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German Pages 320 [321] Year 2009
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
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Dietrich Klein
Hermann Samuel Reimarus (1694 –1768) Das theologische Werk
Mohr Siebeck
Dietrich Klein, geboren 1979 in München; 1998–2004 Studium evangelische Theologie in München und Uppsala (Schweden); seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für evangelische Theologie an der Universität Augsburg.
e-ISBN PDF 978-3-16-151055-7 ISBN 978-3-16-149912-8 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Bembo gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Für Mutter, Vater, Konrad, Katharina und Annemarie
Vorwort Als einen »bekannten Unbekannten« der Aufklärung in Hamburg präsentierte 1972 eine Tagung der damaligen Joachim Jungius-Gesellschaft den Hamburger Gymnasialprofessor und heimlichen Bibelkritiker Hermann Samuel Reimarus. Es war dasselbe Jahr, in dem erstmals eine vollständige Edition der »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« auf dem Buchmarkt erschien und so den Startschuss gab für eine erneute Beschäftigung mit dem rätselhaften Hamburger Aufklärer. Im Mosaik der wenigen Beiträge, die sich seither mit Reimarus’ Werk auseinandersetzen, klafft eine Lücke: kaum ein evangelischer Theologe hat sich an der neueren Reimarusforschung beteiligt, so dass ganz besonders für die evangelische Theologiegeschichtsschreibung Reimarus stets der »bekannte Unbekannte« geblieben ist, als den ihn die Joachim Jungius-Gesellschaft 1972 einst in Erinnerung gerufen hatte. Auch mir, der ich mich im Verlauf meines Theologiestudiums mit dem 18. Jahrhundert beschäftigt habe, ist Reimarus als ein »Unbekannter« bekannt geworden. Reimarus war »der Fragmentist«, die dunkle Quelle, aus der Lessing seine historisch-kritischen Schreckmittel gegen den Hamburger Hauptpastor Goeze bezog. Wer »der Fragmentist« aber eigentlich war, was er dachte, wie er lebte, das verschwieg die Studienliteratur, und ich wollte es wissen. Dass aus meiner studentischen Neugier, meinen Nachforschungen, den Stunden im Staub der Archive und vielerlei anderen Freuden und Entbehrungen zuletzt eine umfangreiche Arbeit werden konnte, die, von der evangelischtheologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertationsschrift angenommen, jetzt im Druck erscheinen kann, nötigt zu verschiedenen Danksagungen: danken möchte ich erstens meinem Doktorvater, Jan Rohls, der meine Arbeit in vorbildlicher Weise unterstützt und begleitet hat, ohne sich jemals als ein akademischer Vormund meinen eigenen Ideen und methodischen Entscheidungen in den Weg zu stellen, und zweitens Martin Mulsow, der zwischen München und der Rutgers University in New Brunswick ständig im Gespräch mit mir geblieben ist und zuweilen bis in die Details einzelner Handschriften hinein Probleme meiner Arbeit mit reflektiert hat. In mancher Hinsicht ist er so für mich zu einem zweiten Doktorvater geworden. Martin Mulsow verdanke ich ferner den Kontakt zu Ulrich Groetsch, der, ebenfalls an der Rutgers University tätig, zeitgleich mit mir an einer Dissertation über Reimarus’ philologisches Werk arbeitete und mir telefonisch stets mit Rat und Tat zur Seite stand.
VIII
Vorwort
Danken möchte ich ferner Martin Schmeisser, mit dem ich mich zwischen wuchtigen Pasteten und schwerem Wein manche schöne Stunde in die verwinkelte Welt der radikalen Religionskritik des 17. Jahrhunderts hinabbegeben konnte. Ohne Martin Schmeisser hätte ich vermutlich gänzlich übersehen, dass es auch in Frankreich und Italien eine Aufklärungsforschung gibt, die für die Arbeit an Reimarus unverzichtbar ist und die deutsche Sicht der Dinge zuweilen korrigiert. Unter den zahlreichen weiteren Personen, die sich in und außerhalb Münchens meiner Reimarusforschung angenommen haben, danke ich insbesondere Wilhelm Schmidt-Biggemann, der mir aus seiner eigenen Arbeit an Reimarus viele sehr wertvolle Tipps geben konnte. Einen besonderen Dank richte ich ferner an die Universität Augsburg, wo ich während der Jahre meiner Promotion als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Es war Bernd Oberdorfer, der mir dort, wenn nötig, den Rücken frei hielt und dafür sorgte, dass im Stress des Semesteralltags genügend Zeit für meine Forschungen verblieb. Harry Oelke danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie für die Gelegenheit, meine Arbeit mehrmals im Münchener Kirchengeschichtlichen Oberseminar vorstellen zu können. Albrecht Beutel danke ich für die Aufnahme in die Reihe »Beiträge zur Historischen Theologie«. Für die Schlusskorrektur schließlich danke ich Julia Offermann. Den Druck der Arbeit und dessen Finanzierung haben der Mohr Siebeck Verlag und erneut mein Doktorvater, Jan Rohls, schnell und unbürokratisch möglich gemacht. Auch hierfür bedanke ich mich sehr herzlich. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern und Geschwistern, dem Mittagstisch meines Elternhauses, wo ich im Streit um die größte Nachtischportion zu allererst lernen konnte, gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden und meine Sicht der Dinge auch in Worte zu fassen. München, im März 2009
Dietrich Klein
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Hermann Samuel Reimarus – eine biographische Skizze . . . . . . . . . .
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1.2 Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Das bibelkritische Werk: Die »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1 Ursprünge der Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Johann Albert Fabricius und Johann Christoph Wolf . . . . . . . . .
17 17
2.1.2 Jena, Wittenberg und die Habilitationsschrift über den Machiavellismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Impulse aus den Niederlanden und aus England . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Zwei Rezensionen zur Wertheimer Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Johann Konrad Dippel und die Kritik der Versöhnungslehre . . . .
23 32 37 41
2.2 Die Arbeit an der »Apologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1 Chronologische Übersicht der Vorarbeiten und Vorstufen zur »Apologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Früheste Notizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Erste Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Zweite und dritte Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Entscheidung gegen die Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 51 53 59 60
2.3 Die »Apologie«: Inhaltszusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Teil: Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Teil: Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 67 69 88
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose« . . . . . . . . . 107 2.5 Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament 133
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Inhaltsverzeichnis
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie« . . . . 2.6.1 Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Trinität und Zwei-Naturen-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Sündenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149 152 158 165
2.7 Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.7.1 Lessings Veröffentlichung der »Fragmente« . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2.7.2 Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Christian Tobias Damm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.7.3 David Friedrich Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
3 Das Religionsphilosophische Werk: »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten« . . . . . . . . . . . . . . . 201 3.1.1 Johann Albert Fabricius und die englische Physikotheologie . . . . 201 3.1.2 Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten« . . . . . . . . . . . . . 205 3.2 Die »Vornehmsten Wahrheiten«: Inhaltszusammenfassung und Fortsetzung in den »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten« . . . . . . . . . . . . . 225 3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker . . . . . . . . . 234 3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik . 3.5.1 Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Schöpfung und Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Mensch, Seele und Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247 249 252 257 261
3.6 Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
4 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
1 Einleitung Am 5. Juli 1780 gegen Nachmittag empfängt Gotthold Ephraim Lessing einen außergewöhnlichen Besucher in seinem Haus nahe der herzoglichen Bibliothek von Wolfenbüttel. Es handelt sich um den jungen Philosophen und Literaten Friedrich Heinrich Jacobi, der seinen Besuch im Vorjahr bereits brieflich angekündigt hat und nun überglücklich ist, den großen Dichter und Denker Lessing erstmals in seine Arme schließen zu können. Lessing enttäuscht die Erwartungen seines jungen Gasts nicht. Man spricht »über viele wichtige Dinge; auch von Personen, moralischen und unmoralischen, Atheisten, Deisten und Christen«1 und geht irgendwann schlafen. Am nächsten Morgen erscheint Lessing im Zimmer seines Gasts, der dabei ist, Post zu erledigen. Jacobi bittet ihn um Geduld, reicht ihm einige Stücke aus seiner Brieftasche zur Lektüre, damit Lessing sich mit ihnen die Zeit vertreibe, darunter ein noch unveröffentlichtes Gedicht Goethes, den »Prometheus«. Jacobi ist gespannt, erwartet die Reaktion Lessings, von dem er annimmt, er müsse »Ärgernis« an dem Gedicht nehmen, wird in seiner Erwartung aber enttäuscht. Lessing nimmt keineswegs Ärgernis an dem Gedicht, im Gegenteil, er findet es gut und erklärt genauer: »Der Gesichtspunkt aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt … Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. ! Ich weiß nichts anders. Dahin geht auch dies Gedicht; und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr.« Jacobi fragt nach: »Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden«, und Lessing bestätigt: »Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen andern.«2 Ob dieses Gespräch zwischen Lessing und Jacobi am Morgen des 6. Juli 1780 tatsächlich so stattgefunden hat, wissen wir nicht. Indizien sprechen zumindest dafür. In jedem Fall schildert es eine ergreifende Szene der Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Lessing, der während des langen, Kräfte zehrenden Streits um die Fragmente zuletzt im Programm einer Umwandlung der alten dogmatischen Wahrheiten der christlichen Religion in Vernunftwahrheiten seine Zuflucht genommen hat, bekennt sich zu Spinoza – ausgerechnet zu Spinoza, dem von der Orthodoxie sowohl wie auch von den Vertretern einer 1 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Hamburg 2000, S. 22. 2 Ebd.
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1 Einleitung
philosophischen Gotteslehre viel geschmähten Atheisten. Das Bekenntnis Lessings macht die Tiefe seiner Trennung von der Orthodoxie deutlich, mit der er während des Fragmentenstreits abgerechnet hat. Lessing sieht sich nicht nur mit dem Ende einer historischen Begründung dogmatischer Offenbarungswahrheit konfrontiert und fordert eine vernünftige Rekonstruktion der wesentlichen Gehalte alter dogmatischer Lehren. Die wesentlichen Gehalte selbst sieht er schwinden, indem er bekennt, dass der gesamte theistische Gottesbegriff, an den sich die Orthodoxie stets klammerte, nicht mehr zu halten ist. Vernunftreligion solle die alte Dogmatik werden, fordert Lessing, schließt zugleich aber aus, dass diese Vernunftreligion eine Vernunftreligion sein könne im Sinne der bereits bekannten Vernunftreligion des 18. Jahrhunderts mit ihrem theistischen Gottesbegriff, der sich so gut fügt in das orthodoxe Lehrsystem biblisch begründeter Dogmatik. Eine kommende Vernunftreligion muss Abschied nehmen von dem theistischen Gottesbegriff der Tradition und sich einlassen auf die lange verurteilte Gotteslehre Spinozas. Was Lessing dem jungen Jacobi und der kommenden Generation von Philosophen und Theologen aufträgt, kommt einem Sprung in den Atheismus gleich, in dem es die in ihrer Gestalt noch unbekannte Vernunftreligion zu suchen gilt, in deren Wahrheiten die christliche Offenbarungsreligion mit ihren Dogmen zu neuem Leben erwachen kann. Das Gespräch, von dem Jacobi berichtet, ist beeindruckend, weil es weit voraus verweist auf die Philosophie- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts, in der man einzulösen begann, was des Spinoza lediglich forderte. Lessing im Bekenntnis zum Man würde Lessings spätes Spinozabekenntnis freilich einseitig betrachten, wollte man es allein als einen Verweis auf die kommende Suche nach einer Vernunftreligion spinozistischer Prägung lesen. Es verweist ebenso zurück auf eine tiefe Krise in der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, auf die der scheidende Lessing eine Antwort sucht. Der erbitterte Streit um die Fragmente, die Forderung nach einer Verwandlung dogmatischer Wahrheiten in Vernunftwahrheiten, die Einsicht, dass die viel geschmähte Philosophie Spinozas es sein wird, die die »orthodoxen Begriffe von der Gottheit« verwandelt in Vernunftwahrheiten – das alles setzt Zusammenbrüche voraus in der biblisch-theologischen Begründung dogmatischer Wahrheit, in der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie und in der Konzeption des Gottesbegriffs, Zusammenbrüche, die sich ereigneten, bevor Lessing um die Fragmente stritt, und die so tief empfunden wurden, dass sie Lessings Sprung in die noch unbekannte Welt des spinozistischen Philosophierens unausweichlich machten. Studieren lassen sich diese theologiegeschichtlichen Zusammenbrüche an Hermann Samuel Reimarus’ theologischem Werk. Aufgewachsen in einer heilen Welt lutherischer Gelehrsamkeit ließ er sich in atemberaubender Konsequenz ein auf die großen Fragen lutherischer Theologie und ihrer Begründung, forschte in der biblischen Geschichte, griff nach Philosophie und Natur, um Verlorenes zu retten, und scheiterte zuletzt am theistischen Gottesbegriff der philosophisch-
1.1 Hermann Samuel Reimarus – eine biographische Skizze
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theologischen Tradition, der auf die biblische Offenbarungswahrheit weit mehr angewiesen ist, als es den Anschein hat. Wer sich mit Reimarus beschäftigt, kann die tiefe Krise der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts nachvollziehen, sich hineindenken in die großen Aporien, die Lessing und die ihm nachfolgende Generation dazu zwangen, ein völlig neues Kapitel der Theologiegeschichte aufzuschlagen. Die vorliegende Arbeit stellt die vorhandenen Materialien für das theologiegeschichtliche Reimarusstudium zur Verfügung, führt ein in seine theologischen Hauptwerke und deren Wirkung und bietet Fallstudien, die es erlauben, zentralen Aspekten seines theologischen Denkens und Arbeitens nachzuspüren.
1.1 Hermann Samuel Reimarus – eine biographische Skizze3 Hermann Samuel Reimarus wurde am 22. Dezember 1694 als das erste Kind von Nikolaus Reimarus in Hamburg geboren. Sein Vater, der einem lutherischen Pfarrersgeschlecht aus Pommern entstammte, war nach dem Studium in Kiel 1688 an die Hamburger Gelehrtenschule, das Johanneum, gewechselt und wirkte dort als Lehrer. Reimarus’ Mutter, Johanna Wetken, stammte aus einer angesehenen Familien des Hamburger Bürgertums, in die der nach Hamburg berufene Theologe Nikolaus Reimarus einheiratete. Von 1708 an besuchte Hermann Samuel Reimarus das Johanneum und wurde dort von seinem Vater unterrichtet, gemeinsam mit seinem späteren engen Freund, dem Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes. 1710 wechselte er an das im selben Haus befindliche Akademische Gymnasium, wo er von dem Latinisten und Gräzisten Johann Albert Fabricius sowie von dem Hebraisten Johann Christoph Wolf in die Welt philologischer Gelehrsamkeit eingeführt wurde. In der Obhut seiner Hamburger Lehrer blieb Reimarus verhältnismäßig lang, weil der Unterricht am Akademischen Gymnasiums Teile des propädeutischen Universitätsstudiums vorwegnahm. Akademische Grade konnten zwar am Akademischen Gymnasium nicht verliehen werden. Der Unterricht stand ansonsten aber hinter dem Angebot der
3 Die vorliegende biographische Skizze fasst die im Blick auf die gesamte folgende Untersuchung wichtigsten Eckdaten zusammen und bietet dem Leser nicht mehr als einen ersten Überblick. Die detailliertesten Darstellungen zu Reimarus’ Biographie sind derzeit Carl Mönckeberg, Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann, Hamburg 1867, S. 1–128 und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 9–65. Weniger ausführlich über Leben und Werk: Günter Gawlick, Hermann Samuel Reimarus, in: Martin Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 8: Die Aufklärung, Stuttgart u. a. 1983, S. 299–311.
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1 Einleitung
großen lutherischen Universitäten kaum zurück, war im Gegenteil in mancher Hinsicht sogar intensiver. Verhältnismäßig spät also erst mit 19 Jahren, schrieb sich Reimarus im Frühjahr 1714 in Jena ein zum Studium der Theologie, der Philosophie und der orientalischen Sprachen. Er hörte Johann Franz Budde, der, vormals bekannt als Kapazität der eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung Thomasianischer Prägung, in Jena erstmals Theologie lehrte und seine Vorlesungen nutzte, seine Dogmatik, die »Institutiones theologiae dogmaticae«, vorzubereiten. Von Jena aus unternahm Reimarus eine Studienreise nach Leipzig zu dem am englischen Empirismus und Sensualismus orientierten Philosophen Andreas Rüdiger. Als Philologen wirkten in Jena Johann Andreas Danz und Johann Matthias Gesner, bei denen Reimarus seine Kenntnisse der orientalischen Sprachen vertiefte. Zum Wintersemester 1716/17 wechselte Reimarus unterstützt von seinen Hamburger Lehrern Fabricius und Wolf nach Wittenberg, wo er mit einer Disputation über hebräische Lexikologie die philosophische Magisterwürde erreichte und somit die universitäre Lehrberechtigung erhielt. Einen eigenen Beitrag zur eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung legte Reimarus 1719 in seiner Habilitationsschrift »De Machiavellismo ante Machiavellum« vor, die zugleich diesen Abschnitt seiner akademischen Laufbahn beendete. Im Mai 1720 brach Reimarus zu einer akademischen Reise in die Niederlande und nach England auf, während der er, vorbereitet durch Fabricius und Wolf, in Bibliotheken recherchierte und berühmte Gelehrte besuchte, bei denen er vermittelt durch seine Hamburger Lehrer Eingang fand. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg Ostern 1722 bewarb er sich, unterstützt von Hamburger Senatoren und von Fabricius, erfolgreich auf die frei werdende Rektorenstelle an der Stadtschule in Wismar und verzichtete auf seine weniger einträgliche Privatdozentur in Wittenberg. In seinem neuen Wismarer Amt zeigte sich Reimarus sehr selbstbewusst, forderte bereits im ersten Jahr eine Aufstockung des Gehalts, drang auf eine Steigerung des Schulniveaus und verstrickte sich im Streit um die Züchtigung eines Schülers in Querelen mit dem Wismarer Kollegium und dem Stadtrat. Die schon 1723 in Wismar umgehende Vermutung, dass Reimarus die Rektorenstelle lediglich als eine Station auf dem Weg zu einer Professur in Hamburg betrachtete, fand sich 1725 insgeheim bestätigt, als sich Reimarus anlässlich der Neubesetzung der Professur für Physik und Poesie am Akademischen Gymnasium bei seinem ehemaligen Lehrer und Mentor Johann Christoph Wolf meldete, um die Chancen einer Bewerbung auszuloten. Reimarus hoffte auf eine Stelle in Hamburg, musste zunächst aber noch abwarten. Erst 1727, als nach dem Tod Georg Eliezer Edzardis die Professur für orientalische Sprachen frei wurde, wandte sich Reimarus erneut an seine beiden Hamburger Mentoren, bewarb sich und erhielt den Ruf. Der Amtsantritt in Hamburg erfolgte im Sommer 1728. Noch im November desselben Jahres heiratete Reimarus Johanna Friederike Fa-
1.1 Hermann Samuel Reimarus – eine biographische Skizze
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bricius, die Tochter seines Kollegen und ehemaligen Lehrers am Akademischen Gymnasium. Ein Jahr nach der Heirat kam Reimarus’ ältester Sohn, Johann Albert Hinrich, zur Welt. 1734 folgte die Tochter, Katharina Elisabeth, genannt Elise. Von den insgesamt sieben Kindern der Familie sind sie die einzigen, die das Erwachsenenalter erreicht haben. Das repräsentative Amt, die erfolgte Heirat und wohl auch seine alten familiären und freundschaftlichen Beziehungen machten Reimarus zu einer bedeutenden Person in der Hamburger Öffentlichkeit. Leichenreden auf Stadtberühmtheiten aus Politik und Kirche belegen, welches Gewicht Reimarus’ öffentliches Auftreten als Professor und späterer Rektor des Akademischen Gymnasiums hatte. Reimarus’ Amtsalltag am Akademischen Gymnasium war bestimmt von der Regelung anstehender Schulverwaltungsaufgaben. Probleme der Schuldisziplin sowie die Frage nach dem Verhältnis von Johanneum und Akademischem Gymnasium erwiesen sich als dauerhafte Themen. 1740 setzte sich Reimarus dafür ein, das Akademische Gymnasium als eine obligatorische Vorstufe zur Universität zu etablieren. 1745 stimmte er dafür, besonders begabten Schülern den vorzeitigen Wechsel vom Johanneum auf das Akademische Gymnasium zu gestatten. Neben solchen Amtsgeschäften war es die Philologie, die Reimarus stets in Anspruch nahm. In den frühen 30er Jahren stellte er einen Hiobkommentar des verstorbenen Johann Adolph Hoffmann fertig, der 1734 in Druck ging. In den Jahren 1751 und 1752 folgte die große Edition von Dio Cassius’ »Römischer Geschichte«, die sein Schwiegervater Fabricius bis zu seinem Tod 1736 nicht hatte fertig stellen können. Sehr spät, erst im Alter von sechzig Jahren, publizierte Reimarus die großen populärphilosophischen Hauptschriften, »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« 1754 und die »Vernunftlehre« 1756, dicht gefolgt von dem großen Werk zur biologischen Verhaltensforschung, den »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere« von 1760. 1761 wurde Reimarus in die Petersburger Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Reimarus’ Ruhm als Philologe, Populärphilosoph und Naturforscher wurde begründet durch sein Spätwerk. Parallel zu dieser offiziellen Biographie des Hermann Samuel Reimarus wird ab den 1730er Jahren ein bibelkritisches, von Reimarus stets sorgfältig verborgenes Interesse greifbar. Über gut dreißig Jahre hin lässt sich Reimarus’ geheime Ausarbeitung der späteren »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« nachweisen. Sie begann in den 30er Jahren mit einem groß angelegten Gliederungsentwurf und fragmentarisch erhaltenen Vorarbeiten, weitete sich in den 50er Jahren zu einer ebenfalls fragmentarisch greifbaren zweiten Fassung aus und näherte sich schließlich während der 1760er Jahre der heute bekannten Endfassung der »Apologie« an. Aus den 30er Jahren erhalten sind ferner zwei pseudonyme Rezensionen zur Wertheimer Bibel und aus den 40ern ein Fragment, in dem sich Reimarus mit Johann Konrad Dippels Kritik der Versöhnungslehre befasst. Hier zeigt sich in Umrissen das große kritische Werk, an dem Reimarus
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1 Einleitung
über dreißig Jahre insgeheim gearbeitet hat. Die Öffentlichkeit erfuhr von diesem Werk nichts, nur einem kleinen Kreis sehr guter Freunde gewährte Reimarus Einblick in seine »Apologie«. Er starb am 1. März 1768 in Hamburg als unbescholtener lutherischer Gelehrter und Rektor des Akademischen Gymnasiums, ohne dass je ein Wort über das geheime kritische Werk aus seinem Mund in die Öffentlichkeit gedrungen wäre.
1.2 Forschungsbericht Ein Bericht über den Forschungsstand müsste streng genommen, zumal innerhalb einer Arbeit über das theologische Werk des Hermann Samuel Reimarus, beginnen mit der umfangreichen Literatur, die im Kontext des Fragmentenstreits entstanden ist. Früh bereits thematisierten die unzähligen kleineren und größeren Publikationen auch den ungenannten Fragmentisten, dessen Identität erst 1814 sicher bekannt wurde. So wenig man über einige neuere dieser Arbeiten über den Fragmentenstreit hinweggehen darf, muss die Fülle der älteren Literatur an dieser Stelle doch ausgeklammert werden. Zu umfangreich sind die Materialien.4 Die Bedeutung allerdings, die der Reimaruswahrnehmung im Kontext des Fragmentenstreits zukommt, kann gleichwohl nicht hoch genug veranschlagt werden. Reimarus ist dem theologiegeschichtlichen Gedächtnis stets der ungenannte Wolfenbütteler Fragmentist. Sein eigentliches Gesamtwerk vor und jenseits des Fragmentenstreits kommt demgegenüber schleppend in den Blick, am ehesten über das religionsphilosophische Werk, die »Vornehmsten Wahrheiten«, die Kant in seiner Diskussion der Gottesbeweise als vorbildliche Darstellung des physikotheologischen Beweises lobte.5 Einen wichtigen Impuls erhielt die Auseinandersetzung mit Reimarus Mitte des 19. Jahrhunderts durch den von Karl Rudolf Wilhelm Klose und David Friedrich Strauß unternommenen Versuch, die »Apologie« einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Um den Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen mehrere Dissertationsschriften und kleinere Monographien, die sich mit dem philosophischen Profil des Werks beschäftigten, hierbei auch zum Teil die Frage nach dem inneren Zusammenhang des philosophischen Werks mit der Bibelkritik stellten.6 4 Einen Überblick ermöglicht hier Wilhelm Schmidt-Biggemanns Zusammenstellung der Literatur »Zum Fragmentistenstreit« innerhalb des Handschriftenverzeichnisses, vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 89–137. 5 Siehe unten Kapitel 3.6. 6 Vgl. Rudolf Schettler, Die Stellung des Philosophen Hermann Samuel Reimarus zur Religion, Leipzig 1904, und Joseph Engert, Der Deismus in der Religions- und Offenbarungskritik des Hermann Samuel Reimarus, Wien 1916. Auch Reimarus’ ethologische Arbeit »Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere« wurde aus philosophiegeschichtlicher Perspektive gewürdigt durch Carl Christoph Scherer, Das Tier in der Philosophie des Hermann
1.2 Forschungsbericht
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Beiträge, die die von Klose und Strauß erstmals aufgeworfene Frage nach dem vollständigen Inhalt der ganzen »Apologie« in ihrer Endfassung weiter verfolgen, sind zu ergänzen.7 So fragte Wilhelm Caspari 1926 nach Reimarus’ Stellung innerhalb der Geschichte der alttestamentlichen Exegese und gab Reimarus’ nur im Manuskript erhaltene Sicht der Entstehung des alttestamentlichen Kanons bekannt.8 Ebenso stellte man angeregt durch Albert Schweitzer die Frage nach Reimarus’ Stellung in der Geschichte der neutestamentlichen Exegese und Leben-Jesu-Forschung.9 Alles in allem bleibt der Erkenntnisgewinn, den die ältere Reimarusforschung erbringt, aber gering. Ihr standen die Editionen der Reimaruswerke noch nicht zur Verfügung, so dass sie vielfach ›neue‹ Erkenntnisse aus den damals noch unerschlossenen Manuskripten präsentiert, die heute jedem, der sich Reimarus’ Werk nähert, unschwer zugänglich sind. Die für die vorliegende Arbeit relevanten Ergebnisse brachte die neuere Reimarusforschung hervor, deren Geschichte mit der Initiative der damaligen Joachim Jungius-Gesellschaft beginnt, ebenso die gedruckten wie vor allem auch die bislang ungedruckten Werke herauszugeben. Es war Hans Blumenberg, der Mitte der 1960er das Projekt einer Edition anregte, ohne sich freilich selbst in der nun einsetzenden Editions- und Forschungsarbeit zu engagieren.10 Die sukzessive Edition der Reimarushauptschriften während der 1970er und 80er Jahre regte je eigene Forschungsinitiativen an, die Licht auf die jeweils editorisch erschlossenen Teile des Reimarusgesamtwerks warfen. Die erste große Edition war hierbei zugleich die bedeutendste: nach der feierlichen Publikation eines Faksimiles der handschriftlichen »Vorrede«11 zu Reimarus’ »Apologie« letzter Fassung erfolgte 1972 die erste vollständige Edition der »Apologie«12 durch Gerhard Alexander.
Samuel Reimarus, Würzburg 1898, und Carl Christoph Scherer, Der Biologisch-psychologische Gottesbeweis bei Hermann Samuel Reimarus. Eine philosophiegeschichtliche Studie, Würzburg 1899. 7 Zu Klose und Strauß siehe unten Kapitel 2.7.3. 8 Vgl. Wilhelm Caspari, Reimarus über alttestamentliche Literaturgeschichte. Vortrag des Deutschen Orientalistentages in Hamburg, 30. September 1926, in: Theologische Blätter 5 (1926), S. 273–280. 9 Vgl. Albert Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-JesuForschung, Tübingen 1906, S. 13–26, und August Christian Lundsteen, Hermann Samuel Reimarus und die Anfänge der Leben-Jesu-Forschung, Kopenhagen 1939. 10 Vgl. Wolfgang Walter, Einleitung, in: ders. (Hg.), Herrmann [sic!] Samuel Reimarus 1694–1768. Beiträge zur Reimarus-Renaissance in der Gegenwart, Göttingen 1998, S. 9–13, hier S. 9. 11 Hermann Samuel Reimarus, Vorrede zur Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Hartmut Sierig, Göttingen 1967. 12 Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., hg. von Gerhard Alexander, Frankfurt am Main 1972 (= Apol I u. II ). Nachträge zur Edition der »Apologie« sammelt Gerhard Alexander, Neue Erkenntnisse zur ›Apologie‹ von Hermann Samuel Reimarus, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 65 (1979), S. 145–159.
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1979 gab Frieder Lötzsch die »Vernunftlehre«13 heraus, 1982 und 1985 erschienen die »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere«14 und »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«15, herausgegeben von Jürgen von Kempski und Günter Gawlick. Alle großen Werke des Reimarus waren damit einem breiten Publikum zugänglich. Ergänzend hinzu traten 1983 die von Peter Stemmer besorgte Ausgabe der Vorlesung »Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum«16 von 1731 und die »Kleinen gelehrten Schriften«17, die Wilhelm Schmidt-Biggemann zusammen mit Teilen der erhaltenen Vorstufen zur »Apologie« 1994 aus dem Archiv herausgab. Was zunächst die Erforschung von »Vernunftlehre«, »Vornehmsten Wahrheiten« und »Allgemeine[n] Betrachtungen der Triebe der Thiere« angeht, so liegen nur zur »Vernunftlehre« mehrere Beiträge vor, die im Kontext der Edition des Werks während der 1980er Jahre entstanden sind.18 Die »Vornehmsten Wahrheiten« dagegen konnten sich als eigenständiges Thema neben der »Apologie« nicht behaupten, ebensowenig die »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere«. Reimarus’ Interesse an Physikotheologie und natürlicher Religion wurde lediglich zuweilen von der »Apologie« her mit thematisiert. So nimmt Gerhard Freund in seiner 1989 erschienenen Studie zum Fragmentenstreit »Apologie« und »Vornehmste Wahrheiten« als komplementäre Größen zur Kenntnis.19 Den Versuch, ein biblisch-theologisches Fundament der »Vornehmsten Wahrheiten« offenzulegen, unternahm Christoph Bultmann 2003.20 Ansatzpunkt für eine grundlegende Erforschung der »Vornehmsten Wahrheiten« und ihrer Stellung im 13 Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre. Nachdruck der ersten Auflage von 1756, hg. von Frieder Lötzsch, München 1979, und Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre. Nachdruck der dritten Auflage von 1766, hg. von Frieder Lötzsch, München 1979. 14 Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich ihre Kunsttriebe, 2 Bde., hg. von Jürgen von Kempski, Göttingen 1982. 15 Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, 2 Bde., hg. von Günther Gawlick, Göttingen 1985 (= VW I u. II ). 16 Hermann Samuel Reimarus, Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731, hg. von Peter Stemmer, Göttingen 1983. 17 Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994. 18 Vgl. besonders den Sammelband Wolfgang Walter / Ludwig Borinski (Hgg.), Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ›Vernunftlehre‹ von Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1980, und die Monographie von Frieder Lötzsch, Was ist »Ökologie«? Hermann Samuel Reimarus. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, Köln / Wien 1987. 19 Vgl. Gerhard Freund, Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse, Stuttgart u. a. 1989, S. 90–123. Allein von der »Apologie« her thematisiert demgegenüber William Boehart, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing), Schwarzenbek 1988, S. 31–123, das hinter den Fragmenten stehende Werk des Reimarus. 20 Vgl. Christoph Bultmann, Langweiliges Wissen. Die Wahrheiten des Hermann Samuel Reimarus, in: Albrecht Beutel / Volker Leppin (Hgg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen »Umformung des Christlichen«, Leipzig 2003, S. 81–91.
1.2 Forschungsbericht
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Gesamtwerk hätte am ehesten Gerhard Alexanders 1974 erschienener Aufsatz zur Anthropologie geboten, der ein Thema aufgreift, das sich in der Tat wie ein roter Faden in beiden Teilen des zweigespaltenen Werks des Reimarus durchhält.21 Das Hauptinteresse der Reimarusforschung zog jedoch die »Apologie« auf sich, so dass die »Vornehmsten Wahrheiten« ein Nebenthema blieben. Schon die Edition der »Apologie« war begleitet von einer Reimarustagung, die mehrere für die weitere Reimarusforschung wegweisende Beiträge hervorbrachte.22 Während Werner Krauss23, Heinz Mosche Graupe24, Jürgen von Kempski25 und Joachim Desch26 durch ihre Beiträge Reimarus’ Leben und Werk auf die weitere Geistesgeschichte, insbesondere auch die Hamburger Aufklärung und Lessings Haltung dem Fragmentisten gegenüber bezogen, waren es besonders Günter Gawlick27 und Henning Graf Reventlow28, die durch zum Teil präzise Analysen am Text der »Apologie« die seit langem im Raum stehende These einer maßgeblichen Beeinflussung der Reimarus’schen Bibelkritik durch den englischen Deismus konkretisierten. Seit dem Fragmentenstreit, der den Ungenannten als einen Deisten präsentiert hatte, lag die Vermutung einer Beeinflussung durch den englischen Deismus nahe und prägte auch das Reimarusbild der Theologiegeschichtsschreibung.29 Allein der konkrete Umfang der Beein21 Vgl. Gerhard Alexander, Das Verständnis des Menschen bei Hermann Samuel Reimarus, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 47–68. 22 Vgl. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973. 23 Vgl. Werner Krauss, Gottsched als Übersetzer französischer Werke, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 66–74. Im Inhaltsverzeichnis des Bandes findet sich die abweichende Titelangabe »Gottsched und die französische Literatur des 18. Jahrhunderts«. 24 Vgl. Heinz Mosche Graupe, Juden und Judentum im Zeitalter des Reimarus, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 113–127. 25 Vgl. Jürgen von Kempski, Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer – drei Paradigmen radikaler Bibelkritik, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 96–112. 26 Vgl. Joachim Desch, Lessings ›poetische‹ Antwort auf die Reimarusfragmente, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 75–95. 27 Vgl. Günter Gawlick, Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 15–43. 28 Vgl. Henning Graf Reventlow, Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus: Die Auslegung der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, bei den englischen Deisten, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 44–65. Eine gegenüber den übrigen Beiträgen sehr eigenständige Fragestellung verfolgt Gerhard Alexander, Die Sprache des Reimarus, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg, Göttingen 1973, S. 128–147. Orthographie und Stil kommen hier in den Blick. 29 So beispielsweise bei Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, Gü-
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1 Einleitung
flussung war noch nicht erkennbar. Die Reimarustagung kam zu der Auffassung, das Umschlagen der ehemals lutherisch-orthodoxen Haltung des Reimarus in die radikal bibelkritische des Deismus sei verhältnismäßig früh in der Reimarusbiographie anzusetzen und verdanke sich der Kenntnisnahme englischer Literatur. Diese Sicht blieb zunächst in Geltung, bis Peter Stemmer 1983 die »Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum« herausgab und dieser Ausgabe eine Dissertationsschrift zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus beigab.30 Die im Jahr 1731 erschienene Schrift, so Stemmer, belege eindeutig, dass Reimarus noch circa zehn Jahre nach seinem Aufenthalt in England an der orthodoxen Hermeneutik weitgehend festgehalten und erst dann zu seinem aus der »Apologie« bekannten bibelkritischen Standpunkt gefunden habe. Der angenommene Zeitpunkt des Umschlagens verlagerte sich damit auf das Jahr 1735, als Reimarus die »Wertheimer Bibel« zur Kenntnis nahm und in Johann Lorenz Schmidt ein Vorbild fand, das ihn dazu anregte, die Wolffsche Philosophie als Kriterium zur Beurteilung der biblischen Offenbarung einzusetzen. Verhältnismäßig spät wandte sich Günter Mühlpfordt mit einer Rezension gegen diese Datierung der kritischen Wende:31 Reimarus habe 1714 in Jena, dem bekannten Treffpunkt junger, radikaler Wolffianer studiert und früh bereits offenbarungskritische Texte zur Kenntnis genommen. Es sei daher anzunehmen, dass der von Stemmer edierte Text nicht mehr als die offizielle Fassade eines geheimen Bibelkritikers sei. Noch in demselben Jahr bestätigte Wilhelm Schmidt-Biggemann diese Vermutung, indem er zeigte, wie Reimarus’ Bibelkritik aus der religionsphilosophischen Apologetik der Orthodoxie heraus verständlich gemacht werden kann.32 In dieselbe Richtung weist Schmidt-Biggemanns 1998 erschienener Aufsatz über Reimarus’ Fertigstellung von Johann Adolf Hoffmanns Hiobkommentar. Schon vor dem Wertheimer Streit, so Schmidt-Biggemann, zeige sich deutlich die Spannung im Verhältnis zur orthodoxen Hermeneutik.33 tersloh 51975, S. 144–152, und vielen anderen. Henning Graf Reventlows These bereitet sich vor in seinem Aufsatz Die Auffassung vom Alten Testament bei Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing, in: Evangelische Theologie 25 (1965), S. 429–448. 30 Vgl. Peter Stemmer, Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983. 31 Vgl. Günter Mühlpfordt, Rezension zu: Reimarus, Hermann Samuel: Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731, ed. P. Stemmer, Göttingen 1983, in: Theologische Literaturzeitung 113, 1988, S. 199–204. Eine Zusammenfassung der damaligen Forschungsdebatte bietet Wolfgang Gericke, Zur theologischen Entwicklung von Hermann Samuel Reimarus, in: Theologische Literaturzeitung 114 (1989), Sp. 859–862. 32 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik oder der Verlust des biblischen Kredits bei Hermann Samuel Reimarus, in: Henning Graf Reventlow u. a. (Hgg.), Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung, Wiesbaden 1988, S. 193–204, wieder abgedruckt in: Wilhelm Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 73–87. 33 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Erbauliche versus rationale Hermeneutik. Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns ›Neue Erklärung des Buches
1.2 Forschungsbericht
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Zu dieser im Blick auf die Erforschung der »Apologie« zentralen Debatte um den Zeitpunkt des bibelkritischen Umschlagens der Reimarus’schen Hermeneutik gesellen sich seit 1972 andere Fragen hinzu, die der Reimarusforschung ebenso wichtige Impulse zu geben vermochten. 1976 wies Hans-Werner Müsing auf die Bedeutung der radikalpietistischen Kritik der Versöhnungslehre durch Johann Konrad Dippel hin.34 Harald Schulze machte 1978 aufmerksam auf die handfest religionskritischen Anteile der »Apologie«.35 Als besonders fruchtbar erwies sich die Frage nach Reimarus’ Einbindung in radikalaufklärerische Netzwerke und Milieus, die sein kritisches Werk ebenso wie dessen Geheimhaltung verständlich machen. Walter Grossmann nahm 1974 eine mögliche Verbindung zur Bibelkritik Edelmanns in den Blick.36 Wolfgang Gericke begann 1992 unter anderem anhand des edierten Auktionskatalogs37 der Reimarusbibliothek zu rekonstruieren, in welchem Umfang Reimarus Zugriff auf radikalaufklärerische Literatur hatte, darunter den berüchtigten Betrügertraktat.38 In diese Linie fügt sich auch ein wegweisender Aufsatz von Almut und Paul Spalding aus dem Jahr 2001, der in Umrissen erkennen lässt, welches noch nicht ansatzweise ausgeschöpfte Potential in der detaillierten Rekonstruktion des Hamburger Radikalaufklärungsmilieus steckt, in dem Reimarus seine »Apologie« über Jahrzehnte hin ausarbeitete. Almut und Paul Spalding tragen Indizien zusammen, die darauf hinweisen, dass Johann Lorenz Schmidt nach dem Wertheimer Streit unter falschem Namen als Tutor im Hause Reimarus beschäftigt war, und sie legen zahlreiche Verbindungen der Familie Reimarus zu anderen Protagonisten der Hamburger Aufklärung offen.39 An eine solche, auf die Erschließung neuer Quellenbestände gründende Forschung knüpfte eine 2006 an der Rutgers University in New Brunswick von Martin Mulsow organisierte Reimarustagung an, der die vorliegende Arbeit sehr Hiob‹, in: Wolfgang Walter (Hg.), Herrmann [sic!] Samuel Reimarus 1694–1768. Beiträge zur Reimarus-Renaissance in der Gegenwart, Göttingen 1998, S. 23–52. 34 Vgl. Hans-Werner Müsing, Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und seine Religionskritik an hand eines unveröffentlichten Manuskripts, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 62 (1976), S. 49–80. 35 Vgl. Harald Schulze, Religionskritik in der deutschen Aufklärung. Das Hauptwerk des Reimarus im 200. Jahre des Fragmentenstreits, in: Theologische Literaturzeitung 103 (1978), S. 705–713. 36 Vgl. Walter Grossmann, Edelmann und das ›öffentliche Schweigen‹ des Reimarus und Lessing. Toleranz und Politik des Geistes, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 85 (1974), S. 358–368. 37 Vgl. Johann Andreas Gottfried Schetelig (Hg.), Auktionskatalog der Bibliothek von Hermann Samuel Reimarus. Red. von Johann Andreas Gottfried Schetelig. Hamburg 1769 u. 1770, hg. von der Reimarus-Kommission der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel, Hamburg 1978. 38 Vgl. Wolfgang Gericke, Hermann Samuel Reimarus und die Untergrundliteratur seiner Zeit, in: Pietismus und Neuzeit 18 (1992), S. 118–131. 39 Vgl. Almut und Paul Spalding, Der rätselhafte Tutor bei Hermann Samuel Reimarus: Begegnung zweier radikaler Aufklärer in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 87 (2001), S. 49–64.
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viele Anregungen verdankt. Durch die Sichtung bislang nicht beachteter Archivmaterialien und Reimarusschriften, wie beispielsweise die zahlreichen philologischen Arbeiten, die derzeit von Ulrich Groetsch im Rahmen eines Dissertationsprojekts ausgewertet werden, lassen sich neue Perspektiven und Fragestellungen erschließen.40 Freilich wäre das Panorama der Forschungen, auf die die vorliegende Arbeit aufbaut, unzureichend beschrieben ohne den Hinweis auf zumindest einige der zahlreichen Arbeiten aus benachbarten Forschungsfeldern. Zu nennen sind hier vor allem zwei Forschungsfelder, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, im Lauf ihrer Aufarbeitung aber als eng miteinander verwoben erkennbar wurden. Es sind die Felder der Orthodoxie- und der Radikalaufklärungsforschung, zwischen denen mehrere der für den Fall Reimarus relevanten Thematiken verhandelt werden. Apologetische Auseinandersetzung mit dem Atheismus, Austausch clandestiner Literatur, kritische Philologie und Exegese, jüdische antichristliche Polemik, Dogmenkritik, Spinozismus – alles das muss eine zeitgemäße Arbeit über Reimarus berücksichtigen. Ältere Arbeiten der theologischen Orthodoxieforschung, etwa von Hans-Martin Barth41 oder Walter Sparn42 sind hier hilfreich, aber insbesondere auch neuere, ohne die die vorliegende Arbeit nicht denkbar wäre. So hat sich auf dem Gebiet der Erforschung christlicher Hebraistik, die sich früh bereits mit polemischen Schriften auseinandersetzen musste, seit Ende der 1980er Jahre viel getan.43 Wilhelm SchmidtBiggemann44, Ralph Häfner45 und Martin Mulsow46 haben die orthodoxe Wahrnehmung der Krise des christlichen Platonismus im ausgehenden 17. Jahrhundert in mehreren Aufsätzen erforscht und damit einen vielseitigen philosophisch-theo40 Leider liegen die Ergebnisse der Tagung zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht im Druck vor, so dass auf die einzelnen Beiträge noch nicht hingewiesen werden kann. 41 Vgl. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971. 42 Vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Karlfried Gründer / Wilhelm Schmidt-Biggemann, Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 27–63. 43 Vgl. Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988, und die Ausgabe Samuel Kraus, The Jewish-Christian Controversy from the earliest times to 1789, Bd. 1, hg. von William Horbury, Tübingen 1996. 44 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Ralph Häfner (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹, Tübingen 2001, S. 265–301. 45 Vgl. Ralph Häfner, Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 141–164. 46 Vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002. Erwähnt sind hier lediglich einige der Arbeiten, die mit diesem Diskurs zu tun haben.
