozial Gewünschtes, das durch die Garantie ihrer Privatheit gefördert wird.134 Die idealistische Sichtweise betont den Wert der Ehe als ein zentrales Institut menschlichen Zusammenlebens. Die Kommunikation zwischen den Partnern ist eine unverzichtbare Grundvoraussetzung einer jeden Ehe und daher ebenso wie das Institut der Ehe selbst zu schützen. Sich einem Partner anvertrauen zu können, gehöre zu den grundlegenden Wünschen eines Menschen.135 Der Telos dieses privi leges wird ausnahmsweise primär im idealistischen Teilbereich verortet. Tatbestandlich ist zunächst eine wirksam geschlossene Ehe erforderlich. Allerdings gilt es zu beachten, dass das privilege auch nach Ende der Ehe weiterbesteht.136 Außerdem ist eine vertrauliche Kommunikation erforderlich.137 Vertraulichkeit meint in diesem Zusammenhang, dass die Kommunikation allein zwischen den Ehegatten unter Ausschluss von Dritten stattfindet. Kinder dürfen nur anwesend sein, wenn sie noch so jung sind, dass sie den Inhalt der Unterhaltung nicht erfassen können.138 Geschützt wird die Kommunikation zwischen den Ehegatten, wobei deren genauer Umfang umstritten ist. Teilweise wird das privilege auf die direkte, etwa Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 643 ff. mwN. Vgl. zu dieser Unterscheidung Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 449 f. 133 Siehe etwa Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 450. 134 Vgl. hierzu Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 923 ff. 135 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 455 f. unter Verweis auf frühe Urteile des Supreme Court, die die Bedeutung des Institutes der Ehe herausheben; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 499 ff. und 523 ff. 136 Sei es durch Tod oder Scheidung, vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 521 ff. mwN. 137 Vgl. etwa Blau v. United States, 340 U.S. 332, 333, 71 S.Ct. 301, 95 L.Ed. 306; siehe auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 458 ff. mwN. 138 So etwa im Fall Hicks v. Hicks, 271 N.C. 204, 207, 155 S.E.2d 799; ebenso Mueller/Kirk patrick, Evidence, S. 460; ausführlich zum Merkmal der Vertraulichkeit auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 507 ff. 131 Ausführlich 132
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verbale Kommunikation der Ehegatten beschränkt.139 Demgegenüber geht die wohl h. M. davon aus, dass das privilege auch alle nonverbalen Handlungen und Verhaltensweisen vor Offenbarung schützt. Dafür wird der Telos des privilege angeführt, der primär die Bedeutung der Ehe als Institution hervorhebe und daher einen umfassenden Schutz erfordere140 An dieser Stelle zeigt sich anschaulich, dass der Telos eines privilege in der U.S.-amerikanischen Diskussion exakt herausgearbeitet wird und sodann als Argumentationslinie bei Zweifeln über die Reichweite eines privi lege dient. Geschützt ist allein die Kommunikation während der Zeit des Bestehens der Ehe.141 Unanwendbar ist das privilege, wenn die Ehegatten gegeneinander ziviloder auch strafprozessual vorgehen oder gemeinsam an einer Straftat beteiligt waren.142 Inhaber des privilege ist nach dem Supreme Court ausschließlich derjenige Ehegatte, der andernfalls zu einer Aussage verpflichtet wäre.143 Ein Verzicht kommt entweder durch ausdrückliche und willentliche Erklärung oder konkludent durch Nichtgeltendmachung des privilege in Betracht.144 bb) Attorney-client privilege Das attorney-client privilege kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und obgleich heute allgemein anerkannt, wurde dieses privilege in früheren Zeiten in den USA sehr kontrovers diskutiert.145 Diese paradox erscheinende Tatsache lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass es für dieses privilege nach herrschendem Verständnis keinen idealistischen Begründungsansatz gibt. Vielmehr ist seine Ratio eine rein utilitaristische: In einer immer komplexeren werdenden Gesellschaft sei es ein wünschenswert, wenn eine Person Rechtsrat einholt. Dieser Rat könne indes nur effektiv gewährt werden, wenn der Mandant (Client) dem Anwalt (attorney) alle relevanten Tatsachen anvertraue, was durch die Garantie der Vertraulichkeit gefördert werde.146
139 Vgl. etwa den Fall United States v. Bolzer, 556 F.2d 948, 951; siehe auch die Nachweise bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 458 f. 140 In diese Richtung Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 505 f. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 141 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 511 ff. mwN. 142 So entschieden etwa im Fall United States v. Hill, 967 F.2d 902, 911 f.; weitere Nachweise bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 460 f. 143 So entschieden im Fall Trammel v. United States, 445 U.S. 40, 53, 100 S.Ct. 906, 63 L.Ed.2d 186; vgl. aber auch die Darstellung bei Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 516 ff. mwN über abweichende einzelstaatliche Gesetzeslagen und Entscheidungen der Instanzgerichte. 144 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 517 f. mwN. 145 Vgl. zu dieser bewegten Geschichte Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 527 ff. ausführlich auch Hazard, 66 Cal.L.Rev. 1061 ff. 146 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 527 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 348 ff.; einen idealistischen Begründungsansatz versucht Fried, 85 Yale.L.J. 1060 ff.
98 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Tatbestandlich ist in sachlicher Hinsicht eine vertrauliche Kommunikation erforderlich.147 Vertraulichkeit ist zu bejahen, wenn Anwalt und Mandant in Abwesenheit von Dritten miteinander sprechen und es dem Mandanten gerade darauf ankommt, dass die Informationen geheim bleiben sollen.148 Allerdings haben die Hilfspersonen des Mandanten, wie auch des Anwaltes keinen Einfluss auf die Geltung des privilege.149 Das Merkmal der Kommunikation umfasst hierbei die – verbale und nonverbale – Kommunikation des Mandanten, wie auch des Anwaltes.150 Nicht vom privilege umfasst werden die der Kommunikation zugrunde liegenden Fakten.151 Problematisch sind Fälle, in denen einem Anwalt Beweismittel übergeben werden. Als Faustregel gilt, dass das attorney-client privilege nicht dazu führen darf, bereits existierende Beweismittel allein durch die Übergabe an den Anwalt für den Prozess auszuschließen, während die Aufdeckung neuer Beweismittel für oder durch den Anwalt geschützt sein kann.152 In persönlicher Hinsicht muss es sich um Kommunikation zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten handeln.153 Client ist eine natürliche oder juristische Person, die professionellen Rechtsrat von einem Anwalt erhält oder auch nur einen Anwalt zu diesem Zwecke kontaktiert. Das privilege findet auch dann Anwendung, wenn sich Anwalt und Mandant nach dem ersten Beratungsgespräch nicht auf eine Übernahme des Mandates einigen.154 Attorney ist jede Person, die dazu berechtigt ist, vor Gericht aufzutreten und professionelle Rechtsberatung anbietet, wobei das Verhältnis keine Vertretung vor Gericht beinhalten muss und auch die interne Rechtsberatung erfasst.155 Für die Geltung des privi lege genügt es jedoch, wenn der Klient sinnvollerweise davon ausgehen durfte, dass Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 364 ff. mwN. Vgl. etwa United States v. Noriega, 917 F.2d 1543, 1551; das Merkmal der Willensrichtung des Mandanten hervorhebend auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 368 ff. 149 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 369 f.; ebenso Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 557 ff. mwN. 150 Vgl. zum personellen Umfang des Schutzes Matter of Fischel, 557 F.2d 209; ausführlich Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 545 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 366 ff. 151 Vgl. den Fall Upjohn Co. v. United States, 449 U.S. 383, 395 f., 101 S.Ct. 667, 66 L.Ed.2d 584. 152 Zu diesem Grundsatz vgl. den Fall United States v. Robinson, 121 F.3d 971, 975 f.; in diese Richtung auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 366 f. 153 Vgl. etwa Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 347. 154 Siehe Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 352 ff. unter Verweis auf die Definition im Musterentwurf der FRE; ein Vertragsschluss ist nicht erforderlich, wie beispielsweise im Fall Westinghouse Elec. Corp. V. Kerr-McGee Corp., 580 F.2d 1311, 1317 festgestellt wird. 155 Vgl. wiederum Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 356 ff. wiederum unter Verweis auf den Musterentwurf zu den FRE; zum Erfordernis der professionellen Rechtsberatung siehe Charles/ Broun/Dix, McCormick I, S. 540 ff. mwN: hiernach muss der Anwalt in seiner beruflichen Funktion kontaktiert worden sein und diese Funktion muss schwerpunktmäßig in der Rechtsberatung liegen; zur internen Rechtsberatung vgl. den bereits benannten Fall Upjohn Co. v. United States, 449 U.S. 383, 394 ff. 147 Ausführlich 148
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es sich bei der konsultierten Person um einen Anwalt handelt, selbst wenn sie tatsächlich kein Anwalt war.156 Inhaber des privileges ist ausschließlich der Mandant. Er hat das Recht die Aussage zu verweigern und darf entscheiden, ob der Anwalt dazu berechtigt ist auszusagen.157 Der Tod des Mandanten lässt das privilege nach h. M. ebenso wenig entfallen, wie das Ende des Anwalt-Mandanten Verhältnisses.158 Ein Verzicht kommt nach Rule 502 (a) FRE grundsätzlich nur ausdrücklich und willentlich in Betracht. Darüber hinaus stellt auch die Nichtgeltendmachung einen konkludenten Verzicht des privilege dar.159 Ein Sonderfall hat in Rule 502 (b) FRE eine gesetzliche Regelung erfahren: Aufgrund der großen Informationsmengen, die im Rahmen der discovery ausgetauscht werden, kann es passieren, dass unabsichtlich und unwissentlich Informationen herausgegeben werden, die unter das attorney-client privilege fallen würden. Aufgrund der Offenlegung wäre an einen konkludenten Verzicht zu denken. Allerdings schließt Rule 502 (b) FRE in diesem Fall einen Verzicht aus, wenn die Offenlegung unabsichtlich geschah, die offenlegende Partei Vorkehrungen gegen eine versehentliche Aufdeckung solcher Informationen unternommen und versucht hat, den Fehler zu beheben sobald er bemerkt wurde. cc) Physician-patient und psychotherapist-patient privilege Ein privilege im Verhältnis zwischen Arzt und Patient war dem common law lange Zeit fremd.160 Die Anerkennung des physican-patient privilege vollzog sich vielmehr durch die Gesetzgebung der Einzelstaaten, beginnend mit dem Bundesstaat New York im Jahr 1828.161 Heute hat dieses privilege Einzug in die Gesetzgebung nahezu aller Einzelstaaten gefunden, obgleich die Bundesgerichte seiner Anerkennung weiterhin zurückhaltend gegenüberstehen.162 In teleologischer Hinsicht haben bei diesem privilege beide Argumentationsstränge Berücksichtigung gefunden: 156
Vgl. den Fall United States v. Costanzo, 625 F.2d 465, 468, cert. denied, 472 U.S. 1017. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 566 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 158 Vgl. United States v. White, 970 F.2d 328, 334 zum Fortbestehen nach dem Ende des Anwalt-Mandanten Verhältnisses und Swindler & Berlin v. United States, 524 U.S. 399, 406 ff.,118 S.Ct. 2981, 141 L.Ed.2d 379; zum Fortbestehen nach dem Tod des Mandanten; ausführlich auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 421 ff. 159 Vgl. etwa Stehen v. First National Bank, 298 F. 36; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 566 ff. mwN. 160 Vgl. etwa Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 607 ff. mwN. 161 Vgl. wiederum Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 608 mwN. 162 Vgl. zur Gesetzgebung Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 619 ff. unter Verweis auf die Musterentwürfe zum Beweisrecht (Uniform Rules of Evidence); vgl. zur Rechtsprechung den Fall Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 16 f., 116 S.Ct. 1923, 135 L.Ed.2d 337, in dem der Supreme Court ein privilege des psychotherapist ebenso anerkennt, wie ein privilege des social worker, ohne indes ein generelles physican-patient privilege anzuerkennen. 157 Vgl.
100 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Nach der utilitaristischen Begründung dieses privilege ist es ein sozial gewünschtes Verhalten, wenn Menschen bei Beschwerden einen Arzt aufsuchen. Diese Konsultation kann zudem nur Erfolg haben, wenn der Patient sämtliche Beschwerden und sonstigen Informationen mit dem Arzt teilt. Eben diese Offenlegung aller relevanten Informationen soll durch Anerkennung eines privileges gefördert werden.163 Die idealistische Begründung ergänzt diese Ausführungen unter Betonung der Bedeutung des Rechts auf Privatheit: Die einem Arzt mitgeteilten Informationen betreffen oftmals die Privat- wenn nicht sogar die Intimsphäre eines Menschen. Der Schutz dieser Informationen durch ein privilege hat daher für den Schutz der Privatheit eines Menschen einen sehr hohen Stellenwert.164 Tatbestandlich wird in der Regel eine Konsultation des Arztes durch den Patienten vorausgesetzt. Erforderlich ist, dass sich der Patient für eine Diagnose oder Behandlung zu dem betreffenden Arzt begeben hat, wobei insoweit irrelevant ist, wer letztlich die Kostentragung übernimmt.165 Zudem muss eine vertrauliche Kommunikation im Rahmen dieser Diagnoseerstellung oder Behandlung stattgefunden haben.166 Vertraulichkeit meint wiederum die fehlende Anwesenheit von Dritten, wobei in aller Regel weder medizinisches Hilfspersonal, noch enge Angehörigen des Patienten als „Dritte“ in diesem Sinne zu qualifizieren sind.167 Geschützt wird die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Dieses Merkmal umfasst neben der verbalen Kommunikation auch die Patientendaten und Untersuchungsergebnisse. Ausgenommen sind wohl nur solche Erkenntnisse, die jeder beliebige Dritte ohne ärztliche Ausbildung und Untersuchung hätte treffen können.168 Inhaber des privileges ist der Patient. Er allein hat das Recht zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sein behandelnder Arzt seine Patientendaten offenbaren darf.169 Der Tod lässt das privilege nicht erlöschen, allerdings steht das privilege einer Obduktion nicht entgegen.170 Ein Verzicht kommt entweder ausdrücklich und wissentlich oder konkludent durch die Nichtgeldendmachung des privilege in Bezu dieser Argumentationslinie Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 608 f. mwN; zu gegenteiligen Ansichten vgl. etwa Chafee, 52 Yale.L.J. 607 ff. mwN. 164 Vgl. insoweit den Fall Whalen v. Roe, 429 U.S. 589, 97 S.Ct. 869, 51 L.Ed.2d 64, in dem der Supreme Court eine verfassungsrechtliche Dimension eines solchen privileges zumindest andeutet. 165 So kann die Konsultation auch auf Wunsch und Kosten des Arbeitgebers geschehen, ohne dass dies einen Einfluss auf die Geltung des privileges hat, vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 614 ff. mwN. 166 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 464 f., die auch auf teils weitergehende gesetzliche Regelungen eingehen, die das Merkmal der Vertraulichkeit nicht explizit verlangen. 167 Vgl. etwa den Fall Ramon v. State, 387 So.2d 745, 750; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 465 f. 168 Vgl. zum Grundsatz Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 465 f.; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 619 ff.; zur benannten Ausnahme People v. Hedges, 98 A.D.2d 950, 470 N.Y.S.2d 61. 169 Vgl. zur Inhaberschaft des privileges beispielsweise Metropolitan Life Ins. Co. v. Kaufmann, 104 Colo. 13, 87 P.2d 758; ebenso Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 626 ff. 170 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 624 f. und S. 628 f. mwN. 163 Vgl.
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tracht.171 Außerdem sind einige Ausnahmen von diesem privilege anerkannt: So findet es keine Geltung bei Untersuchungen, die zwecks Erkenntnisgewinn gerichtlich angeordnet wurden. Des Weiteren ist das privilege unanwendbar, wenn die Person, welche sich auf das privilege beruft, ihren Gesundheitszustand selbst zum Gegenstand ihrer Klage bzw. Verteidigung gemacht hat.172 Ein privilege im Verhältnis zwischen Psychotherapeut und Patient hat lange Zeit weder in der Rechtsprechung noch in der Gesetzgebung der Einzelstaaten Anerkennung gefunden. Allerdings hat der Supreme Court das psychotherapist-patient pri vilege in neuer Zeit anerkannt.173 Die Ratio physican-patient privilege gilt in diesem Zusammenhang umso mehr: Der Psychotherapeut ist in noch stärkerem Maße auf die Mitwirkungen und die Informationen des Patienten über dessen Gedanken und Gefühle angewiesen, um seine Arbeit verrichten zu können. Außerdem ist eben diese Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen noch stärker seiner Intimsphäre zugeordnet.174 Somit ist die utilitaristische, wie auch die idealistische Begründung für ein solches privilege unverkennbar stark vorhanden. Inhaltlich gelten die gleichen Regelungen und Anforderungen wie beim physican-patient privilege. dd) Governmental secrets privilege Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle zudem darauf hingewiesen, dass in den Kreis der allgemein anerkannten privileges auch gewisse Weigerungsrechte zugunsten des Staates, insbesondere der Regierung (governmental privilege) zählen.175 So genießt die vertrauliche Kommunikation des Präsidenten mit seinem Beraterstab einen – wohl auch verfassungsrechtlich abgesicherten – Schutz (executive privile ge).176 Geschützt werden weiter militärische und diplomatische Geheimnisse.177 Außerdem gibt es gewisse privileges zugunsten der Verwaltung bei ihrer Informationsbeschaffung und internen Entscheidungsfindung (deliberative process privilege).178 Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 626 ff.; zum konkludenten Verzicht durch Nichtgeltendmachung People v. Bloom, 193 N.Y. 1, 85 N.E. 824. 172 Vgl. zu den Ausnahmen Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 466 f.; Letztere Ausnahme wird teils auch als konkludenter Verzicht angesehen, vgl. dazu State v. Doughty, 554 A.2d 1189, 1191. 173 Vgl. die Entscheidung im Fall Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 16 f., 116 S.Ct. 1923, 135 L.Ed.2d 337, in der seitens des Supreme Court zugleich ein solches privilege für social workers anerkannt wurde. 174 So auch der Supreme Court im Fall Jeffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 10 ff., 116 S.Ct. 1923, 135 L.Ed.2d 337. 175 Eine ausführliche Beschreibung findet sich bei Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 643 ff. 176 Vgl. Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 282 ff. und den – auch aufgrund seines Sachverhaltes durchaus bekannten – Fall United States v. Nixon, 418 U.S. 683, 708 ff., 94 S.Ct. 3090, 41 L.Ed.2d 1039. 177 Vgl. hier zu den Fall In re U.S., 872 F.2d 472, 476 sowie Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 644 ff. mwN. 178 Zum Schutz der internen Entscheidungsfindung vgl. den Fall Formaldehyde Institute v. De171 Vgl.
102 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Indes spielen diese privileges im Zivilprozess keine erkennbare Rolle, so dass insoweit auf weiterführenden Literaturnachweise verwiesen sei.179 ee) Weitere privileges nach dem Recht der Einzelstaaten Abschließend genannt seien an dieser Stelle noch einige privileges, die zwar keine allgemeine Anerkennung gefunden haben, aber doch in der Mehrzahl der Einzelstaaten zu finden sind und auch in der Rechtsprechung diskutiert werden: Ein privi lege im Verhältnis zwischen Priester und Gläubigem (clergyman-penitent privilege), zwischen Eltern und Kindern sowie zugunsten von Wirtschaftsprüfern und der jury in einem Gerichtsprozess.180 d) Die Begrenzung durch die work-product rule Eine weitere Grenze der pretrial discovery stellt die sog. work-product rule dar. Obgleich kein Teil der ursprünglichen Federal Rules of Civil Procedure, wurde sie bald nach deren Erlass durch den Supreme Court entwickelt und hat inzwischen ob ihrer Bedeutung eine Kodifikation in Rule 26 (b) (3) FRCP erfahren.181 Diese Regelung beschäftigt sich mit einer Problemstellung, die sich nach Inkrafttreten der Federal Rules of Civil Procedure herauskristallisiert und ein Stück weit als Konsequenz der Ausweitung der pretrial discovery erwiesen hat: Das adversary-system lebt von der Vorbereitung des Prozesses durch die Parteien, in der Regel mithilfe ihrer Anwälte. Wenn nun ein Anwalt dieser Aufgabe gewissenhaft nachgekommen war, so stellte sich aufgrund der Reichweite der discovery das Problem, dass der gegnerische Anwalt grundsätzlich auf den gesamten Arbeitsertrag dieses Anwaltes per discovery zugreifen konnte. Mithin wurde dem arbeitenden Anwalt nicht nur der eigens erarbeitete Vorteil genommen, sondern zugleich jeder Anreiz, derartige Vorbereitungen gewissenhaft zu treffen.182 Diese Problemstellung führt nun zum Telos der work product rule: Ihre utilitaristische Rechtfertigung liegt darin, dass die gewissenhafte und vollständige Prozessvorbereitung sozial gewünscht und für den partement of Health and Human Services, 889 F.2d 1118, 1121 f.; zum Schutz von Informanten vgl. bereits Worthington v. Scribner, 109 Mass. 487, 1872 WL 8824; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 654 ff. und 668 ff. jeweils mwN. 179 Weiterführend etwa Berger, 22 UCAL.L.Rev. 4; Cox, 122 U.Pa.L.Rev. 1383; weitere Literaturnachweise bei Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 643 ff. 180 Das clergyman-penient privilege ist in nahezu allen Staaten anerkannt. Probleme und Fragestellungen ergeben sich oftmals aufgrund der unterschiedlichen Praktiken der einzelnen Religionen und dem Anspruch, dennoch alle Religionen gleich zu behandeln, vgl. zu diesem privilege NN, 98 Harv.L.Rev. 1450, 1555 ff.; zu den anderen – teilweise anerkannten – privileges siehe Charles/ Broun/Dix, McCormick I, S. 490 ff. mwN. 181 Entwickelt im Fall Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 508 ff. 67 S.Ct. 385, 91 L.Ed. 451; eine sehr ausführliche Analyse bieten Anderson/Cadieux/Hays/Hingerty, 68 Cornell.L.Rev. 760 ff. 182 Vgl. die Entscheidung Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 510 ff. 67 S.Ct. 385, 91 L.Ed. 451.
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adversary Prozess elementar ist. Eben diese Verhaltensweise soll durch den Schutz vor einer Aufdeckung gefördert werden.183 Bei der work-product rule handelt es sich allerdings explizit nicht um ein privilege. Ein solches privilege hat eine absolute Geltung, während die work-product rule einer Abwägung zugänglich ist, mithin nur relative Wirkung hat.184 Nach Rule 26 (b) (3) (A) sind sämtliche Dokumente und anderen, materiellen Gegenstände (documents and tangible things) von der discovery ausgenommen, die ein Anwalt in Vorbereitung eines Gerichtsprozesses (in anticipation of litigation) erstellt hat. Erfasst werden alle Dokumente, Notizen, Aufzeichnungen, Mitschriebe, etc. des Anwaltes iSe Verkörperung seiner geistigen Arbeit (sog. ordinary work-pro duct).185 Indes ist das Merkmal der Körperlichkeit kein zwingendes Erfordernis, vielmehr erweitert Rule 26 (b) (3) (B) FRCP den Schutz für die geistige Arbeit des Anwaltes in Form von Meinungen, Theorien, Schlussfolgerungen, etc. noch einmal (sog. opinion work-product). Eine erste Einschränkung enthält Rule 26 (b) (3) (A) mit dem Erfordernis der Erstellung dieser geistigen Arbeit in anticipation of litigation: Die Arbeit muss zwar nicht in Vorbereitung eines konkret bevorstehenden Prozesses geleistet worden sein. Zumindest ist aber ein gewisser Zusammenhang zu einem solchen Prozess in Abgrenzung zur allgemeinen Arbeit des Anwaltes (ordinary course of business) erforderlich. Indes lässt die Rechtsprechung die prognostische Einschätzung genügen, dass mit gewisser Wahrscheinlichkeit ein Prozess zu erwarten war.186 Teils wird auch eine Prüfung dieses Merkmales anhand mehrerer Faktoren vorgeschlagen.187 Darüber hinaus normiert Rule 26 (b) (3) (A) FRCP eine weitere Grenze der work-product rule in Form einer Abwägung: Informationen unterfallen hiernach der discovery, wenn sie 1. ohne Geltung der work-product rule der discovery unterfallen würden und 2. die gegnerische Partei einen dringenden Bedarf dieser Informationen nachweisen kann (substantial need), sie keine andere Möglichkeit der Informationsbeschaf183
Siehe wiederum Hickman v. Taylor, 329 U.S. 495, 510 ff. 67 S.Ct. 385, 91 L.Ed. 451; ausführlich zur Ratio auch Anderson/Cadieux/Hays/Hingerty, 68 Cornell.L.Rev. 784 ff. 184 Diese Unterscheidung machen Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 409 besonders deutlich; zu den Regelungen dieser Abwägung sogleich; ausführlich zu diesem Punkt auch Cohn, 71 George.L.J. 917. 185 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 411 f. mwN aus der Rechtsprechung. 186 Vgl. etwa In re Grand Jury Investigation, 599 F.2d 1224, 1229 f.; Diversified Indus, Inc. v. Meredith, 572 F.2d 596, 604; Costal State Gas Corp. v. Departement of Energy, 617 F.2d 854, 865. 187 So die Analyse von Oberbillig, 66 Iowa.L.Rev. 1277 ff. mit deutlicher Kritik an der reinen „Umdefinierung“ des Tatbestandsmerkmales in anticipation of litigation und weiteren Nachweisen in beide Richtungen.
104 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts fung (substantial equivalent by other means) ohne besondere Härte hat (undue hardship). An dieser Regel zeigt sich die Relativität der work-product rule. Wenn eine Partei den Nachweis von substantial need und undue hardship führen kann, so sind die Informationen aufzudecken. Dies gilt nach Rule 26 (b) (3) (B) FRCP allerdings nicht für die geistige Arbeit des Anwaltes in Form von Meinungen, Schlussfolgerungen und rechtlichen Theorien. In der Praxis werden an die Darlegung dieser Tatbestandsmerkmale nur moderate Anforderungen durch die Gerichte gestellt.188 Eine weitere Grenze normiert Rule 26 (b) (3) (C) für eigene Aussagen der Parteien: Auf Verlangen der Gegenseite muss eine Partei eine Kopie ihrer Aussage herausgeben, was mit Blick auf den hohen Beweiswertes einer solchen Parteiaussage vor Gericht erklärlich wird.189 Abschließend findet die work-product rule eine weitere Grenze parallel zum attorney-client privilege: Ein bereits vor Konsultation des Anwaltes existentes Beweismittel kann nicht allein dadurch der discovery entzogen werden, dass eine Partei dieses Beweismittel im Rahmen der anwaltlichen Beratung erwähnt oder es dem Anwalt übergibt. Die work product rule soll nach ihrer Ratio nur die Arbeitsergebnisse eines Anwaltes schützen, aber keinesfalls zu einem Ausschluss von vorher bereits existenter Beweismitteln führen.190 Besonderheiten gelten nach Rule 26 (b) (4) für den Sachverständigenbeweis: Der discovery unterliegen nur diejenigen Sachverständigen, die tatsächlich im Prozess als Beweismittel dienen sollen (testifying experts). Demgegenüber sind Sachverständigen, die eine Partei im Vorfeld eines Prozesses (in anticipation of litigation) zum Zwecke der eigenen Information konsultiert (consulting experts) von der disco very ausgenommen. Eine Rückausnahme gilt nach Rule 26 (b) (4) (D), wenn die gegnerische Partei außergewöhnliche Umstände (exceptional circumstances) nachweisen kann, die es ihr stark erschweren oder unmöglich machen, die ersuchten Informationen anderweitig zu erlangen. Ein solcher Fall kann etwa gegeben sein, wenn es weltweit nur einen Experten für das jeweilige Spezialgebiet gibt.191 Diese Regelung ist im Hinblick auf ihren Umfang und die Anforderungen an ihre Ausnahmevorschrift nochmals deutlich weitergehend als die work-product rule in Rule 26 (b) (3) FRCP.192
188 Zu einer tendenziell ähnlichen Schlussfolgerung kommen Anderson/Cadieux/Hays/Hinger ty, 68 Cornell.L.Rev. 800 ff. nach einer Analyse der drei Merkmale. 189 So etwa Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 411 f. mwN aus der Rechtsprechung. 190 Zu diesem Grundsatz siehe Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 414 mwN; ebenso Clermont, Civil Procedure, S. 61 f.; vgl. auch Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 219. 191 Vgl. zu diesem Beispiel den Fall Town of North Kingstown v. Ashley, 374 A.2d 1033, 1036 f., 118 R.I. 505; diesen Fall bildend auch Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 419 mwN. 192 Vgl. Staton, 85 Colum.L.Rev. 812, 819 f.; ebenso auch Clermont, Civil Procedure, S. 62 f.
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Abschließend normiert Rule 26 (b) (5) FRCP ausdrücklich das Erfordernis der Geltendmachung der work-product rule. Zudem muss man selbst bei berechtigter Verweigerung der Informationen im Rahmen der Geltendmachung darlegen, aus welchen Gründen heraus die Offenlegung verweigert wird, Rule 26 (b) (5) (A) (ii) FRCP.
5. Die einzelnen Instrumente der discovery Nachdem soeben die Grenzen der discovery in Rule 26 (b) FRCP beleuchtet wurden, soll nun ein kurzer Blick auf die konkrete Ausführung der discovery in Form von Art, Umfang und Grenzen der fünf discovery Instrumente geworfen werden. a) Interrogatories Das Instrument der interrogatories hat in Rule 33 FRCP eine Regelung erfahren. Es handelt sich um schriftliche Fragekataloge, die eine Partei der gegnerischen Partei zusendet. Das Spektrum der Fragen kann hierbei sämtliche Informationen innerhalb der soeben dargestellten Grenzen der Rule 26 (b) FRCP umfassen. In der Praxis reichen die Fragen von der Identität von Zeugen bis hin zu detaillierten Angaben über einzelne Tatbestandsmerkmale.193 Die Zahl der Fragen ist hierbei nach Rule 33 (a) (1) FRCP grundsätzlich auf 25 Fragen, inklusive Unterfragen begrenzt, wobei die Parteien anderes vereinbaren und das Gericht auf Antrag abweichendes anordnen kann. Die Parteien haben diese Fragen nach Rule 33 (b) (2), (3) FRCP im Allgemeinen innerhalb von 30 Tagen unter Eid zu beantworten bzw. ihre Einwendungen gegen die Fragen geltend zu machen. Die Einwendungen müssen spezifisch auf die einzelnen abgelehnten Fragen zugeschnitten und entsprechend begründet sein, Rule 33 (b) (4). Regelmäßig wird – neben einer Überschreitung der abstrakten Grenzen der discovery – eingewandt, dass die Fragen unpräzise oder missverständlich sind bzw. übergroßen Ermittlungsaufwand erfordern. Im späteren Prozess können die interrogatories genutzt werden, um Widersprüche zwischen den schriftlichen Äußerungen und den späteren Aussagen im Prozess aufzudecken. Regelmäßig dienen die interrogatories indes der Informationssammlung für die weitere discovery Maßnahmen, insbesondere für die Durchführung von depositions.194 b) Production of documents and things Ein weiteres discovery Instrument erlaubt nach Rule 34 FRCP die Vorlage von Dokumenten und Augenscheinsobjekten (production of documents and things). Dieses Instrument ermöglicht die Vorlage von Dokumenten und die Inspektion von Augen193
Vgl. auch zu ihrer praktischen Anwendung Junker, Discovery, S. 176 ff. Clermont, Civil Procedure, S. 69 f.; ebenso Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 197 f.
194 Vgl.
106 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts scheinsobjekten zu allen Informationen innerhalb der Grenzen der Rule 26 (b). Adressat einer solchen Anfrage ist in der Regel die gegnerische Partei, nach Rule 34 (c) FRCP können aber auch Dritte in Anspruch genommen werden. Bemerkenswert ist der Umfang dieses Instrumentes: Erfasst werden sämtliche – auch elektronischen – Dokumente, aber auch internen Aktenvorgänge, Notizen, schriftliche Kommunikation.195 Zudem müssen diese Unterlagen nicht zwingend im Eigentum der herausgebenden Partei stehen, vielmehr genügt der bloße Besitz und auch solche Unterlagen sind umfasst, deren Herausgabe durch die pflichtige Partei gegenüber Dritten verlangt werden kann.196 Aufgrund des teils sehr großen Umfanges der angeforderten Dokumente müssen diese so herausgegeben werden, wie sie im üblichen Geschäftsgang geordnet waren. Eine willkürliche Herausgabe aller Dokumente in der Hoffnung, die andere Partei werde die relevanten Informationen nicht finden, ist unzulässig.197 Die angeforderten Dokumente sind wiederum nach Rule 34 (b) (2) (A) FRCP binnen 30 Tagen herauszugeben bzw. entsprechende, spezifizierte Einwendungen geltend zu machen. Dieses Instrument ermöglicht es, gerade auch in heutiger Zeit durch die Herausgabepflicht elektronischer Dokumente, sehr weitreichende Informationen von der gegnerischen Partei zu erlangen und die in der Regel nachfolgenden depositions ebenso vorzubereiten, wie den eigentlichen Prozess. c) Requests for admission Rule 36 FRCP regelte das discovery Instrument der Aufforderung zur Abgabe eines Geständnisses (request for admission). Dabei muss die auffordernde Partei jede einzugestehende Tatsache einzeln aufführen. Das Spektrum geständnisfähiger Tatsachen wird allein durch Rule 26 (b) FRCP allgemein begrenzt und umfasst auch die Frage der Echtheit von Urkunden, Rule 36 (a) (1) (B). Es darf sich sogar um Tatsachen handeln, die den Kern des Rechtsstreits betreffen und deren Eingeständnis den Anspruch insgesamt zugestehen würde, wie Rule 36 (a) (5) FRCP zeigt. Einwendungen gegen die Fragen und ihre Reichweite müssen mit einer entsprechenden Begründung abgegeben werden, Rule 36 (a) (5) FRCP. Die gegnerische Partei muss diese Fragen nach Rule 36 (a) (3) FRCP grundsätzlich innerhalb von 30 Tagen beantworten und sie hat folgende Antwortmöglichkeiten: Sie kann die in Rede stehenden Tatsachen ganz oder teilweise zugestehen oder das Geständnis mit spezifischer Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 199 f.; Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 435 f. unter Verweis auf die Entscheidung des Supreme Court im Fall Societe Internationale v. Rogers, 357 U.S. 197, 78 S.Ct. 1087, 2 L. Ed.2d 1255, in der der Supreme Court selbst dann eine Herausgabe bejaht hat, wenn dies für den Herausgabepflichtigen in dessen Herkunftsland eine Straftat darstellt. Diese Entscheidung war indes wohl den Besonderheiten des Falles in Form eines missbräuchlichen Verbringens der Beweismittel an eben diesen Ort geschuldet. 197 Vgl. Wagner v. Dryvit Systems, Inc., 208 F.R.D. 606, 611; Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 436. 195 Vgl. 196 Vgl.
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Begründung ganz oder teilweise verweigern, Rule 36 (a) (4) FRCP. Außerdem kann die Antwort nach Rule 36 (a) (4) FRCP mit der Begründung verweigert werden, dass man trotz umfangreicher Nachforschungen keine hinreichende Kenntnis über die zu gestehende Tatsache habe. Für den Fall der Nichtbeantwortung sieht Rule 36 (a) (3) FRCP eine Geständnisfiktion vor. Entscheidendes Merkmal dieses discovery Instrumentes ist seine in Rule 36 (b) FRCP normierte Rechtsfolge: Die Geständnisse im Rahmen dieses Instrumentes gelten auch vor Gericht als Geständnis und erbringen daher den vollen Beweis der zugestandenen Tatsache. Allerdings kann im Einzelfall durch das Gericht aus gutem Grund (for good cause) von dieser Bindungswirkung abgewichen werden.198 In der Praxis wird eine Partei daher mit ihren Antworten sehr vorsichtig sein. Dieses Instrument dient daher vor allem der Klärung unstreitiger Teile des Sachverhaltes und der Anerkennung der Echtheit von Urkunden.199 d) Physical and mental examinations Das discovery Instrument der medizinischen Untersuchung (physical and mental examination) hat in Rule 35 FRCP seine Regelung erfahren und sieht als einziges discovery Instrument eine obligatorische Beteiligung des Gerichts vor. Die Ratio der zwingenden gerichtlichen Anordnung der Untersuchung in Rule 35 (a) (1) FRCP liegt in der starken Grundrechtsbeeinträchtigung einer solchen Untersuchung.200 Dies gilt umso mehr, als nicht nur die Prozessparteien erfasst sind, sondern nach Rule 35 (a) (1) FRCP auch jede Person, die in der Obhut (custody) oder gesetzlichen Vertretung (legal control) einer Partei stehen. Eine solche Anordnung verlangt nach Rule 35 (a) FRCP, dass der körperliche oder geistige Zustand der zu untersuchenden Person streitig ist (in controversy) und darüber hinaus einen guten Grund (for good cause). Der Supreme Court stellt verhältnismäßig hohe Anforderungen an den Nachweis dieser Tatbestandsmerkmale.201 So genügt nicht jeder unsubstantiierte Zweifel am körperlichen oder geistigen Zustand einer Person durch eine Partei für seine Streitigstellung.202 Außerdem fehlt es jedenfalls dann an einem guten Grund, wenn die beantragende Partei die Informationen auf anderem Weg erlangen könn198
Vgl. etwa den Fall Marshall v. Sunshine & Leisure, Inc., 496 F.Supp. 355 ff.; Williams v. Krieger, 61 F.R.D. 142; kritisch zu dieser Praxis Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 431 ff. 199 Vgl. zum praktischen Nutzen Junker, Discovery, S. 189; Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 202 f. 200 Die verfassungsrechtliche Dimension wird im Fall Schlagenhauf v. Holder, 379 U.S. 104, 85 S.Ct. 234, 13 L.Ed.2d 152 durch den Supreme Court deutlich betont. 201 Vgl. die Leitentscheidungen Sibbach v. Wilson & Co., 312 U.S. 1, 61 S.Ct. 422, 85 L.Ed. 479 und insbesondere den Fall Schlagenhauf v. Holder, 379 U.S. 104, 85 S.Ct. 234, 13 L.Ed.2d 152. 202 Vgl. hierzu Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 439 f.
108 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts te.203 Wenn ein solcher Nachweis gelingt und die Untersuchung durchgeführt wird, so gelten nach Rule 35 (b) FRCP Besonderheiten für den anschließenden Untersuchungsbericht: Dieser Bericht muss auch der untersuchten Person auf Antrag zugänglich gemacht werden wie Rule 35 (b) (1) FRCP klarstellt. Auf der anderen Seite kann die untersuchte Person sich aber nach dieser Anforderung des Berichtes nicht mehr auf ein entsprechendes physican-patient privilege berufen, Rule 35 (b) (4) FRCP. e) Depositions Als fünftes und letztes Instrument runden die eidlichen Vernehmungen (depositions) in den Rules 27–32 FRCP das Bild der discovery ab. Den Regelfall bilden hierbei mündliche Vernehmungen (depositions by oral examinations), die sich nach Rule 30 (a) (1) FRCP an jede natürliche oder juristische Person richten können – die gegnerische Partei, wie auch Dritte. Zumeist werden die zu stellenden Fragen auf denjenigen Informationen basieren, welche durch die vorherige Ausschöpfung der anderen discovery Instrumente erlangt wurden.204 Diese Fragen müssen sich nach Rule 30 (a) FRCP inhaltlich innerhalb der Grenzen der Rule 26 (b) FRCP bewegen. Außerdem begrenzt Rule 30 (a) (2) (A) FRCP die Zahl der depositions auf 10, soweit nichts anderes durch die Parteien vereinbart oder durch das Gericht angeordnet wird. Abschließend wird jede einzelne deposition nach Rule 30 (d) (1) FRCP auf die Zeitdauer von sieben Stunden an einem Tag limitiert. Eine deposition wird von der ersuchenden Partei durch die Mitteilung von Zeit und Ort der Vernehmung begonnen, Rule 30 (b) FRCP. Bei einer Vernehmung der gegnerischen Partei genügt eine formlose Mitteilung (notice) nach Rule 30 (b) (1) FRCP, während Dritte nur durch eine gerichtliche Ladung (subpoena) nach Rule 45 FRCP zum Erscheinen verpflichtet werden können. Bei einer deposition sind neben der zu vernehmenden Person zwingend auch die Anwälte der Parteien sowie unter Umständen die Parteien persönlich anwesend.205 Weiterhin ist nach Rule 30 (b) (5) FRCP die Anwesenheit einer neutralen, zur Abnahme von Eiden befugten Person nach Maßgabe von Rule 28 FRCP obligatorisch, die das Protokoll führt und die vernommene Person vereidigt. Der Ablauf einer solchen Vernehmung wird in Rule 30 (c) FRCP normiert und orientiert sich am späteren Gerichtsprozess: Zu Beginn wird die zu vernehmende Person vereidigt. Es folgt eine Befragung durch denjenigen Anwalt, der zu dieser Vernehmung geladen hat (direct examination), bevor sich 203 Vgl. die Fälle In re Certain Asbestos Cases, 113 F.R.D. 612, 614 f.; Martin v. Tindell, 98 So.2d 473, cert. denied 355 U.S. 959, 78 S.Ct. 545, 2 L.Ed.2d 534; Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 439 f. 204 Diese praktische Reihenfolge der discovery hebt insbesondere Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 203 f. hervor. 205 Vgl. Schack, Einführung, S. 47 f.
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ein Kreuzverhör durch den gegnerischen Anwalt (cross examination) anschließt, Rule 30 (c) (1) FRCP. Die Aussage wird durch ein Wortlautprotokoll festgehalten, wobei der Einsatz technischer Hilfsmittel durch Rule 30 (b) (3) FRCP gestattet ist. Einwendungen gegen einzelne Fragen führen – in Ermangelung eines entscheidenden Richters – nicht zu einem Ausschluss der Frage. Vielmehr muss die Frage beantwortet werden und die Einwendung wird in das Protokoll aufgenommen, Rule 30 (c) (2) FRCP. Ausgenommen sind hiernach lediglich solche Einwendungen, bei denen die Beantwortung der Frage als konkludenter Verzicht anzusehen ist. Die besondere Bedeutung der depositions rührt zum einen aus ihrem Ablauf, der annäherungsweise dem späteren Gerichtsprozess entspricht: Durch diese Befragungen im Vorfeld des Prozesses sollen – in Übereinstimmung mit der Zielsetzungen der discovery insgesamt – Überraschungen im eigentlichen Prozess vermieden werden.206 Zum anderen sind die depositions aufgrund ihres Beweiswertes für die Prozessparteien von besonderem Interesse: Die Aussagen im Rahmen der depositions können verwendet werden, um bei späteren Zeugenaussagen im Prozess etwaige Widersprüche aufzudecken und die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern (impeachment), Rule 32 (a) (2) FRCP. Vor allem aber, können diese Aussagen den vollen Wahrheitsbeweis erbringen, wenn die Aussagen von der gegnerischen Partei getätigt wurden oder wenn ein Zeuge aufgrund gesundheitlicher Probleme oder räumlicher Distanz nicht mehr für eine Aussage zur Verfügung steht, Rule 32 (a) (4) FRCP. Dieser hohe Beweiswert hebt das Instrument der depositions merklich von den übrigen disco very Instrumenten ab.207 Diese Aspekte der Vermeidung von Überraschungen bei Zeugenaussagen zusammen mit dem hohen Beweiswert im Prozess machen es erklärlich, dass die depositions by oral examination in der Praxis das zahlenmäßig häufigste und wichtigste discovery Instrument darstellen.208 Eine Variante dieser Vernehmungen ist in Rule 31 FRCP mit den depositions by written questions normiert: Dabei werden die Fragen der Vernehmung, wie auch des Kreuzverhörs durch die Anwälte schriftlich eingereicht, anschließend durch den neutralen officer verlesen und die Aussage protokolliert, Rule 30 (b) FRCP. Der Vorteil liegt in der Kostenersparnis aufgrund des Nichterfordernisses von Anwälten.209 Allerdings können sich die Anwälte keinerlei Bild vom Auftreten der Zeugen machen und die starren, vorformulierten Fragekataloge verhindern zudem eine flexible Befragung.210 Aufgrund dieser Nachteile spielt diese Art der depositions prakVgl. zu dieser Zielsetzung Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 421 f. So auch Böhm, Amerikanisches ZPR, S. 209 f. mwN. 208 Vgl. Junker, Discovery, S. 158 f. mit etwas älteren, statistischen Nachweisen; ebenso aus neuerer Zeit Schack, Einführung, S. 47; Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 421 f.; Cler mont, Civil Procedure, S. 69. 209 Vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 426 f. 210 Diese Nachteile skizzieren Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 426 f. ebenso wie Clermont, Civil Procedure, S. 69 und Yeazell, Civil Procedure, S. 419; ausführlich dazu auch Jun ker, Discovery, S. 163 ff. 206 207
110 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts tisch allenfalls dann eine Rolle, wenn einfache Fragen an Dritte zu stellen sind, die durch das Instrument der interrogatories gerade nicht erfasst werden.211
6. Der Schutz mittels protective orders Bei protective orders nach Rule 26 (c) FRCP handelt es sich um gerichtlich anzuordnende Schutzmaßnahmen, die eine konkrete, einzelfallbezogene Grenze der dis covery darstellen. Die Ratio der protective orders liegt primär in der Verhinderung von Missbräuchen im Rahmen der discovery durch das erkennende Gericht im Einzelfall.212 Tatbestandlich ist eine solche Anordnung nach Rule 26 (c) (1) FRCP nur auf Antrag einer Partei und bei Nachweis eines guten Grundes (for good cause) möglich. Beispielhaft für einen solchen, guten Grund werden in Rule 26 (c) (1) FRCP verschiedene Fälle des discovery Missbrauches genannt. Als zweites Tatbestandsmerkmal verlangt Rule 26 (c) (1) FRCP den Nachweis, dass die beantragende Partei sich vor Einschaltung des Gerichtes ernsthaft mit der anderen Partei um eine außergerichtliche Lösung der Streitfrage bemüht hat (conferred in good faith with the other party). Als Rechtsfolge wird es den Gerichten durch Rule 26 (c) (1) (A) – (H) FRCP nach ihrem freien Ermessen ermöglicht, die discovery in sachlicher, zeitlicher oder örtlicher Hinsicht zu begrenzen oder auch die Kostentragung anderweitig zu regeln. Ein discovery Ersuchen kann auf Teile der angeforderten Informationen beschränkt oder auch der Personenkreis eingegrenzt werden, welcher Zugang zu diesen Informationen erhalten soll. Weiter besteht die Möglichkeit einer Vorprüfung der Informationen durch das Gericht und einer anschließenden Entscheidung über die Weiterleitung an die ersuchende Partei. In der Praxis sind die Gerichte tendenziell zurückhaltend mit der Erteilung von protective orders.213 Die Anforderungen an den Nachweis eines guten Grundes sind hoch und die Anordnungen beschränken sich regelmäßig auf eine abweichende Kostentragung oder eine Vorprüfung des Gerichtes.214 Der gänzliche Ausschluss von discovery Begehren kommt nur in Fällen offensichtlichen Missbrauchs in Be-
Zu diesem Schluss kommt auch Junker, Discovery, S. 163 ff. mit einigen statistischen Werten; ebenso Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 426 f. und Clermont, Civil Procedure, S. 69; zur Nichtanwendbarkeit der Interrogatories auf Dritte vgl. oben den Unterpunkt 5. a). 212 Zu dieser Ratio vgl. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 443 f.; Kane, Civil Procedure, S. 145 ff.; ausführlich Marcus, 69 Cornell.L.Rev. 1, 6 ff. 213 So auch Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 443 f.; Kane, Civil Procedure, S. 143 ff.; sehr deutlich auch Schack, Einführung, S. 45 mwN. 214 Vgl. zu den Anforderungen den Fall Owens v. Sprint/United Management Co., 221 F.R.D. 649, 652 und Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 443 f.; einzelne Fälle zum Umfang von protective orders sind etwa Guerra v. Board of Trustees of California State Universities & Colleges, 567 F.2d 352; Covey Oil Co. v. Continental Oil Co., 340 F.2d 993; cert. denied 380 U.S. 964. 211
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tracht.215 Hinzu kommt, dass die Berufungsgerichte bei der Überprüfung erstinstanzlicher Urteile einen weiten Ermessensspielraum der erstinstanzlichen Gerichte anerkennen und wiederum nur offensichtliche Missbrauchsfälle korrigieren, was die Praxis der unteren Gerichte verstärkt.216 Die zurückhaltende Erteilung dieser einzelfallbezogenen protective orders zeigen anschaulich die Tendenz der Gerichte, im Zweifel ein „Mehr“ an discovery zuzulassen und der Wahrheitserforschung durch die Parteien weitgehend freien Lauf zu lassen.
7. Sanktionen bei Verletzung der Pflichten im Rahmen der discovery Zum Abschluss dieser Untersuchung der Federal Rules of Civil Procedure soll das Bild der pretrial discovery durch einen kurzen Blick auf die die Zwangsmittel vervollständigt werden, mittels derer die discovery Begehren nötigenfalls durchgesetzt werden können. Dabei gilt es zwischen den speziellen, der discovery eigenen Regelungen in Rule 37 FRCP und der generellen Möglichkeit einer Verurteilung wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court) in Rule 37 (b) (1), (2) und Rule 45 (g) FRCP zu unterscheiden. a) Sanktionen nach Rule 37 FRCP Die Spezialregelung der Rule 37 FRCP bildet systematisch den Abschluss der Normen über die discovery in den Federal Rules of Civil Procedure und enthält einen detaillierten Sanktionenkatalog bei Verletzung der discovery Pflichten. Tatbestandlich ist nach Rule 37 (b) (1) FRCP zunächst eine Anordnung der betreffenden disco very Maßnahme durch das Gericht (court order) erforderlich.217 Die allgemeinen Voraussetzungen einer solchen order normiert Rule 37 (a) (1) FRCP. Hiernach muss die ersuchende Partei einen Antrag bei Gericht stellen, der den Nachweis eines vorangegangenen, außergerichtlichen Einigungsversuches mit der gegnerischen Partei beinhaltet. Diese order wird nach Rule 37 (a) (1) – (3) FRCP erteilt, wenn die Voraussetzungen der jeweiligen discovery Maßnahme vorliegen. Die Verweigerung einer court order geht nach Rule 37 (a) (5) (B) FRCP stets mit der spiegelbildlichen Erteilung einer entsprechenden protective order an die andere Partei einher. Zudem ist die jeweils unterliegende Partei – je nach Erteilung oder Verweigerung – in die Kosten der jeweiligen discovery Maßnahme zu verurteilen, Rule 37 (a) (5) FRCP. Auf Basis einer court order gilt es für die ersuchende Partei, die discovery weiter zu betreiben. Falls sich die gegnerische Partei trotz erteilter court order weigert, dem 215
Vgl. den Fall Echostar Communications Corp. V. News Corp., 180 F.R.D. 391, 395 f.; ebenso Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 443 f. und Kane, Civil Procedure, S. 145 ff. 216 Vgl. zu diesem weiten Maßstab den Fall Mack v. Great Atlantic and Pacific Tea Co., Inc., 871 F.2d 179, 186. 217 Ausführlich zum Verfahren der Verhängung von Zwangsmitteln Junker, Discovery, S. 190 ff.
112 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts discovery Ersuchen Folge zu leisten, sieht Rule 37 (b) FRCP einen Sanktionenkatalog vor, der nach dem freien Ermessen des Gerichtes auszusprechen ist. Die Sanktionen in Rule 37 (b) (1) – (2) sind vielfältig und reichen von der Verurteilung in die Kosten, über die Streichung einzelner Teile des Vorbringens einer Partei, bis hin zum vollständigen Prozessverlust. Besonderheiten gelten nach Rule 37 (b) (2) (B) FRCP für die physical and mental examination und nach Rule 37 (c) (2) FRCP für die requests for admission. In der Praxis nutzen die Gerichte den abgestuften Sanktionenkatalog zu einer starken Ausdifferenzierung der Sanktionen im konkreten Einzelfall. Dabei werden fahrlässige discovery Verstöße in aller Regel „nur“ mit der Verurteilung in die entstandenen Kosten sanktioniert.218 Die Gerichte sind tendenziell zurückhaltend mit der Verhängung prozessbeendender Sanktionen. Diese Tendenz der Gerichte findet indes ihre Grenze bei vorsätzlichen und offensichtlichen Verstößen gegen discovery Pflichten.219 In solchen Fällen sind U.S.-Gerichte willens, das Spektrum der Rule 37 (b) FRCP auszureizen.220 Eine Sonderregelung enthält Rule 37 (c) (1) FRCP bei Verstößen gegen die Pflicht zur disclosure. Nach dieser Norm darf eine Partei diejenigen Beweismittel, die sie der gegnerischen Partei nicht offengelegt hat, im Prozess nicht vorbringen. Eine Ausnahme sieht Rule 37 (c) (1) FRCP nur vor, wenn die Partei nachweisen kann, dass ihr Verstoß gerechtfertigt (substantially justified) oder harmlos (harmless) war. Kumulativ oder alternativ kommen weitere Sanktionen nach Rule 37 (c) (1) (A) – (C) FRCP in Betracht – etwa die Verurteilung in die Kosten. Zusammengefasst bietet die Rule 37 FRCP ein breites Spektrum von Sanktionen, um die Durchsetzung der discovery zu gewährleisten. Die Gerichte gehen tendenziell zurückhaltend mit diesem Katalog um. Allerdings können schwerwiegende Verstöße gegen die discovery Pflichten ohne weiteres zum Prozessverlust führen.221 b) Verurteilung wegen contempt of court Daneben kennen die Federal Rules of Civil Procedure ein allgemeines Sanktionsinstrument der Verurteilung wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court). Zu beachten ist, dass eine solche Verurteilung stets eine vorangegangene Anordnung
218 Vgl. etwa den Fall National Hockey League v. Metropolitan Hockey Clun, Inc., 427 U.S. 639, 96 S.Ct. 2778, 49 L.Ed.2d 747; Fox v. Studebaker-Worthington, Inc., 516 F.2d 989; ausführlich Golinsky, 62 Brook.L.Rev. 585. 219 Zu den Anforderungen vgl. Traxler v. Ford Motor Co., 227 Mich.App.276, 286, 576 N.W.2d 398. 220 Vgl. etwa den Fall Trans World Airlines, Inc. v. Hughes, 449 F.2d 51; Communispond, Inc. v. Kelley & T.C.E. Assocs., 1998 WL 473951; ausführlich Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 447 ff. 221 Zu einem ähnlichen Urteil kommt bereits Junker, Discovery, S. 200 f. unter Verweis auf die Ausführungen des geistigen „Vaters“ der Rule 37 FRCP, Rosenberg, 58 Colum.L.Rev. 480, 494 ff.
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des Gerichts erfordert, gegen die eine Partei verstoßen haben kann.222 In Bezug auf die discovery wird in Rule 37 (b) (1) FRCP festgelegt, dass bestimmte Verstöße gegen court orders als contempt of court zu werten sind. Als Sanktionen bei Verurteilung wegen contempt of court kommen Geld- oder Haftstrafen in Betracht.223 Wiederum stehen Art und Höhe der Sanktion im Ermessen des Gerichts und richten sich nach der Schwere des Verstoßes. Bei vorsätzlichen und schweren Verstößen kann es seitens des Gerichts allerdings zu drastischen Strafen kommen.224
V. Das Recht auf Beweis im U.S.-amerikanischen Zivilprozess nach den FRE Den Abschluss der rechtsvergleichenden Untersuchung soll nun ein Blick auf das U.S.-amerikanische Beweisrecht bilden, wie es sich nach den entsprechenden Regelungen auf Bundesebene in den Federal Rules of Evidence darstellt. Diese Regelungen haben seit ihrer Einführung im Jahr 1975 einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Beweisrechts der Einzelstaaten genommen und zu einer mehrheit lichen Adaption dieser Regelungen geführt.225 Die Regelungen der Federal Rules of Evidence finden nach Rule 101 (a) FRE vor Bundesgerichten in allen Zivil- und Strafprozessen Anwendung. Die nachfolgende Untersuchung konzentriert sich indes allein auf die Spezifika des Zivilprozesses.
1. Die Zulassung von Beweismitteln nach Rule 401, 402 FRE Die zentralen Regelungen der Zulassung von Beweismitteln finden sich in den Rules 401, 402 FRE. Nach Maßgabe dieser Regelungen richtet sich die Zulassung bzw. Ablehnung sämtlicher Arten von Beweismitteln in Zivilprozessen vor den U.S.-amerikanischen Bundesgerichten. a) Grundsatz: Die Zulassung jeglicher Beweismitteln nach Rule 402 FRE Den Grundsatz markiert dabei Rule 402 FRE. Hiernach ist jedem Beweisantrag stattzugeben und jedes Beweismittel zulässigerweise in den Prozess einbringungsfähig, solange es relevant ist. Ausnahmsweise sind nach Rule 402 FRE BeweismitVgl. allgemein zu diesem Institut Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 752 ff. Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 752 f.; zudem unterscheidet man – je nachdem ob die Zielrichtung progressiv oder repressiv ist – zwischen civil und criminal contempt, siehe etwa Shillitani v. U.S., 384 U.S. 364, 369, 86 S.Ct. 1531, 16 L.Ed.2d 622; instruktiv auch der Fall In re Lazarus, 276 F.Supp. 450. 224 Vgl. zu diesem Zusammenhang wiederum den Fall Shillitani v. U.S., 384 U.S. 364, 369 ff., 86 S.Ct. 1531, 16 L.Ed.2d 622; ebenso Friedenthal/Kane/Miller, Civil Procedure, S. 752 f. 225 Vgl. die statistischen Erhebungen von Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 3 ff. 222
223 Vgl.
114 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts tel abzulehnen, wenn dies durch die Bundesverfassung, die Federal Rules of Evidence oder andere Bundesgesetzte normieren wird. Die Ablehnungsgründe nach der Bundesverfassung und den Bundesgesetzen erschöpfen sich größtenteils in den pri vileges und der work product rule.226 Die Federal Rules of Evidence enthalten demgegenüber eine ganze Reihe von Beweisregeln, die einer Zulassung von Beweismitteln entgegenstehen können. Festzuhalten ist jedoch, dass es keine weiteren als die benannten Ablehnungsgründe für Beweisanträge im U.S.-amerikanischen Zivilprozess gibt. Der Supreme Court hat insbesondere betont, dass die früheren Ablehnungsgründe nach dem common law aufgrund der klaren gesetzgeberischen Entscheidung in Rule 402 FRE keine unmittelbare Geltung mehr beanspruchen können.227 Ebenso wenig können sich aus den Gesetzen oder auch den Verfassungen der Einzelstaaten Ablehnungsgründe für Beweisanträge in Zivilprozessen vor den Bundesgerichten ergeben.228 Diese klare gesetzgeberische Entscheidung, dass Beweisanträgen nach den Federal Rules of Evidence grundsätzlich stattzugeben ist, kann als Normierung eines wesentlichen Teilgehaltes des „Rechts auf Beweis“ angesehen werden. Rule 402 FRE unterwirft dieses Recht zwar dem Kriterium der relevance und weiteren – zahlreichen – Einschränkungen in den Federal Rules of Evidence. Dennoch bleibt an dieser Stelle die gesetzgeberische Grundentscheidung in Rule 402 FRE festzuhalten: Die Parteien haben grundsätzlich das Recht, im U.S.-amerikanischen Zivilprozess mit ihren Beweisanträgen durchzudringen und Beweismittel einzubringen. b) Das Zulassungskriterium der relevance in Rule 402 FRE Die zentrale Zulässigkeitshürde der Federal Rules of Evidence stellt nach Rule 402 FRE das Kriterium der relevance dar. Dieses Merkmal stellt die Mindestanforderung an die Zulassung eines jeden Beweisangebotes in einem Zivilprozess vor den Bundesgerichten dar.229 Eine Legaldefinition dieses Merkmales findet sich in Rule 401 FRE und beinhaltet zwei Tatbestandsmerkmale: Ein Beweisangebot ist nur dann relevant iSd Rule 401 FRE, wenn: 1. die zu beweisende Tatsache entscheidungserheblich für den konkreten Fall ist (materiality) Vgl. auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 188 f. mit weiteren Regeln. So im Fall United States v. Abel, 469 U.S. 45, 51 f., 105 S.Ct. 465, 83 L.Ed.2d 450 unter Verweis auf die Begründung zu den FRE und auf den Artikel von Clearly, 57 Neb.L.Rev. 908, 915, der allerdings auf eine teilweise Übernahme dieser Regeln des common law hinweist, etwa in Rule 501 FRE. 228 Vgl. etwa den Fall United States v. Jacobs, 547 F.2d 772, 777; ebenso im Fall Leitman v. McAusland, 934 F.2d 46, 50 mwN. 229 Zu den regelmäßig ähnlichen Anforderungen der Einzelstaaten vgl. Fishmann, Jones on Evidence II, S. 259 f. 226 227
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und 2. das Beweisangebot dazu geeignet ist, die zu beweisende Tatsache mehr oder weniger wahrscheinlich erscheinen zu lassen (probative value). Das Merkmal der materiality in Rule 401 (b) FRE meint den Zusammenhang zwischen der Tatsache, für die Beweis angeboten wurde, und dem konkreten Fall. Die Frage der materiality richtet sich nach dem zu Anfang des Prozesses vorgetragenen Begehren des Klägers und der Verteidigung des Beklagten in Verbindung mit dem materiellen Recht.230 Dieses Kriterium kann daher nicht abstrakt-generell, sondern nur anhand des konkreten Einzelfalles beurteilen werden. Allerdings lässt sich festhalten, dass dieses Merkmal in der Praxis weit ausgelegt wird. Erfasst werden nicht nur Tatsachen, die einen unmittelbaren Zusammenhang zum konkreten Fall aufweisen, sondern auch solche Tatsachen, die der Jury ein besseres Verständnis anderer, entscheidungserheblicher Beweisangebote ermöglichen.231 Entscheidungserheblich können im Einzelfall auch solche Karten, Diagramme, Video- oder Tonaufnahmen sein, die allein dem Zwecke des besseren Verständnisses des Zusammenhanges anderer Beweismittel dienen.232 Das zweite Tatbestandsmerkmal des probative value in Rule 401 (a) FRE erfordert eine prognostische Entscheidung des Gerichts. Teilweise werden in der U.S.amerikanischen Literatur mathematische Formeln für eine möglichst exakte Berechnung des hypothetischen Beweiswertes eines Beweisangebotes aufgestellt.233 Allerdings geben auch die Autoren solcher Formeln zu, dass letzten Endes eine wertende Entscheidung durch das Gericht zu treffen ist.234 Diese Entscheidung orientiert sich an der allgemeinen Lebenserfahrung des Richters sowie naturwissenschaftlichen und logischen Grundregeln und Zusammenhängen. Anhand dieser Kriterien gilt es für den Richter zu beurteilen, ob der angebotene Beweis hypothetisch dazu geeignet ist, die zu beweisende Tatsache mehr bzw. weniger wahrscheinlich erscheinen zu lassen.235 Dabei wird immer wieder darauf hingewiesen, dass nach dem Wortlaut der Rule 401 (a) FRE any tendency genügt. Mithin sind die Anforde230 Vgl. den Fall Philips v. Western Co. of N. Am., 953 F.2d 923, 930; siehe auch Charles/ Broun/Dix, McCormick I, S. 994 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 174; Fishmann, Jones on Evidence II, S. 260 f. jeweils mwN. 231 Vgl. die Ausführungen des Supreme Court im Fall Old Chief v. United States, 519 U.S. 172, 186 ff.; 117 S.Ct. 644, 136 L.Ed.2d 574; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 994 f. 232 Siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 994 f.; ebenso Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 174 ff. 233 So insbesondere Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 995 ff.; ähnliche Überlegungen stellt Friedman, 34 Hous.L.Rev. 55, 57 ff. an. 234 So im Ergebnis auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1004 unter Verweis auf den Fall People v. Engelman, 434 Mich. 204, 453 N.W.2d 656. 235 Zu diesen Kriterien siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1004; ähnlich auch Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 171 f.
116 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts rungen an die Geeignetheit des Beweisangebotes nach der Konzeption der Federal Rules of Evidence denkbar gering.236 Dementsprechend kann ein direktes Beweisangebot (direct evidence) nur in absoluten Ausnahmefällen nach Rule 401, 402 FRE abgelehnt werden. Problematisch können allein Angebote von Indizienbeweisen (circumstantial evidence) sein, wenn es sich um naturwissenschaftlich zweifelhafte Indizien handelt.237 Außerdem wird darauf hingewiesen, dass Rule 401, 402 FRE im Zusammenhang mit den Ausschlussmöglichkeiten von Beweismitteln nach Rule 403 FRE zu lesen ist. Ein Ausschluss von Beweismitteln würde hiernach regelmäßig nicht aufgrund fehlender relevance iSd Rule 401, 402 FRE erfolgen, wohl aber aufgrund einer negativen Kosten-Nutzen-Analyse nach Rule 403 FRE.238 Die gesetzliche Konzeption einer umfangreichen Zulassung von Beweisangeboten der Parteien entspricht weitgehend ihrer praktischen Anwendung. Die Gerichte engen die Zulassungskriterien der Rule 401, 402 FRE in ihrer Auslegung kaum ein, sondern bejahen in der Regel das Kriterium der relevance. Daher sind die Beweisangebote der Parteien nach Rule 401, 402 FRE im U.S.-amerikanischen Zivilprozess in sehr weitem Umfange zulässig.239
2. Die weiteren Schranken der Beweiszulassung nach Rule 403 FRE Das Kriterium der relevance in Rule 401, 402 FRE stellt nach dem eben gesagten eine verhältnismäßig niedrige Zulassungshürde dar, die lediglich solche Beweisangebote ausschließen soll, die für die Beweisaufnahme offensichtlich kaum einen Wert haben. Diese niedrige Zulassungshürde ist einerseits Ausdruck einer liberalen Politik der Beweiszulassung und der Bedeutung, die der Wahrheitserforschung im U.S.-amerikanischen Zivilprozess beigemessen wird. Andererseits enthalten die Federal Rules of Evidence mit Rule 403 FRE ein weiteres Korrektiv. Diese Norm sieht eine einzelfallbezogene Kosten-Nutzen-Analyse durch das Gericht vor und gibt ihm unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, auch solche Beweisangebote auszuschließen, die nach Rule 401, 402 FRE an sich zulässig wären.
236 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 170 f.; kritisch zu dieser weiten Konzeption der Zulässigkeit von Beweismitteln Crump, 34 Hous.L.Rev. 1 ff. und Friedman, 34 Hous.L.Rev. 55 ff. 237 Vgl. zum Indizienbeweis und seinen Zulassungsanforderungen Fishman, Jones on Evidence II, S. 270 ff. und Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1000 ff.; ausführlich zu den Beweisarten Patterson, 19 Vand.L.Rev. 1 ff. 238 Diesen Zusammenhang hebt Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 171 ff. hervor; ebenso Crump, 34 Hous.L.Rev. 1, 3 ff. 239 So Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 170 f.; zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Crump, 34 Hous.L.Rev. 1 ff. und Friedman, 34 Hous.L.Rev. 55 ff.; instruktiv zur Sichtweise der Gerichte auf die Regeln der Beweiszulassung die Fälle International Merger & Acquisition Consultants v. Armac Enters, Inc., 531 F.2d 821, 823 und Conway v. Chemical Leaman Tank Lines, Inc., 525 F.2d 927, 930.
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a) Die Beweisausschlussgründe der FRE und ihre teleologischen Grundlagen Rule 403 FRE unterteilt sich in zwei Arten von Beweisausschlussgründen: Zum einen können solche Beweismittel ausgeschlossen werden, bei denen die Gefahr, die jury zu verwirren oder über die Maße einseitig zu beeinflussen, außer Verhältnis zum Nutzen des Beweismittels steht. Es geht um den Ausschluss von unglaubwürdigen und zweifelhaften Beweismitteln und damit die Förderung der Wahrheitsfindung im Prozess.240 Zum anderen sieht Rule 403 FRE eine Kosten-Nutzen-Analyse vor, die einen Beweismittelausschluss ermöglicht, wenn der Wert des Beweismittels außer Verhältnis zu seinen monetären und zeitlichen Kosten steht. Mithin geht es hierbei um die Sicherung der Effizienz der Justiz.241 Rule 403 FRE stellt den Grundtypus aller Ausschlussgründe der Federal Rules of Evidence dar: Sämtliche Beweisregeln basieren in ihrer Ratio entweder auf der Sicherung der Wahrheitserforschung durch Ausschluss zweifelhafter und für die jury problematischer Beweismittel oder der Sicherung der Effizienz der Justiz.242 Einzig die privileges stellen insoweit einen Sonderfall dar. Im Übrigen lassen sich alle Beweisregeln der Federal Rules of Evidence auf einen oder beide Teile dieser Ratio zurückführen.243 Diese Ratio gilt es bei der nachfolgenden Darstellung der Rule 403 FRE, wie auch der einzelnen Beweisregeln stets im Hinterkopf zu behalten, da sich aus der Ratio einer Beweisregel zugleich ihre Reichweite ergibt: Die Wahrheitserforschung im Prozess hat einen Eigenwert und eine Beweisregel kann einen Ausschluss von Beweismitteln nur soweit rechtfertigen, wie es ihre Ratio verlangt.244 b) Unfair prejudice, confusion of the issus, missleading of the jury Die erste Gruppe von Ausschlussgründen in Rule 403 FRE dient dem Schutz der Wahrheitsfindung.245 Tatbestandlich kann der Richter ein Beweismittel nach seinem freien Ermessen unter bestimmten Voraussetzungen ausschließen: Die Gefahr der übermäßigen Beeinflussung, Verwirrung oder Irreführung der jury (unfair preju dice, confusing the issue or misleading the jury) muss den möglichen Nutzen des Beweismittel (probative value) in erheblichem Maße übersteigen (substantial out weighed). Das Merkmal der unfair prejudice meint die Beeinflussung der jury auf emotionaler Ebene.246 Entscheidend für dieses Tatbestandsmerkmal ist der Umstand, dass Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 194 f.; ausführlich Gold, 58 Wash.L.Rev. 497, 499 ff. Fishmann, Jones on Evidence II, S. 312 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 198 f. 242 Vgl. zu diesem Grundprinzip Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 465 ff.; ebenso Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 319 ff. 243 Siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 465 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 319 ff. 244 So etwa Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 467 ff. zu den privileges. 245 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 194 f.; Gold, 58 Wash.L.Rev. 497, 499 ff. 246 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, S. 194 ff.; ebenso Fishman, Jones on Evidence II, S. 294 ff. 240 Vgl. 241 Vgl.
118 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts die entsprechende Beeinflussung der jury unfair sein muss.247 Unfair iSd Rule 403 FRE kann ein Beweismittel sein, wenn es reißerisch oder schockierend ist und dabei allein auf die emotionale Beeinflussung der jury abzielt.248 Die Merkmale der Verwirrung oder Irreführung der jury (confusing the issue or misleading the jury) meinen die Beeinflussung auf kognitiver Ebene, wobei die Grenze zwischen den beiden Merkmalen fließend ist.249 Eine solche Beeinflussung kann beispielsweise vorliegen, wenn sich Beweisangebote allein auf Nebenfragen beziehen, um von der eigentlichen Streitfrage abzulenken oder die weitere Konzentration der jury zu schwächen.250 Das zweite Kriterium in der Abwägung ist der Wert des auszuschließenden Beweismittels. Dieser Wert ist durch den Richter anhand verschiedener Kriterien zu beurteilen: Die Bedeutung der zu beweisenden Tatsache, das Vorhandensein und die Zahl alternativer Beweismittel sowie die Überzeugungskraft des angebotenen Beweismittels.251 Die Abwägung erfolgt nach Rule 403 FRE dahingehend, dass ein Ausschluss von Beweismitteln nur dann in Frage kommt, wenn die Gefahr der Beeinflussung der jury den potentiellen Nutzen des Beweismittels erheblich übersteigt. Diese Formulierung lässt klar erkennen, dass der Ausschluss eines Beweismittels auch im Rahmen von Rule 403 FRE eine Ausnahme darstellen soll.252 Diese gesetzgeberische Entscheidung wird wiederum durch die praktische Auslegung der Gerichte bestätigt. Die Gerichte legen die Ausschlussmöglichkeit nach Rule 403 FRE eng aus und verneinen in der Regel das Vorliegen einer überwiegenden Gefahr der Beeinflussung der jury.253
247 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 194 f., die nicht zu Unrecht darauf hinweisen, dass das Beweisangebot einer Partei typischerweise für die andere Partei beeinträchtigend, also prejudi cial ist. 248 Eine Grundsatzentscheidung ist der Fall Old Chief v. United States, 519 U.S. 172, 117 S.Ct. 644, 136 L.Ed.2d 574; vgl. auch Cater v. Disctrict of Columbia, 795 F.2d 116; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 194 f. mwN. 249 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 197 f. mwN. 250 Vgl. den Fall United States v. Currier, 836 F.2d 11, 18; Fishman, Jones on Evidence, S. 298 ff. mwN. 251 Diese Auflistung der Kriterien findet sich bei Fishmann, Jones on Evidence II, S. 290 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen zu den jeweiligen Kriterien; 252 Vgl. den Fall Blancha v. Raymark Industries., 972 F.2d 507, 516; ebenso Mueller/Kirkpat rick, Evidence, S. 190; Fishman, Jones on Evidence II, S. 283 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 253 Vgl. etwa Brooks v. Chrysler Corp., 786 F.2d 1191, 1198; United States v. Jamil, 707 F.2d 638, 642 ff.; weitere, ausführliche Rechtsprechungsnachweise finden sich auch bei Fishmann, Jones on Evidence II, S. 283 f.
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c) Undue delay, waste of time, needless presentation of cumulative evidence Die zweite Gruppe von Ausschlusstatbeständen in Rule 403 FRE hat die Sicherung der Effizienz der Justiz zum Ziel.254 Die Ratio der Norm liegt nicht in der Sicherung einer zeitigen Entscheidung für die Parteien und – in Abgrenzung zu den anderen Ausschlusstatbeständen der Rule 403 FRE – auch nicht im Schutz der jury vor identisch wiederkehrenden Beweisangeboten. Diese Tatbestände sind allein der Einsicht geschuldet, dass die Ressourcen der Justiz begrenzt sind und bestmöglich genutzt werden müssen.255 Diese Ratio führt dazu, dass auch Beweismittel ausgeschlossen werden können, die für sich genommen glaubhaft und entscheidungserheblich sind und damit einen tatsächlichen Beweiswert haben. Es macht die Besonderheit der Rule 403 FRE aus, dass sich selbst der hohe Wert der Wahrheitserforschung im U.S.-amerikanischen Zivilprozess einer Kosten-Nutzen-Analyse stellen muss. Tatbestandlich ist nach Rule 403 FRE eine Abwägung zwischen dem potentiellen Wert des in Rede stehenden Beweismittels auf der einen Seite und der Gefahr einer unangemessenen Verzögerung, Zeitverschwendung oder der unnötigen Präsentation mehrerer Beweismittel für ein Beweisziel (undue delay, waste of time or needless presentation of cumulative evidence) auf der anderen Seite durchzuführen. Die Auslegung dieser Merkmale im Einzelfall erfolgt durch die Rechtsprechung anhand eines weiten Ermessensspielraumes.256 Das Merkmal der vielfachen Beweismittelpräsentation enthält indes seinerseits ein Schutzelement zugunsten der jury. Ein Ausschluss kommt oftmals in Betracht, wenn das in Rede stehende Beweismittel lediglich bereits zugelassene Beweismittel wiederholt.257 So kann etwa die Zahl der Zeugen zum Nachweis einer bestimmten Charaktereigenschaft einer Person beschränkt werden.258 Allgemein ist zu sagen, dass ein Ausschluss auch bei dieser zweiten Gruppe von Merkmalen nur in Betracht kommt, wenn die Gefahr einer Verzögerung den Nutzen des Beweismittels erheblich übersteigt. Diese Formulierung des Gesetzes spricht im Zweifelsfall für eine Zulässigkeit beantragter Beweismittel. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung die Effizienz der Justiz als ein „externes“ Merkmal erachtet und dessen Wert deutlich geringer ansetzt, als den Wert von Beweismitteln, die zur Fishmann, Jones on Evidence II, S. 284 f. und S. 312 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 198 f. 255 Vgl. den Fall Reeve v. Dennet, 145 Mass. 23, 28, 11 N.E. 938, 944, in dem Richter Holmes eine entsprechende Regelung des common law lange vor Einführung der FRE als eine concession to the shortness of life bezeichnete. 256 Vgl. United States v. Robinson, 560 F.2d 507, 514; siehe auch Mueller/Kirkpatrick, Evi dence, S. 198 f. mwN. 257 Instruktiv der Fall United States v. Jamil, 707 F.2d 638, 642 ff. mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. 258 So im Fall United States v. Garret, 716 F.2d 257, 272, cert. denied, 466 U.S. 937; weitere Beispiele bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 198 f. und Fishman, Jones on Evidence II, S. 313 f. 254 Vgl.
120 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts Wahrheitserforschung beitragen können.259 Mithin ist für die Praxis festzuhalten, dass Beweisangebote auch nach den Einschränkungsmöglichkeiten der Rule 403 FRE im Zweifel als zulässig angesehen werden.260 d) Sonderfall: Die character evidence nach Rule 404–415 FRE Einen Sonderfall stellt die Frage dar, ob ein Beweisangebot zulässig ist, das allein dem Nachweis einer bestimmten Charaktereigenschaft der gegnerischen Partei oder eines Zeugen dient (character evidence).261 Diese Fragestellung hat in Rule 404– 415 FRE ihre Regelung erfahren und ist nichtsdestoweniger Gegenstand ausführlicher Diskussionen in Rechtsprechung und Literatur.262 Im Grundsatz schließt Rule 404 (1) FRE Beweisangeboten aus, wenn sie allein den Nachweis eines bestimmten Charakterzuges betreffen. Die Ratio dieses Ausschlusses ist primär in der regelmäßig stark beeinflussenden Wirkung eines solchen Beweisangebotes zu erblicken.263 Zudem hat ein abstrakter Charakterzug für ein im konkreten Fall in Rede stehendes Verhalten einer Person regelmäßig nur geringe Bedeutung, so dass der Beweiswert von character evidence tendenziell gering ist.264 Diese Ratio lässt die Regelungen über character evidence als einen Sonderfall der Rule 403 FRE mit Bezügen zu Rule 401, 402 FRE erscheinen. Der grundsätzliche Ausschluss jeglicher character evidence in Rule 404 (a) (1) FRE wird in den nachfolgenden Regelungen um etliche Ausnahmen ergänzt. Der weit überwiegende Teil dieser Ausnahmeregelungen betrifft den allein den Strafprozess. Allerdings gibt es auch im Zivilprozess einige geschriebene und ungeschriebene Fälle, in denen ein Beweisangebot von character evidence – vorbehaltlich der Rule 401–403 FRE – zulässig ist: So kann nach Rule 404 (a) (3) FRE character 259 Eine sehr ähnliche Schlussfolgerung zieht Fishman, Jones on Evidence II, S. 312 f.; vgl. erneut den Fall United States v. Jamil, 707 F.2d 638, 642 ff. mwN. 260 So auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 190 f. und Fishman, Jones on Evidence, S. 283 f. jeweils mwN. 261 Vgl. zur Definition von character evidence den Fall United States v. West, 670 F.2d 675, 682; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 201 f. 262 Vgl. etwa die Ausführungen bei Fishman, Jones on Evidence III, S. 1–695 oder auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1013 ff. 263 Vgl. etwa den Fall Michelson v. United States, 335 U.S. 469, 475 f., 69 S.Ct. 213, 93 L.Ed. 168, der diese Ratio bereits für die – deutlich zulässigkeitsfreundlicheren – Regelungen des com mon law festhält; ebenso Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1015 ff.; vgl. zur Historie auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 201 ff.; eine grundsätzliche Kritik dieses Ausschlusstatbestandes formuliert Uviller, 130 U.Pa.L.Rev. 845 ff. 264 Vgl. die Ausführungen im Fall Campbell v. Greer, 831 F.2d 700, 707; siehe auch Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 202 ff. unter Verweis auf Mendez, 31 UCLA.L.Rev. 1003, 1050 ff., der anhand psychologischer Studien nachweist, dass Verhalten deutlich stärker situationsbedingt als charaktergebunden stattfindet und damit den potentiell geringen Beweiswert, wie auch die generelle Regelung in Rule 404 (a) FRE untermauert.
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evidence zulässigerweise im Rahmen eines Zwischenstreites über die Glaubwürdigkeit eines Zeugen (impeachment) nach Rule 607–609 FRE angeboten werden. Außerdem finden die Ausnahmeregelungen der Rule 404 (b) FRE grundsätzlich auch im Zivilprozess Anwendung.265 Hiernach kann früheres Fehlverhalten einer Person, insbesondere eine strafrechtliche Verurteilung, ausnahmsweise als Beweismittel in den Prozess eingebracht werden. Allerdings darf dies nach Rule 404 (b) (1) FRE nicht zum Nachweis einer Charaktereigenschaft geschehen. Vielmehr ist eine Einbringung solcher Beweismittel nur zum Nachweis anderer Tatsachen zulässig, die in Rule 404 (b) (1) FRE aufgelistet sind – etwa dem Motiv, einer Intention, Planung oder auch der Kenntnis einer Tatsache. Diese Ausnahmeregelung nach Rule 404 (b) FRE findet eine weitere Grenze in Rule 407–411. Hiernach dürfen bestimmte Verhaltensweisen einer Partei, die zeitlich der Klage nachfolgen, nicht zum Nachweis bestimmter Tatsachen nutzen. So darf allein aus dem Umstand, dass eine Partei ihrem Gegner nach einem schädigenden Ereignis geholfen hat, nicht auf eine etwaige Verantwortlichkeit geschlossen werden, Rule 407 FRE.266 Ebenso wenig darf aus einem angebotenen Vergleich oder der Zahlung von Medikamenten auf eine solche Verantwortlichkeit geschlossen werden, Rule 408, 409 FRE. Auch der Abschluss einer Unfallversicherung ist kein Indiz für die Fahrlässigkeit einer Partei, Rule 411 FRE. Der Telos des Ausschlusses dieser Beweismittel ist darin zu sehen, dass die genannten Verhaltensweisen in hohem Maße sozial gewünscht sind und gefördert werden sollen.267 Hinzu kommt, dass Hilfsbereitschaft einer Person nicht in jedem Fall auf einer persönlichen Verantwortlichkeit beruhen muss, sondern auch einen Ausdruck von Altruismus darstellen kann.268 Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der Rule 404 (a) (1) FRE wird zugelassen, wenn die in Rede stehende Charaktereigenschaft ein zentrales Element einer Klage bzw. Verteidigung darstellt (character as an element of charge, claim or de fense).269 Hierbei handelt es sich um eine ungeschriebene Ausnahme, die aus dem common law übernommen wurde. Allerdings wird diese Ausnahme in Rule 405 (b) FRE insofern vorausgesetzt, als diese Norm die Art und Weise des Nachweises in eben diesem Fall regelt. Daher hat diese Ausnahme auch unter Geltung der Federal Rules of Evidence allgemeine Anerkennung gefunden. Anwendungsfälle sind insbesondere der Nachweis der Fahrlässigkeit bei Einschaltung von Hilfspersonen (neg 265 Vgl. etwa Roshan v. Fard, 705 F.2d 102, 104 ff.; Dosier v. Miami Valley Broadcasting Corp., 656 F.2d 1295, 1300 f.; weitere Nachweise finden sich bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 215 f. 266 Eine Auflistung von Maßnahmen einer Partei, die von Rule 407 FRE erfasst sind findet sich bei Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 257 ff. 267 Vgl. etwa Werner v. Upjohn Co. 628 F.2d 848, 856 f.; cert. denied, 449 U.S. 1080, 101 S.Ct. 862, 66 L.Ed.2d 804; ebenso Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 257; Lilly, Evidence, S. 117 f. 268 Vgl. auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 257, die eher auf die allgemeine Unkenntnis der Rule 407 FRE bei Menschen ohne juristische Ausbildung abstellen. 269 So etwa Fishman, Jones on Evidence III, S. 64 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 245 ff. jeweils mwN.
122 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts ligent entrustment) und Klagen wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechtes (defa mation).270 Abschließend gilt es nach Rule 406 FRE den Nachweis von Charaktereigenschaft abzugrenzen vom Nachweis bloßer Gewohnheiten einer Person (habits). Rule 406 FRE normiert die generelle Zulässigkeit eines solchen Nachweises und steht damit im Kontrast zum generellen Ausschluss der Rule 404 (a) (1) FRE. Die Ratio dieser Regelung liegt darin, dass eine Gewohnheit eine sehr viel spezifischere Handlungsweise einer Person in einer spezifischen Situation beschreibt, als dies bei Charaktereigenschaften der Fall ist. Daraus resultiert ein ungleich höherer Beweiswert, wenn der streitige Sachverhalt mit derjenigen Situation der Gewohnheit vergleichbar ist.271 Aufgrund dieser Ratio lassen sich drei Kriterien bestimmen, die für das Vorliegen einer Gewohnheit herangezogen werden: Spezifität des Verhaltens, seine Regelmäßigkeit und Unbewusstheit (specific behaviour, Regularity and automatic).272 Zusammenfassend gibt es gerade im vorliegend interessierenden Zivilprozess nur wenige relevante Ausnahmetatbestände vom grundsätzlichen Ausschluss der cha racter evidence.273
3. Die privileges der Rule 501, 502 FRE Die privileges stellen eine weitere Grenze des Grundsatzes der Zulässigkeit von Beweismitteln iSd Rule 402 FRE dar. Allerdings normiert Rule 1101 (c) FRE die gleichförmige Anwendbarkeit von privileges in allen Abschnitten eines Zivilprozesses. Daher sei an dieser Stelle auf die vorangegangenen Ausführungen im Rahmen der pretrial discovery verwiesen.274
4. Weitere Schranken der Beweiszulassung nach Rule 402 FRE Die Federal Rules of Evidence enthalten zahlreiche weitere Beweisregeln, die den Ausschluss bestimmter Beweismittel in bestimmten Situationen regeln. Die nachfolgende Untersuchung soll einen kurzen Überblick der relevantesten Beweisregeln 270 Vgl. den Fall In re Aircrash in Bali, 684 F.2d 1301 (negligent entrustment) und Cox Broadcasting Corp. v. Cohn, 420 U.S. 469, 489 f., 95 S.Ct. 1029, 43 L.Ed.2d 328 (defamation); ausführlich zur Methode und mit weiteren Beispielsfällen aus der Rechtsprechung Fishman, Jones on Evidence III, S. 71 ff. 271 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 249 f.; so auch Fishman, Jones on Evidence III, S. 660 f. 272 Vgl. Frase v. Henry, 444 F.2d 1228, 1232 (Specific behavior); Wilson v. Volkswagen of America, Inc., 561 F.2d 494, 512 (regularity); cert. denied, 434 U.S. 1020, 98 S.Ct.744, 54 L.Ed.2d 768; United States v. Troutman, 814 F.2d 1428, 1455 (Automatic); zu diesen drei Kriterien auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 250 f. mwN. 273 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1024 ff. 274 Siehe oben IV. 4.
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geben. Dabei gilt es zu bedenken, dass diese Beweisregeln oftmals eine sehr umfangreiche Auslegung durch die Gerichte erfahren haben und sich dementsprechend in eine kaum zu überblickende Zahl von Einzelfällen zergliedern. Daher soll der Schwerpunkt im Folgenden auf der Darstellung der Ratio dieser Beweisregeln liegen, aus der sich sodann die praktische Anwendung durch die Gerichte ebenso ergibt, wie die Rückausnahmen zu diesen Beweisregeln. a) Hearsay rule Die wohl relevanteste und meistdiskutierte Beweisregel ist die sog. hearsay rule über den Ausschluss eines Zeugnisses vom „Hörensagen“ mit ihrer Regelung in Rule 801–807 FRE.275 aa) Der Grundsatz in Rule 802 FRE und seine Ratio Als Grundsatz normiert Rule 802 FRE, dass jegliches Zeugnis vom „Hörensagen“ als Beweismittel ausgeschlossen ist, wenn sich nicht aus einem Bundesgesetz, einer Regelung durch den Supreme Court oder den Federal Rules of Evidence etwas anderes ergibt. Die Ratio dieser Beweisregel liegt im Ausschluss eines Beweismittels, dessen Beweiswert als zweifelhaft erachtet wird.276 Für eine detaillierte Analyse dieser Ratio ist es lohnenswert, einen Blick auf diejenigen Merkmale zu werfen, die allgemein den Beweiswert einer Zeugenaussage bestimmen. Nach U.S.-amerikanischem Verständnis kann es bei einer jeden Zeugenaussage vier mögliche Fehlerquellen geben, deren (Nicht-) Vorhandensein den Beweiswert einer solchen Aussage ausmachen: – Der Zeuge kann das betreffende Ereignis aufgrund einer Sinnestäuschung bereits von vorherein falsch wahrgenommen haben (misperception). Die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist aufgrund seiner Physis begrenzt. Zudem werden Sinneseindrücke vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen und Bewertungen auch individuell wahrgenommen.277 – Wenn die zu bezeugende Situation anfänglich „richtig“ wahrgenommen wurde, so kann diese Erinnerung je nach Zeitablauf und Erinnerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Aussage „falsch“ geworden sein (faulty memory).278 Vgl. etwa Fishman, Jones on Evidence III, S. 203–777; Charles/Broun/Dix, McCormick II, §§ 244–327. 276 Vgl. bereits den Supreme Court in Queen v. Hepburn, 11 U.S. 290, 3 L.Ed 348; Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 783; siehe auch Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 175 ff. und Mor gan, 62 Harv.L.Rev. 177 ff., die im historischen Kontext auf die Entwicklung der hearsay-rule aufgrund der Probleme der jury bei der Bewertung solcher Beweisangeboten hinweisen. 277 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 783 f.; Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 178 f. 278 Siehe Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 784; instruktiv zu den wissenschaftlichen Hinter275
124 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts – Selbst wenn eine Situation anfänglich „richtig“ wahrgenommen wurde und auch auf diese Weise im Gedächtnis verblieben ist, so besteht doch stets die Gefahr einer Falschaussage (risk of insincerity).279 – Abschließend kann einem aufrichtigen Zeugen, der eine Situation „richtig“ wahrgenommen und im Gedächtnis behalten hat, dennoch die Fähigkeit fehlen, sich vor Gericht hinreichend artikulieren zu können und seine Erinnerungen so in Worte fassen zu können, dass das Gericht in die Lage versetzt wird, den wahren Sachverhalt zu erkennen (narrative ambiguity).280 Diese Gefahren sind grundsätzlich einer jeden Zeugenaussage immanent, allerdings gehen Rechtsprechung und Lehre in den USA davon aus, dass eine Zeugenaussage vor Gericht in mehrfacher Hinsicht eine besondere Gewähr für ihre Richtigkeit bietet: Ein Zeuge wird in den USA vor seiner Aussage stets dahingehend vereidigt, die Wahrheit zu sagen. Grundlage eines Zeugnisses vom „Hörensagen“ ist aber in aller Regel ein alltägliches Gespräch, bei dem Eide praktisch nicht mehr vorkommen.281 Zudem fehlt es – mangels Anwesenheit – an einem persönlichen Eindruck des Zeugen. Gewisse Indikatoren für bzw. gegen die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage anhand der Aussage selbst, wie auch des nonverbalen Verhaltens eines Zeugen, können daher nicht herangezogen werden.282 Abschließend haben die Parteien auch im Zivilprozess ein subjektives Recht auf Durchführung eines Kreuzverhöres.283 Dieses Recht dient nach U.S.-amerikanischem Verständnis in besonderem Maße der Aufdeckung etwaiger Mängel in einer Zeugenaussage und damit der Wahrheitsfindung. Bei der typischen Drei-Personen-Konstellation eines Zeugnisses vom „Hörensagen“ wird der gegnerischen Partei eben diese Möglichkeit genommen und zugleich diese Gewähr für die Wahrheitsfindung ausgeschlossen.284 Aufgrund des Fehlens dieser institutionellen Richtigkeitsgewährleistungen einer Zeugenaussage gründen Krist v. Eli Lilly & Co., 897 F.2d 293, 297; einen ausführlichen Hintergrund bietet auch Imwinkelried, 41 Fla.L.Rev. 215 ff. 279 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 178 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 784 f. 280 Vgl. wiederum Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 178 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evi dence, S. 785. 281 Vgl. zu diesem Argument etwa den Fall Bridges v. Wixon, 326 U.S. 135, 153 f., 65 S.Ct. 1443, 89 L.Ed. 2103; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 786 f.; Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 179. 282 Vgl. bereits den Fall Mattex v. United States, 156 U.S. 237, 241 ff., 15 S.Ct. 337, 39 L.Ed. 409; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 787 f.; Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 179 f. 283 Für den Strafprozess hat dieses Recht Verfassungsrang und folgt aus dem 6. Zusatzartikel. Im Zivilprozess ist ein solches Recht der Parteien ebenfalls anerkannt, vgl. California v. Green, 399 U.S. 149, 158 ff., 90 S.Ct. 1930, 26 L.Ed.2d 489, auch zur Bedeutung der cross-examination für die Wahrheitsfindung; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 654 ff. mwN aus der Rechtsprechung. 284 Diesen Aspekt heben Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 786 f. und Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 180 f. hervor; zum historischen Einfluss auf die Entwicklung der hearsay rule Mor gan, 4 U.Chi.L.Rev. 247, 251 ff.
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wird das Zeugnis vom „Hörensagen“ als ein besonders zweifelhaftes Beweismittel eingestuft. Hieraus resultiert der in Rule 802 FRE normierte Grundsatz, das Zeugnis vom „Hörensagen“ auszuschließen.285Auf der anderen Seite bildet diese Ratio zugleich die Grenze der hearsay rule und den Anknüpfungspunkt für die Ausnahmen von dieser Regel. bb) Definition von hearsay in Rule 801 FRE Tatbestandlich setzt die hearsay rule das Vorliegen eines Zeugnisses vom „Hörensagen“ (hearsay) voraus, Rule 802 FRE. Dieses Merkmal hat in Rule 801 FRE eine zweigeteilte Definition gefunden. Nach Rule 801 (c) FRE wird hearsay definiert als eine Aussage (statement), die der Aussagende außerhalb des Gerichtsprozesses getätigt hat und die nun von einer Partei zum Beweis einer Tatsache anbietet, die gewollter Gegenstand dieser Aussage war.286 Der Begriff der Aussage ist dabei weit gefasst und beinhaltet mündliche, wie schriftliche Behauptungen und auch nonverbale Äußerungen, Rule 801 (a) FRE.287 Diese Definition in Rule 801 FRE und jedes einzelne Merkmal sind Gegenstand ausführlicher Diskussionen und Fallgruppenbildungen. In der Praxis hat sich wohl folgende Kurzdefinition durchgesetzt: Hearsay is an out-of-court statement offered to prove the matter asserted 288 cc) Ausnahmen qua Gesetz und common law Die Ausnahmen zu diesem grundsätzlichen Ausschluss von hearsay in Rule 802 FRE sind kaum zu überblicken. Allein die Federal Rules of Evidence enthalten in Rule 801–807 FRE insgesamt 29 geschriebene Ausnahmetatbestände mitsamt einer Generalklausel in Rule 807 (a) FRE. Es erscheint daher wenig sinnvoll, diese Ausnahmetatbestände einzeln abzuhandeln. Vielmehr lassen sich die einzelnen Ausnahmen in aller Regel auf die Ratio der hearsay rule zurückführen: Es gilt auch insoweit der Grundsatz, dass jede einschränkende Beweisregel nur soweit reichen darf, wie es ihre Ratio erfordert.289 Nach seiner Ratio schließt Rule 802 FRE das Zeugnis vom „Hörensagen“ aus, da es sich um ein zweifelhaftes Beweismittel handelt und 285 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 783 und Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 175 ff. jeweils mwN. 286 Aus dem Begriff der Aussage (Assertion) wird insoweit geschlossen, dass ein gewisses Element des Dafürhaltens innerhalb der Aussage des Dritten enthalten gewesen sein muss, vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 183 ff.; für eine weite Auslegung dieses Begriffes Mueller/ Kirkpatrick, Evidence, S. 788 ff. 287 Aus der Gesetzesformulierung a persons´s assertion folgt, dass Anzeigen technischer Geräte, etc. nicht unter die hearsay rule fallen können, vgl. Lilly, Evidence, S. 143; ausführlich zu den Tatbestandsmerkmalen und jeweiligen Fallgruppen der hearsay Definition in Rule 801, Fishman, Jones on Evidence III, S. 210 ff. mwN. 288 Diese Definition führen Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 781 an. 289 Vgl. etwa Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 181 f. und Lilly, Evidence, S. 193 f.
126 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts die üblichen Mechanismen zur Sicherstellung eines glaubwürdigen Zeugnisses nicht eingreifen. Daher basieren die Ausnahmetatbestände allesamt darauf, dass besondere Umstände ausnahmsweise für eine erhöhte Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses sprechen.290 Sei es, dass eine Aussage spontan getätigt wurde oder vor einer öffentlichen Stelle erfolgt ist und schriftlich festgehalten wurde. Eine Ausnahme ist auch anerkannt, wenn eine Aussage privat schriftlich festgehalten und nachweislich sicher verwahrt wurde. Die normierten Ausnahmefälle in Rule 801–807 FRE haben gemein, dass entweder eine der vier Fehlerquellen von Zeugenaussagen ausgeschlossen bzw. verringert wird oder eines der drei Sicherungselemente zumindest teilweise wieder eingreift.291 Diese einzelfallbezogenen Ausnahmetatbestände werden in Rule 807 (a) FRE um eine Generalklausel ergänzt. Die Gerichte können hiernach im Einzelfall eine Ausnahme vom Grundsatz der Rule 802 FRE zulassen, wenn: – die Aussage eine den geschriebenen Tatbeständen vergleichbare, erhöhte Richtigkeitsgewähr aufweist, – eine entscheidungserhebliche Tatsache betrifft, – dieses Zeugnis potentiell einen höheren Beweiswert aufweist als andere, verfügbare Beweismittel und – die Zulassung den Erfordernissen der Federal Rules of Evidence, wie auch der Gerechtigkeit am besten entspricht. Diese Generalklausel zeigt gleichfalls anschaulich die Bedeutung, welche der Wahrheitserforschung im U.S.-amerikanischen Zivilprozess beigemessen wird: Es wird auch ein zweifelhaftes Beweismittel zugelassen, wenn zumindest eine gewisse Richtigkeitsgewähr besteht, bevor einer Partei überhaupt keine Beweismittel zur Verfügung stehen. b) Die weiteren Schranken der Rule 602 sowie 701–706 FRE Die Federal Rules of Evidence stellen neben der hearsay rule noch weitere Beweisregeln für die Zulässigkeit eines Zeugen und die Art und Weise seiner Aussage auf: Rule 602 FRE verlangt, dass ein Zeuge persönliche Kenntnis derjenigen Tatsachen haben muss, über die er Zeugnis ablegt (firsthand knowledge). Diese Vorfrage wird allgemein der Rule 104 (b) FRE zugeordnet, so dass der Richter im Verhältnis zur Eine weitere Unterteilung findet sich bei Lilly, Evidence, S. 194 f.; interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis von Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 586 auf den Entwurf zu den FRE: Dieser enthielt – etwas paradox – eine eigene Grundregel für die Ausnahmetatbestände, die auf eben diesen Umstand abstellte. Obgleich diese Regel letztlich nicht explizit übernommen wurde, so wird sie dennoch zur Auslegung der nun enthaltenen Ausnahmetatbestände sinngemäß herangezogen. 291 Dieses gemeinsame Element der Ausnahmetatbestände hebt auch Lilly, Evidence, S. 194 hervor. 290
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jury nur eine kurze Vorprüfung übernehmen darf.292 Außerdem gilt es zu bedenken, dass jegliches Zeugnis ohne persönliche Kenntnis dem gerade besprochenen Bereich des „Hörensagens“ zugeordnet werden müsste, so dass Rule 602 FRE insoweit eine Selbstverständlichkeit normiert. Eine weitere Schranke für die Art und Weise einer Zeugenaussage normiert Rule 701 FRE: Ein Zeugnis soll sich grundsätzlich auf die Beschreibung der zu beweisenden Tatsachen beschränken und nur unter gewissen Voraussetzungen eine eigene Meinung oder Bewertung dieser Fakten durch den Zeugen enthalten. Die Ratio dieser Beweisregel liegt wiederum in der Sicherung der Wahrheitserforschung im Zivilprozess und dem Schutz der jury vor qualitativ schwer einzuschätzenden Bewertungen eines Zeugen.293 Tatbestandlich lässt Rule 701 FRE eine Meinungsäußerung durch einen Zeugen nur zu, wenn: – der Zeuge eigene Kenntnis über die der Meinung zugrundeliegenden Tatsachen hat, – die Meinungsäußerung entweder dem Verständnis des Zeugnisses insgesamt oder dem Nachweis entscheidungserheblicher Tatsachen dient und – es sich nicht um Spezialwissen iSd Rule 702 FRE handelt. Das Tatbestandsmerkmal der eigenen Kenntnis ist deckungsgleich mit dem allgemeinen Erfordernis persönlicher Kenntnis in Rule 602 FRE.294 Das zweite Tatbestandsmerkmal stellt sich als das eigentliche Zulassungskriterium von Meinungsäußerungen eines Zeugen im Zivilprozess dar: Diese Merkmal erfährt durch die Rechtsprechung eine weite Auslegung: Wenn eine abschließende Meinungsäußerung die Aussage des Zeugen abrundet, so wird sie regelmäßig auch für zulässig erachtet. Die eigenen Eindrücke eines Zeugen sind oftmals ein wichtiger Bestandteil eines Zeugnisses und können den eigentlichen Beweiswert einer Aussage ausmachen, so dass sie gleichfalls zugelassen werden.295 Ausgeschlossen sind hiernach nur solche Meinungsäußerungen eines Zeugen, die erkennbar keinen Beweiswert haben oder aus der Luft gegriffen sind.296 Das letzte Tatbestandsmerkmal in Rule 701 FRE dient der Abgrenzung zu Rule 702 FRE. Es soll verhindert werden, dass Sachverständige Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 63 f. mwN. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 688; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 178 ff. jeweils mwN. 294 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick II, S. 74 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 689 jeweils mwN. 295 Vgl. etwa Haun v. Ideal Indus., Inc. 81 F.3d 541, 548; Soden v. Freightliner Corp., 714 F.2d 498, 510 ff.; ähnlich Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 691 ff.; Charles/Broun/Dix, McCormick I, 71 ff. 296 Vgl. United States v. Philips, 600 F.2d 535, 538 ff.; Kostelecky v. NL Acme Tool/NL Indus., Inc. 837 F.2d 828, 830; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 689 ff.; Charles/Broun/Dix, McCormick I, 71 ff. mwN. 292 Vgl. 293 Vgl.
128 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts einer Partei als bloße Zeugen auftreten und so die Regelungen in Rule 702–706 FRE umgangen werden.297 Sachverständige unterliegen in diesem Zusammenhang eigenen Regeln. Rule 702 FRE lässt beim Sachverständigenbeweis eine Meinungsäußerung generell zu. Hintergrund dieser abweichenden Normierung ist, dass sich bei einem Sachverständigen sehr viel fundierter beurteilen lässt, auf welchen Fakten seine Meinung basiert und welcher Wert dieser Meinung beigemessen werden kann.298 Zudem stellt die eigene Expertise des Sachverständigen anhand der konkreten Faktenlage quasi den Kern des Sachverständigenbeweises dar.299 Allerdings muss der Sachverständige dementsprechend auch die wissenschaftlichen Grundlagen offenlegen und ggf. erläutern, auf denen seine Expertise beruht, Rule 703 und 705 FRE. c) Leading Questions Eine weitere Beweisregel der Federal Rules of Evidence schränkt die Art und Weise der Zeugenbefragung ein: Rule 611 (c) FRE normiert ein grundsätzliches Verbot von Suggestivfragen an einen Zeugen. Die Ratio dieser Vorschrift ist erneut der Schutz der Wahrheitsfindung im Prozess.300 Hintergrund sind die Spezifika im Vorfeld eines U.S.-amerikanischen Zivilprozesses: Die Zeugen werden bereits in der pretrial Phase durch die Anwälte befragt und – je nachdem welcher Partei ihre Aussage im Prozess hilft – eben dieser Partei „zugeordnet“.301 Die Zeugen werden von der jeweiligen Seite aufgerufen und im Vorfeld des Prozesses auf ihre Aussage vorbereitet, regelmäßig sogar trainiert. Gerade aufgrund dieser Vorbereitungsphase stehen die Zeugen sprichwörtlich „im Lager“ einer Partei. Im späteren Prozess würde die Zulassung von Suggestivfragen es dem jeweiligen Anwalt in noch weiterem Umfang erlauben, die Aussagen „seiner“ Zeugen in die gewünschte Richtung zu steuern.302 Hinzu kommt, dass Suggestivfragen auch bei „neutralen“ Zeugen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, auch nur unbewusst die in der Suggestivfrage angelegte Meinung anzunehmen.303 Aus dieser Ratio folgen zugleich die Ausnahmen von dieser Regel: Nach Rule 611 (c) (1)–(2) FRE sind Suggestivfragen sowohl im Rahmen des Kreuzverhörs als Charles/Broun/Dix, McCormick I, 76 f. unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien. Diese Vorprüfung kommt dem Richter zu, vgl. Lilly, Evidence, S. 361 ff. 299 Dementsprechend kann die Zulassung der Meinung eines Sachverständigen aber auch verweigert werden, wenn der Richter diese Meinung für wissenschaftlich nicht fundiert erachtet, vgl. etwa Toubiana v. Priestly, 520 N.E.2d 1307; siehe auch Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 111 ff. mwN. 300 Vgl. Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 649 ff.; Lilly, Evidence, S. 10 ff. 301 Diese Vorbereitungsphase erläutert Lilly, Evidence, S. 11 unter Hervorhebung dieser strikten Zuordnung. 302 Vgl. Lilly, Evidence, S. 11; ähnlich auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 650 f. 303 Siehe Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 650 und Lilly, Evidence, S. 11. 297 Vgl. 298
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auch bei „feindlichen“ Zeugen bzw. der Befragung der gegnerischen Partei erlaubt. In beiden Fällen stehen die Zeugen gerade nicht „im Lager“ der befragenden Partei, so dass zumindest die Gefahr eines bewussten Zusammenwirkens durch Suggestiv fragen minimiert wird.304 Auf dieser Ratio basieren auch weitere, ungeschrieben Ausnahmen vom Verbot der Suggestivfragen, die im Ermessen des Gerichtes stehen: Sie können erlaubt werden, um Vorfragen wie etwa die Personalien eines Zeugen zu klären.305 Außerdem darf bei Zeugen, die das betreffende Thema ganz oder teilweise vergessen haben, in gewissem Umfang auf Suggestivfragen zurückgegriffen werden, ebenso wie bei sehr jungen Zeugen.306 Hier zeigt sich wiederum die Tendenz, dass im Zweifel die Wahrheitserforschung auch mittels eines zweifelhafteren Beweismittels ein Vorrang eingeräumt wird, wenn andernfalls keinerlei Beweismittel zur Verfügung stehen würden. d) Best evidence rule Als Abschluss dieses Themenkomplexes soll noch ein Blick auf eine alte Beweisregel des common law geworfen werden, die heute in Rule 1001–1008 FRE ihre Normierung gefunden hat: Die best evidence rule. Nach dem Grundsatz der Rule 1002 FRE darf der Beweis des Inhaltes einer Urkunde, einer Aufzeichnung oder Fotografie (writing, recording or photograph) nur durch das Original derselben geführt werden. Ausgeschlossen sind zum einen etwaige Abschriebe, beispielsweise einer Urkunde, und zum anderen sog. „sekundäre“ Beweismittel – etwa ein Zeugnis über den Inhalt der Urkunde oder zur Beschreibung einer Fotografie.307 Die best evidence rule stellt insofern einen Fremdkörper im U.S.-amerikanischen Prozessrecht dar, als die Parteien im Grundsatz die absolute Freiheit darüber haben, welche Tatsachen sie mit welchen Beweismitteln im Prozess nachweisen möchten.308 Ihre Ratio liegt wiederum im Schutz der Wahrheitsfindung im Prozess.309 Durch das Erfordernis des Originals sollten versehentliche oder auch absichtliche Fehler bei der Übertragung vom Original auf eine Kopie vermieden werden. Diese Gefahr besteht auch bei einem Zeugnis über den Inhalt einer Urkunde, Aufzeichnung oder Fotografie. Zudem kann eine solche Beschreibung nur in den seltensten Fällen den Detailgrad des OriVgl. wiederum Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 651 ff. und Lilly, Evidence, S. 12 f. Hierbei handelt es sich schlicht um ein Zugeständnis an die Effizienz des Prozesses, vgl. etwa den Fall Stine v. Marathon Oil Co., 976 F.2d 254, 266; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 653. 306 Vgl. United States v. Butler, 56 F.3d 941, 943 (sehr junges Opfer einer Straftat) mwN; United States v. McGovern, 499 F.2d 1140, 1142 (Auffrischung des Gedächtnisses); Mueller/Kirkpat rick, Evidence, S. 652 f. 307 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 127 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1190 ff. mwN. 308 So ausdrücklich Lilly, Evidence, S. 417 f.; ebenso Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1189 ff. mwN; einen anderen Ansatz einer allgemeinen best evidence rule legt beispielsweise Nance, 73 Iowa.L.Rev. 227 ff. dar. 309 Vgl. Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 128 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1191 ff. 304
305
130 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts ginals wirklich wiedergeben, so dass die Vorlage des Originals das „beste Beweismittel“ darstellt und der Wahrheitsfindung dient.310 Allerdings hat auch diese Beweisregel nach ihrer Ratio gewisse Ausnahmen erfahren: Aufgrund der Qualität der modernen Vervielfältigungstechniken ist die Gefahr versehentlicher Fehler bei einem Abschrieb sehr gering. Daher lässt Rule 1003 FRE auch ein Duplikat (duplicate) als Beweismittel genügen. Voraussetzung ist jedoch, dass keinerlei Zweifel an der Authentizität des Originals bestehen und die Zulassung nicht aus anderen Gründen unfair für die gegnerische Partei wäre.311 Zudem ist unter einer Kopie iSd Rule 1003 FRE nur eine solche Vervielfältigung zu verstehen, die eine gewisse Qualität und Gewähr für die Identität von Kopie und Original aufweist, wie Rule 1001 (e) FRE klarstellt.312 Weitergehend genügt nach Rule 1005 FRE bei öffentlichen Urkunden oder Aufzeichnung bereits eine Kopie derselben als zulässiges Beweismittel für ihren Inhalt. Voraussetzung ist die ordnungsgemäße Herstellung dieser Urkunde/Aufzeichnung nach Rule 902 FRE bzw. der Nachweis der Richtigkeit mithilfe von Zeugnissen. Hintergrund ist die erhöhte Richtigkeitsgewähr, die der Tätigkeit der öffentlichen Hand entgegengebracht wird.313 Eine letzte Ausnahme findet sich in Rule 1004 FRE, wenn das Original entweder zerstört wurde oder die Vorlage aufgrund des Besitzes der gegnerischen Partei oder eines Dritten im Prozess nicht erreicht werden kann. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr die Tendenz, auch ein zweifelhafteres Beweismittel zuzulassen, wenn einer Partei andernfalls keinerlei Beweismittel zur Verfügung stehen würden.
VI. Zusammenfassung und Ergebnisse Die U.S.-amerikanische Bundesverfassung enthält im 5. und 14. Zusatzartikel mit der sog. due-process clause prozessuale Garantien für den Zivilprozess. Teilweise wird aus diesen Garantien ein explizites right to present evidence gefolgert. Dieses Recht soll die Einbringung von Beweismitteln im Zivilprozess sicherstellen und 310 Vgl. zu den einzelnen Begründungsaspekten der best evidence rule Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 128 ff. und Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1191 ff.; ausführlich bereits Cleary/ Strong, 51 Iowa.L.Rev. 825 ff. 311 Unfair kann die Zulassung beispielsweise sein, wenn ein wichtiger Teil des Dokumentes bei der in Rede stehenden Kopie fehlt, vgl. den Fall Ruberto v. C.I.R., 774 F.2d 61; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 148 ff. 312 Zu den Hintergründen dieser Norm, sowie den Anforderungen an eine akkurate Vervielfältigung siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 144 ff.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1211 f.; instruktiv auch der Fall Equitable Life Assurance Socy. of the United States v. Starr, 241 Neb. 609, 615 ff., 489 N.W.2d 857. 313 So etwa Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 1229 ff. unter Verweis auf die entsprechenden Gesetzesmaterialien zu Rule 1005 FRE; ebenso Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 163 ff.
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explizit als Maßstab für die Ausgestaltung und Auslegung des einfachen Rechtes dienen. Nach herrschender Auffassung leitet sich aus den verfassungsrechtlichen Garantien in Form des right to be heard ein flexibler Maßstab an verfassungsrechtlichen Garantien ab. Diese Garantien gelten einheitlich für den Bund wie auch die Einzelstaaten. Ihr Inhalt beschränkt sich nicht allein auf das rechtliche Gehör, sondern kann den Parteien im Einzelfall das Recht gewährleisten, ihren Fall zu präsentieren und Beweismittel vorzutragen. Daher lässt sich konstatieren, dass ein Recht auf Beweis zumindest Gegenstand des Diskurses in der U.S.-amerikanischen Literatur ist. Außerdem enthält die Bundesverfassung nach einhelliger Meinung ein ganzes Bündel an prozessualen Garantien, die zusammengenommen ein Äquivalent zu einem Recht auf Beweis darstellen können. Allerdings unterliegen die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nach herrschender Ansicht einer Kosten-Nutzen-Analyse, so dass ihr Umfang je nach Fallgestaltung variiert. Als einzelfallunabhängige „Mindestgarantie“ wird allein das rechtliche Gehör gewährleistet, nicht aber die Garantien eines Rechts auf Beweis. Dessen ungeachtet lässt sich festhalten, dass der Wahrheitserforschung durch die Parteien im Zivilprozess ein hohes Gewicht in der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung und Literatur beigemessen wird. Obgleich die Fundierung regelmäßig nicht im Verfassungsrecht gesucht wird, hat die Sachverhaltsaufklärung bei der Abwägung der Reichweite von Beweisregeln eine überaus große Bedeutung. Ein möglichst umfassend aufgeklärter Sachverhalt wird als Grundlage für eine gerechte gerichtliche Entscheidung angesehen und entsprechend in die Abwägung im Einzelfall mit eingestellt. Im Rahmen der U.S.-amerikanischen Bundeszivilprozessordnung, der Federal Rules of Civil Procedure, ist für eine Untersuchung eines Rechts auf Beweis schwerpunktmäßig die Phase der pretrial discovery interessant. Die Parteien des Zivilprozesses haben ein Recht auf Durchführung einer pretrial discovery. Sie stellt ein zentrales Instrument des U.S.-amerikanischen adversary-system dar und soll die Aufdeckung von Beweismitteln durch die Parteien des Zivilprozesses ermöglichen und zugleich eine umfassende Wahrheitserforschung sicherstellen. Bereits die gesetzlichen Regelungen erlauben eine sehr weitreichende discovery. Die einzelnen Instrumente des discovery ermöglichen die umfassende Aufdeckung nahezu jeder Tatsache, die auch nur einen entfernten Bezug zu entscheidungserheblichen Tatsachen für den Zivilprozess aufweisen. Die Praxis der Rechtsprechung geht vielfach über diesen gesetzlichen Rahmen hinaus und ermöglicht eine noch weitgehende discovery, unter Einschluss der ausforschenden Aufdeckung von Beweismitteln durch sog. fishing expeditions. Das U.S.-amerikanische Beweisrecht des Bundes, die Federal Rules of Evidence, enthält in Rule 402 FRE den Grundsatz, dass die Parteien des Zivilprozesses ein subjektive Recht haben, jedes Beweismittel in den Zivilprozess einzubringen, solange es sachdienlich ist und die Bundesverfassung, das Beweisrecht des Bundes sowie
132 1. Hauptteil: Rechtshistorische und rechtsvergleichende Grundlagen des Beweisrechts sonstige Bundesgesetz nichts Anderes normieren. Mithin enthalten die Federal Rules of Evidence einen ganz wesentlichen Teilgehalt eines Rechts auf Beweis. Allerdings findet sich im U.S.-amerikanischen Beweisrecht zugleich eine Vielzahl an Beweisregeln, die dieses Recht auf eine Beweiserhebung wieder beschränken. Durch diese Beweisregeln wird zudem die nahezu uferlose Weite der pretrial discovery ein Stück weit wieder eingefangen. Das Beweisrecht stellt im U.S.-amerikanischen Zivilprozess sozusagen das „Nadelöhr“ dar, durch das die Beweismittel für eine Zulassung im Prozess gelangen müssen. Die Beweisregeln der Federal Rules of Evidence lassen sich in ihrer Ratio grundsätzlich auf zwei Merkmale zurückführen: Sie sollen zum einen die Wahrheitserforschung und insbesondere den Schutz der jury vor Verwirrung und Manipulation sicherstellen. Zum anderen haben sie die Steigerung der Kosten- und Zeiteffizienz im Zivilprozess zum Ziel. Eine Besonderheit stellen die privileges dar: Sie können den Umfang der Wahrheitserforschung im Prozess begrenzen und auch sachdienliche Beweismittel ausschließen, lassen sich aber in ihrer Ratio weder auf die Sicherung der Wahrheitserforschung, noch auf eine Steigerung der Effizienz des Prozesses zurückführen. Vielmehr dienen die privileges dem Schutz von Rechten des Einzelnen, denen qua Verfassung, Gesetz oder common law ein Vorrang gegenüber der umfassenden Wahrheitserforschung eingeräumt wird. Zugleich sollen sie gewisse, sozial gewünschte Verhaltensweisen fördern. Als einigendes Band zwischen den privile ges und den sonstigen Beweisregeln lässt sich jedoch der enge Zusammenhang zwischen ihrem Umfang und ihrer Ratio festhalten: Aus der eigenständigen Bedeutung der Wahrheitserforschung nach U.S.-amerikanischem Verständnis folgt, dass jede Begrenzung derselben rechtfertigungsbedürftig ist. Diese Rechtfertigung erfolgt anhand der exakt analysierten und herausgearbeiteten Ratio einer jeden Beweisregel. Mithin stellt die Ratio einer Beweisregel zugleich ihre äußerte Grenze dar: Eine jede Beweisregel kann das Recht auf Einbringung von Beweismitteln aus der Bundesverfassung, wie auch aus Rule 402 FRE nur soweit begrenzen, wie die Ratio der Beweisregel diese Begrenzung erfordert. Ein zweiter, überraschender Aspekt im U.S.-amerikanischen Beweisrecht ist die große Zahl derjenigen Beweisregeln, die speziell den Schutz der jury sicherstellen sollen. Die jury wird als ein unverzichtbares, demokratisches Element der Justiz in den USA angesehen und hervorgehoben. In der praktischen Ausgestaltung ihrer Rolle zeigen sich indes anhand dieser großen Zahl an Beweisregeln sehr deutliche Vorbehalte. Zahlreiche Beweismittel dürfen entweder überhaupt nicht, nur unter gewissen Voraussetzungen oder in gewissem Umfang präsentiert werden. Dabei erfolgt stets eine „Vorprüfung“ durch den Richter. Diese Prüfung stellt insofern einen interessanten Aspekt dar, als der jury hierdurch grundsätzlich nur diejenigen Beweismittel präsentiert werden, die auch zulässig sind. Anders als bei einem allein zur Entscheidung berufenen Gericht muss sie daher nicht versuchen, bei der Beweiswürdigung diejenigen Beweismittel aus dem eigenen Gedächtnis zu verdrän-
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gen, die allein der Manipulation auf kognitiver oder insbesondere emotionaler Ebene dienen. Ob dieses „Vergessen“ unzulässiger Beweismittel im Rahmen der Beweiswürdigung durch einen auch noch so erfahrenen Berufsrichter in jedem Fall sichergestellt ist, erscheint durchaus diskutabel. Mithin könnte eine solche „Vorprüfung“ einen interessanten Aspekt darstellen. Allerdings ist ihr Zeit- und Kostenaufwand gerade im Rahmen eines jury Prozesses ganz erheblich. Zugleich bleibt fraglich, ob das vorprüfende Gericht nicht seinerseits der gleichen Manipulation anheimfallen könnte. Die Beweisregeln in den Federal Rules of Evidence unterliegen zudem einer kaum zu übersehenden Zahl von Rückausnahmen. Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung die Beweisregeln und insbesondere ihre Rückausnahmen wiederum im Lichte derjenigen Bedeutung ausgelegt, die der Wahrheitserforschung durch die Parteien beigemessen wird. Daher lässt sich tendenziell eine weite Auslegung geschriebene und die teilweise Schaffung ungeschriebener Rückausnahmen von den Beweisregeln der Federal Rules of Evidence konstatieren. Diese Vielzahl an Beweisregeln mit ihren geschriebenen und ungeschriebenen Rückausnahmen führen zu einem sehr hohen Komplexitätsgrad des U.S.-amerikanischen Beweisrechts und einer außerordentlich hohen Einzelfallabhängigkeit. Als Fazit des Gesagten lässt sich festhalten, dass das U.S.-amerikanische Zivilprozessrecht des Bundes durchaus ein Recht auf Beweis kennt. Es wird durch zahlreiche Regelungen ausgestaltet und begrenzt. Allerdings ist gerade in der Praxis eine Tendenz hin zu einer liberalen Handhabung der Beweismittelzulassung erkennbar, so dass im Zweifelsfalle Beweismittel im U.S.-amerikanischen Zivilprozess zugelassen werden.
2. Hauptteil
Das Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta
§ 4
Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis Der erste Hauptteil dieser Untersuchung diente der Erarbeitung von Grundlagen zur Erlangung eines besseren Verständnisses des Beweisrechts durch eine rechtshistorische und rechtsvergleichende Betrachtung. Nun soll als ersten Schritt des zweiten Hauptteils die Grundthese dieser Arbeit dargestellt werden: Es existiert im deutschen Grundgesetz, wie auch in der EMRK und der europäischen Grundrechte charta ein Recht auf Beweis der Parteien des Zivilprozesses. Diese Existenz des Rechts auf Beweis ist in allen drei untersuchten Grundrechtskatalogen nach hier vertretener Auffassung argumentativ zwingend.
I. Zur Begründung der zwingenden Existenz eines Rechts auf Beweis im GG Das deutsche Grundgesetz gewährleistet das prozessuale (Grund)- Recht auf Beweis. Zum Nachweis dieser These müssen einige der grundlegendsten Werte und Prinzipien unseres Rechtssystems in den Blick genommen werden: Das Rechtsstaatsprinzip stellt eines der wesentlichsten Grundprinzipien unseres Staates dar und unterfällt durch seine Fundierung in Art. 20 III GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG.1 Einer der zentralen Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips ist nach allgemeinem Verständnis das staatliche Gewaltmonopol: Den Bürgerinnen und Bürgern ist es hiernach untersagt, ihre – gerade auch durch das Grundgesetz verliehenen – Rechte mittels Selbsthilfe vollkommen selbstständig durchzusetzen. Dieses Gewaltmonopol stellt das logische Resultat aus jahrhundertelanger, bitterer Erfahrung und Erkenntnis dar, dass die selbstständige Rechtsdurchsetzung zu einem dauerhaften Unfrieden in einer Gesellschaft führt.2 Problematisch an dieser selbstständigen Rechtsdurchset1 Zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips vgl. bereits BVerfGE 7, S. 89, 92 f.; instruktiv auch BVerfGE 35, S. 41, 47 f.; ausführlich zu Historie und einzelnen Gewährleistungen des Rechtsstaatsprinzips auch Sobota, das Prinzip Rechtsstaat, S. 27 ff. und 263 ff.; siehe auch Isensee/Kirchhoff-Schmidt-Aßmann, HStR II, § 26 jeweils mwN. 2 Instruktiv zur Bedeutung des Gewaltmonopols die Ausführungen von BVerfGE 54, S. 277, 291 ff.; ausführlich auch Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff. und Walter, freie Beweiswürdigung, S. 301 ff. jeweils mwN.
138
2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
zung erscheint zunächst, dass sich regelmäßig beide Parteien jeweils im Recht sahen und sodann für ihr subjektiv als existent empfundenes Recht gekämpft haben – mangels Alternativen oftmals auch im wahrsten Sinne und mit Waffengewalt. Hinzu kommt, dass bei dieser Art der Rechtsdurchsetzung in aller Regel eben nicht diejenige Person gewinnt, die das Recht tatsächlich auf ihrer Seite hat, sondern vielmehr die persönlich oder auch wirtschaftlich stärkere Partei obsiegt. Die Selbsthilfe führt somit letztlich zu einem massiven Unfrieden und der bloßen Geltung des „Rechts“ des Stärkeren. Der Zusammenhang zwischen staatlichem Gewaltmonopol und Rechtsstaatsprinzip wird an dieser Stelle ganz besonders deutlich. Für den Rechtsstaat nach modernem Verständnis ist die Beanspruchung eines Gewaltmonopols iSe Schaffung und Erhaltung des Friedens innerhalb einer Gesellschaft eines seiner Wesensmerkmale.3 Dieses staatliche Gewaltmonopol verbietet dem Einzelnen somit die eigenmächtige Durchsetzung seiner Rechte zum Wohle des Friedens innerhalb der Gesellschaft insgesamt. Hieraus resultiert jedoch zwingend, dass der Staat den so „eingeschränkten“ Bürgerinnen und Bürgern eine alternative Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung zur Verfügung stellen muss. Die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols steht und fällt mit dieser Möglichkeit private Rechte weiterhin durchsetzen zu können. Wenn dem Einzelnen keine staatlich garantierte Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung verbleibt, so wäre die Rückkehr zur Selbsthilfe die logische, wenn auch äußerst unangenehme Konsequenz. Der deutsche Staat stellt seinen Bürgerinnen und Bürgern daher die Zivilgerichtsbarkeit als formalisierten Weg der Rechtsdurchsetzung zur Verfügung.4 Diese Rechtsdurchsetzung unter Inanspruchnahme der Zivilgerichtsbarkeit erfordert jedoch zwingend den Nachweis der geltend gemachten Rechte innerhalb des Prozesses. Der Staat tritt im Rahmen des Zivilrechtsweges als neutraler Entscheider der Streitigkeit auf. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass das erkennende Gericht gerade nicht an den in Streit stehenden Vorgängen beteiligt war und somit keine eigene Kenntnis dieses Sachverhaltes innehat. Das Erfordernis des Nachweises eigener Rechte ist daher ein notwendiges Merkmal in dem so gedachten Zivilprozess. Die ZPO geht konsequenterweise vom Beibringungsgrundsatz aus, der den Nachweis des Sachverhaltes den Prozessparteien zuweist.5 Wenn nun aber die Zivil3 Vgl. einmal mehr BVerfGE 54, S. 277, 291 ff.; instruktiv auch BVerfGE 81, S. 347, 356 und BVerfGE 85, S. 337, 346 ff. jeweils mwN. 4 Zur Herleitung des Justizgewährungsanspruches siehe bereits BVerfGE 54, S. 277, 291 ff.; st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 85, S. 337, 345 ff.; BVerfGE 107, S. 395, 401; BVerfGE 112, S. 185, 207 f.; ausführlich zum Zusammenhang zwischen Gewaltmonopol und Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auch Dütz, rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, §§ 17–20; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff.; Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff. und Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 ff. jeweils mwN. 5 Vgl. zu diesem Grundsatz der ZPO etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 1 ff. mwN.
§ 4 Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis
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gerichtsbarkeit den einzigen Weg der Rechtsdurchsetzung darstellt und die Parteien innerhalb dieses Weges zwingend die Aufgabe haben, ihre Rechte nachzuweisen, so muss ihnen ebenso konsequenterweise auch die Möglichkeit dieses Rechtsnachweises an die Hand gegeben werden. Die Parteien müssen mithin ein Recht auf Beweis haben.6 Legitimation kann die Zivilgerichtsbarkeit dem staatlichen Gewaltmonopol daher nur in dem Fall verleihen, dass der bereitgestellte Weg auch tatsächlich eine effektive Rechtsdurchsetzung ermöglicht. Andernfalls würde den Parteien zwar ein bestimmtes Prozedere gewährleistet, in dessen Rahmen sie vor Gericht gelangen und auch ihre Sichtweise darstellen könnten. Doch wenn den Parteien das Recht des Nachweises ihrer Sichtweise verwehrt ist, so würde am Ende dieses „schönen Scheins“ zwangsläufig der Prozessverlust für diejenige Partei stehen, die das Risiko der Nichterweislichkeit der behaupteten und nachzuweisenden Tatsachen trägt. Ohne ein Recht auf Beweis vermag die Eröffnung der Zivilgerichtsbarkeit zum Zwecke privater Rechtsdurchsetzung dem staatlichen Gewaltmonopol keinerlei Legitimation zu verleihen. Dabei muss zugleich klar gesagt werden, dass die Parteien gerade keine Gewährleistung dafür erhalten, den Prozess letztlich zu gewinnen, selbst wenn das Recht im Einzelfall tatsächlich auf ihrer Seite ist. Auch ein mehrstufiger Instanzenzug kann die theoretische Möglichkeit rechtlicher Fehler nicht gänzlich ausschließen. Insbesondere verbleibt auch bei einer noch so intensiven Beweisaufnahme das Risiko, den Sachverhalt entweder nicht oder zumindest nicht der Wahrheit entsprechend aufklären zu können. Dennoch müssen das Gerichtssystem und vor allem das Recht derart ausgestaltet sein, dass die rechtsuchenden Parteien zumindest theoretisch in die Lage versetzt werden den von ihnen angestrebten Prozess auch zu gewinnen und ihr Recht durchzusetzen. Eben diese Möglichkeit eines Prozessgewinnes ist ohne ein Recht auf Beweis nicht denkbar, so dass dieses Recht elementar mit der Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols und damit letztlich auch dem Rechtsstaatsprinzip verbunden ist. Somit ist die Existenz eines Rechts auf Beweis im deutschen Grundgesetz bereits anhand dieser primären Argumentationslinie über das Rechtsstaatsprinzip und das staatliche Gewaltmonopol nach hier vertretener Ansicht zwingend.7 Diesen Grundgedanken zu seiner Existenz folgend, lässt sich das im EinzelIn diesem Sinne bereits die Argumentation von Dütz, rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, S. 118 ff. zugunsten einer tatsächlichen Prüfung des Sachverhaltes; dieser Argumentation zugunsten eines Rechts auf einen an erschöpfender Wahrheitsfindung orientierten Prozess weiterentwickelnd Stürner, Aufklärungspflicht, S. 39 ff.; diese Argumentationslinie sodann ausdrücklich auf das Recht auf Beweis beziehend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff.; ebenso auch Hab scheid, ZZP 96 (1983), S. 306 ff.; in neuerer Zeit siehe Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 ff. jeweils mwN. 7 Die Existenz eines Rechts auf Beweis als Teil des Justizgewährungsanspruches anerkennend auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff.; Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 f.; ähnlich bereits Stürner, Aufklärungspflicht, S. 39 ff.; in neuerer Zeit in diesem Sinne Bruns, FS-Stürner, S. 257 f.; Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 165 ff.; Reichenbach, § 1004 BGB als Grund6
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
nen noch zu entwickelnde Recht auf Beweis nach hier vertretener Auffassung bereits an dieser Stelle als ein umfassendes Recht auf effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess begreifen. Beginnend mit dem Recht auf Stellung von Beweisanträgen und der Erhebung beantragter Beweismittel, über das Recht auf eine Würdigung erhobener Beweismittel und die Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen, jeweils unterstützt durch die Gewährleistung weiterer, beweisrechtlicher Grundsätze. In der Folge sollen nun eine Reihe von Argumentationssträngen dargestellt werden, die diese Sichtweise eines zwingenden Rechts auf Beweis im Grundgesetz weiter unterstützten: Zweiter Ansatzpunkt für ein Recht auf Beweis sind die Grundrechte des Grundgesetzes: In diesem Sinne greift die soeben dargelegt Argumentation aus dem Rechtsstaatsprinzip auch hier ein: Die Schaffung einer effektiven Rechtsdurchsetzungsmöglichkeit sorgt für die nötige Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols als wesentlichem Teil des Rechtsstaatsprinzips. Doch zugleich hat diese Durchsetzungsmöglichkeit eine grundrechtliche Dimension. Die Grundrechte verleihen dem Einzelnen eine Reihe essentieller, subjektiver Rechte. Diese Rechte sind für den Einzelnen jedoch nur in dem Maße von Wert, wie sie auch tatsächlich durchsetzbar sind. Die Durchsetzung der Grundrechte vor Gericht erfordert gleichfalls den Nachweis ihrer Inhaberschaft. Insoweit kommt den materiellen Grundrechten über ihren materiellen Gehalt hinaus auch ein gewisser prozessualer Gehalt in Form der Gewährleistung ihrer Durchsetzbarkeit zu.8 Die prozessualen Grundrechte sind daher insgesamt essentiell für den Grundrechtsschutz, indem sie den Weg ihrer Durchsetzbarkeit für den Einzelnen, wie auch die Effektivität dieses Weges gewährleisten.9 Die prozessuale Gewährleistung der Nachweismöglichkeit der Grundrechtsinhaberschaft vor Gericht in Form des Rechts auf Beweis stellt damit eine wesentliche Effektuierung des Grundrechtsschutzes dar. Somit sprechen auch die Grundrechte und ihrer Durchsetzbarkeit für eine zwingende Existenz des Rechts auf Beweis im Grundgesetz. Bereits diese am Grundgesetz orientierte Argumentation lässt ein Recht auf Beweis im Zivilprozess nach hier vertretener Auffassung als zwingenden Bestandteil des deutschen Grundgesetzes erscheinen. Dieser Befund soll nun unter Betrachtung der Grundlagenerkenntnisse der vorangegangenen Kapitel erhärtet werden: lage, S. 4 f.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 68 ff.; Klamaris, FS Schwab, S. 269 ff.; außerdem MüKo-Prütting, ZPO I, § 284 Rn. 18 und Stein/Jonas- Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 40 jeweils mwN. 8 In diesem Sinne ist nach hier vertretener Ansicht letztlich auch die Herleitung des allgemeinen Justizgewährungsanspruches aus den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip zu verstehen, zu dieser Einordnung siehe etwa BVerfGE 54, S. 277, 291 ff. und BVerfGE 107, S. 395, 401 f. 9 Vgl. für die weitergehende Herleitung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches bereits BVerfGE 53, S. 115, 127 f.; siehe auch BVerfGE 81, S. 123, 129 ff.; BVerfGE 107, S. 395, 401 ff.; BVerfGE 108, S. 341, 347 ff.; BVerfGE 119, S. 292, 295 f. jeweils mwN.