1.2 Forschungsbericht
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logischen Diskurs erkennbar gemacht, dessen enormes destruktives Potential in beiden Reimarus’schen Werkhälften greifbar wird. Auch über Reimarus’ Lehrer Fabricius und Wolf wurde in den letzten Jahren viel geforscht, im Falle Fabricius’ in Gestalt der umfassenden Monographie von Erik Petersen47, im Falle Wolfs durch mehrere Aufsätze von Martin Mulsow48, die Wolf als Teil des radikalaufklärerischen Milieus und Sammler verbotener Bücher erkennbar machen. Winfried Schröders49 große Monographie über die Ursprünge des Atheismus erschließt seit 1998 das unübersichtliche Feld radikal religionskritischer clandestiner Literatur. Almut Spaldings50 2005 erschienenes Buch über Elise Reimarus wirft Licht auf die Alltagswelt im Reimarushaushalt und leistet so einen wichtigen Beitrag zur sozial- und alltagsgeschichtlichen Erforschung der Hamburger Aufklärung, die durch Franklin Kopitzschs51 1982 erschienenes Buch zur Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg einen erste wichtige Fundierung erhalten hat. Theologischerseits sind es vor allem Friederike Nüssels52 Buch über die Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Budde und Anselm Schuberts53 weit ausholende Verfallsgeschichte der Sündenlehre innerhalb der lutherischen Orthodoxie, auf deren Ergebnisse die vorliegende Arbeit zurückgreifen kann. Der Reimarusforschung der Gegenwart bieten sich Möglichkeiten, von denen man noch vor zehn Jahren nicht hätte träumen können. Umso mehr fragt sich, warum die evangelische Theologie, die das Thema unmittelbar betrifft, seit so langer Zeit an der Reimarusforschung nicht beteiligt ist. Die wenigen theologischen Erwähnungen von Reimarus in der Gegenwart zeigen eine Tendenz der evangelischen Theologie, die einschlägigen Ergebnisse der neueren Reimarusforschung lediglich aufzunehmen, zu ihr selbst aber keinen eigenen Beitrag mehr zu leisten. So würdigt Johann Anselm Steiger in seinem Aufsatzband »500 Jahre Theologie in Hamburg« Reimarus zwar mit einem eigenen Beitrag, führt 47 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius en Humanist i Europa, 2 Bde., Kopenhagen 1998. 48 Vgl. beispielsweise Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 81–111. 49 Vgl. Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysikund Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. Zu erwähnen ist hier auch die von Schröder herausgegebene Reihe »Candestina der deutschen Aufklärung«, durch die einige für die vorliegende Arbeit wichtige Texte zugänglich gemacht worden sind. 50 Vgl. Almut Spalding, Elise Reimarus (1735–1805) The Muse of Hamburg. A Woman of the German Enlightenment, Würzburg 2005. 51 Vgl. Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, 2 Teile, Hamburg 1982. 52 Vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996. 53 Vgl. Anselm Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen 2002.
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über den bereits erreichten Forschungsstand aber kaum hinaus.54 In Albrecht Beutels neuer Monographie »Aufklärung in Deutschland« findet Reimarus lediglich am Rande Erwähnung. Er erscheint im Kontext des englischen Deismus und der Physikotheologie, wird dem Leser als Bestreiter des Weissagungsbeweises bekannt, hat in der eigentlichen Geschichte der deutschen Aufklärung aber im Grunde keinen Platz.55 Man wird Albrecht Beutel nicht vorwerfen können, er habe die Ergebnisse der neueren Reimarusforschung nicht ausreichend zur Kenntnis genommen, denn in der Tat gibt es da nicht wesentlich mehr. Die Forschungen zur »Apologie« führen derzeit zu nicht viel mehr als einem Bild des Reimarus als eines marginalen Phänomens religionskritischer Impertinenz am Rande der zumeist gemäßigten deutschen Aufklärung: Reimarus war lange Zeit lutherisch-orthodox, wies die Kritik an der Bibel zurück, doch irgendwann schlug sein Denken um, und er brach mit der theologischen Hermeneutik – angeregt sehr früh schon beispielsweise durch den englischen Deismus oder vielleicht doch erst durch den radikalen Wolffianismus Schmidts, das gilt es noch auszumachen. Wer dieses Reimarusbild übernimmt, der kann Reimarus als Teil der evangelischen Theologiegeschichte nicht mehr ernst nehmen. Reimarus muss dann als der ungenannte Wolfenbütteler Fragmentist betrachtet werden, dessen gefährliche exegetische Experimente erst durch Lessing für die Entwicklung der Theologiegeschichte fruchtbar gemacht worden sind. Für Reimarus’ Würdigung als ein eigenständiger Teil der deutschen Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts fehlt derzeit die Grundlage. Was eine theologiegeschichtliche Arbeit über Reimarus zu leisten hat, liegt damit auf der Hand. Sie muss die Ergebnisse der neueren Reimarusforschung bündelnd theologiegeschichtlich fragen nach dem Ursprung und Wesen von Reimarus’ Exegese, Religions- und Priesterkritik, seinem Bild von Jesus und dem Neuen Testament, aber auch nach seiner Haltung der lutherischen Dogmatik gegenüber, mit der Reimarus sich in beiden Werkhälften intensiv auseinandersetzt, im Kontext einer Kritik der biblischen Heilsgeschichte auf der einen und einer philosophischen Verteidigung der »vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« auf der anderen Seite. Auch die Lessing’sche Publikation der Fragmente, die bislang als der einzige Ort einer theologiegeschichtlichen Wirkung der »Apologie« erscheint, gilt es kritisch zu hinterfragen. Aufgaben stellen sich einer theologiegeschichtlichen Arbeit über Reimarus genug. Die Frage ist nur, welchen Methoden folgend die Aufgaben gelöst werden können. Da über Reimarus in der Vergangenheit theologiegeschichtlich wenig geforscht worden ist, wächst der 54 Vgl. Johann Anselm Steiger, Ist es denn ein Wunder? Die aufgeklärte Wunderkritik. Oder: Von Spinoza zu Reimarus, in: ders. (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 113–130. 55 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006, S. O 221, O 227 und S. O 292 f.
1.2 Forschungsbericht
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vorliegenden Arbeit eine Vielzahl sehr unterschiedlicher historiographischer Aufgaben zu, die methodisch je unterschiedlich angegangen werden müssen. Die beiden parallel aufgebauten Hauptteile der Arbeit beginnen jeweils mit einem Kapitel, in dem unter Zuhilfenahme bereits vorliegender Ergebnisse der Theologie- und Philosophiegeschichtsschreibung Reimarus’ biographische Entwicklung auf die beiden Hauptwerke hin skizziert wird, wobei zugleich auf die vorhandenen Materialien aus dem Reimarusnachlass verwiesen wird, die zunächst nur in Umrissen erkennen lassen, in welcher Weise Reimarus auf welche Bewegungen der geistigen Welt um sich herum reagiert hat. Es folgt jeweils eine Inhaltszusammenfassung, die sich um eine möglichst objektive und nüchterne doxographische Erfassung der zugrunde gelegten Hauptwerke bemüht. Darauf aufbauend bietet die Arbeit je drei Kapitel, die exemplarisch zentrale Thematiken der beiden Hauptwerke aufnehmen und ausgehend von den zur Verfügung stehenden Quellen eine möglichst dichte Beschreibung der Herkunft und gedanklichen Ausarbeitung jeweiliger Ideen durch Reimarus bieten. Zum Teil entstehen hierbei historiographische Nahaufnahmen, die bis ins Detail Reimarus’ Auseinandersetzung mit bestimmten Texten, einzelnen Personen und möglichen Entscheidungsalternativen zeigen, zum Teil aber auch offenlegen, gegen welche Optionen Reimarus sich entschieden hat und warum. Ein besonderer Gegenstand des Interesses ist hierbei Reimarus’ Auseinandersetzung mit der lutherischen Dogmatik, die im jeweils dritten dieser Kapitel beleuchtet wird. Das methodische Profil dieser insgesamt sechs Detailuntersuchungen ist je unterschiedlich zu beschreiben. Die Frage nach Netzwerken und Milieus, der mikrohistorischen Rekonstruktion möglichen Austausches clandestiner Texte kann hier eine Rolle spielen ebenso wie Fragen einer eher konventionellen philosophie- und dogmengeschichtlichen Kontextualisierung der beiden Hauptwerke. Die beiden Kapitel zur Rezeptionsgeschichte fassen bereits bekannte Forschungsergebnisse verkürzend zusammen, führen aber im Falle der »Apologie« über das bekannte Feld der Theologie- und Geistesgeschichtsschreibung hinaus und betreten bislang unerforschtes Terrain, das sich als Konstellation56 darstellen und untersuchen lässt. Im Schluss der Arbeit werden die Ergebnisse zu einem vorläufigen Gesamtbild zusammengefügt und der Versuch unternommen, Reimarus’ Ort in der Theologie- und Aufklärungsgeschichte des 18. Jahrhunderts zu bestimmen.
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Vgl. Martin Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: ders. / Marcelo Stamm (Hgg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005, S. 74–97.
2 Das bibelkritische Werk: Die »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« 2.1 Ursprünge der Bibelkritik 2.1.1 Johann Albert Fabricius und Johann Christoph Wolf Wesentliche Grundlagen für die spätere Arbeit an der »Apologie« wurden am Akademischen Gymnasium in Hamburg gelegt, wo Reimarus eine ausgezeichnete philologische und philosophische Vorbereitung auf das Universitätsstudium zuteilwurde. Als Reimarus’ eigentliche Lehrer, denen er sich auch später noch verpflichtet fühlte, müssen aus dem Hamburger Professorium herausgegriffen werden zum einen Reimarus’ späterer Schwiegervater, Johann Albert Fabricius, und zum anderen Johann Christoph Wolf, zwei lutherische Philologen, deren guter Ruf bis weit über die Stadtgrenzen Hamburgs hinaus reichte. Mit ihren Beiträgen zur griechischen und hebräischen Literaturgeschichte waren sie europaweit bekannt und standen im Zentrum weitreichender gelehrter Netzwerke. Was ihre Tätigkeit am Akademischen Gymnasium Hamburg angeht, so lassen sich in ihren Biographien die Konturen einer Lehrerdynastie erkennen, die sich in Reimarus später fortsetzen sollte: als Fabricius an das Akademische Gymnasium berufen wurde, war Wolf einer seiner ersten Schüler, der seinerseits wiederum ein Jahr nach seiner Berufung Reimarus als einen seiner ersten Schüler unterrichtete. Zunächst zur Biographie Johann Albert Fabricius’, die weitaus stärker als die seiner beiden Schüler Wolf und Reimarus von kirchlichen Institutionen geprägt ist:1 mütterlicher- wie väterlicherseits aus einem lutherischen Pfarrersgeschlecht stammend wurde Fabricius 1668 in Leipzig geboren, wo ihm der lutherisch-orthodoxe Theologe Valentin Alberti nach dem frühen Tod seiner beiden Eltern eine schulische Ausbildung sowie das Studium der Theologie ermöglichte. Bis zu seiner theologischen Promotion in Kiel sowie der hierauf folgenden Berufung an das Akademische Gymnasium in Hamburg sicherte ihm stets die Kirche das finanzielle Überleben. So war es nach Alberti der Hamburger Hauptpastor an St. Jakobi, Johann Friedrich Mayer, der ihn förderte und als Bibliothekar und Prediger an seiner Kirche beschäftigte. Eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber 1
Zu Fabricius vgl. die umfassende Monographie von Erik Petersen, Johann Albert Fabricius – en humanist i Europa, 2 Bde., Kopenhagen 1998.
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2 Das bibelkritische Werk
seinen kirchlichen Geldgebern erreichte Fabricius erst mit der Anstellung am Akademischen Gymnasium. Allerdings fühlte er sich auch hier noch der Kirche gegenüber zur Treue verpflichtet. Lediglich im Kampf gegen den aufkeimenden Pietismus, den seine Förderer mit großer Entschiedenheit führten, leistete sich Fabricius eine gemäßigte Haltung der Toleranz, die sein Amtskollege Sebastian Edzardi anlässlich Fabricius’ Todes 1736 als einen Schattenfleck in der ansonsten makellosen orthodoxen Biographie festhielt.2 Im Blick auf Reimarus’ spätere Arbeit an der »Apologie« sind vor allem Fabricius’ philologische Leistungen von Interesse. Schon während der Schulzeit an der Leipziger Nicolaischule und am Quedlinburger Gymnasium wurde Fabricius’ außergewöhnliches philologisches Engagement bemerkt und gefördert, das ihn auch während seines Theologiestudiums in Leipzig weiter begleitete.3 In der Folgezeit und besonders nach seiner Anstellung am Akademischen Gymnasium widmete sich Fabricius jeweils groß angelegten philologischen Arbeiten, deren Mitte die beiden bibliographischen Werke »Bibliotheca Latina« und »Bibliotheca Graeca« darstellen, die später durch eine »Bibliotheca Latina mediae et infimae aetatis« ergänzt wurden.4 Fabricius bündelte hier das seit der Renaissance in Europa verstreute Wissen um die Literatur der griechischen und römischen Antike in bislang nicht da gewesener Weise und stellte es so der Gelehrten Welt zur Verfügung. Die Methode, nach der Fabricius die Pionierarbeit einer zusammenhängenden Literaturgeschichte der antiken Welt angeht, wird am klarsten erkennbar an der »Bibliotheca Graeca«, dem mittleren der drei großen bibliographischen Nachschlagewerke, an dessen Fertigstellung Fabricius arbeitete, als der junge Reimarus bei ihm den Unterricht besuchte. Die beiden Grundfragen, die Fabricius in der »Bibliotheca Graeca« zu beantworten versucht, sind die Fragen nach der korrekten Datierung der Lebenszeit jeweiliger Verfasser und nach dem genauen Umfang der von ihnen erhaltenen Literatur.5 Als wichtigstes Instrumentarium, dies zu erreichen, wirkt hierbei ein relatives Datierungssystem, das Fabricius aus einer Analyse jeweiliger in den Werken feststellbarer Zitationen gewinnt. Auf diese Weise gelingt es Fabricius, das Vor- und Nacheinander der Werke zu bestimmen und eine Chronologie zu entwerfen, die von der vorhomerischen Literatur bis 2
Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 830 f. Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 1, S. 56 und 72. 4 Zur »Bibliotheca Graeca« und zur »Bibliotheca Latina mediae et infimae aetatis« stehen Reprints später Ausgaben zur Verfügung: Johann Albert Fabricius, Bibliotheca Graeca, 12 Bde., Hildesheim 1966–1970 (Reprint Hamburg 1790–1809) und Johann Albert Fabricius, Jo. Alberti Fabricii Bibliotheca Latina mediae et infimae aetatis, 4 Bde., Graz 1962 (Reprint Florenz 1858). Die gebräuchliche Ausgabe der »Bibliotheca Latina« ist Johann Albert Fabricius, Bibliotheca Latina, sive notitia auctorum veterum Latinorum, quorumcunque scripta ad nos pervenerunt distributa in libros IV, 4 Bde., Hamburgi 1721. Zum Wachstum der Fabricius’schen »Bibliothecae« vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Erik Petersen, a. a. O. 5 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 1, S. 362. 3
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hin zum Fall Konstantinopels 1453 reicht. In chronologischer Reihenfolge arbeitet die »Bibliotheca Graeca« die einzelnen Autoren ab und folgt hierbei stets demselben Schema: angegeben werden zunächst die Lebenszeit und die Vita des Autors, dann eine Liste seiner Schriften, die kritisch unterteilt werden in »genuina, dubia, supposita & deperdita«6, eine Liste bislang erfolgter Editionen und schließlich eine Zusammenstellung von Scholien und Sekundärliteratur zu den Werken. Fabricius’ Vertrauen in seine historisch-kritische Methode war seit der vorausliegenden »Bibliotheca Latina« offensichtlich gewachsen, denn die »Bibliotheca Graeca« nimmt es in Angriff, zahlreiche anonyme Texte und Fragmente mit in die chronologische Ordnung des Werks zu integrieren, anstatt sie separat in Appendices zusammenzustellen, wie es noch in der »Bibliotheca Latina« erfolgt war.7 Allerdings sieht sich Fabricius trotz dieses gewachsenen Vertrauens in die eigene Methode an anderer Stelle in seiner Leistungsfähigkeit begrenzt. Bei Erscheinen des ersten Bandes der »Bibliotheca Graeca« gibt Fabricius im Vorwort bekannt, er wolle sich in seiner Darstellung der griechischen Literatur auf die paganen Autoren beschränken. Das Neue Testament sowie die christlichen Autoren dagegen sollen wegfallen. Erst später, als Fabricius die Anlage der »Bibliotheca Graeca« mehr und mehr ausweitet, finden auch das Neue Testament sowie die nachfolgenden christlichen Autoren bis hin zur byzantinischen Literatur Aufnahme.8 Um Fabricius’ anfängliches Zögern zu verstehen, genügt es nicht, auf die große Menge der im Verlauf der Kirchengeschichte entstandenen griechischen Literatur hinzuweisen. Man muss auch den von Fabricius durch die »Bibliotheca Graeca« ermöglichten neuen Weg einer kritischen Lektüre antiker Texte mit in den Blick nehmen. In der »Bibliotheca Graeca« werden die Autoren und ihre Texte nicht mehr als isolierte Autoritäten gelesen, die jenseits der sich wandelnden Geschichte einen unangreifbaren Ort für sich in Anspruch nehmen dürfen. Die Autoren und ihre Texte werden erstmals konsequent in einer diachronen Perspektive auf den Wandel der Geschichte bezogen und erscheinen so als voneinander abhängige Größen, die erst durch die Erschließung ihrer vielzähligen Beziehungen zu anderen Autoren und Texten adäquat verstanden werden können.9 Indem Fabricius das Neue Testament in den Plan seiner »Bibliotheca Graeca« integriert, fordert er stillschweigend für die biblischen Texte dieselbe historisch-kritische Behandlung ein, die sich im Blick auf die paganen Schriftsteller als richtig erwiesen hat. Theologisch anstößige Konsequenzen im Blick auf das Neue Testament zieht Fabricius zwar nicht. Die Möglichkeit hierzu hat er jedoch wie kaum ein anderer geschaffen. Auch was die Aufnahme christentumskritischer Fragmente angeht, erscheint Fabricius als ein Wegbereiter der späteren 6
Ebd., S. 364. Ebd., S. 242 und 354 f. 8 Ebd., S. 355 f., und Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 626 ff. 9 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 1, S. 365. 7
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Bibelkritik seines Schülers Reimarus. Der Vollständigkeit halber und nicht aus einem eigenen bibel- oder christentumskritischen Interesse heraus listet Fabricius Autoren mit auf, deren Andenken innerhalb der christlichen Welt wenig gepflegt worden ist. So behandelt Fabricius im vierten Band seiner »Bibliotheca Graeca« die verlorene Porphyriusschrift »Gegen die Christen«, die in Fragmenten bei Makarius Magnes erhalten ist.10 Weitere ähnliche Werke wären zu ergänzen. Durch Fabricius’ literaturgeschichtliche Arbeit war Reimarus jederzeit gut informiert über die Bestände antiker Literatur und lernte auch diejenigen Werke kennen, die gewöhnlich nicht zum Lektürekanon der philologischen Grundausbildung lutherischer Gelehrter gehörten. Ein Letztes bleibt im Blick auf Fabricius zu erwähnen. Als ein Charakteristikum der Aufklärung in Hamburg bekannt sind die gelehrten Gesellschaften, die sich der Pflege der Bildung11 und der moralischen Verbesserung der Hamburger Bürger widmeten und versuchten, allgemeinverständlich und in deutscher Sprache einer den Standards zeitgenössischer Philosophie und Gelehrsamkeit entsprechenden Erkenntnis den Weg zu ebnen. Drei der gelehrten Gesellschaften formierten sich um Fabricius als Initiator: die »Hamburgische Bibliotheca Historica«, die »Teutsch-übende Gesellschaft« und die »Patriotische Gesellschaft«. Fabricius’ Engagement für die gelehrten Gesellschaften ist getragen von einem aufklärerischen Emanzipationsinteresse, das ihn mit Teilen der bürgerlichen Oberschicht Hamburgs verband. Das kritische und insbesondere religions- und kirchenkritische Potenzial der gelehrten Gesellschaften um Fabricius darf freilich nicht zu hoch veranschlagt werden. Innerhalb der genannten drei Gesellschaften verhielt man sich in der Kritik zurückhaltend und förderte vielmehr im Positiven diejenigen Werte, auf deren Durchsetzung die bürgerliche Emanzipation gründen sollte.12 Zu einer offenen Kritik an den überkommenen Institutionen der Kirche fühlte man sich innerhalb der Gesellschaften nicht berufen, wenngleich zu beachten bleibt, dass der Mitgliederkreis der Fabricius’schen Gelehrtengesellschaften zum Teil deckungsgleich ist mit den als eher radikal einzuschätzenden Kreisen, die sich auch für heterodoxes und kirchenkritisches Schrifttum interessierten. Reimarus war mit dem Kreis um Fabricius vertraut und kann von dort aus sowohl pädagogische wie auch kirchenkritische Anregungen für seine »Apologie« empfangen haben.13 10
Vgl. Johann Albert Fabricius, Bibliotheca Graeca, Bd. 4, Hamburg 1711, S. 192 f. Zum Begriff der »Bildung« in Abgrenzung gegen den der »Gelehrsamkeit« vgl. Jürgen Rathje, Gelehrtenschulen. Gelehrte, Gelehrtenzirkel und Hamburgs geistiges Leben im frühen 18. Jahrhundert, in: Inge Stephan / Hans-Gerd Winter (Hgg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin / Hamburg 1989, S. 93–121, hier 94. 12 Vgl. Jörg Scheibe, Der »Patriot« (1724–1726) und sein Publikum. Untersuchungen über die Verfasserschaft und die Leserschaft einer Zeitschrift der frühen Aufklärung, Göppingen 1973, S. 158. 13 Personelle Überschneidungen zwischen den Gelehrtengesellschaften und dem späteren radikalaufklärerischen Milieu um Reimarus werden erkennbar in Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982, S. 265 ff., und 11
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Von mindestens ebenso großem Interesse im Blick auf Reimarus’ spätere Arbeit an der »Apologie« ist sein Lehrer in orientalischen Sprachen, Johann Christoph Wolf. Wolf wurde 1683 als der Sohn eines lutherischen Pfarrers in Werningerode geboren, wuchs jedoch ab seinem zwölften Lebensjahr in Hamburg auf, wo sein Vater Hauptpastor an St. Nicolai wurde. Nach Besuch des Johanneums wechselte Wolf an das Akademische Gymnasium, wo ihn unter anderen der soeben dorthin berufene Johann Albert Fabricius unterrichtete. Es folgte ein kurzes Studium an der Universität Wittenberg, das Wolf 1704 mit dem Magister abschloss, um sich bald darauf erfolgreich auf die Stelle des Konrektors am Lyzeum in Flensburg zu bewerben. Nach einer akademischen Reise in die Niederlande und nach England folgte von Flensburg aus der erneute Wechsel nach Wittenberg, wo Wolf drei Jahre als außerordentlicher Professor für Philosophie lehrte, ehe er 1712 an das Akademische Gymnasium in Hamburg berufen wurde als Professor für orientalische Sprachen.14 Ähnlich wie Fabricius blieb auch Wolf der lutherischen Orthodoxie grundsätzlich treu, schuf aber durch seine philologische Arbeit ein wichtiges Fundament der späteren Bibelkritik seines Schülers Reimarus. Denn so, wie es Fabricius durch seine Bibliotheken unternahm, die lateinische und griechische Literatur der Antike und des Mittelalters historisch-kritisch zu erschließen, bemühte sich Wolf um ein vergleichbares Werk zur hebräischen Literatur. Das Ergebnis dieser Bemühungen Wolfs war die zwischen 1715 und 1733 in insgesamt vier Teilen erschienene »Bibliotheca Hebraea«15, in der Wolf versucht, ältere Kompilationen zur hebräischen Literatur zu verbessern, wobei sein Interesse besonders der Korrektur unkritisch weiter tradierter Fehldatierungen einzelner Schriften sowie der Prüfung ihrer wahren Verfasserschaft gilt.16 Wolf wurde es gestattet, auf Rabbi David Oppenheimers hebräische Bibliothek in Hannover, Almut und Paul Spalding, Der rätselhafte Tutor bei Hermann Samuel Reimarus: Begegnung zweier radikaler Aufklärer in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte 87 (2001), S. 49–64, hier 53 ff. Mögliche Einflüsse auf Reimarus wären zu rekonstruieren unter Berücksichtigung der familiären Verflechtungen zwischen einschlägig bekannten Protagonisten. 14 Zu Wolf vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 81–111, und außerdem Art.: »Wolf, (Johann Christoph)«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 58, Leipzig / Halle 1748. Im Blick auf den akademischen Werdegang detaillierter: Johann Heinrich von Seelen, Commentatio de vita, scriptis et meritis in rempublicam literariam viri summe venerandi, excellentissimi eruditissimique Ioan. Christoph. Wolfii, Stadae 1717. 15 Zur »Bibliotheca Hebraea« steht ein Reprint zur Verfügung: Johann Christoph Wolf, Bibliotheca Hebraea, 4 Bde., Bologna 1967 (Reprint Hamburg 1715–1733). 16 Die Bedeutung der »Bibliotheca Hebraea« für das zeitgenössische Publikum spiegelt sich in den frühen Rezensionen: Deutsche Acta Eruditorum Oder Geschichte der Gelehrten, Welche den gegenwärtigen Zustand der Literatur in Europa begreiffen, 41 (1716), S. 343–354, hier 345.
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auf Bibliotheken in Leipzig und Berlin sowie auf verschiedene private Bibliotheken in Hamburg zurückzugreifen, und er konnte sich so ein außergewöhnliches Wissen über die hebräische Literatur erwerben.17 Anders als Fabricius in seiner lateinischen und griechischen Bibliothek wählt Wolf im ersten Teil seiner »Bibliotheca Hebraea« eine alphabetische Anordnung des Materials nach Autoren und bietet nachfolgend die unter ihrem Namen erschienenen Schriften sowie ihre Editionen, ihr Erscheinungsjahr und -ort, den Umfang der Verfasserschaft eines Autors und schließlich eine Inhaltszusammenfassung der einzelnen Schriften. Aufgeführt werden hierbei auch hebräische Übersetzungen nichthebräischer Philosophen.18 Der zweite Teil der »Bibliotheca Hebraea« behandelt die Bücher des Alten Testaments, den Bestand hebräischer Handschriften zum Alten Testament, die Masoreten, den Talmud, Literatur zur jüdisch-christlichen Polemik, die Targumliteratur, kabbalistische Literatur sowie jüdische Anonyma.19 Im dritten und vierten Teil der »Bibliotheca Hebraea« sammelt Wolf Ergänzungen zu den ersten beiden Teilen.20 Beachtenswert ist, dass Wolf, anders als Fabricius in seiner »Bibliotheca Graeca«, die biblischen Bücher sowie die Apokryphen ohne die geringste Spur von Bedenken mit behandelt. Unter formaler Wahrung der orthodoxen Inspirationslehre entwirft Wolf die Geschichte eines langsamen Wachstums des alttestamentlichen Kanons, dessen Kern zunächst nur die Bücher Mose waren, und erklärt, inwiefern einzelne in der Bibel erwähnte, jedoch in ihr nicht erhaltene Bücher als verschollen gelten müssen. In einem Anhang gibt er zu den jeweiligen Büchern Zusammenstellungen exegetischer Literatur an, um dem Leser die eigenständige Klärung von Einleitungsfragen zu erleichtern. Einen beachtlichen Vorstoß stellt auch die hierauf folgende Auflistung hebräischer Handschriften zum Alten Testament dar, durch die Wolf die Grundlage für eine Textkritik des Alten Testaments zu schaffen versucht, über deren Legitimität man sich theologischerseits noch keineswegs geeinigt hatte. Wolf zweifelte nicht daran, dass sich alle Fortschritte auf dem Gebiet der profanen Philologie auch im Blick auf die Theologie als nützlich erweisen würden, und bereitete die Materialien der profanen Philologie für den Gebrauch innerhalb der theologischen Exegese auf. In den »Curae philologicae et criticae«21 sammelte Wolf von 1725–1735 in insgesamt fünf Bänden Materialien zur Kommentierung des Neuen Testaments mit der Intention, die orthodoxe Auslegungstradition gegen Neuerungen zu verteidigen. Dass seine Materialsammlung auch in anderer Absicht benutzt werden 17
Ebd., S. 349. Ebd., S. 350–352. 19 Vgl. Deutsche Acta Eruditorum Oder Geschichte der Gelehrten, Welche den gegenwärtigen Zustand der Literatur in Europa begreiffen, 77 (1722), S. 323–341, hier 325. 20 Vgl. Acta, 129 (1727), S. 664–679, hier 664 f. 21 Vgl. Johann Christoph Wolf, Curae philologicae et criticae, 5 Bde., Hamburg 1725– 1735. 18
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konnte, belegt Reimarus’ »Apologie«, die unter anderem auf Wolfs »Curae« gründet, freilich ohne dies durch Zitate kenntlich zu machen.22 Abgesehen von diesen noch zurückhaltenden Vorstößen auf dogmatisch empfindliche Gebiete der Exegese wahrte Wolf eine strikte Trennung von Philologie und Dogmatik und konnte sich so auch christentumskritischer Literatur widmen, ohne in Verdacht zu geraten, selbst heterodoxen Anschauungen Vorschub zu leisten. Durch Theodor Hackspans orthodoxe Beschäftigung mit polemischer Literatur jüdischer Provenienz, die sein Schüler Johann Christoph Wagenseil in der Textsammlung »Tela ignea satanae«23 fortführte, bestand innerhalb der lutherischen Orthodoxie eine Tradition der Erforschung antichristlicher jüdischer Polemiken. Wolf konnte an diese Tradition anknüpfen, als er die antichristlichen Polemiken in seine »Bibliotheca Hebraea« aufnahm.24 Auch seine historische Aufarbeitung altkirchlicher Häresien bewegt sich innerhalb einer alten, auf Jakob Thomasius zurückgehenden Tradition Wittenberger Häresiographie und Atheismuskritik und steht in keinem Gegensatz zur orthodoxen Gesinnung Wolfs.25 Das historiographische Interesse an den Häresien freilich führte Wolf als einen orthodoxen Außenseiter in das radikalaufklärerische Milieu Hamburgs ein, in dem die benötigten häretischen Materialien zirkulierten. Wolf stand mit Peter Friedrich Arpe, Johann Heinrich Heubel und Christian Joachim Lossau in Kontakt und tauschte mit ihnen seltene Manuskripte, darunter unter anderem Adriaan Beverlands, dessen zum Teil schwer obszöne Schriften er früh bereits kopierte, um sie später in seinen »Curae« zum Neuen Testament zu benutzen. Die beiden Fassungen der berüchtigten religionskritischen Schrift »De tribus impostoribus« befanden sich ebenfalls in Wolfs Besitz.26 Eine positive Aufnahme heterodoxer Ansichten allerdings ist bei Wolf nicht festzustellen. Dieser Schritt blieb seinem Schüler Reimarus vorbehalten, der ihn jedoch nicht hätte gehen können ohne die Vorbereitung Wolfs.
2.1.2 Jena, Wittenberg und die Habilitationsschrift über den Machiavellismus Das philologische Arbeiten seiner beiden Lehrer Fabricius und Wolf setzte Reimarus während seiner Studienjahre selbständig fort. Verhältnismäßig spät im 22 Vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, S. 99 f. 23 Vgl. Johann Christoph Wagenseil, Tela ignea satanae, 2 Bde., Altdorfi Noricorum 1681. 24 Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988, S. 67–70. 25 Siehe unten das folgende Kapitel. 26 Vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, S. 100 ff. Zu Reimarus’ Kenntnis und Benutzung der Betrügertraktate siehe unten Kapitel 2.4.
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Alter von neunzehn Jahren schrieb er sich zum Sommersemester 1714 in Jena ein, wo er sich mit Theologie, Philosophie und orientalischen Sprachen beschäftigte. Zum Wintersemester 1716/17 wechselte er nach Wittenberg, wo er durch eine Disputation über hebräische Lexikologie die philosophische Magisterwürde erhielt. Seine Studienzeit endete 1719 mit einer Habilitationsschrift27 »Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum«28. Was die Jenaer und Wittenberger Jahre im Blick auf die »Apologie« interessant macht, ist zunächst die Methode des historischen Arbeitens, die Reimarus in der Habilitationsschrift von 1719 zum ersten Mal selbständig erprobte. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Reimarus in seiner »Apologie« der in Jena und Wittenberg erlernten Methode bediente, um die zahlreichen historischen Rekonstruktionen biblischer Geschichte ins Werk zu setzen. Daneben allerdings ermöglicht die Betrachtung der Jenaer und Wittenberger Jahre auch eine erste, wenn auch vorläufige Antwort auf die Frage nach Reimarus’ allgemeiner Orientierung im Feld der deutschen Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Reimarus’ rationalistisch konzipierter Gottesbegriff sowie sein entschiedenes Eintreten für eine Beurteilung der Offenbarung vom Standpunkt der Vernunft aus legt zunächst den Verdacht nahe, Reimarus repräsentiere einen radikal offenbarungskritischen Wolffianismus. Inwiefern diese Einordnung im Blick auf die »Vornehmsten Wahrheiten« zum Teil berechtigt ist, bleibt an späterer Stelle zu erörtern.29 Von Reimarus’ akademischem Werdegang aus betrachtet ist sie jedenfalls abzulehnen, da Reimarus durchweg bei Vertretern der Thomasiusschule studierte, die dem geschlossenen Lehrsystem der Leibniz-Wolffschen Philosophie von Haus aus eher kritisch gegenüberstanden. Denn während es der LeibnizWolffschen Philosophie darum geht, einen gemeinsamen metaphysischen Grund zu formulieren, auf dem die übrigen Wissenschaften dann als jeweils der Philoso27 Die Bezeichnung der Machiavelliarbeit als »Habilitation« ist übernommen von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 9–16, hier S. 10. Das Habilitationsverfahren hielt erst 1816 in Preußen Einzug in den Universitätsbetrieb, so dass die Bezeichnung der Reimarus’schen Machiavelliarbeit als »Habilitation« zunächst anachronistisch erscheint. Da sich Reimarus durch die Wittenberger Arbeit aber zur Bewerbung auf Professuren qualifizierte, ist die Bezeichnung zutreffend. Zu den unklaren Regelungen zur venia legendi vor 1816 vgl. Alexander Busch, Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten, Stuttgart 1959, S. 14 f. 28 Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, Wittenberg 1719. Der Text wurde erneut herausgegeben in: Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 69–130. Zitiert wird nach der Seitenzählung der Ausgabe Göttingen 1994. 29 Unter Hinweis auf die z. T. erheblichen Differenzen zur Wolffschen Philosophie ordnet Günter Gawlick Reimarus in das Spektrum des radikalen Wolffianismus, vgl. Günter Gawlick, Christian Wolff und der Deismus, in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 21986, S. 139–147, hier S. 145.
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phie gegenüber eigenständige Disziplinen aufbauen, strebt Thomasius eine auf praktischen Nutzen hin angelegte Philosophie an, die anknüpfend an die aus dem Ramismus erwachsene Enzyklopädie die Gebiete der Einzelwissenschaften in historischer Perspektive als Lagerstätten empirischen Wissens betrachtet, aus denen der Philosoph zu einer jeweiligen alltäglichen Fragestellung passende Versatzstücke auswählen kann. Dieses eklektische Philosophieren bedarf der Metaphysik als einer verbindlichen Einheitsinstanz nicht. Die Einheitsinstanz der eklektischen Philosophie ist der Anwendungsbedarf historischen Erfahrungswissens, wie er sich im wachsenden preußischen Verwaltungsstaat alltäglich zeigt. Zugleich ist damit der Stellenwert der Metaphysik in der eklektischen Philosophie ein anderer als im Wolffianismus. Zwar verschwindet die Metaphysik nicht gänzlich aus dem Lehrplan, sie darf aber freier gehandhabt werden und ist nicht gebunden an eine einzige Schulmeinung.30 Steht jedoch das weite Feld des historischen Erfahrungswissens dem eklektischen Philosophen auf diese Weise zur Verfügung, so bedarf es zugleich einer verlässlichen Methode, auf dieses Feld zuzugreifen, und diese Methode finden die Thomasianer in einer sich stetig verfeinernden wissenschaftlichen Historiographie.31 Ein ausgesprochener Fachmann der eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung war Johann Franz Budde, der in Jena Dogmatik lehrte, als Reimarus dort das Studium begann. Budde leitete seine Schüler an zu einer unparteilichen und kritischen Sichtung der Philosophiegeschichte und erörterte Einzelthemen der Philosophie stets in einer breiten historischen Perspektive.32 Hierbei bildeten die Inhalte der christlichen Heilslehre prinzipiell keine Ausnahme. Budde achtete aber darauf, dass der zentrale historische Topos der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung in seiner universalen Heilsbedeutung unangetastet blieb. Ansätze zu einer historisch-kritischen Arbeit am Kern des dogmatischen Lehrbestands finden sich bei Budde nicht. Die historische Arbeit des Theologen bleibt beschränkt auf Hilfsdisziplinen, die der Zentraldisziplin der Dogmatik mit ihren unantastbaren Wahrheiten zuarbeiten.33 Auch in seinem Rückgriff auf Konzeptionen einer 30 Thomasius selbst hielt die Metaphysik sogar für schädlich, vgl. Wilhelm SchmidtBiggemann, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 31–37, ders., Topica Universalis. Eine Modellgechichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. 272–275; Helmut Holzhey, Philosophie als Eklektik, in: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 19–29, ders. / Simone Zurbuchen, Christian Thomasius, in: ders. / [Friedrich Ueberweg], Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nordund Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 1165–1202, hier S. 1186 f. 31 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Theodizee und Tatsachen, S. 38–41. 32 Zu Budde als Philosoph vgl. Hinrich Rüping, Budde und die Naturrechtslehre der Thomasius-Schule, in: Helmut Holzhey / [Friedrich Ueberweg], Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 1203–1215, hier S. 1205–1209. 33 Vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996, S. 34–86.
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natürlichen Religion bleibt Budde zurückhaltend. Die natürliche Religion verstanden als eine Disposition des Menschen auf Gott hin hat eine gewisse apologetische Bedeutung für die Absicherung der christlichen Religion gegen Angriffe der Naturalisten und Atheisten. Ihre theologische Legitimität erhält sie aber erst von der dogmatischen Heilslehre her und ihrer Mitte, dem Versöhnungswerk Christi. Eine allein mittels rationaler Evidenz neben der Offenbarung eigenständige natürliche Religion kennt Budde nicht.34 Sein Ausgangspunkt ist das Versöhnungswerk Christi, das anders als andere historische Gegebenheiten für den Menschen universal bedeutsam und daher unangreifbar ist. Doch was den Studenten Reimarus in Jena umtreibt, scheint nicht bevorzugt die Theologie gewesen zu sein. Aus einem Brief an seinen Lehrer Wolf ist ersichtlich, dass Reimarus nach Leipzig fuhr, um dort den Mediziner und Philosophen Johann Andreas Rüdiger zu hören. Der Thomasiusschüler Rüdiger setzte zum einen die praktische Philosophie seines Lehrers fort und entwickelte zum anderen eine antimechanistisch und sensualistisch orientierte Philosophie, durch die er sich auf dem Gebiet der Naturwissenschaft von dem durch Descartes und Leibniz geprägten mechanistischen Naturverständnis abzugrenzen versuchte. Die dogmatische Theologie scheint für Reimarus schon früh an Bedeutung verloren zu haben. Natur und Moral interessierten ihn neben den Sprachen.35 Die Philologen, die Reimarus unterrichteten und sein aus dem Akademischen Gymnasium in Hamburg mitgebrachtes philologisches Können vor allem auf dem Gebiet der orientalischen Sprachen vermehrten, waren in Jena Andreas Danz, ein äußerst produktiver Fachmann für hebräische und aramäische Sprachlehre, und in Wittenberg der Orientalist Christoph Wichmannshausen.36 Jedoch bleibt im Blick auf die »Apologie« Reimarus’ Weiterentwicklung auf dem Gebiet der eklektischen Historiographie von höherem Interesse. Will man wissen, wie die Philosophiegeschichtsschreibung in Jena und Wittenberg im Einzelnen betrieben wurde, so empfiehlt sich ein Blick in Reimarus’ Habilitationsschrift von 1719 »De Machiavellismo ante Machiavellum«, mit der sich Reimarus auf das Feld der Naturrechtslehre und der politischen Theorie 34
Vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung, S. 253–259 und 274. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 9–65, hier S. 14. Zu Johann Andreas Rüdiger vgl. [ohne Vornamen] Prantl, Art. »Rüdiger: Joh. Andreas«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 467–468. 36 Vgl. [ohne Vorname] Siegfried, Art. »Danz: Johann Andreas«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), S. 751, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung, S. 15. Dass Wernsdorf einen prägenden Einfluss auf Reimarus hatte, ist unwahrscheinlich. Er hielt als Probst an der Wittenberger Schlosskirche von 1710 an nur noch nebenamtlich theologische Vorlesungen und war akademisch wenig profiliert, vgl. Friedrich August Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts, Hamburg / Gotha 1852, S. 295–297. Auf Reimarus prägend gewirkt haben können auch Johann Hermann von Elswich und Nikolaus Pragemann. 35
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begab. Die Wahl des Themas ist wenig außergewöhnlich. Anknüpfend an Samuel Pufendorf hatte bereits Christian Thomasius einen Theorieansatz verfolgt, der zwar grundsätzlich die Geltung einer allgemeinen Naturrechtstheorie nicht infrage stellte, im Kontext der Diskussion der den staatlichen Zusammenhalt ermöglichenden anthropologischen Konstante der socialitas aber erhöhtes Augenmerk der empirisch unübersehbaren Verderbtheit des Menschen schenkte, die allein durch politische Zwangsmaßnahmen zu bändigen war. Der Bruch zwischen dem auf zwischenmenschlicher Liebe gründenden Idealmaßstab des honestum und der Realität eines durch Zwangsmittel durchzusetzenden iustum lag schon bei Thomasius offen zutage.37 Angesichts dieses Problemzusammenhangs konnte die historisch-kritische Beschäftigung mit dem Machiavellismus als eine höchst aktuelle Aufgabenstellung betrachtet werden. Denn der Machiavellismus war einerseits interessant, weil er mit seiner rein machtpolitischen Klugheitslehre genau dort ansetzte, wo die politische Theorie der Thomasiusschule einen Bruch mit der Empirie verzeichnete, und er war andererseits abstoßend, weil er den moralischen Anspruch des honestum missachtete. Dass Machiavellis funktionalistische Religionstheorie zu theologischen Bedenken führen konnte, kommt hinzu. Johann Franz Budde hatte Machiavelli in seiner Philosophiegeschichte mit in die Ahnenreihe des Atheismus aufgenommen und ihn in eine Reihe gestellt mit Denkern, die die Religion unter materialistischen Prämissen betrachten.38 Die Arbeit über den Machiavellismus ist somit auch Teil einer umfassenden historiographischen Aufarbeitung des Problems des Atheismus durch die lutherische Orthodoxie. Budde und Wolf hatten hierzu Beiträge geliefert. Mit der Machiavelliarbeit folgte Reimarus ihnen nach. Ohne jeden Hinweis auf die gegenwärtige Bedeutung des Themas beginnt Reimarus seine Habilitationsarbeit mit einigen Anmerkungen zu der historiographischen Methode, deren Beherrschung die Arbeit demonstrieren soll. Er erinnert daran, dass sich mancher philosophische Gedanke, der als philosophiegeschichtlich neu einem bestimmten Autor zugeschrieben wird, in Wirklichkeit eine lange Vorgeschichte inzwischen vergessener Präfigurationen aufweist.39 Als Vorbild für seine eigene Arbeit über den Machiavellismus nennt Reimarus eine 37
Vgl. Helmut Holzhey / Simone Zurbuchen, Christian Thomasius, in: ders. / [Friedrich Ueberweg], Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 1165–1202, hier S. 1196. 38 Vgl. C. W. T. Blackwell, The historiography of Renaissance philosophy and the creation of the myth of the Renaissance eccentric genius – Naudé through Brucker to Hegel, in: Eckhard Keßler, Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt, Wiesbaden 1994, S. 339–369. 39 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, S. 70 ff.: »Multa videntur hodie nova, quae non sunt: non solum, quod ipsa temporum varietas pleraque dudum obsoleta prodire jubeat in lucem; sed &, quod alia, vitio scribentium, nova tantum specie, in scenam producantur iterum, alia, legentium imperitia, aliquem induant, vel potius mentiantur novitatis habitum«.