§ 4 Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis
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Auf den ersten Blick mutet es indes gewagt an, aus der rechtshistorischen Untersuchung des Beweisrechts ganz konkrete Rückschlüsse auf unser heutiges Recht zu vollziehen. Schließlich waren diese Rechtssysteme in einen vollkommen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontext mit einem Wertesystem, das – je nach historischer Epoche – mehr oder weniger stark von unseren heutigen Werten differierte. In erster Linie können rechtshistorische Betrachtungen daher dazu dienen, die Genese einer bestimmten, heutigen Norm nachzuvollziehen. Grundlegende Aussagen kann man anhand rechtshistorischer Untersuchungen letztlich wohl nur dann treffen, wenn sich diese Untersuchungen der damaligen Rechtssysteme ihrerseits auf die juristischen Grundwertungen konzentrieren. So etwa, wenn man den Zivilprozess anhand von Wertungen wie der Dispositionsmaxime oder dem Beibringungsgrundsatz betrachtet oder generell den Grad der Einflussmöglichkeiten der Parteien im Beweisrecht bzw. der Parteiherrschaft des Prozesses insgesamt untersucht. Ausgehend von diesen Grundüberlegungen lassen sich anhand der hier untersuchten historischen Grundlagen des Beweisrechts auch eher Tendenzen ablesen und allgemeinere Aussagen treffen, als ganz konkret das Erfordernis eines Rechts auf Beweis im Zivilprozess nach dem deutschen Grundgesetz nachzuweisen. Eine solche Tendenz im Laufe der Geschichte geht nach hier vertretener Ansicht dahin, dass die Frage nach der Partei- und auch Gerichtsherrschaft im Beweisrecht ein Stück weit mit der Freiheitlichkeit einer Gesellschaft insgesamt verknüpft war. Diese Tendenz wird mit Blick auf die Bedeutung eines Gerichtsprozesses durchaus erklärlich: Ein Gericht entscheidet seit jeher darüber, was „Recht“ ist und was „Unrecht“ bzw. gerade in früheren Zeiten auch über die Frage nach der „Gerechtigkeit“. Dabei stellt das Gericht mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt zugleich verbindlich fest, welche Tatsachen als „wahr“ anzusehen sind. Diese Fragen nach Recht, Gerechtigkeit und Wahrheit sind in historischen Gesellschaften und letztlich auch der heutigen Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Wenn also den Parteien und damit den Bürgerinnen und Bürgern kein Vertrauen mehr entgegengebracht wurde, einen Sachverhalt vor Gericht mit ihren Beweismitteln aufzuklären, sondern dieser Sachverhalt vielmehr von Oben herab festgelegt werden sollte, so war dies oftmals Ausdruck einer autoritären Herrschaftsform.10 Zugleich wurde auch dem einzelnen Gericht regelmäßig die Fähigkeit zur Würdigung der Beweise und eigenständigen Findung der Wahrheit abgesprochen und diese Würdigung ihrerseits abstrakt geregelt. Das Misstrauen gegenüber den Parteien, wie auch dem Gericht ging oftmals einher mit einer Unfreiheit der Gesellschaft insgesamt in einem autoritärer werdenden Herrschaftssystem.11 Wenn man nun eine Tendenz aus den historischen Grundlagen für ein verfassungsrechtlich fundiertes Recht auf Beweis ablesen möchte, so könnte sie 10 In diesem Sinne bereits die Schlussfolgerungen des historischen Teils dieser Arbeit, siehe § 2 V. 4. 11 Vgl. wiederum die historische Untersuchung in § 2, insbesondere V. 4.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
lauten, dass das Recht der Parteien, vor Gericht den von ihnen vorgetragenen Sachverhalt nachzuweisen und zur verbindlichen Wahrheitsfindung durch ein unabhängiges Gericht beizutragen, Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft insgesamt ist. Dieses Bild eines Gerichtssystems, das von freien und mündigen Bürgerinnen und Bürgern ausgeht und ihnen dahingehend vertraut, dass ihnen eine verfassungsrechtlich gewährleistete Teilhabe am Prozess der Wahrheitsfindung zukommt, dürfte demjenigen Bild nahe kommen, welches unser deutsches Grundgesetz zeichnet. Abschließend soll auch der rechtsvergleichende Blick auf den anglo-amerikanischen Rechtsraum in diese Argumentation einfließen. Die prozessuale Seite des Rechts spielt in einem common-law System traditionell eine besonders große Rolle, schließlich dienen Gerichtsprozesse nicht allein der Rechtsdurchsetzung des Einzelnen, sondern auch der Entwicklung des Rechts insgesamt durch die Gerichte als dafür maßgebliche Instanz. Diese Bedeutung spiegelt sich bereits im Verfassungsrecht dahingehend wider, dass es eine verfassungsrechtliche Generalklausel für die Absicherung eines fairen Verfahrens in Form des due process of law gibt.12 In der Literatur wurde aus dieser Generalklausel des due process of law teilweise auch ein right to present evidence entnommen.13 Einfach-rechtlich ist der Zivilprozess im adversary system nach den Federal Rules of Civil Procedure strikt als Parteiprozess ausgestaltet so dass die Parteien eine nahezu vollständige Herrschaft über den Prozess innehaben. Daher findet sich in den Federal Rules of Evidence konsequenterweise ein explizites, einfach-gesetzliches Recht auf Erhebung von Beweismitteln unter bestimmten Voraussetzungen in Rule 403 FRE. Das Recht auf Beweis im U.S.-amerikanischen Recht ist letztlich also eine logische Konsequenz der prozessualen Zentrierung des common-law Systems und der Parteiherrschaft im Prozess nach dem adversary system. Indes sei an dieser Stelle auch auf die vielfältigen Einschränkungen des Beweisrechts im jury-process hingewiesen. Die Diskussion über ein Recht auf Beweis in der U.S.-amerikanischen Literatur entzündet sich daher eher an einer Liberalisierung des als verkrustet empfundenen Beweisrechts mit seiner Vielzahl an Beweisregeln, in dessen Rahmen das verfassungsrechtliche Recht auf Beweis als Argumentationslinie gilt.14 Gerade aufgrund dieser Unterschiedlichkeit der Prozesssysteme im Hinblick auf eine Jury lassen sich nur in bestimmtem Maße Vergleiche und Schlussfolgerungen ziehen. So kann man allein aus der Existenz eines Rechts auf Beweis im U.S.-amerikanischen Recht noch keine Rück12 Vgl. etwa zur Herleitung des Rechts auf ein faires Verfahren Vgl. etwa In re Murchison, 349 U.S. 133, 136, 75 S.Ct. 623, 625, 99 L.Ed. 942 (1955); eine ausführliche Darstellung in der Literatur bieten Friendly, 123 U. Pa. L.Rev., S. 1267, 1279 ff. und Nowak/Rotunda, Treatise on Constitutional Law II, S. 656 ff. jeweils mwN. 13 Ausführlich insbesondere Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1 ff. mwN aus Rechtsprechung und Lehre; für den Strafprozess explizit in diesem Sinne der Supreme Court in Washington v. Texas, 388 U.S. 14, 87 S.Ct. 1920, 18 L.Ed.2d 1019; weitergeführt in Chambers v. Mississippi, 410 U.S. 284, 93 S.Ct. 1038, 35 L.Ed.2d 297. 14 Ausführlich wiederum Imwinkelried, 1990 Utah.L.Rev. 1, 45 ff. mwN.
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schlüsse auf das deutsche Grundgesetz ziehen. Festhalten lässt sich aus rechtsvergleichender Sicht jedoch, dass die U.S.-amerikanische Bundesverfassung ein Recht auf Beweis enthält, welches im einfachen Recht der Federal Rules of Evidence in gewissem Umfang seine Umsetzung erfahren hat. Es existiert somit in einem anderen Rechtskreis ein Zivilprozess mitsamt einem verfassungsrechtlich abgesicherten Recht auf Beweis. Ein solches Recht der Parteien auf Beweis steht daher aus rechtsvergleichender Sicht der Funktionsfähigkeit eines Zivilprozesses nicht entgegen. Zusammengefasst hat die vorangegangene Argumentation die Grundthese dieser Arbeit belegt: Das deutsche Grundgesetz gewährleistet zwingend ein Recht auf Beweis der Parteien des Zivilprozesses. Die rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Grundlagenuntersuchungen dieser Arbeit untermauern diesen Befund.
II. Die Existenz eines Rechts auf Beweis in der EMRK und der GRC Diese soeben entwickelten Argumentationslinien des deutschen Grundgesetzes lassen sich nicht eins zu eins auf die europäischen Grundrechtsordnungen übertragen: Der primäre Argumentationsansatz im deutschen Recht basierte auf dem Modell eines Rechtsstaates, der ein staatliches Gewaltmonopol von seinen Bürgerinnen und Bürgern einfordert und aufgrund dieser Forderung zugleich gewisse Garantien der Rechtsdurchsetzung zugestehen muss – im Speziellen auch das Recht auf Beweis. Die Grundrechtsordnungen der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta beinhalten einen umfangreichen Grundrechtskatalog unter Einschluss prozessualer Gewährleistungen. Indes treffen weder die EMRK, noch die europäische Grundrechtecharta Aussagen zu Fragen des Staatsaufbaus und der Staatsorganisation. EMRK und europäische Grundrechtecharta sollen den Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen ihrer kompetenziellen Grenzen ein gewisses Mindestmaß an Grundrechtsschutz gewähren, nicht aber den Aufbau der Vertragsstaaten selbst determinieren. Gerade das staatliche Gewaltmonopol stellt sich als eines der grundlegendsten und zentralsten Elemente der inneren, staatlichen Souveränität dar. Mithin lässt sich für die europäischen Grundrechtsordnungen die innerstaatliche Argumentationslinie über das Gewaltmonopol, den Justizgewährungsanspruch und den effektiven Rechtsschutz bis hin zum Recht auf Beweis nicht ohne weiteres übernehmen. Indes erscheint es auch für die EMRK und die europäische Grundrechtecharta möglich, eine Argumentation zugunsten der Existenz eines Rechts auf Beweis führen. Dabei kann in Teilen auf die Argumentationslinie zum deutschen Grundgesetz zurückgegriffen werden: Schließlich führt das staatliche Gewaltmonopol zunächst zu einer zwingenden Gewährleistung von Justizgewährung und effektivem Rechtsschutz zwecks Ermöglichung privater Rechtsdurchsetzung und als Konkretisierung zu einem Recht auf Beweis. Dieser Justizgewährungsanspruch findet sich jedoch
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) auch in Art. 6 I EMRK und sodann ausdrücklich in Art. 47 II GRC.15 Hinzu kommt, dass sich die Rechtsstaatlichkeit nach Art. 2 EUV als ein wesentlicher Grundwert der Europäischen Union darstellt und auch der EGMR über eine Auslegung der Präambel der EMRK die Rechtsstaatlichkeit als wesentlichen Grundsatz anerkannt hat.16 Daher leitet insbesondere der EGMR die Gewährleistung eines Zuganges zum Gericht im Zivilprozess ausdrücklich aus den Grundgedanken des Rechtsstaatsprinzips ab.17 Sodann lässt sich die Argumentation zum deutschen Recht auch an dieser Stelle hören: Eine Gewährleistung der Rechtsdurchsetzung des Einzelnen vor Gericht kann nur dann wirklich effektiv sein, wenn sie auch den Nachweis der durchzusetzenden Rechte vor Gericht umfasst. Die Gewährleistung eines Justizgewährungsanspruches ohne dieses Recht auf Beweis wäre auch nach EMRK und europäischer Grundrechtecharta ein zahnloser Tiger. Diese Argumentation lässt sich weiterführen mit dem Gedanken, dass die europäischen Grundrechtsordnungen einen umfangreichen Katalog an materiellen Grundrechten enthalten. Auch insoweit kann die Argumentation im Rahmen des Grundgesetzes fruchtbar machen werden: Die materiellen Grundrechtsgewährleistungen sind für ihre Inhaber letztlich nur insoweit von Wert, als sie auch tatsächlich durchsetzbar sind. Die europäischen Grundrechtsordnungen beinhalten zu diesem Zwecke einen Justizgewährungsanspruch. Somit wird zwar nicht der Staatsaufbau als solcher determiniert, die Grundrechtsinhaber werden in ihrer Gewährleistung der Rechtsdurchsetzung dennoch gleichfalls auf den formalisierten Rechtsweg der Gerichtsbarkeit verwiesen. Innerhalb dieses Rechtsweges müssen die Inhaber ihre Rechte wiederum nachweisen. Dieses Erfordernis des Rechtsnachweises ist im Hinblick auf die Stellung des Staates als neutralem Entscheider ohne vorherige Kenntnis des streitigen Sachverhaltes Wesensmerkmal eines jeden denkbaren Zivilprozesses. An diesem Befund würde auch eine staatliche Tatsachenerforschung iSe Untersuchungsgrundsatzes nichts verändern: Schließlich würde das Risiko der Nichterweislichkeit eigener Rechte stets durch ihren jeweiligen Inhaber getragen werden.18 Eine effektive Durchsetzbarkeit der materiellen Grundrechte macht auch nach den europäischen Grundrechtsordnungen die Gewährleistung eines Rechts auf Beweis erforderlich. 15 Zur Herleitung des Rechts auf Zugang zu Gericht siehe bereits EGMR, Urteil vom 21.02.1975, 4451/70, Golder ./. UK, Rn. 26 ff. = EuGRZ 1975, S. 91; instruktiv in neuerer Zeit auch EGMR, Urteil vom 26.05.2015, 11239/11, Momcilovic ./. CRO, Rn. 41 ff. mwN aus der Rechtsprechung. 16 Ausführlich zur Anerkennung des Rechtsstaatsprinzips über die Präambel der EMRK, EGMR, Urteil vom 24.07.2003, 52854/99, Ryabyk ./. RU, Rn. 51 ff. mwN. 17 Ausdrücklich in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 26.05.2015, 11239/11, Momcilovic ./. CRO, Rn. 41 ff. mwN. 18 Ausführlich zu einer Herleitung eines Rechts auf Beweis für Prozesse mit Amtsermittlungsgrundsatz anhand dieser Argumentationslinie, Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 45 ff. mwN.
§ 4 Postulierung der Existenz des Rechts auf Beweis
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Ergänzend gilt es zu bedenken, dass die europäischen Grundrechtsordnungen wesentlich umfangreichere prozessuale Gewährleistungen vorsehen, als das deutsche Grundgesetz. An dieser Stelle zeigt sich der Einfluss des anglo-amerikanischen Rechts auf die EMRK und die dortigen, umfangreichen prozessualen Gewährleistungen. Die Generalklausel eines fairen Verfahrens in Art. 6 I EMRK ist der due process clause aus dem U.S.-amerikanischen und insbesondere dem britischen Recht nachempfunden.19 Die Grundrechtecharta orientiert sich ihrerseits in Art. 47 GRC an eben diesem Art. 6 EMRK. Insoweit wäre es schwer zu erklären, weshalb EMRK und europäische Grundrechtecharta deutlich umfangreichere, prozessuale Gewährleistungen enthalten als das Grundgesetz, doch gerade die Gewährleistung eines Rechts auf Beweis aussparen. Die übrigen prozessualen Gewährleistungen würden – ähnlich wie im Grundgesetz – zwar den Zugang zum und ein bestimmtes Prozedere innerhalb des Prozesses garantieren, doch am Ende dieses „schönen Scheins“ würde mangels einer effektiven Nachweismöglichkeit der eigenen Rechte stets der Prozessverlust durch die beweisbelastete Partei stehen. Ein Recht auf Beweis effektuiert mithin die weiteren prozessualen Gewährleistungen in hohem Maße. Für die europäische Grundrechtecharta lässt sich diese Argumentation aufgrund der rechtlichen Verbindung der Gewährleistungen in Art. 6 I EMRK und Art. 47 II S. 1 GRC über Art. 52 III S. 1 GRC ohne weiteres übernehmen.20 Hinzu kommt für die Grundrechtecharta ein weiteres Argument: Während es sich bei der EMRK um einen eher losen Zusammenschluss von Staaten handelt, ist der Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten der Grundrechtecharta in Form der Europäischen Union sehr viel enger. Das Argument fehlender Kompetenz wird im Hinblick auf die justizielle Zusammenarbeit innerhalb der Union deutlich abgeschwächt. Schließlich hat die Europäische Union ihrerseits bereits Richtlinien erlassen, die das Beweisrecht zum Gegenstand hatten.21 Sodann erscheint es schwer vertretbar, dass die Grundrechtsgewährleistungen der Europäischen Union als Teil ihres Primärrechts einen geringeren Kompetenzbereich innehaben und keinerlei beweisrechtliche Gewährleistungen beinhalten sollen. Zusammengefasst kann die Argumentation zum deutschen Grundgesetz nicht gänzlich auf die europäischen Grundrechtsordnungen übertragen werden. Die Beanspruchung eines Gewaltmonopols durch den Staat ist den Grundrechtsordnungen der EMRK und der europäischen Grundrechtecharta naturgemäß nicht unmittelbar zu entnehmen. Allerdings wird auch nach EMRK und europäischer Grundrechte charta ein effektiver Zugang zu Gericht als wesentlicher Ausdruck der Rechtsstaat19 Ausführlich Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG II, Kapitel 14, Rn. 8 ff. mwN. 20 Ausführlich zum Verhältnis von EMRK und GRC sogleich unten in § 5 V 1. 21 Vgl. insbesondere die EuBVO, ABl.EU 2001, Nr. L-174, S. 1 ff.; Anknüpfungspunkte zum Beweisrecht aufweisend auch die EuGVVO, ABl.EU. 2001, Nr. L-12, S. 1 ff.; die EuZVO, ABl.EU 2001, Nr. L-324, S. 79 ff. und die EuMahnVO, ABl.EU 2006, Nr. L-399, S. 1 ff.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
lichkeit angesehen und gewährleistet. Hinzu kommt als zweiter Argumentationsstrang die umfassende Gewährleistung von Grundrechten durch EMRK und Grundrechtecharta: Dabei sprechen sowohl Systematik und Telos der umfassenderen, prozessualen Grundrechtsgewährleistungen als auch die Durchsetzbarkeit der umfangreichen, materiellen Grundrechtsgewährleistungen für die Existenz eines Rechts auf Beweis. Daher folgt aus EMRK und europäischer Grundrechtecharta nach hier vertretener Auffassung ebenfalls zwingend ein Recht auf Beweis der Parteien des Zivilprozesses.
§ 5
Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC I. Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis – Grundlagen Nachdem soeben die Existenz eines Rechts auf Beweis als Grundthese dieser Arbeit postuliert wurde, gilt es im Folgenden, dieses Recht auf Beweis in das bestehende System der prozessualen Grundrechtsgewährleistungen und des Zivilprozessrechts insgesamt einzuordnen. Nachfolgend soll das Recht auf Beweis daher unter Einschluss einer Analyse von Rechtsprechung und Literatur dogmatisch in das System von Grundgesetz, EMRK, und europäischer Grundrechtecharta eingeordnet werden. Die Reihung dieser Rechtsquellen untereinander ergibt sich dabei zunächst aus praktischen und normhierarchischen Überlegungen: Das deutsche Grundgesetz hat von den drei untersuchten Grundrechtsordnungen die wohl umfänglichste Behandlung in Rechtsprechung und Literatur erfahren. Die Vielzahl gerichtlicher Entscheidung im Zusammenspiel mit der wissenschaftlichen Bearbeitung haben ein ausdifferenziertes System prozessualer Grundrechte hervorgebracht. Insbesondere hat in der Literatur zu Grundgesetz und deutscher ZPO bereits eine explizite Debatte um die dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis stattgefunden. Es liegt daher nahe, mit einer Betrachtung des umfänglich entwickelten Systems des deutschen Grundgesetzes zu beginnen. Zwar handelt es sich bei der europäischen Grundrechtecharta nach Art. 6 I EUV um einen Teil des Primärrechts der EU, so dass die Grundrechtecharta als einzige untersuchte Grundrechtsordnung eine unmittelbare Bindung der europäischen Institutionen erzeugt und zugleich aufgrund des Vor ranges des EU-Rechts in ihrem Anwendungsbereich selbst dem deutschen Grundgesetz vorgeht und sich so formal als die normhierarchisch stärkste Grundrechtsordnung darstellt.1 Allerdings lässt sich bereits an dieser Stelle konstatieren, dass der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nach Art. 52 I GRC auf die Anwendung 1
Den Beginn dieser Rechtsprechung bildet die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1269 ff. – Costa/ENEL, fortgeführt für nationales Verfassungsrecht in der Entscheidung EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, S. 1135 ff. – internationale Handelsgesellschaft; durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich akzeptiert in der Entscheidung BVerfGE 73, S. 339, 374 f. – So lange II; siehe auch BVerfGE 123, S. 267, 396 ff. – Lissabon.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
des Europarechts begrenzt ist und die Grundrechtecharta damit nach derzeitigem Stand der Kompetenzverteilung der EU im deutschen Zivilprozess nur einen ebenso begrenzten Einfluss hat.2 Daher erscheint es aus praktischen Gesichtspunkten heraus gerechtfertigt, die Untersuchung mit dem deutschen Grundgesetz zu beginnen. Innerhalb der europäischen Grundrechtsordnungen soll sodann mit der EMRK zunächst die historisch gesehen ältere Rechtsquelle Beachtung finden. Dieser Schritt bietet sich insbesondere aufgrund der Entstehungsgeschichte der europäischen Grundrechtecharta an: Die Charta sollte explizit der EMRK nachempfunden werden.3 Die Ähnlichkeiten beider Grundrechtskataloge zeigen sich bereits sehr deutlich beim Vergleich der entsprechenden Normtexte. Hinzu kommt, dass die Charta nach Art. 52 III GRC auch rechtlich an die EMRK gebunden ist und sich der EuGH zudem an der Rechtsprechung des EGMR orientiert.4 Mithin bietet es sich an, zunächst die EMRK mitsamt ihrer in Jahrzehnten durch den EGMR ausgeformten und ausdifferenzierten Dogmatik zu betrachten. Hierauf aufbauend können sodann Schlussfolgerungen für die vergleichsweise junge Grundrechtecharta getroffen werden.
II. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im GG Das Bundesverfassungsgericht hat den terminus technicus eines „Rechts auf Beweis“ – soweit ersichtlich – bislang noch nicht verwendet. Vielmehr finden sich in seiner Rechtsprechung zu den einzelnen prozessualen Grundrechtsgarantien jeweils bestimmte Anforderungen an das Beweisrecht der ZPO. Daher bedarf es einer Analyse dieser Rechtsprechung, um die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis herausarbeiten zu können. Im Schrifttum hat sich demgegenüber bereits eine ausdrückliche, wenn auch eher vereinzelte Diskussion über das Recht auf Beweis und seine dogmatische Einordnung im Grundgesetz herausgebildet.5 Diese Diskussion in der Literatur soll im Anschluss an die Rechtsprechung ihrerseits eine ausführliche Analyse erfahren, bevor sich die Entwicklung einer eigenen Ansicht zur dogmatischen Einordnung des Rechts auf Beweis im Grundgesetz anschließt. 2 Ausführlich
zum Verhältnis der drei Grundrechtsordnungen zueinander unten V. Vgl. allein die Präambel der Grundrechtecharta, ABl.EU 2007, Nr. C 303, S. 2; ebenso Gra benwarter/Pabel, EMRK, § 4, Rn. 6 f. gerade unter Verweis auf die Ähnlichkeiten des Wortlautes bei der Formulierung der Justiziellen Rechte. 4 Eine ausführliche Analyse des Verhältnisses von EMRK und GRC findet sich bei Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK; zur Angleichung der Rechtsprechung EGMR und EuGH siehe wiederum Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 4, Rn. 7; zum Verhältnis von EMRK und GRC auch unten V 1. 5 Vgl. zu den Anfängen dieser Diskussion bereits Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f.; ein gleichnamiger Beitrag findet sich bei Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 ff.; ausführlich auch Wal ter, freie Beweiswürdigung, S. 292 ff.; in neuer Zeit siehe Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff. und Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 45 ff. jeweils mwN. 3
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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1. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den prozessualen Grundrechten Als denkbare Anknüpfungspunkte einer dogmatischen Fundierung des Rechts auf Beweis kommen in erster Linie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf rechtliches Gehör und der Justizgewährungsanspruch in Betracht. Diese prozessualen Grundrechte sollen daher auf ihre beweisrechtlichen Gewährleistungsgehalte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts untersucht werden. Die Analyse konzentriert sich hierbei auf das Bundesverfassungsgericht als letztentscheidende Instanz in Fragen der Auslegung des Grundgesetzes und der Sicherung des Vorranges des Grundgesetzes und seiner Auslegung.6 Die Rechtsprechung des BGH zur entsprechenden Anwendung und Auslegung des Zivilprozessrechts erfährt sodann im Rahmen der Überprüfung des einfachen Rechts anhand des Maßstabes des Rechts auf Beweis im Grundgesetz eine Untersuchung. Zudem soll im Rahmen der dogmatischen Einordnung des Rechts auf Beweis lediglich ein kurzer Überblick der jeweiligen Gewährleistungen gegeben werden. Für eine weitergehende, inhalt liche Analyse der beweisrechtlichen Gewährleistungsgehalte des Rechts auf ein faires Verfahren, des Rechts auf rechtliches Gehör und des Justizgewährungsanspruches sei auf die inhaltliche Ausarbeitung des Rechts auf Beweis verwiesen, um Dopplungen zu vermeiden. a) Das Recht auf ein faires Verfahren Das Recht auf ein faires Verfahren wurde durch das Bundesverfassungsgericht aus einem Zusammenspiel von Art. 2 I GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) abgeleitet.7 In seiner ursprünglichen Konzeption wurde das Recht auf ein faires Verfahren als dogmatische Basis für bestimmte strafprozessuale Rechte des Angeklagten entwickelt, die sich dem Wortlaut nach nur schwer unter die explizite Gewährleistung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG fassen ließen und dennoch für ein rechtsstaatliches Strafverfahren als unentbehrlich angesehen wurden.8 Indes hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf ein faires Verfahren schon bald im Zivilprozess für anwendbar erklärt und eigene Gewährleistungen für den Zivilprozess aus dem Recht auf ein faires Verfahren abgeleitet.9 6 Die Sicherung des Vorranges der Verfassung betonend v. Mangold/Stark/Klein-Voßkuhle, GG, Bd. III, Art. 93 Rn. 17 f.; die Auslegung der Verfassung als Aufgabe betont Dreier-Wieland, GG, Bd. III, Art. 93 Rn. 30 ff. 7 Zur dogmatischen Einordnung vgl. etwa BVerfGE 57, S. 250, 275; BVerfGE 78, S. 123, 126; aus neuer Zeit BVerfG NJW 1991, S. 3140 und BVerfG NJW 2004 S. 1097 jeweils mwN. 8 Vgl. für den Strafprozess bereits BVerfGE 26, S. 66, 71; BVerfGE 38, S. 105, 111 ff. 9 Vgl. zur Übertragbarkeit der Garantien auf den Zivilprozess bereits BVerfGE 49, S. 220, 225; bestätigt etwa in BVerfGE 52, S. 131, 145; in neuerer Zeit BVerfGE 117, S. 202, 240 für das familiengerichtliche Verfahren.
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Seinem allgemeinen Gewährleistungsgehalt nach soll das Recht auf ein faires Verfahren das Gericht zur Rücksichtnahme auf die Parteien anhalten.10 So muss das Verfahren derart ausgestaltet sein, wie die Parteien des Zivilprozesses es erwarten dürfen.11 Dem Gericht ist es verboten, sich widersprüchlich zu verhalten oder aus eigenen bzw. ihm zurechenbaren Fehlern Verfahrensnachteile für die Beteiligten abzuleiten.12 Diese Gewährleistung einer Verfahrensführung des Gerichts in fairen und vorhersehbaren Bahnen hat das Bundesverfassungsgericht auch auf das Beweisrecht übertragen und fordert eine faire Handhabung des Beweisrechts insgesamt durch das Gericht.13 Dieser Gedanke der Verfahrensfairness soll sich nach neuerer Rechtsprechung auch auf die Verteilung der Beweislast beziehen.14 Von besonderem Interesse für das Recht auf Beweis sind die Ausführungen des Verfassungsgerichts zum Recht auf ein faires Verfahren dahingehend, dass „die Gerichte zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege und zur materiell richtigen Entscheidungsfindung grundsätzlich gehalten sind, von den Parteien angebotene Beweise oder Darlegungen zu berücksichtigen.“15 Allerdings wird in eben dieser Entscheidung zugleich der Begriff eines „schlichten Beweisinteresses“ einer Partei entwickelt, welches in der Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Gegenpartei gerade nicht ausreichen soll, um die Zulassung von Beweismitteln zu erzwingen.16 Insofern stellt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung wohl allein auf das Allgemeininteresse an einer funktionsfähigen Rechtspflege ab und gerade nicht auf ein mögliches Recht der Parteien auf Beweis aus dem Recht auf ein faires Verfahren. Letztlich handelt es sich bei dem Recht auf ein faires Verfahren um ein Auffanggrundrecht, das in speziellen Konstellationen zur Anwendung kommt, die von anderen prozessualen Grundrechten nicht abgedeckt werden.17
10 Vgl. BVerfGE 78, S. 123, 126; in neuer Zeit siehe BVerfG NJW 1991, S. 3140 und BVerfG NJW 2004, S. 1097 jeweils mwN. 11 Vgl. BVerfGE 69, S. 381, 385 f.; BVerfG NJW 1991, S. 3140; BVerfG NJW 2004, S. 1097. 12 Vgl. BVerfGE 75, S. 183, 190; BVerfGE 78, S. 123, 126; BVerfG NJW 1991, S. 3140; BVerfG NJW 2004, S. 1097 jeweils mwN. 13 So bereits BVerfGE 52, S. 131, 145; bestätigt etwa in BVerfGE 117, S. 202, 240. 14 In neuerer Zeit in diesem Sinne BVerfGE 106, S. 28, 48 und BVerfGE 117, S. 202, 240 jeweils mwN. 15 So BVerfGE 117, S. 202, 240. 16 Vgl. BVerfGE 117 S. 202, 240 f. 17 In diesem Sinne etwa BVerfGE 109, S. 13, 34 f.; ausführlich Dörr/Grote/Marauhn-Graben warter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14, Rn. 94 und Merten/Papier-Uhle, HGR V, § 129, Rn. 59 f. jeweils mwN; in diese Richtung auch Karwacki, fairer Zivilprozess, S. 42 ff., die aber zugleich die besondere rechtsstaatliche Bedeutung des Rechts auf ein faires Verfahren betont; ähnlich Dörr, faires Verfahren, S. 168 f.
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b) Das Recht auf rechtliches Gehörs Als dogmatische Grundlage des Rechts auf Beweis kommt insbesondere das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 I GG in Betracht. Die explizite Normierung im Grundgesetz, aber auch seine Historie im Prozessrecht insgesamt geben dem Recht auf rechtliches Gehör eine herausgehobene Stellung innerhalb der prozessualen Grundrechte und erklären seine große Bedeutung in der Rechtsprechung.18 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das rechtliche Gehör als ein „prozessuales Urrecht“ des Menschen und rückt den Gewährleistungskern des Rechts auf rechtliches Gehör in den Zusammenhang mit der Menschenwürde aus Art. 1 I GG19: Der Mensch soll als Subjekt des Prozesses wahrgenommen werden und als solches mit seinen Argumenten partizipieren und Einfluss auf den Prozess nehmen können. Es soll gerade verhindert werden, dass mit einem Menschen „kurzer Prozess“ gemacht wird.20 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf rechtliches Gehör drei aufeinanderfolgende, inhaltliche Aspekte21: 1. Das Recht auf Information 2. Das Recht auf Stellungnahme und 3. Das Recht auf Berücksichtigung Den ersten inhaltlichen Teilaspekt des Rechts auf rechtliches Gehör stellt das Recht auf Information dar. Eine sachdienliche Wahrnehmung des Äußerungsrechtes ist nur dann möglich, wenn die sich äußernde Partei Kenntnis der bisherigen Äußerungen der Gegenseite und des Gerichts hat, auf die sich die eigenen Äußerungen beziehen sollen. Das Recht auf Information bildet somit die tatsächliche Grundlage für die effektive Ausübung des Rechts auf Stellungnahme und damit für eine effektive Gewährleistung des rechtlichen Gehörs insgesamt.22 Hiernach umfasst das Recht auf Informationen einen Anspruch der Parteien auf Kenntnisgabe des gesamten relevanten Verfahrensstoffes. Sämtliche Stellungnahmen, Schriftsätze und sonstigen Äuße18 Vgl. zur Historie Rüping, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, S. 12 ff.; die Bedeutung des Art. 103 I GG stellt auch das BVerfG selbst in st. Rspr. heraus, siehe bereits BVerfGE 55, S. 1, 5 f.; BVerfG-K 11, S. 203, 206. 19 Vgl. zu dieser Formulierung bereits BVerfGE 55, S. 1, 5 f.; st. Rspr., siehe etwa BVerfGE 86, S. 133, 144 f.; BVerfGE 89, S. 28, 35; BVerfGE 107, S. 395, 408 f.; BVerfG-K 11, S. 203, 206. 20 Vgl. BVerfGE 55, S. 1, 5 f.; BVerfGE 107, S. 395, 408 f. 21 Diese drei Einzelgarantien stellt BVerfGE 108, S. 341, 347 f. gut dar; siehe auch BVerfG-K 10, S. 397, 399; vgl. zum Recht auf Information etwa BVerfGE 50, S. 280, 284; BVerfGE 81, S. 123, 126 f.; zum Recht auf Stellungnahme beispielhaft BVerfGE 67, S. 154, 155; BVerfGE 84, S. 188, 189 f. und zum Recht auf Berücksichtigung siehe bereits BVerfGE 22, S. 267, 273 f.; BVerfGE 54, S. 86, 91 f. 22 Vgl. zu diesem Zusammenhang BVerfGE 81, S. 123, 126; BVerfGE 89, S. 28, 35; BVerfG 108, S. 282, 338 f.
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rungen der Gegenseite wie auch des Gerichts müssen der jeweils anderen Partei zur Kenntnis gebracht werden.23 Flankierend folgt aus dem Recht auf Information zugleich ein Recht der Parteien auf Akteneinsicht, das sämtliche Prozessakten, beigezogenen Akten und Gutachten umfasst.24 Als zweiten wesentlichen Teilaspekt des rechtlichen Gehörs hat die Rechtsprechung ein umfassendes Recht auf Stellungnahme entwickelt. Diese Stellungnahme muss grundsätzlich im Vorfeld einer richterlichen Entscheidung möglich sein und umfasst ein Recht auf Äußerung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zum gesamten relevanten Verfahrensstoff.25 Mithin wird ein Recht auf Stellungnahme zu allen Schriftsätzen und sonstigen Äußerungen der Gegenseite und des Gerichts, über die die Partei zuvor informiert werden musste, sowie zu sämtlichen Beweisergebnissen gewährleistet.26 Das Recht auf Stellungnahme gibt ein Recht zur Stellung von Anträgen – auch und gerade das Recht zur Stellung von Beweisanträgen.27 Gesichert wird dieses Recht auf Stellungnahme durch die aus Art. 103 I GG folgende Verpflichtung, dass die Gerichte ihren Entscheidungen nur diejenigen Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde legen dürfen, zu denen sich die Parteien zuvor äußern konnten.28 Als dritter Teilaspekt gewährleistet das rechtliche Gehör iSd Art. 103 I GG ein Recht auf Berücksichtigung der Stellungnahmen einer Partei. Dieses Recht auf Berücksichtigung bzw. die hiermit korrespondierende Pflicht des Gerichts zur Berücksichtigung verpflichtet das erkennende Gericht nach dem Bundesverfassungsgericht, die Äußerungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.29 Im Hinblick auf das Beweisrecht hat das Bundesverfassungsgericht aus „Art. 103 I GG iVm den Grundsätzen der ZPO“ eine Verpflichtung des erkennenden Gerichts zur Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge hergeleitet.30 Diese Verpflichtung aus „den Grundsätzen der ZPO“ beruht auf einer entsprechenden Recht23 Vgl. bereits BVerfGE 6, S. 12, 14 f.; bestätigt in BVerfGE 17, S. 86, 95; BVerfGE 49, S. 325, 328; BVerfGE 50, S. 280, 284; BVerfGE 89, S. 28, 35; BVerfGE 101, S. 106, 129 f. 24 Vgl. bereits BVerfGE 17, S. 86, 95; bestätigt in BVerfGE 63, S. 45, 60; BVerfG NJW 1994, S. 1210 f. mwN. 25 Ausführlich bereits BVerfGE 64, S. 135, 145, wenn auch zum Strafprozess; explizit zum Zivilprozess siehe BVerfGE 81, S. 123, 126 ff.; BVerfGE 89, S. 28, 35. 26 Vgl. BVerfGE 50, S. 280, 284; BVerfGE 101, S. 106, 129 f. 27 Vgl. allgemein bereits BVerfGE 1, S. 418, 429; ebenso BVerfGE 36, S. 85, 87; BVerfGE 69, S. 145, 148 und BVerfG NJW 2011, S. 49; aus neuerer Zeit BVerfG-K 10, S. 397, 399 f.; zum Beweisantragsrecht siehe BVerfGE 69, S. 141, 143 f. und BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586. 28 So bereits BVerfGE 6, S. 12, 14; st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 10, S. 177, 182;89, S. 381, 392; BVerfG 101, S. 106, 129. 29 So bereits BVerfGE 11, S. 218, 220; seitdem st. Rspr., vgl. 22. S. 267, 273 f.; BVerfGE 46, S. 315, 319 f.; BVerfGE 69, S. 141, 143 f.; BVerfGE 86, S. 133, 145 f.; in neuer Zeit siehe BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586. 30 Vgl. bereits BVerfGE 50, S. 32, 35 f.; st. Rspr., siehe BVerfGE 60, S. 247, 249; BVerfGE 65, S. 305, 307; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586; BVerfG-K 12, S. 346, 350 f.
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sprechung des BGH, der aus § 286 I ZPO den Grundsatz einer Verpflichtung des erkennenden Gerichts zur Ausschöpfung sämtlicher verfügbarer und beantragter Beweismittel herleitet.31 Diese einfach-rechtliche Verpflichtung zu einer Erhebung beantragter Beweismittel aus § 286 I ZPO wird sodann als „Grundsatz der ZPO“ durch das Bundesverfassungsgericht über Art. 103 I GG verfassungsrechtlich „aufgeladen“, so dass aus Art. 103 I GG iVm den Grundsätzen der ZPO eine Verpflichtung zur Berücksichtigung von Beweismitteln folgt.32 Es ist nach hier vertretener Ansicht nicht immer ganz klar, ob diese Verpflichtung zur „Berücksichtigung“ erheblicher Beweisanträge unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf ihre Erhebung beinhaltet oder sich vielmehr in einem bestimmten Prozedere ihrer Behandlung erschöpft. Allerdings deuten insbesondere neuere Entscheidungen von Bundesverfassungsgericht und BGH in Richtung einer Verpflichtung zur Erhebung von Beweismitteln unter bestimmten Voraussetzungen.33 Ein wesentlicher Kritikpunkt im Hinblick auf eine entsprechende dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis ist jedoch die Verbindung von Art. 103 I GG mit den „Grundsätzen der ZPO“.34 Das Bundesverfassungsgericht geht von einer starken Normgeprägtheit des Rechts auf rechtliches Gehörs nach Art. 103 I GG aus.35 So „gewährt Art. 103 I GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt. Die Nichtberücksichtigung eines von den Fachgerichten als erheblich angesehenen Beweismittels verstößt aber dann gegen Art. 103 I GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stützte mehr findet“.36 An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass das Recht auf Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge allein auf der verfassungsrechtlichen „Aufladung“ einer entsprechenden Rechtsprechung des BGH durch das Bundesverfassungsgericht beruht und somit letztlich ein Recht der Prozessparteien auf Erhebung beantragter Beweismittel umfasst, welches jedoch seine Grenzen in den etwaigen Ablehnungsgründen des einfachen (Prozess-) Rechts findet.
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Diesen Grundsatz postuliert der BGH erstmals in der Entscheidung BGHZ 53, S. 245, 259 ff.; auf diese Entscheidung verweisend BVerfGE 50, S. 32, 35 f. 32 Sehr instruktiv in diesem Sinne bereits BVerfGE 50, S. 32, 35 f. 33 Ausführlich zu dieser Fragestellung § 7 V. 1. a. 34 Vgl. zu dieser Formulierung BVerfGE 60, S. 247, 249; BVerfGE 79, S. 51, 62 f.; BVerfG NJW 2003, S. 125, 127; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586. 35 Vgl. bereits BVerfGE 9, S. 89, 95 f.; st. Rspr., siehe BVerfGE 81, S. 123, 129; BVerfGE 89, S. 28, 35; BVerfG-K 10, S. 397, 399. 36 So der zweite Teil der Formel des BVerfG, vgl. etwa BVerfGE 50, S. 32, 35; BVerfGE 65, S. 305, 307; BVerfGE 69, S. 141, 143 f. BVerfG NJW 2003, S. 125, 127; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586.
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Abschließend hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Beweisrecht ausgesprochen, dass Art. 103 I GG weder das Recht auf ein bestimmtes Beweismittel noch das Recht auf bestimmte Arten von Beweismitteln umfassen.37 c) Der Justizgewährungsanspruch Den Abschluss dieser Rechtsprechungsanalyse soll der Justizgewährungsanspruch als möglichen Fundierung des Rechts auf Beweis bilden. aa) Grundlagen und dogmatische Herleitung Der Justizgewährungsanspruch und insbesondere das Recht auf Zugang zu Gericht können auf eine lange Debatte in Rechtsprechung und Literatur zurückblicken. Anfänglich wurde das Recht auf Zugang zu Gericht teils aus Art. 103 I GG hergeleitet. Nach dieser Auffassung gewährleistete Art. 103 I GG auch das Recht auf Zugang zu Gericht, da sich nur auf diese Weise sicherstellen lasse, dass die Parteien ihr Gehör auch tatsächlich vor einem Gericht erhalten würden.38 Das Bundesverfassungsgericht hat den Justizgewährungsanspruch indes seit jeher rechtsschöpferisch aus einem Zusammenspiel der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG) hergeleitet.39 In seiner ursprünglichen Form sollte der Justizgewährungsanspruch rein formal ein subjektives Recht auf Zugang zu Gericht geben, so dass eine klare Abgrenzung zum geschriebenen prozessualen Grundrecht des Art. 103 I GG möglich war: Während der Justizgewährungsanspruch allein den Zugang zu Gericht und damit das „Ob“ eines Prozesses gewährleistete, beinhaltete das Recht auf rechtliches Gehör Gewährleistungen für die konkrete Ausgestaltung, mithin das „Wie“ des Prozesses.40 bb) Der Justizgewährungsanspruches iSe Rechts auf effektiven Rechtsschutz In seiner neueren Rechtsprechung ist das Bundesverfassungsgericht jedoch von dieser trennscharfen Linie zugunsten des Grundrechtsschutzes im Einzelfall abgewichen. Der Justizgewährungsanspruch in seiner heutigen Auslegung geht deutlich 37 Vgl. bereits BVerfGE 1, S. 418, 429; ausdrücklich BVerfGE 57, S. 250, 273 ff.; bestätigt in BVerfGE 63, S. 45, 60; BVerfG NJW 1996, S. 3145, 3146; BVerfG NJW 1998, S. 1939. 38 So insbesondere Baur, AcP 153 (1954), S. 394, 396 ff.; dieser Ansicht folgend Söllner, Der Beweisantrag, S. 77; ähnlich auch Habscheid, ZZP 67 (1954), S. 188, 196 ff., der in der Nichtzulassung einer prozessordnungsgemäßen Klage eine Verletzung von Art. 103 I GG sieht, einen „allgemeinen öffentlichrechtlichen Justizanspruch“ indes ablehnt; siehe aber zur Einordnung des Rechts auf Beweis in einer späteren Veröffentlichung: Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306, 307 ff. 39 So bereits BVerfGE 80, S. 103, 107; st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 85, S. 337, 345; BVerfGE 88, S. 118, 123; BVerfGE 107, S. 395, 401; BVerfGE 112, S. 185, 207. 40 Ausführlich zur Abgrenzung des Justizgewährungsanspruches insbesondere zum Recht auf rechtliches Gehör BVerfGE 107, S. 305, 401 ff.; siehe auch BVerfGE 119, 292, 295 f.; BVerfG-K 10, S. 397, 399.
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über ein rein formales Recht auf Zugang zu Gericht hinaus und wurde zu einem umfassenden Recht auf effektiven Rechtschutz weiterentwickelt.41 Dieses Recht verlangt etwa einen Rechtsschutz in angemessener Zeit.42 Weiter muss das erkennende Gericht zu einer verbindlichen Entscheidung über den ihm vorgebrachten Sachverhalt berufen sein, so dass inhaltliche Anforderungen an die Qualität der gerichtlichen Entscheidung und die Stellung des Gerichts innerhalb der Rechtsordnung entwickelt wurden.43 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht bereits frühzeitig Gewährleistungen mit beweisrechtlichem Bezug im Justizgewährungsanspruch verankert. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches gibt den Parteien des Zivilprozesses hiernach das Recht „auf eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Sachverhaltes durch das Gericht“.44 Es handelt sich bei diesem Gewährleistungsgehalt nach hier vertretener Auffassung nicht um eine bloße Organisationsgarantie dahingehend, dass das erkennende Gericht qua Gesetz die Möglichkeit einer umfassenden Sachverhaltsprüfung haben muss, ohne an bestimmte Tatsachenfeststellungen insbesondere der Verwaltung gebunden zu ein. Vielmehr haben die Parteien des Zivilprozesses im Hinblick auf seine Verortung im Justizgewährungsanspruch ein echtes subjektives Recht auf eine umfassende Prüfung des Sachverhalts inne.45 Der Justizgewährungsanspruch in seiner Auslegung durch das Verfassungsgericht weist daher eine Reihe von Schnittmengen zum Recht auf Beweis auf.
2. Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der Literatur Der Fachterminus eines „Rechts auf Beweis“ hat spätestens mit dem gleichnamigen Aufsatz von Habscheid 46 Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden und 41 Teils spricht das BVerfG auch von einem Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz, wobei die Begriffe „effektiv“ und „wirkungsvoll“ insoweit wohl synonym verwendet werden, vgl. zum Recht auf effektiven Rechtsschutz bereits BVerfGE 53, S. 115, 127 f.; gerade in neuer Zeit st. Rspr, siehe BVerfGE 81, S. 123, 129; BVerfGE 84, S. 366, 369; BVerfGE 107, S. 395, 401 ff.; BVerfGE 108, S. 341, 347 ff.; BVerfGE 119, S. 292, 295 f. 42 Vgl. etwa BVerfGE 60, S. 253, 269; BVerfGE 88, S. 118, 123; BVerfGE 93, S. 99, 107 f. 43 Vgl. bereits BVerfGE 54, S. 277, 291; bestätigt etwa in BVerfGE 85, S. 337, 345; BVerfGE 112, S. 185, 207. 44 So bereits BVerfGE 54, S. 277, 291; seitdem st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 84, S. 366, 369; BVerfGE 85, S. 337, 345; BVerfGE 97, S. 169, 185; BVerfGE 107, S. 395, 401; BVerfGE 112, S. 185, 207. 45 Konsequenterweise ging das BVerfG sodann von einer entsprechenden Verletzung des Justizgewährungsanspruches in Form des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus, vgl. insbesondere BVerfGE 84, S. 366, 369 f.; sehr instruktiv auch die Beschreibung des Konfliktes zwischen dem Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit und dem Recht auf tatsächliche und rechtliche Prüfung des Sachverhaltes durch BVerfG NJW 2013, S. 3630, 3631 f. jeweils mwN. 46 Siehe Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 ff.
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wird in demselben weithin verwendet – wenn auch oftmals mit sehr unterschiedlicher Bedeutung. In dogmatischer Hinsicht wird im Schrifttum das gesamte Spek trum an möglichen Einordnungen des Rechts auf Beweis in das bestehende System prozessualer Grundrechte vertreten. a) Das Recht auf ein faires Verfahren Vereinzelt wird für eine Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 I GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip) plädiert.47 Diese dogmatische Einordnung fußt letztlich auf zwei Prämissen: Zum einen wird versucht, das Recht auf ein faires Verfahren zu einem umfassenden Prozessgrundrecht weiterzuentwickeln, das zahlreiche Fallkonstellationen abdecken soll. Zum anderen wird die Verbindung zwischen dem nationalen Grundgesetz und den Gewährleistungen der EMRK betont. Dabei werden das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR genutzt, um ein gleichlaufendes Recht auf ein faires Verfahren im nationalen Recht zu entwickeln.48 b) Das Recht auf rechtliches Gehör Eine weitaus verbreitetere Ansicht in der Literatur leitet das Recht auf Beweis aus dem Recht auf rechtliches Gehör in Art. 103 I GG her.49 Die Anhänger dieser Auffassung ziehen als Begründung regelmäßig allein auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heran.50 Dabei wird insbesondere auf die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, „Art. 103 I GG iVm den Grundsätzen der ZPO gebiete die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge“.51 Eine eingehende Explizit in diese Richtung wohl nur Dörr, Faires Verfahren, S. 168; siehe allerdings auch Debernitz, Sachgerechtes Verfahren, S. 235 ff., der mit dem Recht auf ein sachgerechtes Verfahren ein weiteres prozessuales Grundrecht schaffen möchte, das jedoch größtenteils wörtlich mit dem Recht auf ein faires Verfahren übereinstimmt; abschließend geht auch MüKo-Prütting, § 284 Rn. 18 davon aus, das Bundesverfassungsgericht habe dem Recht auf ein faires Verfahren ein Recht auf Beweis entnommen. In der zitierten Entscheidung BVerfG NJW 2001, S. 2245, 2246 zum Strafprozess findet sich indes keine diesbezügliche Formulierung, vielmehr werden aus dem Recht auf ein faires Verfahren spezielle Mitwirkungsrechte für den Angeklagten entwickelt und die Bedeutung der Wahrheitserforschung im Strafprozess betont. 48 Diesen „Rückgriff“ auf die EMRK vollzieht Dörr, Faires Verfahren, S. 166 ff. als Hauptvertreter dieser Ansicht. 49 So Waldner, rechtliches Gehör, S. 28 ff.; ebenso Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff.; Frohn, richterliche Entscheidung, S. 87 f. und Hertel, Urkundenprozess, S. 36 f.; wohl auch Fink, Verwertbarkeit im Zivilprozess, S. 76 f.; ebenfalls eher indirekt in diese Richtung Mauder, Anspruch auf rechtliches Gehör, S. 49 f. 50 Diese Rechtsprechung darstellend und auf sie verweisend Waldner, rechtliches Gehör, S. 28 ff.; ähnlich Frohn, richterliche Entscheidung, S. 87 f. mit seinem Verweis auf verschiedene Entscheidungen des BVerfG. 51 Zu dieser Formulierung vgl. etwa BVerfGE 60, S. 247, 249; BVerfGE 79, S. 51, 62 f.; BVer47
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Erörterung der Frage, ob aus der Verpflichtung zur „Berücksichtigung“ auch eine Verpflichtung zur Erhebung beantragter Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen folgt, findet durch die Vertreter dieser Auffassung demgegenüber regelmäßig nicht statt.52 Allerdings wird man eine solche, dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in Art. 103 I GG nur dann annehmen können, wenn das Recht auf rechtliches Gehör unter bestimmen Voraussetzungen auch das Recht auf eine Erhebung beantragter Beweismittel beinhaltet, so dass für die Vertreter dieser Ansicht von einer diesbezüglichen Auslegung der Berücksichtigungspflicht des Art. 103 I GG auszugehen ist. Teilweise wird eine Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Recht auf rechtliches Gehör auch mit dem Gedanken der Spezialität des Art. 103 I GG begründet.53 Hiernach folge aus dem Gewaltmonopol des Staates zwingend der Justizgewährungsanspruch und mit ihm ein Recht auf Beweis. Allerdings sei Art. 103 I GG lex specialis zum Justizgewährungsanspruch, so dass dem Recht auf rechtliches Gehör ein Vorrang zukomme.54 Teils wird ein solches Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel auch in die Nähe des Rechts auf Stellungnahme als weiterem Teilgehalt des Art. 103 I GG gerückt.55 Eine „Äußerung“ in Form eines Beweisantrages wäre demnach nur dann eine vollständige Äußerung, wenn das beantragte Beweismittel bereits erhoben wurde und damit quasi als „Teil“ der Äußerung dem Gericht zur Würdigung vorliegt. c) H.L.: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches Das überwiegende Schrifttum spricht sich demgegenüber für eine dogmatische Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Justizgewährungsanspruch aus.56AusgangsfG NJW 2003, S. 125, 127; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586; als Argumentationslinie nutzen diese Formulierung insbesondere Waldner, rechtliches Gehör, S. 29 und Fink, Verwertbarkeit im Zivilprozess, S. 76 f.; 52 Beispielhaft insoweit Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff.; ähnliches gilt es zu konstatieren für die Herleitung des Rechts auf Beweis durch Frohn, richterliche Entscheidung, S. 87 f. und Hertel, Urkundenprozess, S. 35 ff. 53 Diese These stellt Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 49 auf. 54 So Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 49. 55 In diesem Sinne sind wohl die Formulierungen von Waldner, rechtliches Gehör, S. 28 ff. zu verstehen. 56 In diese Richtung bereits Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f.; ausdrücklich in diesem Sinne Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 f., allerdings jeweils mit der Prämisse, dass der Justizgewährungsanspruch seine dogmatische Fundierung selbst in Art. 103 I GG finde; ausführlich zur Herleitung des Rechts auf Beweis auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff., der die Frage der Fundierung des Justizgewährungsanspruchs wiederum bewusst offen lässt; in neuer Zeit haben sich für eine diesbezügliche Herleitung des Rechts auf Beweis ausgesprochen: Bruns, FS-Stürner, S. 257 f.; Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 165 ff.; Reichenbach, § 1004 BGB als Grund-
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punkt dieser Ansicht ist die Erkenntnis, dass die Existenz eines solchen Rechts auf Beweis im Hinblick auf das staatliche Gewaltmonopol nach dem Grundgesetz zwingend ist.57 Sodann gilt es bei der dogmatischen Einordnung des Rechts auf Beweis als Teil des Justizgewährungsanspruches zwei Argumentationslinien innerhalb der Literatur zu unterscheiden: Die ältere Literatur hatte sich teilweise für eine Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Justizgewährungsanspruch ausgesprochen, diesen Justizgewährungsanspruch jedoch seinerseits dogmatisch in Art. 103 I GG verortet.58 Mithin wurde die geschriebene Gewährleistung des Art. 103 I GG – aus rechtspositivistischer Sicht konsequent – zu einem umfassenden prozessualen Grundrecht ausgebaut. Diese Einordnung des Justizgewährungsanspruches in Art. 103 I GG veränderte jedoch gerade nicht die Argumentationslinie dieser Auffassung in Bezug auf die Existenz und die Einordnung des Rechts auf Beweis dahingehend, dass das Recht auf Beweis – wie auch der Justizgewährungsanspruch insgesamt – eine zwingende Folge des staatlichen Gewaltmonopols seien.59 In eben dieser Argumentation stimmt diese Auffassung mit denjenigen Stimmen in der Literatur überein, die von einer anderen dogmatischen Einordnung des Justizgewährungsanspruches und in der Folge auch des Rechts auf Beweis ausgehen: Die neuere Literatur leitet den Justizgewährungsanspruch in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten, insbesondere Art. 2 I GG, iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) ab.60 Dabei wird betont, dass das staatliche Gewaltmonopol nicht allein einen Justizgewährungsanspruch in Form einer bloß theoretischen Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung verlangt, sondern vielmehr die Effektivität dieses Rechtsschutzes zwingend erfordert.61 Sodann wird lage, S. 4 f.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 68 ff.; Klamaris, FS Schwab, S. 269 ff.; außerdem MüKo-Prütting, ZPO I, § 284 Rn. 18 und Stein/Jonas- Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 40. 57 Vgl. zu dieser Erkenntnis der zwingenden Existenz eines Rechts auf Beweis bereits die obige Argumentation, I.1.; ausführlich und mit ähnlicher Argumentation Walter, freie Beweiswürdigung, S. 301 ff.; eine ähnliche Argumentation zugunsten der Wahrheitserforschung im Zivilprozess findet sich bereits bei Stürner, Aufklärungspflicht, S. 39 ff.; Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f. und Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 f.; siehe auch Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 f. und Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 68 ff. jeweils mwN. 58 In diesem Sinne insbesondere Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 f.; allgemein zur Herleitung des Justizgewährungsanspruches aus Art. 103 I GG Baur, AcP 153 (1954), S. 394, 396 ff.; dieser Ansicht folgend Söllner, Der Beweisantrag, S. 77; Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f. jeweils mwN. 59 Siehe insbesondere Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f. und Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 f. 60 In diese Richtung Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 69 ff. und Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 166 ff. 61 So übereinstimmend Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 69 ff. und Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 166 ff.; ausführlich in diesem Zusammenhang auch Walter, freie Beweiswürdigung, S. 301 ff.
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deutlich gemacht, dass eine effektive Rechtsdurchsetzung ohne eine hinreichend erforschte Tatsachengrundlage schlichtweg nicht möglich ist, so dass die Parteien das Recht haben müssen, eben diese Erforschung der Tatsachengrundlage voranzutreiben.62 Auf diesem Wege wird der Bogen hin zu einer dogmatischen Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Justizgewährungsanspruch gespannt, als eben diesem Recht der Parteien auf eine hinreichende Sachverhaltserforschung.63 Ergänzend zu dieser Argumentationslinie wird zudem oftmals auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf effektiven Rechtsschutz als materiellem Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches verwiesen, die das Recht der Parteien auf eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Sachverhaltes postuliert.64
3. Eigene Ansicht: Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im GG Den Abschluss dieser Darstellung soll nun die Entwicklung einer eigenen Ansicht zur dogmatischen Einordnung des Rechts auf Beweis auf Grundlage der dargestellten Rechtsprechung und Literatur bilden. In diesem Rahmen werden die einzelnen prozessualen Grundrechte jeweils unter Hinzuziehung der bisherigen Analyse von Rechtsprechung und Lehre auf ihre Tauglichkeit als dogmatische Grundlage des Rechts auf Beweis untersucht. a) Geringer Überschneidungsbereich mit dem Recht auf ein faires Verfahren Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet wiederum das Recht auf ein faires Verfahren in seiner Herleitung aus Art. 2 I GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG).65 Die Analyse von Rechtsprechung und Literatur hat aufgezeigt, dass das Recht auf ein faires Verfahren tendenziell die Rolle eines Auffanggrundrechtes einnimmt. Dieses prozessuale Grundrecht wird immer dann herangezogen, wenn ein ganz bestimmter Sachverhalt sich nur schwerlich unter den Anwendungsbereich des Rechts auf rechtliches Gehör und des Justizgewährungsanspruches subsumieren lässt. Insbesondere in Konstellationen, die nach einer Harmonisierung des deut62 So insbesondere Walter, freie Beweiswürdigung, S. 301 ff. und Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff., 48 ff.; ebenso Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 f.; Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 168 ff. und Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 70 f. 63 In diesem Sinne Walter, freie Beweiswürdigung, S. 301 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 48 ff.; Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 168 ff. Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 f. und Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 70 f. 64 Auf die Rechtsprechung verweisen etwa Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 168; ähnlich Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 70 f. 65 Zur Herleitung vgl. bereits BVerfGE 57, S. 250, 274 f. für den Strafprozess; siehe BVerfGE 78, S. 123, 126; BVerfG NJW 1996, S. 3202 zur identischen Herleitung im Zivilprozess.
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schen Grundgesetzes mit den europäischen Grundrechtskatalogen verlangen, kann das Recht auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz als dogmatische Basis für die Folgerungen aus dem gleichnamigen Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK und Art. 47 II S. 1 GRC dienen. Diese Auffangfunktion zeigt sich letztlich auch in Bezug auf das Beweisrecht, wenn das Bundesverfassungsgericht aus dem Recht auf ein faires Verfahren dem erkennenden Gericht die allgemeine Verpflichtung einer fairen Handhabung des Beweisrechts auferlegt.66 Nun ließe sich argumentieren, dass eine faire Handhabung des Beweisverfahrens im Zivilprozess die Durchführung eines solchen Beweisverfahrens, wie auch bestimmte Gewährleistungen in Bezug auf seinen Ablauf voraussetzten würde. Wenn man indes von der Auffangfunktion des Rechts auf ein faires Verfahren ausgeht, so könnte eine diesbezügliche dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis im Grundgesetz nur vorgenommen werden, wenn diese Einordnung für sämtliche spezielleren, prozessualen Grundrechte ausscheidet. Zudem weist diese Auffangfunktion des Rechts auf ein faires Verfahren eine weitere Schwäche dahingehend auf, dass das Recht auf Beweis mittels dieser dogmatischen Konstruktion nur sehr wenig an Kontur und Inhalt gewinnen und daher der eigentliche Sinn und Zweck einer dogmatischen Einordnung verfehlt würde. Somit erscheint das Recht auf ein faires Verfahren nach hier vertretener Ansicht nicht als geeignete dogmatische Grundlage für ein Recht auf Beweis, sondern vielmehr als eine Ergänzung desselben für spezielle Einzelfälle und eine etwaig notwendige Harmonisierung mit den europäischen Grundrechtsordnungen.67 b) Die Unterschiede zum Recht auf rechtliches Gehör Das Recht auf rechtliches Gehör in Art. 103 I GG erscheint demgegenüber als eine sehr viel naheliegendere dogmatische Grundlage des Rechts auf Beweis. Eine solche Verortung des Rechts auf Beweis wird von Teilen der Literatur vertreten und auch das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art. 103 I GG Garantien für das Beweisrecht ab.68 Als dogmatische Grundlage des Rechts auf Beweis kommt Art. 103 I GG indes nur in Betracht, wenn sich das hier in Rede stehende Recht auf Beweis 66 Vgl. bereits BVerfGE 52, S. 131, 145; seitdem st. Rspr., siehe etwa BVerfGE 106, S. 28, 48; BVerfGE 117, S. 202, 240. 67 Vgl. zu dieser Harmonisierungsfunktion Dörr, faires Verfahren, S. 16 ff., der explizit den Inhalt des Rechts auf ein faire Verfahren nach nationalem Recht aus einem Rückgriff auf Art. 6 I EMRK gewinnen möchte; in diese Richtung äußert sich auch Sachs-Degenhart, GG, Art. 103 Rn. 6 f. und 42 ff. unter Verweis auf BVerfGE 74 S. 358, 370. 68 Für eine Herleitung aus Art. 103 I GG sprechen sich Waldner, rechtliches Gehör, S. 28 ff.; Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff. und Frohn, richterliche Entscheidung, S. 87 f. aus; wohl auch Fink, Verwertbarkeit im Zivilprozess, S. 76 f.; ebenfalls eher indirekt in diese Richtung Mauder, Anspruch auf rechtliches Gehör, S. 49 f.; vgl. aus der Rechtsprechung zu den beweisrechtlichen Garantien des Art. 103 I GG etwa BVerfGE 69, S. 141, 143 f.; BVerfGE 79, S. 51, 61 f.; BVerfG NJW 2003, S. 125, 127; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586.
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iSe umfassenden Rechts auf effektiven Rechtsnachweis der Parteien des Zivilprozesses in seinen sämtlichen Gewährleistungsgehalten von beweisrechtlichen Grundsätzen, über den Beweisantrag, eine Erhebung und Würdigung beantragter Beweismittel bis hin zur Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen in eben diesem Recht auf rechtliches Gehör iSd Art. 103 I GG verorten lässt: Dabei dürfte ein Recht der Parteien zur Stellung von Beweisanträgen wohl unproblematisch durch das Recht auf Äußerung im Rahmen des Art. 103 I GG gewährleistet werden.69 Diffiziler erscheint jedoch bereits die Frage nach einem Recht auf Erhebung beantragter Beweismittel. Zwar gewährleistet Art. 103 I GG iVm den Grundsätzen der ZPO nach dem Bundesverfassungsgericht die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge durch das erkennende Gericht.70 Doch wird das Merkmal der „Berücksichtigung“ iSd Art. 103 I GG durch das Verfassungsgericht grundsätzlich dahingehend ausgelegt, dass lediglich eine Verpflichtung zur Kenntnisnahme und Erwägung besteht.71 Allerdings lässt sich in einer weiten Auslegung dieser Verpflichtung zur Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge auch ein Recht der Prozessparteien auf Erhebung ihrer beantragten Beweismittel in Art. 103 I GG verorten.72 Demgegenüber gewährleistet Art. 103 I GG das rechtliche Gehör allein in einem bereits anhängigen Zivilprozess, so dass die Herleitung jeglicher Gewährleistungen des Rechts auf Beweis im Vorfeld des eigentlichen Zivilprozesses – etwa im Hinblick auf eine Beweissicherung – nach dem derzeitigen dogmatischen Verständnis des Art. 103 I GG kaum in Betracht käme.73 Weitergehend wäre auch eine Herleitung von monetären Gewährleistungen des Rechts auf Beweis, wie etwa verhältnismäßigen Kosten eines Beweisverfahrens, bereits begrifflich nur schwer unter das Recht auf rechtliches Gehör zu subsumieren und nach geltendem, dogmatischem Verständnis des Art. 103 I GG kaum zu begründen.74 Eine ähnliche Problematik ergibt sich für die Herleitung von beweisrechtlichen Grundsätzen im Hinblick auf Art. 103 I GG. So hat das Bundesverfassungsgericht explizit ausgesprochen, 69
Vgl. beispielsweise BVerfGE 54, S. 86, 91 f.; BVerfGE 67, S. 154, 155 jeweils mwN. Vgl. wiederum etwa BVerfGE 50, S. 32, 35 f.; BVerfGE 60, S. 247, 249; BVerfGE 65, S. 305, 307; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586; BVerfG-K 12, S. 346, 350 f. jeweils mwN. 71 Siehe etwa BVerfGE 11, S. 218, 220; BVerfGE 69, S. 141, 143 f.; BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586. 72 Ausführlich zu dieser Fragestellung unten § 7 V. 1. a. bb. (1). 73 Eine Fundierung des Rechts auf Beweis in Art. 103 I GG aus diesen Gründen ablehnend insbesondere Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 63 ff. mwN; zu den Grenzen des Art. 103 I GG iSe Gehörsgewährung „vor Gericht“ siehe etwa BVerfGE 36, S. 321, 330; instruktiv auch BVerfGE 101, S. 397, 404 f.; aus der Literatur v. Mangoldt/Klein/Stark-Nolte, GG, Bd. 3, Art. 103, Rn. 16 ff. und Dreier-Schulze-Fielitz, GG, Bd. 3, Art. 103, Rn. 16 ff. jeweils mwN. 74 Vielmehr werden monetäre Fragen des Zuganges zu Gericht durch Rechtsprechung und Literatur unter den Justizgewährungsanspruch und den Grundsatz prozessualer Waffengleichheit subsumiert, siehe § 7 III. 4. a. 70
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
Art. 103 I GG umfasse weder das Recht auf ein bestimmtes Beweismittel noch das Recht auf bestimmte Arten von Beweismitteln.75 Ausgehend von dieser Prämisse hat das Verfassungsgericht eine Herleitung des Grundsatzes der formellen Beweis unmittelbarkeit aus Art. 103 I GG ausdrücklich abgelehnt.76 Somit würde bereits die Herleitung von elementaren beweisrechtlichen Grundsätzen eine gänzliche Neuausrichtung des bestehenden, dogmatischen Systems des Art. 103 I GG voraussetzen. Allein diese Überlegungen zu einigen grundlegenden Gewährleistungsgehalten des Rechts auf Beweis nach seinem in dieser Arbeit entwickelten und vertretenen Verständnis als einem Recht auf effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess zeigt deutlich auf, dass Art. 103 I GG in seiner Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur keine geeignete Grundlage für eine Vielzahl dieser Gewährleistungen darstellt. Nach seinem Verständnis durch Rechtsprechung und Literatur gewährleistet das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 I GG den Parteien des Zivilprozesses letztlich eher ein bestimmtes Prozedere in Form von Information, anschließender Stellungnahme auf Grundlage dieser Information und eine bestimmte Befassung des erkennenden Gerichts mit einer solchen Stellungnahme der Parteien. Dieses Verständnis des Art. 103 I GG ist historisch gewachsen und erscheint auch nach hier vertretener Auffassung in sich durchaus konsistent. Hieraus folgt jedoch zugleich, dass Art. 103 I GG sich gerade nicht als hinreichende, dogmatische Grundlage für das Recht auf Beweis im Grundgesetz darstellt. c) Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruch Somit verbleibt als denkbare dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis im Grundgesetz allein der Justizgewährungsanspruch. aa) Die Herleitung aus den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip In seiner Existenz nach dem deutschen Grundgesetz ist ein solcher Anspruch nach heute wohl allgemeiner Meinung zwingend.77 Dabei finden sich bereits im Rahmen dieser Argumentation deutliche Parallelen zu Überlegungen dieser Arbeit über die zwingende Existenz eines Rechts auf Beweis im Grundgesetz.78 Ausgangspunkt ist auch im Rahmen des Nachweises eines Justizgewährungspunktes die Überlegung, 75 Vgl. bereits BVerfGE 1, S. 418, 429; ausdrücklich BVerfGE 57, S. 250, 273 ff.; bestätigt in BVerfGE 63, S. 45, 60; BVerfG NJW 1996, S. 3145, 3146; BVerfG NJW 1998, S. 1939. 76 In diesem Sinne bereits BVerfGE 1, S. 418, 429; ebenso in neuerer Zeit BVerfG NJW 2008, S. 2243, 2244. 77 Vgl. aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 107, S. 395, 402 ff. mwN; aus der Literatur siehe bereits Walter, freie Beweiswürdigung, S. 297 und Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff. jeweils mwN; in neuerer Zeit, Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 68 f. und Stern, StaatsR I, S. 838 ff. 78 Ausführlich § 4 I.
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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dass das staatliche Gewaltmonopol einen zentralen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips darstellt. Der Staat verbietet in weiten Teilen die Selbsthilfe iSe privaten Rechtsdurchsetzung, so dass Begriffe wie das „Recht“ des Stärkeren oder das Fehdewesen glücklicherweise allein rechtshistorische Bedeutung haben.79 Insbesondere ihre staatliche Monopolisierung ermöglicht eine Rechtsdurchsetzung, die weitestgehend unabhängig von der körperlichen oder wirtschaftlichen Stärke der Parteien ist und gleichsam die Herstellung eines dem materiellen Recht entsprechenden Zustandes fördert und so den Zusammenhang zwischen Gewaltmonopol und Rechtstaatsprinzip deutlich aufzeigt.80 Wenn der Staat nun aber die eigenmächtige Rechtsdurchsetzung verbietet, so muss er seinen Bürgerinnen und Bürgern zugleich einen alternativen Weg der Durchsetzung privater Rechte aufzeigen und denselben auch gewährleisten. Dieser Zusammenhang stellt die zentrale Argumentationslinie für die zwingende Existenz eines Justizgewährungsanspruches nach dem Grundgesetz dar.81 Diese Argumentationslinie zugunsten der Existenz des Justizgewährungsanspruches im Grundgesetz gibt ihrerseits deutliche Hinweise auf seine dogmatische Herleitung. Das Bundesverfassungsgericht hat den Justizgewährungsanspruch rechtsschöpferisch aus den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) hergeleitet.82 Ausgehend von der Argumentation zu seiner Begründung erscheint diese Herleitung aus den beiden Stützpfeilern „Grundrechte“ und „Rechtsstaatsprinzip“ auch nach hier vertretener Auffassung ebenso naheliegend wie überzeugend: Das staatliche Gewaltmonopol ermöglicht eine formalisierte Rechtsdurchsetzung, die sich am geltenden Recht und nicht externen Faktoren, wie etwa der körperlichen oder wirtschaftlichen Stärke der Parteien orientiert. Durch eben diese Ermöglichung einer friedlichen Rechtsdurchsetzung für alle Rechtsinhaber gleichermaßen stellt sich das staatliche Gewaltmonopol als wesentlicher Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips dar. Der Justizgewährungsanspruch ist seines Zeichens die zwingende Konsequenz dieses staatlichen Gewaltmonopols iSe Monopolisierung der Rechtsdurchsetzung durch den Staat. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet richtigerweise ein Recht auf effektive Durchsetzung eigener Rechte in dem staatlich geschaffenen, formalisierten Durchsetzungsverfahren in Form der Zivilgerichtsbarkeit und somit 79 Instruktiv zur Bedeutung des Gewaltmonopols im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip BVerfGE 54, S. 277, 291 ff.; BVerfGE 81, S. 347, 356 und BVerfGE 85, S. 337, 346 ff.; zur Historie von Fehdewesen und Gewaltmonopol Hammer, DÖV, S. 613, 615 ff.; ein Beispielsfall zum spätmittelalterlichen Fehdewesen findet sich bei Andermann, FS Maurer, S. 273 ff. jeweils mwN. 80 Zu diesem Zusammenhang auch Hammer, DÖV 2000, S. 613, 617 mwN. 81 Diesen Argumentationsschritt entwickelnd insbesondere Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff. und Dütz, rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, §§ 17– 19 jeweils mwN. 82 Ausführlich BVerfGE 107, S. 395, 401 ff. mwN; st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 85, S. 337, 345 f.; BVerfGE 93, S. 99, 107; BVerfG-K 15, S. 127, 130.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
ein Recht auf effektiven Rechtsschutz.83 Diese dogmatische Einordnung des Justizgewährungsanspruches in das Rechtsstaatsprinzip erscheint überzeugend. Als zweiten Stützpfeiler des Justizgewährungsanspruches nennt das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte.84 Der Justizgewährungsanspruch gibt dem Einzelnen das Recht auf Zugang zur staatlichen Zivilgerichtsbarkeit. Damit gewährleistet der Justizgewährungsanspruch den Zugang zur grundsätzlich einzig legalen Form der Rechtsdurchsetzung.85 Vor diesem Hintergrund erscheint es zudem konsequent, dass der primäre Prozesszweck eines jeden Zivilprozesses überwiegend in der Durchsetzung privater Rechte gesehen wird.86 Unabhängig von einer Diskussion über Ursache und Wirkung im Verhältnis von Herleitung des Justizgewährungsanspruches und Prozesszwecklehre wird unter Einbeziehung beider Elemente deutlich, dass der Zivilprozess die Durchsetzung von Grundrechten ermöglicht und die Gewährleistung eines effektiven Zuganges zu demselben zugleich der Effektuierung des Grundrechtsschutzes dient: Die Grundrechte haben einen sehr klaren und weit überwiegenden materiell-rechtlichen Charakter. Sie geben dem Einzelnen Rechte gegenüber dem Staat, wie auch privaten Dritten. Doch diese Rechte sind dem Einzelnen nur dann von Nutzen, wenn er im eigentlich relevanten Streitfalle die Möglichkeit hat, diese Rechte notfalls auch zwangsweise durchzusetzen. Hieran zeigt sich, dass die Grundrechte eben nicht nur materielle Abwehr- oder Leistungsrechte sind, sondern stets auch einen prozessualen Gehalt haben. Ein Recht hat ohne die Möglichkeit seiner zwangsweisen Durchsetzung allenfalls einen symbolischen Wert. Der Justizgewährungsanspruch enthält eben diese Gewährleistung einer effektiven, zwangsweisen Durchsetzung der (Grund-) Rechte des Einzelnen im Streitfalle. Der Justizgewährungsanspruch ermöglicht hiernach überhaupt erst einen effektiven Grundrechtsschutz. Anhand dieser Überlegungen zeigt sich sehr deutlich, dass die dogmatische Fundierung des Justizgewährungsanspruches in den Grundrechten als konsequent und richtig anzusehen ist. bb) Der Justizgewährungsanspruch als ein Recht auf effektiven Rechtsschutz Diese Herleitung des Justizgewährungsanspruches gibt nun ihrerseits deutliche Hinweise auf seinen Gewährleistungsgehalt. In seiner ursprünglichen Konzeption sollte der Justizgewährungsanspruch das geschriebene Recht auf Zugang zu gerichtlichem 83 Vgl. zur Herleitung der Rechtsschutzgewährleistung aus dem Rechtsstaatsprinzip bereits BVerfGE 54, S. 277, 291 ff.; instruktiv auch BVerfGE 101, S. 275, 294 f. und BVerfGE 107, S. 395, 401 ff.; ausführlich auch Sobota, das Prinzip Rechtsstaat, S. 188 ff. und Merten/Papier-Uhle, HGR V, § 129, Rn. 1 ff. jeweils mwN. 84 Vgl. etwa BVerfGE 93, S. 99, 107 und BVerfGE 107, S. 395, 401 ff. 85 Ausführlich zum Inhalt des Justizgewährungsanspruches BVerfGE 107, S. 395, 401 ff. 86 Für die herrschende Meinung siehe Stein/Jonas-Brehm, ZPO I, Einleitung vor § 1, Rn. 9 ff.; MüKo-Rauscher, Einleitung, Rn. 8 ff.; Musielak-Musielak, Einleitung, Rn. 5; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, S. 2 f.
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt in Art. 19 IV GG um eine allgemeine Gewährleistung des Zugangs zu Gericht für privatrechtliche Streitigkeiten erweitern.87 Doch bereits in dieser Entwicklungsphase des Justizgewährungsanspruches aus dem Grundgesetz wurde in Rechtsprechung und Literatur richtigerweise deutlich gemacht, dass ein bloß formales Zugangsrecht keine hinreichende Legitimation des staatlichen Gewaltmonopoles und seines Verweises auf diesen formalisierten Weg der Rechtsdurchsetzung ermöglicht. Vielmehr wurde der Justizgewährungsanspruch bereits frühzeitig in seinem Gewährleistungsgehalt um weitere Gewährleistungen in Bezug auf den jeweiligen Zivilprozess erweitert.88 So hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Justizgewährungsanspruch berechtigterweise das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit, das Recht auf eine verbindliche gerichtliche Entscheidung über den vorgebrachten Sachverhalt und das Recht auf eine umfassende tatsächliche und rechtliche Erforschung des Sachverhaltes hergeleitet.89 Diese Gewährleistungen lassen sich im Recht auf effektiven Rechtsschutz als Teilgehalt des Justizgewährungsanspruches zusammenfassen.90 Der Justizgewährungsanspruch wurde mithin in seinem Gewährleitungsgehalt frühzeitig vom Ziele der Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes her gedacht. Dieser Grundgedanke überzeugt auch nach hier vertretener Ansicht im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Justizgewährungsanspruches. Zugleich ermöglicht eine solche ergebnisorientierte Inhaltsbestimmung des Rechts auf effektivem Rechtsschutz die Herleitung einer Vielzahl an Gewährleistungsgehalten, die einen ebensolchen, effektiven Rechtsschutz im Zivilprozess überhaupt erst ermöglichen. Aufgrund dieser am Ergebnis der Effektivität des Rechtsschutzes orientierten Inhaltsbestimmung ergeben sich im Hinblick auf etwaige Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis – anders als im Rahmen des Art. 103 I GG – für das Recht auf effektiven Rechtsschutz nach hier vertretener Auffassung keine Bedenken. cc) Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Historie, dogmatischer Herleitung und Inhalt des Justizgewährungsanspruches lässt sich nun der entscheidende Schritt zur Historie des Justizgewährungsanspruches Sobota, das Prinzip Rechtsstaat, S. 188 ff.; siehe auch Isensee/Kirchhof-Papier, HStR Bd. VIII, § 176 Rn. 1 und 5 ff. und Stürner, Aufklärungspflicht, S. 31 ff.; jeweils mwN. 88 Vgl. bereits Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff.; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 42 ff.; Schwab, ZZP 81 (1968), S. 412, 416 f. ähnlich auch Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 1 ff. jeweils mwN. 89 Dies Formulierung findet sich bereits in der Entscheidung BVerfGE 54, S. 277, 291; seitdem st. Rspr., vgl. BVerfGE 84, S. 366, 369; BVerfGE 85, S. 337, 345; BVerfGE 101, S. 275, 294 f.; BVerfGE 107, S. 395, 401 ff.; BVerfG NJW 1997, S. 311, 312. 90 Vgl. ausführlich zum Justizgewährungsanspruch und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz BVerfGE 107, S. 395, 401 ff. 87 Ausführlich
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hin zu einer dogmatischen Fundierung des Rechts auf Beweis vollziehen. Der Justizgewährungsanspruch stellt die zwingende, grundgesetzliche Gewährleistung des Zuganges zur Zivilgerichtsbarkeit als nach dem staatlichen Gewaltmonopol einzigen, zulässigen Weg der Rechtsdurchsetzung dar. Zur Legitimierung dieser formalisierten Rechtsdurchsetzung und damit letztlich des staatlichen Gewaltmonopols selbst kann es jedoch nicht genügen, den bloßen Zugang des Einzelnen sicherzustellen. Vielmehr muss der so gewährte Rechtsschutz richtigerweise auch effektiv sein und eine Rechtsdurchsetzung des Einzelnen tatsächlich ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist nun die Bedeutung des Nachweises der Rechte für die Effektivität des Rechtsschutzes des Einzelnen im Zivilprozess zu bedenken. Wenn sich ein Gericht in seiner Entscheidung auf einen falschen, d. h. nicht der Wahrheit entsprechenden Sachverhalt stützt, so wird auch bei korrekter Normanwendung und rechtlicher Würdigung dieses Sachverhaltes am Ende dennoch stets eine materiell-rechtlich falsche Entscheidung stehen. Wenn das Gericht hiernach von einem falschen Sachverhalt ausgeht, so werden Grundrechtsbeeinträchtigungen durch die Beschreitung des Rechtsweges nicht behoben, sondern vielmehr weiter perpetuiert. Die Schaffung eines der Wahrheit entsprechenden Sachverhaltes ist nach dem Beibringungsgrundsatzes im Zivilprozess eine Aufgabe der Parteien und selbst im Falle eines Zivilprozesses mit Untersuchungsgrundsatz würden die Prozessparteien aufgrund der strukturellen Unkenntnis des entscheidenden Gerichts über den Sachverhalt stets das Risiko der Nichterweislichkeit eigener Rechte tragen.91 Dieser Nachweis der eigenen Rechte vor Gericht ist die Grundbedingung für eine positive gerichtliche Entscheidung über die eigenen Rechte und sodann für die Durchsetzung dieser Rechte durch die staatlichen Organe. Wenn nun aber die Pflicht zum Nachweis der eigenen Rechte bei den Parteien liegt, so muss ihnen vor Gericht auch die Möglichkeit, sprich, das Recht auf Beweis an die Hand gegeben werden. Diese Argumentation führte bereits zur Annahme der zwingenden Existenz eines Rechts auf Beweis und determiniert nun auch seine dogmatische Einordnung. Der grundgesetzlich garantierte Rechtsschutz kann hiernach denknotwendig nur dann ein effektiver Rechtsschutz sein, wenn die Parteien das Recht haben, ihre durchzusetzenden Rechte auch im Prozess nachzuweisen.92 Das Recht auf Beweis iSe umfassenden Rechts auf effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess weist somit einen sehr engen Zusammenhang zum Justizgewährungsanspruch iSe Rechts auf effektiven Rechtsschutz auf. Doch auch losgelöst von den konkreten 91 Vgl. zum Beibringungsgrundsatz und seiner Geltung im Zivilprozess Rosenberg/Schwab/ Gottwald, ZPR, S. 396 ff.; MüKo-Rauscher, ZPO I, Einleitung, Rn. 306 ff.; Musielak-Musielak, ZPO, Einleitung, Rn. 37 ff.; ausführlich zum Recht auf Beweis in einem Prozess unter Geltung des Untersuchungsgrundsatzes Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 68 ff. 92 In diesem Sinne formuliert Stürner, Aufklärungspflicht, S. 42 f. die Garantie der Wahrheitsprüfung vor Gericht; ähnlich Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff. und Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, S. 118 ff.
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Begrifflichkeiten des Justizgewährungsanspruches und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz, erscheint eine Fundierung des Rechts auf Beweis in den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) als sachgerechte und konse quente Lösung: So zeigt sich auch für das Recht auf Beweis eine enge Verbindung zum Rechtsstaatsprinzip. Das Rechtsstaatsprinzip fordert sowohl das staatliche Gewaltmonopol iSe friedlichen, gleichen Rechtsdurchsetzung für alle Grundrechtsberechtigten, als auch in der Konsequenz den zwingenden und effektiven Zugang zu einer formalisierte Art der Rechtsdurchsetzung als Alternative zur rein privaten Durchsetzung von Rechten, namentlich in Form des Justizgewährungsanspruches. Im Rahmen dieser formalisierten Rechtsdurchsetzung müssen die Parteien ihre Rechte nachweisen und somit auch die Möglichkeit dazu erhalten. Mithin ist nicht allein der Justizgewährungsanspruch, sondern auch ganz konkret ein Recht auf Beweis zwingender Ausfluss und somit Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Die Verbindung des Rechts auf Beweis zu den Grundrechten insgesamt erscheint gleichfalls sehr eng. Dabei lässt sich die Argumentation zur Herleitung des Justizgewährungsanspruches aus den Grundrechten auch für das Recht auf Beweis fruchtbar machen: Die Gewährleistung ihrer Durchsetzbarkeit im Streitfalle stellt die prozessuale Seite der Grundrechte dar und ermöglicht erst einen effektiven Grundrechtsschutz.93 Wenn nun aber Rechte ohne die Möglichkeit ihrer Durchsetzbarkeit keinen Wert für den Einzelnen innehaben, so wird auch die Bedeutung eines Rechts auf effektiven Nachweis dieser Rechte im Prozess deutlich: Im Rahmen jedes denkbaren Prozesses ist der Nachweis der eigenen Rechte erforderlich. Es ist gerade das Wesensmerkmal des formalisierten Weges der Rechtsdurchsetzung, dass der Staat in Form des erkennenden Gerichts in den betreffenden Sachverhalt als neutraler Entscheider nicht involviert war und dementsprechend auch keine persönliche Kenntnis dieses Sachverhaltes hat. Das staatliche Gericht ist hiernach naturgemäß in Unkenntnis des Sachverhaltes, so dass die Gewährleistung einer effektiven Nachweismöglichkeit der entscheidende Baustein zur Effektuierung des Grundrechtsschutzes innerhalb des Prozesses darstellt. Allein durch ihren Nachweis im Prozess lassen sich die materiellen Grundrechte des einzelnen Berechtigten in der Praxis durchsetzen. Somit erscheint die Herleitung des Rechts auf Beweis aus den materiellen Grundrechten ebenso stimmig und konsequent. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Recht auf Beweis nach hier vertretener Ansicht als wesentlicher Gewährleistungsgehalt des Justizgewährungsanspruches in seiner Form als Recht auf effektiven Rechtsschutz erscheint und auch die damit einhergehende dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) eine sachgerechte und diese Richtung bereits Stürner, Aufklärungspflicht, S. 39 ff.; ähnlich auch Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 f. jeweils mwN. 93 In
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dogmatische überzeugende Einordnung in das System der prozessualen Grundrechte darstellt.
III. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der EMRK Die justiziellen Grundrechtsgewährleistungen der EMRK sind in erster Linie in Art. 6 EMRK normiert. Als eine weitere, mögliche Quelle eines Rechts auf Beweis könnte zudem das Recht auf eine wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK in Betracht kommen.
1. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde in Art. 13 EMRK Dieser Artikel gewährleistet jedem Menschen im Falle eines Konventionsverstoßes das Recht auf eine wirksame Beschwerde. Diese Garantie ist somit akzessorisch zu den materiellen Garantien der EMRK.94 Sie dient dem Ziel, eben diese materiellen Gewährleistungen durch die Eröffnung eines Rechtweges möglichst effektiv zur Geltung zu bringen.95 Für diese Untersuchung ist indes besonders interessant, dass nach dem Wortlaut des Art. 13 EMRK nicht allein die Möglichkeit einer Beschwerde garantiert wird, sondern auch die Wirksamkeit derselben. Mithin trifft diese Gewährleistung nicht allein eine Aussage über das „Ob“ einer Beschwerde, vielmehr umfasst sie auch das „Wie“ der Beschwerde.96 Somit könnte man überlegen, ge wisse beweisrechtliche Mindeststandards im Prozess als Ausgestaltung einer „wirksamen“ Beschwerde iSd Art. 13 EMRK anzusehen und aus dieser Norm herzuleiten. Als entsprechende Fallkonstellation könnte eine zivilrechtliche Schadensersatzklage wegen Beschädigung einer Sache und damit des Konventionsrechts auf Eigentum dienen. Indes hat der EGMR für derartige Fälle „zivilrechtlicher Ansprüche“ entschieden, dass Art. 6 EMRK mit seinen Garantien lex specialis sein soll.97 Diese Rechtsprechung erscheint mit Blick auf das aus Art. 6 I EMRK abgeleitete Recht auf Zugang zum Gericht auch durchaus konsequent.98 Etwas anderes soll nur gelten, wenn Art. 6 I EMRK selbst verletzt ist – etwa im Falle einer unangemessen langen Vgl. Frowein/Peukert-Frowein, EMRK, Art. 13 Rn. 1; ebenso Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 187 ff. 95 Vgl. wiederum Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 187. mwN. 96 Ausführlich Dörr/Grote/Marauhn-Richter, EMRK/GG II, Kapitel 20 Rn. 33 ff.; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 196 ff. 97 Vgl. EGMR, Urteil vom 24.10.1983, 5947/72, Silver and other ./. GB; bestätigt durch den EGMR, Urteil vom 26.10.2000, 30210/96, Kudla ./. PL = NJW 2001, S. 2694; ausführlich Dörr/ Grote/Marauhn-Richter, EMRK/GG II, Kapitel 20 Rn. 110 ff. 98 Zustimmend Frowein/Peukert-Frowein, Art. 13 Rn. 10; Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer-Meyer-Ladewig/Renger, EMRK, Art. 13 Rn. 40 ff. und Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 189 ff. 94
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Dauer eines Gerichtsprozesses.99 Somit wäre Art. 13 EMRK bei der Herleitung eines wirksamen Rechtsbehelfes im Falle der Verletzung eines etwaigen Rechts auf Beweis aus der Konvention von Interesse. Eine dogmatische Herleitung des Rechts auf Beweis aus Art. 13 EMRK scheidet jedoch in Übereinstimmung mit dem EGMR richtigerweise aus.
2. Das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK Die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis ist vielmehr in Art. 6 EMRK zu suchen. Art. 6 I EMRK gewährleistet den Parteien des Zivilprozesses das Recht auf ein faires Verfahren und stellt damit gleichsam die Grundnorm der prozessualen Gewährleistungen in der EMRK dar.100 Art. 6 III EMRK beinhaltet weitere Gewährleistungen für den Strafprozess, die als eine Konkretisierung des allgemeinen Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK angesehen werden.101 Aus diesen normierten Konkretisierungen des Rechts auf ein faires Verfahren wird zudem der Schluss gezogen, dass sich aus Art. 6 I EMRK weitere, ungeschriebene Konkretisierungen dieses Rechts auf ein faires Verfahren ableiten lassen.102 So hat der EGMR auch für den Zivilprozess das Recht auf Zugang zu Gericht, das Recht auf rechtliches Gehör und den Grundsatz der Waffengleichheit als Teilgewährleistungsgehalte des Art. 6 I EMRK entwickelt.103 Zudem wurde durch den EGMR die weitergehende Anwendung einzelner Gewährleistungen des Art. 6 III EMRK auf den Zivilprozess postuliert.104 Diese genannten Teilgewährleistungsgehalte sind im Folgenden kurz auf ihren Inhalt hin zu untersuchen, um eine mögliche dogmatische Quelle des Rechts auf Beweis in der EMRK herauszuarbeiten.
99 So der EGMR, Urteil vom 26.10.2000, 30210/96, Kudla ./. PL = NJW 2001, S. 2694; zustimmend Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 189 ff. und Dörr/Grote/Marauhn-Richter, EMRK/ GG II, Kapitel 20 Rn. 115 ff. jeweils mwN. 100 Ausführlich Dörr/Grote/Marauhn-Richter, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 1 ff. und 93 ff.; zur Bedeutung des Art. 6 EMRK im europäischen Grundrechtssystem siehe auch Frowein/PeukertPeukert, EMRK, Art. 6 Rn. 1 ff. 101 Vgl. die Ausführungen des EGMR, Urteil vom 26.07.2002, 32911/96, Meftha and other ./. FRA; ebenso Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 278 ff. und Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 112 jeweils mwN. 102 Vgl. wiederum EGMR, Urteil vom 26.07.2002, 32911/96, Meftha and other ./. FRA; ausführlich zu diesen vom EGMR entwickelten Teilgewährleistungsgehalten des Art. 6 Dörr/Grote/ Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 37 ff. 103 Vgl. Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 37 ff.; ausführlich zu den einzelnen Garantien auch Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 112 ff. 104 So wird insbesondere Art. 6 III lit. d EMRK vom Gerichtshof analog im Zivilprozess angewendet, vgl. bereits EGMR, Urteil vom 10.02.1983, 7299/75, Albert u. le Compte ./. B = EuGRZ 1983, S. 190; bestätigt in EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, Dombo Beheer B.V. ./. NL = NJW 1995, S. 1413; ebenso Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 629 ff. mwN.
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a) Das Recht auf Zugang zu Gericht Das Recht auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK enthält zum einen gewisse Organisationsgewährleistungen, die Anforderungen an das Justizsystem insgesamt stellen. Gerichte iSd Art. 6 I EMRK müssen unabhängig und objektiv, wie auch subjektiv unparteiisch sein, sowie über sämtliche erheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheiden können.105 Zum anderen wird dem Einzelnen durch Art. 6 I EMRK das Recht auf tatsächlichen und effektiven Zugang zu diesem Gericht und eine abschließende, gerichtliche Entscheidung gewährleistet.106 Das Recht auf Zugang zu Gericht enthält mithin in erster Linie Aussagen zu der Frage, „ob“ ein Gerichtsprozess stattfindet und weniger zu seiner konkreten Ausgestaltung. Dennoch könnte man bei einigen Entscheidungspassagen des EGMR zu diesem Grundrecht einen Zusammenhang zu einem Recht auf Beweis vermuten: So hat der EGMR mehrfach ausgesprochen, dass die unbegründete Ablehnung von Beweisanträgen unter Zugrundelegung rein hypothetischer Erwägungen im Zusammenhang mit dem Prozesskostenhilfeverfahren (PKH-Verfahren) das Recht auf Zugang zu Gericht nach Art. 6 I EMRK verletzt.107 Somit scheint der EGMR einen Zusammenhang zwischen dem Recht auf Zugang zu Gericht und der Ausgestaltung des Beweisrechts hergestellt zu haben. Entscheidend ist in dieser Rechtsprechung jedoch der Umstand, dass es sich um das Verfahren der PKH handelt. Dieses Verfahren ist dem eigentlichen Prozess – nicht notwendigerweise zeitlich, aber doch zumindest inhaltlich – insofern vorgelagert, als das erfolgreiche Bestreiten dieses PKH-Verfahrens erst die finanzielle Möglichkeit eines späteren Prozesses für den Betroffenen schafft. Mithin betrifft das PKH-Verfahren im Ganzen das Recht auf Zugang zu Gericht, also das „Ob“ des Prozesses. Damit betrifft aber auch die Ausgestaltung des PKH-Verfahrens insgesamt das „Ob“ des späteren Gerichtsprozesses und damit den Zugang zu Gericht. Daher erscheint die Rechtsprechung des EGMR zur beweisrechtlichen Ausgestaltung des PKH-Verfahrens und seine dogmatische Verortung durchaus konsequent. Festhalten lässt sich aber zugleich, dass diese Ausführungen keine Aussagen über die Ausgestaltung des späteren Gerichtsprozesses treffen und keine Rückschlüsse auf die Fundierung eines Rechts auf Beweis zulassen. Ein solches Recht auf Beweis könnte im Hinblick auf den Zugang zu Gericht allenfalls dann tangiert werden, wenn materielles Recht und Beweisrecht derart ausgestaltet wurden, dass der Betroffene keinen Zugang zu den für ihn wichtigen Be105 Ausführlich und mit Rechtsprechungsnachweisen zu diesen Dörr/Grote/Marauhn-Graben warter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 38 ff. 106 Vgl. bereits EGMR, Urteil vom 21.02.1975, 4451/70, Golder ./. GB = EuGRZ 1975, S. 91; siehe auch Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 73 ff. und Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 45 ff. jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. 107 So der im Fall EGMR, Urteil vom 26.07.2005, 73547/01, Jedamska ./. Poland, insb. Rn. 63 f.; ebenso Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 48 mwN.
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weismittel erlangen kann und einen Prozess infolgedessen aufgrund der schlechten Beweissituation und den damit einhergehenden, fehlenden Erfolgsaussichten ganz unterlässt.108 Indes handelt es sich bei derartigen Fällen um Extremfälle, in denen die beweisrechtliche Ausgestaltung des Prozesses Rückwirkungen auf die Frage des Zuganges zum Prozess insgesamt hat. Diese Fälle stellen jedoch nicht den Regelfall in einem Zivilprozess dar und sind aufgrund ihres Ausnahmecharakters kaum geeignet, die dogmatische Fundierung für eben diesen Regelfall zu leisten. b) Der Grundsatz der Waffengleichheit Einen weiteren, wesentlichen Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren bildet der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit.109 Es handelt sich um eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes.110 Hiernach sind die Parteien eines Prozesses grundsätzlich gleich zu behandeln.111 Diese sehr allgemeine Ausformung des Gleichheitssatzes wurde in neuer Zeit durch den EGMR dahingehend modifiziert, dass die Parteien unter Geltung des Grundsatzes der Waffengleichheit die Gelegenheit haben müssen, ihren Fall einschließlich ihrer Beweise zu präsentieren und zwar unter Bedingungen, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner darstellen.112 Dieser letzte Passus könnte dafür sprechen, dass der Grundsatz der Waffengleichheit auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt für das Beweisrecht enthält. Allerdings gilt es bei diesen Überlegungen im Blick zu behalten, dass der Grundsatz der Waffengleichheit richtigerweise allgemein als Ausprägung des Gleichheitssatzes verstanden wird.113 Daraus folgt, dass dieser Grundsatz allein die Gewähr dafür bietet, dass die Parteien in jedem Stadium des Prozesses gleich behandelt werden. Darüber hinausgehende, inhaltliche Mindeststandards für das Beweisrecht lassen sich aus einem Gleichheitssatz jedoch gerade nicht ableiten. Vielmehr könnte man die beweisrechtlichen Befugnisse der Par108
In diese Richtung tendierend EGMR, Urteil vom 06.11.2009 – 32881/04, K.H. and others ./. Slovakia, Rn. 59 ff., der eine Verletzung von Art. 6 I EMRK in einem derartigen Fall bejaht. 109 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 23.06.1993, 12952/87, Ruiz Mateos ./. ESP = EuGRZ 1993, S. 453; ausführlich Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 596 f. und Pache, EuGRZ 2001, S. 601 ff. 110 Ausführlich zu dieser Einordnung Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 596 ff. mwN; ebenso Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 147 ff. 111 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 06.04.2006, 46917/99, Stankiewicz ./. PL., Z. 68 f.; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 67 f. und Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer-MeyerLadewig/Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 106 f. jeweils mwN. 112 So der EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, Dombo Beheer B.V. ./. NED = NJW 1995, S. 1413; bestätigt etwa in EGMR, Urteil vom 23.10.1996, 17748/91, Ankerl ./. SUI; ebenso Gra benwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 67 f. und 73; zur Entwicklung des Grundsatzes der Waffen gleichheit siehe Ambos, ZStW 2005, S. 583, 592 ff. 113 Vgl. allein Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 596 ff. mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Lehre.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
teien – allein unter Betrachtung des Grundsatzes der Waffengleichheit – wohl vollständig verweigern, solange diese Weigerung für beide Parteien gleichermaßen gilt.114 Ein Recht auf Beweis hat indes nach seiner Konzeption eben solche Mindestanforderungen an die Möglichkeiten eines effektiven Rechtsnachweises jeder einzelnen Prozesspartei zum Inhalt, so dass der Grundsatz der Waffengleichheit als dogmatisches Fundament gleichfalls ausscheidet. c) Die Konkretisierung des fairen Verfahrens in Art. 6 III lit. d EMRK Eine besondere Ausprägung des soeben diskutierten Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit findet sich in Art. 6 III lit. d EMRK.115 Seinem Wortlaut nach gilt diese Garantie ausschließlich für den Strafprozess, indes wendet der EGMR Art. 6 III lit. d EMRK in ständiger Rechtsprechung auch im Zivilprozess an.116 Inhaltlich wird durch Art. 6 III lit. d EMRK primär die Gleichbehandlung von Ankläger und Angeklagten in Bezug auf die Ladung und Beiziehung von Zeugen im Prozess sichergestellt. Besonders anschaulich wird dieser Aspekt im Fall Dombo Beheer B.V. v. NL: In diesem Zivilprozess wurde über den Inhalt eines Vier-Augen Gespräches zwischen der niederländischen Gesellschaft Dombo Beheer B.V. und ihrer Bank gestritten. Dabei wurde der im Gespräch anwesende, leitende Angestellte der Bank als Zeuge vernommen, der ebenfalls anwesende Geschäftsführer der Gesellschaft hingegen als mit der Gesellschaft zu sehr verbunden vom Zeugenbeweis ausgeschlossen. Hierin hat der EGMR eine Verletzung des Art. 6 III lit. d iVm Art. 6 I EMRK erblickt.117 Diese Gewährleistung des Art. 6 III lit. d EMRK wird durch den EGMR zudem auf den Beweis durch Sachverständige ausgeweitet.118 Im Hinblick auf die Fundierung eines Rechts auf Beweis könnte die Gewährleistung, bestimmte Beweismittel in einem Prozess einbringen zu dürfen, eine tragende Rolle spielen. Wenn eine solche Gewährleistung für das – praktisch sehr bedeutsame – Beweismittel des Zeugenbeweises gilt und durch die Rechtsprechung bereits auf den Sachverständigenbeweis ausgeweitet wurde, so ließe sich aus Art. 6 III lit. d EMRK möglicherweise ein allgemeiner Rechtsgedanke eines Rechts auf Beweis entwickeln. Allerdings gilt es 114 So geschehen im Fall EGMR, Urteil vom 03.06.2000, 35376/97, Krcmar u. a. ./. CZ, Rn. 39, in dem der EGMR eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit mit dieser Argumentation ablehnt. 115 Vgl. bereits EGMR, Urteil vom 08.06.1976, 5100/71, Engel and others ./. NL = EuGRZ 1976, S. 221, 235; bestätigt in EGMR, Urteil vom 06.05.1985, 8658/79, Bönisch ./. AU; ausführlich auch Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 308 ff. mwN. 116 Vgl. EGMR, Urteil vom 10.02.1983, 7299/75, Albert u. le Compte ./. B = EuGRZ 1983, S. 190; bestätigt in EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, Dombo Beheer B.V. ./. NL = NJW 1995, S. 1413; siehe auch Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 630 f. mwN. 117 So der EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, Dombo Beheer B.V. ./. NL = NJW 1995, S. 1413. 118 So der EGMR, Urteil vom 04.11.2008, 72596/01, Balsyte-Lideikiene ./. LIT, Z. 63 f.; zustimmend Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 156 ff.
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zu bedenken, dass diese Gewährleistung des Art. 6 III lit. d EMRK sich ihrem Wortlaut im letzten Halbsatz nach allein auf den Grundsatz der Waffengleichheit bezieht.119 Der Kerngehalt dieser Gewährleistung liegt also in der Gleichbehandlung der Parteien des Zivilprozesses. Den Parteien wird somit wiederum kein von der Gegenpartei unabhängiges Mindestmaß an effektiven Nachweismöglichkeiten garantiert. Allerdings gewährleistet Art. 6 III lit. d EMRK in seinem ersten Halbsatz außerdem das Recht, Fragen an einen Zeugen stellen zu dürfen. Diese Gewährleistung wird von EGMR und Lehre gemeinhin als unabhängig vom entsprechenden Recht der anderen Partei angesehen.120 Somit enthält Art. 6 III lit. d EMRK neben seinem gleichheitsrechtlichen Gewährleistungsgehalt auch einen freiheitsrechtlichen Gewährleistungsgehalt in Form eines Fragerechts der Parteien an alle im Prozess vernommenen Zeugen. Dieses Recht gilt nach der Rechtsprechung nicht absolut, doch innerhalb gewisser Grenzen hat jede Partei unabhängig von der Gegenpartei einen Anspruch darauf, Fragen an jeden vernommenen Zeugen zu stellen.121 Indes wird das Recht auf Befragung von Zeugen, Sachverständigen und vernommenen Parteien zwar auch durch das Recht auf Beweis in der EMRK gewährleistet, doch handelt es sich hierbei nur um einen einzelnen, sehr speziellen Gewährleistungsgehalt. Für eine dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis iSe umfassenden Rechts auf effektiven Rechtsnachweis der Parteien des Zivilprozesses erscheint diese Spezialvorschrift demgegenüber nicht geeignet. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Art. 6 III lit. d EMRK seinem Wortlaut nach nur für den Strafprozess gilt und es für den hier interessierenden Zivilprozess ohnehin eines Rückgriffes auf das allgemeine Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 I EMRK bedarf. Die Quintessenz des Art. 6 III lit. d EMRK für das Recht auf Beweis liegt vielmehr an anderer Stelle: Diese Norm zeigt deutlich auf, dass die EMRK sich der Bedeutung des Beweisrechts für ein fairen Verfahren bewusst ist und aus diesem Grund entsprechende beweisrechtliche Gewährleistungen und Mindeststandards vorsieht.122 Als eine alleinige dogmatische Basis für ein allgemeines Recht auf Beweis genügt Art. 6 III lit. d EMRK indes nicht. 119 Vgl. auch die verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen, die ebenfalls für eine derartige Auslegung sprechen, vgl. für die Auslegung dieses Artikels im englischsprachigen Rechtsraum Jacobs/White, Convention on Human Rights, S. 158 ff. 120 Vgl. zu diesem Teilaspekt des Art. 6 III lit. d EMRK, EGMR, Urteil vom 24.11.1986, 9120/80, Unterpertinger ./. AUT = EuGRZ 1987, S. 147; zum Sinn und Zweck dieses Fragerechts vgl. die Ausführungen des EGMR, Urteil vom 16.02.2000, 28901/95, Rowe u. Davis ./. GB; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 131 ff. 121 Vgl. zu diesem Recht und seinen Grenzen EGMR, Urteil vom 26.04.1991, 12398/86, Asch ./. AUT, Z. 26 ff.; eine ausführliche und kritische Betrachtung dieser Grenzen des Art. 6 III lit. d EMRK findet sich bei Demko, ZStrR 122 (2004), S. 416 ff.; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 131 ff. 122 Diesen Aspekt aufgreifend und analysierend auch Kofmel, Recht auf Beweis, S. 36 ff.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
d) Das Recht auf rechtliches Gehör Ein weiterer zu diskutierender Teilgewährleistungsgehalt des Art. 6 I EMRK ist das Recht auf rechtliches Gehör. Es handelt sich um einen zentralen Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK.123 Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet den Parteien des Zivilprozesses eine angemessene Möglichkeit zu einer Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.124 Die effektive Wahrnehmungsmöglichkeit dieser Gewährleistung verlangt zunächst gewisse Informations- und Hinweispflichten des Gerichts.125 Die Parteien haben das Recht auf Kenntnis vom Akteninhalt, insbesondere den Stellungnahmen und Beweisangeboten der gegnerischen Partei, um überhaupt eine Basis für die eigene Stellungnahme zum gegnerischen Vortrag zu erhalten.126 Im Falle einer Informationsasymmetrie zwischen den Parteien erhalten die Hinweispflichten des Gerichts besondere Bedeutung und das rechtliche Gehör ergänzt sich mit dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit.127 Besonders interessant für die Fundierung eines Rechts auf Beweis ist zudem, dass Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs auch das Recht umfassen, Beweisanträge zu stellen und Beweise anzubieten.128 Außerdem fordert das Recht auf rechtliches Gehör als eine besondere Form der Möglichkeit zur Stellungnahme, dass jede Partei in jedem Stadium des Prozesses die Möglichkeit haben muss, die Authentizität und die Verwendung von Beweismitteln, die durch Bruch eines anderen Konventionsrechts erlangt wurden, in Frage zu stellen.129 Abschließend wird das erkennende Gericht durch das rechtliche Gehör verpflichtet, die Stellungnahmen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, sie bei der Entscheidungsfindung hinreichend zu berücksichtigen und zu würdigen, sowie die Entscheidung 123 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen des EGMR, Urteil vom 18.02.1997, 18990/91, Nideröst-Huber ./. CH; ebenso Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 114 mwN; ähnlich Dörr/ Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 97 ff., die allerdings einen engeren Zusammenhang zum Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit betonen. 124 Vgl. bereits EGMR, Urteil vom 10.02.1983, 7299/75, Albert u. le Compte ./. B = EuGRZ 1983, S. 190,; ebenso Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 114 und Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 616 ff. jeweils mwN. 125 Vgl. bereits die Ausführungen des EGMR, Urteil vom 23.06.1993, 12952/87, Ruiz Mateos ./. ESP = EuGRZ 1993, S. 453; ausführlich zu den Informationspflichten Dörr/Grote/Marauhn-Gra benwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 99 ff. mwN; zum Recht auf Akteneinsicht siehe Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 616 f. 126 Vgl. wiederum EGMR, Urteil vom 23.06.1993, 12952/87, Ruiz Mateos ./. ESP = EuGRZ 1993, S. 453; ebenso Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 99 ff. mwN. 127 So der EGMR, Urteil vom 23.06.1993, 12952/87, Ruiz Mateos ./. ESP = EuGRZ 1993, S. 453, 457; zustimmend auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 72 f. 128 Vgl. EGMR, Urteil vom 10.02.1983, 7299/75, Albert u. le Compte ./. B = EuGRZ 1983, S. 190; siehe auch Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 98. 129 Vgl. EGMR, Urteil vom 12.05.2000, 35394/97, Khan ./. GB, Z. 38 ff.; siehe auch Graben warter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 69 und 73 mwN.
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entsprechend zu begründen.130 Zusammenfassend beinhaltet das Recht auf rechtliches Gehör nach der Rechtsprechung des EGMR einen ähnlichen Gewährleistungsgehalt wie Art. 103 I GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.131
3. Eigene Ansicht: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK Die vorangegangene Untersuchung hat eine Reihe möglicher dogmatischer Fundierungen eines Rechts auf Beweis in der EMRK identifiziert. Im Ergebnis hat einzig das Recht auf rechtliches Gehör als Teilgewährleistungsgehalt des Art. 6 I ERMK eine signifikante Übereinstimmung mit dem hier gedachten Recht auf Beweis iSe umfassenden Rechts auf effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess offenbart. So kann sich aus dem Recht auf Stellungnahme ohne weiteres ein Recht auf Stellung von Beweisanträgen herleiten lassen. Auch die Subsumtion eines Rechts auf Erhebung beantragter Beweismittel unter das Recht auf Berücksichtigung erscheint zumindest vertretbar.132 Indes wurde bereits herausgearbeitet, dass sich die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs in der Rechtsprechung des EGMR sehr stark an einem Gehörsrecht nach deutschem Verständnis orientiert.133 Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses erscheint jedoch eine Herleitung vorprozessualer Gewährleistungen, wie beispielsweise der Beweissicherung problematisch. Auch monetäre Aspekte eines Beweisverfahrens – etwa die Verhältnismäßigkeit der Kostentragungspflicht – lassen sich nur schwerlich unter das Recht auf rechtliches Gehör subsumieren und werden auch durch den EGMR seinerseits in anderen Teilgewährleistungsgehalten des Rechts auf ein faires Verfahren verortet.134 Daher lassen sich wesentliche Gewährleistungen des hier gedachten Rechts auf Beweis in der EMRK nicht aus dem Recht auf rechtliches Gehör in seinem derzeitigen dogmatischen Verständnis herleiten. Die dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis würde daher eine Neuorientierung des rechtlichen Gehörs von der Gewährleistung eines be130 Vgl. zu diesem Recht und seinen Grenzen im Einzelfall EGMR, Urteil vom 09.12.1994, 18064/91, Hiro Balani ./. ESP, Z. 27 ff.; ebenso Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/ GG I, Kapitel 14, Rn. 103 mwN. 131 So auch Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14, 93 ff. mit einem ausführlichen Vergleich der jeweiligen Gewährleistungsgehalte von Art. 6 EMRK und Art. 103 I GG; instruktiv zum Inhalt des Rechts auf rechtliches Gehör iSd Art. 6 I EMRK auch Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf, EMRK, Art. 6 Rn. 96 ff. jeweils mwN aus der Rechtsprechung. 132 Ausführlich zur parallelen Fragestellung des Umfanges der Berücksichtigungspflicht des Art. 103 I GG bereits unter II. 3. b. 133 Vgl. wiederum Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14, 97 ff. 134 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 09.10.1979, 6289/73, Airey ./. IRL, Rn. 20 ff.; ausführlich unten § 7 III. 4. b.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
stimmten Prozederes hin zu weitergehenden Gewährleistungen im Zivilprozess voraussetzen.135 Eine solche Veränderung der bestehenden Dogmatik des Rechts auf rechtliches Gehör iSd Art. 6 I EMRK wäre zwar denkbar, erscheint aber nach hier vertretener Ansicht kaum sinnvoll und letztlich auch nicht erforderlich: Vielmehr ermöglicht das allgemeine Recht auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK eine nicht abschließende Definition weiterer Teilgewährleistungsgehalte, so dass eine eigenständige, dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis ermöglicht wird. Dieser Befund lässt sich stützten durch die bestehende Rechtsprechung des EGMR zu beweisrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 6 I EMRK. Das Recht auf ein faires Verfahren stellt die zentrale prozessuale Gewährleistung der EMRK dar und ist an den Gedanken des due process of law aus dem anglo-amerikanischen Rechtsraum angelehnt.136 Neben den ausdrücklich normierten Konkretisierungen dieses Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 II und III EMRK, hat der EGMR zahlreiche ungeschriebene Teilgewährleistungsgehalte zur weiteren Konkretisierung desselben entwickelt.137 Der allgemeinen Gewährleistung eines fairen Verfahrens in Art. 6 I EMRK kommt insoweit die Funktion eines Auffangtatbestandes zu, welche vom EGMR regelmäßig angewendet wird, sobald eine Fallkonstellation von keiner geschriebenen oder ungeschriebenen Konkretisierung in Art. 6 I-III EMRK erfasst ist.138 Der EGMR prüft im Rahmen von Art. 6 I EMRK, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles einschließlich einer möglichen Heilung im Rechtsmittelverfahren fair war.139 Im Rahmen des beweisrechtlichen Gewährleistungsgehaltes der EMRK kommt dem Recht auf ein faires Verfahren eine besondere Bedeutung zu. In Entscheidungen mit einem beweisrechtlichen Bezug betont der EGMR zu Beginn seiner Ausführungen stets die Grenzen der eigenen Prüfungskompetenz: Die Entscheidung über die Zulässigkeit oder die Würdigung von Beweisen sei in erster Linie Sache des innerstaatlichen Rechts.140 Allerdings prüft der EGMR im Anschluss an diese Feststellung, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich des Beweisrechts, den Anforderun135 Ausführlich
zur vergleichbaren Problematik im deutschen Verfassungsrecht, unten IV. 3. b. zu diesem Einfluss auf die EMRK und der weiteren Entwicklung in den Mitgliedsstaaten, Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/ GG I, Kapitel 14 Rn. 8 ff.; ebenso Schilling, Menschenrechtsschutz, S. 219; zum Begriff des due process of law siehe auch § 3 II. 1. 137 Vgl. zu den einzelnen Teilgewährleistungsgehalten Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 66 ff. und Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 112 ff. jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 138 Vgl. etwa die Ausführungen des EGMR, Urteil vom 26.07.2002, 32911/96, Meftha and others ./. F, Z. 40 ff.; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 66 jeweils mwN. 139 Vgl. insbesondere zum Beweisrechts EGMR, Urteil vom 22.11.2001, 39799/98, Volkmer ./. GER = NJW 2002, S. 3087; siehe auch Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 112 ff. mwN. 140 Vgl. bereits EGMR, Urteil, 12.07.1988, 10862/84, Schenk ./. CH = EuGRZ 1988, S. 390, 394 f.; bestätigt in EGMR, Urteil vom 21.01.1999, 30544/96, Garcia Ruiz ./. ESP = EuGRZ 1999, S. 10; siehe auch Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 165 f. und Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 69 jeweils mwN. 136 Ausführlich
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gen der Verfahrensfairness aus Art. 6 I EMRK genüge getan hat.141 Darüber hinaus leitet der EGMR aus Art. 6 I EMRK die Verpflichtung der nationalen Gerichte ab, den Vortrag der Parteien, ihre Argumente und ihre Beweismittel sorgfältig zu prüfen, unbeschadet der Frage der Entscheidungserheblichkeit.142 Mithin führt der EGMR durch diese allgemeine Prüfung anhand von Art. 6 I EMRK letztlich eine Überprüfbarkeit des Beweisrechts „durch die Hintertür“ ein. Es zeigt sich somit, dass auch der EGMR sich der Bedeutung des Beweisrechts für das Prozessrecht insgesamt durchaus bewusst ist und dieser Bereich für den Gerichtshof keinen „EMRK-freien“ Raum darstellt, der jeder Nachprüfung trotzt, sondern vielmehr durch den EGMR im allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 I EMRK verortet wird.143 Die dogmatische Basis des Rechts auf Beweis ist auch nach hier vertretener Ansicht in Art. 6 I EMRK zu suchen. Allerdings kann es für die Herausarbeitung des Rechts auf Beweis gerade nicht bei der durch den EGMR favorisierten, allgemeinen Überprüfung der Verfahrensfairness verbleiben. Problematisch erscheint insbesondere die in der Natur dieses Ansatzes liegende Einzelfallbezogenheit, welche die Herausarbeitung einer Dogmatik der beweisrechtlichen Gewährleistungen des Art. 6 I EMRK, wie auch ihre Systematisierung insgesamt erschwert.144 Der Prüfungsmaßstab ist sehr allgemein gehalten und führt zu einer starken Abhängigkeit der Entscheidungen vom jeweiligen Einzelfall. Somit wird der Sinn einer dogmatischen Einordnung iSd Verankerung in einem bestehenden System aus Regelungen zum Zwecke Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung und der Rechtssicherheit tendenziell verfehlt. Daher ist das Recht auf Beweis nach hier vertretener Ansicht als ein eigener Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK anzusehen.145 Diese Eigenständigkeit des Rechts auf Beweis innerhalb von Art. 6 I EMRK ermöglicht es, dieses Recht zu konkretisieren und einen dogmatisch 141 Aus der aktuelleren Rechtsprechung EGMR, Urteil vom 12.06.2003, 35968/97 – van Kück ./. GER = EGMR NJW 2004, S. 2505; zu den Mindestanforderungen im Strafprozess Marauhn-Es ser, Beweisrecht, S. 39 ff.; vgl. auch Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 107. 142 So EGMR, Urteil vom 12.06.2003, 35968/97 – van Kück ./. GER = EGMR NJW 2004, S. 2505. 143 Für den Strafprozess zu diesem Befund kommend Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 319 ff. mwN. 144 Ausführlich zur allgemeinen Kritik an der Einzelfallbezogenheit der Entscheidungen des EGMR, Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 146 ff. mwN. 145 Für eine Fundierung des Rechts auf Beweis in Art. 6 I EMRK auch Brinkmann, AcP 206 (2006), S. 746, 748 f.; Heß/Müller ZZPInt 6 (2001), S. 149, 170 f. und Vorwerk, FS-Krämer, S. 551, 557 ff.; in diese Richtung tendiert auch Kofmel, Recht auf Beweis, S. 43, wenngleich ein anderer Ansatz gewählt wird und die beweisrechtlichen Garantien der einzelnen Teilgewährleistungsgehalte des Art. 6 I EMRK zu einem „Recht auf Beweis“ zusammengefasst werden; siehe auch Gaede, Fairness durch Teilhabe, S. 628 f., der das „Beweisführungsrecht“ als Bestandteil eines allgemeinen Rechts auf Teilhabe aus Art. 6 I EMRK ansieht.
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sauberen, vorhersehbaren Prüfungsmaßstab für die Überprüfung des Beweisrechts anhand der EMRK zu schaffen. Die bereits existierenden Teilgewährleistungsgehalte des Art. 6 I–III EMRK besitzen teilweise eine Schnittmenge mit diesem neu geschaffenen Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis und ergänzen einander. Indes ermöglicht es allein die Schaffung eines neuen Teilgewährleistungsgehaltes des Art. 6 I EMRK, alle Teilaspekte des Rechts auf Beweis in einem dogmatischen System zu vereinigen. Zusammengefasst stellt sich das Recht auf Beweis als eigenständiger Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 I EMRK dar.
IV. Dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in der GRC Die Schaffung eines schriftlichen und verbindlichen Grundrechtskataloges für die Europäische Union war ein lang gehegter Wunsch und zugleich eine oft erhobene Forderung im Verlaufe der europäischen Einigung.146 Der Beginn des langen Weges zu einer europäischen Grundrechtecharta begann bereits im Jahr 1969 mit der erstmaligen richterrechtlichen Anerkennung von Grundrechten innerhalb der europäischen Gemeinschaft.147 In der Folge wurde das Projekt eines geschriebenen Grundrechtskataloges insbesondere von Seiten des Europäischen Parlaments vorangetrieben, bevor der Europäische Rat 1999 mit dem „Mandat von Köln“ einen europäischen Grundrechtekonvent einsetzte, der eine entsprechende Charta ausarbeiten sollte.148 Dieser Entwurf wurde letztlich im Vertrag von Lissabon beschlossen und seit Dezember 2009 hat die Europäische Grundrechtecharta als geschriebener Grundrechtskatalog der Europäischen Union rechtsverbindliche Geltung erlangt.149 Es handelt sich um einen nach Art. 6 I EUV dem Primärrecht gleichgestellten Grundrechtskatalog, der einen Baustein in der weiteren, rechtsstaatlichen Entwicklung der Europä146 Vgl. zur Historie der Grundrechtecharta Frenz, Handbuch Europarecht Bd. 4, S. 1 ff. jeweils mwN; die wohl bekannteste Forderung nach einem solchen, europäischen Grundrechtskatalog stammt vom Bundesverfassungsgericht in der „Solange I“ – Entscheidung, vgl. BVerfGE 37, S. 271, 285. 147 Die erstmalige Anerkennung von Grundrechten innerhalb der europäischen Gemeinschaft erfolgte durch den EuGH in der Rs. C-29/69, Slg. 1969, 419, Rn. 7 – Stauder; fortgeführt in EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, 1124, Rn. 3 ff. – internationale Handelsgesellschaft und EuGH, Rs. C-4/73, Slg. 1974, I-7493, Rn. 13 ff. – Nold. 148 Die entsprechenden Entschließungen des Europäischen Rates in Köln und Tampere, sowie die Protokolle des Grundrechtskonvents finden sich abgedruckt bei Bernsdorff/Borowsky, Grundrechtecharta, S. 59 ff. 149 Vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 304 ff.; Streinz-Streinz/Michl, GRC, Vorbemerkungen, Rn. 7; siehe auch die Veröffentlichung der Charta im Amtsblatt der Union, ABl.EU 2007 Nr. C 303, S. 1.
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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ischen Union darstellen kann und soll.150 Diese europäische Grundrechtecharta beinhaltet ein Recht auf Beweis, dessen dogmatische Einordnung im Folgenden untersucht werden soll.
1. Die justiziellen Grundrechtsgewährleistungen des Art. 47 GRC Die justiziellen Gewährleistungen für den Zivilprozess finden sich in Art. 47 GRC. Diese Gewährleistungen orientieren sich stark an Art. 6 EMRK, so dass von einem „Entsprechen“ iSd Art. 52 III S. 1 GRC auszugehen ist.151 Aufgrund dieser Transferklausel des Art. 52 III S. 1 GRC werden der Schutzbereich wie auch die Schranken des Art. 47 GRC dem Art. 6 EMRK entnommen, der insoweit als Mindeststandard fungiert.152 Als dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis kommen daher – parallel zur EMRK – insbesondere das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 I GRC und das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 47 II S. 1 GRC unter Einschluss seiner Teilgewährleistungsgehalte in Betracht. a) Das Recht auf effektiven Zugang zu Gericht in Art. 47 I GRC Als erste dogmatische Grundlage des Rechts auf Beweis kommt das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf iSd Art. 47 I GRC in Betracht. Diese Gewährleistung orientiert sich an Art. 6 I und 13 EMRK und bildet in gewissem Umfang eine Synthese dieser beiden Konventionsgarantien: Art. 47 I GRC normiert ähnlich dem Art. 13 EMRK einen akzessorischen Rechtsschutz, der eine Verletzung von „durch das Recht der Union garantierten Rechten oder Freiheiten“ voraussetzt.153 Die Gewährleistungen des Art. 47 I GRC gehen jedoch insofern über Art. 13 EMRK hinaus, als nicht nur die Verletzung der Charta, sondern sämtlicher Rechte und Freiheiten der Union zu einem akzessorischen Rechtsschutz führt.154 Außerdem garantiert Art. 47 I GRC das Recht auf einen Rechtsbehelf, so dass im Gegensatz zu Art. 13 EMRK stets gerichtlicher Rechtsschutz garantiert wird und Art. 47 I GRC somit in die Nähe von Art. 6 I EMRK rückt.155 Die Gewährleistungen des Art. 47 I GRC und der Art. 6 I und 13 EMRK haben indes gemein, dass sie primär die Frage des Zugangs zu ge150 Zur Bedeutung der Charta siehe auch Grabenwarter-Cremer, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 1 Rn. 9 ff. mwN. 151 So bereits die Erläuterungen zur GRC, ABl.EU 2007 Nr. C 303, S. 34: ausführlich sogleich unter V. 1. 152 Siehe wiederum unten V. 1. 153 In die Richtung einer solchen Synthese argumentiert auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 18 ff.; ausführlich auch Stern/Sachs-Alber, GRC, Art. 47 Rn. 1 ff. jeweils mwN. 154 Vgl. auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 18 ff.; Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 16 ff. 155 Vgl. Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 11; Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 18 ff. und Schwarze-Voet van Vormizeele, GRC, Art. 47 Rn. 8 f.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
richtlichem Rechtsschutz als solchem betreffen.156 Anknüpfungspunkt für die konkrete Ausgestaltung dieses Prozesses bleibt auch hier allein die Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes. Diese Wirksamkeit meint nach Rechtsprechung und Schrifttum allerdings in erster Linie Fragen der Gerichtsorganisation und der Prüfungs- und Entscheidungskompetenz des erkennenden Gerichts.157 Es ließe sich zwar argumentieren, dass ein Rechtsschutz nur dann wirksam iSd Art. 47 I GRC sein kann, wenn den Parteien auch die Möglichkeit an die Hand gegeben werde, ihre tatsächlichen Behauptungen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beweisen zu dürfen. Indes würde man durch eine derartige „Aufladung“ des Wortes „wirksam“ den geschriebenen Gewährleistungen des Art. 47 II GRC, die sich auch auf Art. 47 I GRC beziehen, ihren Anwendungsbereich nehmen.158 Daher scheidet Art. 47 I GRC als dogmatisches Fundament für das Recht auf Beweis nach hier vertretener Auffassung aus. b) Der Grundsatz prozessualer Waffengleichheit in Art. 47 II S. 1 GRC Der Grundsatz prozessualer Waffengleichheit stellt einen Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC dar. Dieser Grundsatz ist nach dem EuGH eine „logische Folge“ des fairen Verfahrens.159 Es handelt sich hierbei um eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes.160 Die Rechtsprechung des EuGH hat sich im Rahmen der inhaltlichen Ausgestaltung eng an die bisherige Judikatur des EGMR angelehnt: Hiernach verlangt der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit, dass es jeder Partei ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzten.161 Außerdem müsse jedes Dokument, das dem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden können.162 Diese Ausführungen des EuGH zum Inhalt des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit könnten wiederum auf inhaltliche Basis für eine dogmatische Fundierung des Rechts auf 156
Vgl. Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 35 ff. Vgl. Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 19; Jarass, NJW 2011, S. 1393, 1397; ausführlich auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 42 ff. 158 Zum Verhältnis von Art. 47 I und II GRC Jarass, NJW 2011, S. 1393 f.; Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 2 ff. 159 So der EuGH, Rs. C-514/07 P, 528/07 P, 532/07, Slg. 2010, I-8533, Rn. 88 – Schweden u. a. / API und Kommission; bestätigt in EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 71 – Otis u. a. 160 Vgl. Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 34; Callies/Ruffert-Blanke, GRC, Art. 47 Rn. 15; in diese Richtung gehend auch EuGH, Rs. C-514/07 P, 528/07 P, 532/07, Slg. 2010, I-8533, Rn. 87 – Schweden u. a. / API und Kommission. 161 Vgl. EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 71 – Otis u. a.; ebenso Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 34 und Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 65. 162 So EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 71 f. – Otis u. a.; zustimmend Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 65. 157
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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Beweis hindeuten. Indes ergeben sich – parallel zur EMRK – auch für die Grundrechtecharta Bedenken gegen eine entsprechende Fundierung des Rechts auf Beweis: Die prozessuale Waffengleichheit ist auch nach dem EuGH ein Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes. Dementsprechend werden einer Partei Garantien nur unter Bezugnahme und im Verhältnis zur Gegenpartei gewährt. Dieses Gleichbehandlungsgebot beider Parteien durch die prozessuale Waffengleichheit gewährt jedoch der einzelnen Partei gerade keinen prozessualen Mindeststandard, der unabhängig von den Gewährleistungen der anderen Partei wäre. Mithin könnten – zumindest theoretisch – jegliche Nachweismöglichkeiten der Parteien im Prozess unbeachtet bleiben, solange sie nur beiden Parteien gleichermaßen verweigert würden. Daher scheidet der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit auch im Rahmen der Grundrechtecharta als dogmatisches Fundament des Rechts auf Beweis aus. c) Das Recht auf rechtliches Gehör in Art. 47 II S. 1 GRC Das Recht auf rechtliches Gehör stellt einen grundlegenden Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC dar.163 Der EuGH lehnt sich in seiner Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör wiederum eng an die Auslegung des Art. 6 I EMRK durch den EGMR an.164 Daher beinhaltet das Recht auf rechtliches Gehör auch nach Art. 47 II S. 1 GRC einen Dreiklang an Gewährleistungen165: 1. Das Recht auf Kenntnis aller Stellungnahmen und Äußerungen der gegnerischen Partei und des Gerichts. 2. Das Recht auf eine eigene Stellungnahme zu diesen Stellungnahmen und Äußerungen. 3. Abschließend das Recht auf Kenntnisnahme und Auseinandersetzung mit dieser Stellungnahme durch das Gericht, sowie eine entsprechende Begründung. Diese drei Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs werden im Einzelfall um eine ganze Reihe weiterer Gewährleistungen ergänzt: So umfasst das Recht auf Kenntnisnahme von Stellungnahmen und Äußerungen auch ein Recht auf Akteneinsicht und damit in gewissem Umfang Garantien zur Aufdeckung von Beweismitteln.166 Für die Fundierung des Rechts auf Beweis sind die speziellen beweisrechtlichen Gewähr163 Vgl. bereits EuGH, Rs. C-42/59, Slg. 1961, S. 101, 169 f. – SNUPAT; bestätigt etwa in EuGH, Rs. C-234/84, Slg. 1986, S. 2263, 2288 – Meura; ausführlich auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 63 f. mwN aus der Rechtsprechung. 164 Diesen Zusammenhang sehr deutlich aufzeigend, EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 47 ff. – Otis u. a.; vgl. auch die Erläuterungen zur GRC, ABl.EU 2007 Nr. C 303, S. 34; ebenso Meyer-Eser, GRC, Art. 47 Rn. 10 und 34. 165 Vgl. auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 63 f. und Callies/Ruffert-Blanke, GRC, Art. 47 Rn. 14 jeweils mwN. 166 Vgl. EuGH, Rs. C-17/74, Slg. 1974, 1063, 1080 f. – Transocean Marine Paint; ebenso Gra-
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
leistungen von besonderem Interesse: So umfasst das Recht der eigenen Stellungnahme insbesondere das Recht, sich zu allen vorgelegten Beweismitteln äußern zu dürfen.167 Wenn man zudem die EMRK nach Art. 52 III S. 1 GRC als Mindestanforderung heranzieht, so umfasst das rechtliche Gehör auch das Recht der Parteien, in jedem Prozessstadium Beweisanträge stellen und Beweise anbieten zu dürfen.168 d) Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens Einen weiteren Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC mit beweisrechtlichen Bezügen stellt der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens dar. Nach der Rechtsprechung umfasst diese Garantie das Recht der Parteien auf Kenntnis aller Beweismittel und bei Gericht eingereichten Erklärungen sowie eine Erörterungsmöglichkeit derselben.169 Außerdem verstößt es gegen diesen Grundsatz, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gegründet wird, von denen zumindest eine Prozesspartei keine Kenntnis hatte und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten.170 Diese inhaltliche Konturierung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens zeigt deutliche Schnittmengen sowohl mit dem Recht auf rechtliches Gehör, als auch dem Grundsatz prozessualer Waffengleichheit auf.171 Die Gewährleistung eines Kenntnis- und Stellungnahmerechts zu allen Beweismitteln im Prozess zeigt außerdem Überschneidungen mit dem Recht auf Beweis. Hinzu kommt, dass ein kontradiktorisches Verfahren seinem Telos nach auf eine möglichst umfassende Beteiligungsmöglichkeit der Parteien abzielt, die ja einen solchen, kontradiktorischen Prozess tragen sollen. Diese Punkte könnten für eine dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis im Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens sprechen.
benwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 63; Callies/RuffertBlanke, GRC, Art. 47 Rn. 14. 167 Vgl. EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn. 77 – Deutschland / Steffensen = EuZW 2003, S. 666 mit Anm. Schaller; siehe auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 63 f. mwN. 168 Diesen Gleichlauf legt insbesondere EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 47 ff. – Otis u. a. nahe; zu diesen Gewährleistungen in der EMRK vgl. EGMR, Urteil vom 10.02.1983, 7299/75, Albert u. le Compte ./. B = EuGRZ 1983, S. 190; siehe auch Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, EMRK/GG I, Kapitel 14 Rn. 98. 169 Vgl. EuGH, Rs. C-450/06, Slg. 2008, I-00581, Rn. 44 ff. – Varec; betätigt und in Art. 47 GRC fundiert durch den EuGH, Rs. C-300/11, Rn. 53 ff. – ZZ. 170 Vgl. EuGH, Rs. C-89/08, Slg. 2009, I-11245, Rn. 52 ff. – Kommission / Irland; siehe aber auch EuGH, Rs. C-300/11, Rn. 56 – ZZ, der diese Garantie demgegenüber dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuordnet. 171 In diese Richtung auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 73, der dies allgemein für den Inhalt der Verteidigungsrechte konstatiert; ähnlich Meyer-Eser, GRC, Art. 47, Rn. 21 ff.
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Gegen eine derartige Fundierung lässt sich jedoch anführen, dass die inhaltliche Konturierung dieses Grundsatzes seinerseits noch keineswegs abgeschlossen ist. So bleibt in der bisherigen Rechtsprechung unklar, ob und bejahendenfalls in welchem Umfang der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens über die Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs und der prozessualen Waffengleichheit inhaltlich hinausgehen bzw. in welchem Verhältnis diese Garantien zueinander stehen. Eine dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in einem seinerseits noch nicht vollständig inhaltlich ausgeformten Grundsatz würde dem Sinn und Zweck einer solchen Fundierung jedoch zuwiderlaufen. Außerdem legt ein kontradiktorisches Verfahren seinem Wortsinn nach stets eine Verbindung der Parteien und ihrer Rechte nahe. So decken sich die von der Rechtsprechung aufgestellten Gewährleistungen des kontradiktorischen Verfahrens nach ihren Formulierungen zumindest teilweise mit dem Grundsatz prozessualer Waffengleichheit.172 Damit bestehen erneut Bedenken in Bezug auf eine Gewährleistung bestimmter Nachweismöglichkeiten einer jeden Partei unabhängig von der Gegenpartei. Abschließend spricht gegen eine solche Fundierung, dass die Rechtsprechung diesen Grundsatz in erster Linie auf solche Prozesse zu beziehen scheint, die von Amts wegen ablaufen.173 In diesen Verfahren besteht in der Tat am ehesten die Gefahr, dass das erkennende Gericht den Prozess in weiten Teilen eigenständig und ohne umfängliche Beteiligung der Parteien führt, so dass eine explizite Garantie von Mitwirkungs- und Einflussmöglichkeiten der Parteien in solchen Prozessen angebracht erscheint.174 Demgegenüber ist der Zivilprozess in Deutschland und rechtsvergleichend auch in anderen Rechtsordnungen Europas überwiegend als Parteiprozess ausgestaltet.175 Im Ergebnis erscheint der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens somit als dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis kaum geeignet.