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Reihe von ähnlichen Arbeiten, die ebenfalls bestimmte philosophische Systeme oder Meinungen auf ihre historische Originalität hin überprüfen, darunter Johann Franz Buddes »De Spinozismo ante Spinozam« und Johann Christoph Wolfs »Manichaeismus Ante Manichaeos«.40 Was nun zunächst Buddes Schrift »De Spinozismo ante Spinozam«41 angeht, so steht sie im Kontext der von Johann Georg Wachter und dessen 1699 in Amsterdam erschienenen Schrift »Der Spinozismus im Jüdenthumb« angeregten Debatte über das Verhältnis der Philosophie Spinozas zur Kabbala. Ausgehend von einer verkürzenden Übersetzung von Herreras »Himmelspforte«, die Christian Knorr von Rosenroth seiner »Kabbala denudata« beigegeben hatte, war Wachter zu der These gekommen, der Pantheismus der Philosophie Spinozas verdanke sich dem Erbe der Kabbala, die den bei Spinoza offen zutage tretenden Pantheismus schon immer in sich getragen habe. Spinoza habe Herreras »Himmelspforte« gelesen und sei durch sie zu seiner pantheistischen Philosophie angeregt worden.42 Budde nun übernimmt von Wachter die These vom Ursprung der spinozistischen Lehre in der Kabbala, modifiziert sie aber, indem er eine Unterscheidung vornimmt zwischen einer alten, unverdorbenen Kabbala und einer neueren, tendenziell tatsächlich pantheistischen Kabbala, aus der Spinoza schöpfte. Budde verfolgt also eine doppelte Strategie im Umgang mit dem durch Wachter aufgeworfenen Problem: während er auf der einen Seite Teile der Kabbala vor dem Pantheismusvorwurf in Schutz nimmt und für die christliche Theologie rettet, folgt er auf der anderen Seite dem Wachterschen Urteil und gibt die neuere Kabbala dem Pantheismusvorwurf preis, nicht ohne den in Spinoza gipfelnden kabbalistischen Pantheismus polemisch zu stigmatisieren als Atheismus.43 Erschließt Budde auf diese Weise die historischen Wurzeln des durch Spinoza repräsentierten Pantheismus, so leistet er einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung des Atheismus, den lutherische Theologen anknüpfend an Jakob Thomasius’ Häresiographie in denjenigen philosophischen Systemen erkannten, die das Verhältnis von Gott und Welt nicht als das einer Schöpfung aus dem Nichts bestimmen, Welt und Gott identifizieren oder der Welt neben Gott Eigenständigkeit zusprechen. Der Pantheismus Spinozas ist in diesem Sinne atheistisch, aber auch die dualistische Zwei-Prinzipien-Lehre der Manichäer, mit der sich Wolf 40
Ebd., S. 73 f. Vgl. Johann Franz Budde, Dissertatio philosophica de Spinozismo ante Spinozam, Halle 1701. 42 Vgl. Gershom Scholem, Die Wachtersche Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen, in: Karlfried Gründer / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.), Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 15–25. 43 Vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Karlfried Gründer / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.), Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 27–63, hier S. 47 ff., und Hinrich Rüping, Budde und die Naturrechtslehre der Thomasius-Schule, S. 1207 f. Zum weiteren Problemzusammenhang siehe auch unten Kapitel 2.6.2 und 3.3. 41
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beschäftigte in seiner Schrift »Manichaeismus Ante Manichaeos, Et in Christianismo Redivivus«44, die in Wittenberg ausgearbeitet 1707 in Hamburg gedruckt wurde. Wolf nimmt Bezug auf Pierre Bayles Artikel »Manichäer« aus dem »Dictionnaire historique et critique« und setzt die dort begonnene Analyse der antiken persischen Ursprünge der Lehre der Manichäer fort mit dem Ziel, Bayles Eingeständnis einer gewissen Plausibilität des Dualismus angesichts der ständigen Erfahrung menschlichen Unglücks zugunsten der lutherisch-orthodoxen Theologie und ihrer Schöpfungs- und Vorsehungslehre ablehnen zu können.45 Neben dem Aufweis der Ursprünge des dem Manichäismus zugrunde liegenden Dualismus nimmt besonders großen Raum die Geschichte der Verbreitung der Zwei-Prinzipien-Lehre in den antiken Philosophenschulen ein, die es Wolf erlaubt, korrumpierte Zweige der Geistesgeschichte von einer unverderbten jüdisch-christlichen Traditionslinie zu unterscheiden.46 Durch diese historische Analyse gewinnt Wolf den Hintergrund für eine nachfolgende philosophisch-theologische Abhandlung zur Widerlegung des Dualismus, der als ein umfassendes System zur Erklärung der Welt, ihrer Entstehung und Erhaltung sowie der Situation des Menschen in ihr letztlich versagen muss und folglich den lutherisch-orthodoxen Schöpfungsund Vorsehungsglauben auch nicht ersetzen kann.47 Die beiden Beispiele zeigen, wie die Methode eklektischer Philosophiegeschichtsschreibung betrieben wurde und in welcher Weise man sie in den Dienst der lutherischen Apologetik stellte. Mit seiner Arbeit über den Machiavellismus vor Machiavelli trat Reimarus in die Fußstapfen seiner Lehrer Budde und Wolf und setzte das Programm der apologetischen Historisierung am Beispiel des Atheisten Machiavelli fort. Hierbei konnte er bereits auf Ergebnisse zahlreicher anderer Arbeiten zurückgreifen, die sich zuvor schon mit der Geschichte des Machiavellismus beschäftigt hatten. Tatsächlich braucht Reimarus die These, der Machiavellismus lasse sich bis auf antike politische Theorien, namentlich auf die »Politik« des Aristoteles, zurückverfolgen, nicht eigens zu begründen. In der
44 Vgl. Johann Christoph Wolf, Manichaeismus Ante Manichaeos, Et in Christianismo Redivivus […], Hamburg 1707. Zum Hintergrund von Wolfs Manichäismusarbeit vgl. Ralph Häfner, Die Fässer des Zeus. Ein homerisches Mythologem und seine Aufnahme in die Manichäismusdebatte in Deutschland am Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 35–61, und Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, in: Johann Anselm Steiger (Hg,), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 80–111, hier S. 83 ff. 45 Vgl. Pierre Bayle, Historisches und Critisches Wörterbuch, Bd. 3, hg. von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1743, S. 304–307. 46 Vgl. Johann Christoph Wolf, Manichaeismus Ante Manichaeos, Et in Christianismo Redivivus […], S. 32–305. 47 Ebd., S. 305–528. Das dogmatische Interesse Wolfs betonen die Acta Eruditorum von 1707, S. 499–504, und Johann Heinrich Seelen, Commentatio de Vita, Scriptis et Meritis in Rempublicam Litterariam […] Ioan. Christoph. Wolfii […], Stadae 1717, S. 14–16.
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Machiavelli-Literatur der Zeit um 1700 ist sie bereits präsent.48 Als Reimarus’ eigenständiger Beitrag tritt vielmehr sein Versuch in Erscheinung, den Machiavelli’schen Theorieansatz zu würdigen.49 Hierbei greift Reimarus zunächst auf diejenigen Autoren zurück, die Machiavelli vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen versucht hatten, er leite Fürsten zu einem unmoralischen Machtkalkül an und arbeite insofern dem sittlichen Verfall vor. Gegen diese Ansicht sei zu betonen, dass es nicht Machiavelli war, der das unsittliche Machtstreben der Fürsten erfand und beförderte, sondern dass er vielmehr das allgemein bereits verbreitete unsittliche Verhalten der Fürsten beschrieb und anprangerte.50 Im Hintergrund dieser zunächst positiven Würdigung stehen Hermann Conrings Arbeiten zu Machiavelli, die Reimarus offensichtlich benutzt hatte.51 Nach einer langen Zeit der Ablehnung Machiavellis war es der durch den Helmstedter Aristotelismus Martinis geprägte Staatskundler52 Conring gewesen, der Machiavelli und insbesondere dessen berüchtigte Schrift »Il principe« erneut zur Diskussion stellte, um deren kritisches Potenzial gegen illegitime Formen des Despotismus zur Geltung zu bringen und der republikanischen Idee Vorschub zu leisten. Conring stand damit nicht nur für eine gelehrte Beschäftigung mit Machiavelli, sondern auch für eine positive Aufnahme des Machiavelli’schen Theorieansatzes, und in beiden Hinsichten wirkte er für Reimarus als Vorbild.53 Jedoch führt Reimarus gegen den Versuch einer Verteidigung Machiavellis auch andere Argumente an, die die innere Schwäche des Machiavellismus offenlegen. Der Ansatzpunkt ist hierbei das Verhältnis von honestas und utilitas, das Machiavelli einseitig zugunsten der utilitas aufzulösen versucht. Wenn Machiavelli fordert, der Fürst müsse zum Wohl des Staates seine inneren sittlichen WertorienVgl. Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, S. 76 f. 49 Ebd., S. 103 ff. 50 Ebd., S. 104: »Sunt enim, qui veniam eidem dandam existimant, quod ea candide sit elocutus, quae alii per totam vitam faciunt, quodque non tam suas voluerit propagare hypotheses, quam aliorum mores corruptos depingere.« 51 Reimarus zitiert die »Praefatio« zu der von Conring besorgten lateinischen Ausgabe von Machiavellis »Il Principe« und Conrings »Animadversiones Politicae« über selbige Machiavellischrift: Niccolò Machiavelli, Nicolai Machiavelli Princeps Aliaque nonnulla ex Italico Latine nunc demum partim versa, partim infinitis locis sensus melioris ergo castigata, Helmstadii 1660, und Hermann Conring, Hermanni Conringii Animadversiones Politicae in Nicolai Machiavelli librum De Principe, Helmestadii 1661. Die Zitationen finden sich in Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, S. 80, 86 u. ö. 52 Conring las in Helmstedt politica particularis, ein neben den Rechtswissenschaften und der Politik neu eingeführtes Fach, und diente verschiedenen europäischen Königshäusern als Rechtsberater. 53 Zu Conring vgl. Horst Dreitzel, Politische Philosophie des Aristotelismus, in: Helmut Holzhey / [Friedrich Ueberweg], Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 639–672, hier 666–672. Zur Biographie Conrings ausführlicher Art. »Conring, (Hermannus)«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 6, Halle / Leipzig 1733, Sp. 1016–1019. 48
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tierungen dem praktischen Nutzenkalkül unterordnen, so verleugnet er, dass auch und besonders die inneren sittlichen Wertorientierungen es sind, die das friedliche gesellschaftliche Zusammenleben ermöglichen und daher den wichtigsten Grund des praktischen Wohles und Nutzens des Staates darstellen. Eine Preisgabe der honestas zugunsten der utilitas ist nicht möglich, denn es ist vor allem die honestas, die dem durch utilitas beschriebenen praktischen Ziel des größtmöglichen Wohls des Staates dient.54 In dieser Positionierung nähert sich Reimarus seinem Jenaer Lehrer Budde an, der den in der Thomasianischen politischen Theorie grundgelegten Bruch zwischen äußerem rechtlichem Zwang und innerer moralischer Orientierung zu schließen bemüht war.55 Es ist die honestas, die im Alltag orientierend wirkt und daher nachgerade unter dem Gesichtspunkt der utilitas Beachtung verdient. Analog kann auch die Religion diskutiert werden: Freilich ist es legitim, die Religion unter dem Aspekt ihres Nutzens für den Staat zu beschreiben. Wird sie jedoch ausschließlich unter dem Aspekt des Nutzens beschrieben, so verliert sie eben diesen, weil ihr das über die Nutzenabwägung hinausgehende Wahrheitsmoment abhanden kommt, das ihren Nutzen garantiert.56 Gerade in diesem letzteren Punkt scheint Reimarus die Beschäftigung mit Machiavelli nachhaltiger geprägt zu haben, als es die Habilitationsschrift von 1719 zu erkennen gibt. Besonders Reimarus’ Ausführungen über die Theokratie des Mose in der späteren »Apologie« machen deutlich, wie sehr sich Reimarus dem Programm einer Zusammenschau von Religion und politischer Macht verpflichtet weiß und in welchem Maße er zu einer radikal religionskritischen Weiterentwicklung der Machiavellischen Theorie bereit ist. Machiavelli deutet 54 Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, S. 110 f.: »Politicum, forte dices, non de honestate actionum, sed utilitate unice esse sollicitum. Audio, & fateor Ethicum potius in formandis Principum moribus occupari: neque id mihi sumo, ut a culpa liberem illos, qui hic fines distinctissimos temere confundunt; interim neutiquam fas esse crediderim rerum civilium perito, ut praecepta doctrinae morum contraria tradat, aut jacta probe virtutum fundamenta vana utilitatis specie destruat. Siquidem constat inter omnes, in ea, quae circa agenda versatur, Philosophia, partes omnes sibi invicem subordinari, ita quidem, ut, quemadmodum internam voluntatis emendationem supponunt actiones externae, quibus sua debet constare honestas, sic utilitas totius Reipublicae dirigenda sit honesta, commodum privatum communi. Taceo, quod nulla sine honestate possit esse vera, constans & solida utilitas, ut proinde, qui in suadendis Reipublicae commodis a legum norma recedit, noxia potius commendare, hoc est, non genuinum, sed Pseudo-Politicum agere videatur.« 55 Vgl. Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim / New York 1971, S. 318. 56 Für den Staat nützlich ist die Religion, weil sie Regierende und Regierte im Gedanken einer göttlichen Stiftung des Rechts vereint: »Quae tamen opinio, magis etiam injuria videtur esse in saniorem Philosophiam: quasi vero nulli Reipublicae liceret esse salvae, nisi nervos virtutis incideris, & Religioni pietatique, ob eam, quam tibi opinionis errore finxisti, status rationem, detraxeris. Sane, si idem Auctor est, qui summos Principes suas jussit vices gerere, quam, qui rectae rationis praecepta omnium hominum animis insculpsit, (id quod concedendum utique mihi arbitror,) DEUM cum ipsomet DEO temere committeres, nisi Principis persona, illaesis Supremi Numinis / juribus, quin ipsa Religione Christiana, geri administrarique tuto posset«. (Hermann Samuel Reimarus, Dissertatio Schediasmati de Machiavellismo ante Machiavellum, S. 113.)
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lediglich an, man könne die biblische Mosegeschichte machtpolitisch analysieren, schreckt vor dieser Möglichkeit aus Gründen der Pietät aber zurück.57 Es blieb anderen vorbehalten, diesen von Machiavelli skizzierten Plan ins Werk zu setzen, und Reimarus knüpfte an diese Rezeptionslinie an.58 Festzuhalten bleibt ferner auch, dass Reimarus während seiner Arbeit an der Habilitationsschrift den Weg der historisch-kritischen Erschließung der Geistesgeschichte ein weiteres Mal verinnerlicht hat. Er wusste um die relativierende Wirkung der eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung, die Budde und Wolf für die Verteidigung des lutherischen Bekenntnisses gegen den Atheismus eingesetzt hatten. Rekonstruiert Reimarus im zweiten Teil seiner »Apologie« eine Vorgeschichte des Messianismus im Judentum, um sie nachfolgend zu einem Werkzeug der Destruktionen des traditionellen dogmatischen Christusglaubens zu machen, so folgt er auch hierin letztlich seinen Lehrern Budde und Wolf. Allein seine Absicht ist umgekehrt: Die Historisierung erfolgt bei ihm nicht zum Zwecke der Verteidigung der lutherischen Dogmatik, sondern zum Zwecke ihrer Destruktion. Sieht man von diesen längerfristigen Wirkungen im Blick auf die »Apologie« ab, so blieb Reimarus’ Habilitationsschrift im Augenblick ihres Erscheinens wenig beachtet. Anders als Wolfs Manichäismusarbeit von 1707 wurde sie wenig diskutiert. Ein 1719 erschienenes Faszikel von Rezensionen verschiedener in demselben Jahr in Wittenberg vorgelegter Qualifikationsarbeiten erwähnt Reimarus’ Machiavelliarbeit nicht.59 Sie war nicht mehr als eine wenig engagiert ausgeführte akademische Auftragsarbeit, die vor allem einem Zweck diente: den äußerst kurzen universitären Qualifizierungsweg des jungen Reimarus ordnungsgemäß zu beenden.
2.1.3 Impulse aus den Niederlanden und aus England In den intellektuellen Biographien Gelehrter des 18. Jahrhunderts spielt die akademische Reise eine entscheidende Rolle, die gewöhnlich im Anschluss an das Studium unternommen wurde. Gerade wer als Philologe erfolgreich arbeiten wollte, konnte bei der universitären Zertifizierung seiner Fertigkeiten nicht stehen bleiben. Die zum Teil handschriftlich über Europa verteilten Textzeugen 57 Vgl. Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, übers. und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart 2004, S. 43. 58 Aufschlussreich ist in diesem Kontext, dass Reimarus auf Gabriel Naudé, Considérations politiques sur les coups d’Estat, 1679, Bezug nimmt. Ob Reimarus bereits 1719 ein Exemplar der französischen Schrift oder ihrer deutschen Übersetzung von 1673 besaß, ist unklar. Er zitiert eine theologische Widerlegungsschrift von Johannes Cyprian, Prudentia inprimis Politica Vera contra Gabrielem Naudaeum, Lipsiae 1683. 59 Vgl. Johann Christoph Coler, Acta literaria Academiae Vitembergensis. Tomus primus, Vitembergae 1719. Möglicherweise hätte in dem nie erschienenen zweiten Teil Reimarus’ Machiavelliarbeit Erwähnung finden sollen.
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antiker Werke waren dem Gelehrten zunächst nicht zugänglich. Sie mussten abgeschrieben, ausgetauscht, postalisch versendet und schließlich am eigenen Schreibtisch zu einer verlässlichen Ausgabe des jeweiligen antiken Werks zusammengeführt werden. Als respublica litteraria verstanden die an dem Austausch beteiligten Gelehrten ihre Welt postalischer Netzwerke, innerhalb derer eine europaweite freie Verständigung über philologische Neuigkeiten zur antiken Literatur ebenso möglich war wie die Diskussion aktueller philosophischer oder politischer Themen.60 Um Teil der Gelehrtenrepublik zu werden, war es nötig, über persönliche Kontakte zu verfügen und einen eigenen Beitrag zur Verbreitung und zum Austausch seltener Wissensgüter zu leisten. Beides ermöglichte die akademische Reise. Den jungen Gelehrten führte sie in die großen Bibliotheken Europas, an namhafte Universitäten, in die Kabinette und Studierzimmer berühmter Gelehrter, die die Gunst einer Audienz zum Teil nur ausgewählten Besuchern gewährten. Von einer erfolgreichen akademischen Reise kehrte man heim mit einer Vielzahl handschriftlicher Kopien und Exzerpte seltener Literatur, mit persönlichen Bekanntschaften, die man später brieflich weiter pflegte, und zumeist mit Notizen über das Erlebte, die man in einem Reisetagebuch sammelte. Fragmentarisch ist ein solches Reisetagebuch auch zu Reimarus’ akademischer Reise in die Niederlande und nach England erhalten, die er im Frühjahr 1720 begann.61 Dokumentiert sind einige Begebenheiten seines Aufenthalts in den Niederlanden, wo er die Kabinette zahlreicher Gelehrter besuchte, sich interessiert zeigte für philologische Projekte, aber auch naturkundliche Sammlungen von Magneten, präparierten Tieren, wissenschaftlichen Instrumenten und ähnlichem besuchte. Von seinen Hamburger Mentoren Fabricius und Wolf war Reimarus reichlich ausgestattet sowohl mit Kontaktadressen wie auch mit Kopieraufträgen seltener Texte, die in den niederländischen und englischen Bibliotheken sowie in privaten Sammlungen eingesehen werden konnten.62 Reimarus war eifrig beschäftigt, die Kopierwünsche seiner Lehrer zu erfüllen, fand darüber hinaus aber auch Gelegenheit, Materialien zu sammeln für seine eigene 1721 erschienene Edition »M. Camariotae orationes in Plethonem, De fato«63. Reimarus’ Haupt60 Vgl. Winfried Siebers, Beobachtung und Räsonnement. Typen, Beschreibungen und Öffentlichkeitsbezug der frühaufklärerischen Gelehrtenreise, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1992, S. 16–34. Zur Gelehrtenrepublik im Allgemeinen vgl. Anne Goldgar, Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters 1680–1750, New Haven 1995. Speziell zu den Niederlanden vgl. Martin Mulsow, Eine Reise durch die Gelehrtenrepublik. Soziales Wissen in Gottlieb Stolle’s Journal der Jahre 1703–1704, in: Ulrich J. Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing, Wiesbaden 2005, S. 185–201. 61 Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Reimarus Nachlaß III b 4, »Tagebuch Notizen aus Holland«. 62 Vgl. Carl Mönckeberg, Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann, Hamburg 1867, S. 19, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung, S. 17. 63 Matthaei Camariotae orationes II . in Plethonem, De fato. Ex Bibliotheca publica LugdunoBatava nunc primum edidit, & latine reddidit Hermannus Samuel Reimarus, Leiden 1721.
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interesse neben der philologischen Sammlungstätigkeit scheint dem Antiquarinarismus gegolten zu haben, der mit dem philologischen Arbeiten eng verbundenen Erschließung der Realien der antiken Welt, eine wissenschaftliche Vorform der Archäologie, die als eigenständige Disziplin erst im 19. Jahrhundert wahrgenommen wurde. Mit Münzen, Gemmen, Reiseberichten, die die großen Orte der Geschichte beschreiben, beschäftigte sich der junge Reimarus. Die Begeisterung für die detaillierte, zum Teil auch zahlenmäßige Beschreibung der Verhältnisse in Ägypten, am Roten Meer und am Sinai in der späteren »Apologie« ist in den gelehrten Kabinetten der Niederlande geboren. Besonderen Eindruck scheint auf Reimarus ein Besuch bei dem Theologen und Philologen Jean Le Clerc gemacht zu haben, der die übliche Trennung zwischen heiliger und profaner Philologie programmatisch missachtete und mithin ein Beispiel derjenigen profanen Hermeneutik der Bibel bot, die Reimarus später in seiner »Apologie« in radikal bibelkritischer Weise übernahm. Reimarus beschreibt die Begegnung mit Le Clerc in seinen Tagebuchaufzeichnungen mit den folgenden Eingangsworten: Clerc a le visage d’un boeuf. Er judiciert und critisiert sehr frei über alle leute. Es schiene mir ein wenig profan, das er sagte, er critisirte die bibel nicht anders, als ob er den Aristophanes vor sich hatte.64
Der erstaunte Ton, in dem Reimarus seine Begegnung mit Le Clerc und dessen profaner Hermeneutik beschreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm zumindest die Forderungen einer Emendation des verderbten biblischen Textes nach profaner Methode und nach einer nüchternen Erfassung des sensus historicus jeweiliger Schriftstellen innerhalb der philologischen Ausbildung in Hamburg, Jena und Wittenberg bereits vertraut geworden war. Schon Grotius hatte in seinen exegetischen Kommentaren den biblischen Urtext als verbesserungsbedürftig erkannt, dogmatische Auslegungen zurückgedrängt und so einen heftigen Protest der Orthodoxie provoziert. Abraham Calov hatte sich im Namen der Inspirationslehre und des Schriftprinzips gegen diese neue Hermeneutik gewandt und eine Bindung der philologia sacra an dogmatische Normen angemahnt.65 Reimarus war vertraut mit beiden Philologien, der heiligen und der profanen. Die drei Fabricius’schen »Bibliothecae« und zahlreichen Texteditionen sind Musterbeispiele profaner Philologie auf höchstem Niveau, aber auch Vorlesungen zur hermeneutica sacra gehörten zum Stundenplan des Akademischen Gymnasiums. Reimarus musste sie besuchen und später auch selbst halten, wobei freilich eine Vermischung der beiden Philologien, wie sie Le Clerc offenkundig betrieb, am 64 Vgl. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Reimarus Nachlaß III b 4, »Tagebuch Notizen aus Holland«. 65 Zu Grotius und Calov vgl. Abraham Kuenen, Hugo Grotius als Ausleger des Alten Testaments, in: Abraham Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur Wissenschaft, übers. von K. Budde, Leipzig 1894, S. 175 ff., und Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, Bd. 3: Renaissance Reformation Humanismus, München 1997, S. 211–233.
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Akademischen Gymnasium prinzipiell nicht vorkam. Auch in Jena und Wittenberg hielt man an der orthodoxen Trennung der beiden Philologien fest, so dass ein Vergleich der Bibel ausgerechnet mit Aristophanes Reimarus als anstößig erscheinen musste. Gelegenheit, die beiden Philologien nach dem Vorbild Le Clercs miteinander zu verbinden, bot sich Reimarus’ erstmals 1731, als Fabricius und Wolf ihm die Fertigstellung eines Hiobkommentars überantworteten, den Johann Adolf Hoffmann, ein Mitglied der »Patriotischen Gesellschaft« Hamburg, hinterlassen hatte. Mit seinem unvollendeten Kommentar folgte Hoffmann einem erbaulichen und moralischen Interesse an der Figur des leidenden Gerechten Hiob. Seine philologische Aufarbeitung des Materials dagegen ließ großen Raum für Vervollständigungen, die beizutragen Reimarus beauftragt war. Reimarus nun erfüllte seine Pflicht Fabricius und Wolf gegenüber durch die Anhäufung einer Fülle ergänzenden Materials zu Fragen des historischen Orts der Hioberzählung, eines philologisch korrekten Verständnisses schwieriger Verse und lexikalischer Besonderheiten wie zum Beispiel des Leviathan, wobei er die zugrunde liegende Hoffmannsche Erklärung zum Teil relativiert oder entkräftet.66 Immer wieder verweist Reimarus auf Quellen aus der heidnischen Antike und auf Erkenntnisse der angewandten Naturwissenschaft, um das Verständnis des Textes zu erleichtern. Das Endergebnis dieser Kommentierungs- und Verbesserungsarbeit an Hoffmanns Kommentar ist einigermaßen befremdlich. Parallel zu den erbaulichen Erklärungen Hoffmanns läuft ein durch und durch profanphilologischer Ergänzungsapparat, der das dogmatische Interesse einer hermeneutica sacra kontinuierlich durchkreuzt. Von einer kritischen Reaktion orthodoxer Theologen auf Reimarus’ Fertigstellung des Hoffmannschen Kommentars ist nichts bekannt. Da die profanphilologische Kommentierung lediglich als Ergänzung der Hoffmannschen Erklärung auftrat, musste sie nicht als ein Angriff auf die dogmatische Schriftauslegung verstanden werden. Erst in der nachfolgenden bibelkritischen Arbeit an der »Apologie« verlegte Reimarus das Gewicht ganz und gar auf die profane Philologie. Antiquarische Gelehrsamkeit, kritische Rekonstruktionen historischer Umstände, naturwissenschaftliches Erfahrungswissen werden nun zu einer Waffe gegen die Bibel in ihrer dogmatischen Auslegung.
66 Vgl. Johann Adolf Hoffmann, Johann Adolf Hoffmanns Neue Erklärung des Buchs Hiob […] Jetzo nach des Verfassers seel. Abschiede mit Fleiß übersehen, und mit einer Paraphrasi, wie auch Vorbericht von Hiobs Person, Buche und dessen Auslegern vermehret [von Hermann Samuel Reimarus], Hamburg 1734. Über Reimarus’ Kommentierung vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Erbauliches versus rationale Hermeneutik: Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns ›Neue Erklärung des Buchs Hiob‹, in: Wolfgang Walter (Hg.), Hermann Samuel Reimarus, 1694–1768: Beiträge zur Reimarus-Renaissance in der Gegenwart, Göttingen 1998, S. 23–52.
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Im Gegensatz dazu steht Reimarus’ 1731 gehaltene Hermeneutikvorlesung »Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum«67, in der noch einmal der Versuch unternommen wird, ein konsensfähiges Modell der biblischen Hermeneutik zu formulieren, das – den alten durch Matthias Flacius Illyricus, Salomon Glassius und Johann Jakob Rambach repräsentierten Maßstäben einer hermeneutica sacra weitgehend treu – Platz zu schaffen versucht für profanphilologische Erörterungen.68 Sehr bald schon jedoch erwies sich dieser Versuch eines Ausgleichs zwischen den beiden Philologien als vergeblich. Vermutlich stellte Reimarus die hermeneutica sacra zunehmend hinter die profane zurück, bis er die Hermeneutikvorlesungen 1737 ganz sein ließ.69 Was Reimarus’ Aufenthalt in England angeht, so liegen hierzu keine Notizen vor. Vermutlich folgte er dem Reiseweg, den sein Lehrer Wolf zehn Jahre zuvor genommen hatte. Wolf war 1708 von den Niederlanden aus nach England gereist und hatte besonders die Bibliotheken von London und Oxford besucht. Vermutlich ist auch der Kreis von Gelehrten, die Wolf besucht hatte, zum Teil deckungsgleich mit dem, den Reimarus auf seiner Reise traf.70 Wann und in welcher Form Reimarus erstmals die deistischen Diskurse Englands wahrnahm, ist schwer zu beurteilen. Von den 1720er Jahren an bis in die 50er hinein beschäftigte sich Reimarus mit englischer Literatur, die er zum Teil wohl in England kennen gelernt hatte, zum Teil aber auch nach Hamburg bestellte. Exzerpte zu Collins, Sherlock, Bullock, Toland und Woolston finden sich unter den hinterlassenen Notizen ebenso wie Zitate aus dem »Gentleman’s Magazine«, »Universal Magazine« und »Monthly Chronicle«, aus denen sich Reimarus über neue Bücher und Politik informierte. Auch Berichte über die englische Handelsschifffahrt und die Verhältnisse in Ostindien nahm Reimarus zur Kenntnis.71 Der Archivbefund darf freilich nicht zu der Annahme verleiten, Reimarus habe ausschließlich die genannten deistischen Autoren zur Kenntnis genommen. Die erhaltenen Materialien bilden vermutlich nur einen kleinen Ausschnitt der Reimarus’schen AusHermann Samuel Reimarus, Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731, hg. von Peter Stemmer, Göttingen 1983. 68 Vgl. Peter Stemmer, Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1983, S. 33–91. Einige wichtige Anmerkungen zu Stemmers Analyse bietet Wolfgang Gericke, Zur theologischen Entwicklung von Hermann Samuel Reimarus, in: Theologische Literaturzeitung 114 (1989), Sp. 859–862. Gericke zeigt, dass einige von Peter Stemmers Spitzenaussagen über die 1731 noch ungebrochene Orthodoxie der Hermeneutik Reimarus’ nicht haltbar sind, so besonders in: Peter Stemmer, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731, hg. von Peter Stemmer, Göttingen 1983, S. 7–19, hier S. 16. 69 Vgl. das Verzeichnis der Vorlesungen in Wilhelm Schmidt-Biggemann, Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 28–36, und Peter Stemmer, Weissagung und Kritik, S. 59–91. 70 Vgl. Johann Heinrich von Seelen, Commentatio, S. 4, bestätigt durch Carl Mönckeberg, Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann, S. 19. 71 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m und Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 7. 67
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einandersetzung mit englischer Literatur ab, lassen aber erkennen, dass Reimarus seit den 1720er Jahren mit einigen zentralen Themen des englischen Deismus konfrontiert war, die er später in der Arbeit an seiner »Apologie« eigenständig aufnahm. Der Schluss freilich wäre auch hier voreilig, die Kenntnisnahme radikaler deistischer Literatur habe Reimarus plötzlich dazu bewegt, seinen zuvor noch gemäßigt orthodoxen Standpunkt zu verlassen. Von Wolf her war Reimarus den Umgang mit häretischem Material gewohnt. Die von Collins vorgetragene Kritik des alttestamentlichen Weissagungsbeweises etwa konnte Reimarus zunächst ganz nüchtern als einen Beitrag zur exegetischen Diskussion innerhalb der lutherischen Orthodoxie lesen, ohne Collins unmittelbar Recht zu geben.72 2.1.4 Zwei Rezensionen zur Wertheimer Bibel Reimarus’ Weg zur »Apologie« lässt soweit einige unterschiedlich markante Entwicklungsschritte erkennen, die mögliche Anfänge seines bibelkritischen Denkens greifbar machen: unter Fabricius und Wolf lernte Reimarus das kritische Potenzial profaner Philologie und die Gedankenwelt radikaler Religionskritik kennen. Bei Le Clerc und den Autoren des Englischen Deismus fand er Beispiele des programmatischen Bruchs mit der Tradition dogmatischer Exegese. In der Fertigstellung von Hoffmanns Hiobkommentar brachte er selbst die profane Philologie gegen die dogmatische Auslegungstradition in Stellung. Es ist schwierig zu entscheiden, welcher der frühen Impulse für Reimarus der wichtigste war, ob es einen regelrechten Bruch mit der Tradition gab oder ob sich Reimarus eher langsam und Schritt für Schritt zum Bibelkritiker entwickelte. Es war Peter Stemmer, der als Datum einer bibelkritischen Richtungsentscheidung Reimarus’ Auseinandersetzung mit der Wertheimer Bibel in die Diskussion gebracht hat. Die Wertheimer Bibel wurde Ostern 1735 anonym bei dem Hof- und Canzley-Buchdrucker Johann Georg Nehr im Fränkischen Wertheim gedruckt und verursachte den größten theologischen Streit des 18. Jahrhunderts neben dem Streit um Lessings Publikation der »Fragmente«.73 Ihr Verfasser war der seit 1725 als Hauslehrer am Hof Löwenstein-Wertheim engagierte lutherische Magister Johann Lorenz Schmidt. Nach dem Studium der Philosophie, Mathematik und Theologie an der Universität Jena hatte er neben seinen Verpflichtungen am Hof fast zehn Jahre im Stillen an seinem Bibelwerk gearbeitet, das zunächst ohne 72
Siehe unten Kapitel 2.5. Zum Wertheimer Streit im Allgemeinen vgl. Ursula Goldenbaum, Der Skandal der Wertheimer Bibel 1735–1738. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern, in: dies. (Hg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796, Berlin 2004, Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible. Translation, Scholarship, Culture, Princeton / Oxford 2005, S. 121–131, und Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 1951. 73
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die geringsten Beanstandungen in Druck ging. Durch eine Übersetzung des hebräischen Pentateuch in eine klare und verständliche Alltagssprache und eine vernünftige Kommentierung will die Wertheimer Bibel die innere Wahrheit der Schrift freilegen und in philosophischer Terminologie explizieren: Weil die göttlichen Schrifften nothwendig Begriffe in sich fassen, und diese unter sich und mit andern unumstößlichen Sätzen zusammenhangen müssen; So ist es den Absichten dieser Schrifften nicht zuwider, wenn man sich bemühet, solche einzusehen. Es giebt keinen andern Mißbrauch des Verstandes, als wenn man sich irrige Begriffe machet, und falsche Sätze annimmt. Wenn man aber in allen Stücken richtig verfähret, so kommt man auf diesem Wege dem Verstande des selbstständigen Wesens immer näher, in welchem alle mögliche Wahrheiten in der grösten Ordnung zusammen hängen; Daher man ihm auch aus diesem Grunde die höchste Vernunfft zuschreibet.74
Dieses Programm einer vernünftigen Erklärung der Bibel versteht Schmidt als einen Beitrag zur Verteidigung der christlichen Wahrheit gegen deistische und atheistische Religionsspötter, die einen vernünftigen Gehalt der Bibel nicht anzuerkennen bereit sind, ein apologetisches Grundinteresse Schmidts, das von seinen Lesern weithin übersehen wurde. Denn die konkrete Durchführung der im Vorwort angekündigten vernünftigen Erklärung bot ihrerseits so viele dogmatische Anstößigkeiten, dass man sie insgesamt eher als einen Angriff auf die christliche Lehre verstand denn als eine Verteidigung. So wird beispielsweise die ruach Gottes, die in Gen 1,2 über dem Wasser schwebt, anders als bei Luther nicht mit »Geist«, sondern mit »Wind« übersetzt, wodurch zugleich ein trinitarisches Verständnis der Stelle zurückdrängt wird.75 Auch die zahlreichen alttestamentlichen Weissagungen auf den Messias Christus hin, die die Exegese im Rahmen der hermeneutica sacra im biblischen Text zu finden verpflichtet ist, fallen bei Schmidt der philologisch durchaus korrekten, alltäglichen Übersetzung und vernünftigen Kommentierung zum Opfer. Schmidts Versuch einer Rettung der Schriftautorität durch den Aufweis ihrer inneren Vernunftwahrheit läuft auf eine Aufkündigung des von der Dogmatik stets in Anspruch genommenen Harmonieverhältnisses von Schrift und Bekenntnis hinaus und kann aus orthodoxer Perspektive zu nicht mehr als einem Pyrrhussieg verhelfen. Es muss daher nicht verwundern, dass die Wertheimer Bibel sehr bald von orthodoxer Seite angegriffen worden ist.76 Es war der Hallenser Theologe Joachim Lange, der die pietistische Opposition gegen die Philosophie Wolffs unterstützte 74 Vgl. [Johann Lorenz Schmidt], Die göttlichen Schriften vor den Zeiten des Messie Jesus. Der erste Theil worinnen die Gesetze der Israelen enthalten sind nach einer freyen Übersetzung welche durch und durch mit Anmerkungen erläutert und bestätiget wird, Wertheim 1735, S. 37 f. 75 Vgl. [Johann Lorenz Schmidt], Die göttlichen Schriften, S. 56. 76 Die folgende Darstellung basiert auf Ursula Goldenbaums noch nicht im Druck erschienenem Vortrag The Public Discourse of Hermann Samuel Reimarus and Johann Lorenz Schmidt in the Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen in 1736 an der Rutgers University New Brunswick vom 23.3.2006.
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und erklärte, die offenkundig heterodoxe Bibelübersetzung Schmidts sei zu bekämpfen als eines der Übel, das aus der Wolffianischen Gesinnung ihres Verfassers notwendig habe folgen müssen. Unermüdlich kämpfte Lange gegen eine mögliche positive Resonanz der Wertheimer Bibel in der deutschen Öffentlichkeit und versammelte schließlich theologische Gutachten gegen Schmidt und dessen Bibelübersetzung, die er seiner Anklage gegen Schmidt am Hof in Wien beilegte. Im Frühjahr 1736 erreichte Lange ein Verbot der Wertheimer Bibel. Im Februar 1737 erfolgte die Verhaftung Schmidts, der stets darauf beharrte, die Hermeneutik der Wertheimer Bibel verletze das lutherische Bekenntnis nicht, und in dieser Ansicht eine Anhörung vor dem Corpus Evangelicorum einforderte. Nach einem Jahr entfloh Schmidt aus der Haft und verbarg sich unter dem falschen Namen »Schröder« in Altona, wo er als Übersetzer, unter anderem der Werke Tindals und Spinozas, und als Hauslehrer tätig wurde. Abrechnungen im Haushaltsbuch der Familie Reimarus verzeichnen Zahlungen an einen Hauslehrer »Schröder«.77 Die in der Literatur über Reimarus und Schmidt immer wieder geäußerte Vermutung eines Kontakts zwischen den beiden Anhängern der vernünftigen Religion scheint sich von hier aus zu bestätigen. Schmidt starb 1749 am Hof in Wolfenbüttel, wohin ihn vermutlich Angehörige des Kreises um den Hamburger Verleger Johann Peter Kohl vermittelt haben, zu dem auch Reimarus zählte. Dass die Wertheimer Bibel seit ihrem Erscheinen 1735 eine so heftige öffentliche Diskussion erfuhr, verdankt sich unter anderem dem Umstand, dass die zu Beginn des 18. Jahrhunderts neuen Medien der gelehrten Zeitungen den öffentlichen Streit aufgriffen und in Gang hielten durch die Publikation von Verteidigungen der Wertheimer Bibel. Neben den Leipziger »Neue[n] Zeitungen von gelehrten Sachen« waren es in Hamburg die von Johann Peter Kohl herausgegebenen »Hamburgische[n] Berichte von gelehrten Sachen«, die den Streit um die Wertheimer Bibel in diesem Sinne forcierten. Kohl nun, der aufgrund der Publikation von Verteidigungen der Wertheimer Bibel befürchten musste, als ein Unterstützer des Wertheimer »Religionsspötters«78 zu gelten, trat an Reimarus heran mit der Bitte, eine pseudonyme Rezension zu verfassen, die sich formal gesehen gegen die Wertheimer Bibel richtete und somit als ein Gegengewicht gegen den vorausgegangenen pro-Wertheimischen Beitrag gelten konnte. Reimarus erfüllte diesen Wunsch und beschuldigte in seiner ersten Rezension vom 6. Januar 1736 den Wertheimer Bibelkommentator, die Göttlichkeit der Schrift nicht zu verteidigen, sondern zu verachten gleich einem »Collin, Woolston und
77 Vgl. Almut Spalding, Der rätselhafte Tutor bei Hermann Samuel Reimarus: Begegnung zweier radikaler Aufklärer in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 87 (2001), S. 49–64. 78 So der Titel der von Lange gegen Schmidt versammelten Gutachten, vgl. Joachim Lange, Der philosophische Religionsspötter, Halle 21736.
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Tindal«79. Auch klagt Reimarus das arrogante Auftreten des Wertheimer Bibelkommentators seinen Kritikern gegenüber an. Reimarus zweite Rezension vom 23. Oktober 1736 dagegen beurteilt das Grundanliegen der Wertheimer Bibel positiv. Reimarus nimmt hier Bezug auf Schmidts »Beantwortung verschiedener Einwürfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freie Übersetzung der göttlichen Schriften sind gemacht worden«80, die dieser zwischenzeitlich zur Verteidigung seiner Sache verfasst hatte. Der springende Punkt ist hier Schmidts Inanspruchnahme einer mündlichen Auslegungstradition neben dem biblischen Text, durch die er die Möglichkeit einer messianischen Interpretation des Alten Testaments zu retten versucht. Das Alte Testament an sich biete keine expliziten messianischen Weissagungen auf Christus hin, sondern lediglich Stellen, die für eine metaphorische Ausdeutung offen sind. Erst die mündliche Auslegungstradition stelle die messianische Interpretation sicher. Anders als viele Theologen, die auf diese Verteidigung Schmidts ablehnend reagierten, nimmt Reimarus Schmidts Rekurs auf eine mündliche Auslegungstradition positiv auf. Bei aller Kritik, die Reimarus an den Einzelheiten der Umsetzung des Lösungsvorschlags Schmidts äußert, stimmt er mit diesem doch darin überein, dass die christologische Exegese des Alten Testaments durch den wörtlichen Sinn der einschlägigen Belegstellen nicht gedeckt sind. Auf diese Weise bestätigt Reimarus das Grundanliegen Schmidts, nach den Maßstäben der profanen Philologie zunächst ein wörtliches, vernünftiges Verständnis des Alten Testaments zu entwickeln und das dogmatische Interesse an der Bibel dieser vernünftigen Erklärung nachzuordnen. Es ist nicht zu leugnen, dass sich an den zwei Rezensionen zur Wertheimer Bibel tatsächlich vorzüglich Reimarus’ plötzlicher Wandel vom orthodoxietreuen Philologen zum radikalen Bibelkritiker illustrieren lässt. Ende 1736 schreibt Reimarus seine zweite Rezension zur Wertheimer Bibel, 1737 enden Reimarus’ Vorlesungen zur hermeneutica sacra. Peter Stemmers These, hier sei die entscheidende bibelkritische Wende in Reimarus’ Biographie anzusetzen, erscheint auf den ersten Blick als plausibel.81 Die Dramatik dieser Wende sollte man freilich nicht überstrapazieren. Zu dem großen Wendepunkt der Rezensionen zur Wertheimer Bibel haben sich mittlerweile mehrere kleine Wendepunkte hinzugesellt, die den Verdacht nahelegen, dass sich die Ablösung von der orthodoxen Hermeneutik wesentlich langsamer vollzog, als Stemmer annimmt. Mindestens Reimarus’ Fertigstellung des Hoffmannschen Hiobkommentars, vielleicht aber auch schon der philologische Unterricht bei Fabricius und Wolf sowie die Erlebnisse während 79 Reimarus in Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen am 6. Januar 1736, zitiert nach Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 299–332, hier S. 305. 80 Vgl. Johann Lorenz Schmidt, Beantwortung verschiedener Einwürfe, welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freie Übersetzung der göttlichen Schriften sind gemacht worden, Wertheim 1736. 81 Vgl. Peter Stemmer, Weissagung und Kritik, S. 137.
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der akademischen Reise liegen auf derselben Linie und können Reimarus’ Glauben an die Autorität der hermeneutica sacra schrittweise destruiert haben. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass man die Bedeutung der Kritik des alttestamentlichen Weissagungsbeweises in der späteren »Apologie« nicht überbetont. Die gesamte Entwicklungslinie, die sich am Hiobkommentar und den Rezensionen zur Wertheimer Bibel orientiert, steht keineswegs allein. Vielmehr ist sie eng verschränkt mit einer zweiten Entwicklungslinie, die sich von der Machiavelliarbeit aus ergibt und die »Apologie« in ihrer politisch-religionskritischen Dimension prägt. Eine dritte Linie bleibt von Reimarus’ Beschäftigung mit Dippel aus zu ziehen, die auf die Dogmenkritik der »Apologie« hin zielt und ihrerseits sowohl im Blick auf die Kritik der hermeneutica sacra wie auch auf die politische Religionskritik im Geiste Machiavellis anschlussfähig ist.