2. Eigene Ansicht: Das Recht auf Beweis als Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 47 II S. 1 GRC Die dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in der europäischen Grundrechtecharta zeigt deutliche Parallelen zur entsprechenden Fundierung des Rechts auf Beweis in der EMRK. Wiederum weist das Recht auf rechtliches Gehör als Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC Vgl. EuGH, Rs. C-89/08, Slg. 2009, I-11245, Rn. 52 – Kommission / Irland; für den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 47 ff. – Otis u. a. 173 Deutlich in dieser Richtung gehend EuGH, Rs. C-89/08, Slg. 2009, I-11245, Rn. 50 und 54 – Kommission / Irland; bestätigt in EuGH, Rs. C-472/11, Rn. 29 ff. – Banif Plus Bank. 174 In diese Richtung gehend EuGH, Rs. C-89/08, Slg. 2009, I-11245, Rn. 54 – Kommission / Irland. 175 Vgl. für die deutsche ZPO etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77, Rn. 1 ff.; aus rechtsvergleichender Sicht instruktiv Stürner, FS-Heldrich, S. 1061, 1065 ff. mwN. 172
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eine Schnittmenge zum hier gedachten Recht auf Beweis in der Grundrechtecharta auf. Einmal mehr erscheint eine Fundierung des Rechts auf Stellung von Beweisanträgen und eines weitergehenden Rechts auf Erhebung beantragter Beweismittel im Recht auf rechtliches Gehör durchaus vertretbar. Allerdings ergeben sich im Hinblick auf die Anlehnung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR auch diejenigen Bedenken, die gegen eine Fundierung des Rechts auf Beweis im Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 6 I EMRK sprachen: So erscheinen die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis in Bezug auf die vorprozessuale Beweissicherung oder auch die Verhältnismäßigkeit der Kostentragung eines Beweisverfahrens mit dem derzeitigen dogmatischen Verständnis des Rechts auf rechtliches Gehör iSd Art. 6 I EMRK bzw. des Art. 47 II S. 1 GRC durch EGMR bzw. EuGH kaum vereinbar.176 Diese Bedenken gelten für die Grundrechtecharta im Hinblick auf ihre rechtliche Verbindung zur EMRK in Art. 52 III S. 1 GRC in besonderem Maße: Aufgrund der „gleichen Bedeutung und Tragweite“ von Art. 47 II S. 1 GRC und Art. 6 I EMRK hat sich der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC grundsätzlich an Art. 6 I EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR zu orientieren. Ein Abweichen zugunsten eines höheren Grundrechtsstandards ist nach Art. 52 III S. 2 GRC grundsätzlich möglich mit Ausnahme von mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, innerhalb derer ein „höheres“ Schutzniveau kaum bestimmbar erscheint.177 Ein ebensolches, mehrpoliges Grundrechtsverhältnis ist im Falle der Herleitung weitergehender, beweisrechtlicher Gewährleistungen aus dem Recht auf rechtliches Gehör im Hinblick auf das kollidierende Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit indes durchaus denkbar. Daher erscheint eine Neuorientierung des Rechts auf rechtliches Gehör iSd Art. 47 II S. 1 GRC hin zu einer dogmatischen Grundlage des Rechts auf Beweis nicht nur systematisch wenig sinnvoll, sondern auch im Hinblick auf Art. 52 III S. 1 GRC problematisch. Hinzu kommt auch für die Grundrechtecharta, dass eine solche Neuauslegung des Rechts auf rechtliches Gehör im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zum allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren nicht vonnöten erscheint. So hat der EuGH seinerseits in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EGMR eine Reihe von Teilgewährleistungsgehalten aus dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 II S. 1 GRC hergeleitet – etwa das Recht auf rechtliches Gehör oder der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens.178 Auch für das Beweisrecht hat sich der EuGH der Rechtsprechung des EGMR dahingehend angeschlossen, dass das Beweisrecht zwar grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, der 176 Ausführlich
zu den diesbezüglichen Bedenken iRv Art. 6 I EMRK oben II. 3. zum Verhältnis von EMRK und Grundrechtecharta unten V. 1. 178 Vgl. bereits EuGH, Rs. C-450/06, Slg. I-518, Rn. 46 ff. – Varec, unter expliziter Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK; instruktiv zur Herleitung von einzelnen Teilgewährleistungen eines effektiven Rechtsschutzes aus Art. 47 II S. 1 GRC insbesondere EuGH, Rs. C-199/11, Rn. 47 ff. – Otis u. a. 177 Ausführlich
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Prozess jedoch unter Einschluss des Beweisrechts insgesamt „fair“ iSd Art. 47 II S. 1 GRC sein müsse.179 In diesem Rahmen hat der EuGH bereits vor Eintreten der Verbindlichkeit der Grundrechtecharta nationales Beweisrecht am Maßstab des Rechts auf ein faires Verfahren gemessen.180 Es zeigt sich auch in der Rechtsprechung des EuGH, dass der Bereich des Beweisrechts keinen grundrechtsfreien Raum bilden soll. Daher spricht viel dafür, dass auch der EuGH das allgemeine Recht auf ein faires Verfahren in Art. 47 II S. 1 GRC als Anknüpfungspunkt für beweisrechtliche Gewährleistungen ansieht.181 Das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 47 II S. 1 GRC stellt sich auch nach hier vertretener Auffassung als sachgerechte dogmatische Grundlage für das Recht auf Beweis in der europäischen Grundrechtecharta dar. Allerdings erschöpfen sich die beweisrechtlichen Gewährleistungen entgegen der Rechtsprechung des EuGH nicht in einer allgemeinen Prüfung der Verfahrensfairness insgesamt. Vielmehr stellt das Recht auf Beweis in der Grundrechtecharta gleichfalls einen eigenständigen Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC dar. Eine solche Verortung des Rechts auf Beweis erlaubt auch im Rahmen der Grundrechtecharta die Herausarbeitung eines dogmatisch sauberen und in sich konsistenten Wertesystems eines Rechts auf Beweis. Als ein solcher Teilgewährleistungsgehalt enthält das Recht auf Beweis in der europäischen Grundrechtecharta eine Vielzahl im Einzelnen zu erarbeitender, beweisrechtlicher Gewährleistungen für den Zivilprozess. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass das Recht auf Beweis in der europäischen Grundrechtecharta dogmatisch als eigenständiger Teilgewährleistungsgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 47 II S. 1 GRC anzusehen ist.
V. Das Verhältnis der untersuchten Grundrechtsordnungen zueinander Im Anschluss an diese dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta soll nun das Verhältnis der drei untersuchten Grundrechtsordnungen zueinander in den Blick genommen werden. Diese Untersuchung hat eine inhaltliche Ausarbeitung und die spätere Anwendung des Rechts auf Beweis in drei verschiedenen Grundrechtsordnungen zum Ziel. Daher ist die exakte Herausarbeitung des Verhältnisses von EMRK, europäischer Grundrechtecharta und deutschem Grundgesetz zueinander von großer Bedeutung. Allein auf diesem Wege lassen sich etwaige rechtliche Bindungen einer Grund179 In diesem Sinne etwa EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 72 ff. – Steffensen unter expliziter Benennung und Übernahme der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR. 180 Vgl. wiederum EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 72 ff. – Steffensen. 181 Ausführlich zur diesbezüglichen Sichtweise des EGMR bereits oben III. 2.
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rechtsordnung an eine andere Grundrechtsordnung beachten oder auch nur die Bindung an einzelne Gewährleistungen feststellen.
1. Das Verhältnis von GRC und EMRK Das Verhältnis zwischen der europäischen Grundrechtecharta und der EMRK ist durch eine gewisse Vorbildfunktion der EMRK geprägt. Die EMRK stellt seit ihrer Begründung im Jahr 1950 den ersten europäischen Grundrechtskatalog dar. Die Konvention stand daher bei der Schaffung zahlreicher Normen der Grundrechtecharta Modell.182 Somit hatte die EMRK bereits faktisch einen erheblichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Charta. Doch darüber hinaus existiert auch eine rechtliche Verbindung der europäischen Grundrechtsordnungen: a) Die rechtliche Bindung der GRC an die EMRK über Art. 52 III S. 1 GRC Dieses rechtliche Verhältnis zwischen EMRK und Grundrechtecharta wird durch Art. 52 III GRC geregelt. Tatbestandlich verlangt diese Norm, dass sich die in EMRK und Charta gewährleisteten Rechte „entsprechen“ müssen. Somit stellt sich die Frage, ob sich die hier in Rede stehenden, justiziellen Gewährleistungen des Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK und Art. 47 II S. 1 GRC in diesem Sinne „entsprechen“.183 Eine Beantwortung dieser Frage allein anhand der Grundrechtskataloge selbst, erscheint jedoch schwierig: Das bloße Abstellen auf einen Wortlautvergleich der Normen würde kaum mit dem Merkmal des „Entsprechens“ übereinstimmen, denn ein solches „Entsprechen“ deutet mehr auf eine inhaltliche Kongruenz als eine Identität der Wortlaute hin. Ein möglicher, inhaltlicher Vergleich anhand der jeweiligen Gewährleistungsgehalte würde indes im Hinblick auf die Rechtsfolge des Art. 52 III S. 1 GRC zu einem Zirkelschluss führen.184 Mithin bedarf es einer externen Auslegungshilfe, um das Merkmal des „Entsprechens“ bestimmen zu können. Die offiziellen Erläuterungen zur Europäischen Grundrechtecharta stellen eben diese Auslegungshilfe dar.185 Es handelt sich hierbei – in Ermangelung eines entsprechenden, formalen Konsenses – nicht um eine rechtsverbindliche Kommentierung der Charta.186 Allerdings normiert die Charta in Art. 52 182 Vgl. allein die explizite Erwähnung der EMRK in der Präambel der Grundrechtecharta, ABl. EU 2007, Nr. C 303, S. 01; siehe auch Jarass, GRC, Einleitung, Rn. 40 f. 183 Ausführlich zur Auslegung des Art. 52 III GRC und dem Verhältnis zwischen EMRK und europäischer Grundrechtecharta, Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK. 184 Hierauf weist auch Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 31 berechtigterweise hin. 185 So auch die herrschende Meinung, vgl. etwa Schwarze-Becker, GRC, Art. 52 Rn. 14 ff.; Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 31 ff.; Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 57. 186 Die Bedeutung dieser Erläuterungen und ihre Grenzen werden überzeugend von Ziegen horn, Der Einfluss der EMRK, S. 59 ff. dargelegt; zustimmend Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 31b; zurückhaltender Schwarze-Becker, GRC, Art. 52 Rn.21.
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VII GRC ausdrücklich eine „gebührende Berücksichtigung“ dieser Erläuterungen. Sie stellen somit eine wesentliche Auslegungshilfe dar, von der nur im begründeten Einzelfall abgewichen werden kann.187 Bei einem Blick auf die justiziellen Grundrechte zeigt sich, dass Art. 47 GRC dem Art. 6 I EMRK nachempfunden wurde und diesem „entsprechen“ soll.188 Als Rechtsfolge normiert Art. 52 III S. 1 GRC, dass die Rechte der Grundrechtecharta die gleiche „Tragweite und Bedeutung“ haben sollen, wie die „entsprechenden“ Rechte in der EMRK. Die entscheidende Frage ist, welche Art von rechtlichem Zusammenhang diese Norm zwischen EMRK und Grundrechtecharta herstellen soll: Teilweise wird Art. 52 III S. 1 GRC als bloße Auslegungsregel angesehen.189 Als Argument lässt sich anführen, dass auf diese Weise die Eigenständigkeit des Europarechts beibehalten und eine eigene Weiterentwicklung der Charta durch den EuGH ermöglicht wird.190 Demgegenüber sprechen Entstehungsgeschichte und Telos der Norm für das herrschende Verständnis von Art. 52 III S. 1 GRC als Transferklausel.191 Hiernach wird der gesamte Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts der Charta durch Art. 52 III S. 1 GRC aus der EMRK entnommen. Der Umfang des Gewährleistungsgehaltes, wie auch die Rechtfertigungsmöglichkeiten von Einschränkungen richtet sich nach den entsprechenden Inhalten der EMRK.192 Eine solche Auslegung des Art. 52 III S. 1 GRC als Transferklausel kann sich zunächst einmal auf den Wortlaut der verschiedenen Sprachfassungen stützen: Die Sprachfassungen betonen, dass Tragweite und Bedeutung „gleich“ (même, the same) sein sollen, was für eine höhere Verbindlichkeit als die Annahme einer bloßen Auslegungsregel spricht.193 Gestützt wird diese Auffassung weiter durch die Entstehungsgeschichte der Norm: In den nach Art. 52 VII GRC einzubeziehenden Erläuterungen wird ein solches Verständnis des Art. 52 III S. 1 GRC nahe gelegt und in der Literatur des Öfteren betont, dass ein Konsens über die Charta als solche, auch von der Einfügung einer solchen Klausel abhing.194 Als wichtigstes Argument lässt sich indes der Telos der Norm anführen. 187 So auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 59 ff. und Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 31 b. 188 Vgl. die Erläuterungen zur GRC, ABl.EU 2007, Nr. C 303, S. 30; so auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 3 ff.; Meyer-Borowsky, GRC, Art. 47 Rn. 10 ff.; Schwarze-Voet van Vormizeele, GRC, Art. 47 Rn. 1 ff. 189 In diese Richtung tendierend Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 59 ff. jeweils mwN. 190 Vgl. zu dieser Argumentationslinie Jarass, GRC, Art. 52 Rn. 62 ff. 191 So auch die Untersuchung von Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 121 ff.; ebenso Stern/Sachs-Krämer, GRC, Art. 52 Rn. 68 ff.; Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 2 ff.; Schwarze-Becker, GRC, Art. 52 Rn.14 ff.; weitergehend Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 30 ff., der von einer Identitätsklausel ausgeht. 192 Vgl. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 29 ff. und S. 145 ff.; ebenso Stern/Sachs-Krä mer, GRC, Art. 52 Rn. 70 ff.; Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 2 ff. 193 So Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 126 ff. und S. 145 ff. 194 Vgl. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 69 f.
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Art. 52 III S. 1 GRC soll eine Kohärenz zwischen den beiden europäischen Grundrechtsordnungen ermöglichen und Rechtsprechungsdifferenzen nach Möglichkeit verhindern.195 Bei einem Verständnis von Art. 52 III S. 1 GRC als bloße Auslegungsregel würde die Schaffung eines einheitlichen, kohärenten Grundrechtsraumes in Europa indes deutlich erschwert: In Ermangelung einer verbindlichen Regelung des Verhältnisses der beiden Grundrechtsordnungen zueinander, ließe sich kaum absehen, in welchen Einzelfällen die beiden obersten Gerichtshöfe divergieren würden.196 Daher erscheint es überzeugend, Art. 52 III S. 1 GRC als Transferklausel zu verstehen.197 Teilweise wird Art. 52 III S. 1 GRC weitergehend als eine Identitätsklausel angesehen.198 Nach diesem Verständnis haben diejenigen Normen der Charta, die in den Anwendungsbereich des Art. 52 III S. 1 GRC fallen, keinerlei eigenständigen Gewährleistungsgehalt. Es wird mithin keine „Angleichung“ zwischen den verschiedenen Gewährleistungsgehalten vorgenommen, die Charta dient vielmehr allenfalls als ein Verweis auf die EMRK und die einzelnen geschriebenen Grundrechte als eine Art „Auflistung“, auf welche Grundrechte im Einzelnen verwiesen wird.199 Für diese Sichtweise lässt sich anführen, dass man den Telos einer Kohärenz der europäischen Grundrechtsordnungen auf diese Weise vollumfänglich sicherstellen kann.200 Gegen die Annahme von Art. 52 III S. 1 GRC als Identitätsklausel spricht jedoch, dass eine solche Auslegung der europäischen Grundrechtecharta in weiten Teilen jeglichen Anwendungsbereich nehmen würde. Die erste verbindliche, schriftliche Grundrechtskodifikation der Europäischen Union wäre demnach eine bloße Hülle, die dem Verweis auf eine andere, bereits bestehende Grundrechtsordnung dient. Eine solche Auslegung erscheint im Hinblick auf die der Grundrechtecharta in ihrer Entstehung beigemessenen Bedeutung eher fernliegend, zumal die Europäische Union nach Art. 6 II EUV ohnehin den vollumfänglichen Beitritt zur EMRK zum Ziel hat.201 Außerdem würde eine derartige Auslegung in systematischer Hinsicht dazu führen, dass genuine Normen der Charta unmittelbar neben bloßen „Verweisungsnormen“ stehen würden, ohne dass für die Grundrechtsberechtigten ein
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Vgl. etwa Schwarze-Becker, GRC, Art. 52 Rn. 14 ff.; Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 7 ff.; Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 8 ff.; ausführlich wiederum Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 136 ff. 196 In diese Richtung auch Meyer-Borowsky, Art. 52 Rn. 37. 197 Vgl. wiederum Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 121 ff.; Stern/Sachs-Krämer, GRC, Art. 52, Rn. 68 ff.; Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 2 ff.; Schwarze-Becker, GRC, Art. 52 Rn.14 ff. 198 So insbesondere Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 30 ff. mwN. 199 Vgl. Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 30 ff. 200 Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 30. 201 So auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 148 f.
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Unterschied sichtbar wäre.202 Mithin ist das Verständnis von Art. 52 III S. 1 GRC als Identitätsklausel als zu weitreichend abzulehnen. Vielmehr stellt sich Art. 52 III S. 1 GRC auch nach hier vertretener Auffassung als eine Transferklausel dar. Somit entspricht Art. 47 II S. 1 GRC in seinem Gewährleistungsgehalt dem Art. 6 I EMRK. Dabei sind die Gewährleistungen des Art. 6 I EMRK in ihrer Auslegung durch den EGMR dem Art. 47 II S. 1 GRC zugrunde zu legen.203 b) Die Bedeutung des Art. 52 III S. 2 GRC Eine weitere, relevante Norm für das Verhältnis von EMRK und Grundrechtecharta stellt Art. 52 III S. 2 GRC dar. Hiernach steht „dieser Bestimmung nicht entgegen, dass das Unionsrecht weiter gehenden Schutz gewährt“. Die Einordnung dieser Bestimmung hängt eng mit dem jeweiligen Verständnis des Art. 52 III S. 1 GRC zusammen: Die Vertreter einer Identitätsklausel gestehen dem Satz 2 nur eine rein deklaratorische Bedeutung zu. Diese Auslegung erscheint insoweit konsequent, als diejenigen Normen, die Satz 1 unterfallen, nach dieser Auffassung ohnehin keinen eigenen Gewährleistungsgehalt besitzen und damit auch nicht über die Gewährleistungen der EMRK hinausgehen können.204 Indes spricht es nach hier vertretener Auffassung nur sehr bedingt für eine bestimmte Auslegungsmöglichkeit, wenn einer Norm als Ergebnis dieser Auslegung keinerlei rechtliche Bedeutung mehr zukommt. Seinem Wortlaut nach bezieht sich der Satz 2 deutlich auf den ersten Satz des Art. 52 III GRC. Es handelt sich um eine Ausnahme des in Art. 52 III S. 1 GRC normierten, strengen rechtlichen Gleichlaufes zwischen EMRK und Grundrechtecharta zugunsten der Ermöglichung eines höheren Schutzniveaus im Einzelfall.205 Diese Auslegung deckt sich mit dem Wortlaut des Art. 52 III S. 2 GRC und gibt der Norm einen eigenständigen Anwendungsbereich. Die beiden europäischen Grundrechtsordnungen ergänzen einander hiernach zugunsten des höchstmöglichen Schutzniveaus für die Begünstigten.206 Diese Auslegung des Art. 52 III S. 2 GRC wird zudem gestützt durch die MeistbegünstigungsIn diesem Sinne auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 147 f. Einziger Unterschied der Normen ist die Tragweite des Art. 47 GRC: Art. 6 I EMRK erfasst grundsätzlich nicht den Verwaltungsprozess, obgleich die Rechtsprechung des EGMR auch hier eine weite Auslegung praktiziert, vgl. Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 56 ff.; zum Verhältnis von Art. 47 GRC und Art. 6 I EMRK siehe auch Grabenwarter-Pabel, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 19 Rn. 11 ff. 204 So insbesondere Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 39 ff. 205 Inhaltlich ähnlich, aber nicht von einer „Ausnahme“ sprechend, Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 171 f. 206 Für eine derartige Auslegung des Art. 52 III S. 2 GRC als eine Form der Meistbegünstigungsklausel auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 181 f. 202 203
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klausel des Art. 53 EMRK.207 Die EMRK bringt mit ihrer eigenen Meistbegünstigungsklausel zum Ausdruck, dass die Grundrechtsbegünstigten stets das höchstmögliche Schutzniveau erhalten sollen.208 Die europäischen Institutionen können somit in ihren Exekutiv- und Legislativakten ein höheres Schutzniveau vorsehen, als der Mindeststandard nach der EMRK. Weiterhin kann auch der EuGH die Grundrechtecharta mit seiner Auslegung weiterentwickeln und zugunsten eines höheren Schutzniveaus von der Rechtsprechung des EGMR abweichen.209 Mithin ermöglicht Art. 52 III S. 2 GRC nach hier vertretener Ansicht eine Abweichung der europäischen Grundrechtecharta von der EMRK zugunsten eines höheren Schutzniveaus, so dass Art. 52 III S. 2 GRC im Ergebnis eine eigenständige Weiterentwicklung der Charta insbesondere durch den EuGH ermöglicht. In der Praxis zeichnet sich indes ab, dass der EuGH sich in seiner Rechtsprechung bislang sehr eng an die Entscheidungen des EGMR anlehnt und dessen „Führungsrolle“ bei der europäischen Grundrechtsentwicklung – vorerst – anerkennt.210 c) Art. 52 III S. 2 GRC und mehrpolige Grundrechtsverhältnisse Diese Auslegung des Art. 52 III S. 2 GRC stößt auf eine besondere Problematik, wenn auf beiden Seiten konkurrierende Grundrechtsberechtigte stehen, mit dem Staat als Entscheidungsorgan im Konflikt dieser Privaten. Es handelt sich hierbei um sog. „mehrpolige Grundrechtsverhältnisse“. So etwa bei der persönlichkeitsrechtlichen Klagen eines Prominenten gegen die Veröffentlichung von Aufnahmen in seiner Freizeit und damit einem Widerstreit zwischen seinem Recht auf Privatheit und der Pressefreiheit auf der anderen Seite.211 In solchen Konstellationen versagt das Konzept einer Grundrechtskonkurrenz von EMRK und Grundrechtecharta zugunsten eines höheren Schutzniveaus erkennbar, da das Grundrechtsniveau allein zwischen zwei Grundrechtsberechtigten untereinander verändert wird. Das „Mehr“ an Freiheit für den einen Grundrechtsberechtigten stellt sich zugleich als ein „Weniger“ an Freiheit für den anderen Berechtigten dar.212 Insoweit wird die Frage nach 207
In diese Richtung auch Vedder/Heintschel von Heinegg-Folz, GRC, Art. 52 Rn. 9. Zu Telos und Auslegung des Art. 53 EMRK vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, S. 13 ff. 209 Für eine Abweichungsbefugnis des EuGH nach Art. 52 III S. 2 GRC auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 187 ff.; ähnlich Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 11; zurückhaltender Meyer-Borowsky, GRC, Art. 52 Rn. 39. 210 Sehr deutlich in diese Richtung EuGH, Rs. C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Rn. 35 ff. – DEB; gleichfalls auf die EMRK bezugnehmend etwa EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-08965, Rn. 53 – J. McB./ L. E.; zweifelnd gegenüber eine solchen Kooperation von EuGH und EGMR Weiß, EuZW 2013, S. 287, 291. 211 Vgl. etwa die bekannte Entscheidung, EGMR, Urt. v. 24.06.2004, 59320/00, Caroline von Hannover ./. D = EuGRZ 2004, S. 404. 212 Eine ausführliche Darstellung dieser Konstellationen liefert Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 252 f.; mit dieser Fragestellung setzt sich auch Kingreen, JZ 2013, S. 801, 807 f. auseinander. 208
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dem Verhältnis von EMRK und Grundrechtecharta mit Blick auf einen kohärenten europäischen Grundrechtsschutzes erneut virulent. Im Hinblick auf den Grundsatz des Art. 52 III S. 1 GRC erscheint es nach hier vertretener Auffassung naheliegend, die Ausnahmevorschrift des Art. 52 III S. 2 GRC nicht anzuwenden und zum Grundsatz einer Orientierung an der EMRK zurückzukehren. Diese Nichtanwendbarkeit lässt sich anhand des Merkmales eines von Art. 52 III S. 2 GRC geforderten, „höheren Schutzniveaus“ festmachen.213 Hiernach kann dieses Tatbestandsmerkmal nur dann bejaht werden, wenn das Schutzniveau einer Partei eine Steigerung erfährt und zugleich das Schutzniveau bei keiner anderen beteiligten Partei absinkt. Allerdings erscheint eine solche Konstellation im Falle mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse per se kaum vorstellbar.214 Dieses Problem eines fehlenden Maßstabes für die Quantifizierung eines „höhere Schutzniveaus“ spricht auch nach hier vertretener Ansicht gegen eine Anwendung des Art. 52 III S. 2 GRC auf Konstellationen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse. Im Ergebnis erscheint es nach der gesetzlichen Konzeption naheliegend und richtig, zum Grundsatz eines Transfers aus der EMRK nach Art. 52 III S. 1 GRC zurückzukehren und damit zu einem Vorrang der Auslegung derartiger Konstellationen durch den EGMR.215
2. Das Verhältnis von GRC und GG Für die Bestimmung des Verhältnisses von europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz gilt es zwei Fragestellungen zu unterscheiden. Zum ersten ist der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta insbesondere im Hinblick auf die kompetenziellen Grenzen des europäischen Primärrechts zu bestimmen. Zum zweiten ist darauf aufbauend die konkrete Rangordnung zwischen der europäischen Grundrechtecharta als Teil des europäischen Primärrechts und dem deutschen Grundgesetz als nationalem Recht herauszuarbeiten. a) Der Anwendungsbereich der GRC in Bezug auf das nationale Zivilprozessrecht Der Anwendungsbereich der europäischen Grundrechtecharta hat in Art. 51 GRC eine explizite Normierung erfahren. Art. 51 I S. 1 GRC schreibt eine Geltung der Charta „ausschließlich bei der Durchführung von Unionsrecht“ vor. Diese Formulierung der „Durchführung von Unionsrecht“ ist an die Rechtsprechung des EuGH angelehnt: Der Gerichtshof hatte bereits vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta in 213 In diesem Sinne auch die Überlegungen von Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 252 ff. mwN. 214 Dementsprechend führt dies faktisch zu einer Nichtanwendung der Norm, wie auch Ziegen horn, Der Einfluss der EMRK, S. 256 zugibt. 215 So im Ergebnis auch Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK, S. 254 ff. mwN; anders demgegenüber Streinz-Streinz/Michl, GRC, Art. 52 Rn. 11, die von einer Anwendbarkeit des Art. 52 III S. 2 GRC ausgehen und lediglich eine Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR fordern.
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bestimmten Fällen eine Bindung der Mitgliedsstaaten an richterrechtlich geschaffenen Unionsgrundrechte bejaht: Eine solche Bindung war anzunehmen, soweit der Mitgliedsstaat Verordnungen oder Richtlinien umsetzte und auslegte. In diesen Fällen handelte der Mitgliedsstaat für und anstelle der Union und musste daher auch ihre Grundrechtsbindungen beachten (sog. agency situation).216 Darüber hinaus hat der EuGH in seiner Rechtsprechung eine weitere Fallgruppe der Bindung von Mitgliedsstaaten an die Unionsgrundrechte entwickelt: Hiernach sind die Mitgliedsstaaten im Bereich der Grundfreiheiten an die Unionsgrundrechte gebunden, die sich insoweit als eine Art Schranken-Schranke darstellen.217 Teilweise wird eine Anwendung der Charta nach Art. 51 I S. 1 GRC auf diese Fallgruppe abgelehnt. Es wird mit dem Wortlaut des Art. 51 I S. 1 GRC dahingehend argumentiert, dass die „Durchführung von Unionsrecht“ normiert wurde – im Gegensatz zu der weiter gefassten Formulierung der „Anwendung von Unionsrecht“, welche in der Rechtsprechung des EuGH gebräuchlich war.218 Dagegen lässt sich jedoch anführen, dass die nach Art. 52 VII GRC zu berücksichtigenden Erläuterungen der Grundrechtecharta die ERT-Rechtsprechung erwähnen und selbst vom „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ sprechen. Zudem erscheint es kaum denkbar, dass die Schaffung des ersten schriftlichen und rechtsverbindlichen Grundrechtekataloges der Europäischen Union zugleich mit einer Verengung ihres Anwendungsbereiches hinter den bereits richterrechtlich entwickelten Standard einhergehen soll.219 In neuerer Zeit scheint der EuGH von einer noch weitergehenden Auslegung des Art. 51 I S. 1 GRC auszugehen: Nach dieser Rechtsprechung wäre der Anwendungsbereich der Charta bereits eröffnet, wenn eine allgemeine sachbezogene Handlungspflicht aus dem primären oder sekundären Unionsrecht vorliegt und das in Rede stehende, nationale Recht in objektiver Hinsicht einen Beitrag zu dessen Erfüllung leistet.220 Diese Auslegung würde damit nicht mehr an eine Ausführung bestimmter Rechtsakte der Union in deren Kompetenzbereich anknüpfen, sondern sehr allgemeine PflichVgl. die Leitentscheidung, EuGH, Rs. C-5/88, Rn.19, Slg. 1989, S. 2609 – Wachauf; zum Begriff siehe Grabenwarter-Schorkopf, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 3 Rn. 19 mwN. 217 Die Leitentscheidung sind EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 – ERT und EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, S. I-5659 – Schmidberger; ausführlich zu dieser Rechtsprechung Grabenwarter-Schorkopf, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 3 Rn. 21 ff. und Haratsch/Koe nig/Pechstein, Europarecht, S. 309 ff. 218 Zu dieser Argumentation Haratsch/Koenig/Pechtstein, Europarecht, S. 310; kritisch gegenüber dieser weiten Anwendung Grabenwarter-Schorkopf, Europäischer Grundrechtsschutz (Enz EuR Bd. 2), § 3 Rn. 26 f. 219 So auch Haratsch/Koenig/Pechtstein, Europarecht, S. 310 f.; in diese Richtung scheint auch der EuGH selbst zu tendieren, vgl. EuGH, Rs. C-617/10, Rn. 19 ff. – Akerberg Fransson = EuGH NJW 2013, S. 1415. 220 So der EuGH in der Rs. C-617/10 – Akerberg Fransson = EuGH NJW 2013, S. 1415; zu diesem Urteil Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 310 f. mwN und Grabenwarter-Schor kopf, Europäischer Grundrechtsschutz (EnzEuR Bd. 2), § 3 Rn. 26 f. 216
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ten und Ziele der Union genügen lassen. Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta würde auf diesem Wege eine enorme Ausweitung erfahren.221 Indes hat das Bundesverfassungsgericht bereits Stellung zu dieser Entscheidung des EuGH bezogen: Hiernach sei eine Auslegung des Art. 51 I S. 1 GRC, die jeden „Anwendungsbereich des Unionsrechts“ genügen lasse und damit zu einer derartigen Ausweitung des bisherigen Anwendungsbereiches der Unionsgrundrechte führe, als ein ultra-vires-Akt und somit als Verstoß gegen nationales Verfassungsrecht anzusehen.222 Das Bundesverfassungsgericht hat einer richterrechtlichen Ausweitung der Grundrechtecharta mithin eine Absage erteilt.223 In welche Richtung und mit welchen Kompromissen dieser Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH letztlich aufgelöst wird, lässt sich anhand der derzeitigen Rechtsprechung kaum absehen. Ein Zeichen für einen Kompromiss von Seiten des EuGH könnte darin zu sehen sein, dass der Gerichtshof die nationalen Grundrechte neben denjenigen der Charta parallel für anwendbar erklärt hat.224 Die weitere Entwicklung dieses Konfliktes lässt sich nach derzeitigem Erkenntnisstand jedoch noch nicht absehen. Allerdings ist mit Blick auf die klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Fragestellung im Rahmen der nachfolgenden Untersuchung davon auszugehen, dass für die Anwendbarkeit der europäischen Grundrechtecharta nach derzeitigem Stand jedenfalls nicht jegliche, allgemeine Pflicht des Unionsrechts ausreichen kann. Mithin kommt der europäischen Grundrechtecharta für das deutsche Zivilprozessrecht – zumindest nach der geltenden Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten – nur ein begrenzter Wirkungsbereich zu. b) Der Vorrang des Europarechts vor dem nationalen (Verfassungs-)Recht Die eigentliche Frage nach dem Verhältnis der Europäischen Grundrechtecharta zum deutschen Grundgesetz lässt sich auf der Grundlage dieses skizzierten Anwendungsbereiches der Grundrechtecharta sodann nach allgemeinen Grundsätzen beantworten: Der EuGH vertritt in ständiger Rechtsprechung einen Vorrang des Europarechts, der durch das Bundesverfassungsgericht unter gewissen Voraussetzungen akzeptiert wird.225 Hiernach haben europäische Normen einen Anwendungsvorrang 221 Zu den Konsequenzen dieser Entscheidung vgl. auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 311 f. 222 So BVerfG NJW 2013, S. 1499, 1501. 223 So auch Meyer-Borowsky, GRC, Art. 51 Rn. 30b f. und Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 312 f. unter expliziter Bezugnahme dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichtes. 224 So EuGH, Rs. C-617/10, Rn. 29 – Akerberg Fransson = EuGH NJW 2013, S. 1415; einschränkend wiederum in der Entscheidung, EuGH, Rs. 399/11, Rn. 55 ff. – Melloni, wonach bei Konflikten zwischen den Grundrechtsordnungen der Mitgliedsstaaten und der GRC wiederum der Vorrang des Europarechts gilt. 225 Vgl. die Entscheidungen des EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1269 ff. – Costa/ENEL und
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vor nationalen Rechtsnormen einschließlich des Verfassungsrechts.226 Mithin lässt sich als Grundsatz der Vorrang der europäischen Grundrechtecharta vor dem deutschen Grundgesetz festhalten. Diesen Vorrang kann die Grundrechtecharta allerdings ausschließlich in ihrem soeben dargestellten Anwendungsbereich der „Durchführung von Unionsrecht“ iSd Art. 51 I GRC für sich in Anspruch nehmen.
3. Das Verhältnis von EMRK und GG Das Verhältnis zwischen EMRK und Grundgesetz ist durch eine gewisse Divergenz zwischen der theoretischen, gesetzlichen Konzeption des Grundgesetzes und ihrer praktischen Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur geprägt. Für das Verständnis dieses Verhältnisses von EMRK und Grundgesetz kommt es daher in besonderem Maße auf eine eingehende Analyse der gesetzlichen Regelungen in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur an, um den tatsächlichen Einfluss der EMRK auf das Grundgesetz darstellen zu können. a) Die EMRK als einfaches Bundesrecht Bei der EMRK handelt es sich grundsätzlich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der nach Art. 59 II GG einer Umsetzung in das nationale Recht mittels eines Parlamentsgesetzes bedarf und sodann den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat. Dieser Grundsatz ist durch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont worden.227 Vereinzelte Versuche im Schrifttum, einen verfassungsrechtlichen oder gar noch weitergehenden Rang der EMRK zu begründen, wurden in der Rechtsprechung nicht anerkannt und haben auch in der Literatur mangels dogmatischer und inhaltlicher Konsistenz keine überwiegende Gefolgschaft gefunden.228 Hiernach wäre die EMRK als einfaches Bundesrecht normhierarchisch unterhalb des Grundgesetzes einzuordnen und würde keinerlei Einfluss auf das höherrangige Grundgesetz ausüben. Allein die grundsätzliche Verpflichtung zur Berücksichtigung der EMRK bei der Auslegung einfachen Rechts durch Exekutive und EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, S. 1135 ff. – internationale Handelsgesellschaft und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 73, S. 339, 374 f. – Solange II und BVerfGE 123, S. 267, 396 ff. – Lissabon; ausführlich zu diesem Verhältnis auch Haratsch/Koenig/Pechtstein, Europarecht, S. 86 ff. 226 So EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, S. 1135 ff. – internationale Handelsgesellschaft. 227 Vgl. etwa BVerfG NJW 1987, S. 2427; BVerfG NJW 1990, S. 2741; BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408 und BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935 f.; aus der Literatur ausführlich Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 ff.; Papier, EuGRZ 2006, S. 1 ff. und Ruffert, EuGRZ 2007, S. 245 ff.; siehe auch Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 12 ff.; Dörr/Grote/Marauhn-Giegerich, EMRK/GG I, Kapitel 14, Rn. 45 ff. jeweils mwN. 228 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen zu den jeweiligen Ansätzen Ruffert, EuGRZ 2007, S. 245, 246 ff.; Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 18 ff. und Dörr/Grote/ Marauhn-Giegerich, EMRK/GG I, Kapitel 14, Rn. 51 ff.
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Judikative würde sich aus der allgemeinen Bindung an Recht und Gesetz in Art. 20 III GG ergeben. b) Das Gebot EMRK-konformer Auslegung des nationalen (Verfassungs-)Rechts Indes hat das Bundesverfassungsgericht bereits in frühen Entscheidungen den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes entwickelt und diesen Grundsatz in der Folge auch für die EMRK hervorgehoben.229 Das Verfassungsgericht hat die EMRK in Anwendung dieses Grundsatzes als „Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes“ angesehen.230 Zudem soll die EMRK ausdrücklich in ihrem jeweils aktuellen Entwicklungsstand berücksichtigt werden, wie er sich aus der Rechtsprechung des EGMR und den Protokollen der Konvention ergibt.231 Das Bundesverfassungsgericht hat die Verpflichtung zur Berücksichtigung der EMRK auf alle drei Staatsgewalten bezogen: So wurde die EMRK bereits in frühen Entscheidungen zur Auslegung des Prozessrechts der StPO herangezogen.232 In diesem Zusammenhang hat das Verfassungsgericht auch für die EMRK die Unanwendbarkeit des allgemeinen Grundsatzes ausgesprochen, dass ein späteres Gesetz dem früheren Gesetz vorgeht (lex posterior delegat legi priori). Vielmehr bestehe eine grundsätzliche Vermutung dahingehend, dass der Gesetzgeber mit seinen Regelungen nicht gegen völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verstoßen wollte, wenn ein anderweitiger Wille nicht ausdrücklich artikuliert wird.233 Besondere Bedeutung hat die Pflicht zur Berücksichtigung der EMRK auch für die Gerichtsbarkeit: Eine grundsätzliche Berücksichtigungspflicht folgt insoweit bereits aus Art. 20 III GG mit Blick auf den Status der EMRK als Bundesgesetz nach Art. 59 II GG. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in diesem Zusammenhang jedoch weitergehend eine erkennbare Auseinandersetzung mit der EMRK in ihrer konkreten Auslegung durch den EGMR und gegebenenfalls eine nachvollziehbare Begründung, weshalb das erkennende Gericht der völkerrechtlichen Rechtsauffassung im 229 Diesen Grundsatz entwickelnd bereits BVerfGE 6, S. 309, 362 f.; seitdem st. Rspr, siehe etwa BVerfG NJW 1964, S. 1783, 1784; BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408; sehr instruktiv in jüngster Zeit BVerfG NJW 2016, S. 1295, 1298 ff. jeweils mwN; ausführlich diese Entwicklung skizziert Rehleder, Grundrechtsschutz, S. 149 ff. siehe auch Papier, EuGRZ 2006, S. 1 ff. 230 In diesem Sinne bereits BVerfG NJW 1987, S. 2427; ausführlich BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408; ebenso auch BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935. 231 Ausführlich wiederum BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408 und BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935. 232 Zur diesbezüglichen Herleitung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung aus Art. 6 II EMRK siehe bereits BVerfG NJW 1987, S. 2427 f. und BVerfG NJW 1990, S. 2741 f. 233 In diesem Sinne bereits BVerfG NJW 1987, S. 2427; ebenso auch BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3411 ausführlich und auf die Zulässigkeit von explizit gewollten Abweichungen durch den Gesetzgeber nach dem GG hinweisend BVerfG NJW 2016, S. 1295, 1298 ff.
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konkreten Fall nicht folgt.234 Von mehreren möglichen Auslegungen ist grundsätzlich diejenige Auslegung zu wählen, die einen Verstoß gegen die EMRK vermeidet (Grundsatz der konventionsfreundlichen Auslegung).235 Der Sinn und Zweck dieser Berücksichtigungspflicht ist letztlich in der Verhinderung von Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zu sehen, so dass sich das Verfassungsgericht „mittelbar in den Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts stellt“.236 Zugleich hebt das Bundesverfassungsgericht auch die besondere Bedeutung der EMRK für die gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung ergänzend hervor.237 Die Grenzen der konventionsfreundlichen Auslegung sind dort zu ziehen, wo eine solche Auslegung „nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint“.238 Zudem betont das Verfassungsgericht das Erfordernis einer Einpassung der Vorgaben der EMRK in das bestehende, historisch gewachsene dogmatische System des jeweiligen Teilbereiches der nationalen Rechtsordnung durch die nationalen Gerichte.239 Die allgemeine Grenze einer solchen Berücksichtigung der EMRK wird durch das Verfassungsgericht jedoch darin gesehen, dass dem Grundgesetz das letzte Wort zukommen muss – als grundlegender Gedanke staatlicher Souveränität.240 Daher ist die EMRK ausnahmsweise dann nicht zu beachten, wenn ihre Anwendung zu einem Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung verstoßen würde – insbesondere darf eine Anwendung der EMRK nicht zur Verletzung von Grundrechten führen, was die Konvention jedoch ihrerseits in Art. 53 EMRK ausschließt.241 Etwaige Grundrechtsverletzungen des Grundgesetzes sind nach dem Bundesverfassungsgericht insbesondere in sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen denkbar, innerhalb derer ein „Mehr“ an Freiheit für den einen Grundrechtsberechtigten zugleich ein „Weniger“ an Freiheit für einen anderen Grundrechtsberechtigten bedeuten kann.242 234 Ausführlich zu dieser Berücksichtigungspflicht BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408 ff.; zusammenfassend auch BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1936. 235 In diesem Sinne die Schlussfolgerung durch BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3411. 236 So wörtlich BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3411; auf den Sinn und Zweck einer Vermeidung von Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen abstellend auch BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935 f. 237 Diesen Aspekt gleichfalls hervorhebend BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3411. 238 In diesem Sinne BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3410 ff. und BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935 f. 239 Vgl. einmal mehr BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3411. 240 Vgl. wiederum BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408 f. und BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1935 f.; instruktiv zu den Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit in jüngster Zeit auch BVerfG NJW 2016, S. 1295, 1298 ff. 241 In diesem Sinne BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3410; ähnlich BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1936; den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit tendenziell enger auslegend, BVerfG NJW 2016, S. 1295, 1298 ff. 242 Auf die Konstellationen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse verweisend insbesondere BVerfG NJW 2004, S. 3407, 3408 f.; ähnlich auch BVerfG NJW 2011, S. 1931, 1936.
§ 5 Dogmatische Einordnung des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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In der Literatur wird diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich mit Zustimmung bedacht.243 Kritik wurde am Vorbehalt des Grundgesetzes als Grenze der völkerrechtsfreundlichen Auslegung und am Maßstab der „bloßen“ Berücksichtigungspflicht des Verfassungsgerichts geübt.244 Indes wird auch in der Literatur hervorgehoben, dass die EMRK durch die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Bundesverfassungsgerichts einen weit über die eigentliche Konzeption des Art. 59 II GG hinausgehenden Einfluss auf das Grundgesetz ausübt.245 Insbesondere im Bereich der prozessualen Grundrechte hat die Generalklausel des fairen Verfahrens in Art. 6 I EMRK eine umfangreiche Rechtsprechung des EGMR hervorgebracht, die durch das Verfassungsgericht genutzt wurde, um die eher fragmentarischen, prozessualen Gewährleistungen des Grundgesetzes zu erweitern.246 Zusammenfassend lässt sich aufgrund der völkerrechtsfreundlichen, konventionskonformen Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht ein nach hier vertretener Ansicht nicht zu unterschätzender Einfluss der EMRK auf das in der Normhierarchie nominell höherstehende Grundgesetz konstatieren – insbesondere für die prozessualen Grundrechte.
VI. Zusammenfassung Seine dogmatische Grundlage findet das Recht auf Beweis im Grundgesetz in dem Recht auf effektiven Rechtsschutz und damit letztlich im Justizgewährungsanspruch aus den Grundrechten iVm dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG). Für die europäischen Grundrechtsordnungen lässt sich festhalten, dass das Recht auf Beweis ein eigener Teilgewährleistungsgehalt des allgemeinen Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC darstellt. 243 Grundsätzlich zustimmend etwa Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 15 ff.; Dörr/Grote/Marauhn-Giegerich, EMRK/GG I, Kapitel 14, Rn. 45 ff.; Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35 ff.; Papier, EuGRZ 2006, S. 1 ff. und Ruffert, EuGRZ 2007, S. 245 ff.; jeweils mwN. 244 Kritisch etwa Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 ff.; eine weitergehende Berücksichtigung der EMRK iSe Umsetzungspflicht anmahnend Sauer, ZaöRV 65 (2005), S. 35, 46 ff.; weitere Nachweise zur Kritik an dieser Rechtsprechung finden sich bei Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 16. 245 Von einem „faktischen Vorrang“ der EMRK spricht etwa Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 16; die Bedeutung der Konvention für die Auslegung des Grundgesetzes hervorhebend auch Papier, EuGRZ 2006, S. 1, 2; etwas zurückhaltender Ruffert, EuGRZ 2007, S. 245, 247 ff. jeweils mwN. 246 Vgl. zur Herleitung der Unschuldsvermutung aus Art. 6 II EMRK etwa BVerfG NJW 1987, S. 2427 f. und BVerfG NJW 1990, S. 2741 f.; die besondere Bedeutung der EMRK für die prozessuale Grundrechtsentwicklung hervorhebend auch Merten/Papier-Grabenwarter, HGR VI/2, § 169, Rn. 17 mwN.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
Das Verhältnis von EMRK und europäischer Grundrechtecharta wird insbesondere durch die Transferklausel des Art. 52 III S. 1 GRC geprägt. Hiernach wird der Schutzgehalt eines Grundrechts der EMRK auf das korrespondierende Grundrecht der Charta transferiert, so dass eine inhaltliche Kongruenz zwischen EMRK und GRC hergestellt wird. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz findet sich in Art. 52 III S. 2 GRC, der ein Abweichen der Grundrechtecharta zugunsten eines höheren Grundrechtsstandards ermöglicht. Im Falle mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse muss es jedoch mangels Feststellbarkeit eines „Mehr“ an Grundrechtsschutz bei dem grundsätzlichen Vorrang der EMRK nach Art. 52 III S. 1 bleiben. Das Verhältnis von europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz lässt sich anhand der Rechtsprechung des EuGH zum Vorrang des Europarechts bzw. dem Kooperationsverhältnis des Bundesverfassungsgerichts beschreiben. Im Rahmen ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten kommt den Gewährleistungen der Grundrechtecharta ein Vorrang gegenüber dem Grundgesetz zu. Schlussendlich wird das Verhältnis von EMRK und Grundgesetz grundsätzlich durch Art. 59 II GG dahingehend bestimmt, dass die EMRK den Rang einfachen Bundesrechts einnimmt und normhierarchisch unterhalb des Grundgesetzes anzusiedeln ist. Allerdings gehen Bundesverfassungsgericht und Schrifttum richtigerweise davon aus, dass die EMRK in Anwendung des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes als Auslegungshilfe des Grundgesetzes heranzuziehen ist. Daher kommt der EMRK insbesondere im Bereich der prozessualen Grundrechte ein erheblicher Einfluss auf das Grundgesetz zu.
§ 6
Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis In den weiteren Paragraphen dieses Hauptteils gilt es nun, die wesentlichen inhaltlichen Grundlagen des Rechts auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta zu entwickeln, um als Eckpfeiler für die Konkretisierung des soeben postulierten und dogmatisch eingeordneten Rechts auf Beweis zu dienen. Aufbauend auf der dogmatischen Einordnung des Rechts auf Beweis in das bestehende System von Grundgesetz, EMRK und Grundrechtecharta soll eine Vielzahl einzelner Gewährleistungen dieses Rechts auf Beweis herausgearbeitet werden.
I. Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Einführung In diesem Paragraphen werden zunächst eine Reihe grundsätzlicher Überlegungen zum Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis erarbeitet, die für Grundgesetz, EMRK und europäische Grundrechtecharta gleichermaßen Geltung haben. Zudem lassen sich für das Recht auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen gewisse, immanente Grenzen festhalten, die nachfolgend gleichfalls analysiert werden sollen. Die weiteren Grenzen des Rechts auf Beweis, insbesondere die Möglichkeiten seiner grundrechtskonformen Einschränkung sind dem Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis demgegenüber gerade nicht vorgelagert. Sie werden vielmehr im weiteren Verlauf dieses Hauptteils analysiert und aufgezeigt.1 Die Analyse des abstrakten Inhaltes des Rechts auf Beweis soll gleichfalls mit dem deutschen Grundgesetz als der am umfänglichsten bearbeiteten Grundrechtsordnung beginnen, bevor sich EMRK und europäischen Grundrechtecharta anschließen. Im Rahmen der eigentlichen inhaltlichen Erarbeitung des Rechts auf Beweis und seiner Gewährleistungsgehalte soll zunächst eine Untersuchung und Darstellung der beweisrechtlichen Gewährleistungen in den einzelnen Grundrechtsordnungen anhand der jeweiligen Rechtsprechung und Literatur erfolgen, bevor die Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis als eigene Ansicht auf der Grundlage dieses bisherigen Forschungsstandes herausgearbeitet werden. 1 Ausführlich
unten § 8.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
II. Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – Grundlagen In diesem Paragraphen soll nun eine Reihe von Grundlagen erarbeitet werden, die für das Recht auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz gleichermaßen gelten.
1. Die gemeinsame Wertebasis des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC So lassen sich über die Feststellung einer gemeinsamen Wertebasis Rückschlüsse auf ein gewisses Maß an inhaltlichen Übereinstimmungen ziehen. Nachfolgend soll diese gemeinsame Wertebasis für das Grundgesetz, die EMRK und die europäische Grundrechtecharta herausgearbeitet werden. a) Gemeinsames Wertefundament im Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten Besonders deutliche Gemeinsamkeiten in Herleitung und Grundwerten weisen EMRK und europäische Grundrechtecharta auf. Im Hinblick auf die explizite Orientierung der Grundrechtecharta an der EMRK vermag diese starke Gemeinsamkeit indes kaum zu überraschen. Das Recht auf Beweis leitet sich nach hier vertretener Ansicht in beiden Grundrechtsordnungen als eigenständiger Teilgehalt aus dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC ab. Dieses allgemeine und sehr umfassende Recht auf ein faires Verfahren kann wertmäßig letztlich als ein Ausdruck des Grundwertes der Rechtsstaatlichkeit angesehen werden. Dem Einzelnen ein effektives Instrument des Rechtsschutzes an die Hand zu geben, das gewissen Mindeststandards genügt, gehört zu den grundlegendsten Ausprägungen des Rechtsstaatsgedankens.2 In der EMRK wird dieser Gedanke einer Fundierung des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK in einem übergeordneten Rechtsstaatsgedanken eher von der Seiten der Literatur geäußert.3 Doch auch in der Rechtsprechung des EGMR schwingt dieser Gedanke zumindest implizit mit, wenn der EGMR die Bedeutung eines fairen Verfahrens für ein demokratisches Gemeinwesen betont.4 Die Europäische Union bildet insoweit einen 2 In diese Richtung tendierend, mit umfangreichen Ausführungen zum Rechtsstaatsprinzip und seinen Mindestanforderungen an das Prozessrecht etwa BVerfGE 91, S. 176, 181 ff. 3 Ausdrücklich Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 1 ff.; in diesem Sinne Karpenstein/Meier-Meyer, EMRK, Art. 6 Rn. 1 ff.; ähnlich auch Pache, NVwZ 2001, S. 1342 ff.; Schwarze, NVwZ 2000, S. 241, 244 und Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 1 ff.; ein Rechtsstaatsprinzip in der EMRK sieht auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 646, allerdings vor dem Hintergrund des Strafprozesses. 4 So etwa in EGMR, Urteil vom 20.11.1989, 11454/85, Kostovski ./. NL, Rn. 44; ebenso EGMR, Urteil vom 23.04.1997, 21363/93, Van Mechelen and others ./. NL, Rn. 58.
§ 6 Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis
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deutlich engeren Verbund seiner Mitgliedsstaaten. Daher ist das Rechtsstaatsprinzip in Art. 2 EUV ein wesentlicher und expliziter Bestandteil des Primärrechts der Europäischen Union geworden.5 Der EuGH betont zudem in ständiger Rechtsprechung den Gedanken der EU als Rechtsgemeinschaft.6 Die Gewährleistung eines fairen Verfahrens, wie in Art. 47 II S. 1 GRC geschehen, ist eine wesentliche Ausprägung dieses Rechtsstaatsprinzips auf Ebene der Europäischen Union. Es zeigt sich also, dass das Recht auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK wie auch des Art. 47 II S. 1 GRC als unmittelbare Ausprägung eines Rechtsstaatsgedankens begriffen werden können. Das Recht auf Beweis effektuiert als Teilgehalt dieses fairen Verfahrens die Einwirkungsmöglichkeiten des Einzelnen auf die Tatsachenfeststellung im Prozess und damit letztlich auch seinen Ausgang und sichert hiernach die Effektivität des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Rechtsschutzes. Somit stellt sich das Recht auf Beweis in EMRK und europäischer Grundrechtecharta als Ausdruck des Grundwertes der Rechtsstaatlichkeit dar. Zudem wurde bereits im Rahmen der Postulierung des Rechts auf Beweis in EMRK und europäischer Grundrechtecharta seine Bedeutung für die Gewährleistung der materiellen Grundrechte betont.7 Diese materiellen Grundrechte haben für den Einzelnen eine essentielle Bedeutung, allerdings nur solange und soweit sie im Ernst- bzw. Streitfalle auch tatsächlich durchsetzbar sind. Die Parteien führen einen Zivilprozess nicht um des Prozesses willen, sondern stets zur Klärung eines konkreten Streitpunktes und in erster Linie zur Durchsetzung ihrer eigenen Rechtspositionen.8 Weiterhin gilt es in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass eine Vielzahl an einklagbaren Rechtspositionen im Zivilprozess letztlich Ausfluss von grundrechtlichen Gewährleistungen sind. Allen voran sei an die Eigentumsgarantie gedacht, doch auch der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, der Meinungsfreiheit oder der Berufsfreiheit werden regelmäßig auf Ebene des Zivilprozesses verwirklicht. Die Gewährleistung eines effektiven Rechtsnachweises im Zivilprozess mittels eines Rechts auf Beweis bedeutet für die Prozessparteien daher eine Effektuierung ihres (Grund-) Rechtsschutzes. Die Wertebasis des Rechts auf Beweis in den 5 Vgl. bereits die frühen Entwicklungen in der Rechtsprechung, etwa EuGH, Rs. C-222/86, Slg. 1987, 04097, Rn. 14 ff. – Unectef / Heylens; EuGH, Rs. C-98/78, Slg. 1979, 00069, Rn. 20 – Racke / Hauptzollamt Mainz; EuGH, Rs. C-169/80, Slg. 1981, 01931, Rn. 17 f. – Gondrand und Garan cini und EuGH Rs. C-90/95, Slg. 1997, I-01999, Rn. 35 ff. – De Compte / Parlament; diese Entwicklungen des Rechtsstaatsprinzips bis zu dessen expliziter Verankerung nachzeichnend Streinz-Pechstein, EUV, Art. 2, Rn. 6; siehe auch Schwarze-Schwarze, EUV, Art. 2, Rn. 2 f. 6 St. Rspr., vgl. etwa EuGH Rs. C-521/06, Slg. 2008, I-05829, Rn. 45 – AthinaikiTechniki ./. Kommission; EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 109 – PKK und KKN / Rat; EuGH Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 38 ff. – Union de PequenosAgricultores ./. Rat. 7 Vgl. § 4 II. 8 Vgl. zur herrschenden Prozesszwecklehre etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 5 ff. mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand; eine ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung mit den einzelnen Prozesszwecklehren folgt sogleich unter II. 5.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
Grundrechten wird an dieser Stelle besonders deutlich. Somit folgt das Recht auf Beweis in EMRK und der europäischen Grundrechtecharta letztlich aus dem gemeinsamen Wertekanon der materiellen Grundrechte iVm dem Rechtsstaatsprinzip. Diese Herleitung des Rechts auf Beweis aus der gemeinsamen Wertebasis des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte gilt nach hier vertretener Auffassung in gleicher Weise für das Recht auf Beweis im Grundgesetz. Das Recht auf Beweis stellt sich als Ausfluss des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und damit letztlich des Justizgewährungsanspruches dar.9 Der Justizgewährungsanspruch wiederum findet seine Fundierung richtigerweise im Rechtsstaatsprinzip iVm den Grundrechten.10Auch inhaltlich stimmen die Argumentationslinien von EMRK und europäischer Grundrechtecharta mit denjenigen des Grundgesetzes überein: Die Gewährung von Rechtsschutz, wie auch die Effektivität dieses Rechtsschutzes werden als elementarer Bestandteil und Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips angesehen.11 Erst dieser effektive Rechtsschutz ermöglicht dem Einzelnen eine Rechtsdurchsetzung, die seine qua Grundgesetz gewährleisteten, materiellen Grundrechte zu ihrer wahren Entfaltung bringt.12 Es zeigt sich zusammenfassend, dass das Recht auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen letztlich auf den gleichen Werten basiert. Diese gemeinsame Wertebasis ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für weitere, allgemeine Aussagen, die für alle drei Grundrechtsordnungen gleichermaßen Geltung beanspruchen können. b) Inhaltliche Kongruenz des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC Darüber hinaus zeitigt die gemeinsame Wertebasis auch für den Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen deutliche Konsequenzen: Die nachfolgende, eingehende Untersuchung des Gewährleistungsgehaltes des Rechts auf Beweis wird eine Vielzahl inhaltlicher Übereinstimmungen in allen drei Grundrechtsordnungen aufzeigen. In ihrem Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis überwiegen im Rahmen von Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta letztlich die Gemeinsamkeiten. Diese inhaltliche Übereinstimmung folgt teilweise bereits aus rechtlichen Vorgaben: Die Grundrechtecharta wird durch Art. 52 III S. 1 GRC rechtlich an die EMRK gebunden. Die EMRK fundiert hiernach für die Grundrechtecharta als Mindeststandard, von dem nach Art. 52 III S. 2 GRC ausschließlich zugunsten eines höheren 9
Vgl. oben § 5 II. 3. c. So bereits BVerfGE 80, S. 103, 107; st. Rspr. vgl. etwa BVerfGE 85, S. 337, 345; BVerfGE 88, S. 118, 123; BVerfGE 107, S. 395, 401; BVerfGE 112, S. 185, 207. 11 Vgl. bereits BVerfGE 107, S. 395, 406 ff.; in diesem Sinne auch BVerfG-K 15, S. 127, 130 und ganz ähnlich BVerfG NJW 2011, S. 49 jeweils mwN. 12 Ausführlich etwa Dütz, rechtsstaatlicher Gerichtsschutz, §§ 17–20; Stürner, Aufklärungspflicht, S. 39 ff. und Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 4 ff. jeweils mwN. 10
§ 6 Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis
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Schutzniveaus abgewichen werden darf. Eine Bestimmung dieses höheren Schutzniveaus scheidet jedoch ihrerseits im Rahmen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse aus.13 Somit bilden EMRK und Grundrechtecharta einen mehr oder weniger einheitlichen Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis – wie im Einzelnen sogleich zu zeigen sein wird. Allerdings verbleibt es nicht bei diesem gemeinschaftlichen „europäischen“ Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis. Vielmehr ergeben sich aus EMRK und Grundrechtecharta auch für das Grundgesetz gewisse Bindungen: Die EMRK wirkt – obgleich nach Art. 59 II GG „lediglich“ im Range einfaches Bundesrecht – über die EMRK-konforme Auslegung des Bundesverfassungsgerichts in erheblichem Umfange auf das Grundgesetz ein.14 Die europäische Grundrechtecharta kann aufgrund des allgemeinen Vorranges des Europarechts sogar eine rechtliche Bindungswirkung für das Grundgesetz erzeugen – allerdings nur im Rahmen ihres begrenzten Geltungsbereiches.15 Diese rechtlichen Bindungen der Grundrechtsordnungen untereinander führen zu einer erheblichen inhaltlichen Kongruenz der jeweiligen Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis. Doch auch über diese rechtliche Bindung hinaus wird die nachfolgende Analyse eine Vielzahl gleichlaufender Gewährleistungsgehalte des jeweiligen Rechts auf Beweis aufzeigen. Diese große faktische Nähe wird umso erklärlicher, wenn man das Recht auf Beweis mit der hier vertretenen Auffassung in jeder der drei untersuchten Grundrechtsordnungen als ein umfassendes Recht auf einen effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess begreift. Dieser Maßstab der Effektivität der eigenen Nachweismöglichkeiten prädisponiert eine Vielzahl an Gewährleistungsgehalten, so dass sich das Recht auf Beweis in seinem jeweiligen Gewährleistungsgehalt nach EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz ähnelt. Dies gilt umso mehr, wenn man mit der hier vertretenen Ansicht den Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen an der jeweiligen Prozesszwecklehre ausrichtet.16 Die Unterschiede zwischen dem Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta zeigen sich vielmehr im Schutzumfang dieser Gewährleistungsgehalte und dem daraus resultierenden Umfang des gesetzgeberischen Ermessens. Die europäischen Grundrechtsordnungen stellen – auch im Hinblick auf ihre kompetenzielle Grenzen – nach hier vertretener Auffassung tendenziell ein etwas gröberes Raster dar, das den einzuhaltenden Mindeststandard an effektiven Nachweismöglichkeiten eigener Rechte et13 Ausführlich
dazu bereits oben § 5 V. 1. Vgl. etwa BVerfGE 111, S. 307, 315 ff.; zu dieser Entwicklung auch Rehleder, Grundrechtsschutz, S. 149 ff. 15 Zum Verhältnis von Europarecht und Grundgesetz siehe die Entscheidungen EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, S. 1269 ff. – Costa/ENEL und EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, S. 1135 ff. – inter nationale Handelsgesellschaft sowie die Entscheidungen BVerfGE 73, S. 339, 374 f. – Solange II und BVerfGE 123, S. 267, 396 ff. – Lissabon; zum Geltungsbereich der Grundrechtecharta siehe soeben § 5 V. 2. 16 Dazu sogleich unter II. 5. b. 14
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
was niedriger ansetzt, als das Grundgesetz. Dem Gesetzgeber wird hiernach ein weiteres Ermessen bei der Ausgestaltung der nationalen Prozessordnung eingeräumt. Die grundsätzliche Wertebasis des Rechts auf Beweis, sein Ziel der Gewährleistung effektiver Nachweismöglichkeiten und daraus resultierend die wesentlichen Gewährleistungsgehalte stimmen indes in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta weitgehend überein.
2. Das Recht auf Beweis als eigenständiges prozessuales Grundrecht Das Recht auf Beweis wird selbst in der deutschen Literatur nur sporadisch behandelt und sodann von einigen Stimmen als eine bloße „Ansammlung“ von einzelnen Gewährleistungen mit beweisrechtlichem Bezug angesehen, die aus den verschiedensten prozessualen Grundrechten hergeleitet werden.17 Das Recht auf Beweis wäre hiernach ein reiner Sammelbegriff für den beweisrechtlichen Gehalt der bereits bestehenden, prozessualen Grundrechte. Oftmals findet das Recht auf Beweis in der Literatur zudem ausschließlich im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten Erwähnung. In diesen Bearbeitungen wird das Recht auf Beweis sodann allein als Argumentationslinie für die Zulassung von Beweismitteln verwendet und dient daher regelmäßig als bloßes Stichwort in einer Abwägungsentscheidung, um zu einem von vornherein gewünschten Ergebnis zu kommen.18 Nach hier vertretener Ansicht greifen diese Sichtweisen auf das Recht auf Beweis deutlich zu kurz. Das Recht auf Beweis stellt einen eigenständigen Teilgehalt des Rechts auf ein faires Verfahren iSd Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC bzw. einen Ausfluss des Rechts auf effektiven Rechtsschutz im Rahmen des Justizgewährungsanspruches des Grundgesetzes dar. Es handelt sich damit um eigenständiges, grundsätzlich umfassendes Recht auf effektiven Nachweis eigener Rechte im Zivilprozess. In diesem Sinne gewährleistet das Recht auf Beweis einen weitreichenden Schutz der Prozessparteien: Von der Stellung eines Beweisantrages, über die eigentliche Beweisaufnahme, die Würdigung der Beweismittel bis hin zur Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen beinhaltet das Recht auf Beweis eine ganze Reihe von Gewährleistungsgehalten der Parteien des Zivilprozesses. Jede Einschränkung des Rechts auf Beweis – sei es durch vom Gesetzgeber geschaffene, prozessuale Normen oder ihre Anwendung im Einzelfall durch das erkennende Gericht – bedarf einer Rechtfertigung.19 Die Darstellung des Rechts auf Beweis als bloße 17 In diesem Sinne äußerst sich Muthorst, Beweisverbot, S. 163, dessen diesbezügliche Nachweises jedoch nach hier vertretener Lesart regelmäßig von einem anderen Verständnis des Rechts auf Beweis ausgehen. 18 Vgl. wiederum Muthorst, Beweisverbot, S. 161 ff.; das Recht auf Beweis als eine rein ergebnisorientierte Argumentationslinie ansehend auch Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff. jeweils mwN. 19 Ausführlich dazu unten § 8.
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Zusammenfassung beweisrechtlicher Gewährleistungen oder gar als Argumentationslinie zur Verwertung von Beweismitteln kann daher den Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in keiner Weise beschreiben. Dieses Wesen des Rechts auf Beweis kann zu einer Überschneidung seines Gewährleistungsgehaltes mit anderen prozessualen Grundrechten führen. Insbesondere das Recht auf rechtliches Gehör wird in allen drei Grundrechtsordnungen gleichermaßen gewährleistet und beansprucht auch für das Beweisrecht Geltung, so dass es insoweit zu Überschneidung der jeweiligen Gewährleistungsgehalte kommen kann. Eine solche „Dopplung“ des Grundrechtsschutzes stellt jedoch nach hier vertretener Ansicht kein größeres Problem dar. Schließlich ist es das erklärte Ziel der Grundrechtsordnungen, dem Einzelnen einen möglichst umfassenden Schutz zu gewähren und sei es durch den überlappenden Schutz mehrere Grundrechte. Zudem bezieht sich das Recht auf Beweis explizit und ausschließlich auf das Beweisrecht und gibt dem Einzelnen in diesem Bereich subjektive Rechte zu einer effektiven beweisrechtlichen Teilhabe am Prozess in die Hand. Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis ist somit klar konturiert. Im Falle eines divergierenden Gewährleistungsumfanges mit anderen prozessualen Grundrechte ließe sich daher durchaus für einen Vorrang des Rechts auf Beweis in diesem Bereich iSe lex specialis argumentieren.
3. Das Recht auf Beweis als Recht einer jeden Partei des Zivilprozesses Die zweite, grundlegende Aussage über das Recht auf Beweis beschäftigt sich mit der besonderen Situation eines Zivilprozesses, in dessen Rahmen zwei grundrechtsberechtigte Privatpersonen miteinander in Streit stehen und der Staat in Person des Gerichts lediglich die vermittelnde und letztentscheidende Rolle einnimmt. Aus der zwangsläufigen Interaktion mehrerer, grundrechtsberechtigter Parteien in einem Zivilprozess ergibt sich ebenso notwendig die Fragestellung, ob alle an einem Zivilprozess beteiligten Parteien jeweils Inhaber des Rechts auf Beweis sind und ihre jeweiligen Tatsachenbehauptungen effektiv nachweisen dürfen.20 a) Die Herleitung des Rechts auf Beweis aus den materiellen Grundrechten Als Ausgangspunkt diesbezüglicher Überlegungen bietet sich nach hier vertretener Auffassung die dogmatische Fundierung des Rechts auf Beweis in den materiellen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip an. Der aus dem staatlichen Gewaltmonopol folgende Verweis einer grundrechtsberechtigen Person auf den (Zivil-) Rechtsweg führt in Verbindung mit dem Erfordernis des Nachweises eigener Rechte im Zivilprozess argumentativ zwingend zu einem entsprechenden Recht auf einen effektiven Nachweis eigener Rechte. Dieser Zusammenhang wurde bereits ver20
Ausführlich und instruktiv zu dieser Fragestellung bereits Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257 ff.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
schiedentlich beleuchtet und zeigt die Inhaberschaft eines Rechts auf Beweis zumindest für die klagende, ein eigenes Recht behauptende Prozesspartei deutlich auf. Diese Partei muss ihr behauptetes Recht im Zivilprozess nachweisen und hat dementsprechend unzweifelhaft auch ein Recht auf Beweis iSe Rechts auf effektiven Nachweis eigener Rechte. Die Argumentation zugunsten der Inhaberschaft des Rechts auf Beweis dieser Prozesspartei knüpft hierbei in erster Linie an die – zumindest behauptete – materiell-rechtliche Rechtsinhaberschaft an. Eine solche Argumentation zur Begründung des Rechts auf Beweis bereitet jedoch Schwierigkeiten, sobald die jeweils andere, beklagte Prozesspartei als eine weitere, grundrechtsberechtigte Person in den Blick genommen wird. Im Falle einer tatsächlich bestehenden, materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft der klagenden Prozesspartei könnte man an einem Recht der jeweils anderen Partei auf Beweis dahingehend zweifeln, dass es dieser Partei an einer mittels effektiven Rechtsnachweises durchzusetzenden, materiell-rechtlichen (Grund-) Rechtsposition ja gerade fehlen würde. Doch selbst wenn der klagenden Prozesspartei ihre behauptete, materiell-rechtliche Rechtsinhaberschaft tatsächlich nicht zustehen würde, so wäre selbst in dieser Konstellation das Recht der jeweils anderen Prozesspartei auf Beweis mit einer allein materiell-rechtlichen Argumentation nur schwer zu begründen. Es ließe sich zwar eine Rechtsposition in Form eines Rechts auf Schutz vor einer unberechtigten Inanspruchnahme konstruieren. Allerdings müsste dieses Recht auf Schutz vor unberechtigter Inanspruchnahme grundsätzlich mithilfe eines Unterlassungsanspruches durchgesetzt werden, wobei Teile der Literatur richtigerweise anmerken, dass es insoweit wohl an der einer Erstbegehungsgefahr als Voraussetzung eines Unterlassungsanspruchs fehlen würde, da diese Gefahr sich aus einem vermuteten richterlichen Fehlurteil ergeben müsste.21 Doch auch für die klagende Prozesspartei ließe sich diese Problematik fortspinnen, falls das von ihr behauptete, materielle Recht tatsächlich nicht existiert und die argumentative Basis für Recht auf Beweis sozusagen im Nachhinein entfallen müsste. Diese Gedanken führen zu der grundlegenden Problematik einer allein an der materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft orientierten Begründung des Rechts auf Beweis: In einem Zivilprozess streiten (mindestens) zwei grundrechtsberechtigte Parteien um die Durchsetzung eines privaten Rechts. Dieses Recht kann aber typischerweise nur einer von beiden Parteien zustehen – andernfalls gäbe es ja keinen Streit über die Rechtsinhaberschaft in Form eines Zivilprozesses. Zum Zwecke einer effektiven Prozessführung benötigt jede der Prozessparteien gewisse beweisrechtliche Gewährleistungen in Form eines Rechts auf Beweis, doch unter alleiniger Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft könnte dieses Recht auf Beweis grundsätzlich nur eine der beiden Parteien zustehen. Der erste wesent liche Kritikpunkt einer solchen rein materiell-rechtlichen Betrachtung des Rechts 21
So bereits Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 259 f.
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auf Beweis ergibt sich aufgrund praktischer Erwägungen bereits auf den ersten Blick: Die Beantwortung der Frage nach der tatsächlichen, materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft ist die wesentliche Aufgabe eines Zivilprozesses und ergibt sich mithin als Ergebnis des Zivilprozesses denknotwendig erst zum Abschluss desselben.22 Außerdem wurde bereits für den Justizgewährungsanspruch herausgearbeitet, dass die Inhaberschaft dieses Anspruches gerade nicht von einer nachgewiesenen, materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft abhängig gemacht werden kann, will man den Justizgewährungsanspruch nicht in weitem Umfang leerlaufen lassen.23 Diese Argumentation gilt für das Recht auf Beweis in besonderem Maße: Als Voraussetzung für ein Recht auf effektiven Nachweis eigener Rechte zu fordern, dass das in Rede stehende Recht bereits materiell-rechtlich erwiesenermaßen feststeht, wäre geradezu absurd. Bereits diese Überlegungen zeigen die Schwäche einer allein an der materiell-rechtlichen Rechtsinhaberschaft orientierten Betrachtung des Rechts auf Beweis deutlich auf. Hinzu kommen weitere dogmatische Bedenken bei einem Blick auf die ähnlich gelagerte Problematik einer Bestimmung des Streitgegenstandes: So lag der ursprünglichen ZPO nach ihrer gesetzgeberischen Konzeption zwar ein materiell-rechtlicher Streitgegenstandsbegriff zugrunde. Allerdings hat sich diese Bestimmung des Streitgegenstandes insbesondere im Hinblick auf Anspruchsnormenkonkurrenzen als zunehmend unpraktikabel erwiesen, so dass in der zivilprozessualen Rechtsprechung und Lehre in heutiger Zeit ganz überwiegend ein prozessualer Streitgegenstandsbegriff vertreten wird.24 b) Die Anerkennung des Rechts auf Beweis als prozessuales Grundrecht aller an einem Zivilprozess beteiligten Parteien Diese Problematik lässt sich anhand einer rein materiell-rechtlichen Betrachtung des Rechts auf Beweis kaum auflösen. Zwar erschiene es grundsätzlich argumentativ denkbar, im Hinblick auf die strukturell bedingte Unkenntnis der tatsächlichen Rechtsinhaberschaft im Zivilprozess beiden Prozessparteien ein jeweiliges, fiktives materielles Recht zuzuweisen. Jede Partei hätte hiernach zu Beginn des Prozesses entweder eine fiktive Inhaberschaft des von ihr behaupteten Rechts oder aber ein fiktives Recht auf Schutz vor einer unberechtigten Inanspruchnahme. Allerdings würde auch eine solche materiell-rechtliche Theorie die erkennbare Schwäche aufweisen, dass zumindest eines der fiktiven materiellen Rechte in jedem Fall faktisch nicht besteht. Hinzu kommt, dass auch in ein fiktives Recht auf Schutz vor unberechtigter Inanspruchnahme letztlich mit einem Unterlassungsanspruch durchgesetzt werden müsste und man für dessen Erfolg nicht nur ein fiktives materielles In diesem Sinne insbesondere Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 258 f. Siehe zu dieser Kritik wiederum Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 259 f. 24 Diese Argumentation ergänzend heranziehend bereits Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 259 f. 22 23
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
Recht, sondern auch bereits vorab ein Fehlurteil iSe Erstbegehungsgefahr vermuten müsste.25 Vorzugswürdig erscheint es, das Recht auf Beweis ein Stück weit von seiner materiell-rechtlichen Begründung und Fundierung zu abstrahieren und als ein prozessuales Grundrecht anzuerkennen: Ein solches prozessuales (Grund-) Recht auf Beweis würde hiernach allen an einem Zivilprozess beteiligten Parteien zustehen und zwar – im Unterschied zu einer materiell-rechtlichen Betrachtungsweise – gerade ohne Ansehen der etwaigen, materiellen Rechtsinhaberschaft. Die Einordnung des Justizgewährungsanspruches und insbesondere des hier interessierenden Rechts auf Beweis als prozessuales Grundrecht lässt sich mit einem Blick auf die explizit im Grundgesetz normierten, prozessualen Grundrechte erhärten. Insbesondere für das Recht auf rechtliches Gehör iSd Art. 103 I GG zeigt bereits der Wortlaut „jedermann“, dass dieses Grundrecht allen Parteien eines (Zivil-) Prozesses zusteht. Die Gewährung rechtlichen Gehörs auf diejenige Partei zu beschränken, der ein materielles Recht tatsächlich zusteht, wurde soweit ersichtlich bislang noch nicht vertreten. Ähnliches lässt sich für das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 I S. 2 GG konstatieren: Das Recht auf einen von vornherein festgelegten und in seiner Auswahl jeder Manipulation entzogenen Richter steht jeder Partei eines Zivilprozesses zu. Und auch im Rahmen der Rechtsschutzgarantie gegen Akte öffentlicher Gewalt in Art. 19 IV GG sucht man vergeblich nach der Auffassung, dass diese Rechtsschutzgewährleistung mit Abweisung einer entsprechenden Klage rückwirkend entfallen würde. Insbesondere im Hinblick auf die geschriebene Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG erscheint es nicht einsichtig, weshalb die implizit im Grundgesetz vorausgesetzte Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes im Privatrecht keine Geltung für alle an einem Zivilprozess beteiligte Personen haben und mithin kein prozessuales Grundrecht darstellen sollte. Vielmehr erscheint es bei näherer Betrachtung der anderen prozessualen Grundrechte systematisch naheliegend und auch wertungsmäßig korrekt, das Recht auf effektiven Rechtsschutz und insbesondere das Recht auf Beweis gleichfalls als prozessuales Grundrecht anzuerkennen. Für die nahezu inhaltsgleichen Gewährleistungen eines effektiven Zivilrechtsschutzes in Art. 6 I EMRK und Art. 47 II S. 1 GRC lässt sich nach hier vertretener Auffassung nichts anderes feststellen. Insbesondere aufgrund der Fundierung des Rechts auf Beweis in der geschriebenen Generalklausel des allgemeinen Rechts auf ein faires Verfahren in Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC liegt die Anerkennung dieses Recht auf Beweis als prozessuales Grundrecht gleichfalls sehr nahe. Für das Recht auf Beweis lässt sich dieser Befund zudem nach seinem Sinn und Zweck weiter erhärten: Die Verknüpfung mit der materiellen Rechtsinhaberschaft 25 Zu diesem Kritikpunkt im Zusammenhang mit der Annahme eines Unterlassungsanspruches zur Begründung des Justizgewährungsanspruches der beklagten Partei bereits Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 259 f.
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bleibt durch die Anerkennung als prozessuales Grundrecht aller Prozessparteien zumindest insofern bestehen, als die Erstreckung der effektiven Nachweismöglichkeit auf alle Prozessparteien die bestmögliche Gewähr für eine umfassende Wahrheitserforschung bietet. Allein durch die effektive Nachweismöglichkeit aller beteiligten Parteien können auch alle vorhandenen Beweismittel ausgeschöpft werden: zum einen wird jede der Parteien typischerweise Beweismittel besitzen, von denen die andere Partei keine genaue Kenntnis hat und zum andern würde eine Partei ebenso typischerweise keine Erhebung von Beweismitteln beantragten, die für sie ungünstig wären. Mithin würde die Erforschung des wahren Sachverhaltes ohne effektive Nachweismöglichkeit aller beteiligten Parteien regelmäßig erheblich beeinträchtigt und allein eine Entscheidung auf Grundlage des wahren Sachverhaltes kann letztlich zu einer der materiellen Rechtslage entsprechenden Entscheidung im Sinne des vorliegend gedachten Rechts auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta führen.26 Schlussendlich sprechen nach hier vertretener Ansicht auch fundamentale Gerechtigkeitserwägungen für die Anerkennung eines Rechts aller beteiligten Parteien auf Beweis im Zivilprozess. Der deutsche Zivilprozess ist als Parteiprozess ausgestaltet, so dass es eines aktiven Handelns einer jeden Prozesspartei bedarf, um den eigenen Prozessverlust zu vermeiden. Wenn nun die Berechtigung zu einem aktiven Nachweis eigener Tatsachenbehauptungen lediglich einer der Parteien zustehen würde, so würde dieser Umstand von den anderen Parteien als in höchstem Maße ungerecht empfunden und die Legitimität des Prozesses insgesamt in Frage gestellt. Dies gilt umso mehr, als ein Parteiprozess typischerweise die Untätigkeit einer Partei sanktioniert27, so dass die Rechtsordnung sodann insoweit in sich unstimmig wäre, als sie Handlungen fordern würde, zu deren Vornahme sie nicht berechtigt. Zusammenfassend bleibt die Erkenntnis, dass sämtliche an einem Zivilprozess beteiligten Parteien als grundrechtsfähige Individuen ein Recht auf Beweis haben.28 Alle beteiligten Parteien müssen grundsätzlich die Möglichkeit erhalten, ihre behaupteten Rechtspositionen im Prozess effektiv nachweisen zu können. Dabei folgt das Recht auf Beweis im Ausgangspunkt aus den materiell-rechtlichen Grundrechten und soll ihre effektive Durchsetzung im Prozess iSe effektiven Rechtsschutzes nach dem Rechtsstaatsprinzip gewährleisten. Dieses Recht auf Beweis bedarf jedoch insbesondere im Hinblick auf die in einem Zivilprozess strukturell angelegte, anfängliche Unkenntnis über den wahren Sachverhalt und die wahre materiell-rechtliche Rechtsinhaberschaft ein Stück weit einer Abstrahierung von dieser materiellrechtlichen Basis hin zu einer Anerkennung als prozessuales Grundrecht. Wesentlibereits Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 258 f., der insoweit auf das verfassungsrechtliche Gebot der Folgerichtigkeit der Rechtsordnung rekurriert. 27 Vgl. etwa die Geständnisfiktion des § 138 III ZPO oder Präklusionsvorschrift des § 296 ZPO. 28 So auch für den Justizgewährungsanspruch insgesamt Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257, 258 ff. 26 Ähnlich
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che Konsequenz ist, dass das Recht auf Beweis allen an einem Zivilprozess beteiligten Parteien zusteht und alle Parteien einen effektiven Nachweis ihrer Behauptungen verlangen können. Sei es das Recht der Hauptpartei, ihre behaupteten anspruchsbegründenden Tatsachen nachzuweisen oder das Recht der Gegenpartei zur Führung eines Gegenbeweises oder eines Beweises des Gegenteils. In gleicher Weise hat die Gegenpartei das Recht auf einen effektiven Nachweis der Tatsachenbasis ihrer Einwendungen und die Hauptpartei ein Recht auf effektive Beweisführung gegen eben diese Einwendung. Das Erfordernis des Nachweises von Tatsachen kann je nach Prozesslage und den bisherigen Beweisergebnissen mehrfach zwischen den Prozessparteien hin und herwechseln. Das Recht auf Beweis gewährleistet hierbei sozusagen als Konstante die Effektivität der Nachweismöglichkeiten für den jeweils im Prozess von den Parteien geforderten Beweis. Diese Beiderseitigkeit des Rechts auf Beweis ist im Rahmen einer gerichtlichen Beweisaufnahme stets mit zu bedenken. Im Grundsatz laufen die jeweiligen Rechte auf Beweis ohne Überschneidung nebeneinander her. Im Einzelfall kann es jedoch auch zu Tangierungen der jeweiligen Rechte auf Beweis kommen.29
4. Ausschluss eines negativen Gewährleistungsgehalts iSe Rechts auf Nichterhebung von Beweismitteln Das Nebeneinander der jeweiligen Rechte der Prozessparteien auf Beweis bedarf einer weiteren Klarstellung in Bezug auf den negativen Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis. Ein negativer Gewährleistungsgehalt ist grundsätzlich durchaus denkbar – etwa dahingehend, dass eine Partei nicht gezwungen werden kann, ihre Beweismittel im Prozess vorzutragen. Allerdings enthält das Recht auf Beweis nach hier vertretener Ansicht keinen negativen Gewährleistungsgehalt in Bezug auf die Beweiserhebung der jeweiligen Gegenpartei: Es ließe sich argumentieren, dass das positive Recht einer Partei auf Erhebung ihrer Beweise abzuwägen ist mit einem negativen Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis der Gegenpartei auf Nichterhebung dieser Beweismittel. Schließlich würde die Beweiserhebung der einen Partei die Chancen auf den Rechtsnachweis der Gegenpartei möglicherweise erheblich schmälern. Ein solcher, negativer Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis auf Verhinderung einer Beweiserhebung der Gegenseite existiert nach hier vertretener Ansicht nicht. Dieser Gewährleistungsgehalt würde das Recht auf Beweis in ein Recht auf den Prozessgewinn umwandeln. Ein solcher Gewährleistungsgehalt wäre zudem insofern sinnwidrig, als die Verhinderung einer Beweiserhebung der Wahrheitserforschung gerade zuwider29 Eine solche Kollision ist insbesondere denkbar in Konstellationen einer in Frage stehenden Verwertbarkeit von Beweismitteln, deren Erhebung gewissen beweisrechtlichen Gewährleistungen nicht genügt hat – etwa im Falle eines Sachverständigengutachtens, dessen Datengrundlage nicht offengelegt wurde, ausführlich § 12 II. 5. a.
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laufen würde. Die Wahrheitserforschung ist aber zumindest ein dienender Nebenzweck zur Unterstützung des eigentlichen, für das Recht auf Beweis maßgeblichen Prozesszweckes der Durchsetzung privater Rechte.30 Nach hier vertretener Ansicht gehen in einem ideal gedachten Zivilprozess das Recht auf Beweis und die Erforschung der Wahrheit miteinander einher. Diesem Idealbild würde die Anerkennung eines negativen Gewährleistungsgehaltes des Rechts auf Beweis auf Nichterhebung ungünstiger Beweismittel fundamental zuwiderlaufen. Insbesondere in diesem Punkt laufen die beiden Rechte auf Beweis somit ohne jeden Berührungspunkt strikt nebeneinander her. Die Beweiserhebung einer Partei tangiert das Recht auf Beweis der anderen Partei grundsätzlich in keiner Weise und aus dem Recht auf Beweis folgt keinerlei Recht, die Gegenpartei in irgendeiner Weise von ihrer Beweiserhebung abhalten zu dürfen. Eine Kollision der jeweiligen Rechte auf Beweis ist vielmehr nur denkbar, wenn eine Verwertung von Beweismitteln im Raum steht, deren Erhebung unter Verletzung beweisrechtlicher Grundsätze erfolgt ist, die ihrerseits durch das Recht auf Beweis der Gegenpartei geschützt sind. Diese ganz wesentliche Grundaussage über das Recht auf Beweis lässt sich für alle drei Grundrechtsordnungen gleichermaßen treffen.
5. Die abstrakten Grundlagen der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis Eine weitere, grundlegende Frage ist diejenige nach der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis: Eine vollständige, abstrakte Ermittlung und Darstellung des Inhaltes eines Grundrechtes ist grundsätzlich kaum zu leisten.31 Diese Grundregel gilt in gleichem Maße auch für das Recht auf Beweis. Allerdings lassen sich einige grundsätzliche Aussagen zu Bedeutung des Rechts auf Beweis und der Art und Weise der Inhaltsbestimmung seines Gewährleistungsgehaltes treffen: Zum einen soll ein Blick auf die Grundwerte geworfen werden, aus denen sich das Recht auf Beweis herleiten lässt und hieraus soll seine Bedeutung im Gesamtgefüge der Grundrechtsordnungen herausgearbeitet werden. Zum anderen soll die Art und Weise der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen durch eine strikte Orientierung am Sinn und Zweck des jeweiligen Zivilprozesses beleuchtet werden.
30 Diesen Zusammenhang stellt bereits Stürner, Aufklärungspflicht, S. 42 ff. und S. 48 ff. sehr anschaulich und mit zahlreichen Nachweisen dar. 31 Vgl. zu den Hintergründen der Grundrechtsdogmatik Isensee/Kirchhof-Hillgruber, HStR IX, § 200, Rn. 1 ff. mit zahlreichen Nachweisen.
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a) Die Bedeutung des Rechts auf Beweis im Lichte seiner Wertebasis Die Grundwerte aus denen sich das Recht auf Beweis herleitet, wurden eingangs erläutert: In allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen lässt sich das Recht auf Beweis gleichermaßen auf das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte zurückführen. Diese Grundwerte stellen die gemeinsame Wertebasis für das Recht auf Beweis dar. Die beiden Grundwerte des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte lassen sich in ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge aller drei Grundrechtsordnungen kaum hoch genug einschätzen: Das Rechtsstaatsprinzip ist eine der wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung und einer der zentralen Pfeiler im Selbstverständnis eines jeden modernen Staates.32 Im deutschen Grundgesetz wird das Rechtsstaatsprinzip in Art. 28 II GG in einem Atemzug mit dem Demokratieprinzip genannt, im europäischen Primärrecht findet sich eine explizite Verankerung des Rechtsstaatsprinzips an exponierter Stelle in Art. 2 EUV und auch in der Rechtsprechung von EuGH und EGMR wird die Bedeutung dieses Prinzips immer wieder deutlich.33 Die Grundrechte sind ihrerseits der wohl zentralste Bestandteil einer jeden Grundrechtsordnung.34 Für die EMRK und die europäische Grundrechtecharta sind die Grundrechte ihr alleiniger Inhalt. Das Grundgesetz beschäftigt sich zwar gleichermaßen mit grundlegenden Fragen des Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland. Herzstück und Kerngehalt des Grundgesetzes sind dennoch seine Grundrechtsgarantien für den Einzelnen.35 Die Herleitung des Rechts auf Beweis aus diesen beiden Grundwerten zeigt nun seine Bedeutung im Gesamtgefüge der Grundrechtsordnungen deutlich auf. Das Recht auf Beweis ist ein Ausdruck zweier der grundlegendsten Wertungen aller drei Grundrechtsordnungen und daher in seiner Bedeutung gleichfalls hoch einzuschätzen. Das Recht auf Beweis beansprucht daher nach hier vertretener Auffassung einen hohen Rang im Gesamtgefüge aller drei Grundrechtsordnungen, so dass eine jede Rechtfertigung von Einschränkung seines Gewährleistungsgehaltes ihrerseits eines entsprechenden Gewichts bedarf.36 Außerdem zeigt die Bedeutung von Rechtsstaatsprinzip und Grundrechten auf, dass der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Be32 Vgl. zur Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips etwa Isensee/Kirchhof-Kirchhof, HStR II, § 21, Rn. 82 und 86 und ausführlich Isensee/Kirchhof-Schmidt-Aßmann, HStR II, § 26; siehe weiter BVerfGE 30, S. 1, 24. 33 Implizit in diesem Sinne etwa EGMR, Urteil vom 20.11.1989, 11454/85, Kostovski ./. NL, Rn. 44; ebenso EGMR, Urteil vom 23.04.1997, 21363/93, Van Mechelen and others ./. NL, Rn. 58; Vgl. zur Entwicklung einzelner Teilgehalte EuGH, Rs. C-222/86, Slg. 1987, 04097, Rn. 14 ff. – Unectef/Heylens und Rs. C-169/80, Slg. 1981, 01931, Rn. 17 f. – Gondrand und Garancini. 34 Vgl. allein die Entscheidung BVerfGE 37, S. 271, 280, in der die Grundrechte als „unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung“ beschrieben werden; 35 Zur Bedeutung der Grundrechte vgl. BVerfGE 31, S. 58, 72 ff.; siehe auch die soeben zitierte Entscheidung BVerfGE 37, S. 37, 271, 280; ähnlich Sachs-Sachs, GG, Vor Art. 1, Rn. 16 ff. mwN. 36 Ausführlich zur Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis unten § 8.
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weis zum Schutz des Einzelnen und der Entfaltung dieser Prinzipien tendenziell eher weiter auszulegen, denn enger zu fassen ist.37 b) Der Orientierungspunkt einer Inhaltsbestimmung für das Rechts auf Beweis Zudem lässt sich auch die Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes des Rechts auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz in gewissem Umfang an einem gemeinsamen Prinzip orientieren: Nach hier vertretener Ansicht erfolgt die inhaltliche Ausgestaltung des Rechts auf Beweis anhand einer strikten Orientierung an der Prozesszwecklehre des Zivilprozesses.38 Bevor diese Methode der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis sogleich erläutert wird, stellt sich jedoch die Frage, von welchem Prozesszweck für welche Grundrechtsordnung auszugehen ist bzw. ob sich ein gemeinsamer Prozesszweck als einheitlicher Maßstab für die Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis herauskristallisieren lässt. aa) Der Prozesszweck nach der ZPO: Die Durchsetzung privater Rechte Die Frage nach dem Sinn und Zweck des Zivilprozesses ist für die deutsche ZPO seit langer Zeit Gegenstand ausführlicher Debatten in Literatur und Rechtsprechung. Im Verlauf der jahrzehntelangen Diskussionen wurde eine Vielzahl von Prozesszwecken für den Zivilprozess vertreten. Von der Streiterledigung, über die Bewährung der objektiven Rechtsordnung, der Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, bis hin zur Wahrheitserforschung wurde eine Vielzahl von Zwecken in einem Zivilprozess gesehen.39 Die hier vertretene Ansicht entspricht insoweit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur: Der Zivilprozess in Deutschland dient primär der Durchsetzung privater Rechte.40 Unbestritten fördert ein Zivilprozess eine ganze Reihe von Zwecken – etwa die Bewährung der Rechtsordnung, die Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit sowie die Weiterentwicklung der Rechtsordnung. Den37 Vgl. zur Bedeutung des Rechts auf Beweis auch Habscheid, ZZP 96 (1986), S. 306 ff.; in diese Richtung bereits Walter, freie Beweiswürdigung, S. 296 ff. 38 In die Richtung einer prozesszweckorientierten Auslegung des Rechts auf Beweis geht auch Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 58 ff. und S. 167 ff. 39 Vgl. zu den wesentlichen Prozesszwecken BGH NJW 2005, S. 291, 293 und Stein/Jonas-Brehm, ZPO I, Einleitung vor § 1, Rn. 5 ff. (Durchsetzung privater Rechte); Pohle, JZ 1956, S. 53, 56 (Bewährung des materiellen Rechts); Arens, AcP 173 (1973), S. 250, 258 (Rechtsfrieden); Pagenstecher, materielle Rechtskraft, S. 302 ff. (Wahrheitserforschung) jeweils mwN.; zahlreichen weitere Nachweise finden sich bei Gaul, AcP 168 (1968), S. 27 ff. und Cahn, AcP 198 (1998), S. 35, 42 f. 40 Vgl. bereits die ersten Ansätze in der Entscheidung BGH NJW 1953, S. 1830, 1831; in neuerer Zeit explizit BGH NJW 2005, S. 291, 293; aus der Literatur vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 5 ff.; ebenso auch Stürner, FS-Baumgärtel, S. 545 f.; Meyer, JR 2004, S. 1, 6 und MüKo-Lüke, ZPO I, Einleitung, Rn. 8 f.; sehr ausführlich Stein/Jonas-Brehm, ZPO I, Einleitung vor § 1, Rn. 5 ff.
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noch darf man Ursache und Wirkung an dieser Stelle nicht verkennen. Der Zivilprozess ist zunächst einmal ein Streit zweier Privatpersonen über einen rein privaten Sachverhalt. Die privaten Parteien beginnen diesen Prozess mit dem Ziele, ihre eigene Rechtsposition – von deren Bestehen sie überzeugt sind – durchsetzen zu können und treiben den Prozess mit dieser Zielsetzung in der Folge voran. Weiterreichende Ziele, die allein der Allgemeinheit zu Gute kommen, werden von den Parteien mit ihrem eigenen „kleinen“ Zivilprozess regelmäßig wohl weder mitbedacht noch intendiert. Dabei ist es selbstverständlich nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr wünschenswert, dass ein Zivilprozess auch diesen weiterreichenden Zielen dient. Es erscheint jedoch fernliegend, in einem als Parteiprozess ausgestalteten Zivilprozess über private Rechte in erster Linie einen an der Allgemeinheit orientierten Zweck zu sehen. Jedenfalls als primärer Prozesszweck erscheinen solche – regelmäßig wohl nicht intendierten Ziele – kaum vertretbar. Hinzu kommt, dass sich die Vertreter derartiger Prozesszwecke fragen lassen müssen, ob der Zivilprozess die richtige Plattform für die Durchsetzung derartiger Zwecke ist. Die Bewährung der Rechtsordnung oder auch die Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden sind originär staatliche Aufgaben, die nicht auf Private im Rahmen eines Zivilprozesses abgewälzt werden sollten. Den Gerichten fehlt hierfür wohl bereits das entsprechende Instrumentarium. Doch selbst, wenn man ihnen diese Instrumente an die Hand geben würde, müsste man sich fragen lassen, ob die Gerichte für diese Aufgaben tatsächlich die richtige, demokratisch hinreichend legitimierte Instanz wären.41 Die grundlegenden Staatsfunktionen der Bewährung unserer Rechtsordnung, der Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden wie auch der Entwicklung unseres Rechts sollten in erster Linie von den demokratisch unmittelbar legitimierten Institutionen vollzogen werden. Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht wünschenswert ist, wenn ein Zivilprozess diese Ziele gleichfalls fördert. Diese grundlegenden Ziele sollten prinzipiell durch alle staatlichen Gewalten mitverfolgt werden. Wenn es nun aber um den primären Zweck eines Zivilprozesses zwischen zwei Privaten geht, so muss man nach hier vertretener Ansicht konstatieren, dass dieser primäre Prozesszweck eines Zivilprozesses in der Durchsetzung privater Rechte zu sehen ist. Alle weiteren Zwecke können als Nebenzwecke mitverfolgt oder als positive Nebeneffekte angesehen werden. Primärer Prozesszweck ist und bleibt indes die Durchsetzung privater Rechte.42 Dieser Prozesszweck ist somit auch für die Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis zugrunde zu legen.
In Ansätzen ähnlich die Überlegungen von Meyer, JR 2004, S. 1, 4 mwN. In diesem Sinne auch BGH NJW 2005, S. 291, 293; ausführlich Stürner, FS-Baumgärtel, S. 545 ff.; Stein/Jonas-Brehm, ZPO I, Einleitung vor § 1, Rn. 5 ff. und Rosenberg/Schwab/Gott wald, ZPR, § 1, Rn. 5 ff. jeweils mwN. 41 42
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bb) EMRK und GRC: Maßgeblichkeit des jeweiligen nationalen Prozesszwecks Die Bestimmung der entsprechenden Prozesszwecklehre für die europäischen Grundrechtsordnungen erscheint auf den ersten Blick deutlich herausfordernder: Die Vertragsstaaten der EMRK bilden einen eher losen Verbund, dessen „Zusammenhalt“ sich alleine aus den gemeinsamen Gewährleistungen der EMRK speist und zugleich darauf beschränkt. Grundlegende Aussagen zum Zivilprozess werden nicht getroffen. Auf Ebene der Europäischen Union stellt die justizielle Zusammenarbeit einen wichtigen Grundpfeiler dar und es wurden in jüngerer Zeit einige Verordnungen erlassen, die das Zivilprozessrecht betrafen.43 Der Weg von diesen einzelnen Regelungen hin zu einem umfassenden, europäischen Zivilprozessrecht erscheint jedoch bedauerlicherweise noch weit. Wenn es nun aber an einem Prozessrecht fehlt, so kann es auch keine Bestimmung von Sinn und Zweck eines solchen, europäischen Zivilprozesses geben. Vielmehr muss dieser Prozesszweck zur Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis von außen in die europäischen Grundrechtsordnungen hineingetragen werden. Nach hier vertretener Ansicht bestimmt sich der Prozesszweck anhand des jeweiligen nationalen Prozesszweckes derjenigen Prozessordnungen, für die die europäischen Grundrechtsordnungen letztlich Anforderungen in Form von prozessualen Garantien für die Parteien aufstellen. Dagegen ließe sich zwar einwenden, dass eine Abhängigkeit der europäischen Grundrechtsordnungen vom nationalen Recht entstehen würde. Dieser Einwand ist seinem Grunde nach korrekt, doch bleibt die eigentliche Problematik bestehen, dass die Bestimmung eines Prozesszweckes ohne Prozessordnung kaum praktikabel ist. Zudem würde man einen rein abstrakten, sozusagen „freischwebenden“ Prozesszweck entwerfen, ohne jeden praktischen Bezug oder eine Anwendungsmöglichkeit. Hinzu kommt, dass ein solcher Verweis auf das nationale Recht den europäischen Grundrechtsordnungen in ihrer Auslegung durch EGMR und EuGH nicht fremd ist: Gerade in Bezug auf das Beweisrecht stellen EGMR und EuGH die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten heraus.44 Ähnliches gilt etwa bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache.45 Dieser Fall illustriert zugleich anschaulich die dortig parallel verlaufende Problematik: Eine Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit setzt einen Schluss vom jeweiligen materiellen Recht auf die entsprechenden Tatsachen voraus. Mithin bedarf 43 Siehe etwa die EuGVVO, ABl.EU. 2001, Nr. L-12, S. 1 ff.; die EuBVO, ABl.EU 2001, Nr. L-174, S. 1 ff., die EuZVO, ABl.EU 2001, Nr. L-324, S. 79 ff. und die EuMahnVO, ABl.EU 2006, Nr. L-399, S. 1 ff. 44 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, Dombo Beheer B.V. ./. NL, Rn. 31 ff. = NJW 1995, S. 1413 ff.; ebenso EGMR, Urteil vom 21.01.1999, Garcia Ruiz ./. ESP, Rn. 28 = NJW 1999, S. 2429 f. und den Verweis auf die EMRK durch EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75 ff. – Steffensen. 45 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 12.09.2003, 35968/97, Van Kück ./. GER, Rn. 47 ff. und EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75 – Steffensen.
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es dort – ähnlich der Prozesszwecklehre – zwingend des einzelstaatlichen Rechts. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, in dem es ein entsprechendes gemeinsames europäisches Recht gibt, an dessen Inhalt man sich orientieren könnte. Außerdem erscheint eine Orientierung am nationalen Prozesszweck dahingehend konsistent, dass die europäischen Grundrechtsordnungen ihre Gewährleistungen ja gerade für diejenigen Prozessparteien aussprechen, die dieser jeweiligen Prozessordnung unterfallen. Die Bestimmung, welchen Umfang die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis haben müssen, um die Möglichkeit eines effektiven Rechtsnachweises der Parteien zu sichern, kann letztlich nur auf Basis der nationalen Prozessordnungen bestimmt werden. Abschließend ist der nun zugrunde gelegte Prozesszweck der Durchsetzung privater Rechte durchaus naheliegend für eine jede Prozessordnung. Wenngleich man einen Zivilprozess – mit einigem Argumentationsaufwand – sicherlich auch mit öffentlichen Zwecken „aufladen“ kann, so wird der Sinn und Zweck, den die prozessierenden Parteien in einem Zivilprozess sehen, regelmäßig zumindest einen der primären Prozesszwecke in jeder Prozessordnung darstellen.46 Auch für die Herleitung des Rechts auf Beweis in den europäischen Grundrechtsgarantien liegt dieser Schluss nahe: Die Herleitung aus den Grundrechten und ihre Effektuierung zeigen den Zusammenhang mit der privaten (Grund-) Rechtsdurchsetzung deutlich auf. Die weitere Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip könnte zwar für andere, öffentliche Zwecke eines Zivilprozesses sprechen. Doch bezieht sich die Herleitung des Rechts auf Beweis aus dem Rechtsstaatsprinzip auch für EMRK und Grundrechtecharta in erster Linie auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes des einzelnen Grundrechtsberechtigten zur Durchsetzung seiner (Grund-) Rechte, so dass auch an dieser Stelle der Zusammenhang zwischen Recht auf Beweis und privater Rechtsdurchsetzung deutlich wird. Somit weist auch die dogmatische Herleitung klar den Weg hin zum Prozesszweck der Durchsetzung privater Rechte. Dieser Prozesszweck ist daher nach hier vertretener Auffassung der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis in alle drei Grundrechtsordnungen zugrunde zu legen. cc) Der abstrakte Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis Die konkrete Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis erfolgt hiernach unter konsequenter Beachtung des Prozesszweckes der Durchsetzung privater Rechte. Der Inhalt des Rechts auf Beweis reicht somit in allen drei Grundrechtsordnungen exakt so weit, wie es für den effektiven Nachweis eigener Rechte der Parteien als Grundlage ihrer prozessualen Durchsetzung erforderlich ist. Den Parteien des Zivilprozes46 Vgl. etwa zur verfassungsrechtlichen Absicherung dieses Prozesszweckes im deutschen Recht Stürner, FS-Baumgärtel, S. 545 ff.; ausführlich zum Eigenwert der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit im Zivilprozess auch ders, Prozessrecht und materielles Recht, S. 359, 365 ff. mwN.
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ses müssen diejenigen Gewährleistungen an die Hand gegeben werden, die ihnen einen effektiven Rechtsnachweis und eine effektive Rechtsdurchsetzung ermöglichen. Bereits an dieser Stelle soll einem etwaigen Missverständnis vorgebeugt werden: Die Parteien erhalten durch das Recht auf Beweis gerade kein Recht auf ein bestimmtes Ergebnis der Beweisaufnahme. Das Recht auf Beweis gewährleistet bestimmte Verfahrensabläufe und eine effektive Mitwirkungsmöglichkeit der Parteien an einem Zivilprozess. Die Parteien erhalten aber gerade kein Recht auf einen Prozessgewinn. Die Parteien müssen ihre Beweismittel grundsätzlich selbst zusammentragen und ihre Einführung in den Prozess beantragen. Sodann muss ihnen aber grundsätzlich auch eben diese Möglichkeit gewährt werden. Auch haben die Parteien kein Recht auf eine bestimmte Überzeugungsbildung des Gerichts im Rahmen der Beweiswürdigung. Allerdings muss auch hier ein bestimmter Rahmen eingehalten werden, um Willkür auszuschließen und den Parteien – zumindest abstrakt gedacht – die Möglichkeit zu geben, das Gericht zu überzeugen und in diesem Prozess zu obsiegen. Die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis bezwecken es in allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen allein den Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen ein Prozessgewinn bei entsprechender Betätigung der Parteien abstrakt gedacht möglich ist. Dieser Prozesszweck einer Rechtsdurchsetzung mithilfe eines effektiven Rechtsnachweises geht nach hier vertretener Auffassung in seinem gedachten Idealbild einher mit der Erforschung des wahren, der materiellen Rechtslage entsprechenden Sachverhaltes. Das Recht auf Beweis soll in diesem Idealbild dem effektiven Nachweis und der Durchsetzung tatsächlich bestehender, materieller Rechte dienen und gerade nicht eine der materiellen Rechtslage zuwiderlaufende Entscheidung fördern. Daher wird der Wert eines Gewährleistungsgehaltes des Rechts auf Beweis stets auch im Hinblick auf die Wahrheitserforschung im Zivilprozess mitbedacht. Allerdings handelt es sich bei dem Recht auf Beweis nach hier vertretener Ansicht um ein subjektives, prozessuales Grundrecht der Parteien des Zivilprozesses. In diesem Sinne kommt dem eher objektiv-rechtlich orientierten Grundsatz der Wahrheitserforschung nur eine ergänzende Bedeutung gegenüber dem vorrangigen, subjektiven Gehalt des Rechts auf Beweis zu. Relevant wird diese Reihung für Fallgestaltungen, in denen es den Handlungen der Parteien obliegt, ihren Rechtsnachweis und damit zugleich die Wahrheitserforschung nach ihrem Willen voranzutreiben. So kann eine Prozesspartei das Bestreiten einer Tatsache entgegen der tatsächlichen, materiellen Rechtslage unterlassen. Für das Recht auf Beweis iSe Rechts auf effektiven Rechtsnachweis genügt es in diesem Falle, dass eine effektive Möglichkeit des Bestreitens gewährleistet wird. Wenn eine Partei diese Möglichkeit ungenutzt lässt und eine Tatsache hiernach entgegen der materiellen Rechtslage der Entscheidung zugrunde gelegt wird, so ist das Recht auf Beweis iSe subjektiven Rechts auf effektiven Rechtsnachweis hierdurch nicht tangiert. Idealbild des Rechts auf Beweis bleibt nach hier vertretener Auffassung jedoch dessen ungeachtet ein Recht auf ef-
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fektiven Rechtsnachweis, welches mit der Wahrheitserforschung im Zivilprozess grundsätzlich einhergeht. Zusammenfassend reichen die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis exakt so weit wie erforderlich, um den Parteien eines Zivilprozesses eine effektive Nachweismöglichkeit eigener Rechte an die Hand zu geben.
6. Das Recht auf Beweis als Gewährleistung effektiven Nachweises eigener Rechte in einem Parteiprozess Abschließend wird das Recht auf Beweis in dieser Arbeit verstanden als die Gewährleistung eines Rechts auf effektiver Beweisführung der Parteien des Zivilprozesses und damit letztlich allein als Ermöglichung eben dieser aktiven Beweisführung. Dem Recht auf Beweis liegt hiernach das Bild eines Zivilprozesses als Parteiprozess zugrunde, innerhalb dessen die Prozessparteien selbst aktiv zur Durchsetzung ihrer eigenen Rechte beitragen müssen. Dieses Bild des Zivilprozesses als Parteiprozess entspricht dem Leitbild der deutschen ZPO unter Geltung des Dispositions- und Beibringungsgrundsatzes und hat auch in Art. 2 I GG eine gewisse Absicherung erfahren.47 In Ermangelung eines europäischen Prozessrechts kann auch insoweit allein diese Art des Prozesses maßgeblich sein. Zumal die Ausgestaltung des Zivilprozesses als Parteiprozess rechtsvergleichend eher die Regel als die Ausnahme bildet.48 Und auch rechtshistorisch gesehen war der Parteiprozess als Ausdruck einer liberalen Gesellschaft.49 Daher ist für die nachfolgende Untersuchung im Hinblick auf das Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta insgesamt vom Bild eines Parteiprozesses auszugehen. Hieraus folgt, dass das Recht auf Beweis grundsätzlich keinen Rechtsnachweis ohne eigene, diesbezügliche Aktivitäten der Prozessparteien fordert. Vielmehr erhalten die Parteien durch das Recht auf Beweis eine Vielzahl an Gewährleistungen, um diese Aktivitäten überhaupt erst zu ermöglichen und in ihren Wirkungen sodann effektiv zu gestalten. Doch die aktive Führung eines Rechtsnachweises als solche muss den Prozessparteien zumindest qua Recht auf Beweis gerade nicht abgenommen werden. Die Parteien müssen vielmehr für den Nachweis ihrer eigenen Rechte selbst aktiv werden. Dieses Grundverständnis des Rechts auf Beweis als Gewährleistung effektiver Nachweismöglichkeiten in einem Parteiprozess ist für die weitere Untersuchung im Blick zu behalten und wird an einigen Stellen der Arbeit Bedeutung erlangen.
47 Vgl. dazu bereits die differenzierenden Ausführungen von Stürner, FS-Baur, S. 647, 650 ff. mit zahlreichen Nachweisen; für eine Absicherung auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 1, Rn. 28. 48 Ausführlich aus rechtsvergleichender Sicht etwa Stürner, FS-Heldrich, S. 1061 ff. und ders., FS-Kollhosser, Bd. 2, S. 727 ff. jeweils mwN. 49 Vgl. die Ergebnisse von § 2 V. 4.
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Aufgrund dieses Verständnisses unterscheidet sich das hier untersuchte Recht auf Beweis im Zivilprozess zudem von solchen Prozessen, die dem Untersuchungsgrundsatz folgen und eine Beweiserhebung von Amts wegen durch das erkennende Gericht beinhalten.50 Im Übrigen lassen sich die nachfolgenden Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis in der Regel auch auf einen Prozess mit Untersuchungsgrundsatz übertragen. Insoweit gilt es zu bedenken, dass die Parteien trotz einer Amtsermittlung letztlich das Risiko der Nichterweislichkeit der für sie günstigen Tatsachen tragen. Allein an einigen wenigen Stellen unterscheidet sich das hier verstandene Recht auf Beweis daher auf Grund des Erfordernisses aktiver Beweisführung der Prozessparteien von einem Prozess mit Untersuchungsgrundsatz.
7. Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis Diese Methodik der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis anhand des Prozesszweckes gewährt nicht nur einen Maßstab für die inhaltliche Konkretisierung des Rechts auf Beweis, sondern zeigt letztlich auch seine Grenzen auf. a) Die Existenz immanenter Grenzen des Rechts auf Beweis Daher gilt es eine erste Unterscheidung einzuführen: Das Recht auf Beweis hat eine ganze Reihe von „externen“ Grenzen iSd Möglichkeit einer rechtmäßigen Einschränkung unter Abwägung mit gegenläufigen Grundrechten bzw. Allgemeingütern gleichen Ranges.51 Daneben existieren jedoch nach hier vertretener Ansicht auch eine Reihe eng gefasster Begrenzungen, die dem Recht auf Beweis als solchem immanent sind. Aus der Orientierung am Prozesszweck der Durchsetzung subjektiver Rechte ergibt sich, dass bestimmte Beweisanträge gar nicht erst am Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis teilhaben. b) Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis Man könnte diese immanenten Grenzen auch als Voraussetzungen für eine Beweiserhebung bezeichnen, die dem Recht auf Beweis selbst immanent sind. Zentrales Zulassungskriterium, mithin zentrale Voraussetzung einer Beweiserhebung ist die Entscheidungserheblichkeit des beantragten Beweisthemas.52 Hinzu kommen die weiteren Kriterien der Beweisbedürftigkeit eines Beweisthemas, der Substantiie-
50 Ausführlich zum Recht auf Beweis unter Geltung des Untersuchungsgrundsatzes Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 45 ff. mwN. 51 Zur diesbezüglichen Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis siehe unten § 8. 52 In diese Richtung tendiert bereits Habscheid, ZZP 96 (1986), S. 306, 311; einen Teil dieser Kriterien unter den sachlichen Geltungsbereich des Rechts auf Beweis subsumierend, Kofmel, Recht auf Beweis, S. 23 ff.
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rung eines Beweisantrages sowie der Eignung und Erreichbarkeit beantragter Beweismittel.53 c) Die argumentative Begründung immanenter Grenzen des Rechts auf Beweis Diesen immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis ist gleichsam ein Aspekt gemein: Es werden Beweismittel aus dem Schutzbereich des Rechts auf Beweis ausgeschlossen, die für den Rechtsnachweis der Parteien keinen Wert innehaben und nach dem Sinn und Zweck des Prozesses und damit letztlich auch nach dem Recht auf Beweis keiner Erhebung bedürfen: Der Beweis einer unerheblichen, nicht hinreichend substantiierten oder nicht beweisbedürftigen Tatsache hat ebenso wenig eine positive Auswirkung auf den Rechtsnachweis einer Partei, wie der Versuch eines Beweises mit einem ungeeigneten oder faktisch nicht erreichbaren Beweismittel. Diese immanenten Grenzen sind nach hier vertretener Auffassung sehr eng gefasst und orientieren sich allein an den faktischen Möglichkeiten und naturgesetzlichen Vorgaben in Bezug auf Beweisthema und Beweismittel. Es geht in diesen Fällen gerade nicht um eine Abwägung zwischen verschiedenen Rechten als Grundlage für eine Zulassung oder Ablehnung von Beweisanträgen. Die immanenten Grenzen schließen keine Beweismittel aus, die für eine Partei grundsätzlich von Wert wären, aber aufgrund überwiegender Gegenrechte unberücksichtigt bleiben müssen. Die hier zu betrachtenden, immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis betreffen allein Beweisanträge über Beweismittel, die aus verschiedenen Gründen von vornherein keinerlei Wert für den Rechtsnachweis einer Partei haben. Man mag eine solche Unterteilung zwischen immanenten Grenzen und Einschränkungen des Rechts auf Beweis als eine bloße dogmatische Spielerei ansehen. Indes macht es nach hier vertretener Auffassung durchaus einen wertungsmäßigen Unterschied, ob das beantragte Beweisthema bzw. Beweismittel von vornherein keinerlei Einfluss auf den Rechtsnachweis einer Partei haben könnte oder ein solcher Beweisantrag abgelehnt wird, der für den Rechtsnachweis und damit die Rechtsdurchsetzung einer Partei im Einzelfall bedeutsam wäre. In der ersten Konstellation wäre der Gewährleistungsgehalt Rechts auf Beweis im Hinblick auf den Prozesszweck der Rechtsdurchsetzung gar nicht eröffnet, während in letzterem Fall eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des Rechts auf Beweis vorliegen würde. Nun könnte man zwar die immanenten Grenzen unter die allgemeine Möglichkeit fassen, das Recht auf Beweis einzuschränken und zu einer umso einfacheren Rechtfertigung dieser Einschränkung gelangen. Dennoch betreffen diese benannten Fallkonstellationen nach hier vertretener Ansicht schlicht andere Fälle: Eine Einschränkung des Rechts auf Beweis setzt stets eine Abwägung verschiedener Werte und Prinzipien voraus. Diese Abwägung findet in den Fallkonstellationen der entwickelzu den weiteren Teilgehalten der Beweisbedürftigkeit Habscheid, ZZP 96 (1986), S. 306, 310 ff. 53 Vgl.
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ten immanenten Grenzen gerade nicht statt, da bereits auf Seiten des Rechts auf Beweis kein entsprechender Wert in die Abwägung eingestellt werden kann. Die dogmatische Figur der immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis macht diese Unterscheidung deutlich. Darüber hinaus zeigt sich auch eine praktische Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen von Grenzen: Die rechtfertigungsbedürftigen Einschränkungen des Rechts auf Beweis müssen stets auf einer entsprechenden gesetzlichen Regelung basieren.54 Demgegenüber begrenzen die immanenten Grenzen bereits den Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis selbst. Daher bedarf die Ablehnung entsprechender Beweisanträge innerhalb der immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis per Se keiner gesetzlichen Grundlage – wenngleich eine solche Rechtsgrundlage für das deutsche Zivilprozessrecht zur Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit durchaus wünschenswert wäre.
III. Die Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas als zentrale, immanente Grenze des Rechts auf Beweis Die erste und zugleich wichtigste immanente Grenze des Rechts auf Beweis ist in der Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas zu erblicken. Dieses Kriterium stellt sozusagen die erste Voraussetzung dafür dar, dass ein Beweisantrag überhaupt am Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis partizipiert. Dieses Kriterium wird nun in Rechtsprechung und Literatur zu Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta untersucht. Sodann soll unter Einbeziehung rechtsvergleichender Elemente des U.S.-amerikanischen Rechts eine eigene Ansicht zum Kriterium der Entscheidungserheblichkeit entwickelt werden.
1. Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit in EMRK und GRC In der Rechtsprechung von EGMR und EuGH nimmt die Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas eine bedeutende Rolle ein: Die beiden europäischen Gerichtshöfe erkennen ein subjektives Recht der Parteien auf eine gerichtliche Erhebung der von ihnen beantragten Beweismittel in einer Reihe von Entscheidungen durchaus an.55 Allerdings schränken sie dieses Recht dahingehend ein, dass die Be-
54 Ausführlich
zu diesem Erfordernis der Einschränkbarkeit des Rechts auf Beweis § 8 III. 2. d. Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 19.04.1993, 13942/88, Kraska ./. CH, Rn. 30 ff.; ebenso in EGMR, Urteil vom 19.04.1994, 16034/90, Van de Hurk ./. NL, Rn. 59 ff.; deutlich in diese Richtung auch EGMR, Urteil vom 18.10.2006, 63566/00, Pronina ./. UKR, Rn. 25; zur GRC in diese Richtung EuGH, Rs. C-189/02, Slg. 2005, I-05425, Rn. 66 ff. – Danks Rorindustri u. a. / Kommis sion und EuGH Rs. C-137/07, Rn. 318 ff. – Österreichische Volksbanken / Kommission; ähnlich EuGH Rs. C-89/08, Slg. 2009, I-11245, Rn. 50 ff. – Kommission / Irland u. a. 55
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weismittel eine entscheidungserhebliche Tatsache betreffen müssen.56 Diese Sichtweise wird auch in der jeweiligen Literatur geteilt.57 Indes stellen weder EGMR noch EuGH Kriterien für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit auf.58 Vielmehr zeigt sich, dass die Frage der Entscheidungserheblichkeit maßgeblich durch das jeweilige materielle Recht der einzelnen Konventions- bzw. Mitgliedstaaten bestimmt wird: Daher gehen EGMR und EuGH konsequenterweise davon aus, dass die Erheblichkeitsprüfung eine Ermessensentscheidung des erkennenden nationalen Gerichts sei.59 EuGH und EGMR beschränken sich auf eine anschließende Prüfung, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit, also mitsamt dieser Ermessensentscheidung über die Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache, fair iSd Art. 6 I EMRK bzw. des Art. 47 II S. 1 GRC war.60 Allerdings stellen EGMR und EuGH auch an diese Überprüfung der Entscheidungserheblichkeit am Maßstab der allgemeinen Verfahrensfairness nur geringe Anforderungen: a) Das Kriterum der Entscheidungserheblichkeit in der EMRK Der EGMR betont stets die Freiheit der Ermessensentscheidung des erkennenden Gerichts über die Frage der Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache.61 Die vorbehaltene Prüfung der Verfahrensfairness insgesamt beschränkt sich grundsätzlich auf die Forderung nach einer angemessenen Begründung, die bei Ermessensentscheidungen regelmäßig ausführlicher ausfallen muss.62 56 Vgl. für die EMRK wiederum EGMR, Urteil vom 19.04.1993, 13942/88, Kraska ./. CH, Rn. 30 ff.; EGMR, Urteil vom 19.04.1994, 16034/90, Van de Hurk ./. NL, Rn. 59 ff.; EGMR, Urteil vom 24.08.2005, 61302/00, Buzescu ./. RO, Rn. 63 ff. und für die GRC: EuGH Rs. C-204/00, Slg. 2004, I-00123, Rn. 63 ff. und 160 – Aalborg Portland u. a. / Kommission; EuGH Rs. C-189/02, Slg. 2005, I-05425, Rn. 66 ff. – Danks Rorindustri u. a. / Kommission; EuGH Rs. C-137/07, Rn. 318 ff. – Österreichische Volksbanken / Kommission; EuGH Rs. C-239/11, Rn. 321 ff. – Siemens / Kom mission. 57 Siehe etwa Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 165; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 69 für die EMRK und Frenz, Handbuch Europarecht S. 1526 f. und Jarass, NJW 2011, S. 1393, 1397 für die GRC. 58 Andeutungsweise EuGH, Rs. C-221/97, Slg. 1998, I-08255, Rn. 24 f. – Schröder und Tha mann / Kommission mit dem Verweis darauf, dass der Ausgang des Verfahrens hätte beeinflusst werden müssen. 59 Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 12.09.2003, 35968/97, Van Kück ./. GER, Rn. 47 ff. und den Verweis auf die EMRK durch EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75 – Steffensen. 60 Siehe erneut EGMR, Urteil vom 12.09.2003, 35968/97, Van Kück ./. GER, Rn. 47 ff. und EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75 – Steffensen für die GRC. 61 Vgl. wiederum EGMR, Urteil vom 19.04.1994, 16034/90, Van de Hurk ./. NL, Rn. 59 ff. und EGMR, Urteil vom 24.08.2005, 61302/00, Buzescu ./. RO, Rn. 63 ff. 62 Eine angemessene Begründung wird im Fall, EGMR, Urteil vom 24.08.2005, 61302/00, Buzescu ./. RO, Rn. 63 ff. gefordert; zu Begründungspflichten bei Ermessensentscheidungen siehe auch EGMR, Urteil vom 23.06.1994, 16997/90, De Moor ./. B, Rn. 55; ebenso Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 24, Rn. 76.
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b) Das Kriterkum der Entscheidungserheblichkeit in der GRC Der EuGH stützt sich seinerseits ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EGMR.63 Ausgehend von diesem durch den EuGH entwickelten Parallelismus kommt dem erkennenden Gericht bei der Beurteilung der Erheblichkeit eines Beweismittels ein Ermessensspielraum zu. Allerdings verbleibt es auch für dieses Ermessen bei einer allgemeinen Kontrolle der Verfahrensfairness insgesamt.64 Der EuGH beschränkt sich in seinen Ausführungen auf dieses allgemeine Kriterium der Verfahrensfairness. Die Einzelheiten dieses Maßstabes leiten sich vielmehr aus der Rechtsprechung des EGMR zur EMRK ab, die nach Art. 52 III S. 1 GRC den rechtlichen Mindeststandard für die Grundrechtecharta bildet. Somit ist als Prüfungsmaßstab des EuGH gleichfalls lediglich eine angemessene Begründung der Ermessensentscheidung des erkennenden Gerichts zu fordern.65 Die Begründung dieser Ermessensentscheidung über die Erheblichkeit eines Beweismittels muss umso umfangreicher ausfallen, je weiter das Ermessen des erkennenden Gerichts reicht.66 c) Eigene Ansicht: Gleichlauf mit dem nationalen Recht Der Rechtsprechung von EGMR und EuGH ist in ihrem Grundsatz zuzustimmen. Die Frage der Entscheidungserheblichkeit richtet sich nach den Normen des nationalen, materiellen Rechts und muss durch das erkennende, nationale Gericht in einer Ermessensentscheidung bestimmt werden. Die Einheitlichkeit des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit folgt zudem konsequenterweise aus der gemeinsamen Wertebasis aller drei Grundrechtsordnungen. Allerdings ziehen die europäischen Gerichtshöfe die Grenze der Nachprüfbarkeit nach hier vertretener Ansicht zu eng. Die bloße Forderung nach einer Begründung der Ermessensentscheidung wird der Bedeutung der in Rede stehenden Grundrechte kaum gerecht. Vielmehr ist nicht ersichtlich, weshalb aus dem fairen Verfahren iSd Art. 6 I EMRK bzw. des Art. 47 II S. 1 GRC keine Überprüfbarkeit der Ermessensprüfung über die Entscheidungserheblichkeit folgen solle. EGMR und EuGH sehen 63 Vgl. bereits EuGH Rs. C-204/00, Slg. 2004, I-00123, Rn. 160 ff. – Aalborg Portland u. a. / Kommission; gleichfalls diesen Maßstab anlegend EuGH Rs. C-189/02, Slg. 2005, I-05425, Rn. 66 ff. – Danks Rorindustri u. a. / Kommission; EuGH Rs. C-137/07, Rn. 318 ff. – Österreichi sche Volksbanken / Kommission; EuGH Rs. C-239/11, Rn. 321 ff. – Siemens / Kommission; aus der Literatur Frenz, Handbuch Europarecht, S. 1524 f. mwN. 64 Vgl. zum Kriterium der Verfahrensfairness EuGH, Rs. C-189/02, Slg. 2005, I-05425, Rn. 66 ff. – Danks Rorindustri u. a. / Kommission; ebenso EuGH Rs. C-239/11, Rn. 321 ff. – Sie mens / Kommission mwN. 65 Siehe wiederum EGMR, Urteil vom 24.08.2005, 61302/00, Buzescu ./. RO, Rn. 63 ff. 66 Vgl. EuGH, Rs. C-258/90, Slg. 1992, I-02901, Rn. 26 – Pesquerias De Bermeo und Naviera Laida / Kommission; bestätigt in EuGH, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-05469, Rn. 14 – Technische Universität München / Hauptzollamt München-Mitte; aus der Literatur siehe etwa Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 24, Rn. 76.
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die Entscheidungserheblichkeit richtigerweise als zentrales Zulassungskriterium für Beweisangebote an. Sodann muss aber – ob seiner Bedeutung – auch eine entsprechende Überprüfbarkeit der Entscheidung über dieses Zulassungskriterium etabliert werden, um das Recht auf Zulassung von Beweismitteln nicht über dieses Nadelöhr leerlaufen zu lassen. Nach hier vertretener Ansicht folgt aus dem grundsätzlichen Verweis dieser Entscheidung auf das erkennende, nationale Gericht, dass die Überprüfbarkeit auf Ebene der EMRK bzw. der europäischen Grundrechtecharta grundsätzlich auch den Prüfungsstandard des nationalen Rechts wahren muss. Gerade im Hinblick auf das gemeinsame Wertefundament des Rechts auf Beweis erscheint es sachgerecht, die Überprüfbarkeit dieser wichtigen Entscheidung gleichsam auf einem gemeinsamen Fundament zu gründen. Die Bedeutung des Rechts auf Beweis ist in den europäischen Grundrechtsordnungen nicht geringer anzusehen als im deutschen Grundgesetz. Daraus folgt, dass nicht nur der Umfang der immanenten Grenze der Entscheidungserheblichkeit sich in allen drei Grundrechtsordnungen entspricht, sondern auch die dieser Grenze ihrerseits innewohnenden Schranken. Somit ergibt sich ein einheitlicher Maßstab der Entscheidungserheblichkeit für alle drei Grundrechtsordnungen gleichermaßen.
2. Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit im GG Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit nimmt auch im deutschen Recht eine große Rolle ein. Zwar wird die Entscheidungserheblichkeit nicht als einziges Zulassungskriterium für ein Beweismittel angesehen, doch auch nach Rechtsprechung und Literatur nimmt dieses Kriterium eine exponierte Stellung ein.67 Einer jeden Bewertung der Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas vorgelagert sind Informationspflichten des erkennenden Gerichts darüber, welche Tatsachen im konkreten Fall nach seiner Rechtsauffassung tatsächlich erheblich sind: Ein solches Recht der Parteien auf Information über die Frage der Entscheidungserheblichkeit von Tatsachen wird einhellig anerkannt. Mit diesem Recht korrespondiert zugleich eine entsprechende Informationspflicht des Gerichts.68 Konkret verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass „der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann.“69 Das Gericht darf hiernach nicht ohne vorherige 67
Vgl. zum Kriterium der Entscheidungserheblichkeit bereits BVerfGE 50, S. 32, 35 f.; ausführlich auch BVerfGE 106, S. 28, 48 ff. und BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586; in diesem Sinne bereits BGHZ 53, S. 245, 259 ff. im berühmten Anastasia-Urteil; siehe auch BGH NJW 1996. S. 394; aus der Literatur siehe etwa Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 72 ff. und Musielak/ Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 19 jeweils mwN. 68 Vgl. bereits BVerfGE 84, S. 188, 190; bestätigt etwa in BVerfG-K 1, S. 189, 191. 69 So die explizite Formulierung in BVerfGE 84, S. 188, 190; bestätigt sodann in BVerfGE 89, S. 28, 35; in neuer Zeit siehe BVerfG-K 12, S. 346, 352 f.
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Information auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen, „mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßbeteiligter – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nach dem bisherigen Prozeßverlauf nicht zu rechnen brauchte.“70 Einschränkend wird vom Verfassungsgericht grundsätzlich weder ein Rechtsgespräch durch das Gericht, noch ein Hinweis auf seine Rechtsauffassung verlangt.71 In der Literatur treffen diese Anforderungen vielfach auf Zustimmung.72 Teilweise werden weitergehende Informationsrechte bis hin zu einem Rechtsgespräch gefordert.73 a) Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer Tatsachen Die Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer Tatsachen ist in aller Regel unproblematisch zu bestimmen und wird in Rechtsprechung und Literatur daher kaum näher behandelt.74 Die Entscheidungserheblichkeit ergibt sich hierbei unmittelbar aus den Rechtsnormen, die auf den Prozess Anwendung finden: Schlüssig ist eine Klage, wenn die behaupteten Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz das behauptete Recht als in Person des Klägers entstanden erscheinen lassen.75 Diejenigen Tatsachen, die diesem Rechtssatz als Tatbestandsmerkmale zugrunde liegen, sind somit erheblich für die Entscheidung.76 Die unmittelbaren Tatsachen ergeben sich mithin direkt aus der auf den Sachverhalt anzuwenden Rechtsnorm. Wenn ein Beweisantrag auf den Nachweis einer solchen, unmittelbaren Tatsache zielt, handelt es sich zugleich um den Antrag auf Nachweis einer entscheidungserheblichen Tatsache.77 b) Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen (Indizienbeweise) Die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen gestaltet sich naturgemäß deutlich schwieriger. Bei diesem sog. Indizienbeweis wird ein Beweis70
So weiterhin BVerfGE 84, S. 188, 190 und BVerfGE 89, S. 28, 35. Vgl. etwa BVerfGE 86, S. 133, 144 ff.; ebenso BVerfGE 98, S. 218, 263 und BVerfG NJW 1996, S. 3202. 72 Zustimmend etwa Waldner, rechtliches Gehör, S. 82 ff. und Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 82, Rn. 14 jeweils mwN. 73 In diesem Sinne bereits Arndt, NJW 1959, S. 1297, 1298 f.; ebenso Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 233 f. 74 Siehe aber die Definition in BGH NJW 1999, S. 1859, 1860; ähnlich bereits Schönke, FG-Rosenberg, S. 217, 222; siehe auch Stein/Jonas-Thole, ZPO, § 284 Rn. 73 ff. und MüKo-Wagner, ZPO I, § 138, Rn. 18. 75 Diese Definition der Schlüssigkeit findet sich etwa bei BGH NJW-RR 1995, S. 722; ebenso BGH NJW 2005, S. 2710, 2711; aus der Literatur siehe etwa Stein/Jonas-Roth, ZPO IV, § 253, Rn. 54 und Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 95, Rn. 19. 76 Eben diese Verbindung von Schlüssigkeit und Erheblichkeit zieht BGH NJW 1999, S. 1859, 1860; ähnlich auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 12, Rn. 35 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 73 ff. 77 In diesem Sinne etwa Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 73. 71
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antrag über eine Tatsache gestellt, die nicht zum Tatbestand einer für die Entscheidung relevanten Rechtsnorm selbst gehört. Vielmehr wird der Nachweis einer anderen Tatsache beantragt, über deren positiven Nachweis sodann auf eine unmittelbare Tatsache geschlossen werden soll.78 Es gilt bei Indizienbeweisen also nicht allein den Zusammenhang zwischen unmittelbarer Tatsache und relevanter Rechtsnorm zu beurteilen, sondern einen zweiten, schwierigeren Zusammenhang im Blick zu haben: Den Schluss von einer Hilfstatsache auf die eigentliche, unmittelbare Tatsache.79 Rechtsprechung und Literatur fordern vom erkennenden Gericht bei der Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit einer mittelbaren Tatsache eine Schlüssigkeitsprüfung: Das Gericht muss anhand entsprechender Erfahrungssätze überprüfen, ob ein Schluss von der Hilfstatsache auf die Haupttatsache – also die unmittelbare, im Tatbestand der Rechtsnorm enthaltene Tatsache – möglich ist.80 Falls ein solcher Schluss möglich ist, so liegt die Entscheidungserheblichkeit vor, im Übrigen ist der Beweisantrag abzuweisen.81 Bei dieser Schlüssigkeitsprüfung soll das Gericht in erster Linie auf Natur- und Denkgesetze und sodann auch auf die allgemeine Lebenserfahrung und entsprechende Erfahrungssätze zurückgreifen.82 Letztlich trifft das erkennende Gericht eine Ermessensentscheidung über den in Rede stehenden Zusammenhang zwischen Hilfs- und Haupttatsache.83
3. Rechtsvergleichend: Das Kriterium der relevance in Rule 401–403 FRE Im U.S.-amerikanischen Bundesrecht findet sich mit dem Kriterium der relevance ein ganz ähnliches Zulassungskriterium für Beweisanträge. Dieses Kriterium hat in Rule 401–403 FRE eine ausdrückliche gesetzliche Fundierung gefunden.84 Dieses Kriterium unterteilt sich seinerseits nach Rule 401 FRE in zwei Einzelkriterien: Das Kriterium des probative value weist Parallelen zur Beweiseignung nach deutschem Verständnis auf. Das Pendant der Entscheidungserheblichkeit im deutschen Recht findet sich im Kriterium der materiality.85 Allerdings stehen beide Kriterien in einem engen Zusammenhang zueinander und auch zum Kriterium der Entscheidungserheblichkeit nach deutschem Verständnis. 78 Ausführlich zur Funktionsweise des Indizienbeweises BGHZ 53, S. 245, 260 ff.; aus der Literatur Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 8, 15; ausführlich Nack, NJW 1983, S. 1035 ff. 79 Vgl. wiederum BGHZ 53, S. 245, 260 f. 80 So BGHZ 53, S. 245, 260 f.; in neuerer Zeit siehe BGH NJW 2012, S. 2427, 2431 jeweils mwN; aus der Literatur siehe Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 8, 15 und Musielak/VoitFoerste, ZPO, § 284, Rn. 7. 81 Vgl. wiederum BGHZ 53, S. 245, 260 f.; ebenso BGH NJW-RR 1993, S. 443. 82 Vgl. BGHZ 53, S. 245, 260 f.; in diese Richtung auch Schönke, FG-Rosenberg, S. 217, 223. 83 Vgl. BGHZ 53, S. 245, 260 f.; zur Überprüfbarkeit dieser Entscheidung siehe BGH NJW 2012, S. 2427, 2431 jeweils mwN. 84 Vgl. dazu bereits § 3 V. 1. 85 Vgl. wiederum § 3 V. 1.