2.1.5 Johann Konrad Dippel und die Kritik der Versöhnungslehre Mit Johann Konrad Dippels Kritik der Versöhnungslehre setzte sich Reimarus während der 1730er und 40er Jahre auseinander. Die Argumente Dippels wurden Reimarus durch eine Widerlegungsschrift des damaligen Hauptpastors an St. Michaelis, Friedrich Wagner, greifbar. Bereits der Gliederungsentwurf zur ersten Fassung der Apologie sah ein Kapitel über Dippel und Wagner vor.82 Erhalten ist ferner ein Fragment aus den frühen 40er Jahren, in dem sich Reimarus mit derselben Kontroverse befasst.83 Jedoch lässt sich dieses Fragment nicht als das im Gliederungsentwurf angekündigte Kapitel auffassen. Das Fragment ist in die Form eines Sendschreibens gekleidet, das Reimarus – wohl um eine falsche Fährte zu legen – als eine Anfrage dreier Kandidaten der Theologie »in einem mittelmäßigen Teutschen Orte« formulierte, die nach dem Studium an zwei unterschiedlichen theologischen Fakultäten den Wunsch verspüren, ihre dort begonnenen Studien im kleinen Kreis fortzuführen: Wir haben unsere Collegia auf der Universität hitzig zusammen geschrieben; allein weil unsere Mittel uns keine lange Zeit in der Fremde verstatteten, so sind wir nach hause geeilet, und suchen jetzt erst in unsern Zusammenkünften, dem gehörten und zusammengeschriebenen nachzudencken, damit wir uns mit desto mehrer eigenen Überzeugung, und Erbauung anderer für die Gemeine des Herrn als Lehrer auftreten mögen.84
Die drei jungen Theologen nehmen die von Wagner begonnene Analyse der Dippelschen Argumentation in der Form eines akademischen Disputationsgesprächs auf und formulieren so kritische Anfragen gegen Wagners Widerlegungsversuch. 82
Siehe unten Kapitel 2.2.3. Das Fragment ist abgedruckt in Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 371–396. 84 Ebd., S. 371. 83
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Das Fragment zeigt auf diese Weise Reimarus’ unmissverständliche Zustimmung zu der von Dippel in die Debatte gebrachten Kritik der Versöhnungslehre. Das Fragment wurde nicht veröffentlicht, und Wagner konnte die gegen seine Schrift vorgebrachte Kritik nicht zur Kenntnis nehmen. Um die Kontroverse zu verstehen, gilt es zunächst das Profil der von Dippel 1727 formulierten Kritik ins Gedächtnis zu rufen.85 Der äußerst vielseitige streitbare Theologe Johann Konrad Dippel, dessen Arbeitsschwerpunkt auf den Gebieten der Alchemie und Medizin ebenso lag wie auf dem der Orthodoxiekritik, verfasste seine Widerlegung der Versöhnungslehre 1727 während eines Aufenthalts in Schweden, wo er dem Reichstag in Stockholm beiwohnte. Seine Schrift, wie sie sich in der Gesamtausgabe der Dippelschriften abgedruckt findet, gliedert sich in zwei Teile, in denen er zunächst seinen Aufenthalt in Schweden schildert, um nachfolgend eine Kritik der Versöhnungslehre in 153 Fragen zu formulieren. Die Kritik zerfällt ihrerseits wiederum in zwei Teile, wobei der erste Teil Lehrsätze bietet, die nach Dippels Auffassung als unangefochten, der zweite Teil jedoch solche, die als falsch und mit den zuvor erwähnten Lehrstücken unvereinbar gelten können. Den Ausgangspunkt der Argumentation Dippels bildet der Begriff Gottes als des höchsten und in sich selbst vollkommenen Gutes, das den Endzweck der Schöpfung darstellt und stets nur die Erlösung aller Kreaturen beabsichtigt. Durch die Offenbarungen des Alten und Neuen Testaments machte Gott seinen Liebeswillen allen Menschen bekannt, um sie in der Nachahmung des Weges Jesu zur paradiesischen Vollkommenheit hin zu führen. Gott tritt dem Menschen gegenüber wie ein Arzt auf, der stets nur die Heilung beabsichtigt auch dann, wenn er hierbei zuweilen zu schmerzhaften Mitteln greift. Von diesem Bild Gottes und seiner Offenbarung aus richtet sich Dippel gegen den Lehrbegriff der Orthodoxie. Sie legt dem gütigen und liebenden Gott die Eigenschaften des Hasses, des Zorns und der Rache bei und inszeniert unter den unbiblischen Begriffen der durch Christi Strafleiden erwirkten Satisfaktion und deren Imputation im Vollzug der Rechtfertigung des Menschen eine Heilsordnung, die den Gottesbegriff beschädigt und die Verantwortung des Menschen im
85
Dippel als Theologen behandeln besonders Ferdinand Chrsitian Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838, S. 472–477, W. Klose, Johann Konrad Dippel und Antoinette Bourignon nach Leben und Lehre dargestellt, in: Zeitschrift für historische Theologie 21 (1851), S. 467–510, Wilhelm Bender, Johann Konrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus, Bonn 1882, Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1884, S. 322–359, Karl-Ludwig Voss, Johann Conrad Dippel, in: Greschat, Martin (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus, Stuttgart / Berlin / Köln 21994, S. 277–285, Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München 1984, S. 158–169, und Stephan Goldschmidt, Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001.
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Akt der Heilsaneignung letztlich verleugnet.86 Mit dieser Kritik verbunden wendet sich Dippel zugleich auch gegen die Macht des orthodoxen Klerus, der sich durch diese Fassung der Heilslehre selbst autorisiert, insofern es stets die Pfarrer sind, die durch das orthodoxe Lehrsystem und die Verwaltung der Sakramente über das in Christus erworbene Heil verfügen.87 Zwar ist es richtig, dass Dippel »der erste ist, der im deutsch-lutherischen Kreise gegen die kirchliche Versöhnungslehre mit einer umfassenden und zugleich differenzierten Einzelkritik angeht.«88 Jedoch darf die Originalität seiner Argumentation gleichwohl nicht überschätzt werden. Die Kritik der Versöhnungslehre war während des 17. Jahrhunderts bereits ausführlich durch das vielgestaltige sozinianische Schrifttum thematisiert und in Gestalt mindestens ebenso zahlreicher Widerlegungsschriften lutherisch-orthodoxer Provenienz weiter diskutiert worden.89 Auch das durch Dippel in die Debatte gebrachte wirkungsstarke Bild Gottes als heilender Arzt hat seine Wurzeln tatsächlich in der Bibel (Ex 15,26 und Sir 38,1–15) und im Mittelplatonismus der Antike bei Plutarch – ein Umstand, der im frühen 18. Jahrhundert vermutlich nicht nur Reimarus bekannt war.90 Hingewiesen sei zuletzt auch auf die formale Ausführung der Dippelschen Kritik. Er wählt die Form rhetorischer Fragen eingeleitet jeweils mit »Ob nicht … ?«, um seine Argumente in einen alles in allem sehr schlecht ausgearbeiteten systematischen Zusammenhang zu bringen, so dass Reimarus’ Urteil über Dippels Schrift und ihre von Wagner formulierte Widerlegung durchaus nicht als eine Schmeichelei Wagner gegenüber abzutun ist: Ew. Hochwürden haben sein Lehrgebäude darin nicht allein sehr aufrichtig, sondern auch weit ordentlicher vorgetragen, als es der ausschweiffende Dippelsche Geist jemahls würde an ein ander gefüget haben.91
86 Vgl. Johann Konrad Dippel, Vera Demonstratio Evangelica, Das ist, Ein in der Natur und dem Wesen der Sachen selbst so wohl, als in heiliger Schrifft gegründeter Beweiß der Lehre und des Mittler-Amts Jesu Christi, in: ders., Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, Durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti, Bd. 2, Berleburg 1747, S. 631–692, hier besonders S. 660–691. 87 Ebd., S. 686 ff. 88 Vgl. Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, Bd. 1, S. 152 f. 89 Vgl. Hans-Werner Gensichen, Die Wittenberger antisozinianische Polemik. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung von Reformation und Humanismus, Göttingen 1942, kurz zusammengefasst in ders., Die lutherisch-sozinianische Auseinandersetzung um 1620, in: Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, München 1951, S. 264–268. Zum Forschungsstand vgl. Zbigniew Ogonowski, Der Sozinianismus, in: [Friedrich Ueberweg] (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4.2: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 871–881. 90 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, [Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen], in: ders., Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 2, hg. von Gerhard Alexander, Frankfurt am Main 1972, S. 653–668, hier S. 659. 91 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 373.
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Tatsächlich handelt es sich bei Dippels 153 Fragen zur Versöhnungslehre um nicht mehr als eine vorwiegend politisch motivierte Gelegenheitsschrift, die erst im Kontext der übrigen Dippelschen Streitschriften ein ausgereiftes theologisches Profil erkennen lässt.92 Als Dippel nach seiner Inhaftierung auf der Insel Bornholm Schweden bereiste, wurde er binnen kurzem in jene politischen Umbrüche hineingezogen, die Schweden während der »Freiheitszeit« beherrschten. Mit dem Ableben Karls XII . im Jahr 1718 stellte sich im schwedischen Reich ein Machtvakuum ein, das die aufstrebenden Reichsstände für ihre jeweiligen Interessen zu nutzen versuchten. Den im Land weilenden Kirchenkritiker Dippel versuchten Angehörige des niederen Adels gegen den Widerstand des Klerus zu unterstützen, um so ihre noch ungefestigte Stellung im Reichstag zu stützen. Als Dippel zum Reichstag 1727 in Stockholm erschien, erreichte zugleich der kirchliche Protest gegen ihn seinen Höhepunkt, dem Dippel seinerseits mit seinen eilig verfassten 153 Fragen zur Versöhnungslehre begegnete, gewidmet an erster Stelle »Dem Venerando Consistorio Regni, oder den jetzt noch versammelten ReichsTags-Gliedern des Geistlichen Standes im König-Reich Schweden«. Sie erhielten durch Dippels Schrift diejenige theologische Abfuhr, die sich der niedere Adel unter der Hand erhofft hatte. Jedoch gelang es dem Klerus, nicht zuletzt aufgrund der selbst in pietistischen Kreisen als anstößig empfundenen Schrift, den Druck auf Dippel derart zu erhöhen, dass er Stockholm verlassen und noch im Winter unter großen Strapazen die Heimreise nach Deutschland antreten musste.93 Der deutschen Öffentlichkeit präsentierte sich Dippels Kritik der Versöhnungslehre 1729 unter dem Titel »Vera Demonstratio Evangelica«, einer Ausgabe der zwei Jahre zuvor formulierten 153 Fragen, der Dippels »Grundriss zu einem […] Systemate Theologico«, zwei Schriften aus Dippels Auseinandersetzung mit dem Stockholmer Hauptpastor Schröder sowie die »Antwort auf die Frage, wie die Worte des Heylandes über Judam Ischariot zu verstehen? Es wäre diesem Menschen besser daß er nie gebohren wäre« beigegeben waren. In dem weithin bekannten lutherischen Geistlichen Friedrich Wagner stellte sich Dippel ein hochrangiger Opponent entgegen.94 Wagner erkannte in der »Vera Demons92 Ein solches theologisches Profil wird erkennbar durch Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, Bd. 1, S. 158–169. 93 Die politischen Hintergründe von Dippels Besuch in Stockholm erklärt unter Berücksichtigung der zum Reichstag von 1727 erhaltenen Protokolle Karl Fredrik Salomon Henning, Johan Conrad Dippels Vistelse i Sverige samt Dippelianismen i Stockholm 1727–1741, Uppsala 1881, S. 21–35. Zur politischen Lage während der Freiheitszeit vgl. auch Klaus Zernack, Die skandinavischen Reiche von 1654 bis 1796, in: Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 4, Stuttgart 1994, S. 511–548, hier 525–533. 94 Aufschlussreich zu Wagners theologischem und philosophischem Werdegang sind vor allem die älteren Lexikonartikel in Johann Jacob Moser, Beytrag zu einem Lexico der jetzt-lebenden Lutherisch- und Reformierten Theologen, 1740, Johann Dieterich Winckler, Nachrichten von niedersächsischen berühmten Leuten und Familien, Bd. 1, 1768, Friedrich Carl Gottlob Hirsching, Historisch-literarisches Handbuch, Bd. 15, 21813, und Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 40, Neudruck der 1. Aufl. von 1896, Berlin 1971.
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tratio Evangelica« einen fundamentalen Angriff auf die lutherische Orthodoxie insgesamt, die seines Erachtens durch Dippel nicht nur missverstanden, sondern auch in ihrem theologischen Grundanliegen getroffen war. Denn Dippel, so der Vorwurf Wagners, verkenne die Bedeutung des objektiv von außen »für uns« geschehenen Versöhnungswerks Christi und versuche es durch den Christus »in uns« zu ersetzen, den die Orthodoxie stets nur als eine Folge der extra nos durch Christus erwirkten Satisfaktion behandelt.95 Diesem Versuch einer vom gläubigen Subjekt ausgehenden Begründung der Versöhnungslehre entspricht Dippels Umgang mit der Offenbarung, der er ein »inneres Licht«96 als alternative theologische Begründungsinstanz zur Seite stellt, freilich ohne hierbei die Bibelautorität ganz und gar aufzuheben. Welche Gefahren diese Aufwertung des inneren menschlichen Vernunftvermögens für die Theologie barg, war Wagner seit seinem Studium in Halle bekannt. Vor dessen Vertreibung aus Halle hatte er bei Christian Wolff Philosophievorlesungen besucht, was ihm schon früh den Ruf einbrachte, ein heimlicher Wolffianer zu sein. Jedoch beschränkte sich Wagners Interesse an Wolff auf apologetische Belange der Theologie. Wagner übte sich in der philosophischen Argumentation, lehnte jedoch alle Wolffianischen Lehrstücke ab, die ihn in Konflikt mit dem lutherisch-orthodoxen Offenbarungsglauben gebracht hätten. Auch in seiner Auseinandersetzung mit Dippel fordert Wagner eine klare Grenzziehung hinsichtlich des Geltungsbereichs des vernünftigen Urteilens: Ich gestehe gerne zu, daß es NB . einige Lehren der Christlichen Religion gebe, welche man auch aus der Vernunft und dem Lichte der Natur erkennen, erweisen und beurteilen kann, dergleichen wir mit den Naturalisten gemein haben. Aber ich kann deßhalb nicht zugestehen, daß man NB . alle Lehren der Christlichen Religion aus der Vernunfft erweisen und beurtheilen könne.97
Für manche Aspekte der Offenbarung und die auf sie gründende Theologie nimmt Wagner einen Bereich des Übervernünftigen in Anspruch, der dem Urteil der Vernunft entzogen bleibt. Und diesem Bereich rechnet er auch die anthropomorphen Aussagen über Gott zu, die Dippel ablehnt. Hass, Zorn und Beleidigung Gottes seien Grunddaten der Offenbarung, deren Bearbeitung sich die Theologie nicht entziehen dürfe.98 Jedoch resultiert Wagners Hauptargument gegen Dippel aus einer durch und durch vernünftigen Analyse des von diesem verwendeten Begriffs Gottes als des höchsten Gutes. Wagner unterscheidet vier Hinsichten der Güte. Sie könne begriffen werden in metaphysischer Hinsicht als Vollkommenheit, in physischer 95
Vgl. Friedrich Wagner, Christianus Democritus Autocatacritus, Das ist: Der sich selbst verurteilende Democritus, Oder Schrifft- und Vernunfft-mäßige Wiederlegung seines gantzen Lehr-Begriffs von dem Mittler-Amte Jesu und der Ordnung des Heyls, Berlin 1732, S. 132 f. 96 Das »innere Licht« bei Dippel zeigt deutlich rationale Züge, wenngleich sich sein Konzept der Rationalität von dem der leibniz-wolffschen Philosophie deutlich unterscheidet. 97 Vgl. Friedrich Wagner, Christianus Democritus Autocatacritus, S. 211. 98 Ebd., S. 212 und 245–249.
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Hinsicht als Glückseligkeit, in moralischer Hinsicht als Heiligkeit und in kommunikativer Hinsicht als Gütigkeit. Wagner wirft Dippel vor, diese Unterscheidung im Begriff der Güte missachtet zu haben. Gerade den Aspekt der moralischen Güte, d. h. der Heiligkeit, der zugleich für das Gottesbild der Offenbarung konstitutiv ist, spare Dippel aus. Denn zur Heiligkeit Gottes gehöre es, dass er das moralisch Gute liebt, das moralisch Böse jedoch hasst, so dass folglich Dippels einseitiger Hinweis auf die Liebe Gottes das Attribut der Heiligkeit nur zur Hälfte einhole.99 Von dem auf diese Weise aufgedeckten Grundfehler aus destruiert Wagner in großer Ausführlichkeit den Rest der Dippelschen Argumentation und rettet so die Versöhnungslehre der lutherischen Orthodoxie. Genau an diesem zentralen Argument der Wagnerschen Widerlegung, das gegen Dippel vom Begriff der Heiligkeit Gottes aus seinen Strafwillen zu betonen versucht, setzt Reimarus mit seiner Kritik an. Anhand zweier von Wagner selbst vorgetragener Beweisregeln zeigt Reimarus, dass die Widerlegung der gesamten Dippelschen Argumentation gegen die Versöhnungslehre von dem zugrunde liegenden mangelhaften Begriff der Heiligkeit aus nicht schlüssig ist. Denn Wagner selbst postuliert, ein Beweis könne dann als falsch gelten, wenn er entweder auf einen falschen Satz gründe oder wenn die aus einem womöglich richtigen Grundsatz gezogenen Folgerungen fehlerhaft seien. Jedoch legt Wagner den erstgenannten Fehler Dippel zu Unrecht zur Last, denn Dippels Begriff von Gott als dem höchsten Gut ist nicht falsch, sondern lediglich unvollständig, und Reimarus besteht darauf, dass Dippels Folgerungen nicht pauschal als falsch angesehen werden dürfen, nur weil ihnen ein unvollständiger Begriff zugrunde liegt. Im Blick auf eine Betrachtung der Heilsordnung sei es sogar legitim, die Heiligkeit Gottes einseitig hinsichtlich seiner Liebe der Schöpfung gegenüber zu thematisieren, weil eben dies auch die Bibel tue. Eine Betrachtung der Heilsordnung von einer Heiligkeit Gottes aus, die sich im Hassen des Bösen vollziehe, sei dagegen in hohem Maße defizitär, weil ihr eine Bestimmung des Begriffes des Bösen, auf das sich der Hass Gottes richtet, fehle. Reimarus weist darauf hin, dass unter Verwendung eines solchen unklaren Begriffs der Heiligkeit im Verlauf der Kirchengeschichte die schlimmsten Barbareien legitimiert wurden. Die auf diese Weise dem Vorwurf der Beliebigkeit ausgesetzte Heiligkeit Gottes könne, so die letzte Erwiderung des Wagner repräsentierenden Opponenten, allein dadurch näher bestimmt werden, dass man sie als an seine Weisheit gebunden verstehe. Die Weisheit Gottes allerdings entziehe sich wiederum der menschlichen Vernunfterkenntnis. Sie erschließe sich dem Menschen allein aus der Offenbarung, aus der erkennbar werde, wie Gott im Verlauf der Heilsgeschichte gemäß seiner Heiligkeit mit dem Menschen liebend und hassend verfährt.100
99 100
Ebd., S. 300–303. Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 381–396.
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An dieser Stelle bricht das Fragment ab, und es bleibt unklar, ob Reimarus eine Fortsetzung des fiktiven Disputationsgesprächs plante. Auffällig ist in jedem Fall, dass das Fragment soweit auf eben den Grundkonflikt hinführt, den auch Wagner im Vorfeld seiner aufwendigen vernünftigen Erörterung der Dippelschen Argumentation thematisiert: Es geht um den Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung. Dippels Argumentation scheitert nicht daran, dass sie unvernünftig ist, sondern vielmehr daran, dass sie durch den wechselnden Verweis auf die beiden konkurrierenden Autoritäten einen »Schrifft- und Wahrheit-mässige[n] Entwurf der Heylsordnung« zu formulieren versucht, der eine konsequente Grenzziehung zwischen den jeweiligen Geltungsbereichen vermissen lässt. In der Kontroverse zwischen Dippel und Wagner lernt Reimarus zwei miteinander unvereinbare Begründungswege klar zu unterscheiden. Der eine argumentiert vernünftig vom philosophischen Gottesbegriff aus und lässt sich mit der biblischen Offenbarung nicht vollständig in Einklang bringen, der andere geht von einer dogmatischen Offenbarungswahrheit aus und wird dem Anspruch des philosophischen Gottesbegriffs nicht gerecht. Es entspricht dieser Grundeinsicht, dass Reimarus die von Wagner nur zum Schein inszenierte vernünftige Widerlegung Dippels entkräftet, die die Öffentlichkeit der 1730er Jahre so begeistert aufnahm. Der Streit um die Versöhnungslehre macht deutlich, dass das von Dippel ebenso wie von Wagner in je unterschiedlicher Weise in Anspruch genommene Harmonieverhältnis von Vernunft und Offenbarung letztlich nicht trägt, und es ist Reimarus, der in seiner »Apologie« dieses Harmonieverhältnis zugunsten der Vernunft auflöst. Ein Letztes gilt es im Blick auf die dargestellte Kontroverse um Dippels Kritik der Versöhnungslehre zu bemerken: Weder Dippel noch sein Kontrahent Wagner diskutieren die in Christus erbrachte Satisfaktionsleistung als eine Begründungsinstanz der Zwei-Naturen-Lehre.101 Es war Anselm von Canterbury, der in seiner Schrift »Cur Deus Homo« die Satisfaktionslehre für die Begründung der Gottheit Christi in Anspruch nahm, indem er erklärte, die Beleidigung des unendlichen Gottes fordere eine ebenfalls unendliche Satisfaktionsleistung, die allein der Gottmensch Christus zu bringen imstande sei.102 Es blieb Reimarus vorbehalten, diesen Gedanken erneut in die Diskussion der Versöhnungslehre zu integrieren und im Rahmen seiner Kritik derselben die hieraus folgenden Konsequenzen zu ziehen.103
101
Die besondere satisfaktorische Bedeutung der Gottheit Christi bleibt von Dippels Kritik der Versöhnungslehre unberührt, vgl. Johann Konrad Dippel, Vera Demonstratio Evangelica, S. 662 f. Auch Wagner spart diesen Themenkomplex aus. Er verteidigt nur das, was explizit von Dippel angegriffen wird. 102 Vgl. Kapitel II ,6 in Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo. Warum Gott Mensch geworden, lateinisch und deutsch hg. und übers. von F. S. Schmitt, Darmstadt 1956, S. 97–99. 103 Siehe unten Kapitel 2.6.1 und 2.6.2.
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2.2 Die Arbeit an der »Apologie« Reimarus’ Arbeit an der »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« erstreckt sich über einen Zeitraum von ungefähr dreißig Jahren von den ersten erhaltenen Vorarbeiten bis zu den späten eigenhändigen Niederschriften, die Reimarus kurz vor seinem Tod im März 1768 mit einer Verkürzung des heutigen Titels des Werks überschrieb. Der folgenden kurzen inhaltlichen Charakteristik der erhaltenen handschriftlichen Vorarbeiten und Vorstufen ist eine chronologische Übersicht vorangestellt, die sich an der von Gerhard Alexander und Wilhelm Schmidt-Biggemann erarbeiteten Datierung orientiert.1 Hierbei ergibt sich eine Unterteilung des Archivmaterials in vier Stufen. Zu unterscheiden sind früheste Vorarbeiten aus der Mitte der 30er Jahre, Vorstufen aus einer ersten Fassung der »Apologie«, die sich teilweise auf den Gliederungsentwurfs »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« beziehen lassen, Vorstufen aus einer zweiten Fassung der »Apologie«, die in den 50er Jahren entstand, und schließlich Vorstufen einer dritten Fassung, die der Endfassung der »Apologie« bereits weitgehend entsprechen. Die Datierung folgt im Wesentlichen den handschriftlichen archivarischen Notizen, vermutlich aus dem 19. Jahrhundert, die sich in die Materialien des Staatsarchivs Hamburg eingelegt finden. Über die Verfasserschaft dieser archivarischen Notizen gibt das Staatsarchiv Hamburg keine Auskunft. Ob sie heute nicht mehr bekannte Informationen zur Herkunft der Handschriften transportieren oder lediglich Vermutungen zur Datierung bieten, lässt sich nicht mehr feststellen. Zumindest was den terminus post quem angeht, der sich aus einigen Handschriften sicher erheben lässt, liegen die archivarischen Notizzettel richtig. Was allerdings ihre zum Teil sehr detaillierten Datierungsvorschläge über den terminus post quem hinaus angeht, erscheint Vorsicht ratsam. Alexander und Schmidt-Biggemann versuchen aus der Entwicklung der Reimarushandschrift eine zusätzliche graphologische Bestätigung der Datierungen zu gewinnen, bieten damit aber letztlich auch kein sicheres Kriterium der Datierung. Die Entwicklung der Reimarushandschrift, beispielsweise zwischen den 1730er und 1750er Jahren, ist zumindest für das graphologisch ungeschulte Auge schwer erkennbar. Eine zusätzliche Schwierigkeit entsteht dadurch, dass unter ein und derselben Signatur des Staatsarchivs zuweilen mehrere, womöglich aus völlig unterschiedlichen Kontexten und Schaffensperioden stammende Stücke zusammengefasst werden. Es erscheint verlockend, die für lediglich eine zusammenhängende Handschrift einer Signatur verhältnismäßig sicher gewonnene Einordnung auf 1 Vgl. Gerhard Alexander, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 1, Frankfurt am Main 1972, S. 9–38, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 19–24.
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
49
eine andere, unter derselben Signatur geführte Handschrift übertragen zu wollen, ein Verfahren, das im Blick auf die Handschriften der Signatur A 13 c möglicherweise vorschnell zu dem Schluss geführt hat, die drei erhaltenen Vorstufen zu den späteren »Vornehmsten Wahrheiten« gehörten in den Kontext des Gliederungsentwurfs der »Apologie« erster Fassung ebenso wie die anderen unter der Signatur geführten Stücke.2 Im Einzelfall müssen die im Großen und Ganzen schlüssig wirkenden Datierungen kritisch hinterfragt werden. Was die Zitation der Vorarbeiten und Vorstufen angeht, so wird, wenn möglich, aus allgemein zugänglichen Texteditionen zitiert mit der dort jeweils durchlaufenden Seitenzählung.3 Nur bei den unedierten Archivstücken werden die jeweiligen Archivsignaturen angegeben. Die Seitenzählung folgt dann der mit Bleistift in die Materialien eingetragenen Paginierung.
2.2.1 Chronologische Übersicht der Vorarbeiten und Vorstufen zur »Apologie« Früheste Notizen A 114
A 14 m
Hs 117139 A 710
2
Konvolut von 21 S. deutsch und zwei Notizzettel lateinisch und griechisch; Kritische Notizen zur Auferstehung sowie zur Bedeutung der Begriffe »Himmelreich« und »Sohn Gottes«; Mitte der 30er Jahre. 12 S. zum Teil leer gelassen lateinisch; »[De Cognitione Dei]«5, Aphorismen zur Dogmen- und Wunderkritik, Stellenverzeichnis zur ethischen Kritik des Alten Testaments, »Oeconomia religionis Mosaicae et Christianae opposita«6, »[Observationes criticae de notitia necessaria Dei & revelationis]«7, Literaturnotizen; um 17358. 3 S. lateinisch; Über den Messias; Ende der 30er Jahre. Konvolut von 69 S. in verschiedenen Sprachen; Literaturexzerpte und verschiedene Notizen, darunter vermutlich frühe Notizen zur »Apologie«; ca. 1730er bis 1760.
Siehe unten Kapitel 3.1.2. Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, und die in Gerhard Alexanders Ausgabe der »Apologie« im zweiten Band abgedruckten Stücke. 4 Sofern nicht anders vermerkt, handelt es sich hier um Signaturen des Staatsarchivs Hamburg. Der Vorsatz »622–1 Familie Reimarus« wird hier aus Platzgründen eingespart. 5 Unter diesem Titel abgedruckt in Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 415–421. 6 Abgedruckt ebd., S. 413–414. 7 Unter diesem Titel abgedruckt ebd., S. 423–426. 8 Aufgrund eines Datierungshinweises in den Literaturnotizen mit Wilhelm SchmidtBiggemann, Handschriftenverzeichnis, S. 19. 9 Freies Deutsches Hochstift Frankfurt, Sign. Handschrift 11713. 10 Das Konvolut A 7 wurde erst nach 1979 zugänglich und ist in Wilhelm Schmidt-Biggemanns Handschriftenverzeichnis daher noch nicht aufgenommen. Zur Datierung der Stücke zur »Apologie« siehe unten Kapitel 2.4. 3
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2 Das bibelkritische Werk
Erste Fassung »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« A 13 a A 13 b A 13 e A 13 c
A 13 d A 13 h
Campe 1017
A 13 g A 13 f A 14 d A 14 n
4 S. deutsch; Gliederungsentwurf »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes«11; nach 1735. 48 S. deutsch in lateinischer Schrift, 16 S. deutsch; »[Was Vernunft und vernünftig sei]«12, Vorarbeiten zur Vernunftlehre; nach 1735. 29 S. deutsch; Kritik der Offenbarung von der Versöhnungslehre her; nach 1735. 62 S. deutsch; »[Entwurf einer vernünftigen oder natürlichen Religion]«13, »[Moralische Betrachtungen von der Liebe Gottes, seiner Heiligkeit und der Sünde]«14, drei Vorstufen zu den »Vornehmsten Wahrheiten« im Rahmen der ersten Fassung der »Apologie«15. 52 S. deutsch in lateinischer Schrift; Über Sündenfall, Erbsünde, Beleidigung Gottes und Priesterfinanzen. 169 S. deutsch in lateinischer Schrift; »[Ob die Schriften des Alten Testaments eine Seligkeit versprechen und Hoffnung auf Unsterblichkeit machen; über Jesu Leben und die Widersprüche in den Berichten von seiner Auferstehung, von dem Glaubenssystem, das die Apostel nach seinem Tode aufgebracht haben]«16; wohl um 1740. 5 S. deutsch in lateinischer Schrift; »[Über Almosenerhebung bei den Heiden durch Paulus und sein Gegensatz zu den übrigen Aposteln]«18; wohl um 1740. 7 und 68 S. deutsch in lateinischer Schrift; Kritik der Trinität und des Alten Testaments. 61 S. deutsch; »[Über die Unmöglichkeit einer allgemeinen Offenbarung]«19; genau datierbar auf 1744. 160 S. deutsch; ethische Kritik des Alten Testaments; nach 1744. 22 S. deutsch; Schlusskapitel der ersten Fassung; nach 1744.
Zweite Fassung A 14 c A 14 e
22 S. deutsch; »[Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen]«20; um 1750. 132 S. deutsch; Kritik des Alten Testaments vom Meerwunder bis zum Zug in die Wüste; um 1750.
Abgedruckt in Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 427–430. Unter diesem Titel abgedruckt ebd., S. 431–477. 13 Ebd., S. 479–494. 14 Ebd., S. 495–519. 15 Abgedruckt ebd., S. 521–558. Siehe hierzu auch unten Kapitel 3.1.2. 16 Der Titel wurde übernommen aus Gerhard Alexander, Einleitung, S. 25, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Handschriftenverzeichnis, S. 21. 17 Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sammlung Campe, Mappe 10. 18 Der Titel wurde übernommen aus Wilhelm Schmidt-Biggemann, Handschriftenverzeichnis, S. 21. 19 Der Titel wurde übernommen aus Gerhard Alexander, Einleitung, S. 25, und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Handschriftenverzeichnis, S. 21. 20 Unter diesem Titel abgedruckt in Apol II , S. 655–668. 11 12
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
A 14 a
51
57 S. deutsch; Vorbericht mit Gliederung21 für die zweite Fassung der Apologie; um 1755.
Dritte Fassung A 14 f A 14 g A 14 h A 14 i A 14 k A 14 l A 14 b
206 S. deutsch; Kritik des Alten Testaments von den Erzvätern bis zum Sinai; nach 1762. 294 S. deutsch; Kritik der Könige des Alten Testaments und der Lehren des Alten Testaments; nach 1762. 136 S. deutsch; Kritik des Neuen Testaments; nach 1762. 32 S. deutsch; Kritik des Neuen Testaments; nach 1762. 167 S. deutsch; Kritik des Neuen Testaments; nach 1762. 26 S. deutsch; »[Über die Unterscheidung in der Lehre Jesu im Bezug auf die Menschheit und im Bezug auf die Juden seiner Zeit]«22; nach 1762. 55 S. deutsch; Vorbericht zur dritten Fassung; nach 1762.
2.2.2 Früheste Notizen Eine Reihe von handschriftlichen Notizen zeigt zunächst eine frühe Kritik des Neuen Testaments.23 Reimarus sammelt hier Materialien zu den Auferstehungsberichten, aus denen er unter einem Strich bereits erste kritische Konsequenzen zieht. Eine weitere Materialsammlung richtet sich auf die Begriffe »Himmelreich« und »Sohn«, wobei das kritische Resümee hier ausbleibt. Eine gründlicher ausgeführte Gedankenfolge lässt die kurze Abhandlung »[De cognitione Dei perfectionibusque ejus observationes philosophico-criticae]«24 erkennen, in der sich Reimarus gegen die traditionelle, auf Offenbarung gründende Theologie richtet. Weil sie keine verlässliche Hilfe zum glücklichen Leben darstellt und sich gegen die Erkenntnisweise der exakten Wissenschaften sperrt, muss sie von der philosophischen Gotteserkenntnis aus verbessert werden, die Reimarus als »magis vera, magis clara et distincta, magisque certa et viva« beschreibt.25 Aus dieser dreifachen Charakteristik der philosophischen Gotteserkenntnis entwickelt Reimarus im Folgenden eine dreifache Kritik der traditionellen christlichen Theologie. Da eine Gotteserkenntnis nur dann als »magis vera« gelten darf, wenn 21
Abgedruckt in Apol II , S. 639–652. Der Titel wurde übernommen aus Wilhelm Schmidt-Biggemann, Handschriftenverzeichnis, S. 23. 23 Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 11. 24 Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, hier zitiert nach Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 415–421. 25 Ebd., S. 415 f.: »Haec inquam ego omnia vitae beatae praesidia jam non requiro in Scriptura: id tamen me semper offendit, esse in ea, quae erroneis hoc in genere opinionibus indulgent, et cursum veritatis et scientiarum impediunt: ut tuto inter Christianos statuere et tradere non liceat physica, mathematica et Cosmologica multa, verissima quidem illa et manifestissima imo ultissima, sed Scripturae eheu contraria.« 22
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2 Das bibelkritische Werk
sie den einfachsten philosophischen Begriffen von Gott und seinen Vollkommenheiten nicht widerspricht, werden die Trinitätslehre, die anthropomorphe Gottesvorstellung, der Bericht von der Schöpfung der Welt und des Menschen samt der Geschichte vom Sündenfall, die Erbsünde, das Gesetz des Mose, die Inkarnation, die Lehren von der Versöhnung und Rechtfertigung, die ewige Verdammung sowie die Vorstellung vom Weltende und vom Jüngsten Gericht abgelehnt. Damit sind diejenigen zentralen Kritikpunkte benannt, die auch später das Grundgerüst der Dogmenkritik der »Apologie« bilden. Lediglich die Kritik an der Weltschöpfung wird später nicht wieder aufgenommen.26 Von dem Gedanken aus, dass nur eine klare und deutliche Gottesvorstellung den Geist bessern kann, kritisiert Reimarus die Mysterien, mit denen die traditionelle Theologie umgeht. Sie kleiden sich in das dunkle Gewand der Allegorie und verführen die Theologen, die sich mit ihnen beschäftigen, zum Streit.27 Einen letzten Kritikpunkt entwickelt Reimarus von der Forderung aus, die Gotteserkenntnis müsse sicher und lebendig sein. Diesem Grundsatz setzt Reimarus die Unfähigkeit zum Zweifel und zur kritischen Prüfung des von Kindesbeinen an gelernten Glaubens entgegen, die für das traditionelle Christentum charakteristisch ist.28 Dieser zusammenhängenden Abhandlung folgen mehrere Aphorismen, in denen Reimarus sich mit der Versöhnungslehre und der Möglichkeit von Wundern auseinandersetzt. Dazwischen eingeschlossen findet sich eine kurze Liste von Stellen für eine ethische Kritik des Alten Testaments.29 Nach einigen Literaturnotizen folgt unter der Überschrift »Oeconomia religionis Mosaicae et Christianae opposita« eine Liste, in der Reimarus dreizehn Punkte zusammenstellt, hinsichtlich derer sich Judentum und Christentum widersprechen.30 Mit dem Anspruch der speziellen, übernatürlichen Offenbarung, für alle Menschen gleichermaßen heilsnotwendig zu sein, setzt sich Reimarus in seinen ebenfalls sehr knappen »[Observationes criticae de notitia necessaria Dei & revelationis]« auseinander. Als Maßstab verwendet Reimarus hier das allen Menschen von Natur aus eigene Vermögen, einen Begriff von Gott, seinem Schöpfungshandeln und den religiösen Pflichten der Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Mäßigung zu gewinnen.31 Die Inhalte der übernatürlichen Offenbarung stehen jedoch in offensichtlichem Widerspruch zur natürlichen Gotteserkenntnis und sind daher
26 Siehe hierzu unten Kapitel 2.6. Die Endfassung der »Apologie« spart die Kritik des Schöpfungsberichts aus. 27 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 417 f. 28 Ebd., S. 418 f. 29 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, S. 8–10. 30 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften, S. 413 f. 31 Ebd., S. 423: »Sed omnibus hominibus nihil videtur sufficienter manifesstari posse, nisi per insitam omnibus facultatem naturalem rationis: quo pacto Deum esse, et creasse mundum, et officia pietatis, justitiae, temperantiae requirere, cognoscibile est omnibus, ex auditu vero non potest omnibus constare.«
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
53
weit davon entfernt, allen Menschen gleichermaßen einsichtig sein zu können.32 Ein weiteres Argument gegen den Anspruch der speziellen Offenbarung auf allgemeine Heilsnotwendigkeit gewinnt Reimarus aus ihrer sprachlichen und historischen Vermittlung. Viele Heiden hatten nie die Möglichkeit, von der speziellen Offenbarung zu hören, die alttestamentlichen Verweise auf Christus sind nicht glaubwürdig, Juden und Griechen lehnten das angeblich glaubwürdige Evangelium zunächst ab, und der Anspruch der Propheten auf göttliche Inspiration ihrer Rede ist grundsätzlich verdächtig, zuletzt auf Einbildung rückführbar zu sein.33 In einem letzten Absatz denunziert Reimarus die Auffassung der Hebräer von der Bewegung in der Natur als einen naiven Geisterglauben.34 Im Blick auf diese frühesten Notizen insgesamt bleiben abschließend die Literaturnotizen zu erwähnen, die Reimarus auf mehreren Zetteln und zwischen den einzelnen Textpassagen anbringt. Sie sind zum Teil stark verkürzt, lassen sich jedoch in einigen Fällen entschlüsseln und vervollständigen. Hierbei fällt auf, dass Reimarus die Literatur, die er in den 30er Jahren benutzte, in der Endfassung nicht immer zitiert. Der Fußnotenapparat der Endfassung bildet die Quellen der »Apologie« in ihrer Entstehung also nicht vollständig ab.
2.2.3 Erste Fassung Um die Konzeption der »Apologie« in der ersten Fassung vor Augen zu führen, sei zunächst der Gliederungsentwurf »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes«35 angegeben, auf den sich die nachfolgend vorzustellenden Textstücke teilweise beziehen lassen: Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes .¯ I .¯ Buch. Cap. 1. Was Vernunft und vernünftig sey? was vernünftige Religion und Gottesdienst heisse, und wie dieselbe der Grund aller offenbahrten Religion seyn müsse. 2. Kurtzer Entwurf einer vernünftigen oder natürlichen Religion, sowohl was wir von Gott zu dencken als nach seinem Willen zu thun haben .¯ 3. Von der Seelen Unsterblichkeit und Hoffnung einer Seeligkeit nach diesem Leben, nach der Vernunft .¯ 4. Von den Vorzügen einer vernünftigen Religion und Gottesdienstes: und von der Freyheit dieselbe zu bekennen und auszuüben .¯ 5. Von denen Zweiffeln so einem vernünftigen Menschen bey der offenbahrten Religion aufstossen können, und dem Rechte vernünftig zu zweiffeln und seine Zweiffel vorzutragen. 32
Ebd., S. 423 f. Ebd., S. 425 f. 34 Ebd., S. 426. 35 Ebd., S. 427–430. 33
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2 Das bibelkritische Werk
II . Buch. 6. Von der Nothwendigkeit einer Offenbahrung, so ferne dieselbe aus dem Fall und Verderben des Menschen pflegt erwiesen zu werden. 7. Von dem Grunde für die Nohtwendigkeit der Offenbahrung welcher aus dem Wercke der Erlösung genommen wird. 8. Untersuchung der Schlüsse des Herrn Friedrich Wagners, welche derselbe bey Gelegenheit der Wiederlegung des Democritus von dieser Materie angebracht hat. 9. Ob auch eine algemeine offenbahrung, dadurch alle Menschen selig werden sollten, jemahls nach der Beschaffenheit des menschlichen Geschlechts möglich sey. III . Buch. 10. Ob die Propheten Altes Testaments die Absicht gehabt eine seligmachende Religion zu offenbahren? Wird nach ihrem Leben und Wandel untersucht. 11. Ob eben dieselbe die Absicht einer seligmachenden Offenbahrung in ihren Schrifften gehabt? wird aus deren Inhalt und Lehre untersucht. 12. Ob Jesus den Zweck gehabt eine neue oder andere Religion als die jüdische war, einzuführen? und ob er ein anderer als weltlicher Messias zu werden getrachtet? 13. Ob die Apostel nach dem Tode Jesu nicht ein gantz anderes Lehrgebäude aufgerichtet als sie bey seinem Leben gehabt; und was sie dazu bewogen? Wobey die Umstände der Auferstehung Jesu, der Beweiß den die Apostel von diesem Grund-Satze Christl. Religion geben, nebst ihrem Betragen geprüfet werden. IV . Buch. 14. Die Begriffe von Gott und dessen beträchtlichen Eigenschafften, welche uns die Schrifft giebt. 15. Was die Schrifft von Gottes thätigen Eigenschafften sage, und was sie Ihm vor Handelungen beylege? 16. Von der Lehre von Engeln und Teuffeln, welche in der Schrifft liegt. 17. Wenn die Schrifft anfange der Seelen Unsterblichkeit des Leibes Auferstehung, und künftige Seligkeit des Menschen zu lehren, und worin diese Lehre bestehe? 18. Von dem Rahte Gottes die Menschen seelig zu machen durch Christum, und von dessen Person, Naturen Amt und Verrichtungen. 19. Von der Ordnung worin sich die Menschen nach dem Christenthum halten sollen, wenn sie wollen seelig werden. 20. Von den Gesetzen Sitten-Pflichten und Gebräuchen Altes und Neues Testaments. V . Buch. 21. Von denen Wundern so wohl überhaupt, als besonders derer so im Alten Testament erwehnet werden ob darin ein Beweiß der Göttlichkeit einer Offenbahrung enthalten sey. 22. Von denen Wundern welche Christus und die Apostel gethan, wie weit dieselbe von der Göttlichkeit ihrer Lehre überzeugen können? 23. Von denen Arten der Prophezeyung bey denen Hebreern und besonders von denen Prophezeyungen des Alten Testaments. 24. Von der Anführung und Außlegung der Prophezeyungen des Alten Testaments im Neuen. VI . Buch. 25. Von der Schreib-Art der Hebreer und Biblischen Bücher.
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
55
26. Von denen Historischen Sachen welche darin vorkommen. 27. Von denen Materien der Schrifft welche in die Wissenschafften einschlagen. 28. Wie es mit den Biblischen Büchern nach und nach ergangen biß sie in einem Band gesammlet und für canonisch erkannt sind. 29. Von der Fortpflantzung des Christenthums, und denen Mitteln dazu; wie auch von denen Secten und Leben der Christen. 30. Beschluß-Anrede an alle Christliche Hohe Häupter insonderheit Protestantische.