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Die materiality meint den Zusammenhang zwischen der beantragten Beweistatsache und dem konkreten Fall. Diese Frage richtet sich nach U.S.-amerikanischem Verständnis nach dem zu Anfang des Prozesses vorgetragenen Begehren des Klägers und der Verteidigung des Beklagten in Verbindung mit dem materiellen Recht.86 Indes darf man nicht dem Irrtum unterliegen, den Begriff der materiality mit der Erheblichkeit unmittelbarer Beweistatsachen nach deutschem Verständnis gleichzusetzten. Vielmehr wird dieses Kriterium in der Praxis sehr weit ausgelegt. Erfasst werden nicht nur solche Tatsachen, die einen unmittelbaren Zusammenhang zum konkreten Fall aufweisen, sondern auch solche Tatsachen, die der jury ein besseres Verständnis anderer, entscheidungserheblicher Beweisangebote ermöglichen.87 Entscheidungserheblich können daher im Einzelfall auch solche Karten, Diagramme, Video- oder Tonaufnahmen sein, die allein einem besseren Verständnis des Zusammenhanges anderer Beweismittel dienen.88 Somit verläuft die Trennlinie nicht zwischen unmittelbaren und mittelbaren Tatsachen. Allerdings muss das Kriterium der materiality bei der Beurteilung mittelbarer Tatsachen im Zusammenhang mit dem Kriterium des probative value betrachtet werden: Der Begriff des probative value lässt sich am ehesten mit der Beweiseignung im deutschen Recht vergleichen, meint aber speziell die Beurteilung des Zusammenhanges zwischen Hilfs- und Haupttatsachen und den Rückschluss von der einen auf die andere Tatsache. Die Beurteilung des probative value in Rule 401 (a) FRE erfordert auch nach U.S.-amerikanischem Verständnis eine prognostische Entscheidung des Gerichts. Teilweise werden in der U.S.-amerikanischen Literatur mathematische Formeln für eine möglichst exakte Berechnung des hypothetischen Beweiswertes eines Beweisangebotes aufgestellt. Indes wird auch in der Diskussion in den USA letztlich zugegeben, dass das Gericht eine oftmals unsichere, wertende Prognose treffen muss.89 Diese Entscheidung orientiert sich an der allgemeinen Lebenserfahrung des Richters sowie an naturwissenschaftlichen und logischen Grundregeln und Zusammenhängen. Anhand dieser Kriterien gilt es für den Richter zu beurteilen, ob der angebotene Beweis hypothetisch dazu geeignet ist, die zu beweisende Tatsache mehr bzw. weniger wahrscheinlich erscheinen zu lassen.90 Doch auch dieses Kriterium wird in der Praxis sehr weit ausgelegt. Dafür wird gerade der Gesetzeswortlaut Vgl. den Fall Philips v. Western Co. of N. Am., 953 F.2d 923, 930; siehe auch Charles/Broun/ Dix, McCormick I, S. 994 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 174; Fishmann, Jones on Evidence II, S. 260 f. jeweils mwN. 87 Vgl. die Ausführungen des Supreme Court im Fall Old Chief v. United States, 519 U.S. 172, 186 ff.; 117 S.Ct. 644, 136 L.Ed.2d 574; Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 994 f. 88 Siehe Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 994 f. und Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 174 ff. 89 So insbesondere Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 995 ff.; ähnliche Überlegungen finden sich bei Friedman, 34 Hous.L.Rev. 55, 57 ff. 90 Vgl. zu diesen Kriterien Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1004; ähnlich Mueller/Kirk patrick, Evidence, S. 171 f. 86
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angeführt, dass eine geringfügige Wahrscheinlichkeit der Eignung des Beweismittels genügt (any tendency).91 Daher werden Beweisanträge nach diesem Zulassungskriterium nur selten abgelehnt. Problematisch können allein Angebote von Indizienbeweisen (circumstantial evidence) sein, wenn es sich um naturwissenschaftlich zweifelhafte Indizien handelt.92 Insgesamt stellt das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit nach U.S.-amerikanischem Verständnis durch seine weite Auslegung nur eine sehr geringe Zulassungshürde für Beweisanträge dar. Es soll an dieser Stelle der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, dass Rule 403 FRE ein weiteres Korrektiv der Beweiszulassung normiert. Diese Regelung sieht vor, dass jeder Beweisantrag sich im Rahmen der Prüfung seiner Zulassung einer Kosten-Nutzen-Analyse stellen muss. Diese Regelung hat in Rule 403 FRE die Sicherung der Effizienz der Justiz zum Ziel.93 Aufgrund dieses weiteren Korrektives relativiert sich die weite Auslegung des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit ein Stück weit. Allerdings ist zu der Auslegung dieser Kosten-Nutzen-Analyse wiederum festzuhalten, dass Beweismittel nur im Ausnahmefall abgelehnt werden. Ein Ausschluss kommt nur in Betracht, wenn die Gefahr einer Verzögerung den Nutzen des Beweismittels erheblich übersteigt. Diese Formulierung des Gesetzes spricht auch insoweit eine Zweifelsregel zugunsten der Zulässigkeit von Beweisanträgen aus. Hinzu kommt, dass die Gerichte die Effizienz der Justiz als ein „externes“ Merkmal erachten und dessen Wert deutlich geringer ansetzen, als die Zulassung von Beweismitteln, welche zur Wahrheitserforschung beitragen können.94 Mithin lässt sich für die Praxis festhalten, dass auch nach den Einschränkungsmöglichkeiten im Einzelfall nach Rule 403 FRE Beweisangebote im Zweifel als zulässig angesehen werden.95 Als Quintessenz lässt ist rechtsvergleichend zu konstatieren, dass das U.S.-amerikanische Recht von einer weiten Auslegung des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit ausgeht und Beweisanträge nur im Ausnahmefall von vornherein als unerheblich abgelehnt werden.
Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 170 ff.; kritisch zu dieser weiten Konzeption der Zulässigkeit von Beweismitteln Crump, 34 Hous.L.Rev. 1 ff. und Friedman, 34 Hous.L.Rev. 55 ff. 92 Vgl. zum Indizienbeweis und seinen Zulassungsanforderungen Fishman, Jones on Evidence II, S. 270 ff. und Charles/Broun/Dix, McCormick I, S. 1000 ff.; ausführlich zu den Beweisarten Patterson, 19 Vand.L.Rev. 1 ff. 93 Vgl. Fishmann, Jones on Evidence II, S. 284 f. und S. 312 f.; Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 198 f. 94 Eine sehr ähnliche Schlussfolgerung zieht Fishman, Jones on Evidence II, S. 312 f.; vgl. erneut den Fall United States v. Jamil, 707 F.2d 638, 642 ff. mwN. 95 Zu diesem Ergebnis kommen auch Mueller/Kirkpatrick, Evidence, S. 190 f. und Fishman, Jones on Evidence, S. 283 f. jeweils mwN. 91 Vgl.
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4. Eigene Ansicht: Die Entscheidungserheblichkeit eines Beweisthemas als immanente Grenze des Rechts auf Beweis Die Entscheidungserheblichkeit einer zum Nachweis gestellten Tatsache bildet nach hier vertretener Ansicht die zentrale, immanente Grenze des Rechts auf Beweis. Ein Beweisantrag über eine nicht entscheidungserhebliche Tatsache kann keinerlei Auswirkungen auf den Rechtsnachweis einer Partei und die gerichtliche Entscheidung zeitigen. Eine solche Beweiserhebung hätte nach Sinn und Zweck des Prozesses keinerlei Nutzen für die den Beweis beantragende Partei. Aus dieser generellen Zwecklosigkeit einer solchen Beweiserhebung für den Rechtsnachweis einer Partei folgt zugleich, dass die Entscheidungserheblichkeit eine Grenze darstellt, die dem Recht auf Beweis als solchem immanent ist. Nicht entscheidungserhebliche Beweis anträge nehmen nicht am Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis teil. Diese immanente Grenze des Rechts auf Beweis gilt für alle drei untersuchten Grundrechtsordnungen gleichermaßen. Diese große Bedeutung macht zugleich eine eingehende Analyse des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit erforderlich. Dabei werden Inhalt und Grenzen der Entscheidungserheblichkeit anhand von 4 Einzelpunkten erläutert: Den Informationsrechten der Parteien, der Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer und mittelbarer Tatsachen sowie dem Umfang des gerichtlichen Ermessens und seiner Nachprüfbarkeit. a) Informationspflichten des Gerichts über entscheidungserhebliche Tatsachen Die Prozessparteien haben als Teilgehalt des Rechts auf Beweis ein Recht auf Information über die entscheidungserheblichen Tatsachen des konkreten Falles. Mit diesem Recht korrespondiert eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Information der Parteien. Dieses Informationsrecht ist der eigentlichen Bewertung der Entscheidungserheblichkeit eines Beweisantrages vorgelagert und stellt die Basis für entsprechende beweisrechtliche Aktivitäten der Parteien im Zivilprozess dar: Das Gericht muss die Parteien explizit über seine Rechtsansichten im konkreten Fall informieren. Einer nicht rechtsberatenen Partei muss das Gericht zudem konkret aufzeigen, welche Tatsachen als Resultat dieser Rechtsansicht entscheidungserheblich sind. Die rechtsberatene Partei muss ihrerseits durch die Darlegung der Rechtsansichten des Gerichts in die Lage versetzt werden, bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt ohne weiteres zu erkennen, welche Tatsachen entscheidungserheblich sind.96 Indes folgt auch aus dem Recht auf Beweis nach hier vertretener Auffassung kein Recht der Parteien auf ein Rechtsgespräch. Das Gericht muss explizit darlegen, welcher Rechtsauffassung es folgt. Es muss sich aber nicht auf eine Diskussion darüber 96
Ganz ähnlich auch die Auffassung von BVerfG und Literatur, siehe oben III. 2 und zum allgemeinen Recht auf Information ausführlich unten § 7 III. 1.
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einlassen, weshalb es dieser Rechtsauffassung folgt.97 Eine kurze Darstellung der Gründe wäre zwar praktisch wünschenswert und würde die Legitimation dieser Rechtsauffassung erhöhen, eine verfassungsrechtliche Pflicht lässt sich an dieser Stelle aus dem Recht auf Beweis indes nicht ableiten. Die Frage weshalb das Gericht einer Rechtsauffassung folgt, wird den Parteien spätestens in den Entscheidungsgründen verdeutlicht werden müssen. Dieses konkrete Informationsrecht aus dem Recht auf Beweis zielt jedoch allein darauf ab, die Parteien in die Lage zu versetzen, die entscheidungserheblichen Tatsachen des Falles zu erkennen und ihre darauffolgenden Beweisanträge daran ausrichten zu können. b) Das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit Eine abstrakte und allgemeine Definition des Kriteriums der Entscheidungserheblichkeit erweist sich als Herausforderung. Rechtsprechung und Literatur haben richtigerweise den Zusammenhang zum Begriff der Schlüssigkeit aufgezeigt: Eine Klage ist schlüssig, wenn die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz das begehrte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen lässt.98 Gleiches gilt auf der anderen Seite für das Recht der Gegenpartei auf Beweis: wenn also die vorgetragenen Tatsachen in Verbindung mit einem Rechtssatz die begehrte Abweisung bzw. Abwandlung einer Entscheidung rechtfertigen. Ausgehend von dieser Definition der Schlüssigkeit ließe sich die Entscheidungserheblichkeit abs trakt folgendermaßen formulieren: Die Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache ist zu bejahen, wenn die gerichtliche Entscheidung im Falle des Nachweises dieser Tatsache anders ausfallen würde als im Falle ihrer Nichterweislichkeit. Diese abstrakte Definition der Entscheidungserheblichkeit muss jeweils für unmittelbare und mittelbare Tatsachen angepasst werden: aa) Entscheidungserheblichkeit unmittelbarer Tatsachen Im Falle unmittelbarer Tatsachen ergibt sich die Entscheidungserheblichkeit direkt aus der im konkreten Fall jeweils relevanten Rechtsnorm des materiellen Rechts. Die zum Nachweis beantragte Tatsache kann hiernach unmittelbar mit den Tatbestandsmerkmalen derjenigen Rechtsnorm abgeglichen werden, die die begehrte Rechtsfolge ermöglicht. Entscheidungserheblichkeit iSd immanenten Grenze des Rechts auf Beweis ist zu bejahen, wenn eine Tatsache zum Beweis beantragt ist, die unmittelbarer Teil der Voraussetzungen desjenigen Rechtssatzes ist, der die begehrte Rechtsfolge ermöglicht.
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Im Ergebnis ebenso auch BVerfG und Literatur, vgl. oben III. 2. Vgl. wiederum BGH NJW-RR 1995, S. 722 und BGH NJW 2005, S. 2710, 2711 jeweils mwN. 98
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bb) Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen Die Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen erweist sich demgegenüber als deutlich schwieriger. Das Problem des Indizienbeweises liegt in dem Schluss von der Hilfstatsache auf die Haupttatsache, also diejenige Tatsache, die unmittelbarer Bestandteil der relevanten Rechtsnorm ist. Das erkennende Gericht muss letztlich eine prognostische Entscheidung treffen. Eine solche Entscheidung birgt allerdings stets das Risiko einer antizipierten Ablehnung eines an sich für die Überzeugungsbildung wertvollen Beweismittels. Gerade im Hinblick darauf, dass sich diese prognostische Entscheidung über die Erheblichkeit einer Tatsache als immanente Grenze des Rechts auf Beweis darstellt, muss diese Grenze im Hinblick auf die Bedeutung dieses Rechts eng gezogen werden. Das Gericht muss sich in seiner Prüfung letztlich darauf beschränken, ob ein Schluss von der Hilfs- auf die Haupttatsache nach den anerkannten Denk- und Naturgesetzen, insbesondere den Gesetzen der Logik von vornherein auszuschließen ist.99 Eine weitergehende Prognose dahingehend, dass diese Hilfstatsache nach der subjektiven Überzeugung und den Erfahrungen des Gerichts in keinem Fall Rückschlüsse auf die Haupttatsache zuließe und daher ungeeignet sei, ist demgegenüber als Form der antizipierten Beweiswürdigung unzulässig und gerade keine immanente Grenze des Rechts auf Beweis. Die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tataschen als immanenter Grenze des Rechts auf Beweis orientiert sich mithin rein faktisch an den Natur- und Denkgesetzen und gerade nicht an den subjektiven Erfahrungen und Vorstellungen des Gerichts. Dabei hat es weiter zu prüfen, ob eine Gesamtschau aller beantragten Indizien zusammengenommen einen Schluss auf die Haupttatsache erlaubt.100 Dieser Versuch einer Orientierung an Naturgesetzen lässt sich in ähnlicher Weise im U.S.-amerikanischen Bundesrecht der Federal Rules of Evidence beobachten.101 Sollte eine Partei mit ihrem Vortrag ernsthafte Zweifel an einem vom Gericht angenommenen Natur- oder Denkgesetz vorbringen, so ist hierüber seinerseits Beweis zu erheben. Im Zweifel ist ein beantragtes Beweismittel zuzulassen und etwaige Zweifel im Rahmen der Beweiswürdigung mit entsprechender Vorsicht zu berücksichtigen. cc) Grundsatz: Ermessensentscheidung des Gerichts Die Entscheidung, ob eine zum Nachweis beantragte Tatsache entscheidungserheblich ist, kann im Einzelfall durchaus komplex sein. Daher kommt dem erkennenden 99 Vgl. zu diesem Maßstab im Rahmen der Überprüfung einer richterlichen Beweiswürdigung etwa BGH NJW 1987, S. 1557, 1558 und BGH NJW 2008, S. 2845 sowie die ausführliche Analyse unten § 11 IV. 100 In diesem Sinne bereits BGHZ 53, S. 245, 261; ebenso BGH NJW 2012, S. 2427, 2431. 101 Ausführlich zu den rechtsvergleichenden Grundlagen der Entscheidungserheblichkeit nach U.S.-amerikanischem Verständnis oben § 3 V. 1. mwN aus Rechtsprechung und Literatur.
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Gericht auch nach hier vertretener Meinung grundsätzlich ein Ermessen in dieser Frage zu. Der Umfang dieses gerichtlichen Ermessens unterscheidet sich je nach Fallkonstellation: Die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit einer zum Nachweis beantragten, unmittelbaren Tatsache bedarf indes regelmäßig keiner umfangreicheren Abwägung. Vielmehr muss sich das Gericht über seine Rechtsansicht klar werden, diese Ansicht den Parteien mitteilen und in der Folge entsprechend dieser Rechtsansicht handeln. Die Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache ergibt sich direkt aus der relevanten Rechtsnorm und ihren Tatbestandsmerkmalen, so dass faktisch kein großer Raum für Ermessenserwägungen verbleibt. Etwas anderes kann demgegenüber im Rahmen der Entscheidungserheblichkeit eines Indizienbeweises gelten. Das Gericht hat eine prognostische Entscheidung zu treffen und auch insoweit kommt ihm ein Ermessen zu. Dieses Ermessen ist gleichsam in seinem Umfang beschränkt, wenn man mit der hier vertretenen Ansicht davon ausgeht, dass die Erheblichkeit eines Indizienbeweises nur abgelehnt werden kann, wenn die Erheblichkeit nach den Natur- und Denkgesetzen auszuschließen ist. Dennoch kann es im Einzelfall fraglos Unsicherheiten geben, ob ein Schluss von einer Hilfs- auf die Haupttatsache noch unter ein Denk- oder Naturgesetz zu subsumieren ist und ein entsprechender Schluss möglich erscheint. Im Hinblick auf diesen prognostischen Charakter der Entscheidung und die Vielfalt möglicher, mittelbarerer Tatsachen erscheint es naheliegend und richtig, dem Gericht eine gewisse Entscheidungsfreiheit in Form eines Ermessens einzuräumen. Das erkennende Gericht hat hiernach in seinem pflichtgemäßen Ermessen allein anhand der Denk- und Naturgesetze die Entscheidungserheblichkeit eines beantragten Indizienbeweises zu beurteilen. dd) Die Grenzen des gerichtlichen Ermessens und seine Überprüfbarkeit Darüber hinaus werden dieser Ermessensfreiheit des erkennenden Gerichts durch eine umfassende Begründungspflicht und die Kontrolle im Instanzenzug weitere Grenzen gesetzt. Aus dem Recht auf Beweis folgen nach hier vertretener Ansicht zum einen umfangreiche Begründungspflichten bei einer Ablehnung von Beweisanträgen als unerheblich durch das erkennende Gericht. Das Gericht muss in seiner Entscheidung detailliert darlegen, weshalb die Tatsache für die Entscheidung von keinerlei Erheblichkeit ist. Es genügt gerade nicht, dass sich diese Begründung der Ablehnung implizit aus der Wahl einer Rechtsansicht ergibt und so von rechtskundigen Parteien gegebenenfalls nachvollzogen werden kann. Ebenso wenig genügt ein pauschaler Hinweis auf die entsprechende Rechtsansicht den Begründungspflichten aus dem Recht auf Beweis. Das Gericht muss auf die Argumente der den Beweis beantragenden Partei im Einzelnen eingehen und darlegen, weshalb es seiner eigenen Rechtsansicht gefolgt ist. Im Rahmen der Beurteilung von Indizienbeweisen muss das Gericht zudem darlegen, auf welche Natur- und Denkgesetze es
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seine Entscheidung stützt. Diese umfassende Begründungspflicht stellt das Gegenstück zu den zurückhaltenden Informationspflichten im eigentlichen Prozess dar, die kein Rechtsgespräch mit den Parteien erfordern.102 Außerdem ist eine solche Begründungspflicht grundlegend für das Verständnis der Parteien über die Entscheidung und damit die Legitimation derselben. Abschließend kann auch eine Kontrolle der gerichtlichen Entscheidung im Instanzenzug nur erfolgen, wenn die Instanzgerichte die Rechtsansichten und Bewertungen des erkennenden Gerichts im Einzelnen nachvollziehen können. Allein über den Weg einer umfassenden Begründung kann eine effektive Kontrolle verwirklicht werden. Zum anderen ist die gerichtliche Ermessensentscheidung über die Entscheidungserheblichkeit eines beantragten Beweismittels zwecks Sicherstellung einer effektiven Kontrolle im Instanzenzug voll justiziabel. Die Überprüfung der Rechtsan sichten des erkennenden Gerichts ist hierbei nach den §§ 545, 546, 513 ZPO die originäre Aufgabe der Instanzgerichte und bedarf als solche keiner weiteren Rechtfertigung.103 Darüber hinaus fordert die effektive Geltung des Rechts auf Beweis nach hier vertretener Auffassung zwar keinen Instanzenzug, aber doch eine Überprüfung der untergerichtlichen Entscheidung über die Ablehnung von Beweisanträgen wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit in einem tatsächlich existierenden Instanzenzug. In diesem Zusammenhang ist nach hier vertretener Ansicht auch die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit mittelbarer Tatsachen vollständig überprüfbar. Die Ermessensentscheidung beruht auf der Anwendung der Natur- und Denkgesetze, welche das erkennende Gericht in seiner Entscheidungsbegründung im Einzelnen darzulegen hat. Diese Gesetze gelten indes nicht nur für das erkennende Gericht, sondern ihrer Art nach universell, so dass sie auch durch die Instanzgerichte ohne weiteres einer Überprüfung unterzogen werden können.104 Die Anwendung dieser Gesetze auf die konkret unter Beweis gestellten Tatsachen und damit das gerichtliche Ermessen sind hiernachvoll überprüfbar. Dieses Zusammenspiel aus umfassenden Begründungspflichten und einer anschließenden, vollständigen Kontrollmöglichkeit in einem tatsächlich existierenden Instanzenzug stellt die effektive Geltung des Rechts auf Beweis sicher und ermöglicht die Korrektur etwaiger Fehler.
102 Ausführlich zu den allgemeinen Begründungspflichten beweisrechtlicher Entscheidungen unten § 7 VII. 103 Zum Prüfungsmaßstab in den Rechtsmittelinstanzen siehe auch Rosenberg/Schwab/Gott wald, ZPR, § 138 Rn. 31 ff. zur Berufung und § 142 Rn. 2 ff. zur Revision. 104 Dieser Maßstab wird auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung für die Rechtsmittelgerichte angelegt, siehe etwa BGH NJW 1987, S. 1557, 1558; ebenso BGH NJW-RR 2000, S. 686 und BGH NJW 2008, S. 2845.
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IV. Die weiteren immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis Neben dem Kriterium der Entscheidungserheblichkeit ergeben sich nach hier vertretener Auffassung vier weitere immanente Grenzen des Rechts auf Beweis: Die Substantiierung und die fehlende Beweisbedürftigkeit des Beweisthemas, sowie die fehlende Eignung und Erreichbarkeit des Beweismittels. Diese Kriterien lassen sich ihrerseits in zwei Kategorien von Gründen unterteilen, aus denen heraus sie dem Recht auf Beweis als Grenze immanent sind: Die erste Gruppe von Gründen meint die rein faktische Unmöglichkeit der Beweisaufnahme, sei es mangels hinreichender Substantiierung oder faktischer Unerreichbarkeit der Beweismittel, so dass eine Beweisaufnahme schlicht nicht möglich ist und daher von Rechts wegen auch nicht erzwungen werden kann. Die zweite Gruppe immanenter Grenzen wird nach dem Prozesszweck dadurch gezogen, dass die den Beweis beantragende Partei von der Beweiserhebung keinerlei Nutzen hätte: Also diejenigen Fälle, in denen die zum Nachweis beantragte Tatsache keines Beweises bedarf oder aber das beantragte Beweismittel zum Nachweis – wiederum rein faktisch – nicht geeignet ist. Diesen Fallkonstellationen ist weiter gemein, dass sie sich allein auf das beantragte Beweisthema oder das zu erhebende Beweismittel selbst beziehen. Es findet keinerlei Abwägung mit Grundrechten Dritter oder Allgemeingütern gleichen Ranges statt. Eines der zentralen Charakteristika der immanenten Grenzen ist darin zu sehen, dass eine Beweiserhebung von vornherein, sozusagen aus sich selbst heraus abzulehnen ist und keinerlei Abwägung bedarf. Dieses Charakteristikum findet sich ausschließlich bei den Kriterien der Substantiierung des Beweisantrages, der Entscheidungserheblichkeit und Beweisbedürftigkeit des Beweisthemas sowie der Eignung und Erreichbarkeit des Beweismittels. Diese Kriterien bilden die abschließenden immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis.
1. Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis in EMRK und GRC: Maßgeblichkeit des nationalen Rechts Diese weiteren immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis werden in der Rechtsprechung von EGMR und EuGH nicht im Einzelnen behandelt. Vielmehr wird die Zulassung von Beweismitteln explizit den erkennenden, nationalen Gerichten zugewiesen.105 Vorbehalten bleibt auch insoweit allein eine allgemeine Fairnessprüfung anhand des Art. 6 I EMRK bzw. des Art. 47 II S. 1 GRC. In dieser allgemeinen Prüfung der Verfahrensfairness wird eine Ablehnung mangels Substantiierung, Be105 Vgl. wiederum Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 12.09.2003, 35968/97, Van Kück ./. GER, Rn. 47 ff. und den Verweis auf die EMRK durch EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75 – Steffensen.
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weisbedürftigkeit, Beweiseignung oder -erreichbarkeit soweit ersichtlich nicht behandelt. Auch die Literatur zu den europäischen Grundrechtsordnungen kommt in Bezug auf diese Kriterien über erste Ansätze nicht hinaus.106 Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis folgen aus den zu beweisenden Tatsachen bzw. aus den hierfür benannten Beweismitteln als solchen. Wenn man mit der hier vertretenen Ansicht davon ausgeht, dass der Inhalt des Rechts auf Beweis sich einheitlich anhand des Prozesszweckes der Durchsetzung privater Recht bestimmt, so gelten diese immanenten Grenzen für alle drei Grundrechtsordnungen gleichermaßen. Sie stellen den gemeinsamen Rahmen dar, innerhalb dessen sich das jeweilige Recht auf Beweis nach den einzelnen Grundrechtsordnungen bewegt. Daher werden die weiteren, immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis in ihrem Umfang für alle drei Grundrechtsordnungen gemeinsam herausgearbeitet. Allerdings folgt aus Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC im Rahmen der allgemeinen Prüfung der Verfahrensfairness nach hier vertretener Auffassung zugleich ein gemeinsamer Prüfungsmaßstab der drei Grundrechtsordnungen: Dieser Maßstab ist anzulegen bei der Überprüfung der Entscheidung des erkennenden, nationalen Gerichts über die Ablehnung von Beweismitteln unter Verweis auf die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis. Dieser Gleichlauf lässt sich im Hinblick auf die gemeinsame Fundierung des Rechts auf Beweis in Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten erklären. Auch in seiner Bedeutung für die Effektuierung der Durchsetzung materieller Grundrechte ist das Recht auf Beweis in den europäischen Grundrechtsordnungen gleichermaßen hoch einzuschätzen. Es ist schlicht kein sachlicher Grund erkennbar, weshalb die europäischen Grundrechtsordnungen der EMRK und der Grundrechtecharta in ihrem Gewährleistungsgehalt an dieser Stelle hinter dem deutschen Grundgesetz zurückbleiben sollten. Vielmehr gelten die weiteren, immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis ebenso allgemein in allen drei Grundrechtsordnungen wie der Maßstab ihrer Überprüfbarkeit.
2. Substantiierung eines Beweisantrages Eine weitere immanente Grenze findet das Recht auf Beweis hiernach in der Pflicht einer Prozesspartei zur Substantiierung ihres Beweisantrages.
106 Siehe etwa die kurzen beweisrechtlichen Ausführungen von Frowein/Peukert-Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 165 f. und Karpenstein/Mayer-Meyer, EMRK, Art. 6, Rn. 101; ausführlicher, aber ohne Erwähnung der genannten Kriterien Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer-Meyer-La dewig/Harrendorf, EMRK, Art. 6, Rn. 139 ff.; zu ersten Ansätzen in neuerer Zeit Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 24, Rn. 69; ebenso verhält es sich im Rahmen der GRC, siehe etwa die Ansätze von Jarass, GRC, Art. 47, Rn. 30 ff. und Meyer-Eser, GRC, Art. 47, Rn. 34.
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a) Die Substantiierungsanforderungen in Rechtsprechung und Literatur Das grundsätzliche Erfordernis einer Substantiierung des eigenen Vortrages ist in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt und wird auf § 138 II ZPO gestützt.107 Der Umfang dieser Substantiierungspflicht richtet sich dabei nach den Erfordernissen des Einzelfalles und wird anhand einer Reihe von Kriterien bestimmt.108 Die Substantiierungsanforderungen an den ersten Klagvortrag werden dabei regelmäßig gering gehalten: Es genügt in aller Regel die Behauptung von Tatsachen, die in Verbindung mit einem Rechtssatz das behauptete Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen lassen, mithin die Schlüssigkeit der Klage.109 Die weiteren Anforderungen richten sich sodann nach dem Umfang und Detailgrad des Vortrages der Gegenpartei: Je detaillierter die Ausführungen der einen Partei ausfallen, desto höher sind nun auch die Substantiierungsanforderungen für die jeweils andere Partei.110 Dieses Wechselspiel der Parteien führt zu stark einzelfallabhängigen Substantiierungsanforderungen. Allerdings sprechen sich Rechtsprechung und Literatur in diesem Rahmen gegen überzogene Substantiierungsanforderungen aus. Der substantiierte Tatsachenvortrag einer Partei müsse das Gericht lediglich in die Lage versetzten, die Schlüssigkeit der Klage und die Erheblichkeit der Beweisanträge beurteilen zu können.111 Indes hat sich in Rechtsprechung und Literatur dieser Warnung zum Trotze noch ein weitergehendes Substantiierungserfordernis entwickelt: So wird in Rechtsprechung und Literatur ein Verbot von sog. Ausforschungsbeweisen vertreten. Ein Beweisantrag „ins Blaue hinein“, der auf Vermutungen basiert und die eigentliche Tatsachenkenntnis der Partei erst herbeiführen soll, ist hiernach verboten.112 Somit 107 Vgl. etwa BGH NJW 1991, S. 2707, 2709 auch zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen und Grenzen der Substantiierungslast; in neuer Zeit siehe BGH NJW 2012, S. 1647, 1648; zur verfassungsrechtlichen Seite siehe auch BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586 jeweils mwN; aus der Literatur Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284 Rn. 85 ff. und Vor § 286 Rn. 40 ff.; ausführlich auch Brose, MDR 2008, S. 1315 ff.; grundlegend Prütting, Gegenwartsprobleme, S. 44 ff. und Mu sielak, Grundlagen der Beweislast, S. 52 ff. jeweils mwN. 108 Vgl. in diesem Sinne BGH NJW 2005, S. 2710, 2711; so auch MüKo-Wagner, ZPO I, Rn. 18 ff. und Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138 Rn. 30 ff. 109 So etwa BGH NJW 1984, S. 2888; ebenso BGH NJW 1999, S. 1859; in jüngster Zeit BGH NJW 2012, S. 382. 110 Dieses „Wechselspiel“ der Parteien legt BGH NJW 1999, S. 1859 sehr schön dar; ebenso BGH NJW 2005, S. 2710, 2711; aus der Literatur siehe Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 11, Rn. 15 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 109 Rn. 7 und Dölling, NJW 2013, S. 3121, 3123. 111 Vgl. BGH NJW 1996, S. 394; inhaltlich ebenso BGH NJW 1999, S. 1859, 1860; in neuer Zeit siehe BGH NJW-RR 2013, S. 9, 10; aus der Literatur etwa Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO III, § 138 Rn. 23 ff. 112 So bereits BGH NJW 1968, S. 1233; ausführlich BGH NJW 1984, S. 2888, 2889 und BGH NJW 2012, S. 2427, 2431; aus verfassungsrechtlicher Sicht BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586 jeweils mwN.
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muss die Partei detailliert darlegen, was sie sich aus welchem Grunde von einer Beweiserhebung verspricht.113 Allerdings betont die Rechtsprechung zugleich, dass eine Partei Tatsachen als feststehend behaupten darf, obgleich sie (noch) keine unmittelbare Kenntnis hat, sondern diese Tatsachen vielmehr vermutet.114 Diese Sub stantiierungsanforderungen gehen dennoch deutlich über die bloße, schlüssige Darlegung der Tatsachen unter Benennung und Beantragung von Beweismitteln hinaus. Dieses Verbot eines Ausforschungsbeweises wird sodann in Teilen der Literatur durchaus kritisch diskutiert.115 Ihre Begründung findet die Figur des Ausforschungsbeweises nach der Rechtsprechung darin, dass es gerade nicht der Zweck einer Beweiserhebung sein darf, die für den bereits erhobenen Klagantrag erforderlichen Tatsachen überhaupt erst zu gewinnen.116 b) Eigene Ansicht: Substantiierung eines Beweisantrages als immanente Grenze Die Pflicht zur Substantiierung des Beweisantrages stellt nach hier vertretener Ansicht eine der immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis dar. Allerdings folgt aus der Bedeutung des Rechts auf Beweis zugleich, dass diese Grenzen eng zu ziehen sind. Die Pflicht zur Substantiierung kann einer Partei im Einzelfall hohe Anforderungen auferlegen, so dass dieser Grundsatz einer engen Auslegung für diese immanente Grenze in besonderem Maße gilt. Die Substantiierung eines Beweisantrages stellt insoweit eine besondere, immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar, als sie beide Fallgestaltungen einer immanenten Grenze gleichermaßen betrifft. Eine gewisse Substantiierungspflicht ist gleichermaßen Voraussetzung für die tatsächliche Ermöglichung einer Beweiserhebung und die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit iSe für die Prozesspartei sinnvollen Beweiserhebung: Ein gewisses Minimum an Substantiierung des eigenen Beweisantrags ist zu fordern, um ein Beweismittel überhaupt erheben zu können. So muss eine Partei nun einmal eine ladungsfähige Adresse angeben, um es dem Gericht zu ermöglichen, einen Zeugen zu laden. Auch die Einnahme eines Augenscheins durch das Gericht bedarf zumindest der Beschreibung des Augenscheinsobjektes und seiner Belegenheit. Allerdings zeigt sich an dieser Stelle zugleich die Grenze dieser Substantiierungspflicht als immanenter 113 Ausführlich
zu Inhalt aber insbesondere auch Grenzen dieses Verbotes BGH NJW-RR 1991, S. 888, 891; in neuerer Zeit BGH NJW 2012, S. 2427, 2431; aus der Literatur Dölling, NJW 2013, S. 3121, 3123. 114 Vgl. BGH NJW-RR 1991, S. 888, 889; ebenso BGH NJW 1996, S. 3147, 3150; BGH NJW 2001, S. 2327, 2328 und BGH VersR 2012, S. 1429; aus verfassungsrechtlicher Sicht BVerfG NJW 2009, S. 1585, 1586 mwN. 115 Kritisch gegenüber der Figur des Ausforschungsbeweises äußern sich MüKo-Prütting, ZPO IV, § 284 Rn. 79 f.; Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 49 f., 54 und Musielak/Voit-Foerste, § 284 Rn. 17 f. jeweils mwN. 116 In diesem Sinne BGH JR 1994, S. 361, 365; hierauf verweisend Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284 Rn. 49; ausführlich auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 11 Rn. 9 ff.
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Grenze des Rechts auf Beweis: Ein Beweisantrag ist nur so weit zu substantiieren, wie es für die tatsächliche Erhebung eines beantragten Beweismittels unbedingt erforderlich ist. Eine weitergehende Substantiierungspflicht stellt demgegenüber eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des Rechts auf Beweis dar. Darüber hinaus erfordert die Entscheidungserheblichkeit des Beweisthemas als immanente Grenze des Rechts auf Beweis ihrerseits ein gewisses Mindestmaß an Substantiierung von Beweisanträgen: Die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit eines Beweisantrages kann durch das erkennende Gericht sinnvollerweise nur dann vorgenommen werden, wenn zumindest die nachzuweisende Tatsache angegeben wird. Im Falle von Indizienbeweisen bedarf es darüber hinaus zumindest einer gewissen Darstellung des Zusammenhanges zwischen Hilfs- und Haupttatsache. Eine Partei muss hiernach diejenigen Tatsachen vortragen, die die Schlüssigkeit ihrer Anträge begründen.117 Doch auch insoweit sind die Grenzen dieser Substantiierungspflicht iSe immanenten Grenze des Rechts auf Beweis vorgezeichnet: Ein Beweisantrag ist ausschließlich so weit zu substantiieren, wie dies für die Beurteilung seiner Entscheidungserheblichkeit durch das erkennende Gericht zwingend erforderlich ist. Weitergehende Substantiierungspflichten sind einmal mehr als rechtfertigungsbedürftige Einschränkungen des Rechts auf Beweis anzusehen. Dies gilt insbesondere für Substantiierungspflichten wie das Verbot sog. Ausforschungsbeweise.118
3. Beweisbedürftigkeit Die nun zu überprüfende Grenze der Beweisbedürftigkeit eines Beweisthemas stellt sich als die wohl umfangreichste, immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar. a) Die weitere Unterteilung des Kriteriums der Beweisbedürftigkeit So lässt sich das Kriterium der Beweisbedürftigkeit seinerseits in insgesamt vier Einzelkriterien unterteilen. Die Offenkundigkeit, Erwiesenheit und Unbestrittenheit sowie das Geständnis einer Tatsache stellen allesamt Aspekte der übergeordneten Kategorie der Beweisbedürftigkeit dar.119 Diese einzelnen Teilaspekte eint, dass eine Tatsache im Falle ihres Vorliegens keines Beweises bedarf.
117 In ihrem Grundansatz stimmt diese Auffassung daher mit der h. M. überein, vgl. etwa BGH NJW 2012, S. 382. 118 Ausführlich zu diesem Rechtsinstitut unten § 10 II. 2.–4. 119 Diese Auflistung der Teilaspekte der Beweisbedürftigkeit findet sich insbesondere bei MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 93; ähnlich, wenn auch mit weiteren Teilaspekten Musielak/ Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 20.
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b) Fehlende Beweisbedürftigkeit als immanente Grenze Bevor auf diese Aspekte sogleich im Einzelnen einzugehen ist, soll zunächst geklärt werden, weshalb sich die fehlende Beweisbedürftigkeit als immanente Grenze des Rechts auf Beweis darstellt. Ausgehend von den obigen Ausführungen gibt es zwei Begründungslinien für immanente Grenzen des Rechts auf Beweis: Die faktische Unmöglichkeit der Beweiserhebung und ihr gänzlich fehlender Nutzen für den Rechtsnachweis der diesen Beweis beantragende Partei. Die fehlende Beweisbedürftigkeit lässt sich ersichtlich der zweiten Kategorie zuordnen: Ob eine Tatsache von vornherein aufgrund ihrer Offenkundigkeit keines Beweises bedurfte oder sodann in der Verhandlung nicht bestritten, explizit zugestanden oder vom Gericht als erwiesen angesehen wird: in all diesen Fällen hat die den Beweis beantragende Partei ihr eigentliches Ziel im Prozess bereits erreicht: Die von ihr vorgetragene Tatsache wird vom Gericht seiner Entscheidung als wahr zugrunde gelegt. Weitere Beweisanträge haben für die Partei somit keinerlei Nutzen: Ein „Mehr“ an Rechtsnachweis kann vor Gericht nicht erreicht werden und das Zugrunde legen dieser Tatsache bei der Entscheidungsfindung ist für eine Partei die entscheidende Voraussetzung ihrer Rechtsdurchsetzung. Die Erhebung weiterer Beweismittel würde bestenfalls einer „allgemeinen Wahrheitserforschung“ dienen, schlimmstenfalls nur die private Neugier der Parteien befriedigen. Diese Aspekte haben nach seinem Sinn und Zweck im Zivilprozess indes keinen Raum. Der einigende Hintergrund für sämtliche Teilaspekte der Beweisbedürftigkeit als immanenter Grenze des Rechts auf Beweis ist somit der fehlende Nutzen der Beweiserhebung für die den Beweis beantragende Partei. c) Offenkundigkeit einer Tatsache Das Merkmal der Offenkundigkeit ist ein erster Teilaspekt der fehlenden Beweisbedürftigkeit und lässt sich wiederum in zwei Kategorien unterteilen: Die Allgemeinkundigkeit und die Gerichtskundigkeit. Die Offenkundigkeit hat in § 291 ZPO eine einfachgesetzliche Ausprägung gefunden. Allerdings beschränkt sich diese Norm auf die Benennung der Offenkundigkeit und die Anordnung einer Rechtsfolge dahingehend, dass eine offenkundige Tatsache keines Beweises bedürfe. Der Inhalt der Offenkundigkeit als immanenter Grenze des Rechts auf Beweis wird indes ohnehin durch die jeweiligen Grundrechtsordnungen gezogen und nicht anhand des einfachen Rechts. aa) Das Merkmal der Allgemeinkundigkeit in Rechtsprechung und Literatur Das Merkmal der Allgemeinkundigkeit stellt den ersten Teilaspekt der Offenkundigkeit dar und hat eine in Rechtsprechung und Literatur weitgehend unstreitige Definition gefunden: Allgemeinkundig sind Tatsachen, „von denen verständige und er-
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fahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benützung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können“.120 Eine allgemeinkundige Tatsache kann sich auf einen weiteren oder auch einen kleineren Bereich beziehen (Ortskundigkeit).121 Auch muss die Allgemeinkundigkeit einer Tatsache nicht auf Dauer „anhaften“, sondern kann ein zeitlich begrenztes Phänomen darstellen.122 Wichtiges Merkmal der Allgemeinkundigkeit ist jedoch, dass sie von einer unbekannten Vielzahl von Menschen gleichermaßen, mithin „allgemein“ als wahr angesehen wird und es gerade nicht auf die individuelle Wahrnehmung und etwaige Unsicherheiten des Einzelnen ankommt, wie etwa im Rahmen von Beweismitteln.123 Beispiele für allgemeinkundige Tatsachen sind statistische Jahrbücher, Kalenderdaten, Ortsentfernungen oder Geschehnisse der Weltgeschichte.124 Das Gericht muss die Parteien darauf hinweisen, dass es eine Tatsache als allgemeinkundig annehmen möchte und der belasteten Partei die Möglichkeit eines Gegenbeweises gegen diese – vermeintlich – allgemeinkundige Tatsache einräumen.125 bb) Das Merkmal der Gerichtskundigkeit in Rechtsprechung und Literatur Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Tatsache einer Entscheidung als gerichtskundig zugrunde gelegt werden darf, ist demgegenüber zweifelhafter und teilweise auch umstritten. Gerichtskundig sind solche Tatsachen, „die dem Richter kraft seines Amtes, z. B. aus früheren Prozessen, bekannt geworden sind“.126 Entscheidend ist, dass der Richter die Kenntnis dieser Tatsache im Rahmen seiner Tä120 So die ausdrückliche Definition von BVerfGE 10, S. 177, 183; ebenso BGH NJW 1992, S. 2088; zustimmend auch Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291 Rn. 4 ff.; tendenziell weitergehend und § 291 ZPO als Ausdruck der Prozessökonomie ansehend Walter, freie Beweiswürdigung, S. 273 ff. jeweils mwN. 121 Ausführlich in diesem Sinne Wieczorek/Schütz-Ahrens, ZPO IV, § 291 Rn. 8 mwN; 122 Diesen Aspekt darstellend Stein/Jonas-Thole, ZPO III, § 291, Rn. 4 mwN; ebenso Wieczorek/Schütz-Ahrens, ZPO IV, § 291 Rn. 8. 123 So MüKo-Prütting, ZPO I, § 291 Rn. 5; dieser Punkt wird auch von Lipp, privates Wissen, S. 61 ff. im Rahmen der Abgrenzung von gerichtskundigen Tatsachen und privatem Wissen des Richters hervorgehoben. 124 Vgl. BGH NJW 1992, S. 2088 (Lebenshaltungsindex der NJW); BGH NJW-RR 1993, S. 1122, 1123 (statistische Jahrbücher) und BVerwG NJW 1987, S. 1431, 1432 f. (Geschehnisse der Weltgeschichte); weitere Beispiele finden sich etwa bei Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 2, Rn. 24. 125 So BGH NJW-RR 1993, S. 1122, 1123; bestätigt von BGH NJW 2007, S. 3211; ausdrücklich mit Verweis auf das Recht auf Beweis Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306, 312; einschränkend Pantle, MDR 1993, S. 1166, 1167. 126 So wiederum BVerfGE 10, S. 177, 183; in diesem Sinne auch BGH NJW 1987, S. 1021; aus der Literatur siehe Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2; MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 9 ff. und Stein/Jonas-Thole, ZPO III, § 291, Rn. 7 ff.; Pantle, MDR 1993, S. 1166, 1167.
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tigkeit als Rechtsprechungsorgan erhält und nicht als Privatperson.127 Die Art des Prozesses, in dessen Rahmen die Kenntnis erlangt wird, spielt demgegenüber nach allgemeiner Ansicht keine Rolle.128 Die Zweifel an der Reichweite der Gerichtskundigkeit beginnen bei der Frage, ob und in welchem Umfang das erkennende Gericht dazu berechtigt ist, sich Aktenwissen anzueignen und dieses so erlangte Wissen im Prozess als gerichtskundige Tatsachen einzuführen. Die Rechtsprechung ist in diesen Fällen sehr großzügig. So ist es nach dem BGH erlaubt, sich als Richter anhand der Gerichtsakten von fremden Prozessen Wissen anzulesen und diese Wissen als gerichtskundig zu betrachten.129 In der Literatur wird die Grenze deutlich enger gezogen: Hiernach muss der erkennende Richter in der Vergangenheit persönlich dieses Wissen erlangt haben.130 Teilweise wird ihm gestattet, dieses Wissen mittels seiner eigenen Akten „aufzufrischen“.131 Teils wird jeder Rückgriff auf Gerichtsakten als unvereinbar mit dem Begriff der Gerichtskundigkeit angesehen.132 Insgesamt wird argumentiert, der BGH verwische die Grenze zum Urkundenbeweis. Jedenfalls wenn der Richter sich anhand fremder Gerichtsakten Wissen von früheren Fällen anlese, so handele es sich um einen Urkundenbeweis, der eines Beweisantrittes bedürfe.133 Weitgehende Übereinstimmung besteht demgegenüber dahingehend, dass gerichtskundige Tatsachen explizit in den Prozess eingeführt werden müssen und auch das Recht auf Führung eines Gegenbeweises unberührt bleibt.134 127 Vgl. BGH NJW 1987, S. 1021; siehe auch Pantle, MDR 1993, S. 1166, 1167; Stackmann, NJW 2010, S. 1409 f.; zur Abgrenzung von gerichtskundigen Tatsachen und privatem Wissen ferner Lipp, privates Wissen, S. 64 f. 128 So etwa Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291, Rn. 9; MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 12 jeweils mwN. 129 So BGHSt 6, S. 292, 293 f. allerdings zum Strafprozess; zustimmend Thomas/Putzo-Rei chold, ZPO, § 291 Rn. 2; siehe aber in jüngster Zeit BGH NJW 2014, S. 1441, 1443, in dessen Rahmen ein Schluss von einem anderen Verfahren auf den konkreten Fall abgelehnt wird und hiernach eine Anwendung des § 291 ZPO ausscheiden solle. 130 So etwa MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 9 ff.; Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291, Rn. 9; Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 12 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 28 jeweils mwN. 131 In diesem Sinne MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 9 und Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2. 132 In diesem restriktiven Sinne Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291, Rn. 9 und Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 12 ff.; ausführlich zu dieser Fragestellung Stein, privates Wissen des Richters, S. 158 ff. jeweils mwN. 133 In diesem Sinne Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 12 ff. und Musielak/ Voit-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2; ähnlich auch MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 10. 134 Zur Einführung in den Prozess vgl. etwa BGH NJW-RR 1993, S. 1122, 1123 und BVerfGE 48, S. 206, 209; zum Recht auf einen Gegenbeweis siehe die Grundsatzentscheidung BGH NJWRR 1990, S. 1376; bestätigt in BGH NJW 2004, S. 1163 f.; zustimmend die Literatur, so etwa Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 17; ähnlich Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291,
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cc) Eigene Ansicht: Offenkundigkeit als immanente Grenze Die Offenkundigkeit stellt als Teilaspekt der fehlenden Beweisbedürftigkeit nach hier vertretener Ansicht eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar.135 Nach dem Prozesszweck kann eine Partei mit ihren Beweisanträgen nicht mehr erreichen, als die Offenkundigkeit einer Tatsache von sich aus bietet: Das Zugrundelegen dieser Tatsache in der gerichtlichen Entscheidung. Daher stimmt die Rechtsfolge des § 291 ZPO mit den Anforderungen von Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta insoweit überein: Ein Beweisantrag über eine offenkundige Tatsache kann im Einklang mit dem Recht auf Beweis abgelehnt werden. Als immanente Grenze des Rechts auf Beweis ist die Offenkundigkeit aber gleichsam eng auszulegen. Allgemeinkundig sind in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht Tatsachen, „von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres Kenntnis haben oder von denen sie sich durch Benützung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können“.136 Die Gerichtskundigkeit kann ebenfalls mit der Rechtsprechung definiert werden als Tatsache, „die dem Richter kraft seines Amtes, z. B. aus früheren Prozessen, bekannt geworden sind“.137 Entscheidend ist somit die amtliche Befassung des Einzelrichters oder der Mehrheit des Kollegiums unabhängig von der Art des Prozesses.138 Allerdings bedarf es zugleich einer persönlichen Befassung des Einzelrichters bzw. der Mehrheit des Kollegiums mit der betreffenden Tatsache.139 Die weitergehende Ansicht der Rechtsprechung ist nach hier vertretener Ansicht abzulehnen. Dabei ergeben sich nicht alleine in Bezug auf die Verwischung der Grenzen von Gerichtskundigkeit und Urkundenbeweis Bedenken.140 Vielmehr erscheint auch die formelle Beweisunmittelbarkeit gefährdet, wenn das erkennende Gericht sich auf Akten anderer Richterinnen und Richter stützt. Die Gewähr für einen eigenen Eindruck der Beweismittel und damit letztlich für eine möglichst korrekte Wahrheitsfindung des erkennenden Gerichts wäre nicht mehr gegeben.141 Die Auffrischung des GedächtRn. 11, 17 jeweils mwN; demgegenüber spricht sich Pantle, MDR 1993, S. 1166, 1167 f. gegen ein Recht auf einen Gegenbeweis aus; so auch Zöller-Greger, ZPO, § 291, Rn. 4. 135 Ähnlich bereits Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306, 311, der davon spricht, dass das Recht auf Beweis von der Offenkundigkeit einer Tatsache „nicht berührt werde“. 136 So BVerfGE 10, S. 177, 183; Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 2, Rn. 23 stellt sogar auf einen „besonnenen, vernünftigen, verständigen und erfahrenen Menschen“ ab. 137 Vgl. etwa BGH NJW 1987, S. 1021. 138 Vgl. Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291, Rn. 9; MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 12. 139 Ebenso Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 291, Rn. 9; MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 12; Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 11; Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2 jeweils mwN. 140 In diesem Sinne argumentieren Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 291 Rn. 11 ff. und Musielak-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2; ähnlich auch MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 10. 141 In diese Richtung scheint auch BGH NJW 2014, S. 1441, 1443 mit seinem Verweis auf § 355 ZPO zu tendieren; ähnlich bereits MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 10.
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nisses des erkennenden Gerichts durch die Lektüre eigener, früherer Akten erscheint demgegenüber unproblematisch142: Schließlich geht es lediglich darum, dasjenige aufzufrischen, was bei der Vielzahl bearbeiteter Fälle in den Hintergrund getreten ist und gerade nicht darum, sich anhand einer Akte erstmals einen Eindruck zu verschaffen, den ein Anderer niedergeschrieben hat. Für die Verwendung allgemein, wie auch gerichtskundiger Tatsachen folgt aus dem Recht auf Beweis die Pflicht, diese Tatsachen explizit in den Prozess einzuführen.143 Das erkennende Gericht muss nicht nur die Tatsachen bekanntgeben, sondern den Parteien zugleich erläutern, anhand welcher Kriterien und aus welchen Gründen heraus diese Tatsachen als offenkundig angesehen werden sollen. Eine solche, umfassende Information der Parteien ist erforderlich, um der belasteten Partei eine effektive Führung ihres Gegenbeweises zu ermöglichen. d) Erwiesenheit einer Tatsache Einen weiteren Teilaspekt der fehlenden Beweisbedürftigkeit stellt die Erwiesenheit einer Tatsache dar. aa) Das Kriterium der Erwiesenheit in Rechtsprechung und Literatur Die Ablehnung eines Beweisantrages wegen Erwiesenheit der zum Beweis beantragten Tatsache beinhaltet nach Rechtsprechung und Literatur keine besonderen Schwierigkeiten. Betont wird jedoch stets, dass ein Gegenbeweis der anderen Partei möglich bleiben muss. Die Ablehnung eines Beweisantrages unter Hinweis darauf, das Gegenteil sei bereits erwiesen, stellt nach einhelliger Ansicht eine unzulässige Beweisantizipation dar.144 bb) Eigene Ansicht: Die Erwiesenheit einer Tatsache als immanente Grenze Diese Sichtweise von Rechtsprechung und Literatur verdient Zustimmung. Sobald das Gericht eine Tatsache als erwiesen ansieht, hat eine weitere Beweiserhebung für die beantragende Partei keinerlei Nutzen: Sie kann nicht „mehr“ erreichen als die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit ihrer Tatsachenbehauptungen und sie muss zur Durchsetzung ihrer Rechte auch nicht mehr erreichen. Die Erwiesenheit stellt damit eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar. Anzumerken ist al-
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So auch MüKo-Prütting, ZPO I, § 291, Rn. 9 und Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 291, Rn. 2. Vgl. wiederum BGH NJW 2007, S. 3211 (Allgemeinkundigkeit) und BVerfGE 48, S. 206, 209 (Gerichtskundigkeit). 144 Vgl. etwa BVerfG NJW 1993, S. 254, 255 und BGH NJW-RR 2002, S. 1072, 1072 jeweils mwN; aus der Literatur siehe Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 63 und MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 100. 143
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lerdings, dass das erkennende Gericht die als erwiesen bezeichnete Tatsache sodann auch konsequent seiner Entscheidung zugrunde legen muss. Die andere Partei hat ein Recht auf Führung eines Gegenbeweises als eine Folgerung aus ihrem jeweiligen Recht auf Beweis.145 Hinzu kommt, dass das erkennende Gericht einen Hinweis zu geben hat, sobald der Gegenbeweis erfolgreich geführt und der Hauptbeweis erschüttert wurde: Das Gericht muss nun die Partei des Hauptbeweises darauf hinweisen, dass weitere Beweisangebote erforderlich und damit nun auch wieder zulässig sind. e) Unbestrittenheit einer Tatsache Die Unbestrittenheit einer Tatsache stellt nach herkömmlicher Lesart ebenfalls einen Teilgehalt der fehlenden Beweisbedürftigkeit dar.146 Die Unbestrittenheit einer Tatsache unterscheidet sich gemeinsam mit dem gerichtlichen Geständnis von den anderen Teilaspekten der Offenkundigkeit dahingehend, dass die fehlende Beweisbedürftigkeit aus einem Verhalten der Parteien resultiert und nicht der Tatsache als solcher „anhaftet“: aa) Die Wahrheitsfiktion unbestrittener Tatsachen als immanente Grenze Die Unbestrittenheit hat in § 138 III und IV ZPO eine gesetzliche Regelung gefunden. § 138 III ZPO normiert eine Fiktion dahingehend, dass sämtliche Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, als zugestanden anzusehen sind.147 § 138 IV ZPO erweitert das Bestreiten für gewisse Situationen um die Erklärung des Nichtwissens einer Partei, die sodann dem Bestreiten einer Tatsache gleichgestellt wird.148 Die fehlende Beweisbedürftigkeit folgt somit aus einer Fiktion des einfachen Rechts, die auf einem bestimmten Verhalten bzw. dem Ausbleiben eines solchen Verhaltens durch die Parteien basiert. Es drängt sich daher die Frage auf, inwieweit eine solche Norm des einfachen Rechts als immanente Grenze des Rechts auf Beweis angesehen werden kann. Die Fiktion des § 138 III ZPO stellt sich hierbei als wesentlicher Ausdruck der Parteiherrschaft im deutschen Zivilprozess dar.149 Die Parteien bestimmen den Gegenstand, Beginn und Ende des Prozesses, sowie letztlich auch seinen Inhalt. Diese 145
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Ohne Verweis auf ein Recht auf Beweis in diesem Sinne etwa BVerfG NJW 1993, S. 254,
Vgl. etwa MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 93 und Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 2. 147 Die Annahme einer solchen Geständnisfiktion entspricht wohl allgemeiner Meinung, vgl. etwa BGH NJW 1987, S. 499; BGH NJW 1991, S. 1683; MüKo-Wagner, ZPO I, § 138 Rn. 26; Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 36 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112 Rn. 22. 148 Ausführlich zu § 138 IV ZPO, Hackenberg, Erklärung mit Nichtwissen. 149 So etwa MüKo-Wagner, ZPO I, § 138, Rn. 23; sehr kritisch gegen eine solche Begründung demgegenüber Hackenberg, Erklärung mit Nichtwissen, S. 40 ff. 146
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Parteiherrschaft lässt sich in der Dispositionsmaxime und dem Beibringungsgrundsatz zusammenfassen.150 Auch nach der hier vertretenen Auffassung steht es dem Recht auf Beweis nicht entgegen, dass die Parteien eines Zivilprozesses sich aktiv an dem von ihnen initiierten Prozess beteiligen müssen, um ihre Rechte nachweisen und diesen Zivilprozess gewinnen zu können. Daraus folgt die Fiktion des Zugestehens in § 138 III ZPO im Falle der eigenen Passivität ebenso wie die Möglichkeit eines expliziten Geständnisses. Als problematisch könnte angesehen werden, dass diese Fiktion nicht der Wahrheit entsprechen muss, ja diese Wahrheit noch nicht einmal primär intendiert, sondern vielmehr allein auf einer Handlung der Parteien in Form fehlenden Mitwirkung beruht. Gleiches gilt für das gerichtliche Geständnis, welches nach § 288 ZPO ohne Wahrheitsprüfung dem Urteil zugrunde gelegt werden muss. Diese Abkehr von der Wahrheit als Ziel des Beweises würde durch die Anerkennung einer entsprechenden, immanenten Grenze des Rechts auf Beweis und damit der Beweiserhebung scheinbar weiter unterstützt. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass die Wahrheitsfindung nach dem bisher Gesagten gerade nicht das Ziel des Prozesses darstellt, sondern vielmehr die Durchsetzung privater Rechte. In diesem Rahmen bewegt sich auch das Recht auf Beweis als Ausfluss des Justizgewährungsanspruches. In einem gedachten Idealbild laufen nach hier vertretener Auffassung der Rechtsnachweis einer Partei und die Wahrheitserforschung „Hand in Hand“ gemeinsam ab. Anknüpfungspunkt des Rechts auf Beweis als prozessualen Grundrechts sind jedoch stets die Parteien des Zivilprozesses als Inhaber dieses Rechts. Bei einem Auseinanderfallen von Rechtsnachweis und Wahrheitserforschung durch eine Fiktion ist daher eine Beurteilung dieser Konstellation am Maßstab des Rechts auf Beweis letztlich auf den Rechtsnachweis der betreffenden Prozesspartei abzustellen. Solange diese Möglichkeit des Rechtsnachweises gesichert ist, wird das Recht auf Beweis grundsätzlich nicht eingeschränkt. bb) Das Kriterium der Unbestrittenheit in Rechtsprechung und Literatur In Rechtsprechung und Literatur orientiert sich die Frage der Unbestrittenheit einer Tatsache eng an § 138 II–IV ZPO. Ausgangspunkt ist die Gestehensfiktion des § 138 III ZPO für den Fall des Nichtbestreitens einer Tatsache. Bestreiten meint das Verlangen einer Partei, die von der Gegenpartei vorgebrachten, erheblichen Behauptungen zum Gegenstand einer Beweisaufnahme zu machen.151 Allerdings genügt dabei nicht in jedem Fall dieses bloße Verlangen eines Nachweises iSe „einfachen Bestreitens“. Vielmehr bedarf es für ein wirksames Bestreiten als Folgerung aus der Pflicht
150 Vgl. etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, §§ 76 und 77; MüKo-Rauscher, ZPO I, Einleitung, Rn. 290 ff. und Stein/Jonas-Kern, ZPO II, Vor § 128, Rn. 161 ff. jeweils mwN aus der Literatur. 151 So die Definition bei Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138 Rn. 12.
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sich zu „erklären“ iSd § 138 II eines gewissen Grades an Substantiierung.152 Dieses gegenseitige „Sich-erklären“ ist Teil des gesetzlich gewollten Wechselspiels zwischen Rede und Gegenrede in einem Parteiprozess.153 Welchen Umfang diese Sub stantiierungslast konkret innehat, ist grundsätzliche eine Frage des Einzelfalles.154 Als zweiter Grundsatz wird sodann einhellig eine unmittelbare Korrelation zwischen der jeweiligen Substantiierung der Parteien hergestellt: Je substantiierter der Vortrag der einen Partei ausfällt, desto substantiierter muss auch die Erwiderung der Gegenpartei erfolgen, um als wirksames Bestreiten angesehen zu werden.155 Der Umfang einer Substantiierung kann vom bloßen Bestreiten des konkreten Tatsachenvortrages bis hin zum Erfordernis einer eigenen Gegendarstellung der tatsächlichen Geschehnisse durch die andere Partei reichen.156 Allerdings schränken Rechtsprechung und Literatur diese Anforderungen zugleich dahingehend ein, dass ein substantiiertes Bestreiten der Gegenseite möglich und zumutbar sein muss.157 Die Möglichkeit der Substantiierung setzt eigene Kenntnis über die entsprechenden Tatsachen voraus. Überwiegend wird jedoch die Regel aufgestellt wird, dass die im Wahrnehmungsbereich einer Partei befindlichen Tatsachen grundsätzlich auch Gegenstand einer näheren Substantiierung sein können.158 Einen Ausweg bietet unter bestimmten Voraussetzungen die Erklärung des Nichtwissens in § 138 IV ZPO. Diese Norm ermöglicht es einer Partei, ihr Nichtwissen über Tatsachen zu erklären mit der Rechtsfolge einer Gleichstellung dieser Erklärung mit einem wirksamen Bestreiten. Allerdings ist eine solche Erklärung nach dem Wortlaut grundsätzlich nur für solche Tatsachen möglich, die außerhalb der 152
Vgl. etwa BGH NJW-RR 1986, S. 60; in neuerer Zeit BGH NJW 2010, S. 1358; aus der Literatur siehe Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 28 ff.; MüKo-Wagner, ZPO I, § 138, Rn. 19 ff.; Musielak/Voit-Stadler, ZPO, § 138 Rn. 12 ff.; ausführlich auch Brehm, Bindung des Richters, S. 58 ff. und S. 88 ff. 153 So die Ausführungen von BGH NJW 1999, S. 1859; ausdrücklich auf diese Entscheidung bezugnehmend BGH NJW 2005, S. 2710, 2711; ausführlich Dölling, NJW 2013, S. 3121, 3125 f.; siehe auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 11, Rn. 15 ff. und Brehm, Bindung des Richters, S. 62 ff. und S. 88 ff. 154 Vgl. BGH NJW-RR 2004, S. 1362, 1363; ebenso Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 30; siehe aber auch Blunck, MDR 1969, S. 99 ff., der davon ausgeht, dass ein einfaches Bestreiten grundsätzlich nicht möglich sei. 155 Vgl. etwa BGH NJW 1995, S. 323; BGH NJW 1999, S. 2887 f.; aus der Literatur siehe Ro senberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 21; Musielak/Voit-Stadler, ZPO, § 138, Rn. 10 ff.; Ah rens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 11, Rn. 18. 156 Anschaulich BGH NJW 2010, S. 1358; ausführlich auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 11, Rn. 15 ff. und Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 30 ff. jeweils mwN. 157 Vgl. BGH NJW 1999, S. 714 f.; BGH NJW-RR 2004, S. 989, 990 f.; BGH NJW 2005, S. 2614, 2615 f.; aus der Literatur siehe Musielak/Voit-Stadler, ZPO, § 138, Rn. 14 und Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 31. 158 Für diese st. Rspr. vgl. etwa BGH NJW 1983, S. 687; BGH NJW 1990, S. 3151; BGH NJW 2010, S. 1357, 1358; siehe auch Musielak/Voit-Stadler, ZPO, § 138, Rn. 10 und Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 31.
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eigenen Handlungen und Wahrnehmungen einer Partei liegen. Durch diese Ergänzung wird die soeben benannte Rechtsprechung konsistent, die im eigenen Wahrnehmungsbereich ein substantiiertes Bestreiten nach § 138 III ZPO fordert. Das Vergessen eines Sachverhaltes ermöglicht demnach gerade keine Erklärung des Nichtwissens nach § 138 IV ZPO.159 Eine gewisse Ausnahme ist für eigene Handlungen anerkannt, die alltäglicher Natur sind und als solche schnell in Vergessenheit geraten, so dass typischerweise nach kurzer Zeit keine Erinnerung mehr an diese Vorgänge existiert.160 Zurechenbar ist im Zusammenhang mit § 138 IV ZPO nur das Wissen der gesetzlichen Vertreter. § 138 IV ZPO wird als Ausdruck der subjektiven Wahrhaftigkeit einer Partei und gerade nicht einer Wissenszurechnung angesehen.161 Allerdings treffen die Partei selbst gewisse Informationspflichten bei nahestehenden Personen, Angestellten oder auch eigenen Unterlagen, bevor eine Erklärung mit Nichtwissen zulässig ist.162 Abschließend nimmt die Rechtsprechung offenkundig unwahre Tatsachen von der Geständnisfiktion des § 138 III ZPO aus.163 cc) Eigene Ansicht: Die Unbestrittenheit einer Tatsache als immanente Grenze Im Hinblick auf die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis ist für die Fiktion des § 138 III ZPO zwischen den Prozessparteien zu differenzieren: Eine immanente Grenze stellt die Erwiesenheit des Beweisthemas jedenfalls für diejenige Partei dar, zu deren Gunsten eine Tatsache nach § 138 III ZPO als erwiesen angesehen wird. Wenn eine Tatsache der gerichtlichen Entscheidung – und sei es durch eine Fiktion – zugrunde gelegt wird, hat eine weitere Beweiserhebung für die den Beweis beantragende Partei keinerlei Nutzen. Die Ablehnung diesbezüglicher Beweisanträge beeinträchtigt daher nicht das Recht auf Beweis dieser Prozesspartei und insoweit stellt sich § 138 III ZPO als immanente Grenze desselben dar.
159 So Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 24; siehe auch Nicoli, JuS 2000, S. 584, 587; etwas weitergehend wohl Musielak/Voit-Stadler, ZPO, § 138, Rn. 15, die einen langen Zeitablauf genügen lässt. 160 Diese Anforderungen andeuten BGH NJW 1995, S. 130, 131; ausdrücklich sodann BGH NJW-RR 2002, S. 612, 613; zustimmend Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 24; ausführlich zu den Kriterien für das Erklären des Nichtwissens bei „vergessenen“ Tatsachen, Wieczorek/Schütze-Gerken, ZPO III, § 138, Rn. 41. 161 So die Formulierung von MüKo-Wagner, ZPO I, § 138, Rn. 29; inhaltlich ebenso BGH NJW 1999, S. 53, 54; eine ausführliche Darstellung bietet auch Hackenberg, Erklärung mit Nichtwissen, S. 148 ff. an, wenn auch mit einer eigenen, engeren Auslegung der Wissenszurechnung. 162 Vgl. etwa BGH NJW 1990, S. 453; BGH NJW 1995, S. 130, 131; ebenso Stein/Jonas-Kern, ZPO II, § 138, Rn. 37; ausführlich wiederum Hackenberg, Erklärung mit Nichtwissen, S. 102 ff. 163 Vgl. BGH NJW 1962, S. 1395; ebenso Wieczorek/Schütze-Gerken, ZPO III, § 138, Rn. 37.