Eine eindeutige Zuordnung ergibt sich nur in sechs Fällen: »[Was Vernunft und vernünftig sei]«36 entspricht dem Kapitel I ,1 des Gliederungsentwurfs, »[Entwurf einer vernünftigen und natürlichen Religion]«37 dem Kapitel I ,2, »[Moralische Betrachtungen von der Liebe Gottes, seiner Heiligkeit und der Sünde]«38 dem Kapitel I ,3, das noch unedierte Archivstück A 13 e dem Kapitel II ,7, A 13 f dem Kapitel II ,9 und A 14 n dem Schlusskapitel VI ,30. Nur vage lässt sich der Bezug bei den übrigen Stücken herstellen. A 13 d entspricht zunächst Kapitel II ,6, führt dann allerdings zu einer ethischen Kritik des Alten Testaments hinüber. A 13 h und A 14 d gehören wohl in den Zusammenhang des dritten Buchs, A 13 g mit seiner Kritik der Trinitätslehre am ehesten in den des vierten. Die ebenfalls unter A 13 g gebotene ethische Kritik des Alten Testaments wiederum gehört in den Zusammenhang des dritten Buchs. Für das gesamte fünfte und sechste Buch sind abgesehen von dem Schlusskapitel keine Textstücke erhalten. Trotz dieser nicht unerheblichen Schwierigkeiten bei der Zuordnung erscheint es gleichwohl möglich, den Gliederungsentwurf der nachfolgenden inhaltlichen Beschreibung der Materialien zugrunde zu legen und den von Reimarus in den 30er Jahren intendierten systematischen Zusammenhang seiner Gedanken in Umrissen abzubilden. Zu beginnen ist gemäß dem Gliederungsentwurf also mit dem Textstück »[Was Vernunft und vernünftig sei]«, das eine kurz gefasste Analyse des menschlichen Vernunftvermögens bietet. Durch sie versucht Reimarus zu klären, welche Rolle der menschlichen Vernunft bei der kritischen Beurteilung des Offenbarungsglaubens zugewiesen werden kann. Anders als die Tiere denkt der Mensch nicht allein in flüchtigen Vorstellungen, sondern in allgemeinen Begriffen, die er sich durch die Verwendung sprachlicher Zeichen in der Weise verfügbar macht, dass er sie vergleichen kann und hierdurch zu Urteilen gelangt.39 Zu diesem auf Vergleich von Vorstellungen beruhenden Urteilen und dem hierauf aufbauenden Schließen nach allgemeinen »Reguln des Wiederspruchs und der Einstimmung«40 ist grundsätzlich jeder Mensch fähig.41 Nur hinsichtlich des Entwicklungsstandes 36
Ebd., S. 431–477. Ebd., S. 479–494. 38 Ebd., S. 495–519. 39 Ebd., S. 431–434. 40 Ebd., S. 450 f. 41 Ebd., S. 435–451. 37
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2 Das bibelkritische Werk
und der Gewohnheit zum Gebrauch der allen Menschen gleichermaßen eigenen Vernunft kennt Reimarus Unterschiede, die ihn dazu bewegen, verschiedene Stufen der Entwicklung von der »zarte[n] Kindheit« bis hin zum »männliche[n] Alter« zu unterscheiden.42 Nach einer näheren Diskussion der Vernunftregeln hinsichtlich der Begriffe, Urteile und Schlüsse43 wendet sich Reimarus der Frage zu, inwiefern diese allgemeinen Regeln der Vernunft auch zur Beurteilung von Erfahrungen und durch das Zeugnis anderer vermittelter Erfahrungen angewendet werden dürfen. Hinsichtlich der Erfahrung spricht Reimarus der Anwendung der Vernunftregeln eine Schutzfunktion im Blick auf die Abwehr der durch Einbildungskraft fingierten Vorstellungen zu.44 Hinsichtlich des Glaubens fremder Erfahrungszeugnisse unterscheidet Reimarus zwei Ebenen der Anwendung der Vernunft. Die Vernunft prüft zum einen den Inhalt des Erfahrungszeugnisses, indem sie die Vergleichbarkeit des von dem Erfahrungszeugen zur Anwendung gebrachten Begriffssystems und seiner sprachlichen Bezeichnung mit dem jeweils eigenen kritisch reflektiert, um nachfolgend die innere Widerspruchsfreiheit der von dem Erfahrungszeugen vorgenommenen Verknüpfung der Begriffe prüfen zu können.45 Zum anderen prüft die Vernunft den Erfahrungszeugen selbst. Zu fragen ist hier im Falle schriftlicher Zeugnisse, wer der tatsächliche Verfasser ist, ob er überhaupt selbst die Möglichkeit hatte, das Berichtete zu erfahren, ob er über die Fähigkeit verfügte, seine eigene Erfahrung unverfälscht wiederzugeben und ob der Bericht in seinen Details Merkmale historischer Glaubwürdigkeit an sich zeigt.46 Es folgt der »[Entwurf einer vernünftigen und natürlichen Religion]«, in der Reimarus Themen der speziellen Metaphysik abhandelt. Er beginnt, indem er apriorische und aposteriorische Argumentation miteinander verschränkt, mit dem Begriff Gottes als eines selbständigen, ewigen und notwendigen Wesens, das sich durch unendliche Vollkommenheit auszeichnet und in der geschaffenen endlichen Welt per analogiam erkannt wird samt seinen Eigenschaften der unendlichen Weisheit, Güte und Macht.47 In kritischer Auseinandersetzung mit der These, Gott sei als ein spiritus purus ganz und gar vor und jenseits der materiellen Welt vorzustellen, thematisiert Reimarus in vergleichender Weise auch die Beschaffenheit und das Vermögen der menschlichen Seele. Denn so wie die Seele sich in dem ihr zugeordneten Körper spiegelt, so spiegelt sich Gott in der geschaffenen Welt, die insofern als sein Körper gelten darf.48 Von hier aus thematisiert 42
Ebd., S. 452–454. Ebd., S. 454–461. 44 Ebd., S. 462–465. 45 Ebd., S. 465–470. 46 Ebd., S. 470–477. 47 Ebd., S. 479 f. 48 Ebd., S. 480 f., 484 f. und 492: »Folglich ist die Welt nicht ausser Gott, sondern sie gehöret mit zu seinem Wesen, sie machet sein Ich aus; und sein Geist verbreitet sich als die Seele der Welt über alles.« 43
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
57
Reimarus auch das moralische Vermögen der menschlichen Seele. Denn in der menschlichen Seele verwirklicht sich die Vollkommenheit, die Gott als das Ziel der Welt bestimmt hat, stets nur der Möglichkeit nach. Das Streben der menschlichen Seele nach der unendlichen Vollkommenheit bleibt beschränkt, weil die Seele selbst aufgrund ihrer Bindung an den Körper beschränkt ist. Im Blick auf das moralische Vermögen des Menschen verbleiben also Unvollkommenheiten, die Reimarus als Teilaspekte eines Weltganzen betrachtet, in dem sich die unendliche Vollkommenheit Gottes uneingeschränkt spiegelt.49 Nachdem Reimarus so die Bezogenheit der Seele auf den Körper thematisiert hat, führt er in einer weiteren Abhandlung »[Moralische Betrachtungen von der Liebe Gottes, seiner Heiligkeit und der Sünde]« vor, wie die Hoffnung auf ein Fortbestehen der Seele nach dem Verlust des Körpers zu begründen ist. Er geht aus von dem Willen Gottes, den Menschen zu vervollkommnen, und schließt, dass es diesem Willen Gottes entsprechen müsse, die menschliche Seele in einem jenseitigen Zustand ohne die Beschränkungen des endlichen Körpers fortbestehen zu lassen, damit sie dort zu derjenigen unendlichen Vollkommenheit geführt werden kann, die Gott beabsichtigt.50 Von hier aus nun wendet sich Reimarus gegen die dogmatische Auffassung von der Sünde und ihrer Genugtuung. Da Gott die Beschränkung des Vermögens der menschlichen Seele vorauswusste, kann Gott durch die Verfehlungen des Menschen nicht beleidigt werden. Vielmehr leitet er den Menschen wie ein Arzt den Patienten zur Überwindung seiner Unvollkommenheiten an. Sein Strafen entspringt nicht seinem Zorn und zielt auch nicht auf die ewige Verdammung des Menschen. Vielmehr entspringt es seiner Liebe, die die Vollkommenheit des Menschen will und seine Seele im Jenseits ihrer körperlichen Beschränkung der unendlichen Vollkommenheit teilhaftig macht.51 Im zweiten Buch der »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« wendet sich Reimarus der speziellen Offenbarung zu, auf die das Christentum sich gründet. Das noch unedierte Archivstück A 13 d setzt hier zunächst bei der Lehre von der Erbsünde an und zeigt, dass es keinen besonderen Sündenfall gab, durch den die Offenbarung nötig wurde, sondern dass vielmehr das Sündigen aus der Beschränktheit der menschlichen Natur folgt. Abgelehnt wird hier erneut auch die Vorstellung einer Beleidigung Gottes durch den Menschen.52 Nachdem Reimarus auf diese Weise das Argument für die Notwendigkeit einer Offenbarung zu Fall gebracht hat, kritisiert er die Offenbarung selbst, und zwar des Alten Testaments aus einer inhaltlichen Perspektive. Er argumentiert hier vom Standpunkt der natürlichen Religion und Moral aus und richtet sich 49
Ebd., S. 487–489. Ebd., S. 495–498. 51 Ebd., S. 499–512. 52 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 d, S. 2–11. 50
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2 Das bibelkritische Werk
gegen das Gottesbild des Alten Testaments sowie die von Gott gestiftete Regierung Israels.53 Das hierauf folgende Kapitel wendet sich erneut gegen die Versöhnungslehre und bestreitet die Notwendigkeit der Offenbarung, indem es aufweist, dass die durch Christus gewirkte Genugtuung letztlich nur einen sehr geringen Teil der Menschheit erlöst.54 Reimarus kritisiert hierbei auch das der Satisfaktionslehre zugrunde liegende anthropomorphe Gottesbild, das Gott in das Bild eines herrschsüchtigen Despoten zwängt, der dem Menschen einen zutiefst unvernünftigen Tauschhandel anbietet.55 Reimarus besteht darauf, dass Gott der unveränderliche amor purus ist, demgegenüber der Mensch lediglich sich selbst beleidigen kann.56 Am Ende des zweiten Buches betrachtet Reimarus die Möglichkeit einer allgemeinen und allen Menschen gleichermaßen zugänglichen Offenbarung aus einer rein formalen Perspektive und schließt, dass jede Offenbarung, die an einen Ort und eine Zeit in der Geschichte gebunden ist, das Ziel, allgemein zu sein, verfehlen muss. Die spezielle Offenbarung ist ihrem Wesen nach stets partikular, und dies umso mehr, wenn sie im Medium von unglaubwürdigen Wundern und Nationalsprachen vermittelt wird.57 Den Zielpunkt dieser Argumentation bildet eine kurze Rechnung, durch die Reimarus nachweist, dass nur ein sehr geringer Bruchteil der Weltbevölkerung in den Genuss der angeblich allgemeinen und heilsnotwendigen Offenbarung des Christentums kommen konnte.58 Ebenfalls in den Zusammenhang des dritten Buchs der »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« gehört das sehr weitläufig ausgeführte Archivstück A 14 d, in dem die Absichten der Offenbarungsmittler Alten und Neuen Testaments kritisch betrachtet werden. Reimarus geht hier von dem Grundsatz aus, dass derjenige, der eine besondere, über die natürliche Religion hinausgehende religiöse Kenntnis zu vermitteln beansprucht, mindestens die Standards der natürlichen Religion und Moral zu erfüllen hat und dass sich dies in seinem alltäglichen Verhalten auch zeigen muss.59 Auf diese Weise unterzieht er die biblische Heilsgeschichte von den Erzvätern bis zum babylonischen Exil einer ethischen Kritik und schließt, dass die angeblichen Offenbarungsmittler des Alten Testaments ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden.60 Etwas anders verfährt die kürzere ethische Kritik des Alten Testaments eines unter der Signatur A 13 g archivierten Manuskripts. Reimarus sichtet hier erneut die Heilsgeschichte des Alten Testaments, diesmal jedoch hinsichtlich der Frage, inwiefern Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 d, S. 11–52. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 e, S. 2 f. 55 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 e, S. 4–20. 56 Ebd., S. 23–25. 57 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 f, S. 6 f. 58 Ebd., S. 58 f. 59 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 d, S. 1–5. 60 Ebd., S. 154–160. 53 54
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
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die Gerechtigkeit des in der Geschichte wirkenden Gottes durch die Berichte in Frage gestellt wird.61 Die theologischen Inhalte der Offenbarung des Alten und Neuen Testaments fasst Reimarus im vierten Buch ins Auge, in dessen Zusammenhang das Archivstück A 13 h und der erste Teil von A 13 g gehören. Sein Interesse gilt hier vor allem der Frage, inwiefern die angeblichen Offenbarungsschriften die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bieten. Im Blick auf das Alte Testament fällt das Urteil hier negativ aus. Im Blick auf das Neue Testament jedoch stellt Reimarus die Frage nach der Unsterblichkeitslehre zurück. Er fragt nun nach dem Leben Jesu und kritisiert die Auferstehungsberichte. Ferner zeigt er, welche Änderungen die ursprünglichen einfachen Lehren Jesu durch das Wirken der Apostel erfuhren. In diesen Zusammenhang passend bietet der erste Teil des Archivstücks A 13 g eine kurze Kritik der Trinitätslehre. Reimarus entwickelt hier zunächst den dogmatischen Lehrbegriff von der Trinität, konfrontiert diesen dann mit einschlägigen Versen des Alten Testaments, die traditionell von der Trinitätslehre her gedeutet werden und kritisiert abschließend den neutestamentlichen Begriff von der Trinität, den er als in sich widersprüchlich darstellt. Im Schlusskapitel der »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« verteidigt Reimarus die Legitimität seiner Kritik und wirbt für religiöse Toleranz, deren Geschichte er vom Judentum bis in die Gegenwart von Reformation und Aufklärung skizziert. Reimarus sieht sich selbst an einem entscheidenden Wendepunkt der geschichtlichen Entwicklung, an dem die durch die Reformation in Gang gebrachte Emanzipation der Vernunft zur vollen Entfaltung gelangt.62
2.2.4 Zweite und dritte Fassung Was die Archivstücke der zweiten und dritten Fassung angeht, so bieten sie sehr unterschiedlich lange Textausschnitte, die sich größtenteils entsprechenden Kapiteln aus der Endfassung zuordnen lassen und diesen gegenüber verschieden deutliche Unterschiede aufweisen.63 Was die systematische Anlage des Werks angeht, so muss beachtet werden, dass Reimarus auf dem Weg durch die verschiedenen Fassungen das Gliederungsprinzip der »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« aufgab, das mit der Vernunftlehre und der vernünftigen Religion begann, um von ihr aus hinüberzuführen zur Offenbarung, die nach einer allgemeinen Betrachtung konkreter hinsichtlich ihrer Vermittlergestalten, ihrer theologischen Inhalte sowie ihrer Autorisierung bis hin zur KaVgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 g, S. 1–68. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 n, S. 1–17. 63 Eine Zuordnung der Archivstücke zu den jeweiligen Kapiteln der Endfassung findet sich bei Gerhard Alexander, Einleitung, S. 23–33. 61 62
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nonisierung der Offenbarungsschriften diskutiert wurde. In der Endfassung wird der Stoff nach der Anordnung der biblischen Bücher geboten, so dass eine Art fortlaufender Bibelkommentar entsteht. Die Ausführungen über die vernünftige Religion werden aus dem Kontext der »Apologie« gelöst und innerhalb der »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« und der »Vernunftlehre« weiter traktiert. Wie dieser Prozess eines Umbaus der Gliederung sich im Einzelnen vollzog, ist jedoch nicht mehr rekonstruierbar. Zur zweiten und dritten Fassung sind keine Gliederungsentwürfe erhalten, und auch das Textmaterial selbst weist keine Merkmale zusammenhängender Gliederungen auf. Besonderes Augenmerk verdient das Wachstum des Fußnotenapparats, der in der dritten Fassung bereits fast den Stand der Endfassung erreicht. An einigen Stellen unvollständig bleibt hier vor allem der Apparat für einige Passagen zum Neuen Testament. Für das Alte Testament hatte Reimarus die Belegmaterialien offensichtlich früher beisammen. Als eine kostbare Besonderheit kann das Archivstück A 14 c aus der zweiten Fassung der Apologie gelten, das sich im Anhang zu Gerhard Alexanders Ausgabe der »Apologie« abgedruckt findet. Der Text setzt abrupt ein und beschreibt den Aberglauben des antiken Heidentums, gegen den schon vor dem Aufkommen des Christentums Vertreter einer vernünftigen Religion kritisch vorgegangen sind. Auf diese Weise gelingt es Reimarus hier zu zeigen, dass die vernünftige Religion von alters her bekannt gewesen ist und stets die Grundlage aller positiven Religionen gebildet hat. Es folgen Ausführungen über den Stellenwert der vernünftigen Religion und der Toleranz in den Religionen des Judentums, Christentums und des Islam. Der gesamte Passus A 14 c fehlt in der Endfassung der »Apologie«.64 Die Themen, die er behandelt, fügen sich dort teilweise weniger ausführlich in andere Kontexte. Nicht diskutiert wurden an dieser Stelle die von Lessing veröffentlichten Fragmente, die mit zu den der Endfassung vorausliegenden Textzeugen gehören. Sie gehören in den Kontext der zweiten Fassung der »Apologie«, gleichen aber nicht wortwörtlich den dort aufgeführten Archivstücken.65
2.2.5 Entscheidung gegen die Veröffentlichung Blickt man auf den Entwicklungsweg der »Apologie« zurück, so wird die Frage unvermeidlich, warum Reimarus Zeit seines Lebens die Veröffentlichung seines theologisch-philologischen Hauptwerks verweigert hat. Der Vorrede zur Endfassung der »Apologie« stellt er eine ebenso feierlich anmutende wie letztlich undeutliche Erklärung voran: »Lieber mag der Weise sich, des Friedens halber, unter 64 65
Ebd., S. 28. Siehe hierzu unten Kapitel 2.7.1.
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
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den herrschenden Meynungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen, als daß er sich und andere, durch gar zu frühzeitige Äusserung, unglücklich machen sollte.«66 Erst im weiteren Verlauf der Vorrede gewinnen die Erklärungen an Aussagekraft. Reimarus weist hin auf einige seiner engsten Freunde, die ihn gebeten hatten, die »Apologie« im Ganzen oder doch zumindest Teile daraus in Druck zu geben. Reimarus aber lehnt ab und weist auf die noch zu unsichere Lage hin, in der sich zwar unter den »gesitteten Leuten« ein neuer, zuweilen auch bibelkritischer Vernunftgebrauch etabliert ohne sich jedoch den Autoritäten der Kirche und der staatlichen Obrigkeit offen entgegenstellen zu können: Der gemeine Hauffe, und selbst die Obrigkeiten und Regenten, am allermeisten aber die Geistlichen, sind annoch von so heftigem Religions-Eiffer angeflammt, daß sie Himmel und Hölle bewegen würden, um die vernünftige Religion, als eine allgemeine Feindin aller Secten der Christenheit, unter dem Namen des Unglaubens auszurotten.67
Das Stimmungsbild, das Reimarus hier bietet, kann sich sowohl konkret auf die Situation in Hamburg in den 1760er Jahren beziehen wie auch auf die Deutschlands insgesamt. Während der vierzig Jahre, die Reimarus in Hamburg tätig war, geschah es immer wieder, dass verfolgte Freigeister in der verhältnismäßig tolerant gestimmten Hansestadt Zuflucht suchten. So war es Mitte der 30er Jahre der als Atheist verschriene Jurist Theodor Ludwig Lau, der in Hamburg und Altona unter dem falschen Namen »Lenz« ein Überleben suchte. Lau vertrat einen von Spinoza und Toland inspirierten Pantheismus, von dem aus er sich kritisch gegen die christliche Offenbarungsreligion wandte.68 Als er 1717 in Frankfurt am Main anonym seine »Meditationes philosophicae de Deo, mundo, homine« publizierte, wurde er sehr bald zum Opfer der durch diese Schrift angegriffenen lutherischen Geistlichkeit. Sein Verleger wurde so unter Druck gesetzt, dass er Laus Verfasserschaft preisgab. Die »Meditationes« wurden öffentlich verbrannt, und Lau wurde per Gerichtsbeschluss aus der Stadt vertrieben. Alle nachfolgenden Versuche Laus, gegen das Urteil vorzugehen, scheiterten. Nicht zuletzt sein eigener Lehrer, Christian Thomasius, dessen Lehren folgend Lau seine »Meditationes« verfasst zu haben meinte, wandte sich gegen ihn und brandmarkte Laus Aufnahme spinozistischer Gedanken als Atheismus.69 1719 versuchte Lau durch die Publikation seiner »Meditationes, Theses, Dubia philosophico-theologica« ein weiteres Mal auf seinem Recht auf Geistesfreiheit zu bestehen und scheiterte erneut. Alle seine nachfolgenden Versuche, eine Anstellung als Jurist zu erhalten, zuletzt in 66
Vgl. Apol I, S. 41. Ebd., S. 56 f. 68 Vgl. Martin Pott, Einleitung, in: Theodor Ludwig Lau (1670–1740). Meditationes philosophicae de Deo, Mundo, Homine (1717). Meditationes, Theses, Dubia philosophico-theologica (1719). Dokumente, hg. von Martin Pott, Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung 1, Stuttgart-Bad Cannstadt 1992, S. 10 und 35 ff. 69 Ebd., S. 19–21. 67
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seiner weit entfernten Heimatstadt Königsberg, scheiterten. Wohin Lau auch kam, verfolgten ihn seine allgemein als atheistisch eingeschätzten Äußerungen. Weitgehend verarmt und geistig verwirrt starb Lau 1740 in Altona.70 Zwar lässt sich ein persönlicher Kontakt zwischen Reimarus und Lau bislang nicht nachweisen. Es ist aber gleichwohl anzunehmen, dass Reimarus dem gescheiterten Lau in Hamburg begegnet ist und dass er vor allem über den Verlauf der 1717 in Frankfurt geführten Prozesse genau informiert war, denn die Prozesse um Lau, in die auch der der Gedankenfreiheit verpflichtete Thomasius involviert war, hatten weithin für Aufsehen gesorgt. Auch der bereits beschriebene Fall Johann Lorenz Schmidt verdeutlicht, wie präsent Reimarus die Gefahr war, wegen Verbreitung heterodoxer oder gar atheistischer Schriften verfolgt zu werden. Dass religionskritische Freigeister wie in den beiden genannten Fällen mit aufsehenerregenden Publikationen an die Öffentlichkeit traten und hierfür die Konsequenzen tragen mussten, blieb jedoch die Ausnahme. Weitaus verbreiteter war der Rückzug in die geschützten Räume unterhalb der Oberfläche einer von der Orthodoxie überwachten Öffentlichkeit. In privaten Kabinetten und Bibliotheken traf man sich, sammelte und tauschte literarische Raritäten und offiziell verbotene Bücher. Besonders gut lassen sich diese Aktivitäten an dem Hamburger Arzt Christian Joachim Lossau illustrieren, der stets als ein unbescholtener Bürger galt. In seiner privaten Bibliothek fand sich eine der damals größten Sammlungen heterodoxer Bücher. Unter den im Auktionskatalog als »rare Bücher aus der Theologie« verzeichneten Schriften finden sich »allein sieben Exemplare des berüchtigten Traktats ›De tribus impostoribus‹ […] weiterhin Bücher von Bodin, Vanini, Bruno, Stosch, Lau, Blount, Toland, Servet, Radicati, Tyssot de Patot, Spinoza, Hobbes und vielen anderen, Satiren, Pamphlete, Pasquillen und seltenes Material aller Art.«71 Als die Bibliothek nach Lossaus Tod 1761 zum Verkauf angeboten wurde, war es Johann Melchior Goeze, der alle gefährlichen Bücher des Katalogs vorab identifizierte und den Magistrat der Stadt überredete, die fraglichen Bücher aufzukaufen, bevor sie anderweitig in Umlauf gerieten.72 Ein völlig anderer Beispielfall bereitete sich während der 1750er Jahre im benachbarten Altona vor. Hier war es der Advokat Georg Schade, der angeregt durch eine Preisfrage zur Monadenlehre, die die königliche Sozietät der Wissenschaften in Berlin 1747 ausgegeben hatte, versuchte, einer neuen Lesart 70
Ebd., S. 25–30. Vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760, Hamburg 1998, S. 136. Da Reimarus mit Lossau in Kontakt stand, ist der von Martin Mulsow entdeckte Auktionskatalog für diese Arbeit von hohem Wert. Reimarus hatte zu wesentlich mehr auch verbotenen Büchern Zugang, als es der Auktionskatalog seiner eigenen Bibliothek nahelegt. Aus diesem wurden vorab manche verbotene Bücher entfernt. So besaß Reimarus z. B. zwei Exemplare des Traktats »De tribus impostoribus«, die im Katalog nicht aufgeführt werden. Siehe hierzu unten Kapitel 2.4. 72 Vgl. ebd., S. 238 f. 71
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
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der leibniz-wolffschen Philosophie Vorschub zu leisten.73 Unter Rückgriff auf hermetisches Gedankengut deutet Schade das Zusammenspiel der Monaden als einen Prozess stufenweiser ontologischer Vervollkommnung, der in der höchsten Vollkommenheit Gottes sein Ziel findet. Auf diese Weise schafft Schade einen metaphysischen Rahmen, in den nicht nur die physikalisch-chemischen Abläufe der erfahrbaren Welt eingeordnet werden können, sondern zugleich auch die moralische Besserung des Menschen. Von dieser Erneuerung der leibniz-wolffschen Philosophie aus beanspruchte Schade, ein System der natürlichen Religion anbieten zu können, das so lückenlos sei, dass es die auf die biblische Offenbarung gründende kirchliche Theologie vollständig zu ersetzen vermöge. Von Altona aus, wo Schade eine eigene Druckerei betrieb und eine Zeitung herausgab, begründete er eine allein durch Briefkontakte organisierte Geheimgesellschaft von Gelehrten, die seinen neuen metaphysischen Optimismus teilen und den Druck seiner philosophischen Schriften finanzieren sollte. Voneinander wussten die Mitglieder nichts. Es war stets allein Schade, der den Briefkontakt hielt und vorgaukelte, hinter den Briefen verberge sich eine reale Gesellschaft. Auch seine deistische Anschauung hielt er zunächst geheim. Den Mitgliedern seiner Geheimgesellschaft gegenüber wahrte Schade das Gesicht des reinen Metaphysikers und explizierte die theologie- und kirchenkritischen Konsequenzen, die aus seiner Philosophie zu ziehen waren, nicht. Bei der Herausgabe seiner Zeitung verhielt er sich allerdings unvorsichtiger. In Johann Matthias Dreyer hatte er sich einen der umtriebigsten Religionsspötter Hamburgs als Redakteur ausgesucht. Immer wieder kam es zu Scherereien mit der Regierung in Kopenhagen, die gegen Schade einschritt, wenn sein Redakteur Schmähungen gegen die Kirche oder die Politik der dänischen Krone in Druck gab. Als sich Ende der 50er Jahre Schades finanzielle Lage zu verschlechtern begann und sowohl die Geheimgesellschaft, wie auch die Zeitung vor dem Ruin stand, entschied er sich, seine letzte Gelegenheit zur Publikation zu nutzen und eine umfangreichere deistische Schrift zu drucken, die seine metaphysischen Grundanschauungen explizit mit einer zum Teil sehr harschen Kirchenkritik verband: »Die unwandelbare und ewige Religion«. Schade zeigt hier, wie sein metaphysisches System die orthodoxe Lehre von den ewigen Höllenstrafen verdrängen kann und um wieviel besser die reale moralische Bemühung des Deisten ist im Vergleich zu der Rechtfertigung, die die »Bauchpfaffen« im Vollzug ihrer äußerlichen Zeremonien anzubieten haben. Hierbei wendet sich Schade zugleich ausdrücklich gegen Rechtswolffianer74 wie Baumgarten und beschuldigt sie, »daß sie, aus Schmeicheley vor die Religionsbetrüger 73
Die folgende Darstellung gründet auf Martin Mulsows oben genannte Monographie. Zur Unterteilung der Wolffschule in einen »rechten« und einen »linken« Flügel vgl. Günter Mühlpfordt, Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735, in: W. Schneiders (Hg.), Christian Wolff, Hamburg 21986, S. 237–253, hier S. 251. 74
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der wahren und vernünftigen Religion, mithin auch der Ehre ihres Schöpfers, an verschiedenen Stellen ihrer Schriften zu nahe getreten« seien.75 Reimarus ist Schades deistische Hauptschrift bereits vor ihrem Erscheinen bekannt geworden. Schade, der Reimarus als den Verfasser der »Vornehmsten Wahrheiten« hoch verehrte, hat Reimarus in Hamburg besucht und ihm seine Religionsschrift zur Durchsicht vorgelegt. Zu einem offenen Bekenntnis seiner deistischen Anschauung ließ sich Reimarus von dem weit jüngeren Schade jedoch nicht bewegen. Reimarus wahrte seinem Besuch gegenüber das Gesicht des orthodoxietreuen Populärphilosophen und verschwieg seine eigene deistische Aktivität. Wie der weitere Weg Schades belegt, tat er auch gut daran. Denn unmittelbar nach der anonymen Publikation der »Unwandelbaren und ewigen Religion« erfolgte Schades Entlarvung durch eine Rezension in den »Hamburger Anzeigen und Urtheilen von gelehrten Sachen«. Der Rezensent, der vermutlich aus dem Umfeld des im September 1760 ins Amt des Seniors der Hamburgischen Geistlichkeit aufgestiegenen Johann Melchior Goeze stammte, war durch einen Denunzianten informiert worden, der seinerseits auf Informationen Zugriff hatte, die nur in Schades Geheimgesellschaft bekannt waren. Schades Buch wurde in Hamburg öffentlich hingerichtet.76 Die Verfolgung seines Verfassers erwies sich als schwieriger, denn der in Altona ansässige Schade unterstand der dänischen Obrigkeit und konnte nur von Kopenhagen aus bekämpft werden. Jedoch gelang es auch hier unter Hinweis auf die moralische Verpflichtung einer jeden christlichen Regierung, die offensichtlichen Feinde des Christentums zu bekämpfen, gegen Schade Druck zu machen. Nach einem lange verschleppten Verfahren entschied man in Kopenhagen im April 1761, dass Schade auf unbestimmte Zeit auf die Insel Christiansø nahe Bornholm verbannt werden sollte, wohin die dänische Regierung gewöhnlich Geistesgestörte, Verbrecher und Kranke brachte. Sein Fall dürfte auf Reimarus, der Schades Freilassung 1772 nicht mehr erlebte, eine erhebliche Abschreckungswirkung gehabt haben. Erneut muss an dieser Stelle auf Reimarus’ Vorberichte zur zweiten und dritten Fassung ergänzt durch den Entwurf zum Schlusskapitel der ersten Fassung eingegangen werden. In letzterem, datierbar auf die zweite Hälfte der 40er Jahre, zeichnet Reimarus hoffnungsvoll den Weg einer Selbstbefreiung der menschlichen Vernunft: So wie das Pabsttum, durch seine übertriebenen Erfindungen und Herschsucht nach so vielen Klagen der Unterdrückten endlich den kräftigsten Ausbruch der Reformation beVgl. Georg Schade, Die unwandelbare und ewige Religion (1760), in: Georg Schade, Die unwandelbare und ewige Religion (1760). Dokumente, hg. von Martin Mulsow, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 56–294, hier S. 96. 76 Zu den politischen Rahmenbedingungen von Goezes Seniorat vgl. Ernst-Peter Wieckenberg, Johann Melchior Goeze, [ohne Ort] 2007, S. 167–159. Den Fall Schade nimmt Wieckenberg nicht auf. Zur Praxis der Bücherverbrennung vgl. H. Rafetseder, Bücherverbrennung. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel, Wien u. a. 1988. 75
2.2 Die Arbeit an der »Apologie«
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fördert hat: so wird auch selbst das harte Andringen des zu wenig gemilderten Joches der Gewissen desto mehr eine völlige Abschüttelung desselben zu wege bringen. Die täglich anwachsende Menge der Bücher, welche ungeachtet alles Wiederlegens, Verbots, Confiscierens, Verbrennens, bald dieses bald jenes Stück der christlichen Lehre angreiffen, zeugen von der anwachsenden Menge der Gemühter, die sich von den unnatürlichen Aufsätzen bis zur Ungedult beschweret finden.77
Etwas gedämpfter erscheint bereits der Vorbericht zur zweiten Fassung, der in die Zeit um 1755 zu datieren ist: »Ich finde auch bis auf diese Stunde noch groß Bedenken sie gemein zu machen, weil mir die Umstände in der Welt noch nicht von der Beschaffenheit zu seyn scheinen, daß sie vors erste allgemeinen Nutzen schaffen könnte«, äußert Reimarus hier, setzt aber nach: »Unterdessen, da es doch möglich ist, daß mir meine Handschrifft entwische, oder doch ein Erbgut anderer werde, so habe ich sie nicht ohne vorläuffige Nachricht lassen wollen.«78 Wie ein »Entwischen« einer Handschrift vonstatten geht, erklärt Reimarus hier nicht. Festzuhalten bleibt aber, dass der Gedanke an eine Veröffentlichung zu dieser Zeit noch nicht völlig vom Tisch ist. Das ändert sich im Vorbericht zur dritten Fassung aus der Zeit nach 1762. Im Vordergrund steht nun der Gedanke einer Gemütsberuhigung, die Reimarus zuerst sich selbst, dann aber auch durch die vertrauliche Weitergabe des Manuskripts seinen besten Freunden ermöglichen möchte. Dieser Gedanke ist keineswegs neu. Schon früher hatte Reimarus darauf hingewiesen, dass er, von Zweifeln über die zahlreichen Unstimmigkeiten der christlichen Religion gequält, sich durch sein Nachforschen Klarheit verschaffen wollte. Davon, dass die eigene Gemütsberuhigung im kleinen Kreis der vorrangige Zweck des monumentalen Werks sein sollte, ist aber erst ab circa 1762 die Rede. Die öffentliche Wirkung der »Apologie« wird nun in eine Zukunft verlegt, die zu erleben sich Reimarus keine allzu großen Hoffnungen machen konnte: Man mögte aber künftig sprechen: Warum bistu nicht den sichersten Weg gegangen, und hast deine Schrift, nachdem du selbst genugsam dadurch beruhiget zu seyn meynest, gar verbrannt? So könnte sie gewiß niemals Irrungen erwecken. Ich will diesen Einwurf beantworten. Warum sollte ich andern, die mir lieb sind, nicht auch von dem, was ich für wahr halte, und ihnen nützlich seyn kann, belehren? warum sollte ich ihnen die Ruhe des Gemühts, welche ich selbst dadurch erhalten, mißgönnen? Aber ich gestehe es, meine Absicht geht auf einen noch viel ausgedehnteren und wichtigern Gebrauch der Nachwelt von eben dieser Schrifft. Ich sehe es im Geiste voraus, daß der jetzige Zustand des Christentums nicht lange mehr so bleiben kann, und daß ohne mein Zuthun, vielleicht in Kurtzem, eine Trennung vernünftiger Verehrer Gottes von der Heerde der Glaubigen, damit sie in einem Stall durch Gewalt versperrt waren, vor sich gehen muß. Ihre Anzahl vermehrt sich täglich, die Vornehmeren und Hohen der Welt sind im Hertzen der Meynung, es fliegen so viele Schrifften genannter und ungenannter Verfasser herum, die das Christentum bald hie bald dort anzapfen, daß sich die Herrn Theologen nicht mehr davor zu retten wissen; Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 n, S. 16. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 a. Abgedruckt in Apol II , S. 637– 652 hier S. 639. 77 78
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und sie werden endlich erfahren, daß die angewandten Gewalt-Mittel dem Dinge nicht abhelffen, sondern nur desto mehr gezwungene Heuchler machen. Daher kann ein Durchbruch nicht so gar ferne mehr seyn, er geschehe nun mit einigem Ungestühm, wie ich sehr befürchte, oder durch eine Tolerantz um des bürgerlichen Friedens willen, wie ich von Hertzen wünschte. In beiden Fällen wird doch alsdenn die Sache der so lange unterdrückten Vernunft zu einem ordentlichen Verhör kommen müssen, darin beyde Partheyen gleiche Freyheit haben ihre Rechte vorzustellen.79
Irgendwann also zwischen 1755 und 1762 hat Reimarus seine schwachen Hoffnungen auf eine Veröffentlichung der »Apologie« aufgegeben, und der Verdacht liegt nahe, dass der Fall Schade hierbei eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn an Schades Verbannung nach Christiansø wird eine veränderte Haltung der lutherischen Orthodoxie gegenüber der in Hamburg nicht eben geringen Zahl an Freigeistern deutlich. Das Hamburg, in dem Reimarus das Akademische Gymnasium besuchte und in dem er später als Rektor das öffentliche Leben mitbestimmte, war ein Ort der Aufgeschlossenheit und des gelehrten Interesses, insbesondere an den christentumskritischen Traditionen und ihren Argumenten. Fabricius und insbesondere Wolf suchten geradezu die Argumente der Christentumskritiker und wahrten hierbei ihre Treue zur Orthodoxie, indem sie die Argumente auf hohem akademischem Niveau widerlegten. Schade allerdings wird knapp ein halbes Jahrhundert später eine entsprechende akademische Widerlegung seitens der Orthodoxie nicht mehr zuteil. Stattdessen bemüht sich die Hamburger Orthodoxie, ab dem September 1760 unter dem Seniorat Goezes, um eine möglichst effiziente Vernichtung der bürgerlichen Existenz Schades, gerade so, als hätte sich die Orthodoxie in ihrer Fähigkeit zum Umgang mit aufklärerischen Freigeistern bis 1760 kontinuierlich zurückentwickelt.80 Wie ein Kommentar zu diesem rätselhaften Befund lässt sich der folgende Passus aus der Endfassung der »Apologie« lesen: Wenn ich eine Gewissens-Frage anstellen dürfte: wie viele wohl unter den Theologis selbst sind, die des Hebräischen und Griechischen so mächtig geworden, daß sie ihr GlaubensSystem nicht auf Übersetzungen, Ausleger, und eingeführte Compendia, sondern bloß auf eigene Einsicht der Grundsprachen, und der in der gantzen Bibel zerstreuten Heils-Ordnung, gründeten? Ich glaube, Buxtorf und Pasor, Calov und Clericus, Luther und Calvin, würden in ihrer Seele sprechen: wir haben für euch gelernt, gedacht, geglaubt: sie würden sich selbst mit nichts trösten, als daß sie nichts contra analogiam fidei lehrten, welche in ihren Libris Symbolicis, in den Conciliis und Patribus enthalten sey. Wie? haben sie auch wohl die Stellen Altes Testaments aufrichtig untersucht, welche im Neuen Testament als Weissagungen von Christo angeführt werden und ist ihnen kein Zweiffel nachgeblieben, daß die Sprüche […] von Christo Jesu gesagt und gemeynet sind? […] Wenn nun selbst der tausendste Theologus es kaum so weit bringen wird, daß er ohne Anstoß und Zweifel von dem ersten Grunde seines Glaubens überführt seyn kann: wie ist es möglich, daß andere sonst vernünftige, aber weltlichen Geschäften und Lebensarten gewidmete Personen 79 80
Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 b, S. 47–49. Vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus, S. 231 ff.
2.3 Die »Apologie«: Inhaltszusammenfassung
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einen gegründeten Glauben fassen, oder die eingefallenen Zweiffel auflösen könnten? Das eintzige Mittel sie gläubig zu machen und dabey zu erhalten, ist, daß ihnen die Schwierigkeiten verholen, oder mit solchen scheinbaren Antworten belegt werden, deren Schwäche sie nicht fähig sind einzusehen.81
Auch wenn von politischen Zwangsmaßnahmen gegen Kritiker an dieser Stelle nicht die Rede ist, belegt der Passus doch, dass Reimarus es dem Klerus nicht mehr zutraut, die christliche Lehre glaubwürdig und philologisch gelehrt zu verteidigen.82 Der alte apologetische Weg einer historischen Aufarbeitung häretischer Angriffe gegen die christliche Wahrheit, für den Fabricius und insbesondere Wolf mit ihrer philologischen Arbeit noch einstanden, erweist sich als nicht mehr gangbar. Denn nicht nur den orthodoxen Theologen fehlen die Voraussetzungen, sich auf einen gelehrten Streit mit Kritikern einzulassen, auch die Gegenseite beginnt, Argumente zu formulieren, die sich für eine ausführliche historischphilologische Diskussion nicht eignen. Die Orthodoxiekritik Schades zeigt ein neues, ungelehrtes Profil. Ihre Argumente sind eilig generiert aus Versatzstücken der Leibniz-Wolffschen Philosophie und verlangen nach einer neuen, weniger gelehrten, als vielmehr vernünftigen Abwehr. Nachdem die Auseinandersetzung um die Wahrheit der christlichen Lehre den Boden von Philologie und historischen Tatsachen verlassen hat, gilt es »Schwierigkeiten [zu] verholen« und »scheinbare[] Antworten« zu bieten, »deren Schwäche sie nicht fähig sind einzusehen« – gemeint sein könnten hier philosophische Taschenspielertricks, wie sie Friedrich Wagner einst gegen Dippels Kritik der Versöhnungslehre mit Erfolg ins Feld geführt hatte.83 Den Fall Schade erachtet die Hamburger Orthodoxie weder einer solchen vernünftigen noch einer gelehrten Widerlegung für würdig. Verhältnismäßig schnell und pragmatisch klug bereitet sie stattdessen seine Verbannung nach Christiansø vor. In diesem veränderten Klima war an eine Veröffentlichung der »Apologie« nicht mehr zu denken. Sie wäre undiskutiert auf dem ›ehrlosen Blocke‹ verbrannt und ihr Verfasser schnellstmöglich inhaftiert worden.
2.3 Die »Apologie«: Inhaltszusammenfassung Vorbericht Über die Entstehungsvoraussetzungen und Intention seines offenbarungskritischen Denkens gibt Reimarus seinen Lesern im Vorbericht der »Apologie« Auskunft. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet hierbei das heran81
Vgl. Apol I, S. 149–151. Den politischen Druck, den die Kirche gegen ihre Kritiker erzeugt, spricht Reimarus u. a. Apol I, S. 26 ff. an. 83 Siehe hierzu oben Kapitel 2.1.5. 82
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wachsende Kind, das je nach dem, wo und in welchem Elternhaus es groß wird, eine jeweilige Religion als die einzig wahre anzunehmen gewöhnt wird (41 f.).84 Durch einfache Katechismen lernen die Kinder die christliche Religion, wobei sie durch die Furcht vor der Hölle einerseits und den christlichen Pessimismus hinsichtlich des menschlichen Vernunftvermögens andererseits davon abgehalten werden, den erworbenen Glauben zu überprüfen und der Frage nachzugehen, warum sie gerade der christlichen Religion anhängen. Schon der kindliche Glaube lernt so, die kritische Selbstreflexion abzuwehren oder sie so zu betreiben, dass er an seiner Substanz keinen Schaden leidet (42–45). Reimarus macht an seiner eigenen christlichen Erziehung deutlich, wie auch ihm die Wahrheit der christlichen Religion zunächst als selbstverständlich erschien und wie sich nach und nach in Auseinandersetzung mit Bekenntnis, Bibel und apologetischer Literatur Zweifel an der Wahrheit des Gelernten einstellten. Die Auffassung der Bibel als eines Buchs von Heilslehren, die Schrift- und Vernunftgemäßheit dogmatischer Lehrstücke, besonders von der Trinität und von der Ewigkeit der Höllenstrafen, sowie das moralische Betragen einzelner Gestalten innerhalb der biblischen Heilsgeschichte wurden ihm zunehmend zu einem Stein des Anstoßes. In dem Wissen, dass das Christentum ein zusammenhängendes System ist, in dem nicht einzelne Teile herausgegriffen werden können, erinnert sich Reimarus, zunächst erhebliche Scheu empfunden zu haben, die biblische Heilsgeschichte einer kritischen Prüfung zu unterziehen (45–52). Doch erwies sich ihm die Überprüfung der christlichen Offenbarung als unausweichlich angesichts der Möglichkeit eines Betrugs und Missbrauchs des Vertrauens, das Menschen gemeinhin den angeblichen Offenbarungen entgegen bringen (53). Als Kriterium der Prüfung verwendet Reimarus hierbei die »vernünftige Religion«, die dem Menschen von Natur aus kraft des ihm eigenen Vernunftvermögens zur Verfügung steht (54 f.). Eine Veröffentlichung seines Werks lehnt Reimarus ab: In einer Zeit, in der Vernunft als Unglaube gebrandmarkt wird und zahlreiche Menschen gezwungen sind, ihre eigentliche Gesinnung in einer Doppelexistenz gegenüber der Kirche zu verbergen, ist es nicht möglich, ein Werk wie die »Apologie« zu veröffentlichen (56–58). Dabei hält Reimarus das Programm einer Verteidigung der vernünftigen Verehrer Gottes innerhalb des Christentums für gut begründet. Er weist auf die Apologeten der Alten Kirche hin, die ihrerzeit, als das Christentum in der Minorität war, durch den Aufweis seiner Vernünftigkeit um Toleranz warben, und fordert, man müsse heute mindestens ebenso den vernünftigen Verehrern Gottes gestatten, unter Rückgriff auf die Vernunft ihre eigene Position gegenüber der Mehrheitsreligion des kirchlichen Christentums zu verteidigen und dem Vorbild Christi folgend die vernünftige Religion zu lehren (59–64). 84 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die Ausgabe Apol I u. II von 1972. In der Inhaltszusammenfassung nicht berücksichtigt wird Reimarus’ Rekurs auf exegetische und andere Literatur. Nur dann, wenn Reimarus im Haupttext einen Autor ausführlich diskutiert, wird dies in der Inhaltszusammenfassung abgebildet.