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dd) Exkurs: Die Fiktion des § 138 III ZPO im Lichte des Rechts auf Beweis Als kurzer Exkurs sei nun ein Blick auf diejenige Prozesspartei geworfen, zu deren Lasten die Geständnisfunktion des § 138 III ZPO eintritt. Durch diese Fiktion würde eine dieser Partei ungünstige Tatsache der Entscheidung zugrunde gelegt, so dass in dieser Fiktion insoweit eine Einschränkung des Rechts auf Beweis zu sehen sein könnte. Indes verlangt das Recht auf Beweis nach hier vertretener Auffassung gerade keinen Rechtsnachweis ohne jede Parteiaktivität.164 Die durch § 138 III ZPO belastete Partei kann grundsätzlich durch eigene Aktivität in Form einfachen Bestreitens eine Tatsache streitig stellen. Daher ist § 138 III ZPO für die durch die Geständnisfiktion belastete Partei ist zwar nicht als immanente Grenze des Rechts auf Beweis anzusehen, doch eine Einschränkung dieses Rechts ist in § 138 III ZPO insoweit gleichfalls nicht zu erblicken. Demgegenüber könnte das weitergehende Substantiierungserfordernis als Voraussetzung wirksamen Bestreitens durch Rechtsprechung und Literatur durchaus eine Einschränkung des Rechts auf Beweis darstellen.165 An dieser Stelle soll jedoch die Feststellung genügen, dass § 138 III ZPO sich nur für diejenige Partei, zu deren Gunsten die Fiktion wirkt, als immanente Grenze des Rechts auf Beweis darstellt. f) Geständnis einer Tatsache Der letzte Teilaspekt der fehlenden Beweisbedürftigkeit ist das gerichtliche Geständnis. Diese Rechtsfigur hat in § 288 ZPO eine gesetzliche Normierung gefunden. Die obigen Ausführungen zur Streitigkeit einer Tatsache gelten für das gerichtliche Geständnis in besonderem Maße: Wenn man diese Parteidisposition im Prozess ernst nimmt, so muss es einer Partei auch möglich sein, eine Tatsache für das erkennende Gericht bindend zu gestehen.166 aa) Das Geständnis nach § 288 ZPO in Rechtsprechung und Literatur Rechtsprechung und Literatur halten sich in ihrer Auslegung des gerichtlichen Geständnisses wiederum eng an der Norm des § 288 ZPO. Als Ausdruck der Parteidisposition ist das gerichtliche Geständnis in seinem Anwendungsbereich auf solche
164 Ausführlich
bereits oben II. 6. soeben unter IV. 3. e. bb. 166 So wohl auch die herrschende Meinung, siehe BGHZ 37, S. 154, 155 f.; BGH VersR 1970, S. 826, 827; aus der Literatur Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 9 ff.; ausführlich auch Brehm, Bindung des Richters; S. 21 ff. und 32 ff.; Pawlowski, MDR 1997, S. 7 ff.; allerdings im Einzelnen sehr streitig – gegen eine Parteidisposition von Tatsachen etwa Bernhard, JZ 1963, S. 245 ff.; Häsemeyer, ZZP 85 (1972), S. 207, 222 ff.; Orfanides, NJW 1990, S. 3174, 3177 f. jeweils mwN. 165 Ausführlich
§ 6 Grundlagen und die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis
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Prozesse beschränkt, die dem Beibringungsgrundsatz unterliegen.167 Voraussetzung eines gerichtlichen Geständnisses ist die entsprechende Erklärung in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht oder zu Protokoll des ersuchten Richters über eine der Partei ungünstige und von der Gegenpartei behauptete Tatsache.168 Diese Erklärung kann auch konkludent abgegeben werden, allerdings sind an die Annahme eines konkludenten Geständnisses durch das erkennende Gericht hohe Anforderungen zu stellen.169 Weiterhin muss die Erklärung subjektiv mit einem entsprechenden Geständniswillen abgegeben werden, konkret mit dem Willen der Partei, dass die zugestandene Tatsache ohne weitere Prüfung der Entscheidung zugrunde gelegt werden soll.170 Fraglich und streitig ist allein die Fragestellung nach dem zulässigen Umfang eines gerichtlichen Geständnisses und in konkreto, ob eine Partei berechtigt ist, ein bewusst unwahres Geständnis abzugeben, mithin also eine Tatsache bindend für wahr zu erklären, die sie entweder nicht kennt oder von deren Gegenteil sie überzeugt ist.171 Teilweise wird ein solches, (bewusst) unwahres Geständnis unter Verweis auf die allgemeine Wahrheitspflicht im Prozess aus § 138 I ZPO abgelehnt.172 Demgegenüber verweisen BGH und weite Teile der Literatur darauf, dass diese Wahrheitspflicht nur solche Tatsachen meint, die für die Partei günstig sind, nicht hingegen ungünstige Tatsachen. Vielmehr sei § 288 ZPO Ausdruck der Parteidisposition und müsse als ein solcher ernst genommen werden. Die Parteidisposition umfasse daher grundsätzlich auch ein Geständnis über eine unwahre Tatsache.173 Die Grenze wird jedoch zum einen beim Geständnis unmöglicher oder offenkundig unrichtiger Tatsachen und zum anderen bei bewusstem Zusammenwirken beider Partei im Rahmen des Geständnisses zur Schädigung eines Dritten gezogen.174 167 Vgl. MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 14 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 288, Rn. 8 ff. jeweils mwN. 168 Anschaulich BGH NJW 1994, S. 3109; siehe auch Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 288, Rn. 12 ff. und 21 ff.; MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 16 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 3 ff. jeweils mwN. 169 Vgl. bereits BGH JZ 1962, S. 252; BGH NJW 1983, S. 1496, 1497; ausführlich zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen BVerfG NJW 2001, S. 1565 f.; dazu auch Wieczorek/SchützeAssmann, ZPO, § 288, Rn. 36 ff. 170 Vgl. BGH NJW 1991, S. 1683 und BGH NJW 2005, S. 2550, sowie erneut BVerfG NJW 2001, S. 1565 f.; aus der Literatur Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 288, Rn. 24 ff.; MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 30. 171 Ausführlich und mit zahlreichen Nachweisen zu diesem Streit siehe MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 3 f. 172 In diesem Sinne Bernhard, JZ 1963, S. 245 ff.; Häsemeyer, ZZP 85 (1972), S. 207, 222 ff.; Orfanides, NJW 1990, S. 3174, 3177 f.; Scherer, DRiZ 1996, S. 58 ff. 173 BGHZ 37, S. 154, 155 f.; BGH VersR 1970, S. 826, 827; aus der Literatur Rosenberg/ Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 9 ff.; ausführlich auch Brehm, Bindung des Richters, S. 21 ff. und 32 ff.; Stickelbrock, Kollision von Prozessmaximen, S. 181 ff.; Pawlowski, MDR 1997, S. 7 ff. 174 Zu unmöglichen und offenkundig unrichtigen Tatsachen vgl. BGH NJW 1962, S. 1395 und BGH NJW 1979, S. 2089; zum kollusiven Zusammenwirken zulasten Dritter BGH NJW 1978, S. 2154, 2155 ff.; aus der Literatur Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 288, Rn. 40 ff.; MüKo-Prütting,
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
Abschließend sei die Möglichkeit des Widerrufes eines gerichtlichen Geständnisses und ihre Regelung in § 290 ZPO erwähnt. Hiernach bedarf ein Widerruf des Nachweises der Unrichtigkeit der zugestandenen Tatsache und zugleich der Veranlassung zu diesem Geständnis durch einen Irrtum. Irrtum meint hierbei die bewusste Unkenntnis des wahren Sachverhaltes, wobei sowohl Rechts- als auch Tatsachenirrtümer unabhängig von einem etwaigen Verschulden erfasst sind – mit Ausnahme des Motivirrtums.175 Ein bewusst unwahres Geständnis ist demgegenüber nicht des Widerrufes nach § 290 ZPO fähig.176 Weitere Widerrufsgründe sind das Einverständnis der Gegenpartei oder der Nachweis einer strafbaren Handlung des gestehenden Vertreters oder der Gegenpartei.177 bb) Eigene Ansicht: Das Geständnis einer Tatsache als immanente Grenze Für die Einordnung des gerichtlichen Geständnisses als immanente Grenze des Rechts auf Beweis bedarf es einer Differenzierung zwischen derjenigen Partei, zu deren Gunsten ein Geständnis wirkt und der gestehenden Partei, zu deren Lasten ihr Geständnis wirkt. Eine durch ein gerichtliches Geständnis zugestandene Tatsache wird nach § 288 ZPO der gerichtlichen Entscheidung als erwiesen zugrunde gelegt. Eine Partei, zu deren Gunsten diese zugestandene Tatsache als erwiesen angesehen wird, könnte durch eine weitere Beweiserhebung keinen weitergehenden Rechtsnachweis erreichen. Nach dem Prozesszweck der Durchsetzung privater Rechte stellt sich das gerichtliche Geständnis mithin als immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar. cc) Exkurs: Das Geständnis nach § 288 ZPO als Form des Grundrechtsverzicht Problematischer erscheint die Annahme einer immanenten Grenze des Rechts auf Beweis für diejenige Prozesspartei, zu deren Lasten das Geständnis wirkt. Allerdings weist das gerichtliche Geständnis nach § 288 ZPO die Besonderheit auf, dass eine Tatsache allein aufgrund des eigenen Verhaltens einer Partei zu ihren Lasten als erwiesen angesehen wird. Daher ließe sich insoweit auch für das gerichtliche Geständnis über eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis nachdenken. Indes zeichnen sich die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis durch zwei spezielle Merkmale aus: Die Beweiserhebung hat für eine Prozesspartei entweder keinerlei ZPO I, § 288, Rn. 35 ff. und Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 288, Rn. 55 ff. jeweils mwN; weitergehend Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 187 ff. und Cahn, AcP 198 (1998), S. 35 ff. und 69 ff.; ebenso für offenkundigen Tatsachen Pawlowski, MDR 1997, S. 9 f. 175 Vgl. zu den Voraussetzungen etwa BGH ZInsO, 2005, S. 373, 374; MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 4 ff.; Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 288, Rn. 2 jeweils mwN. 176 So bereits BGHZ 37, S. 154, 155 f.; zustimmend etwa MüKo-Prütting, ZPO I, § 288, Rn. 6; Musielak/Voit-Huber, ZPO, § 288, Rn. 2 jeweils mwN. 177 Zu diesen Widerrufsgründen Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 14.
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Nutzen oder die Beweisführung ist mit den beantragten Beweismitteln faktisch nicht möglich. Die Beweisführung über eine mittels gerichtlichem Geständnis zugestandene Tatsache könnte für die gestehende Prozesspartei indes durchaus von Nutzen sein und auch auf die faktische Möglichkeit der Beweisführung hat ein gerichtliches Geständnis grundsätzlich keinerlei Einfluss. Die herausgearbeitete Systematik der immanenten Grenzen würde durch die Anerkennung einer entsprechenden Grenze für die durch ein gerichtliches Geständnis belastete Prozesspartei mithin durchbrochen. Doch auch seinem Wesen nach steht das gerichtliche Geständnis als ein freiwilliger Akt des Zurücktretens der eigenen Beweisführung einem anderen Rechtsinstitut sehr viel näher. Ein gerichtliches Geständnis könnte sich vielmehr als Unterfall des Verzichts auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis darstellen. Ein solcher Verzicht auf das Recht auf Beweis setzt im Ergebnis nach Grundgesetz, EMRK und Grundrechtecharta übereinstimmend eine ausdrückliche oder konkludente Erklärung eines frei und umfassend informiert gebildeten Verzichtswillens voraus.178 In diesen Voraussetzungen kommt ein Verzicht den Anforderungen an ein gerichtliches Geständnis nach § 288 ZPO durch Rechtsprechung und Literatur in Form eines ausdrücklich oder konkludent erklärten Geständniswillens sehr nahe. Ein wirksamer Verzicht auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis würde jedoch weiterhin die freiwillige Bildung des Geständniswillens und insbesondere die umfassende Information des erkennenden Gerichts über die Konsequenzen des gerichtlichen Geständnisses für die prozessuale Situation der gestehenden Partei voraussetzten. Unter Einhaltung dieser weiteren Voraussetzungen und den richtigerweise hohen Anforderungen an die Annahme eines konkludenten Geständniswillens kann sich ein gerichtliches Geständnis nach § 288 ZPO im Einzelfall als Verzicht auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis darstellen.179 An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, dass es sich bei einem gerichtlichen Geständnis nicht um eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis der gestehenden Partei handelt. g) Exkurs: Die gesetzliche Vermutung einer Tatsache Die gesetzliche Vermutung einer Tatsache wird regelmäßig als ein weiterer Teilaspekt der fehlenden Beweisbedürftigkeit angesehen.180 Diese Sichtweise wird durch die gesetzliche Normierung des § 292 ZPO grundsätzlich bestätigt. Zwar stellt § 292 ZPO seinem Wortlaut nach lediglich das Recht auf den Gegenteilsbeweis ausdrücklich klar, doch damit geht zugleich einher, dass die vermutete Tatsache bis zur er178 Ausführlich
zum Verzicht auf die Gewährleistungen des Rechts auf Beweis unten § 8 IV. 3. den Anforderungen an einen konkludenten Geständniswillen siehe einmal mehr BGH NJW 1983, S. 1496, 1497; BVerfG NJW 2001, S. 1565 f. und Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 288, Rn. 36 ff. 180 So ausdrücklich MüKo-Prütting, ZPO I, § 292, Rn. 22. 179 Zu
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
folgreichen Führung des Gegenteilsbeweises keines weiteren Beweises bedarf.181 Allerdings unterscheidet sich die gesetzliche Vermutung signifikant von den bisherigen Teilaspekten der fehlenden Beweisbedürftigkeit: Der Ausschluss eines Beweismittels resultierte stets aus dem fehlenden Nutzen für die beantragende Partei im Hinblick auf die anderweitige Erwiesenheit der zum Beweis beantragten Tatsache. Die anderweitige Erwiesenheit war insoweit stets der Tatsache als solcher immanent. Die gesetzliche Vermutung wird demgegenüber abstrakt durch den Gesetzgeber festgelegt. Bei der hier interessierenden Tatsachenvermutung wird typisierend von bestimmten Tatbestandsmerkmalen – der Vermutungsbasis – auf das regelmäßige Bestehen einer anderen Tatsache geschlossen.182 Letztlich handelt es sich damit um eine Regelung der Beweislast, die aus dem materiellen Recht folgt.183 Daher ist an dieser Stelle festzuhalten, dass sich die gesetzliche Vermutung als Beweislastregel von den übrigen Aspekten der fehlenden Beweisbedürftigkeit – unabhängig von der faktisch ähnlichen Rechtsfolge – signifikant unterscheidet. Allein insoweit, als eine Prozesspartei die Vermutungsbasis einer gesetzlichen Vermutung nach § 292 ZPO erfolgreich nachweist und zugleich eine weitere Be weiserhebung zugunsten der sodann nach § 292 ZPO vermuteten Tatsache beantragt, stellt sich die gesetzliche Vermutung als immanente Grenze des Rechts auf Beweis iSe fehlenden Beweisbedürftigkeit dar. In diesem Fall kann die den Beweis beantragende Partei keinen über diese Vermutung hinausgehenden Rechtsnachweis erbringen und daher auch keine diesbezügliche Beweiserhebung qua Recht auf Beweis verlangen. Eine vermutete Tatsache wird einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt, solange der nach § 292 ZPO mögliche Gegenteilsbeweis nicht erfolgreich geführt wurde. Insoweit ist die gesetzliche Vermutung als immanente Grenze des Rechts auf Beweis anzusehen. Demgegenüber soll die Wirkung der gesetzlichen Vermutung für die jeweilige Gegenpartei und insbesondere das Recht auf Führung eines Gegenteilsbeweises erst an späterer Stelle eine nähere Darstellung finden.184
181 Ausführlich Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 60 ff. und Prütting, Gegenwartsprobleme, S. 49 f. 182 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 112, Rn. 33 und Wieczorek/Schütze-Assmann, ZPO IV, § 292, Rn. 7; ausführlich Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn. 244 ff. 183 So die h. M., vgl. Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 292, Rn. 5 und Prütting, Gegenwartsprobleme, S. 49 f. jeweils mwN; demgegenüber wurde § 292 ZPO früher teilweise als Beweisregel verstanden, siehe etwa Wendt, AcP 63 (1880), S. 254, 288 ff.; ähnlich auch Musielak, Grundlagen der Beweislast, S. 68 ff. 184 Ausführlich unten § 11 IV. 8.
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4. Ungeeignetheit eines Beweismittels Eine weitere, immanente Grenze findet das Recht auf Beweis in der Ungeeignetheit eines beantragten Beweismittels: a) Das Kriterium der Ungeeignetheit in Rechtsprechung und Literatur Dieses Kriterium wird von Rechtsprechung und Literatur als die wohl problematischste Möglichkeit der Ablehnung eines Beweismittels angesehen und mit großer Vorsicht behandelt.185 Die Zurückhaltung wird erklärlich, wenn man sich den Vorgang der Überprüfung der Beweiseignung vor Augen führt: Die Prüfung, ob ein Beweismittel für den Nachweis einer Tatsache geeignet ist, erfolgt im Vorfeld seiner Erhebung. Erforderlich ist somit stets eine prognostische Entscheidung des erkennenden Gerichts über die potentielle Beweiseignung des Beweismittels. Diese prognostische Entscheidung macht die Schwierigkeit des Kriteriums der Beweiseignung aus und rückt die Ablehnung eines Beweismittels als ungeeignet stets in die Nähe einer unzulässigen Beweisantizipation.186 Diese Grenzziehung zwischen einer zulässigen Ablehnung ungeeigneter Beweismittel und einer gegen die prozessualen Grundrechte verstoßenden Beweisantizipation stellt die große Schwierigkeit dieses Kriteriums dar. Eine relativ klare Grenze lässt sich dort ziehen, wo die Eignung eines Beweismittels nach den anerkannten Naturgesetzen ausgeschlossen ist.187 Als Beispiel ließe sich anführen, dass das Zeugnis eines Blinden über ein Bildnis oder eines Tauben über Geräusche beantragt wird (keine Ungeeignetheit liegt indes beim Nachweis mittels anderer Sinneseindrücke vor).188 Ähnliches gilt für einen beantragten Beweis mittels Wahrsagerei oder Wünschelruten.189 Weiterhin wird ein Polygraphentest (sog. Lügendetektortest) als ungeeignetes Beweismittel angesehen.190 In Rechtsprechung und Literatur werden die Grenzen der Beweiseignung indes noch weiter gezogen. Allerdings zeigen bereits die entsprechenden Formulierungs185
So ganz einhellig Rechtsprechung und Literatur, vgl. etwa BGH NJW 2004, S. 767, 768 f.; BGH NJW-RR 2013, S. 9, 10 und BVerfG NJW 1993, S. 254, 255; aus der Literatur siehe Stein/ Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 63 ff.; Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21; MüKo-Prüt ting, ZPO I, § 284, Rn. 98 jeweils mwN. 186 In diesem Sinne auch Wieczorek/Schütze-Ahrens, § 284, Rn. 97 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 63 f.; ausführlich Söllner, MDR 1988, S. 363, 364 f. 187 In diese Richtung bereits Söllner, MDR 1988, S. 363 ff.; ähnlich Strömer, JuS 1994, S. 238, 242; hierauf verweisend MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 98 und Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 98; in der Kommentarliteratur wird einzig diese Fallkonstellation tatsächlich mit Beispielen ungeeigneter Beweismittel unterlegt, vgl. etwa Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 64; Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21. 188 Vgl. auch Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21. 189 In diese Richtung BGH NJW 1978, S. 1207 in einem Strafprozess; in diesem Sinne für den Zivilprozess auch Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, Kapitel 44, Rn. 58 mwN. 190 So für den Zivilprozess BGH NJW 2003, S. 2527, 2528; zustimmend Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 68 und Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 97.
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versuche auf, welche Schwierigkeiten die damit verbundene Grenzziehung zwischen fehlender Beweiseignung und unzulässiger Beweisantizipation bereitet: So kann nach der Rechtsprechung eine Beweiserhebung unterbleiben, „wenn nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß der übergangene Beweisantrag Sachdienliches ergeben und die vom Gericht bereits gewonnene Überzeugung erschüttern könnte.“191 Weitere Formulierungsversuche gehen dahin, dass die Beweiseignung fehle, „wenn es im Einzelfalle vollkommen ausgeschlossen erscheint, dass die Beweisaufnahme irgendetwas Sachdienliches ergeben könnte“192 oder „wenn offensichtlich und unzweifelhaft ist, dass der angebotene Beweis die erhoffte Erkenntnis nicht zulässt“.193 Allerdings finden sich nur in den seltensten Fällen Beispiele für solche Fallkonstellationen – einziges, häufiger gewähltes Beispiel ist die Ablehnung eines Zeugenbeweises, wenn die zu beweisende Tatsache ihrer Art nach nur von einem Sachverständigen festgestellt werden kann.194 Vielmehr wird betont, dass eine geringe Wahrscheinlichkeit der Tatsache gerade nicht genüge und man große Zurückhaltung bei der Annahme eines ungeeigneten Beweismittels üben müsse.195 Solche Beweismittel seien sehr selten und eine Beweisantizipation unzulässig.196 b) Eigene Ansicht: die naturwissenschaftlich belegte Ungeeignetheit eines Beweismittels als immanente Grenze Die Geeignetheit eines Beweismittels stellt nach hier vertretener Sichtweise eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis dar. Die fehlende Eignung zum Nachweis einer Tatsache führt dazu, dass eine Beweiserhebung für die den Beweis beantragende Partei keinerlei Nutzen hätte. Die Erhebung kann schlicht keinerlei Einfluss auf die richterliche Überzeugung von einer Tatsache und daher nach dem Maßstab eines effektiven Rechtsnachweises unterbleiben. Das Kriterium der Eignung eines Beweismittels als immanente Grenze des Rechts auf Beweis ist nach hier vertretener Auffassung indes noch enger auszulegen, als dies durch Rechtsprechung und Literatur geschieht. Ein Beweismittel darf nur dann als ungeeignet abgelehnt werden, wenn sich die fehlende Eignung aus den aner191 So BVerfG NJW 1993, S. 254, 255 mit einigen weiteren, diesbezüglichen Formulierungen; siehe auch die Formulierungen von BVerfG NJW 2004, S. 1443 jeweils mwN. 192 So BGH NJW-RR 2013, S. 9, 10; ebenso MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 98; ganz ähnlich auch Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 64 jeweils mwN. 193 So Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 97. 194 So bereits BGH VersR 1958, S. 167, 168; in neuerer Zeit siehe BGH NJW 2007, S. 774, 777; ebenso Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 97 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 64. 195 Vgl. etwa BVerfG NJW-RR 2001, S. 1006, 1007 und BGH NJW-RR 2013, S. 9 jeweils mwN aus der Rechtsprechung; ebenso Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 63 f.; Musielak/ Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21. 196 So die Eingangsbemerkung von Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21.
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kannten Denk- und Naturgesetzen ergibt. Allein dieses Kriterium ermöglicht eine saubere, trennscharfe Grenzziehung zwischen fehlender Beweiseignung und unzulässiger Beweisantizipation. Die gesicherten Erkenntnisse über Zusammenhänge unserer Natur aus anderen Disziplinen der Wissenschaft darf und sollte sich die Rechtswissenschaft zu Nutze machen. Darüberhinausgehende Versuche, Kriterien der Beweiseignung zu finden, enden letztlich in einer Betrachtung von Einzelfällen und führen zu schwer handhabbaren Kriterien ohne Anwendungsbereich oder einer unzulässigen Beweisantizipation. Eine ähnliche Herangehensweise wird auch im U.S.-amerikanischen Recht bei der Beurteilung der Eignung von Indizienbeweisen gewählt.197 Das erkennende Gericht hat über diese naturwissenschaftlichen Zusammenhänge gegebenenfalls seinerseits Beweis zu erheben, um sich ein umfassendes Bild zu verschaffen. Sollte eine der Parteien Tatsachen vortragen, die ernsthafte Zweifel an diesen naturgesetzlichen Vorgaben wecken, so hat das Gericht auch auf diese Initiative hin Beweis zu erheben. Außerdem folgt aus dem Recht auf Beweis die Pflicht des erkennenden Gerichts zur Information der Parteien über die Gründe und naturgesetzlichen Zusammenhänge, aus denen heraus ein Beweismittel als ungeeignet abgelehnt wird.
5. Unerreichbarkeit eines Beweismittels Seine letzte, immanente Grenze findet das Recht auf Beweis in der Unerreichbarkeit eines beantragten Beweismittels. In aller Regel betrifft dieser Ablehnungsgrund den Zeugen- und Urkundenbeweis.198 Indes sind letztlich für alle Beweismittel Implikationen mit diesem Ablehnungsgrund denkbar. a) Das Kriterium der Unerreichbarkeit in Rechtsprechung und Literatur Die Unerreichbarkeit wird in Rechtsprechung und Literatur einhellig als Ablehnungsgrund für einen Beweisantrag angesehen.199 Allerdings beinhaltet auch die Unerreichbarkeit eines Beweismittels regelmäßig ein gewisses prognostisches Element. Daher sind an eine Beweisablehnung wegen Unerreichbarkeit des Beweismittels hohe Anforderungen zu stellen.200 Eine Ablehnung kommt etwa in Betracht, wenn der Aufenthaltsort eines Zeugen unbekannt ist. Das Gericht hat im Vorfeld 197
Vgl. Rule 401–403 FRE und die rechtsvergleichende Darstellung in § 3 V. 1. So ausdrücklich Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 59 ff.; inhaltlich ganz ähnlich Wie czorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 99 und MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 95. 199 Vgl. bereits BGH NJW 1974, S. 188; siehe auch BGH NJW 2006, S. 3416, 3418 allerdings zu einem familiengerichtlichen Verfahren mit Untersuchungsmaxime; ebenso MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 95; Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21a und Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 99. 200 So etwa BGH NJW 2012, S. 296, 297 und BGH NJW-RR 2013, S. 9, 10; zustimmend Stein/ Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 59 und Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21a. 198
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einer solchen Ablehnung wegen Unerreichbarkeit zudem eine Aufklärungspflicht und unter Berücksichtigung der Bedeutung des Zeugnisses entsprechende Bemühungen anzustellen, um den Zeugen beizubringen. Erst wenn diese Bemühungen scheitern und keine begründete Aussicht auf Beibringung des Zeugen in absehbarer Zeit besteht, kommt eine Ablehnung in Betracht.201 Ähnliches soll bei einer Krankheit des Zeugen gelten, die ihn im Falle seiner Aussage dem Risiko einer Gesundheitsgefährdung aussetzten würden.202 Bei einem Zeugen im Ausland ist Rechtshilfe zu beantragen oder eine kommissarische Vernehmung zu prüfen.203 Grundsätzlich genügt auch eine mehrfache Verletzung der Zeugnispflicht nicht für einen Ausschluss des Beweismittels.204 Ähnliche Grundsätze dürften für eine Urkunde unbekannten Aufenthalts oder einen weltweit einzigartigen Experten als Sachverständigen gelten.205 Eine Ablehnung wegen hohen finanziellen oder logistischen Aufwandes einer Beweiserhebung kommt in aller Regel nicht in Betracht.206 Im Falle einer dauernden Unerreichbarkeit ist der Partei nach § 356 ZPO eine angemessene Frist für die Beibringung des Beweismittels zu setzten und nach Ablauf der Frist das Beweismittel abzulehnen.207 b) Eigene Ansicht: Die faktische Unerreichbarkeit als immanente Grenze Die Unerreichbarkeit eines Beweismittels ist die letzte immanente Grenze des Rechts auf Beweis und als solche eng zu ziehen. Diese Grenze ist letztlich ein Ausdruck des seit der Antike bekannten Rechtsgrundsatzes, dass Unmögliches nicht vom Recht gefordert werden kann.208 Eine Beweiserhebung scheitert nicht an ihrer fehlenden Nützlichkeit für die beantragende Partei, sondern rein faktisch ihrer feh201 Vgl. bereits BGH NJW 1992, S. 1768, 1769; ausführlich auch BGH NJW 2006, S. 3416, 3418; aus der Literatur siehe Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 99 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 59 ff. 202 Vgl. OLG Saarbrücken, NJW-RR 1998, S. 1685; ebenso MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 95. 203 Siehe etwa BGH NJW 1992, S. 1768, 1769; vgl. aber auch BGH NJW 1984, S. 2039 mit einem Fall der Ablehnung wegen Unerreichbarkeit eines Zeugen in Ghana; aus der Literatur siehe Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 60 und Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 99. 204 Vgl. OLG Köln, MDR 2001, S. 109; in Ansätzen auch BGH NJW 1992, S. 1768, 1769; in diesem Sinne auch Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 21a und Stein/Jonas-Thole, § 284 Rn. 59 ff. 205 In diese Richtung auch MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 95; weitere Beispiele nennt Stein/ Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 62. 206 Allgemein zu ökonomischen Gründen für eine Beweisablehnung äußert sich BVerfGE 50, S. 32, 35 f.; tendenziell anders Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 99 mwN. 207 Anschaulich BGH NJW 1974, S. 188 f.; siehe auch BVerfG NJW 1985, S. 3005 f.; aus der Literatur Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 62 und Musielak/Voit-Foerste, § 284, Rn. 21a jeweils mwN. 208 Vgl. auch zur Geschichte dieses Grundsatzes Wagner, Studien zum Recht der Unmöglichkeit, S. 19 ff. mwN.
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lenden Realisierbarkeit. Allerdings zeigt diese sich selbst bedingende Ablehnung der Beweiserhebung zugleich deutlich die Grenzen der Unerreichbarkeit auf: Nach hier vertretener Ansicht ist die Ablehnung eines Beweismittels wegen Unerreichbarkeit ausschließlich unter der Voraussetzung möglich, dass das Beweismittel rein faktisch nicht erreichbar und die Beweiserhebung mithin faktisch unmöglich ist. Unter diese faktische Unmöglichkeit lassen sich etwa Fallkonstellationen subsumieren, in denen eine Urkunde zerstört wurde oder ein Zeuge im Vorfeld seiner Aussage verstorben ist. In diesen Fällen ist es dem erkennenden Gericht schlicht nicht möglich, den beantragten Beweis zu erheben. Gleiches gilt für die beantragte Augenscheinnahme, falls sich der zu besichtigende Ort dergestalt verändert hat, dass das Augenscheinsobjekt als solches zerstört wurde – etwa durch Aufräumarbeiten nach einem Verkehrsunfall.209 Eine weitere Konstellation der Unerreichbarkeit stellt die Unauffindbarkeit eines Beweismittels dar. Grundvoraussetzung einer solchen Beweisablehnung ist allerdings, dass das erkennende Gericht alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Wege zum Auffinden des Beweismittels ausgeschöpft hat. Ausschließlich eine dauernde Unauffindbarkeit kann der Unerreichbarkeit eines Beweismittels gleichgesetzt werden. Außerdem kann aus dem Recht auf Beweis je nach Fallkonstellation und Vortrag der Parteien außerdem die Verpflichtung folgen, der beweisbelasteten Partei eine angemessene Zeitspanne zum selbstständigen Auffinden des beantragten Beweismittels zu geben – ähnlich, wie es das Fristsetzungserfordernis des § 356 ZPO einfach-rechtlich bereits vorsieht.210 Die Annahme der Unauffindbarkeit setzt eine prognostische Entscheidung des Gerichts voraus. Als immanente Grenze des Rechts auf Beweis ist diese Annahme eng auszulegen und erfordert größte Zurückhaltung des erkennenden Gerichts. Es müssen rein faktisch alle Informationsmöglichkeiten vollständig ausgeschöpft und jedem Hinweis nachgegangen worden sein, um die Unauffindbarkeit und damit die Unerreichbarkeit eines Beweismittels annehmen zu dürfen. In dieser Prognose spielen ökonomische Gesichtspunkte nach hier vertretener Auffassung keine Rolle. Bei Auslandsberührung hat das Gericht Rechtshilfeersuchen zu stellen und kommissarische Vernehmungen zu versuchen. Etwaige, hohe Kosten – beispielsweise eines Fluges – können für sich genommen eine Zurückweisung des beantragten Beweismittels gerade nicht rechtfertigen. Gleiches gilt für etwaige Schwierigkeiten bei der Ausschöpfung der Informationsquellen des Gerichts. Das Gericht hat die Parteien zudem darüber zu informieren, welche Mittel ausgeschöpft und welche Informationen erlangt wurden. Schließlich muss es 209
Vgl. in diese Richtung BGH VersR 1961, S. 615, 617, allerdings mit der Einordnung dieser Fallkonstellation unter die fehlende Beweiseignung; ebenso Söllner, MDR 1988, S. 363, 364 und Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 97. 210 Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen BVerfG NJW 1985, S. 3005 f.; ausführlich und mit Nachweisen auch MüKo-Heinrich, ZPO II, § 356, Rn. 1 ff.
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aufzeigen, weshalb ein Beweismittel unauffindbar war.211 Gleiches gilt für die Unerreichbarkeit aufgrund von Zerstörung oder Versterbens eines Zeugen. Gegebenenfalls ist über das Vorliegen der Unerreichbarkeit seinerseits Beweis zu erheben. Die Verhandlungsunfähigkeit eines Zeugen unterfällt nach hier vertretener Auffassung nicht der immanenten Grenzen der Unerreichbarkeit. Eine solche Ablehnung der Zeugeneinvernahme – etwa wegen einer Krankheit des Zeugen – unterscheidet sich deutlich von den bisherigen, immanenten Grenzen: Das Zeugnis könnte für sich betrachtet ein erhebliches und geeignetes Beweismittel für eine beweisbedürftige Tatsache darstellen. Die Ablehnung erfolgt anhand einer Abwägung aufgrund der überwiegenden Rechte eines Dritten – hier des kranken Zeugen. Dieses Abwägungserfordernis stellt den entscheidenden Unterschied zu den hier dargestellten Grenzen dar, die dem Recht auf Beweis als solchem immanent sind. Die Ablehnung der Zeugeneinvernahme aufgrund schwerer Krankheit kommt selbstverständlich auch nach hier vertretener Ansicht in Betracht. Es handelt sich jedoch dogmatisch betrachtet nicht um eine immanente Grenze des Rechts auf Beweis.
6. Die gerichtliche Entscheidung über die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis Die immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis wurden soeben in ihren Voraussetzungen und ihrem Umfang eingehend skizziert. Die Entscheidung, ob eine solche Grenze im konkreten Fall jeweils einschlägig und ein Beweisantrag dementsprechend abzulehnen ist, liegt indes beim erkennenden Gericht. a) Grundsatz: Gerichtliche Ermessensentscheidung im jeweiligen Einzelfall Es handelt sich dabei nach hier vertretener Ansicht um eine Ermessensentscheidung des Gerichts.212 Eine anderweitige, abstrakte Lösung ist im Hinblick auf die Vielzahl möglicher Fälle schlicht nicht praktikabel und würde zudem die Entscheidungskompetenzen eines Gerichtes zu stark einschränken. Das Gericht entscheidet daher über die Einschlägigkeit einer immanenten Grenze des Rechts auf Beweis im Rahmen einer in Rede stehenden Ablehnung von Beweisanträgen nach pflichtgemäßem Ermessen. Allerdings gilt es bei einem Blick auf die entsprechenden Entscheidungen zu bedenken, dass sich der Umfang des Ermessens in gewissen Grenzen hält. Die Entscheidung über die Eignung und Erreichbarkeit eines Beweismittels erfolgt nach hier vertretener Sichtweise rein faktisch. Es muss also feststehen, dass ein Beweis211
Vgl. zu den entsprechenden Nachforschungspflichten des Gerichts auch § 12 I. 4. c. Diese Entscheidung bezieht sich allein auf die benannten, immanenten Grenzen. Eine allgemeine gerichtliche Ermessensentscheidung über die Ablehnung von Beweismitteln gibt es demgegenüber gerade nicht, wie Musielak/Voit-Forste, § 284, Rn. 14a richtig anmerkt. 212
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mittel nicht erreichbar ist bzw. aufgrund naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten faktisch nicht zum Beweis geeignet ist. Das Gericht muss auch in diesem Rahmen gewisse, prognostische Entscheidungen treffen. Dennoch hält sich dieses Ermessen in engen Grenzen. Ähnliches gilt für die Ablehnungsentscheidung eines Beweismittels als nicht beweisbedürftig: Die Unstreitigkeit einer Tatsache ist ebenso wie das Geständnis allein vom Verhalten der Parteien abhängig. Die Offenkundigkeit stellt ein Rechtsinstitut dar, welches aus der Tatsache selbst folgt und durch das Gericht anhand klar festgelegter Voraussetzungen bestimmt wird. Ein umfangreicheres Ermessen besteht daher allein in den Bereichen der – geringen – Substantiierungsanforderungen an den Beweisantrag einer Partei und der Annahme der dauernden Unauffindbarkeit eines Beweismittels. Die Erwiesenheit einer Tatsache obliegt in der Tat allein der Würdigung durch das Gericht. Allerdings muss sich das Gericht sodann an dieser Sichtweise auch festhalten lassen. b) Begründungspflichten und Überprüfbarkeit der Ablehnungsentscheidung Diese grundsätzliche Ermessensfreiheit des erkennenden Gerichts hat allerdings im Hinblick auf eine effektive Geltung des Rechts auf Beweis ihrerseits gewisse Grenzen: Die erste Grenze ist in einer umfassenden Begründungspflicht zu sehen. Das Gericht muss sich mit jedem Beweisantrag auseinandersetzten und die Gründe für seine Ablehnung detailliert darlegen. Diese Begründung muss es den Parteien ermöglichen, die Beweisablehnung zu überprüfen und gegebenenfalls Rechtsmittel einzulegen. Das Rechtsmittelgericht muss seinerseits in die Lage versetzt werden, anhand dieser Begründung eine vollständige Überprüfung der Ablehnungsgründe vorzunehmen. Die Begründungspflichten müssen insgesamt umso höher ausfallen, je stärker die gerichtliche Entscheidung prognostischer Natur ist: So hat das Gericht hat die Verpflichtung darzulegen, welcher Substantiierungsgrad eines Parteivortrages aus welchen Gründen – auch im Hinblick auf den Vortrag der Gegenpartei – erforderlich gewesen wäre, um eine Beweiserhebung herbeizuführen und inwieweit der tatsächliche Vortrag diesen Anforderungen nicht genügt hat. Auch muss das Gericht begründen, weshalb ein Beweismittel als unerreichbar anzusehen ist. Falls das Gericht ein Beweismittel als unauffindbar ansieht, so muss es darlegen, welche Mittel es zu dessen Auffinden eingesetzt hat und welche Informationen erlangt wurden, welche weiteren Mittel zur Verfügung stehen könnten und weshalb das Beweismittel letztlich als unauffindbar angesehen wurde. Die Ablehnung eines Beweismittels mangels Eignung bedarf aufgrund ihres regelmäßig prognostischen Charakters besonders genauer Begründung. Das Gericht muss die seine Entscheidung stützenden, naturgesetzlichen Zusammenhänge erläutern und die Quellen seines entsprechenden Fachwissens angeben. Sodann muss das Gericht darlegen, weshalb das konkrete Beweismittel unter Geltung dieses Naturgesetzes vollkommen ungeeignet zum Nachweis des Beweisthemas ist. Falls eine Partei Zweifel an den naturgesetzlichen
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Zusammenhängen geäußert hat, muss das Gericht außerdem darlegen, weshalb es diesen Zweifeln nach entsprechender Beweiserhebung keine Bedeutung beimisst bzw. umso detaillierter, weshalb das Gericht auch eine Beweiserhebung bezüglich dieser Zweifel abgelehnt hat. Die zweite Grenze des gerichtlichen Ermessens ist in der umfassenden Überprüfbarkeit dieser Entscheidung im Instanzenzug zu sehen. Im Rahmen des tatsächlich bestehenden Instanzenzuges folgt aus dem Recht auf Beweis eine Verpflichtung zur vollständigen Überprüfung der Ermessensentscheidung der Vorinstanz(en) über die Ablehnung mangels hinreichender Substantiierung eines Beweisantrages, der fehlenden Beweisbedürftigkeit einer Tatsache bzw. der fehlenden Eignung oder Erreichbarkeit eines Beweismittels.213
7. Die weiteren Beweisablehnungsgründe in Rechtsprechung und Literatur Diese Ablehnungsgründe eines Beweisantrages stellen nach hier vertretener Ansicht die abschließenden immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis dar. In Rechtsprechung und Literatur haben sich darüber hinaus indes noch zahlreiche weitere Ablehnungsgründe für Beweisanträge herauskristallisiert – regelmäßig in Anlehnung an § 244 III-V StPO. a) Die Annahme weiterer Ablehnungsgründe durch Rechtsprechung und Literatur Im Einzelnen werden als weitere Ablehnungsgründe eines Beweisantrages in Rechtsprechung und Schrifttum genannt: Die Verspätung des Antrages, die Unzulässigkeit der Beweiserhebung, eine Bindung an anderweitige Tatsachenfeststellungen, eine mögliche Wahrunterstellung, eigene Sachkunde oder ein Ermessen des erkennenden Gerichts. 214 b) Eigene Ansicht: Rechtfertigungsbedürftigkeit weitergehender Einschränkungen Ein Beweisantrag kann auch nach hier vertretener Meinung durchaus mit Verweis auf einen dieser Gründe abgelehnt werden. Allerdings handelt es sich bei diesen Ablehnungsgründen nicht um immanente Grenzen des Rechts auf Beweis. Eine immanente Grenze wohnt dem Recht auf Beweis als solchem inne. Der Ablehnungsgrund folgt aus der Tatsache oder dem Beweismittel selbst und wird nicht „von au213 Zum Prüfungsmaßstab nach der Rechtsprechung siehe wiederum etwa BGH NJW 1987, S. 1557, 1558; ebenso BGH NJW-RR 2000, S. 686 und BGH NJW 2008, S. 2845 jeweils mwN. 214 Vgl. bereits die erstaunlich aktuelle Auflistung von Schönke, FG Rosenberg, S. 217 ff.; siehe sodann die Auflistungen von MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 91 ff.; Musielak/Voit-Foerste, ZPO, § 284, Rn. 14 ff.; Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 91 ff.; Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 40 ff.; ausführlich auch Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306, 310 ff.
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ßen“ durch die Rechte Dritter hineingetragen. Eine Abwägung mit den Rechten Dritter oder Allgemeingütern ist im Rahmen der immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis gerade nicht erforderlich. Dieses Charakteristikum zeigt zugleich auf, weshalb die soeben benannten Ablehnungsgründe keine derartige, immanente Grenze darstellen: Es wird ein Beweismittel abgelehnt, das an und für sich verfügbar und für die beantragende Partei auch nützlich sein könnte. Die Ablehnung erfolgt also gerade nicht „aus sich selbst heraus“, sondern vielmehr in Abwägung mit Rechten Dritter bzw. Allgemeingütern, denen im konkreten Einzelfall ein Vorrang vor dem Recht auf Beweis einzuräumen ist. Die weiteren Beweisablehnungsgründe stellen sich daher nicht als immanente Grenzen, sondern als vielmehr rechtfertigungsbedürftige Einschränkungen des Rechts auf Beweis dar.215
8. Die Möglichkeit einer analogen Anwendung des § 244 StPO im Zivilprozess Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die gesetzliche Normierung der Beweisablehnungsgründe für den Strafprozess in § 244 III–V StPO geworfen. So haben Beweisablehnungsgründe wie die fehlende Beweiseignung oder Beweisbedürftigkeit in § 244 III StPO im Gegensatz zur ZPO eine explizite Normierung erfahren. a) Die Nutzbarmachung des § 244 StPO durch Rechtsprechung und Literatur Der BGH ging in seiner Rechtsprechung bereits früh von einer Anwendbarkeit des § 244 StPO auf den Zivilprozess aus.216 Der Zivilrichter könne sich bei der Ablehnung von Beweisanträgen „an die das Ergebnis jahrzehntelanger Rechtsprechung enthaltende Vorschrift des § 244 Abs. 3 StPO anlehnen“.217 In der Literatur hat diese Sichtweise überwiegend Zustimmung erfahren.218 Ein anderer Teil der Literatur steht einer solchen Anwendung des § 244 III–V StPO auf den Zivilprozess jedoch kritisch gegenüber.219 b) Eigene Ansicht: Keine pauschale Übertragbarkeit des § 244 StPO Diese Kritik an einer pauschalen Übertragung des § 244 StPO auf den Zivilprozess trifft nach hier vertretener Ansicht zu. Eine Analogie bedarf nach allgemeinen 215 Vgl. den Grenzen des Rechts auf Beweis, insbesondere den Voraussetzungen einer Einschränkung § 8 III. 216 Ausführlich bereits BGHZ 53, S. 245, 259 ff. in seiner berühmten „Anastasia“-Entscheidung; seitdem st. Rspr., vgl. etwa in neuerer Zeit BGH NJW-RR 2013, S. 9, 10 mwN. 217 So wörtlich BGHZ 53, S. 245, 259. 218 Vgl. etwa Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 41; ebenso Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 53 ff.; Kopp, NJW 1988, S. 1708; Strömer, JuS 1994, S. 238, 241. 219 Eine ausführliche Kritik liefert etwa Gamp, die Ablehnung von Beweisanträgen, S. 106 ff.; ähnlich auch Schneider, ZZP 75 (1962), S. 173, 180 ff. jeweils mwN.
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Grundsätzen einer planwidrigen Regelungslücke und einer vergleichbaren Interessenlage.220 Bereits die erste Voraussetzung einer planwidrigen Regelungslücke in der ZPO erscheint zweifelhaft. So wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die ZPO durchaus Regelungen zur Ablehnung von Beweismitteln trifft, insbesondere im Bereich der Beweisbedürftigkeit mit den §§ 288 ff. ZPO zu Offenkundigkeit, gerichtlichem Geständnis und gesetzlicher Vermutung.221 Diese Normen treffen teils eine anderweitige Regelung als § 244 StPO, so dass jedenfalls insoweit eine Analogie ausscheiden muss.222 Andererseits finden sich in der ZPO keine allgemeinen Ablehnungsgründe für ungeeignete oder unerreichbare Beweismittel. In diesen Fallkonstellationen könnte eine Analogie zu der expliziten Regelung des § 244 III StPO in Betracht kommen. Indes erscheint auch die zweite Voraussetzung einer Analogie durchaus zweifelhaft: eine vergleichbare Interessenlage in Zivil- und Strafprozess.223 Der Strafprozess ist geprägt von einem Widerstreit zwischen dem Staat auf der einen Seite und der angeklagten Privatperson auf der anderen Seite. In diesem Prozess gilt der Untersuchungsgrundsatz und für den Fall der Nichterweislichkeit einer behaupteten Straftat führt der Grundsatz in dubio pro reo zu einer ganz bestimmten gerichtlichen Entscheidung in Form eines Freispruches zugunsten der Privatperson.224 In einem Zivilprozess stehen sich demgegenüber zwei Privatpersonen gleichrangig gegenüber und streiten vermittelt durch den Staat in Gestalt des erkennenden Gerichts um ihr Recht. Es gilt der Beibringungsgrundsatz und bei Nichterweislichkeit von Tatsachen wird eine Entscheidung anhand von Beweislastgrundsätzen getroffen.225 Insbesondere die Unterschiedlichkeit der Grundkonstellation führt nach hier vertretener Ansicht zu einer gänzlich verschiedenen Interessenlage: Das Gegeneinander von Privatperson und Staat im Strafprozess auf der einen Seite und der Streit zwischen gleichrangigen Privatpersonen im Zivilprozess auf der anderen Seite. Eine allgemein vergleichbare Interessenlage beider Prozessarten lässt sich mithin nicht ausmachen, so dass eine pauschale Analogie des § 244 III–V StPO ausscheidet.226 220 Ausführlich zu den Voraussetzungen einer Analogie Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff., insbesondere S. 202 ff. und Reimer, Methodenlehre, S. 249 ff. jeweils mwN. 221 Eine ausführliche Untersuchung liefert Gamp, die Ablehnung von Beweisanträgen, S. 103 ff. mwN. 222 In diesem Sinne auch Gamp, die Ablehnung von Beweisanträgen, S. 106 ff. und Schneider, ZZP 75 (1962), S. 173, 180 ff. jeweils mwN. 223 In diesem Sinne auch die Argumentation bei Gamp, die Ablehnung von Beweisanträgen, S. 107 ff. mwN. 224 Vgl. etwa Roxin/Schünemann, StPO, § 15, Rn. 1 ff. (Untersuchungsgrundsatz) und dies., StPO, § 45, Rn. 46 ff. (in dubio pro reo) jeweils mwN. 225 Vgl. etwa Rosenberg/Schwab/Gottwald, ZPR, § 77 Rn. 1 ff. (Beibringungsgrundsatz) und § 115 Rn. 1 ff. (Beweislast) jeweils mwN. 226 So auch Schneider, ZZP 75 (1962), S. 173, 179 ff.; Gamp, die Ablehnung von Beweisanträgen, S. 106 ff.; ebenfalls in diese Richtung Bauer, MDR 1994, S. 953 ff.; demgegenüber für eine
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Die Unterschiedlichkeit der Interessenlagen lässt sich an einem Beispiel sehr schön illustrieren. Das Rechtsinstitut der Wahrunterstellung ermöglicht es dem Gericht im Strafprozess, Tatsachenvortrag des Angeklagten unter bestimmten Voraussetzungen als wahr zu behandeln, um eine Beweisaufnahme über diese Tatsachen zu vermeiden.227 Die Wahrunterstellung erscheint im Hinblick auf den Grundsatz in dubio pro reo durchaus sinnvoll, schließlich muss der Staat die Schuld des Angeklagten nachweisen, so dass eine einseitige Bevorteilung mittels Wahrunterstellung keinen rechtsstaatlichen Bedenken begegnet.228 Allerdings wird dieses Institut durch die Rechtsprechung sogleich auf den Zivilprozess übertragen.229 In einem Zivilprozess streiten indes zwei gleichrangige Privatpersonen um ihr Recht. Eine einseitige Wahrunterstellung von Tatsachenbehauptungen zugunsten einer Partei erscheint im Zivilprozess als eine krasse Benachteiligung der jeweiligen Gegenpartei. Aufgrund dessen gehen die Anhänger einer solchen Wahrunterstellung im Zivilprozess davon aus, dass diese Wahrunterstellung ausschließlich in Betracht kommt, wenn die andere Partei nicht schlechter gestellt wird.230 Die Gegenansicht in der Literatur weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass sodann lediglich solche Fallkonstellationen für eine Wahrunterstellung übrig bleiben, in denen die als wahr unterstellte Tatsache ohnehin nicht entscheidungserheblich gewesen ist.231 Dem übertragenen Institut der Wahrunterstellung verbleibt gegenüber dem allgemeinen Ablehnungsgrund der fehlenden Entscheidungserheblichkeit aufgrund der Andersartigkeit der Interessenlage im Zivilprozess keinerlei eigener Anwendungsbereich. Dieses Beispiel zeigt auf, dass eine Übertragung von Instituten aus dem Strafprozess auf den Zivilprozess großer Vorsicht bedarf und regelmäßig aufgrund verschiedener Interessenlagen ausscheiden muss.
zulässige Beweisablehnung bei Geltung des Beibringungsgrundsatzes im Wege eines Erst-RechtSchlusses aus dem Untersuchungsgrundsatz Störmer, JuS 1994, S. 238, 241. 227 Vgl. zu den Wurzeln dieses Rechtsinstituts im Strafprozess bereits BGHSt 1, S. 137, 138 f. und BGH StV 1994, S. 115; vgl. auch Roxin/Schünemann, StPO, § 45, Rn. 19 ff. mwN. 228 So geht die h.L. im Strafprozess auch davon aus, dass das Institut der Wahrunterstellung aus diesem Grundsatz folge, vgl. Tenckhoff, Wahrunterstellung, S. 115 ff. mwN; die andere Ansicht sieht die Wahrunterstellung als Ausdruck der Prozessökonomie, die allerdings ihre Begrenzung im Grundsatz in dubio pro reo findet, so Roxin/Schünemann, StPO, § 45, Rn.19 mwN. 229 So bereits BGHZ 53, S. 245, 259 f.; ebenso BGH NJW-RR 2005, S. 1051, 1052; bestätigt durch BVerfG NJW 1992, S. 1875, 1876 f.; dem Grunde nach zustimmend Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 41 und MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 101. 230 So bereits explizit BGHZ 53, S. 245, 260. 231 In diesem Sinne gegen eine Übertragung des Instituts der Wahrunterstellung sprechen sich aus Schneider, ZZP 75 (1962), S. 173, 207 ff.; Teplitzky, JuS 1968, S. 71, 74; Musielak/Stadler, JuS 1979, S. 721, 724; Wieczorek/Schütze-Ahrens, ZPO IV, § 284, Rn. 100; in diese Richtung tendierend Bauer, MDR 1994, S. 953, 955; der Kritik an der fehlenden Entscheidungserheblichkeit stimmen ebenfalls Stein/Jonas-Thole, ZPO IV, § 284, Rn. 77 ff. und MüKo-Prütting, ZPO I, § 284, Rn. 101 zu.
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Denkbar bleibt allenfalls eine Übernahme des Rechtsgedankens des § 244 III–V StPO im Einzelfall. So fehlt es Zivilprozess nun einmal an einer Regelung für die praktisch relevanten Fallkonstellationen der fehlenden Eignung oder Erreichbarkeit eines Beweismittels. Eine Anwendung des § 244 III–V StPO kann daher im Einzelfall auch für den Zivilprozess in Betracht kommen. Allerdings muss eine solche Anwendung des Rechtsgedankens des § 244 III–V StPO stets die Unterschiedlichkeit der Interessenlagen von Zivil- und Strafprozess im Blick haben. Die unterschiedliche Symmetrie des Verhältnisses von Staat gegen Privatperson im Strafprozess und Privatperson gegen Privatperson im Zivilprozess kann zu erheblichen Anpassungen der übernommenen Regelungen zwingen.
V. Zusammenfassung In diesem Paragraphen wurden einige inhaltliche Grundaussagen getroffen, die für das Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta gleichermaßen Geltung haben: Das Recht auf Beweis in allen drei Grundrechtsordnungen basiert auf einem gemeinsamen Wertefundament in Form des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte. Es handelt sich um ein eigenständiges prozessuales Grundrecht aller an einem Zivilprozess beteiligter Parteien. Das Recht auf Beweis hat keinen negativen Gewährleistungsgehalt auf die irgendwie geartete Verhinderung einer Beweiserhebung der anderen Partei. Zudem geht das Recht auf Beweis vom Bild des Zivilprozesses als einem Parteiprozess aus, so dass dieses Recht als eine Gewährleistung aktiver Beweisführung in einem Zivilprozess anzusehen ist und keinen Rechtsnachweis ohne eigene Aktivität der Parteien fordert. Weiter wurde eine Methodik der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis erarbeitet, die allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen gemein ist: Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis orientiert sich in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta gleichermaßen am Prozesszweck der jeweiligen nationalen Prozessordnung: Das Recht auf Beweis reicht exakt so weit, wie es für den effektiven Nachweis und die daraus resultierende, effektive Durchsetzung privater Rechte als Zweck des deutschen Zivilprozesses erforderlich ist. Diese inhaltliche Orientierung am Prozesszweck führt in allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen gleichermaßen zu gewissen Grenzen, die dem Recht auf Beweis als solchem immanent sind und seinen Gewährleistungsgehalt begrenzen. Als zentrale, immanente Grenze des Rechts auf Beweis wurde das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit herausgearbeitet. Als weitere, immanente Grenzen stellen sich die fehlende Substantiierung eines Beweisantrags, die fehlende Beweisbedürftigkeit eines Beweisthemas sowie die fehlende Eignung und Erreichbarkeit eines Beweismittels dar. Diese immanenten Grenzen lassen sich in zwei Kategorien aufteilen: Die erste Art der immanenten Grenze resultiert aus der faktischen Unmög-
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lichkeit einer beantragten Beweiserhebung – so im Falle fehlender Substantiierung und fehlender Erreichbarkeit. Die zweite Kategorie der immanenten Grenzen zeichnet sich dadurch aus, dass die beantragte Beweiserhebung für den Antragsteller keinerlei Nutzen hätte, den Prozesszweck der Rechtsdurchsetzung mittels Rechtsnachweis also in keiner Weise fördern würden. Hierzu gehören die immanenten Grenzen der fehlenden Entscheidungserheblichkeit und Beweisbedürftigkeit einer Tatsache sowie die fehlende Eignung des Beweismittels. Die Entscheidung über die Voraussetzungen der Ablehnung eines Beweisantrages im Hinblick auf diese immanenten Grenzen liegt im Ermessen des Gerichts. Diese Ermessensentscheidung löst umfangreiche Begründungspflichten aus und ist im Instanzenzug voll justiziabel. Diese immanenten Grenzen des Rechts auf Beweis sind im Hinblick auf die Bedeutung des effektiven Rechtsnachweises für eine effektive Rechtsdurchsetzung grundsätzlich eng auszulegen.
§ 7
Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC I. Der weitere Gang der Untersuchung: die Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis Nachdem in den vorangegangenen Paragraphen das Recht auf Beweis dogmatisch verortet und in seinen Grundlagen bestimmt wurde, soll sich nun die Herausarbeitung des Inhaltes dieses Rechts auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta anschließen. Dabei gilt es zu bedenken, dass es sich bei dem Recht auf Beweis um ein umfassendes, prozessuales Grundrecht auf einen effektiven Rechtsnachweis handelt. Daher soll bereits an dieser Stelle betont werden, dass diese Darstellung nicht den Anspruch erhebt, den Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in allen Einzelheiten darstellen zu können. Es liegt vielmehr in der Natur eines jeden Grundrechts, dass es seinen Schutz in einer nahezu unerschöpflichen Vielzahl von Konstellationen gewährt und sich ständig ändernde, neue Konstellationen zu durchdenken sind. Es sollen die wichtigsten und regelmäßig wiederkehrenden Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis dargestellt werden, um eine Vorstellung vom wesentlichen Gehalt dieses Grundrechts zu vermitteln: Das Recht auf Beweis soll den Parteien des Zivilprozesses einen effektiven Nachweis eigener Rechte als Grundlage für die effektive Durchsetzung eigener Rechte ermöglichen. Im Idealbild geht dieses Recht auf Beweis nach hier vertretener Ansicht zugleich mit der Erforschung des wahren Sachverhaltes im Zivilprozess einher und führt daher in diesem gedachten Ideal auch zu einem der materiellen Rechtslage entsprechenden Ergebnis. Darüber hinaus soll diese Darstellung die Methodik der Inhaltsbestimmung aufzeigen: Die dogmatische Fundierung in Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten und insbesondere die Orientierung am Prozesszweck der Durchsetzung privater Rechte mittels effektivem Rechtsnachweis. Durch die Darstellung seiner dogmatischen Fundierung und der Methodik seiner Inhaltsbestimmung sowie einer Vielzahl einzelner Gewährleistungsgehalte soll das Recht auf Beweis so weit konkretisiert werden, dass ein handhabbarer Maßstab für die praktische Arbeit mit diesem Recht auf Beweis in Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta geschaffen wird.
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1. Der Begriff des „Rechts auf Beweis“ in Rechtsprechung und Literatur Im Zusammenhang mit der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis und ihrer geordneten Darstellung gilt es zu bedenken, dass der terminus technicus eines „Rechts auf Beweis“ in Rechtsprechung und Literatur zu allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen nur sehr sporadisch verwendet wird. So findet die Bezeichnung eines „Rechts auf Beweis“ in der Diskussion zu den europäischen Grundrechtsordnungen – soweit ersichtlich – keinerlei Verwendung. Für die Rechtsprechung liegt diese Zurückhaltung insofern nahe, als EGMR und EuGH jeweils als Grundsatz betonen, dass Art. 6 I EMRK bzw. Art. 47 II S. 1 GRC keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweisen oder die Art und Weise ihrer Würdigung enthalte.1 Vielmehr seien Fragen der Zulassung von Beweisen, ihrer Erheblichkeit und Verwertbarkeit in erster Linie Sache der Konventions- bzw. Mitgliedstaaten und des erkennenden, nationalen Gerichts.2 Doch auch in der Literatur zu EMRK und europäischer Grundrechtecharta findet sich die Terminologie eines „Rechts auf Beweis“ – soweit ersichtlich – bislang nicht. Allerdings wird auch die Diskussion über beweisrechtliche Gewährleistungen im Grundgesetz nur teilweise unter dem Stichwort eines „Rechts auf Beweis“ geführt. Die Rechtsprechung behandelt diesen terminus technicus sehr zurückhaltend. Es findet sich – soweit ersichtlich – bislang lediglich eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Jena, die explizit von einem „Recht auf Beweis“ spricht.3 Die höchstrichterliche Rechtsprechung leitet beweisrechtliche Gewährleistungen aus anderen prozessualen Grundrechten des Grundgesetzes her. In der Literatur hat die Terminologie eines „Rechts auf Beweis“ in deutlich stärkerem Maße Eingang in die allgemeine Diskussion gefunden. Regelmäßig wird das Recht auf Beweis zur Herleitung beweisrechtlicher Gewährleistungen aus dem Grundgesetz herangezogen.4 Allerdings wird das Recht auf Beweis auch in der Literatur oftmals auf eine bloße Argu1 Für die EMRK siehe etwa EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, DomboBeheer B.V. ./. NL, Rn. 31 ff. = NJW 1995, S. 1413 ff.; ebenso EGMR, Urteil vom 21.01.1999, Garcia Ruiz ./. ESP, Rn. 28 = NJW 1999, S. 2429 f.; EGMR, Urteil vom 05.07.2007, 31930/04, Sarra Lind Eggertsdottir ./. ISL, Rn. 44 jeweils mwN; für die Grundrechtecharta vgl. EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 74 ff. – Steffensen unter ausdrücklicher Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR; bestätigt in neuerer Zeit der – wenn auch seinerzeitig noch unverbindlichen – Existenz der GRC durch EuGH Rs. C-404/07, Slg. 2008, I-07607, Rn. 48 f. – Katz. 2 Vgl. wiederum EGMR, Urteil vom 27.10.1993, 14448/88, DomboBeheer B.V. ./. N, Rn. 31 ff. = NJW 1995, S. 1413 ff.; EGMR, Urteil vom 19.04.1994, 16034/90, Van de Hurk ./. NL, Rn. 59 f.; EGMR Urteil vom 05.07.2007, 31930/04, Sarra Lind Eggertsdottir ./. ISL, Rn. 44 jeweils mwN. 3 Siehe OLG Jena, MDR 2012, S. 542, 543. 4 So bereits Habscheid, ZZP 96 (1983), S. 306 ff. in einem namensgleichen Aufsatz; siehe in neuerer Zeit etwa Bruns, FS-Stürner, Bd. 1, S. 257 ff.; Chudoba, ausforschender Beweisantrag, S. 168 ff.; Reichenbach, § 1004 BGB als Grundlage, S. 3 ff.; Diakonis, Grundfragen der Beweiserhebung, S. 45 ff.; außerdem MüKo-Prütting, ZPO I, § 284 Rn. 18 und Stein/Jonas-Thole, ZPO IV,
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mentationslinie für die Fallkonstellation von Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten reduziert.5 Teils wird unter einem „Recht auf Beweis“ zudem lediglich ein Sammelbegriff für beweisrechtliche Gewährleistungen verschiedenster Herleitung verstanden.6 Als Quintessenz dieser kurzen Analyse der Terminologie des Rechts auf Beweis lässt sich festhalten, dass die nachfolgende Inhaltsbestimmung sich nicht alleine mit einer Betrachtung des Rechts auf Beweis in seiner Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur begnügen kann. Vielmehr müssen die beweisrechtlichen Gewährleistungen in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur insgesamt in den Blick genommen werden. Erforderlich ist insbesondere eine klare und einheitliche Systematisierung dieser beweisrechtlichen Grundsätze zum Zwecke der Erarbeitung eines in sich stimmigen Rechts auf Beweis im Zivilprozess.
2. Die Systematik der Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis Die konkrete Inhaltsbestimmung des Rechts auf Beweis soll sich mit Blick auf die eben genannten Anforderungen an der gesetzlichen Systematik eines Beweisverfahrens nach der ZPO orientieren. Die Untersuchung beginnt mit einer Analyse von beweisrechtlichen Grundsätzen, die einer gerichtlichen Beweisaufnahme entweder zeitlich vorgelagert sind oder allgemein für jede Art der Beweisaufnahme Geltung beanspruchen. Es folgt eine Betrachtung der einzelnen Stationen eines Beweisverfahrens der ZPO: beginnend beim Recht auf Stellung von Beweisanträgen (1), über die eigentliche Beweisaufnahme gegebenenfalls infolge eines Beweisbeschlusses (2) bis hin zur Würdigung der erhobenen Beweismittel (3) und der Begründung beweisrechtlicher Entscheidungen (4). Diese Orientierung an der gesetzlichen Systematik der ZPO besitzt den Vorteil, dass ein jedes gedachtes Beweisverfahren diese Punkte enthalten muss und auch die Reihenfolge mehr oder minder feststeht. Daher lassen sich auch die beweisrechtlichen Gewährleistungen der europäischen Grundrechtsordnungen ohne weiteres in dieses Raster einordnen und systematisieren. Auch für das Grundgesetz lassen sich die einzelnen beweisrechtlichen Gewährleistungsgehalte trotz unterschiedlicher Herleitung in Rechtsprechung und Lehre in ein gemeinsames Raster eingeordnet. Auf diese Weise wird ein klar strukturierter Aufbau ermöglicht, der sich – eingedenk der späteren Überprüfung des einfachen Rechts am nachfolgend zu erarbeitenden Maßstab eines Rechts auf Beweis – in der gesamten Untersuchung durchhalten lässt.
§ 284 Rn. 40 jeweils mwN; siehe auch Klamaris, FS Schwab, S. 269, 274 ff. für das griechische Recht. 5 So insbesondere Tresenreuter, Verwertbarkeit, S. 47 ff. 6 In diesem Sinne Muthorst, Beweisverbot, S. 163 mwN.
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2. Hauptteil: Das Recht auf Beweis in GG, EMRK und GRC
3. Die Aufeinanderfolge von GG, EMRK und GRC in ihrer Auslegung durch Rechtsprechung und Literatur Die Erarbeitung des Rechts auf Beweis bedarf zu ihrer Vollständigkeit zudem der Einbeziehung des bisherigen Entwicklungsstandes beweisrechtlicher Gewährleistungen in Rechtsprechung und Literatur. Daher soll für jeden einzelnen der hier untersuchten Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis zunächst eine Analyse seiner bisherigen Auslegung in Rechtsprechung und Literatur erfolgen, bevor sich die Entwicklung einer eigenen Ansicht anschließt. Innerhalb der drei vorliegend untersuchten Grundrechtsordnungen soll jeweils mit einer Betrachtung des deutschen Grundgesetzes begonnen werden. Zwar ließe sich mit Recht argumentieren, dass die europäische Grundrechtecharta formal die normhierarchisch stärkste Grundrechtsordnung darstellt – bindet die Grundrechtecharta innerhalb ihres Anwendungsbereiches der Durchführung von Europarecht doch selbst nationales Verfassungsrecht.7 Allerdings handelt es sich bei der Grundrechtecharta um eine vergleichsweise junge Grundrechtsgewährleistung. Das Grundgesetz kann demgegenüber auf eine längere Historie und eine umfängliche Behandlung auch der beweisrechtlichen Gewährleistungen in Rechtsprechung und Literatur zurückblicken. Weiterhin gilt es zu bedenken, dass die nachfolgende Analyse ganz überwiegend Übereinstimmungen oder zumindest Ähnlichkeiten zwischen Grundgesetz, EMRK und Grundrechtecharta aufzeigen wird. Hiernach erscheint es sinnvoll mit den intensiv behandelten Gewährleistungen des Grundgesetzes zu beginnen und im Anschluss die Unterschiedlichkeiten in den Gewährleistungen von EMRK und Grundrechtecharta abzuschichten. Innerhalb der europäischen Grundrechtsordnungen soll sodann mit einer Analyse der EMRK begonnen werden und erst zum Abschluss die europäische Grundrechtecharta jeweils in den Blick genommen werden. Dafür spricht zum einen die rechtliche Bindung der Grundrechtecharta an die EMRK in Art. 52 III S. 1 GRC. Eine Abweichung der Grundrechtecharta nach § 52 III S. 2 GRC kommt im hier interessierenden Zivilprozess als einem typischen Beispiel eines mehrpoligen Rechtsverhältnisses oftmals nicht in Betracht, so dass die EMRK in aller Regel zugleich den bindenden Maßstab für die europäische Grundrechtecharta darstellt. Zum anderen fehlt es für die Grundrechtecharta ob ihres jungen Alters bislang regelmäßig an einer entsprechenden Behandlung durch den EuGH, so dass auch insoweit allein auf die Vorbildfunktion der EMRK zurückgegriffen werden kann. Bedenkt man nun noch, dass der tatsächliche Anwendungsbereich der Grundrechtecharta im deutschen Zivilprozess sehr begrenzt ist, so erscheint es für die vorliegende Untersuchung naheliegend, die Analyse der Grundrechtecharta tendenziell kurz zu halten und sich auf die tatsächlich durch den EuGH entschiedenen Fallgestaltungen zu konzentrieren. 7 Ausführlich
bereits oben § 5 V. 2.
§ 7 Der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Beweis in GG, EMRK und GRC
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Die Erarbeitung der eigenen Ansicht schließt sich an die jeweilige Darstellung von Rechtsprechung und Literatur zu Grundgesetz, EMRK und europäischer Grundrechtecharta an. Im Hinblick auf das gemeinsame Wertefundament des Rechts auf Beweis in allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen mit den materiellen Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip überwiegen auch für das Recht auf Beweis die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Grundrechtsordnungen: Das Recht auf Beweis dient stets der effektiven Durchsetzung von (Grund-) Rechten mittels effektivem Nachweis im Zivilprozess. Zugleich ermöglicht erst eine effektive Beweisführung im Zivilprozess einen durch das Rechtsstaatsprinzip geforderten, effektiven Rechtsschutz des Einzelnen. Aufgrund dieser gemeinsamen Wertebasis stimmen sodann auch die wesentlichen Gewährleistungsgehalte des Rechts auf Beweis in EMRK, europäischer Grundrechtecharta und Grundgesetz überein. So bedarf eine effektive Nachweismöglichkeit in jedem denkbaren Prozess eines Rechts auf Stellung von Beweisanträgen als eigene Initiative der Beweisführung und sodann eines Rechts auf Erhebung dieser beantragten Beweismittel unter bestimmten Voraussetzungen. Insoweit unterscheidet sich das Recht auf Beweis in den einzelnen Grundrechtsordnungen nach hier vertretener Ansicht gerade nicht über eine Verschiedenheit seiner wesentlichen G