2.3 Die »Apologie«: Inhaltszusammenfassung
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1. Teil: Altes Testament Die Thematik des Vorberichts führt Reimarus im ersten Buch »Wahrhafte Vorstellung von der Unterdrückung der vernünftigen Religion in der Christenheit« zunächst fort. In Kapitel I,1 zeigt Reimarus, wie Kinder von Natur aus mit der Religion bekannt würden. Das Erste wäre hierbei die natürliche Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und die Erkenntnis seiner Eigenschaften sowie der natürlichen Pflichten und der Bestimmung des Menschen, also die vernünftige Religion, die zugleich auch Mitte und Maßstab aller geoffenbarter Religion ist (67–69). Erst danach würde dann der Inhalt einer Offenbarung gelernt werden, denn es ist die vernünftige Religion, die begriffliches Erfassen einer Offenbarung allererst ermöglicht (69–71). Genau dieser Augenblick des Überschritts von der vernünftigen zur geoffenbarten Religion ist es, der Reimarus zu einer Kritik der Unterrichtspraxis innerhalb der christlichen Religion provoziert. Denn das heranwachsende Kind sieht sich einer Pluralität konkurrierender Offenbarungen und konfessioneller Deutungen derselben gegenüber und kann nicht ohne vorherige Prüfung darauf vertrauen, dass die Religion der Eltern tatsächlich die einzig wahre Religion ist (71–75). Die im Christentum verbreitete Vermittlungspraxis allerdings schließt das natürliche Lernen und Prüfen der Religion geradezu aus. Anders als dies in Zeiten der Alten Kirche üblich war, wird dem Kind im Taufsakrament ohne dessen eigene Zustimmung eine Religion aufgezwungen, deren Lehren ihm noch gar nicht bekannt sind, und auch im späteren Konfirmandenunterricht werden die christlichen Lehren nicht von Grund auf erklärt. Die Konfirmation geschieht in »unreiffen Jugend-Jahren« und führt auf einen blinden Autoritätsglauben hin (75–82). Die Kritik der kirchlichen Unterrichtspraxis setzt Reimarus in Kapitel I ,2 fort, in dem er zunächst auf ihre schwache moralische Orientierungsleistung hinweist. Die Katechismen bieten nur das Gesetz des Mose und mahnen zu dessen Einhaltung durch Hinweis auf Lohn und Strafe Gottes, wodurch die Erkenntnis seiner wahren Eigenschaften erneut verdunkelt wird (83–91). In der kirchlichen Unterrichtspraxis sieht Reimarus den Herrschaftswillen des Klerus am Werk: dass der Bestand des christlichen Glaubens vom Erhalt der einmal gefassten Vorurteile abhängt, wissen die Geistlichen. Ihre Katechismen und das gesamte von ihnen beherrschte Bildungssystem verschleiert daher die Differenz zwischen vernünftiger und geoffenbarter Religion, damit das christliche Vorurteil der heranwachsenden Kinder unbeschädigt bleibt. Den theologisch und philologisch nur sehr aufwendig zu führenden Wahrheitsbeweis der christlichen Religion treten die Geistlichen gar nicht erst an. Sie vertrauen auf die Überzeugungskraft von Bibelautorität und angedrohter ewiger Verdammung (86–94). Der Gestalt der christlichen Lehre, wie sie den erwachsenen Christen gepredigt wird, wendet sich Reimarus in Kapitel I,3 zu. Konnten die heranwachsenden Kinder in der beschriebenen Weise an die Glaubenssätze gewöhnt werden, so ist
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es verständlich, dass auch ihre Vernunft zunächst ganz im Dienst des Erhalts dieses einmal gelernten Vorurteils steht (96). Reimarus kritisiert hier die Predigt der christlichen Sündenlehre, die die Vernunft als verdorben, schwach und gefährlich abwertet und den Menschen das eigenständige vernünftige Forschen nach Wahrheit verbietet (97–99). Nur durch eine gewaltsame dogmatische Instrumentalisierung der Exegese gelingt es den Theologen, die Sündenlehre in Einklang mit der Autorität der Bibel zu setzen. An mehreren Beispielen weist Reimarus nach, wie die Theologen durch gezielte philologische Fehlinterpretationen die Marginalisierung menschlicher Vernunft in den biblischen Text hineinzulesen versuchen (100–106). Als wichtigste Nachweisstelle gilt den Theologen die Geschichte vom Sündenfall der ersten Menschen, durch den sie die Lehre von der Verderbnis von Vernunft und Willen zu belegen versucht. Indem Reimarus zeigt, wie kindlich und grob unvernünftig Adam und Eva in der Geschichte vom Sündenfall handeln, macht er deutlich, dass die menschliche Vernunft gerade im Vergleich mit der Vernunft Adams und Evas keineswegs als verdorben erscheinen muss (107–110). Unter Hinweis auf die biblische Prophetie und die christliche Theologiegeschichte zeigt Reimarus, dass die einfachsten Grundregeln der Vernunft die Theologie stets bestimmten und die Vernunft der Offenbarung von Anfang an vorausliegt (110). Die ganze Religions- und Kirchengeschichte von der Zeit Moses bis zur Reformation beschreibt Reimarus als einen Weg der langsamen Durchsetzung und Selbstbefreiung der menschlichen Vernunft, die noch immer nicht ihr Ziel erreicht hat (112–116). Nach dieser Kritik der dogmatischen Abwertung der Vernunft wendet sich Reimarus in Kapitel I,4 der damit einhergehenden Aufwertung des Glaubens in der kirchlichen Lehre zu. Denn während die Katechismen alle Verheißungen an den Glauben binden, dessen Inhalte sie formulieren, warnen sie vor dem Unglauben als vor einer Todsünde (118–123). In dieser Gewohnheit, nach der ein jeder Anhänger einer jeweiligen Religionspartei seinen eigenen Glauben als den allein selig machenden versteht und verteidigt, sieht Reimarus eine Gefahr für die vernünftige Religion, deren Anhänger als Ungläubige mit äußerster Härte verfolgt werden. Dass die Anhänger der vernünftigen Religion oft eine Verteidigung des Christentums anstreben, wird hierbei nicht honoriert (123–126). Erneut weist Reimarus hier auf die Rolle der Vernunft in der Religionsgeschichte des Christentums hin: Die allgemeine Religion Jesu wurde von den Aposteln durch Beimischung religiöser Vorstellungen des zeitgenössischen Judentums verdunkelt und im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte durch immer mehr dogmatische Glaubensformeln erstickt. Erst durch die Reformation wurde der ursprünglichen vernünftigen Religion zu mehr Licht verholfen. Doch zeigt die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den Deisten, dass die Befreiung der Vernunft ihr Ziel noch nicht erreicht hat (126–128). Noch immer wird der Pöbel gegen die Vernünftigen mobilisiert, die ihre wahre Gesinnung verbergen müssen, um nicht öffentlich geächtet zu werden (129 f.). Reimarus wirft der gegenwärtigen protes-
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tantischen Christenheit einen Mangel an Toleranz vor. Naturalisten, Freidenker, Deisten, Religionsspötter und Atheisten werden in der öffentlichen Meinung nicht ausreichend unterschieden. Ausgerechnet der Protestantismus, der besonders in den reformierten Niederlanden ein hohes Maß an Toleranz zeigt, geht gegen Sozinianer und Deisten im Innern intolerant vor (131–133). Um zu zeigen, dass auch das gegenwärtige Judentum von einer ihm eigenen Tradition der Toleranz weit abgekommen ist, weist Reimarus auf den Fall des jüdischen Freidenkers Uriel da Costa hin und im Kontrast hierzu auf die mosaischen Vorschriften zum Umgang mit Fremden sowie auf die sieben biblischen Grundartikel des Glaubens der Kinder Noahs, an die Maimonides schon früh eine Toleranztheorie angeschlossen hatte, die dann im England des 17. Jahrhunderts von John Selden erneut aufgegriffen worden war. (135–137). Ähnlich wie im Fall des Judentums sieht Reimarus auch die Christen ein altes, von Jesus selbst eingefordertes Maß an Toleranz verfehlen. In seinem Gleichnis vom Unkraut machte Jesus deutlich, wie selbst mit denjenigen, die man für Ungläubige halten könnte, umzugehen sei. Auch die Jünger Jesu haben in seiner Nachfolge Toleranz geübt (138–141). Das gegenwärtige Christentum, das ein Zwangssystem unvernünftigen Glaubens errichte und damit die Toleranz verhindere, stehe somit außerhalb der skizzierten jüdisch-christlichen Tradition religiöser Toleranz (141–144). In dem das erste Buch abschließenden Kapitel I,5 bietet Reimarus eine Liste von acht Mängeln, die dem Christentum aus seiner ablehnenden Haltung der Vernunft gegenüber erwachsen sind: 1. Im Christentum wird der Vernunftgebrauch gar nicht erst gelernt. Die Theologen sind so ungelehrt, dass sie ihre Glaubenssätze nicht einmal selbst überprüfen können (146–151). 2. Der Aberglaube, den die Protestanten bei den Katholiken einst kritisierten, hält sich hartnäckig auch im Protestantismus. Die Schriften Balthasar Bekkers, John Websters und Christian Thomasius’ machen deutlich, welche Bedeutung der Teufelsglaube noch immer hat (151–153). 3. Die Heilsgewissheit der Christen wirkt sich nachteilig auf die Tugend aus. Gerade der Klerus macht sich schlimmster Gewalttaten schuldig. Auch gelten durch die Satisfaktionsleistung Christi die schlimmsten Verbrecher als gerechtfertigt (153–157). 4. Im Christentum misst man äußerlichen Zeremonien zu hohe Bedeutung bei. Den Menschen wird hierdurch ein Aberglaube angewöhnt, der leicht in den Dienst priesterlicher Gewinnsucht geraten kann. Nachdem die Reformation gegen diese Form der Werkgerechtigkeit protestiert hatte, suchte der Pietismus erneut den Weg zu ihr zurück (157–161). 5. Enthusiasmus und Fanatismus sind Grundprobleme des Christentums seit der Antike. Im pietistischen Bekehrungsglauben und Hören auf ein inneres Wort kommt dieser Missbrauch zu einer neuen Blüte (162–165). 6. Seit der Antike leidet das Christentum an innerer Spaltung. Jesus selbst lebte innerhalb der jüdischen Religion und reduzierte diese auf einfache Begriffe. Erst die Apostel ergänzten diese Lehre durch verschiedene Mysterien, wobei sie mit den Juden und unter sich selbst in Konflikt gerieten. Die Disharmonie der Evangelien und der Streit
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um den Kanon machen deutlich, wie weit der innerchristliche Streit zurückverfolgt werden kann. Der Versuch, den Streit durch Konzilien zu regeln, mündete in ein Zeitalter religiös motivierten Gewalthandelns (165–168). 7. Aus einer Enttäuschung heraus angesichts der offensichtlichen Schwächen des Christentums können Menschen leicht dem Atheismus und dem Laster verfallen, zumal die Katechismen keinen vernünftigen Gottesgedanken formulieren (168–170). 8. Der Deismus ist ein Problem, das dem Christentum daraus entstand, dass es die vernünftige Religion Jesu verließ und eine Unterdrückung der Vernunft betrieb. Die Englische Kirche gibt ein Beispiel, wie das Verhältnis von vernünftiger Religion und kirchlichem Christentum harmonisch gestaltet werden kann. Ungeschickt verhält sich demgegenüber der Klerus in Deutschland, der die Deisten zwingt, ihre wahre Meinung zu verbergen (170–180). Erst im zweiten Buch »Betrachtungen über die angegebenen Boten der Offenbarung vor Mose« wendet sich Reimarus der biblischen Heilsgeschichte zu. Bevor er jedoch in Gestalt eines kritischen Kommentars die einzelnen biblischen Bücher durcharbeitet, legt Reimarus ganz allgemeine Kriterien fest, die bei der Prüfung aller in der Bibel berichteten Offenbarungen zur Anwendung gebracht werden müssen. Denn es ist ein Charakteristikum der besonderen, übernatürlichen Offenbarung, dass sie nicht als eine einzige, allgemeingültige Offenbarung für alle Menschen in der Geschichte erscheint und dass sie auch nicht allen Menschen unmittelbar zur Verfügung steht. Sie ergeht in der Geschichte an jeweils einzelne Offenbarungsmittler, an Menschen also, die das unmittelbar von Gott Empfangene an die übrigen Menschen weitergeben. In dieser Grundkonstellation aller übernatürlichen, geschichtlich vermittelten Offenbarung ist die Möglichkeit menschlichen Betrugs stets mitgesetzt, so dass auf eine kritische Prüfung angeblicher Offenbarungen nicht verzichtet werden kann (183 f.). Das erste, allgemeinste Kriterium der Prüfung gewinnt Reimarus aus einer Gegenüberstellung des angeblichen Offenbarungsmittlers mit dem allgemeinen Zweck aller Offenbarung, die Menschen eine allgemeine, selig machende Religion zu lehren. Die biblischen Berichte dürfen diesem allgemeinen Zweck nicht entgegenstehen. Außerdem kann auch von den Offenbarungsmittlern verlangt werden, dass sie selbst gemäß den an sie ergangenen Offenbarungen handeln und keine eigennützigen menschlichen Interessen verfolgen (184–186). Da das christliche Vorurteil in allen biblischen Gestalten stets Offenbarungsmittler erkennen möchte, gilt es, dieses Vorurteil bei der Prüfung zunächst abzulegen. Hierzu gehört es auch, dass alles den Berichten beigegebene göttliche Vorgeben wie prophetische Einleitungsformeln etc. zunächst übergangen wird (187 f.). Dasselbe gilt für die Wunderberichte, die in einigen Erzählungen vorkommen. Auch Wunderberichte können von den Verfassern der biblischen Schriften ergänzt worden sein. Sie könnten ohnehin nicht mehr beweisen als die Allmacht Gottes, die auch kraft der Vernunft dem Menschen erkennbar ist. Die Wunder haben also an sich keine besondere Beweiskraft, so dass es auch nicht notwendig ist, sie je für sich einzeln zu widerle-
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gen oder auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Umgekehrt ist es aber so, dass der Nachweis der Unmöglichkeit eines einzigen Wunders die Glaubwürdigkeit der Wunderberichte insgesamt stark einschränkt (188–191). Am Ende dieser Liste von Kriterien und methodischen Vorüberlegungen stellt Reimarus drei grundlegende Mängel der im Alten Testament gebotenen Geschichten zusammen: Sie bleiben hinter dem Stand der natürlichen Religion zurück, insofern sie einen fehlerhaften Begriff von Gott bieten, sie zeigen sittlich verdorbenes Verhalten und sie bieten keine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele (192 f.). Auf diese Weise mit methodischen Grundsätzen ausgestattet wendet sich Reimarus zunächst der biblischen Urgeschichte zu, wobei er den biblischen Schöpfungsbericht auslässt. Reimarus beginnt mit der Erzählung vom Paradies und dem ersten Menschenpaar. Gegenstand der Kritik ist hier die dogmatisch motivierte allegorische Schriftauslegung der Orthodoxie, die in der Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies ein Protevangelium zu erkennen meint, das Adam seinen Nachkommen gepredigt habe (193 f.). Auch in dem Opfer Abels kann Reimarus weder eine religionsgeschichtliche Ersteinführung und Aufwertung des Opferritus noch ein Abbild des rechtfertigenden Christusopfers erkennen. Den Opferwettbewerb Kains und Abels deutet er vielmehr als ein Geschehen, in dem die beiden Geschwister ihrem Vater Adam als dem ersten Priester gegenüberstanden, der das Opfer Abels bevorzugte. Dass Adam hierbei einen verbreiteten priesterlichen Feuertrick zur Anwendung brachte, hält Reimarus für denkbar, wie er es auch für plausibel hält, dass der Priester Adam als Repräsentant Gottes den Brudermörder Kain zur Rede stellte (193–200). Der Kritik verfällt auch die Deutung des Stammbaums Adams im Kontext der nachfolgenden Sintflut, die nötig geworden sei, weil die gebotene Trennung der Sethiten von den Kainsnachkommen nicht eingehalten worden war. Hinsichtlich ihres sittlichen Verhaltens wertet Reimarus die als »Kinder Gottes« angesehenen Sethiten gegenüber den genau betrachtet kaum sehr verdorbenen Kainsnachkommen ab, wobei der Sethit Henoch seiner höchst verworrenen Offenbarungen wegen gesondert kritisiert wird (202–205). Es folgt die Kritik Noahs und der Sintflut. Die Sintflut erscheint Reimarus einerseits unbegründet, da keine konkrete Sünde der Menschen benannt wird, auf die Gott zu Recht mit der Flut hätte reagieren können, und sie wirft andererseits verschiedene Fragen technischer Art auf, die seitens der Exegese nicht ausreichend beantwortet wurden (206–210). Auch die aus dem zweiten Petrusbrief gewonnene Auffassung Noahs als eines Predigers der Gerechtigkeit Christi lehnt Reimarus ab. Nach dem biblischen Bericht sagte Noah zunächst nur die Flut an, verhielt sich selbst unsittlich, da er kein Mitleid mit den Flutopfern empfand, nach der Flut dem heidnischen Opferbrauch anhing, sich betrank und anstatt seines einen missratenen Sohnes den gesamten Stamm Kanaan verfluchte (210–213 und 215–217). Auch die Offenbarung, die er nach der Flut empfing und dem gesamten Menschengeschlecht in seinen Söhnen hätte predigen können, umfasst vier Aspekte einer Verheißung, die den Inhalt der natürlichen Religion insgesamt
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verfehlt. Erneut kommt Reimarus hier auf die von John Selden aufgegriffene Maimonidische Diskussion der praecepta Noachidarum zu sprechen, nach der Adam sechs und Noah eine siebte Grundwahrheit der natürlichen und praktischen Religion offenbart wurde. Reimarus lehnt den Versuch, die praecepta Noachidarum mit dem vernünftigen Sittengesetz der natürlichen Religion zu identifizieren, aus biblischer Perspektive ab. Nach dem biblischen Bericht bleibt Noah hinter dem Stand der natürlichen Religion zurück (213–215). Das letzte Stück der biblischen Urgeschichte behandelt Reimarus in Kapitel II ,2. Die in der Geschichte vom Turmbau berichtete Sprachverwirrung hält Reimarus für überflüssig, weil sich die Vielfalt der Sprachen besser auf natürliche Weise erklären lässt (220). In der nun folgenden Auseinandersetzung mit der Gestalt Abrahams gibt er zunächst einen Überblick über die von wundersamen Verheißungen begleitete Biographie des Erzvaters, die sich jedoch stets auf weltliche, materielle Ziele hin ausrichtet und insofern nicht als religiös charakterisiert werden kann. Auch die von Abraham eingeführte Beschneidung hält Reimarus für eine im Morgenland verbreitete, nichtreligiöse Sitte (220–223). Die auf Paulus zurückgehende messianische Interpretation der Segnung aller Geschlechter im Samen Abrahams sowie seines Glaubens als eines Christusglaubens lehnt Reimarus ab. Der Glaube Abrahams richtete sich auf die ihm verheißene Nachkommenschaft, und die Segnung aller Geschlechter in seinem Samen bedeutet, dass sich seine Nachkommen untereinander Glück wünschen sollten (224–226). Was die weiteren Einzelheiten der Abrahamsgeschichte angeht, so gelingt es Reimarus, zahlreiche Widersprüche und Unglaubwürdigkeiten innerhalb des berichteten Zusammenhangs von Verheißungen aufzudecken. Eine göttliche Sendung Abrahams in das Land Kanaan war nicht nötig, da sein Vater der Reiserichtung nach ohnehin schon dorthin unterwegs war. Auch ist das Land Kanaan ständig von Teuerung geplagt, so dass es nicht als Land, in dem Milch und Honig fließen, verheißen werden kann (226–228). Hinzu tritt eine Reihe von Begebenheiten, die an der sittlichen Haltung Abrahams zweifeln lassen: Abraham ist gegen das spätere Gesetz des Mose mit seiner eigenen Halbschwester verheiratet, er lässt sich von ihr zu unmenschlichem Verhalten gegen seine Magd Hagar hinreißen, er gibt seine Frau mehrfach gegen Geschenke an fremde Könige, wobei aus dem Bericht geschlossen werden kann, dass nicht Abraham, sondern der König Abimelech Isaaks Vater war, und er ist bereit, seinen eigenen Sohn zu ermorden (226–240). Erneut wendet sich Reimarus hier gegen eine christologische Interpretation der Opferung Isaaks (238–240). Hier formuliert Reimarus erstmals eine These, wie es zur Entstehung des Buches Genesis gekommen sein könnte. Die Widersprüche innerhalb des Erzählverlaufs der Abrahamsgeschichte leiten ihn zu der Annahme, dass ein Geschichtsschreiber die Erzählung unüberlegt aus alten Chroniken ergänzt hat, ohne auf den Kontext der Abrahamerzählung zu achten. Mit dieser Sicht der Entstehung des Alten Testaments weiß sich Reimarus in Übereinstimmung mit »vernünftige[n] Theologi«, die vor ihm bereits ähnliche Hypothesen
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formuliert hatten (240 f.). So wie Abraham wird auch sein Vetter Loth hinsichtlich seines ethischen Verhaltens kritisiert. Loth wohnt aus materiellen Gründen in einer Stadt von Frevlern, versäumt es, seine Gäste vor diesen zu warnen, und hat deren Sitten mit der Zeit offensichtlich so weit übernommen, dass er nach erfolgter Flucht aus der Stadt seine eigenen Töchter beschläft (243–245). Die These einer Komposition des Buches Genesis durch die Hand späterer Geschichtsschreiber bestätigt Reimarus aus den Erzählungen von Isaak, der exakt so wie zuvor Abraham mit seiner Frau bei Abimelech verweilt. Reimarus sieht hier zwei Geschichtsschreiber am Werk, die dieselbe Erzählung jeweils unterschiedlichen Protagonisten zuordneten (246–248). Die ethische Kritik an Isaak konzentriert sich auf dessen Duldung des Erbbetrugs Jakobs. Isaak handelt hier affektgeleitet und unbedacht, denn er schöpft zwar Verdacht gegen den vermeintlichen Esau, geht diesem Verdacht aber nicht weiter nach (249 f.). Den Höhepunkt der moralischen Verirrung bildet in Reimarus’ Betrachtung der Erzvater Jakob. Kleinlich bedacht auf materiellen Nutzen legt Jakob ein Gelübde vor Gott ab, das er nicht einhält, treibt Vielweiberei, betrügt seinen Schwiegervater Laban, raubt ihm die Töchter und geht gegen den in der Familie Labans verbreiteten Götzendienst nicht vor (252–256). Gewisse Anzeichen moralisch anständigen Betragens sieht Reimarus in der Biographie des nach Ägypten verkauften Josef. Jedoch verfällt auch er in die Sittenlosigkeit seiner Väter, sobald ihm die Befreiung aus der Knechtschaft glückt. Josef tut nichts gegen den ägyptischen Polytheismus und beutet das ägyptische Volk maßlos aus (258–261). Zusammenfassend kann Reimarus die Erzväter hinsichtlich ihres moralischen Verhaltens und ihres Bemühens um die Ausbreitung der selig machenden Religion nicht als Boten einer göttlichen Offenbarung gelten lassen. In den Geschichten der Genesis sieht er das Interesse eines jüdischen Geschichtsschreibers am Werk, der die Erwählung seines eigenen Volkes aufweisen wollte, hierbei jedoch mit völlig falschen religiösen und moralischen Vorstellungen zu Werke ging. Indem die Christen an die Väterverheißungen anknüpften, mussten sie die zahlreichen ethischen Entgleisungen der Erzväter entweder übersehen oder sie massiv umdeuten (262–265). Das dritte Buch »Betrachtungen über die Handlungen Mosis« stellt einen innerhalb der »Apologie« einzigartigen Abschnitt dar, der detailgetreu das Leben eines einzelnen Offenbarungsmittlers nachzeichnet. Reimarus beginnt in Kapitel III ,1 mit einer kurzen Beschreibung der Situation der in Ägypten lebenden Hebräer, aus denen auch Mose hervorging. Ihnen war von Josef das fruchtbare Land Goschen zugewiesen worden, wo sie zunächst in Wohlstand lebten, bis sie der Pharao aus Angst vor Aufständen mit harter Fronarbeit zu belasten begann (269 f.). Aufgrund der lange anhaltenden Sklaverei waren sie in die Kulturlosigkeit abgeglitten, passten sich dem Aberglauben der ägyptischen Volksreligion an und betrieben Idolatrie (270–272). Allein Mose bekam aufgrund seiner Erziehung am Hof Einblick in die ägyptische Weisheit und Wissenschaft. Anknüpfend an die Stephanusrede aus der Apostelgeschichte, die er mit weiteren Literaturbe-
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legen der Antike verbindet, entwickelt Reimarus die These, Mose sei bei Hof mit einer »hieroglyphische[n] Theologie« bekannt geworden, die insgeheim den Monotheismus lehrte, sich dem Volk und dessen polytheistischen Gewohnheit äußerlich aber anpasste. Von den ägyptischen Priestern habe Mose auch diverse Zaubertricks gelernt, durch die er dem Volk gegenüber eine göttliche Beauftragung vortäuschen konnte (272–274). Obwohl Mose von Ägyptern unterrichtet wurde, blieb ihm seine hebräische Herkunft nicht verborgen. Sein Mord an einem Ägypter zeigt, wie früh er bereits für sein unterdrücktes Volk Partei ergriff (274 f.). Die entscheidende Wende im Leben Moses brachte seine Heirat mit der Tochter des midianitischen Priesters Jitro, denn ebenso wie Mose war auch der Priester Jitro in die Geheimnisse der hieroglyphischen Theologie eingeweiht. Auch er war ein »kluger Mann«, der wusste, dass Idolatrie und äußerlicher Zeremoniedienst nur für das einfache Volk betrieben wurden, und ein Konflikt um die Religion entstand zwischen Mose und Jitro daher nicht (277 f.). Die Freundschaft der beiden ging sogar so weit, dass Mose ihn bei der Konstruktion und Durchsetzung seiner theokratischen Herrschaft unter den Hebräern zu Rate zog. Denn anders als der praktisch unerfahrene Mose wusste der langjährig erfahrene Priester Jitro, wie dem ungebildeten Volk der Israeliten die vergessene Jahwereligion beizubringen war und welche politische Bedeutung einer göttlichen Sendung des jungen Staatsmanns Mose zukam (283). Die angeblich göttliche Sendung des Mose wird für Reimarus so zu einer rein politischen Nutzenabwägung Moses und des Priesters Jitro. Die Offenbarung Gottes im Dornbusch erscheint im Kontext der Geschichte als unnötig, da Mose die Hebräer ohnehin immer schon befreien wollte und er angesichts des Thronwechsels am ägyptischen Königshof hierzu die Gelegenheit erhielt. Auch die Wunder, die Gott Mose als Hilfe mit auf den Weg gab, bewegen sich im Rahmen dessen, was Mose durch seine priesterliche Trickbetrügerei ohnehin zuwege gebracht hätte. Ebenso macht Moses ständige Zuhilfenahme menschlicher Berater nach der angeblichen Offenbarung den Bericht von der göttlichen Berufung in Reimarus’ Augen verdächtig. Zuletzt widersprechen auch Einzelheiten des Berufungsberichts wie die Erscheinung des unendlichen Gottes in einem Dornbusch und die betrügerisch begründete Bitte um drei Tage Aufschub vor den Truppen des Pharao den Vollkommenheiten Gottes, wie sie die natürliche Religion lehrt (279–285). Was die wundersame Vorbereitung des Auszugs durch Zauberei und Plagen angeht, so diskutiert Reimarus diese zunächst soweit möglich als priesterliche Trickbetrügereien, ohne die historische Glaubwürdigkeit des biblischen Zeugnisses in Frage zu stellen. Lediglich in sich widersprüchliche Berichte weist Reimarus als Erfindungen des Geschichtsschreibers aus (285–293). Die letzte Unstimmigkeit, die Reimarus in der Erzählung bis zum Exodus findet, betrifft die Angabe der Bevölkerungszahl. Diese wird auf 600.000 wehrfähige Männer beziffert, was selbst bei überdurchschnittlichem Bevölkerungswachstum angesichts der am Ende des Buchs Genesis gegebenen Zahlen als unmöglich erscheinen muss (295–298).
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Den Bericht über den Durchgang der Israeliten durch das Meer kritisiert Reimarus in Kapitel III ,2 erneut anhand grober Widersprüche, die sich in dem biblischen Bericht selbst finden. Er stellt zunächst die in dem Bericht gegebene Anzahl der Israeliten fest und konfrontiert diese mit der ebenfalls in dem Bericht gegebenen Zeit, in der der Durchmarsch erfolgt sein soll (299–307). Hinzugezogen wird eine genaue Beschreibung der Länge und Beschaffenheit des Weges einschließlich des Meeresgrunds, über den die Israeliten nach der Teilung des Wassers hätten gehen müssen. Reimarus zitiert hierbei bevorzugt landeskundliche Quellen der Antike, da er mit geomorphologischen Veränderungen seit der Zeit des Exodus rechnet. In allen Einzelheiten des Berichts kommt er zu dem Schluss, dass der Bericht vom Meerwunder in sich so viele Widersprüche enthält, dass er insgesamt nicht als glaubwürdig gelten kann und dass der Geschichtsschreiber die Gegend, die er beschreibt, nicht kannte (307–322). Gesondert wendet sich Reimarus gegen Jean Le Clercs »Dissertatio de Maris Idumaei trajectione«, in der der Durchzug mittels tendenziöser Auswahl historischer Materialien als technisch möglich dargestellt wird (323–326). Überlegungen zu einer möglichen natürlichen Erklärung des Meerwunders finden sich erst zu Beginn des Kapitels III ,3, in dem Reimarus die Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels noch einmal zusammenfasst. Das Meerwunder lässt sich auf natürliche Weise erklären, etwa durch einen starken Wind, wie er auch Alexander auf dem Weg durch die Pamphylische See geholfen hatte, oder durch eine Wassererscheinung in der Wüste, d. h. durch eine Sinnestäuschung auf Seiten der Israeliten. Hinzu kommt die Wunderbegeisterung der jüdischen Geschichtsschreibung, deren Fortentwicklung Reimarus besonders in den wunderüberladenen jüdischen Apokryphen beobachtet (327 f.). Was den weiteren Zug der Israeliten durch die Wüste angeht, so sieht Reimarus seinen Grund erneut nicht in einem göttlichen Befehl, sondern vielmehr in der Angst der Israeliten, sich den Bewohnern des Landes Kanaan im Kampf zu stellen (329–331). Mit besonderem Misstrauen begegnet Reimarus den Berichten von der wundersamen Ernährung der Israeliten in der Wüste, die stets nach der festen Aufeinanderfolge von Murren des Volkes und daraufhin gewährtem Wunder abläuft. Die Ernährungswunder sind zum einen nicht notwendig, da Berichte von aufwendigen Opfern etc. zeigen, dass die Israeliten ausreichend versorgt waren, und sie lassen sich zum anderen auf natürliche Ursachen zurückführen (332–334). Reimarus benennt eine Reihe von Phänomenen aus Beschreibungen der arabischen Wüste, die möglicherweise hinter den biblischen Wunderberichten stehen könnten. In den biblischen Wachteln lassen sich die in Samuel Bocharts »Hierozoicon« beschriebenen Zugvögel erkennen, die in der Wüste pausieren, das Manna wird botanisch als ein süßes Baumharz erklärt, das gemäß altem Aberglaube als vom Himmel fallend vorgestellt wird (334–347). Da sich jedoch selbst durch diese natürlichen Nahrungsquellen der Wüste die Ernährung der Israeliten nicht vollständig erklären lässt, fügt Reimarus eine kurze Reflexion über die Bedeutung des
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hebräischen Wortes für »Wüste« an, das zumeist ein minder fruchtbares Weideland bezeichnet. Die Israeliten betrieben Viehwirtschaft im Hinterland der Küstenregionen des Roten Meeres und waren durch den Handel auch mit Grundnahrungsmitteln wie Brot versorgt (350–353). Unglaubwürdig erscheint Reimarus auch der Bericht von der wundersamen Erzeugung von Wasser. Als ehemaliger Viehhirte des Jitro kannte Mose die Wasserverhältnisse in der Region bis zum Berg Horeb sehr genau. Das Wasserwunder ist daher entweder von Mose selbst inszeniert (355) oder später durch den Geschichtsschreiber erfunden worden, wie es analog bei profanen Autoren der griechischen Antike nachweisbar ist (356 f.). An diese Beobachtung anknüpfend stellt Reimarus einen kurzen Vergleich der kulturgeschichtlichen Entwicklung in der heidnischen Antike und bei den Hebräern an. Während die heidnische Antike den Wunderglauben nur während eines tempus mythicum kannte und ihn in einem darauf folgenden tempus historicum überwand, hielten die Hebräer an ihrem einmal gewonnenen Wunderglauben stets fest (357). Dass die wundersame Erzeugung des Wassers aus dem Stein im biblischen Bericht zweimal vorkommt, gibt Reimarus zudem Anlass, seine Hypothese über die Entstehung der biblischen Bücher weiter zu schärfen. Er unterscheidet eine Phase mündlicher Tradition von einer Phase ungeordneter Überlieferung schriftlicher Einzelurkunden, auf die eine dritte Phase schriftlicher Überlieferung folgte, in der der Ablauf der biblischen Erzählung konstruiert wurde (359 f.). Reimarus’ besonderes Missfallen erregt Moses Auftreten in der Schlacht gegen die Amalekiter. Dass die Israeliten überhaupt mit den Amalekitern in Konflikt gerieten, erklärt Reimarus daraus, dass sie plündernd und das Völkerrecht missachtend durch das Land zogen, bis die Amalekiter gegen sie vorgehen mussten. Doch anders, als man es beispielsweise von einem König erwartet hätte, führte Moses die Schlacht nicht an, sondern zog sich als Beobachter auf einen entfernten Berg zurück. Auch unterstand er sich nicht, die Verluste der Schlacht im Rahmen seiner theokratischen Lehren dem Willen Gottes anzulasten (360–362). Durch die theokratische Umdeutung der Wirklichkeit macht Mose jeden Krieg gegen die Israeliten zu einem Krieg gegen Gott und alle seine eigenen politischen Fehlentscheidungen zu Entscheidungen Gottes (362). Wie es dazu kam, dass Mose die Theokratie unter den Israeliten durch ein Gesetz regelte, erklärt Reimarus im darauf folgenden Kapitel III ,4. Es war Moses Schwiegervater Jitro, der erkannte, dass die Theokratie, die sich um die Person Moses zentrierte, an der physisch und geistig schwachen Person seines Schwiegersohns zerbrechen musste. Er empfahl ihm daher, das Volk, das bisher ihm als göttlichem Richter vertraute, durch ein Gesetz und ein System vertrauenswürdiger Richter regieren zu lassen (363–365). Diese Idee Jitros, das an Moses Person gebundene Recht zu kodifizieren, wertet Reimarus zwar grundsätzlich als einen bedeutenden Fortschritt (365), doch kritisiert er die praktische Umsetzung dieser Idee durch Mose. Denn die Einsetzung von Richtern und die Niederschrift eines angeblich göttlichen Gesetzes erschien Mose nur deshalb als sinnvoll, weil
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er hierdurch seinen Lebensalltag erleichtern und zugleich seine politische Macht vergrößern konnte (365 f.). Als unglaubwürdig erscheinen Reimarus hierbei die Berichte von der Theophanie, die Mose und auch dem Volk zuteil geworden sein soll. Die Theophanie steht zum einen im Gegensatz zu der Anbetung des Goldenen Kalbs, die sich die Israeliten im Angesicht Gottes nicht hätten erlauben können, und sie wäre zum anderen als ein Mittel priesterlicher Trickbetrügerei niemals glaubwürdig zu inszenieren gewesen, so dass sie Reimarus vollständig auf die Phantasie eines späteren Geschichtsschreibers zurückführt (367–369). Doch richtet Reimarus sein Augenmerk weniger auf die stückweise erfolgende Offenbarung des mosaischen Gesetzes (369–372) als vielmehr auf die Aktivitäten Aarons am Fuß des Berges. Denn Aaron, dem Mose vergessen hatte, Anteil an der entstehenden theokratischen Rechtsverwaltung einzuräumen, machte sich durch die Neubegründung der dem Volk von Ägypten her bekannten Idolatrie zu einem alternativen Führer der Israeliten anstatt des abwesenden Mose und gewann so an Einfluss (373–375). Da Mose diesen neuen Einfluss Aarons sowie die Gewaltbereitschaft der Leviten fürchtete, war er gezwungen, Aarons idolatrischen Fehltritt zu entschuldigen und ihn durch das Zugeständnis priesterlicher Ehre und Macht zu besänftigen. Mose benutzte zudem die gewalttätigen Leviten, um die theokratische Religion, die auch das Fundament seiner eigenen Herrschaft war, mit Gewalt und Blutvergießen durchzusetzen, wodurch sich zugleich die Achtung und Furcht vor dem Priestertum festigte (375–380). Den Bericht von der Tötung zweier Priester am Altar durch ein Feuer Gottes nimmt Reimarus zum Anlass, die wahre Funktionsweise der Feuersäule am Zelt des Mose sowie des Altardienstes zu erklären. Die Feuersäule wurde in einem Feuerbecken durch verschiedene brennbare Stoffe erzeugt und diente dem Zug der Israeliten als Orientierungszeichen in der Wüste. Erst später wurde es mit einer Vorrichtung zum Heben und Senken am Zelt des Mose befestigt, wo Josua es in Gang hielt, hob und senkte, um den Israeliten vorzutäuschen, Gott selbst sei in der Rauchsäule bei Mose anwesend. Nach einer kurzen Beschreibung der verschiedenen priesterlichen Feuerzauber der Antike macht Reimarus sich daran, den Tod der beiden Priester als einen tragischen Betriebsunfall am Altar zu beschreiben. Als der mit leichtentzündlichem Öl getränkte Holzstoß auf dem Altar durch einen von Josua aus dem Rauch heraus gespritzten Petroleumstrahl entzündet werden sollte, zielte er daneben und traf versehentlich auch die beiden Priester (381–389). Als dieses fortan absichtliche Abweichen des feurigen Petroleumstrahls aus der Rauchsäule immer mehr Theokratiekritiker das Leben kostete, bildete sich Widerstand in der Rotte Korach, die sich über das allzu harte Vorgehen Moses gegen die Theokratiekritiker beklagte. Der Gebrauch der Feuersäule und die unfallgefährliche Entzündung des Altars durch einen Petroleumstrahl wurden daher eingestellt und man wich auf die Verwendung eines trockenen Feuerpulvers zur Entzündung des Altars aus (389). Was das weitere Anwachsen der mosaischen Gesetze im Deuteronomium angeht, so beobachtet Reimarus einen zunehmenden Einfluss des
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Priesters Aaron. Das Deuteronomium gesteht den Priestern die Macht über das Königtum zu, und tatsächlich blieben die Priester in der Zeit nach Mose die stillen Machthaber innerhalb des Volkes Israel, die die Entstehung einer kontinuierlichen Regierung in Israel zugunsten ihres Machterhalts während der Richterzeit stets bekämpften (390–393). Die Priester, die ihr Amt vererbt bekamen und sich um ihre Bildung daher nicht zu sorgen brauchten, waren berechtigt, im Namen Gottes alle Angelegenheiten im Volk zu beeinflussen, wirkten als Richter auch in allen weltlichen Rechtssachen und verlangten den Menschen unzählige Verpflichtungen ab (394 f.). Ausführlich analysiert Reimarus alle Aspekte der ökonomischen Besserstellung der Familie Aarons und des Stammes Levi (395–416). Hierbei vergleicht er die in den Gesetzen des Mose vorgesehenen Privilegien der Priester mit den ökonomischen Strategien der mittelalterlichen Mönchsorden, die in geringerem Umfang dieselben Ziele verfolgten (409 und 415 f.). Neben diesen auffälligen Ungerechtigkeiten der mosaischen Gesetze weist Reimarus auch auf eine Reihe von Bestimmungen hin, die an dem gesunden Menschenverstand des Gesetzgebers Mose zweifeln lassen. Genannt werden hier die Zentrierung auf den einzigen Kultort Jerusalem, die Bestimmungen zum Jubeljahr und das Zinsverbot (420–422). Der Verbreitung der Religion tat Mose damit insgesamt einen schlechten Dienst, denn die Ausbeutung durch die Jahwepriester trieb die Israeliten immer wieder in den Götzendienst zurück (419 f.). Auch versäumte es Mose, dem Priestertum diejenigen Bildungsaufgaben aufzutragen, durch die die Verbreitung der wahren Religion hätte befördert werden können (423). Die weitere Geschichte der Wanderung des Volkes Israels nach dem Weggang vom Gottesberg bespricht Reimarus in Kapitel III ,5. Er führt hier den Nachweis, dass das Volk die mosaische Theokratie trotz der aufwendig inszenierten göttlichen Wunder zunächst nicht akzeptieren wollte. Neben dem Arsenal der mosaischen Betrügertricks, die in der Rauch- und Feuersäule ihren Gipfel finden, diskutiert Reimarus hier auch eine religionspsychologische Theorie über die Entstehung des Aberglaubens, dessen sich die Priester bedienen. Durch geheimnisvolle Worte und Handlungen geben die Priester an sich alltäglichen Gegenständen ein sakrales Ansehen. Als Beispiel für den Aberglauben innerhalb des Christentums nennt Reimarus die Transsubstantiationslehre (428). Besondere Aufmerksamkeit schenkt er daneben auch der »theocratischen Sprache« Moses, die alle an sich alltäglichen Dinge und Begebenheiten als göttlich oder von Gott gelenkt zu betrachten lehrte (442 f.). Hierbei zeigt sich auch eine Gewohnheit der Israeliten, Mose als Zentralgestalt der göttlichen Rechtssprechung mit Gott selbst sprachlich zu identifizieren, worin Reimarus einen Missbrauch des göttlichen Namens erkennt (444 f.). Doch blieb die Theokratie des Mose trotz der verschiedenen politischen und religiösen Autorisierungsstrategien Moses im Volk schlecht akzeptiert. Das ständige Murren zeigt, wie wenig sich die angeblich göttliche Führung Moses im Kreis seiner Vertrauten und im breiten Volk durchzusetzen vermochte (445–450). Dass die Kritiker des Führungsanspruchs Moses im Recht
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waren, zeigt Reimarus anhand einer Betrachtung der militärischen Vorbereitung der Landnahme, die noch unter der Führung Moses erfolgte. Mose zeigt sich hier außer Stande, die Eroberung Kanaans zu planen, und gibt zudem seine eigenen Zweifel an dem Unternehmen an das Volk weiter (451 f.). Die Versuche eines Vorstoßes auf das Land Kanaan hin betrachtet Reimarus vom Standpunkt des Völkerrechts aus und zeigt, dass die benachbarten Könige gut daran taten, Mose und die Israeliten, die skrupellos nach dem Recht des Stärkeren verfuhren, selbst den angeblich friedlichen Durchzug durch ihr Land zu verwehren (458–464). Den Abschluss der Taten Moses bildet seine Anordnung der grausamen Bestrafung des Abfalls zum Baal Peor sowie der Rache an den Midianitern (465–470). Was den Tod Moses angeht, so bezweifelt Reimarus dessen göttliche Anordnung. Dass sich Mose von der Führung der Israeliten zurückzog, erklärt er damit, dass Josua mit der Zeit neben ihm so mächtig wurde, dass er dessen Drängen auf Nachfolge in der Führung der Theokratie nicht mehr standhalten konnte. Dass Moses Grab nicht zu finden ist, wertet Reimarus als Argument für seine Vermutung, Mose habe sich irgendwo weit entfernt vom Volk Israel zur Ruhe gesetzt und seinen Tod vor dem Volk lediglich inszeniert (470–473). Abschließend fasst Reimarus die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammen hinsichtlich der Frage, ob Mose als ein Verbreiter der natürlichen Religion und Moral gelten könne, und kommt hierbei zu einem eindeutig negativen Ergebnis. Er fordert daher, das Christentum müsse sich vom Alten Testament distanzieren und in der Lektüre desselben nach denselben Regeln verfahren, die bei der Lektüre profaner Autoren der Antike angewendet werden (473–476). Das vierte Buch »Von den Nachfolgern Mosis im Regiment« spannt den Bogen der Geschichte Israels abschließend von der Landnahme bis zum zweiten Buch der Könige. Das Kapitel IV,1 wendet sich zunächst Josua zu, der, wie die Berichte von der Landnahme zeigen, von Mose das Recht des Stärkeren übernahm. Die kriegerischen Auseinandersetzungen entzünden sich stets am Widerstand einzelner Könige und widersprechen den Regeln des Völkerrechts. Josua macht keine Friedensangebote und ermordet die besiegten Völker (479–481). Zugleich verpasst er es, im Zuge seiner Eroberungen den heidnischen Götzendienst zu bekämpfen (482 f.). Sehr ausführlich diskutiert Reimarus die angeblichen Wunder der Landnahme. Die Eroberungen Jerichos und Ais sowie den Stillstand der Sonne weist er als historisch unglaubwürdig aus, und den Stillstand der Sonne erklärt er aus der fehlerhaften Nutzung einer bildhaft und poetisch schildernden orientalischen Quelle durch einen an historischen Tatsachen interessierten Geschichtsschreiber (484–499). Die Zeit nach dem Wirken Josuas betrachtet Reimarus in Kapitel IV,2 als eine von politischer Führungslosigkeit und religiösen Missbräuchen geprägte Zeit. Weil der Priesterstand vor einer starken politischen Macht, etwa eines Königs, Angst hat, sorgt er dafür, dass ein stabiles Königtum gar nicht erst entsteht, und schadet damit zuletzt nicht nur dem Staat, sondern auch sich selbst. Denn die
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Religion kann nach Reimarus’ Überzeugung nur dort gepflegt werden, wo Menschen in geregelten Verhältnissen leben und die zur Religionsausübung notwendigen Institutionen bestehen (501 und 523). Nur in seltenen Fällen und wenn es durch die äußere militärische Bedrohung unumgänglich wird, benennen die Priester einen so genannten Richter, der nur bis zur Erlangung eines einzigen Sieges tätig ist, um sich sofort danach zur Ruhe zu setzen. Die Richter verhalten sich zumeist unmoralisch und kümmern sich nicht um die Beseitigung des Götzendienstes (506–534). Den Anfängen des Königtums wendet sich Reimarus in Kapitel IV,3 zu. Erst als die Missstände der Richterzeit unter den bestechlichen Söhnen Samuels unerträglich werden, gibt Samuel nach langem Zögern dem Drängen der Ältesten nach, die die Einsetzung eines Königs fordern. Das Königtum, das damit seinen Anfang nimmt, wertet Reimarus grundsätzlich positiv. Kritisch betrachtet er nur die augenfällige Leitungsschwäche des für das Amt eigentlich ungeeigneten Hirtenjungen Saul. Samuel nutzt alle Möglichkeiten, sich zumeist unter theokratischen Vorwänden in die Regierungsgeschäfte Sauls einzumischen und dessen Herrschaft zu schwächen (542–558). Diese ständige Illoyalität Samuels gegenüber dem König gipfelt darin, dass er heimlich den kühnen und kampferfahrenen David zu einem Gegenkönig salbt. Dieser verhält sich zunächst noch tugendhaft und König Saul gegenüber loyal, doch beginnt er sehr bald, herumstreifende Gesetzlose um sich zu scharen, Morde im Namen Gottes zu begehen und der Herrschaft Sauls so zu schaden. Als Saul mit seinen Söhnen im Kampf stirbt, wird David zunächst König über den Stamm Juda, um nachfolgend seine Herrschaft weiter auszubauen (559–585). Auch in den Berichten über Saul und David stößt Reimarus auf Stellen, die ihn über die Literargeschichte der Samuelbücher nachdenken lassen. Hier sind es Unregelmäßigkeiten im Erzählverlauf, die darauf schließen lassen, dass eine chronologisch ursprünglich stimmige Sammlung durch weitere Einzelberichte ergänzt wurde (562). In Kapitel IV,4, das Reimarus dem Königtum Davids widmet, hebt er zunächst die unrechtmäßige Übergehung der Nachkommen Sauls hervor, die David, nachdem seine Macht gefestigt ist, tötet (586–588). Was Davids Herrschaft festigt, ist sein gutes Verhältnis zum Priestertum. Er macht in sich unstimmige Versprechungen im Blick auf einen zu errichtenden Tempel und sorgt durch die Einrichtung einer priesterlichen Amtsordnung für eine geregelte Verteilung der priesterlichen Einkünfte (bis 592). Auf diese Weise gewinnt er die Priesterschaft als willige Förderer seiner königlichen Macht. In der Auseinandersetzung mit den letzten verbliebenen Sauliden sind es die Priester, die ihm helfen, den Mord an diesen möglichen Konkurrenten zu legitimieren (597–602). Gegen David führt Reimarus weiterhin dessen Unzuverlässigkeit im Umgang mit gegebenen Eiden an (602) und die unstete polygame Lebensweise, die in der bekannten Geschichte von Bathseba im Bade ihren Gipfel erreicht (612–618). Vernünftige Argumente beweisen, dass die Polygamie widernatürlich ist und Schaden bringt (617). Ferner
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vergleicht Reimarus die nur durch die priesterliche Sprache glorifizierten Taten Davids mit anderen, gemeinhin negativ gewerteten Taten aus der profanen Literatur der Antike (609 und 611). Am Ende des Kapitels steigert sich Reimarus zu einer regelrechten Verspottung des Königs David, indem er Davids sexuelles Unvermögen als Grund für die Vielweiberei und zunehmende Vernachlässigung der königlichen Amtspflichten anführt. Bereits zu Davids Lebzeiten muss Salomo den Thron besteigen, da David ständig abgelenkt ist (618–621). Über den König Salomo urteilt Reimarus in Kapitel IV,5 verhältnismäßig positiv, da dieser die Kunst des Regierens verstand und dem Reich eine Zeit des Friedens und Wohlstands brachte (624). Negativ vermerkt er dagegen den ungeheuren Luxus, in dem Salomo lebte und die Anzahl seiner Frauen (625 f.). Auch um die Einhaltung des mosaischen Gesetzes und der Religion kümmert sich Salomo kaum. Besonders das Königsrecht missachtet er ständig. Auch seine Begeisterung für die verschiedensten Formen des Götzenkults übersteigt das Maß dessen, was als eine frühe Form von Religionstoleranz bezeichnet werden könnte (626–631). Aus all dem zieht Reimarus den Schluss, dass auch die angebliche Weisheit Salomo auf spätere Legendenbildung zurückgehen muss. Denn hätte Salomo über außergewöhnliche Weisheit verfügt, so hätte sich diese auch in seinem Lebenswandel zeigen müssen (632). Das Ende der Herrschaft Salomos, auf das die Reichsteilung folgte, betrachtet Reimarus erneut im Kontext des ständigen Konflikts von priesterlicher und königlicher Macht. Es waren die Priester, die den unredlichen Jerobeam unterstützen und damit letztlich auch ihrer eigenen Stellung schadeten, da sich mit der Reichsteilung auch ihr Einfluss halbierte (638 f.). Die weitere Geschichte der Könige bis zum Exil beurteilt Reimarus wiederum anhand des Kriteriums der erfolgreichen Durchsetzung von Religion und Moral, wobei er den Konflikt zwischen Thron und Altar stets im Blick behält (639–671). Reimarus schließt das Buch mit einer Zusammenstellung der zur Anwendung gebrachten Beurteilungskriterien (671–673), bietet einen kurzen Überblick über die Zentralgestalten der Geschichte Israels (674–678) und formuliert zuletzt drei Gründe, aus denen die genannten Personen nicht Boten einer seligmachenden Offenbarung sein können: Ihre Handlungen zielen auf weltliche Güter, sie fördern nicht die ordentliche weltliche Regierung und den Unterricht, die die Verbreitung von Religion und Moral begünstigen würden, und sie handeln selbst der Religion und Moral zuwider (678 f.). Anknüpfend an diese kritische Relektüre der alttestamentlichen Heilsgeschichte bietet Reimarus im fünften Buch »Von den Lehren des A. T.« eine Zusammenfassung der im Alten Testament gebotenen Theologie. Hierbei zeigt sich, dass das Alte Testament alles andere als ein allgemeines Lehrbuch der Religion ist. Sein Mittelpunkt ist vielmehr das Gesetz, das einmal von Mose verfasst von Esra eine geschichtliche Rahmung erhielt. Die gesamte biblische Heilsgeschichte einschließlich der nachexilischen Zeit ist an der Frage der Einhaltung des mosaischen
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Gesetzes orientiert (685–690). Die eigentliche Darstellung der Theologie des Alten Testaments beginnt Reimarus erst im vierten Paragraphen des Kapitels V,1 mit einer Kritik der alttestamentlichen Gotteslehre. Mit dem Gottesnamen »Jehova«, um den sich in der Spätzeit ein regelrechter Aberglaube bildete, ist den Israeliten, die nur den ägyptischen Polytheismus kennen, zunächst wenig geholfen (691). Auch die Einheit Gottes, die zu glauben das mosaische Gesetz befiehlt, wird den Israeliten an keiner Stelle erklärt (692). Stattdessen zeichnet das Alte Testament das zutiefst anthropomorphe Bild eines unvollkommenen Gottes: Gott erschöpft sich und muss sich erquicken, er lässt die Verführung der ersten Menschen zum Sündenfall geschehen, er ertränkt die eben erst geschaffenen Menschen in der Flut und spricht zu den Menschen aus endlichen Gegenständen (693–703). Hinzu kommt, dass der Polytheismus im Alten Testament keineswegs vollständig überwunden wird, was Reimarus an der Pluralendung des hebräischen Wortes »Elohim« nachweist (695–697). Ein weiterer kritischer Gedanke richtet sich auf die durch das mosaische Gesetz begründeten Zeremonien. Reimarus bemängelt, dass sie an keiner Stelle als Mittel zur religiösen Unterrichtung der Israeliten verstanden werden. Ihr Sinn wird den an ihnen teilnehmenden Menschen nicht erklärt. Die im Gottesdienst verwendeten Psalmen sind wenig lehrreich (705–708). Auch die übrigen zur Erbauung vorgesehenen Bücher bieten kaum religiös wertvolle Wahrheiten. Das Buch der Sprüche enthält nicht mehr als Alltagsweisheiten, das des Predigers lehrt die Zufriedenheit im Endlichen, das Hohelied ist voller jugendgefährdender Gedanken, und das Buch Hiob lässt das Problem des Leidens des Gerechten letztlich unbeantwortet (708–713). Was die Propheten angeht, so sind sie stets in politische Fragen verstrickt, predigen nicht erfolgreich gegen den Götzendienst und leiden oft an schweren Krankheiten und an Wahnsinn (714–716). Abschließend wendet sich Reimarus gegen die Auslegung der alttestamentlichen Prophetie vom Neuen Testament her. Er besteht darauf, dass sich prophetische Verheißungen stets auf Ziele innerhalb der Geschichte Israels und nicht auf das Heil eines künftigen Messias richten (718–720). Letzteren Kritikpunkt führt Reimarus in einem eigenen Kapitel V,2 über die alttestamentlichen Verheißungen eines Messias weiter aus. Er zeichnet die Hoffnung auf einen Davididen bis in die nachexilische Zeit hinein nach (722–724) und macht deutlich, welche Auslegungsprobleme die messianischen Passagen schon für die rabbinischen Ausleger mit sich brachten (725). Die allegorische Auslegungstradition des Christentums, die zuletzt in der Theologie Johannes Coccejus’ einen Höhepunkt fand, lehnt Reimarus ab (726–728). Im weiteren Verlauf des Kapitels diskutiert er alle einschlägigen Stellen aus den Büchern Mose und den Propheten, die traditionell als Hinweise auf den Messias (729–738) und dessen Leiden (738–755) gedeutet werden. Das Kapitel V,3 zur Anthropologie des Alten Testaments beginnt Reimarus mit einer kurzen Schilderung des hebräischen Denkens, das Lohn und Strafe ausschließlich innerhalb der Zeit und im alltäglichen Leben zu thematisieren vermag.
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Ihm widerspricht daher grundsätzlich die christliche Vorstellung vom ewigen Tod als Strafe der Sünde (756). Selbst der zeitliche Tod kann keine Folge der Sünde sein, da auch die der Sünde unfähigen Tiere von ihm betroffen sind und er sich einfacher aus dem materiellen Verfall des Körpers erklären lässt (765). Alle Ausführungen zur Anthropologie konzentrieren sich ansonsten auf die Geschichte vom Sündenfall. Reimarus zeigt, dass Adam und besonders Eva einfältig und willensschwach waren, sich von einer sprechenden Schlange verleiten zu lassen, ausgerechnet von dem Baum zu essen, vor dem Gott gewarnt hatte (756–759). Hieraus folgt, dass der Mensch bereits vor dem Fall unvollkommen war, so dass die in sich höchst unstimmige Geschichte vom Sündenfall diejenige Pointe verliert, die die christlichen Ausleger ihr gewöhnlich geben. Was die Frage der moralischen Urheberschaft des Falls angeht, so zeigt Reimarus zudem, dass diese allein Gott zufallen muss, da er die Schlange schuf und die Verführung vorauswissen konnte (760–763). Betrachtet man die übrigen Bücher des Alten Testaments, so finden sich keinerlei Bezüge zur Geschichte vom Sündenfall. Reimarus schließt hieraus, dass der Sündenfall bei den Hebräern kein Glaubensartikel war (763 f.). Als einen vernünftigen Kern der Geschichte vom Sündenfall lässt Reimarus einzig die allgemein menschliche Erkenntnis gelten, dass der Mensch zerbrechlich und willensschwach geboren wird, sich aber mit Hilfe der Vernunft zum Besseren hin entwickeln kann (766). An dieses grundsätzliche Vermögen des Menschen knüpft die »praktische Religion der Hebräer« an, für die auch Jesus eintrat. Sie fordert vom Menschen nicht mehr als das Tun des Guten und das Unterlassen des Bösen, wurde jedoch durch die Fülle der alttestamentlichen Zeremonialgesetze verdunkelt (767 f.). In Kapitel V,4 führt Reimarus das Thema der Anthropologie fort, indem er die menschliche Seele und ihre Unsterblichkeit in den Blick nimmt. Da die Unsterblichkeit der Seele schon innerhalb der vernünftigen Religion als Bedingung der Möglichkeit eines jenseitigen Abschlusses der Vervollkommnung des Menschen eine wichtige Rolle spielt, fordert Reimarus, dass diese Lehre auch in der angeblich übernatürlichen Offenbarung des Alten Testaments enthalten sein müsse (769 f.). Er wendet sich damit gegen William Warburtons These, das Fehlen der Unsterblichkeitslehre sei nachgerade als ein Argument für den göttlichen Ursprung der mosaischen Offenbarung zu werten, da Mose, hätte er sich an die antiken Grundregeln der politischen Instrumentalisierung der Religion gehalten, in seiner Gesetzgebung niemals auf die Unsterblichkeitslehre verzichtet hätte (771 f.). Ebenso wie Warburton stellt Reimarus fest, dass die Unsterblichkeitslehre schon unter den Heiden ihrer praktischen Vorteile wegen hoch geschätzt wurde, folgert daraus aber, dass sie auch für Mose im Krieg, bei der Einschärfung seiner Gesetze oder bei der Rechtfertigung des Leidens von Gerechten so vorteilhaft gewesen wäre, dass sich ihr Fehlen allein aus der schlichten Unkenntnis Moses erklären lässt und nicht aus einer göttlichen Sendung (773–775). Reimarus führt mehrere Bibelstellen an, die die Unsterblichkeit explizit leugnen, und vergleicht
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sie teilweise mit Passagen aus der Literatur der heidnischen Antike (778–787). Die Vorstellung einer immateriellen Seele ist den Hebräern unbekannt, so dass schon die Voraussetzungen für eine Unsterblichkeitslehre bei den Hebräern nicht gegeben sind. Die Toten weiß das Alte Testament in einem Totenreich, der Scheol, verborgen, aus der die Toten niemals zurückkehren (787–790). Reimarus kommt daher zu dem Schluss, dass die Lehre von der Unsterblichkeit den Hebräern erst nach dem Exil in der Zeit der Makkabäer bekannt wurde, als sich im Umkreis der entstehenden Synagogen eine jüdische Gelehrsamkeit bildete, die dazu in der Lage war, die fremde Lehre von den Babyloniern, den Persern und den Ägyptern zu übernehmen (805–807). Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der bisher zusammengetragenen Kritik an den angeblichen Offenbarungsboten des Alten Testaments und den Inhalten der durch sie übermittelten Offenbarung (813–819). Nachdem Reimarus vorgeführt hat, dass die Bücher des Alten Testaments mit den in ihnen enthaltenen Offenbarungen zu Unrecht Anspruch auf göttlichen Ursprung erheben, stellt er im sechsten Buch »Historia Canonis Veteris Testamenti« die Frage, wie es gleichwohl dazu kommen konnte, dass die Bücher des Alten Testaments in der öffentlichen Meinung als göttlich betrachtet wurden. Er geht dabei in der Chronologie rückwärts und stößt von der Endgestalt des alttestamentlichen Kanons aus bis in die Zeit der Entstehung der einzelnen Bücher vor (823). Es ist besonders der dritte Teil des Kanons, um den noch bis in die Zeit des Neuen Testaments hinein gestritten wurde. Nachweise hierfür findet Reimarus im Neuen Testament, bei Josephus und im Talmud (bis 834). Er schließt hieraus, dass es erlaubt sein müsse, den Prozess der Kanonisierung der ketubim kritisch zu rekonstruieren und hierbei weder der Auskunft des Josephus zu folgen, nach der nur die Hohepriester und Propheten die Schriften aufgezeichnet haben, noch der des Talmuds, nach der der Kanon in einer »großen Synagoge« direkt nach dem Exil zusammengestellt wurde (834–838). Als Ausgangspunkt wählt Reimarus den Bericht 2 Makk 2,13 ff., aus dem die groben Umrisse des Kanonisierungsprozesses erkennbar werden. Hier wird berichtet, dass Judas Makkabäus Befehl gab, die während des Krieges beschädigte Bibliothek des Nehemia wieder in Stand zu setzen. Den Juden stand infolgedessen ab ca. 140 v. Chr. ein größerer Bestand größtenteils fragmentarisch erhaltener Texte zur Verfügung, mit denen unkritisch umgegangen wurde. In einem längeren Prozess setzte sich ohne den Entscheid etwa einer Synode ein Konsens darüber durch, welche der Schriften als kanonisch zu gelten haben und welche nicht (838–843). Nachdem Reimarus den Grund für das kanonische Ansehen der biblischen Bücher auf diese Weise offen gelegt hat, wendet er sich in Kapitel VI ,2 der Entstehungsgeschichte einzelner biblischer Bücher und hier zunächst den Büchern Mose zu. Was die mosaische Verfasserschaft des Pentateuch angeht, so bemüht sich Reimarus, diejenigen Stücke ausfindig zu machen, die von Mose selbst stam-
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men. Dies sind das in zwei Fassungen erhaltene mosaische Gesetz ohne die aus mündlichen, levitischen Traditionen ergänzten Zusatzgesetze, ein umfangreiches Königsgesetz, von dem das Deuteronomium nur Auszüge bietet, Segen und Fluch zur Bekräftigung der Gesetze sowie das Abschiedslied des Mose (845–848). Im weiteren Verlauf des Kapitels liefert Reimarus eine Fülle von Einzelargumenten, die gegen Mose als den Verfasser des Pentateuch insgesamt sprechen. Angeführt werden die schon an früherer Stelle diskutierten Doppelüberlieferungen und verschiedene Einzelstellen, durch die die traditionelle Auffassung von der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuch widerlegt wird (849–862). Diese Beobachtungen führen Reimarus zu dem Schluss, dass die Bücher lange Zeit nach Mose aus verschiedenen Urkunden komponiert wurden. Die Frage, wie dies geschah und durch wen, bleibt zunächst jedoch unbeantwortet (863 und 866). In Kapitel VI ,3 wendet sich Reimarus den übrigen historischen Büchern des Alten Testaments zu. Auch sie betrachtet Reimarus als späte Kompositionen, die aus älteren und im Laufe der Zeit verschollenen umfangreicheren Geschichtsbüchern zusammengestellt wurden. Bücher »von den Kriegen des Herrn«, »von den Helden Israels«, »den Chroniken der Könige von Juda und von Israel« und andere kleinere Bücher dienten einem Geschichtsschreiber als Vorlage, der eine Geschichte von der Schöpfung bis hin zum babylonischen Exil konstruierte (867– 870). Weitere Geschichtsschreiber sind in der Zeit von Alexander dem Großen bis zu den Makkabäern anzusetzen. Sie verfassten die historischen Bücher, die die Zeit nach dem Exil beschreiben (874–880). Dasselbe Schema einer verschlechternden Rekonstruktion biblischer Bücher aus älteren, beschädigten Quellen bringt Reimarus in Kapitel VI ,4 auch bei den übrigen, nichthistorischen Büchern des Alten Testaments zur Anwendung. So ist der Psalter aus Resten der alten Gottesdienstlieder der Israeliten unter Beimischung neuerer, zum Gottesdienst ungeeigneter Lieder zusammengestellt worden (884 f.). Dasselbe gilt von den Sprüchen (885–887). Nach der Behandlung des Buchs Kohelet, des Hohelieds und des Buchs Hiob (887–894) wendet sich Reimarus den Propheten zu. Auch hier kann er die heutigen prophetischen Bücher als Produkte nachträglicher Rekonstruktion ausweisen: Die alten Prophetien wurden außerhalb offizieller Archive von Privatleuten auf Zetteln gesammelt und erst viel später in chronologischer Unordnung und unter Ergänzung neuer Passagen zu Büchern zusammengeschlossen (898 und 903). Erst nach diesen Überlegungen beantwortet Reimarus in Kapitel VI ,5 die Frage, wer als der Verfasser der Bücher Mose gelten kann. Er schließt hierbei zunächst drei Möglichkeiten aus: Die Bücher Mose sind nicht zur Zeit des Königs Hiskia, nicht durch den Propheten Jeremia und auch nicht durch jenen Priester, der die Samaritaner im Gesetz unterrichtete, komponiert worden (916 f.). Es war vielmehr Esra, der der Gemeinde der Israeliten nach dem Exil das mosaische Gesetz einschärfte und dem Volk hierbei mehr bieten musste als den bloßen mosaischen Gesetzestext. Er verwendete ältere Urkunden, aus denen er eine Heils-
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geschichte um die Gesetzestexte herum flocht (918–921). Von hier ausgehend rekonstruiert Reimarus erneut die Geschichte der Kanonisierung, in deren Verlauf zunächst die Tora, später die Propheten und zuletzt die übrigen Schriften in das Ansehen kamen, heilige Bücher zu sein, wobei er sich bemüht, die theologischen Gruppierungen innerhalb des Judentums ab der Makkabäerzeit möglichst klar gegeneinander abzugrenzen (922–941).
2. Teil: Neues Testament Um einen historischen Hintergrund für die nachfolgende Betrachtung der Lehren Jesu zu gewinnen, stellt Reimarus zunächst im ersten, ohne Überschrift verbliebenen Buch die wichtigsten Eckdaten zu den politischen und religiösen Verhältnissen im Judentum der Zeit Jesu zusammen. Als kanonisch galten den Juden nur das Gesetz und die Propheten, die im synagogalen Gottesdienst der jeweiligen Lesung aus dem Gesetz zugeordnet wurden. Hinsichtlich des Auferstehungsglaubens, der in der Makkabäerzeit aufkam, herrschte im Judentum Uneinigkeit. Die Sadduzäer leugneten ihn, während ihn die Pharisäer annahmen. Letztere jedoch neigten zu einer Überbetonung rein äußerlicher ritueller Satzungen. Seit der Abspaltung der Samaritaner fehlte dem Judentum eine religiöse Einheitsinstanz. Zwar genoss das Synhedrium in Jerusalem hohes Ansehen, doch begründete es kein einheitliches Lehramt. Es blieb eine relativ höherwertige Instanz neben dem Tempel auf dem Garizim und den zahlreichen Synagogen, deren Jurisdiktionsgewalt weitgehend auf den römischen Statthalter übergegangen war. Zuletzt erwähnt Reimarus die antirömische Bewegung der Zeloten, die gegen die Besatzungsmacht Stimmung machte und Israel schließlich in den Krieg stürzen sollte (12–17). In dieser Zeit religiöser und politischer Orientierungslosigkeit blühte die messianische Erwartung unter den Juden, die bereits unter Antiochus Epiphanes einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. An Johannes dem Täufer kann Reimarus nachweisen, welche Bedeutung die messianische Erwartung hatte. Aus heidnischen Quellen führt er ferner Beispiele an, in denen Gaukler sich fälschlich als Messias ausgaben. Von diesen jedoch unterscheidet sich Jesus deutlich hinsichtlich seiner Lehren (17–20). Bei der Betrachtung der Lehren Jesu besteht Reimarus darauf, dass diese unterschieden werden müssen von den Lehren seiner Schüler, der Apostel. Reimarus verweist auf die allgemein bekannten Unterschiede zwischen Sokrates, Platon und den verschiedenen Schülern der Akademie, um eine Unterscheidung zwischen jeweiligen Lehrern und Schülern zu legitimieren, und lehnt die Tradition christlicher Exegese ab, der ein solcher differenzierender Umgang mit der Lehre Jesu und seiner Schüler fremd ist (21 f. und 24). Was die Lehre Jesu angeht, so unterscheidet Reimarus in ihr eine allgemeine Lehre von der praktischen Religion und eine spezielle Lehre vom Anbrechen eines theokratischen Himmelreichs, die sich nur an das Judentum der Zeit Jesu richtet (25). Mit seiner Lehre von der all-
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gemeinen praktischen Religion wandte sich Jesus vor allem gegen die Lehren der Pharisäer, die einen falschen Gottesbegriff und äußerliche Zeremonien in den Mittelpunkt stellten und die innere Vollkommenheit des Herzens darüber vergaßen (27 f.). Eben diese innere Vollkommenheit des Herzens zu befördern, ist aber der Zweck der Lehren Jesu in ihrer allgemeinen Ausrichtung an Juden und Heiden. Jesus forderte die Menschen auf, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und verlor sich nie in theoretischen Fragen der Theologie (28 f.). Auch bestärkte er seine praktischen Forderungen durch die Lehre von der Unsterblichkeit, die die Sadduzäer leugneten (29 f.). Ein besonderes Gewicht legt Reimarus bei der Zusammenstellung der praktischen Lehren Jesu auf die Bergpredigt. Erwähnt wird die bessere Gerechtigkeit, die verlangt, ebenso vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel, der Vorsehungsglaube im Abschnitt vom Sorgen, die Lehre vom Gebet und vom Schwören, der Hinweis auf innere Begierde des Herzens als Grund bösen Handelns in den Antithesen, die Goldene Regel sowie das Gebot der Feindesliebe (30–36). Mit allen diesen Lehren bezog Jesus kritisch Position gegen die Pharisäer, die durch ihre rein äußerliche Gesetzesobservanz der praktischen Religion zuwiderhandelten. Hierbei allerdings hob Jesus die alten Gebote nicht auf. Er unterstellte sie lediglich in Konfliktfällen den Geboten der allgemeinen praktischen Religion (36–38). In Kapitel I ,2 stellt Reimarus die Frage, inwiefern Jesus Geheimnisse über die natürliche und praktische Religion hinaus lehrte. Reimarus knüpft hier an eine Tradition der historisch-kritischen Betrachtung der neutestamentlichen Fundamente der christlichen Dogmatik an, die von den Sozinianern begonnen worden ist, und führt sie fort, indem er zwischen den traditionellen jüdischen Lehrbeständen vor Jesus, Jesu eigenen Lehren und den Lehren seiner Schüler unterscheidet (40). So zeigt er, dass ein adäquates Verständnis der matthäischen Himmelreichgleichnisse nur erlangt werden kann, wenn die jüdischen Vorstellungen von dem Messias und seinem Reich berücksichtigt werden. Das Himmelreich erweist sich so nicht als ein in streng dogmatischem Sinn eschatologisches Lehrstück, sondern vielmehr als eine konkrete Vision politischer Herrschaft in Israel (41–44). Auch den Titel »Sohn Gottes« erklärt Reimarus innerhalb der jüdischen Tradition. Erst durch den Evangelisten Johannes und durch Paulus, die von der »mystischen Theologie der Platoniker« geprägt waren, wurde der Titel zum Ausdruck der »Vergötterung« Jesu. Innerhalb der jüdischen Vorstellungswelt, die sich vom Alten Testament her erschließt, ist der Titel »Sohn« vielmehr Ausdruck der väterlichen Zuwendung Gottes an seinen Gesalbten, den Messias, wie sie sich schon bei der Einsetzung der alttestamentlichen Könige findet (46–62). Dasselbe gilt auch von Jesu Anrede Gottes als Vater. Gemeint ist hier die Unterordnung des Messias, als der sich Jesus verstand, unter den Willen Gottes und nicht die Hypostasierung einer zweiten Person Gottes, die erst Johannes aus »lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden« in das Evangelium einführte (62–66). Der Widerlegung der johanneischen Christologie widmet Reimarus
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verhältnismäßig viel Raum: Er zeigt einerseits, aus welchen philosophisch-theologischen Quellen Johannes schöpft, und bestreitet darüber hinaus auch die Orthodoxie der johanneischen Logos-Christologie im Sinne der altkirchlichen Konzilsentscheidungen (66–72). Auch den neutestamentlichen Belegstellen für den Geist als die dritte Person der Trinität gibt Reimarus in Kapitel I ,3 eine alternative Deutung im Kontext der Sprach- und Vorstellungswelt des Judentums der Zeit Jesu. Vom Alten Testament her zeigt er, dass mit »Geist Gottes« vor allem dreierlei gemeint sein kann: 1. Gott selbst, 2. eine besondere Begabung des menschlichen Gemüts und 3. eine menschliche Gemütsregung, das Gute zu tun (74). Reimarus warnt davor, jede figürliche Redensart des Hebräischen allzu gegenständlich zu verstehen, und lehnt es ab, im Geist eine dritte Person der Gottheit zu erkennen. Intensiv diskutiert er hierbei zwei Stellen, in denen vom Geist als einer Person der Trinität die Rede zu sein scheint: die Taufe Jesu, in der Jesus als »lieber Sohn« angesprochen wird und der Geist in Gestalt einer Taube auf ihn hinab kommt (77–84), und den matthäischen Taufbefehl mit seiner trinitarischen Formulierung (84– 85). Das Visionsgesicht des Täufers bei der Taufe Jesu deutet Reimarus im Kontext der jüdischen Messiaserwartung, wobei er einerseits die besondere Bedeutung der Taube als ein Symboltier für Sanftmut erwähnt und andererseits den historischen Ursprung der Identifizierung des Messias mit dem Gottesknecht aus dem Jesajabuch offenlegt. Matthäus macht sich messianische Deutungen der Gottesknechtlieder innerhalb des Judentums zunutze und legt seinen Lesern eine Verbindung zwischen Jesus und dem Gottesknecht durch sprachliche Anspielungen nahe (80–84). Den matthäischen Taufbefehl erweist Reimarus als einen redaktionellen Zusatz am Matthäusevangelium, indem er ihn mit den sonstigen Taufformularen des Neuen Testaments sowie des damaligen Judentums konfrontiert (84–94). Von hier aus hält Reimarus dem neuzeitlichen Christentum die urchristliche Auffassung von der Taufe entgegen: getauft wurde bei den ersten Christen auf den Namen Jesu allein, der Täufling wurde gänzlich mit Wasser abgewaschen, nur Erwachsene wurden getauft, durch die Taufe wurden die Heiden zunächst in das Judentum hinein getauft, und mit der Taufe empfing der Täufling Geistesgaben (95 f.). Nach dieser Kritik der christlichen Taufpraxis wendet sich Reimarus in Kapitel I ,4 dem Sakrament des Abendmahls zu, das er anlässlich der Frage diskutiert, inwiefern Jesus die alten levitischen Gebräuche der Juden abzuschaffen beabsichtigte. Die Abkehr vom jüdischen Gesetz hält Reimarus hierbei für eine Forderung der Apostel, die mit der Absicht des selbst im Judentum aufgewachsenen Jesus nichts zu tun hat (97 f.). Denn Jesus betrieb eine »Reformation des Judenthums« (98), indem er das individuelle Gewissen neben den alten jüdischen Satzungen stärkte, ohne sie allerdings aufzuheben (98 f.). So erklärt Reimarus auch die Einsetzung des Abendmahls im Kontext der messianischen Erwartung des Judentums, die sich auf ein zukünftiges Himmelreich richtete, in dem das jüdische Gesetz
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zur vollständigen Beachtung gebracht werden sollte (99–103), und zeigt, dass sich Jesus als ein Messias der Juden verstand (103–109). In der Abendmahlsfeier griff Jesus das in der jüdischen Tradition bereits verwurzelte Osterfest auf und verband es mit einem Erinnerungszeichen seines kommenden Todes. Hierbei weist Reimarus nach, dass das ungesäuerte Brot und der rote Wein der Mahlfeier schon im Judentum begleitet von fest gefügten symbolischen Formeln verzehrt wurden (110 f.). Im Abendmahl Jesu sieht Reimarus daher keinen neuen Ritus des Christentums. Jesus verwandelte vielmehr den traditionellen Ritus des Judentums in ein Erinnerungsfest seines Sterbetages, das die Jünger einmal jährlich feiern sollten bis zu seiner Wiederkunft. Die dogmatische Deutung, die das Abendmahl später durch die Trans- bzw. Konsubstantiationslehre erfuhr, verfehlt die Absicht Jesu (111–114). Nach einer abschließenden Diskussion der Selbstwidersprüche der Evangelien hinsichtlich der Datierung des Abendmahls (114–116) kommt Reimarus zu dem Schluss, dass sowohl die Einsetzung des Abendmahls wie auch die der Taufe als historisch unsicher gelten muss und dass der ursprüngliche Sinn beider Riten nicht in Konflikt mit der jüdischen Tradition stand, in der Jesus lebte (117 f.). Nachdem Reimarus auf diese Weise gezeigt hat, dass Jesus nur die vernünftige, praktische Religion in weitgehendem Einklang mit der jüdischen Tradition, in der er groß geworden war, lehrte, wendet er sich im zweiten Buch »Von dem Zweck des Himmelreichs Jesu« der Predigt vom Himmelreich zu, die Jesus exklusiv an die Juden richtete. »Himmelreich« ist hierbei im Kontext des vom Alten Testament her vorgeprägten Messiasglaubens zu verstehen. Es bedeutet ein Reich, in dem Gott durch den Messias das mosaische Gesetz ganz und gar zur Geltung bringt, wobei der Messias als ein König im Himmelreich die Herrschaft Gottes vertritt (121 f.). An der Art und Weise, wie Jesus die Juden auf das Himmelreich vorbereitet und sich selbst als den Messias präsentiert, findet Reimarus jedoch mehrere »Zweydeutigkeiten«, die er im Einzelnen diskutiert: Jesus arbeitet offensichtlich mit Johannes dem Täufer zusammen, um seinen Ruf, er sei der Messias, zu unterstützen, (124–127) er autorisiert sich ständig mit an sich unpassenden Zitaten aus dem Alten Testament, die erst aus der späteren Perspektive der Apostel als sinnvoll erscheinen können (127–130), und er gebietet oft, über seine Wundertaten zu schweigen, durch die er z. B. die ungläubigen Pharisäer leicht hätte überzeugen können (130–134). Um solcherlei Zweideutigkeiten, die Jesu Predigt vom Himmelreich umgeben, zu erklären, nimmt Reimarus einen Wechsel in der Lehre vom Himmelreich an, der sich unter den Aposteln nach dem Tod Jesu vollzog. Das Himmelreich, das Jesus als eine weltliche Herrschaft herbeiführen wollte, wurde von den Aposteln in ein geistliches Reich umgewandelt (135). Die Jünger Jesu teilten die allgemeine jüdische Hoffnung auf die Herrschaft eines messianischen Davididen, der siegreich von Jerusalem aus das neue Reich regieren sollte, wohin die Heiden aus aller Welt strömen, um den Gott Israels anzubeten.
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Als den zwölf Jüngern des Messias war ihnen versprochen worden, dass sie im Himmelreich die zwölf Stämme Israels regieren würden, und getragen von dieser Aussicht auf weltliche Herrschaft hatten sie Jesus als den Messias im Land verkündigt. Doch waren sie nach Jesu Tod ihrer Hoffnung beraubt (136–139). Erst angesichts des Todes Jesu wurde aus dem siegreichen Messias ein leidender und sterbender Messias, dessen Auferstehung man verkündigt, obwohl man ihn kurz zuvor noch gewissenhaft einbalsamierte (141–144). Angesichts dieses Wechsels der Perspektive, der sich unter den Jüngern nach dem Tod Jesu einstellte, versucht Reimarus in Kapitel II ,2, die wahren Absichten und Handlungen Jesu aus dem biblischen Bericht herauszuschälen. Diese Rekonstruktionsarbeit beginnt Reimarus vom Anfang und vom Ende der Tätigkeit Jesu her. Unter Berufung auf eine angebliche göttliche Stimme war Jesus von Johannes dem Täufer als der Messias proklamiert worden. Ungefähr drei Jahre später zog er in Jerusalem ein mit der Absicht, König der Juden zu werden, wobei er mit allen Vernünftigen unter den Juden in Konflikt geriet (146–149). Dazwischen liegt eine Zeit, in der Jesus ständig vor Nachstellungen floh und seinen messianischen Anspruch zu verbergen suchte. Denn die jüdischen Autoritäten fürchteten, dass Jesus durch seinen messianischen Anspruch eine Strafaktion der römischen Besatzer gegen das jüdische Volk insgesamt provozieren würde (149–151). Um die Frage zu beantworten, wie es zu dem sehr kühnen Akt des öffentlichen Einzugs Jesu in Jerusalem kommen konnte, zeichnet Reimarus den Weg Jesu seit der Taufe noch einmal detaillierter nach. Von Johannes und den Jüngern als der Messias verkündigt und durch die Wirkung mehrerer einfach inszenierter Wundertaten hatte Jesus eine breite Volksbewegung um sich geschart, die sich den etablierten jüdischen Institutionen gegenüber aufrührerisch verhielt (154–158). Von dieser Volksbewegung unterstützt zog Jesus in das zum Passahfest überfüllte Jerusalem ein, ließ sich von den Jüngern und dafür angeworbenen Kindern als der Messias feiern und störte mit unklarer Absicht den Tempelbetrieb (159–163). Durch dieses Verhalten machte er ein Eingreifen der Hohenpriester und des Synedrions unausweichlich. Nachdem es nicht gelang, ihn in einer öffentlichen Befragung vor dem messianisch begeisterten Volk einer Irrlehre zu überführen, ließ man ihn nachts im Garten Gethsemane verhaften und machte ihm den Prozess. Die Jünger waren damit schlagartig ihrer Hoffnung auf die Teilhabe an der politischen Herrschaft Jesu beraubt, an der sie bis zuletzt festgehalten hatten (163–165). In seiner Darstellung des Prozesses Jesu stellt Reimarus deutlich die Verantwortung der römischen Provinzverwaltung heraus. Die jüdischen Autoritäten waren juristisch gezwungen, den Fall an Pilatus weiterzugeben. Das biblische Bild des Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht, entlarvt Reimarus als einen antijudaistischen Einfall der Apostel. Juristisch gesehen trifft die Schuld am Tod Jesu die römische Besatzungsmacht und nicht die Juden (166–170). In einem »Beschluß« des Kapitels fasst Reimarus die gewonnenen Einsichten über den historischen Jesus in zwölf Punkten zusammen (171–176).
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Den weiteren Weg der durch Jesu öffentliches Wirken provozierten messianischen Hoffnung beschreibt Reimarus im dritten Buch »Von dem Apostolischen System eines geistlichen Erlösers«. Das Anfangsdatum der apostolischen Lehre von Jesus Christus erkennt Reimarus in der Auferstehung Jesu, die die Jünger erfinden mussten, nachdem ihre Hoffnung auf ein irdisches Himmelreich des Messias zusammen mit dem Messiasprätendenten Jesus am Kreuz gestorben war. Der von Jesus begonnene politische Aufstand des jüdischen Volkes verebbte, und erst einige Zeit später begannen die Anhänger Jesu, alternative Lehren von Leiden, Sühnetod, Auferstehung, Himmelfahrt des Messias Jesus und seiner Wiederkunft zum Gericht auszubreiten, durchweg also Lehren, die im klaren Widerspruch zu Jesu eigenen Lehren stehen (179–181). Alle diese neuen Lehren der Apostel stehen unter der Prämisse des Auferstehungsglaubens. Den Auferstehungsglauben unterzieht Reimarus daher einer gewissenhaften Prüfung. Hierbei untersucht er den matthäischen Bericht von den Wachen am Grab, die Berichte über Erscheinungen des Auferstandenen und die alttestamentlichen Zitate, durch die man die Auferstehungsbotschaft zu bekräftigen versucht. Ausdrücklich lehnt Reimarus den gewöhnlichen Weg der christlichen Apologetik ab, die das Augenmerk auf Nebensachen lenkt, um die entscheidenden Punkte übergehen zu können, die Wahrheit der Botschaft aus der späteren Ausbreitung des Christentums beweist oder unter Hinweis auf alle vernünftigen Inhalte der Evangelien auch ihre unvernünftigen Mysterien zu retten versucht (185–187). In Kapitel III ,2 prüft Reimarus als einen ersten Beweis für die Auferstehung Jesu den allein bei Matthäus überlieferten Bericht, nach dem zwei römische Wachen auf Wunsch der jüdischen Autoritäten vor dem Grab postiert waren, als die Auferstehung geschah (188 f.). Reimarus bemängelt, dass diese heidnischen Zeugen allein bei Matthäus erwähnt werden, hier nicht einmal mit Namen benannt sind und auch später bei den Auferstehungsberichten der Apostel keine Rolle mehr spielen. Gerade vor den Heiden der antiken Welt hätte der Hinweis auf römische Zeugen dem Ereignis eine höhere Glaubwürdigkeit verschaffen können (190–195). Auffällig ist auch, dass die jüdischen Quellen einerseits das an einem jüdischen Feiertag sehr ungewöhnliche Engagement des Hohen Rates für eine Bewachung des Grabes nicht erwähnen (195), andererseits aber den bekannten Vorwurf bieten, man habe den Leichnam Jesu aus dem Grab gestohlen. Matthäus selbst erwähnt diesen Vorwurf des Leichendiebstahls ebenso wie auch Justin der Märtyrer (196). Diesen Betrugsvorwurf bestärkt Reimarus auf zweierlei Weise: zum einen steht der Auferstehungsbericht bei Matthäus im Widerspruch zu den übrigen Evangelien, denn die Frauen, die zum Grab gingen, um den Leichnam zu salben, wissen nichts von den römischen Wachen. Und zum anderen genießt der Betrugsvorwurf auch deshalb den Vorzug, weil er mit keinerlei übernatürlichen Vorgängen rechnen muss (198–200). Ebenfalls aus der Perspektive Gottes, der den Menschen eine heilsnotwendige Wahrheit übermitteln will, kann Reimarus die Auferstehung, wie sie die Evangelien berichten, nicht als zweckmäßig
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beurteilen, da sie nur einem sehr kleinen Kreis von sehr fragwürdigen Zeugen erkennbar war. Hinzu tritt die Beobachtung, dass die Auferstehung nach dem biblischen Bericht weit vor dem Ablauf der an anderen Stellen angegebenen Frist von drei Tagen stattfand (202). Als zweiten Beweis diskutiert Reimarus in Kapitel III ,3 die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen, wobei er sich an den Beurteilungsmaßstäben weltlicher Gerichte in der Zeugenbefragung orientiert. Als unglaubwürdig erscheinen die Zeugen zum einen, weil sie mehrfach einander widersprechen, und zum anderen, weil sie ihre Erkenntnisse lange unter angeblichen Zweifeln verborgen hielten (207–213). Reimarus präsentiert zehn besonders auffällige Widersprüche innerhalb der Berichte (216–246) und kommt abschließend zu dem Urteil, dass die Bezeugung der Auferstehung den von ihm angelegten Kriterien nicht standhält (246–249). Er weist hierbei vergleichend auf einen 1708 in London öffentlich vollzogenen Versuch einer Totenauferweckung hin, der zwar nicht gelang, grundsätzlich aber so angelegt war, dass die Auferweckung im Falle des Gelingens als ausreichend bezeugt hätte gelten können (184 und 246). Als letzten Beweis der Auferstehung diskutiert Reimarus in Kapitel III ,4 die Schriftbelege aus dem Alten Testament, die die ersten Christen zu ihrer Verteidigung verwendeten. Das Verfahren biblischer Autorisierung, das Christen hierbei oft anwendeten, verdeutlicht Reimarus am Prozess des Stephanus, von dem die Apostelgeschichte berichtet. Stephanus führt willkürlich verschiedenste Schriftzitate an, die mit der Auferstehung nichts zu tun haben, und wundert sich über das Unverständnis seiner Richter (252 f.). Nachdem er auch die Verteidigungen des Petrus und Philippus gestreift hat, zeigt Reimarus die Inkonsistenz der apostolischen Argumentation aus der Schrift beispielhaft an der Rede des Paulus vor den Juden von Antiochia. Er inszeniert dies als einen fiktiven Dialog, in dem die Juden auf die jeweiligen Pauluszitate antworten und ihn hierbei widerlegen (254–261). Den Grund für den unsachgemäßen Umgang der ersten Christen mit dem Alten Testament sieht Reimarus in der schon im damaligen Judentum weit verbreiteten pharisäischen Auslegungsart, in der neue Bräuche durch allegorische Schriftdeutungen autorisiert wurden. Die Schriftsteller des Neuen Testaments knüpften an diese Auslegungstradition an und autorisierten so ihre neuen Lehren (264–267). Zum Schluss des Kapitels über die Autorisierung des Auferstehungsglaubens aus dem Alten Testament zeigt Reimarus, wie die allegorischen Schriftdeutungen im Lauf der Theologiegeschichte ihr Ansehen verloren. Um die Lehren des Neuen Testaments zu retten, begannen Theologen über die messianische Schriftdeutung innerhalb des Judentums zu forschen und legten hierbei zugleich die lange Geschichte der Kritik eben dieser Auslegung offen. Sie beginnt im Judentum der Spätantike und endet im Sozinianismus, bei Grotius und den englischen Deisten (268–271). Diese Ambivalenz der theologischen Messianismusforschung verdeutlicht Reimarus am Werk Jean Le Clercs. Le Clerc arbeitet heraus, wie vollständig Jesus nach dem Neuen Testament die zeitgenössische Messiaserwartung erfüllte,
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und macht damit zugleich die generelle Tendenz der neutestamentlichen Schriften erkennbar, mit allen erdenklichen Mitteln eine Brücke zwischen der jüdischen Messiashoffnung und dem Christusbekenntnis der Apostel zu schlagen (270). Nachdem Reimarus auf diese dreifache Weise den Auferstehungsglauben als das erste Fundament des apostolischen Lehrsystems zum Einsturz gebracht hat, macht er sich in Kapitel III ,5 an die Betrachtung des zweiten Fundaments, den Glauben an die Wiederkunft Jesu aus den Wolken (272 f.). Der Glaube an die Wiederkunft des zuvor erniedrigten Erlösers knüpft an eine zweite, im Judentum der damaligen Zeit minder populäre Fassung des Messiasglaubens an. Nach dieser zweiten Fassung, die Reimarus aus antiken heidnischen und auch jüdischen Quellen belegt, wurde der Messias nicht als ein siegreicher, politischer Führer aufgefasst, so dass sich der Messias zunächst der Erniedrigung hingeben konnte. Diese zweite, minder populäre Fassung des Messiasglaubens wurde so für die Jünger Jesu nach dem Tod ihres Meisters attraktiv (274–276). Ohne hierbei die jüdische Tradition zu verletzen, konnten sie nun lehren, der zuvor erniedrigte Messias werde sehr bald schon wiederkehren und ein neues Reich auf Erden errichten (277). Entscheidend ist hierbei allerdings zweierlei: erstens ist das neue Reich nicht ein Jenseits dieser Welt. Es ist neu nur insofern, als durch die Wiederkunft des Messias die bisherige staatliche Ordnung endet. Und zweitens wird es in so naher Zukunft erwartet, dass sich die Aufgabe des bisherigen Lebenswandels zugunsten des messianischen Reiches noch in diesem Leben auszahlt. In dieser unmittelbaren Erwartung des messianischen Reiches waren reiche Neubekehrte bereit, all ihr Vermögen in eine »Heilands-Casse« einzuzahlen, aus der ärmere Neubekehrte versorgt werden konnten. Erst als die Wiederkunft sich immer weiter verzögerte, geriet dieses Finanzsystem in die Krise und die Jünger mussten sich von der Finanzierung der Armen wieder zurückziehen (277–280). Ein allgemein bekanntes Beispiel der diesseitigen Kraft solcher chiliastischer Naherwartung erkennt Reimarus in den chiliastischen Bewegungen der frühen Neuzeit (281). Doch zeichnet er auch nach, wie sich die unmittelbare Naherwartung der ersten Christen veränderte, als die Wiederkunft des Messias ausblieb. Der Apostel Paulus vertröstete die Gemeinde mit der dunklen Rede von der Behinderung der Wiederkunft durch einen Antichrist, (284–287) und Petrus verband das Anbrechen des messianischen Reiches mit so grauenvollen Bildern vom Ende der Welt insgesamt, dass es den Christen als eine Gnade erscheinen konnte, das Weltende noch nicht erleben zu müssen und vielmehr Zeit zu haben, sich für diesen schrecklichen Tag vorzubereiten (288–293). Erst bei Petrus verband sich also die Erwartung vom messianischen Reich mit der Vorstellung vom Weltende, die den Chiliasmus die gesamte Kirchengeschichte hindurch bis in die Gegenwart prägt (293 f.). Da sich die Wiederkunft Christi, die schon den ersten Christen in unmittelbarer Zukunft angekündigt worden war, bis auf den heutigen Tag nicht ereignet hat, erklärt Reimarus auch dieses zweite Fundament des apostolischen Lehrsystems neben der Auferstehung für hinfällig (296 f.).
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Um die Entstehung der ersten christlichen Gemeinden um die Jünger Jesu zu rekonstruieren, fasst Reimarus zu Beginn des vierten Buchs »Vom Ursprung und Aufkommen des Apostolischen Christenthums« erneut zusammen, wie die Jünger nach dem Tod ihres Meisters ihre Enttäuschung in eine neue religiöse Bewegung transformierten. In der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten zogen sich die verhältnismäßig gut gebildeten Jünger in ein Versteck in Jerusalem zurück und entwarfen, getragen von der Hoffnung auf weltliche Herrschaft, die sie im Reich des Messias hätten erhalten sollen, ihr Lehrsystem, auf dessen Grundlage sie das von Jesus ererbte Werk fortsetzen wollten. Da die jüdischen Autoritäten glaubten, die Aufruhrbewegung um Jesus sei mit seiner Kreuzigung zum Stillstand gekommen, konnten sich die Jünger in Jerusalem weitgehend unbehelligt beraten. Unter Rückgriff auf die zweite, minder populäre Fassung des jüdischen Messiasglaubens konstruierten sie ein Lehrsystem, das sich innerhalb des Rahmens jüdischer Schriftdeutung hielt und nur wenige elementare Lehrstücke bot: den Glauben an Jesus den Christus, die Taufe auf seinen Namen, sein Leiden zur Versöhnung der Welt und zur Sündenvergebung, seine Wiederkunft und die Errichtung seines Reiches, in dem die Frommen belohnt und die Ungläubigen bestraft werden (305–313). Erste Anhänger gewannen die Jünger mit Hilfe ihres Fürsorgesystems, der bereits erwähnten »Heilands-Casse« (314). Jedoch nennt Reimarus noch einen weiteren Vorteil, den sich das Christentum in seinem antiken Umfeld verschaffen konnte. Die Lehre der Apostel war aufgrund der allgemeinen Sündenvergebung von Anfang an offen für alle Heiden, die ohnehin gegenüber dem Götzenglauben Distanz gewonnen hatten und teilweise bereits mit dem Judentum sympathisierten. Den christlichen Gemeinden gelang nun derjenige missionarische Erfolg, den das Judentum knapp verfehlte. Denn in den christlichen Gemeinden mussten die bekehrten Heiden nicht die jüdischen Zeremonialgesetze einhalten. Sie wurden innerhalb des Noachitischen Minimalkonsens jüdischer Toleranz gehalten, den Reimarus im ersten Teil seiner Schutzschrift beschreibt, und konnten sich daher sehr leicht für den Übertritt zum Christentum entscheiden (314 f.). Nachdem Reimarus so die Anfänge des Christentums im Zeitalter der Apostel skizziert hat, diskutiert er verschiedene Schwierigkeiten, in die die Apostel mit ihrer Lehre unwissentlich hineingerieten. Das erste ist hier der Betrugsvorwurf, den die Juden sehr früh schon angesichts der Auferstehung Jesu gegen die Jünger richteten und gegen den sich auch Paulus vor jüdischen Gerichten zur Wehr setzen musste. Reimarus zeigt, wie geschickt Paulus an den unter den Pharisäern verbreiteten Glauben an eine allgemeine Totenauferstehung anknüpft und hierbei die konkrete Auferstehung Jesu nur beiläufig und unter Hinweis auf die ihm widerfahrene Erscheinung Jesu verteidigt (318 f.). Als zweite Schwierigkeit diskutiert Reimarus die Verfolgung der Apostel zunächst durch jüdische Gerichte in Jerusalem, deren Handlungsfähigkeit innerhalb der römischen Provinzialverwaltung jedoch so beschränkt war, dass die Ausbreitung des Christentums nicht verhindert werden konnte (320–323). Hinweise
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auf ernstere Schwierigkeiten findet Reimarus erst in den Berichten über die Aktivitäten der Apostel außerhalb Jerusalems. Der Betrugsvorwurf gegen die Apostel hatte sich schnell verbreitet, und zudem bestanden die neu bekehrten Juden hier, wie das Apostelkonzil zeigt, auf der Einhaltung aller Zeremonialvorschriften in den christlichen Gemeinden. Paulus musste in den Streitigkeiten ständig seine Meinung wechseln und gab sich je nach Gelegenheit mal als strenger Judenchrist und mal als Heidenchrist aus, um seinem Missionswerk insgesamt Erfolg zu verschaffen (324–327). Innerhalb des Heidentums beobachtet Reimarus einen langsamen Sinneswandel den Christen gegenüber. Während das Christentum zunächst als eine vernünftigere Fassung des jüdischen Monotheismus gern angenommen wurde, nahm man es mit zunehmender Verbreitung mehr und mehr als einen Störfaktor innerhalb des römischen Reichs wahr. Den Grund hierfür erkennt Reimarus einerseits in der antichristlichen Polemik der jüdischen und auch heidnischen Priesterschaft, die die Christen von der im römischen Reich geltenden Religionstoleranz ausschließen wollten, und andererseits im Verhalten der Christen selbst, die sich in ihren Gottesdienstfeiern gegen die Öffentlichkeit abzuschirmen versuchten (328 f.). Abschließend markiert Reimarus zwei Hauptmängel des durch die Apostel gestifteten Christentums: es ist in seiner Lehrgestalt zu wenig bestimmt, und es ist geprägt durch die teilweise rücksichtslose Rivalität der Apostel (329 f.). Was die mangelnde Bestimmtheit der christlichen Lehre angeht, so weist Reimarus zunächst auf die sich widersprechenden Fassungen der Evangelien hin, die Lehrstreitigkeiten zwischen den Aposteln und die dogmatischen Differenzen zwischen den Schriften des Neuen Testaments hinsichtlich der Rechtfertigungslehre, Christologie, der Sakramente, der Ekklesiologie und des Kanon. Da es die Apostel versäumten, die strittigen Punkte untereinander zu klären, war das Christentum von Anfang an in Streitigkeiten verstrickt, die sich durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch hielten (330–332). Was den Streit der Apostel angeht, so betrachtet Reimarus ausführlich die Strategien, durch die sich Paulus durchzusetzen verstand. Aufgrund seiner hohen gesellschaftlichen Stellung, seiner hohen Bildung und seines Vermögens, sich stets geschickt zwischen den streitenden Parteien hindurch zu bewegen, konnte er die übrigen Apostel dominieren und wurde so zu einer ersten geistlichen Führergestalt der Christenheit (332–334). In einem kurzen Durchgang durch das Leben des Paulus (334–341) zeigt Reimarus das unlautere Vorgehen des Apostels, der in seinem Handeln stets von Herrsch- und Ruhmsucht geleitet war. Es ist dieser Geist der Apostel, den Reimarus auch in der weiteren Kirchengeschichte wirken sieht, in der sich die Kirche in verschiedene Sekten aufspaltete und kirchlicher Despotismus das Christentum an Lehre und Sitte verdarb (342). Nachdem Reimarus erneut alle bisher zusammengetragenen Mängel des jungen Christentums aufgezählt hat, geht er in Kapitel IV,2 der Frage nach, wie es gleichwohl sein konnte, dass die Apostel das Christentum erfolgreich verbreiteten (341– 346). Er beschreibt im Folgenden drei »Mittel«, derer sich die Apostel bei ihrer
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Missionsarbeit bedienten. Das erste dieser »Mittel« ist die Begeisterung, durch die sich die Apostel selbst getragen wussten und die sie auch an die Neubekehrten weiterzugeben verstanden (347). Ausführlich diskutiert Reimarus das Pfingstwunder, das er als ein wundersam inszeniertes Mittel zur Blendung der Massen und als die Geburtsstunde des gemeindlichen Enthusiasmus negativ wertet. Dass sich der Heilige Geist solcher Mittel zur Bekehrung der Menschen bedienen sollte, lehnt Reimarus ab. Er stellt zudem mehrere Übertreibungen hinsichtlich der Zahlen im lukanischen Bericht fest, die das Wunder zusätzlich unglaubwürdig machen (348–362). Das zweite Mittel der frühchristlichen Mission ist die bereits zuvor erwähnte Gütergemeinschaft, die die Apostel um ihre Gemeinschaftskasse herum einrichteten. Da reiche Neubekehrte ihr gesamtes Vermögen einzahlten, konnten die Apostel über große finanzielle Mittel verfügen und so zahlreiche Arme an sich binden. Reimarus weist hier auf die Aggressivität der Apostel hin, die unter Hinweis auf ihre göttliche Sendung Anspruch auf den Privatbesitz der Gemeindemitglieder erhoben. Auch aus ökonomischer Sicht lehnt Reimarus das System der »Heilands-Casse« ab. Sie beschädigt das Steuereinkommen des Staates und ist letztlich keine nachhaltige Form des Wirtschaftens, weil sie vormals gut situierte Bürger in die Nöte der Armut stürzt (363–365). Als man in die Kasse mit der Zeit immer weniger einzahlte, waren die Apostel gezwungen, die Finanzverwaltung in die Hände von Almosenpflegern zu geben, um nicht selbst in die einsetzenden Verteilungskämpfe verstrickt zu werden. In der Kollekte des Paulus für Jerusalem sieht Reimarus den letzten Versuch, das angeschlagene Finanzsystem zu retten (366). Dass überhaupt Menschen bereit waren, ihr Vermögen der »Heilands-Casse« zu opfern, erklärt Reimarus durch zwei Gründe: sie waren zum einen von Enthusiasmus geleitet, wie dies auch in heidnischen Philosophenbewegungen der Antike zu beobachten ist, und sie machten sich zum anderen Hoffnung, in dem ihnen versprochenen Reich des wiederkehrenden Messias sehr bald schon ein Vielfaches des eingezahlten Geldes wiederzubekommen. Die Krise der Gütergemeinschaft erklärt sich also aus dem Ausbleiben des messianischen Reiches (366–368). Als ein drittes Mittel zur Verbreitung des Christentums erwähnt Reimarus den Chiliasmus, den er reichlich im Neuen Testament und bei den frühen Kirchenvätern belegt findet. Erst im weiteren Verlauf der Kirchengeschichte wurde der Chiliasmus zur Häresie (368–370). Zusammengefasst als ein viertes Mittel zur Ausbreitung des Christentums diskutiert Reimarus in Kapitel IV,3 die übrigen wundersamen Begebenheiten rund um das Auftreten Jesu und der Apostel. Im Mittelpunkt stehen hierbei zunächst die Ekstase und die Exorzismen, die Reimarus für wundersame Umschreibungen einer an sich natürlichen Sache hält. Denn die Hebräer der Zeit Jesu hielten Krankheiten für die Wirkungen von Geistern und mussten folglich auch die Heilung von Krankheiten innerhalb desselben Vorstellungssystems beschreiben (371–375). Um die Wunderberichte als Berichte von historischen Begebenheiten auf ihre Glaubwürdigkeit hin prüfen zu können, legt Reimarus einen Kata-
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log von sechs Kriterien vor, denen die Wunderberichte genügen müssen: Von den Wundern darf nicht selbstwidersprüchlich berichtet werden, der Nachweis der Unechtheit eines einzigen Wunders bringt das gesamte Wundersystem des Neuen Testaments zu Fall, über Wunder darf nicht dunkel und unvollständig berichtet werden, die berichteten Wunder müssen in der Zeit, da sie geschahen, als glaubwürdig gegolten haben, die vorhandenen Quellen müssen ein einstimmiges Zeugnis von dem Wunder abgeben, und die Wunder dürfen nichts bewirken, was der natürlichen Gottesverehrung und dem Natur- und Völkerrecht zuwider ist (375–378). Obwohl die Wunder des Neuen Testaments insgesamt weniger übertrieben berichtet werden als die des Alten Testaments, hält Reimarus sie für unglaubwürdig: zum einen stehen sie deutlich erkennbar im Kontext der jüdischen Messiaserwartung, so dass Jesus als einer von vielen wunderbegleiteten Messiasprätendenten erscheint. Zum anderen aber ist das, was durch die Wunder als wahr erwiesen werden sollte, durch die Geschichte falsifiziert worden, da Jesus am Kreuz gestorben und seine Wiederkunft ausgeblieben ist (378–380). Nachdem Reimarus erneut auf die schlechte Bezeugung der Auferstehung hingewiesen hat (380–383), führt er zahlreiche Wunderberichte aus der Antike an, durch die erkennbar wird, dass der Wunderreichtum des Neuen Testaments wenig einzigartig ist (383–386). Seine Kritik weitet Reimarus im Folgenden auch auf die durch die Kirchenväter berichteten Wunder der Alten Kirche aus. Ihnen wirft er vor, dass sie selbst keine Augenzeugen der berichteten Wunder waren, leichtgläubig Wundergeschichten aufnehmen, mit diesen Geschichten kritiklos umgehen, selbst stets für das Christentum Partei ergreifen, in dieser Parteilichkeit auch mit den Quellen umgehen und in alledem stets nur auf den Erhalt und Ausbau ihrer Kirchenherrschaft zielen (386–388). Den Abschluss des Kapitels bildet eine Liste von Beispielen der durch die Kirchenväter betriebenen Geschichtsfälschung, durch die sie sich in eine Traditionslinie mit dem Judentum der nachexilischen Zeit zu stellen versuchen. Hier wie dort wurden im Kampf um die angeblich wahre Geschichte Schriften erfunden und andere vernichtet. Auch achteten die Kirchenväter darauf, dass die Schriften ihrer Gegner nicht weiter überliefert wurden (388–393). Als das fünfte Mittel zur Ausbreitung des Christentums führt Reimarus in Kapitel IV,4 die zuvor bereits erwähnte Öffnung des Christentums zu den Heiden an, die durch die Abkehr von den levitischen Gebräuchen ermöglicht wurde. Jesus selbst hatte diese Abkehr zwar keineswegs geboten, sie gab der frühchristlichen Mission aber einen neuen Impuls nach dem Wegbrechen des Finanzsystems der »Heilands-Casse« (394–397). Den Heiden erschien die christliche Religion deshalb als attraktiv, weil sie als eine vernünftige Form des Monotheismus auftrat, der sich im hellenistischen Zeitalter ohnehin gegen den verbreiteten Polytheismus durchzusetzen begann. Es waren die Apologeten, die mit der Vernünftigkeit des Christentums, seinen jenseitigen Heilsversprechungen und der universalen Sündenvergebung warben und populäre heidnische Philosophen zu Protochristen
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stilisierten (397–398). Jedoch stellt Reimarus fest, dass dies alles nicht ausreichen konnte, den Glauben an eine besondere, übervernünftige Offenbarung zu begründen, so dass ein sechstes Mittel zur Ausbreitung des Christentums nötig wurde: da sich die Heiden der Antike mit dem Offenbarungsglauben schwer taten, erklärte Paulus gerade diesen Glauben für ein heilsnotwendiges Werk. Behutsam verlangte man den Neubekehrten zunächst nur das allgemeine Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ab, um hierauf später nach einer geheimen Initiation mit weiteren Lehrstücke aufzubauen, wie dies in den Mysterienreligionen des Orients allgemein üblich war (399–402). Den siebten Punkt in Reimarus’ Liste der Mittel zur Ausbreitung des Christentums bildet der aggressive Eifer der ersten Christen, ihre Religion auch gegen die im Staat gültigen Regeln zu verbreiten. Diesen Eifer der ersten Christen wertet Reimarus als ein Argument gegen die Wahrheit der christlichen Religion, denn nur die Wahrheit, die nicht sicher erkannt wurde, setzt sich als ein übersteigertes religiöses Wahrheitsbewusstsein durch. Echte Wahrheit dagegen kann in aller Ruhe verkündigt werden (403–407). Nachdem Reimarus als siebtes Mittel zur Verbreitung des Christentums kurz die Askese diskutiert hat, die er als einen Beweis für die Wahrheit der christlichen Religion ablehnt (407–409), wendet er sich dem achten, seiner Ansicht nach bedeutendsten Mittel zur Verbreitung des Christentums zu: dem frommen Lebenswandel der Christen nach den Lehren Jesu und die Kirchenzucht, die diesen Lebenswandel durchsetzte. Besonders große Bedeutung misst Reimarus diesem Punkt deshalb bei, weil nicht nur die Kirchenväter, sondern auch dem Christentum feindlich gesonnene Heiden die ethische Überlegenheit der Christen bezeugen (409–413). Jedoch geriet auch dieser Vorzug der ersten Christen mit der Festigung kirchlicher Machtstrukturen in die Krise. Anstatt des frommen Lebenswandels nahm der Religionseifer zu, der sich nun nicht mehr gegen die Staatsordnung, sondern gegen die Häresien innerhalb der christlichen Welt richtete (415 f.). Zum Schluss des vierten Buchs fasst Reimarus die genannten acht Mittel zur Ausbreitung des Christentums noch einmal zusammen (416–420). Die Entwicklung der christlichen Lehre zeichnet Reimarus im fünften Buch »Von dem Christlichen Lehrgebäude« von ihren ersten Anfängen an nach. Er beginnt mit Jesu Verkündigung, die sich noch vollständig innerhalb der jüdischen Glaubenslehren bewegte. Jesus verkündete die Buße angesichts des nahen Himmelreichs, auf das hin auch die Taufe geschah und in dem er als der Messias herrschen wollte (423 f.). Erst die Apostel verwandelten diesen Glauben an den Messias als einen politischen Herrscher in den ebenfalls in der jüdischen Tradition verwurzelten Glauben an den Messias als einen leidenden und allein geistlich erlösenden Heilsbringer. Der jüdischen Tradition fremde Vorstellungen lehrten sie zunächst nicht. Die Taufe war ein dem Judentum nicht unbekanntes Ritual, das den Eintritt in die Gemeinschaft der Christen begleitete, und auch der Geist war nicht mehr als eine Bezeichnung jeweiliger besonderer Begabungen der Gläubigen
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(425–427). Um der noch sehr ungenau verfassten christlichen Lehre eine Mitte zu geben, stellten die Apostel den Gedanken der Erlösung von den Sünden in den Vordergrund und öffneten das Christentum auf diese Weise zugleich für die Heiden (428 f.). Erst hier sieht Reimarus den Anfang einer sukzessiven Vergötterung des an sich gescheiterten und kläglichen Messiasprätendenten Jesus. Denn sollte das Leiden und der Tod Jesu die Menschheit insgesamt stellvertretend von der Sünde befreien, so musste die Person des leidenden Jesus zugleich weit über das Maß des allgemein Menschlichen aufgewertet werden, und genau dies leisteten die Evangelien mit ihren Berichten von der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (429–432). Auch die Jungfräulichkeit Mariens betrachtet Reimarus im Rahmen dieses Strebens der Apostel, den Messias Jesus zu vergöttern. Er weist auf Parallelen aus der heidnischen Antike hin, um zu zeigen, dass die Jungfrauengeburt ein übliches Stilmittel war, die Göttlichkeit eines Menschen darzustellen (433). Jedoch übersteigt die Vergötterung Jesu, die die Apostel vorantrieben, mehrfach den Rahmen des jüdischen Messiasglaubens, der dem Messias als dem Sohn Gottes lediglich eine besondere Gottnähe zugesteht. Durch die Identifikation Jesu mit dem als Schöpfungsmittler verstandenen Logos begründeten die Apostel schließlich den Glauben an Jesus Christus als eine zweite Person der Gottheit. Reimarus vermutet, dass der Evangelist Johannes seine Logoschristologie in Auseinandersetzung mit der platonischen Philosophie entwickelte, die den Logos Gottes als Ausdruck seiner Vernunft ebenfalls hypostasierte. Diese platonische Hypostasierung des Logos passte ihrerseits wiederum zur hebräischen Weisheitsvorstellung, die ebenfalls die Personifizierung eines weltordnenden Prinzips vornimmt (434 f.). Wenngleich Reimarus sich nicht festlegen möchte, dass schon Johannes vom Platonismus beeinflusst war, so ist er doch sicher, dass die nachfolgende trinitätstheologische Debatte der Kirchenväter platonisch geprägt war. Er weist auf Philo hin, um nachzuweisen, dass der Platonismus nicht nur im Christentum zu trinitarischen Spekulationen neigte (436). Jedoch gingen gerade die Apostel und ersten Christen in ihrer Vergötterung des Sohnes behutsam vor. Das Neue Testament behauptet die Gottheit Christi, wenn überhaupt, nur in subordinatianischem Sinn, und auch in den christlichen Gemeinden steigerte man den Glauben an die Gottheit Christi erst langsam, bis sie schließlich die Gottheit des Vaters zu übertreffen drohte. Letzteres belegt Reimarus aus den Berichten des Celsus und Plinius (437 f.). Erst als die vollständige Vergötterung Jesu in den Gemeinden bereits vollzogen war, begannen die Kirchenväter durch falsche Wiedergabe von Bibelzitaten und vereinzelt auch durch Fälschungen am Text des Neuen Testaments, dem noch jungen Glauben an die Gottheit Christi ein biblisches Fundament zu verschaffen (439–441). In Gestalt all dieser noch nicht voll entwickelten Glaubenssätze formulierten die Apostel die Anfänge eines christlichen Lehrsystems, das weder in sich schlüssig war noch von den Aposteln in einheitlicher Weise gelehrt und weiterentwickelt wurde. Schon unter den ersten Christen ist also derjenige Streit begründet, der später auch die weitere Kir-
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chengeschichte prägen sollte (442 f.). Daneben nennt Reimarus weitere Fragen, zu denen die Apostel keine einheitlichen Anweisungen gaben. Als Fortsetzungen zweier nebensächlicher Rituale innerhalb des jüdischen Brauchs wurden Taufe und Abendmahl zu Sakramenten bestimmt, während über andere Rituale, wie die Beschneidung, Uneinigkeit herrschte. Ebenso bleiben auch Feiertage, Feste und die Kirchenordnung, zu der sich bei Paulus Ansätze finden, unbestimmt. Besonders vermisst Reimarus angesichts des anhaltenden Streits zwischen geistlicher und weltlicher Macht in der Kirchengeschichte Bestimmungen, durch die die Amtsbefugnis der Geistlichen eindeutig geregelt wird (444–450). Nach dieser zusammenfassenden Beschreibung des ersten christlichen Lehrsystems und seiner Fehler wendet sich Reimarus in Kapitel V,2 einem weit späteren Stand der Entwicklung des Dogmas zu, nämlich der orthodoxen protestantischen Dogmatik. Er gliedert sie hierbei in sieben Hauptlehrstücke, nämlich die vom Urstand, vom Sündenfall, von der Erbsünde, der Verderbnis der Vernunft, der Beleidigung Gottes durch die Sünde des Menschen, der übernatürlichen Offenbarung als Mittel der Gnade Gottes und der Selbstversöhnung Gottes im Tod seines eigenen Sohnes (451 f.). Was den biblischen Bericht von Urstand und Sündenfall angeht, so entkräftet Reimarus ihn hinsichtlich seiner dogmatischen Aussagekraft, indem er die hierzu an früherer Stelle bereits vorgetragenen Argumente ausführlich wiederholt und durch die Beispielgeschichte von dem zur Trunksucht neigenden Simplicius, der von seinem Gastgeber zum Weintrinken verleitet wird, die moralische Schuld Gottes am berichteten Sündenfall veranschaulicht (453– 464). Die mit der Lehre vom Sündenfall verbundene Lehre von der Erbsünde diskutiert Reimarus vor allem unter dem Aspekt der Verderbnis der menschlichen Vernunft, die er zu Beginn des Kapitels als einen eigenen Lehrpunkt aufzählt. Er besteht darauf, dass die zivilrechtliche Behandlung von Geldschulden nicht mit der Behandlung von moralischer Schuld verglichen werden kann. Gott kann die fremde Schuld Adams weder anrechnen noch bestrafen, und wenn solches dennoch angenommen wird, so stellt sich die Frage, warum nicht noch weitere Schulden anderer Vorfahren mit in die Rechnung genommen werden. Dass kritische Fragen dieser Art im Christentum nicht gestellt werden dürfen, erklärt Reimarus aus der Wirkung, die man der behaupteten Erbsünde auch im Blick auf das Vernunftvermögen des Menschen zuschreibt. Der Mensch soll an die Erbsünde und die Vernunftverderbnis glauben und in diesem Glauben zugleich den vollständigen Verzicht einer kritischen Hinterfragung der zu glaubenden Lehre erklären (464–468). Um das Zusammenspiel dieser beiden Lehrstücke im Alltag der kirchlichen Verkündigung deutlich zu machen, bietet Reimarus erneut eine Beispielerzählung, in der einem Bauer von einem Amtsmann ein Mord, der Generationen zuvor in der Familie des Bauern begangen wurde, angelastet wird. Der Bauer hinterfragt die Richtigkeit der zur Anwendung gebrachten Rechtslogik und wird auf seinen juristischen Unverstand hingewiesen, so dass er das Urteil akzeptieren muss (469 f.). Doch sieht Reimarus angesichts der Lehre von
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der Verderbnis der Vernunft auch die Möglichkeit einer Offenbarung in Gefahr. Denn der verderbte Verstand des Menschen wird die Offenbarungswahrheiten stets ebenso unvollkommen erfassen wie die natürliche Offenbarung in der Welt, die ihn umgibt. Rechnet man die Willensfreiheit hinzu, die man dem Menschen zuspricht und die ihn kraft der Erbsünde stets nur zum Bösen hinlenkt, so kann es kaum als denkbar erscheinen, dass Gott mit seiner Offenbarung den Menschen erreicht. Der verderbte Verstand des Menschen kann die Offenbarung nicht verstehen, und der verderbte Wille des Menschen kann die Offenbarung nicht ergreifen (473 f.). Zu Beginn seiner Diskussion der dogmatischen Auffassung von der weiteren Heilsgeschichte wendet sich Reimarus in Kapitel V,3 erneut den Lehrstücken von Urstand und Sündenfall der ersten Menschen zu. Er erklärt, dass unter der Gottebenbildlichkeit des Menschen dessen grundsätzliche Perfektibilität hinsichtlich des Vernunftvermögens zu verstehen sei, und den eingeschränkten Vernunftgebrauch Adams und Evas entschuldigt er durch einen Mangel an Verwirklichung des angeborenen Vernunftvermögens im Laufe der Menschheitsgeschichte. Die Übel, die das Dasein des Menschen beschweren, weist Reimarus als naturnotwendig aus (476–478). Erst danach wendet er sich der Satisfaktionslehre zu, in der er zugleich das Fundament der traditionellen Christologie erblickt (479 f.). Ihr eigentliches Ziel hat die Heilsordnung, die die christliche Dogmatik beschreibt, bislang verfehlt. Weder hat der beleidigte Gott zu der verlangten Genugtuung gefunden, noch hat sich die Menschheit in der Kraft des christlichen Heilsglaubens verbessert. Anhand eines kurzen Durchgangs durch die Kirchengeschichte zeigt Reimarus den schlechten Zustand der Menschheit unter dem Christentum. Indem er seinen Blick auf die Gegenwart ausweitet, kommt er zudem zu dem Schluss, dass selbst die Androhung jenseitiger Strafen nicht die Kraft hat, Menschen zum Guten zu bewegen. Denn unabhängig von ihrem tatsächlichen Handeln leben die Menschen in einem Erwählungs- oder Verwerfungsbewusstsein, das allein ihre charakterliche Grundverfassung widerspiegelt und folglich keinen besonderen ethischen Impuls zu geben vermag. Der christliche Rechtfertigungsglaube lenkt die Menschen sogar vielfach von der Nutzung der eigenen Naturkräfte zum Guten ab (480–487). Was nun das zentrale Grunddatum der Satisfaktionslehre angeht, nämlich die Vorstellung einer Beleidigung Gottes durch die Sünde der Menschen, so zweifelt Reimarus an der Vereinbarkeit dieser Vorstellung mit dem allgemeinen Begriff von Gott und dessen Eigenschaften. Da Gott nicht als vom Menschen abhängig zu denken ist, kann er nicht beleidigt werden, ist folglich nicht zornig und verlangt auch keine Satisfaktion. Eine Bestrafung des Menschen einer Beleidigung Gottes wegen wäre ein Akt der Rache Gottes und somit eine boshafte Handlung gegen den Menschen, die Gott nicht zugeschrieben werden darf. In der Satisfaktionslehre sieht Reimarus zwei falsche, anthropomorphe Gottesvorstellungen wirken, die zu einem in sich widersprüchlichen Lehrstück führen. Gott wird zum einen als ein Gläubiger vorgestellt, der
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kleinlich sein Geld zurück verlangt (487–493), und zum anderen als ein stolzer und auf seinen Ruhm bedachter Monarch, der die Welt zu seiner eigenen Ehre erschaffen hat und Gesetze willkürlich allein zu dem Zweck aufgestellt hat, dass man sie befolgt. Zwar hat solcher Herrschaftswille und solche Eifersucht bei menschlichen Despoten einen nachvollziehbaren Grund: sie fürchten um den Erhalt ihrer Herrschaft und sind gezwungen, sich die Menschen durch Verfolgung, aber auch durch Milde untertan zu machen. Aber zu Unrecht betrachtet die christliche Dogmatik Gott im Bild solcher menschlicher Herrschaft. Gott vorgestellt als ein menschlicher Despot ringt stets um den Erhalt seiner Herrschaft, droht den Menschen einerseits schwerste Strafen an, gewährt ihnen zugleich aber vollständige Entlastung durch das Opfer seines Sohnes, wenn sie nur seiner Herrschaft treu bleiben, und verfällt trotz all dieser Bemühungen zuletzt dem Spott und dem Aufruhr seiner Untertanen (493–497). Gegen diese anthropomorphe Gottesvorstellung der Dogmatik betont Reimarus die unwandelbare Vollkommenheit Gottes, die durch eine Beleidigung seitens des Menschen nicht geschmälert werden kann, und vergleicht diese Vollkommenheit mit der Unwandelbarkeit der Gestirne in ihrer ewigen Bewegung. Es ist folglich allein der Mensch, der sich durch seine Verirrung von Gottes Vollkommenheit abwendet (499–501). Die christliche Satisfaktionslehre dagegen geht von dem selbstwidersprüchlichen Gedanken einer Beleidigung Gottes durch den Menschen aus und verzerrt auf diese Weise das Gottesbild zu dem eines boshaften Verdammers der Menschheit. Als der Güte Gottes gemäß erkennt Reimarus daher allein den Willen Gottes zur Vervollkommnung der menschlichen Seele, die in ihrem Fortbestand nach dem Tod diesem Ziel fortwährend entgegengeht. Gott weiß, dass die Sünden der Menschen aus der Beschränkung ihrer Naturkräfte resultieren, und begegnet ihnen stets mit Nachsicht und Liebe, was in dem biblischen Ausspruch »Gott ist die Liebe« seinen Ausdruck findet (502 f.). Zwar bedient sich Gott im Vollzug seiner Liebe auch verschiedener Strafen gegen den Menschen. Doch dienen diese Strafen stets nur der Besserung des Menschen, die sich in Stufen über die Lebenszeit des Körpers hinaus immer fort steigert, bis sich das Erziehungswerk Gottes am Menschen dereinst vollendet (504–506). An diese Kritik der Satisfaktionslehre schließt Reimarus eine kurze Betrachtung über die ewigen Höllenstrafen an. Erneut stellt er hierbei heraus, dass die Strafen, die Gott anwendet, stets der Besserung des Menschen dienen, und betrachtet den strafenden Gott im Bild eines Arztes, der dem Patienten bittere Medizin verabreicht. Von hier aus lehnt er die Lehre von den ewigen Höllenstrafen ab, weil sie das Gottesbild entstellen und nicht zur Besserung der Menschen beitragen (506 f.). Desgleichen lehnt Reimarus auch die Vorstellung vom Teufel als ein Schreckbild für den Pöbel ab (508 f.). Erst jetzt wendet sich Reimarus der Trinitäts- und Zwei-Naturen-Lehre zu, indem er zunächst das Lehrsystem des Christentums und besonders die Satisfaktionslehre zusammenfassend darstellt (510–513). Die Lehren von der Trinität und den zwei Naturen Christi hält er für eine notwendige Folge des zuvor dargestellten Lehr-
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bestands. Ihre Kritik fällt knapp aus: Reimarus zeigt, wie die im Alten Testament noch nicht enthaltene Mehrpersonalität Gottes unter Rückgriff auf platonische Vorstellungen entstand und wie sie in der Alten Kirche formuliert wurde. Da Reimarus in diesen Formulierung nichts findet, was mit einem einfachen und klaren Gottesbegriff in Einklang zu bringen ist, lehnt er sie ab, ebenso wie die übrigen dogmatischen Lehrpunkte, die auf den soweit behandelten Lehren aufbauen (513–516). Das fünfte Buch endet mit einer kurzen Skizze der christlichen Lehrentwicklung von den einfachen ethischen Lehren Jesu bis hin zur Dogmatik der Alten Kirche, in der Reimarus erneut Kritik am verbreiteten Religionszwang übt (516–520). Bevor sich Reimarus im sechsten Buch »Anhang einer Historiae Criticae Canonis Novi Testamenti« der Geschichte der Entstehung des neutestamentlichen Kanons zuwendet, diskutiert er die Frage, ob die Bücher des Neuen Testaments ihrem Inhalt nach als von Gott inspiriert gelten können, und zeigt, dass ihre Verfasser selbst nicht einmal den Anspruch erheben, von Gott im Sinne einer Inspiration autorisiert zu sein. Vielmehr verstehen sich sowohl Jesus wie auch die Apostel lediglich als Interpreten der ihnen als heilig und kanonisch vorgegebenen Heiligen Schrift des Alten Testaments (523–525). Auch hinsichtlich der historischen Verlässlichkeit der Evangelien äußert Reimarus Zweifel. Bezug nehmend auf die durch die englischen Exegeten John Pearson und John Mill vorgenommene Datierung der Schriften errechnet er einen Zeitraum von dreißig Jahren, in denen die Apostel auf eine schriftliche Fixierung ihrer Erinnerung an Jesus verzichteten (526–528). Erst spät begannen die Evangelisten, teilweise gestützt auf schriftliches Quellenmaterial, ihre je eigene Sicht von der angeblich wahren Geschichte Jesu niederzuschreiben. An je unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Gemeindesituationen entstanden zahlreiche Evangelien, unter denen sich die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes im Laufe der Zeit durchsetzten (529–534). Erneut listet Reimarus hierbei zahlreiche Beispiele des Selbstwiderspruchs der vier Evangelisten untereinander auf, um die Unglaubwürdigkeit ihrer Berichte unter Beweis zu stellen. Hierbei bemerkt er ein besonderes Interesse der Evangelisten an Wundergeschichten, die ihrem Evangelium größere Popularität verschaffen konnten (534–543). Nach dieser Abhandlung der Geschichtsbücher wendet sich Reimarus in Kapitel VI ,2 den Lehrbüchern des Neuen Testaments zu, d. h. den Briefen und der Offenbarung des Johannes. Letztere lehnt er aufgrund ihres verworrenen Inhalts an erster Stelle ab (544). Zur Diskussion stehen für Reimarus folglich nur noch die Briefe des Paulus, Petrus, Johannes, Jakobus und Judas, unter denen die Briefe des Paulus besonderes Augenmerk verdienen, weil sie sich einerseits an konkrete Gemeinden richten und andererseits ein verhältnismäßig klar ausformuliertes christliches Lehrsystem enthalten. Paulus selbst verstand sich als der wichtigste Theologe der Christenheit, und es gelang ihm, seine Kritiker zurückzudrängen. In den
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nicht-paulinischen Briefen erkennt Reimarus den schwachen Niederschlag einer Opposition gegen die Dominanz der paulinischen Theologie (544–549). Einer Liste von grundlegenden Fehlern der paulinischen Theologie ordnet Reimarus jeweils die Gegenstimmen der übrigen Apostel zu und behandelt auf diese Weise die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit (551–553), die Lehre von der Universalität der durch den Glauben erworbenen Gnade angesichts der in Christus erbrachten Satisfaktion, die sich bei der Mission unter den Heiden als vorteilhaft erwies (553–555), und schließlich die Lehre von der Gnadenwahl (555–557). Da sich die Theologie des Neuen Testaments stets um diese zentralen Lehrpunkte der paulinischen Theologie formiert, kann Reimarus aus seinem Nachweis der Fehlerhaftigkeit der paulinischen Lehren ein negatives Urteil über die Lehrbücher des Neuen Testaments insgesamt gewinnen. Die Lehrbücher des Neuen Testaments erscheinen Reimarus wie ein Spiegel der charakterlichen Schwächen des ruhm- und herrschsüchtigen Apostels Paulus (557–561). In Kapitel VI ,3 rekonstruiert Reimarus die Geschichte der Kanonisierung der Schriften des Neuen Testaments. Er erkennt in ihr einen Prozess menschlicher Entscheidungsfindung, der, wie es sich besonders aus den Kirchenvätern belegen lässt, nicht ohne Meinungskämpfe ablief. Das Ergebnis war schließlich ein durch Konzilsentscheidung festgelegter Kanon, der Reimarus rein äußerlich betrachtet ebenso verbindlich erscheint wie etwa der muslimische Glaube an den Koran als ein göttliches Buch (562–564). Was nun die Geschichtsbücher des Neuen Testaments angeht, so wiederholt Reimarus zunächst die Beobachtung, dass sie selbst an keiner Stelle Anspruch auf göttliche Autorität und Kanonizität erheben, sondern vielmehr das Alte Testament als die Heilige Schrift auszulegen beanspruchen (565 f.). Reimarus weist weiter hin auf die Vielzahl konkurrierender Evangelien sowie auf Abweichungen im Kanon des syrischen Neuen Testaments und kommt zu dem Schluss, dass die Kanonfrage noch bis ins 4. Jahrhundert hinein strittig blieb (568–570). Den Grund hierfür sieht Reimarus in der lokalen Anbindung der Evangelien an jeweilige Gemeinden. Da die Diskussion um den Kanon vor allem in den westlichen Teilen des römischen Reichs geführt wurde, waren es vor allem die Christen des Ostens, die sich mit ihren abweichenden Meinungen nicht durchsetzen konnten (571–573). Entsprechend weist Reimarus einen Streit um die Kanonisierung auch nach für die neutestamentlichen Lehrbücher. Selbst die weithin anerkannte Autorität der paulinischen Theologie wurde besonders im Osten nicht immer akzeptiert, und über die übrigen Briefe sowie die Offenbarung wurde in der Ostkirche noch weit länger gestritten (573–575). Als ein zusätzliches Problem bei der Kanonisierung der Lehrbücher des Neuen Testaments nennt Reimarus die Klärung der jeweiligen Verfasserschaft, die angesichts der starken Bindung jeweiliger Gemeinden an Lehrautoritäten eine große Bedeutung hatte. Reimarus bezweifelt, dass die Kirchenväter über ausreichende Mittel einer philologischen Kritik verfügten, um die Verfasserfrage klären zu können und den vollen Umfang der von einem jeweiligen Verfasser erhaltenen Schriften richtig zu
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bestimmen. Sie verließen sich vielmehr auf die nicht näher bestimmte Tradition und wählten auf diese Weise oft willkürlich einige Schriften unter unzähligen aus, um sie für göttlich und kanonisch zu erklären (577–581). Mit einer Zusammenfassung der Geschichte der Kanonisierung in zwölf Punkten schließt Reimarus das Kapitel (581–583). In einem kurzen »Beschluß« der gesamten »Apologie« erklärt Reimarus noch einmal den Zweck seiner Schrift: er weist seine Leser an, unter all der aufgezeigten Verderbnis der Religion die verbleibenden wertvollen Elemente zu sammeln und zu bewahren. Es gelte unter Heidentum, Judentum, Christentum und Islam das Nützliche zu finden, wobei sich die allgemeine praktische Religion Jesu als besonders wertvoll erweisen werde. Reimarus möchte bei dieser Suche helfen, indem er die allgemeine vernünftige Religion aus ihren Verfälschungen durch Religionsbetrüger befreit (583–585).
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose« Man muss von dem Ganzen der »Apologie« einige Schritte zurücktreten, um in der Fülle der bibelkritischen Argumente Ansatzpunkte erkennen zu können, von denen eine Rückfrage nach der Genese und den Quellen der »Apologie« ihren Ausgang nehmen kann. Innerhalb des Alten Testaments ist es die Kritik Moses und der durch ihn unter den Israeliten errichteten Theokratie, die Reimarus in beispielhafter Ausführlichkeit entfaltet und deren Genese sich bis in die frühesten handschriftlichen Notizen hinein zurückverfolgen lässt und so ein vertieftes Verständnis der Reimarus’schen Kritik des Alten Testaments in ihrer Entstehung ermöglicht. Schwieriger ist die Auswahl im Blick auf die Kritik des Neuen Testaments. Reimarus’ Rückfrage nach dem Historischen Jesus erscheint hier ebenso als einer der Kernpunkte wie die Kritik der Auferstehung samt der Rekonstruktion der weiteren Geschichte der Jünger und der neutestamentlichen Schriften, Punkte, die insofern eine thematische Einheit bilden, als Reimarus sie konsequent als Teil der Geschichte des Judentums diskutiert. Einen dritten Ansatzpunkt stellt daneben Reimarus’ Kritik der christlichen Dogmatik dar, die er zum Teil im Anschluss an die Kritik des Neuen Testaments behandelt, teils aber auch in den ersten Büchern des ersten Teils der »Apologie«. Die Auswahl fällt hier leicht, weil Reimarus selbst die dogmatischen loci zugrunde legt und auf diese Weise eine thematische Abgrenzung vorgibt. Als ein Charakteristikum der Reimarus’schen Bibelkritik bekannt ist die widerspruchslogische Destruktion biblischer Wunderberichte. Durch Lessings Publikation der »Fragmente« ist die Kritik des alttestamentlichen Berichts vom Meerwunder und des neutestamentlichen Berichts vom Auferstehungswunder
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ins allgemeine Bewusstsein getreten als die eigentlichen Kernstücke der »Apologie«. Diese Akzentuierung der Reimarus’schen Bibelkritik durch Lessing ist zumindest insofern nicht unberechtigt, als solche widerspruchslogische Kritik tatsächlich eines der Grundinteressen des Reimarus seit den frühesten Vorarbeiten zur »Apologie« darstellt. Schon unter den Notizen der 1730er Jahre finden sich skizzenhafte Entwürfe zur später eigenständig ausgebauten »Vernunftlehre«, die 1756 und 1758 in erster und zweiter Auflage und noch einmal überarbeitet 1766 in dritter Auflage erschien.85 In formaler Hinsicht an der Logik Wolffs orientiert entwirft Reimarus eine eigene Vernunftlehre, die Elemente von John Locke und Andreas Rüdiger integriert und sich von der Logik Wolffs vor allem dadurch unterscheidet, dass sie die Vernunft in ihrem alltäglichen, praktischen Gebrauch in der Begriffsbildung, im Urteil und im Schluss betrachtet. Anders als Wolff, der das an sich ungeleitete menschliche Erkennen durch die Logik in rationale Bahnen leiten zu müssen meint, geht Reimarus davon aus, dass der Mensch von Natur aus über ein logisches Regelwerk verfügt, dessen Gebrauch er in der alltäglichen Anwendung übt und verbessert.86 Reimarus’ »Vernunftlehre« expliziert lediglich, was selbst im einfachen »Bauren-Verstand«87 an logischen Regeln wirksam ist, selbst dann, wenn es an der alltäglichen Übung mangelt. Schon auf der Ebene der Begriffsbildung, noch mehr aber auf der Ebene des Urteils sind die Sätze von der Übereinstimmung und dem Widerspruch grundlegend: Beide Regeln sind unserer Vernunft so wesentlich, daß wir ohne und wieder dieselbe wissentlich nichts gedenken können. Wenn wir nämlich durch unsere Reflexion oder Vergleichung einsehen, daß ein Ding mit dem andern einerley sey, so müssen wir sie nohtwendig zusammen gedenken. […] Und so bedienet sich auch der gemeinste Mann dieser Regel, obwohl in besonderen Fällen. […] Wenn man hergegen einsiehet, daß sich etwas wiederspreche, d. i. daß eins und dasselbe zugleich von einem und demselben Dinge bejahet und verneinet werde: so hebet eine Vorstellung die andere auf, und es ist uns nach der Regel des Wiederspruchs nicht möglich, beides zusammen von einem Dinge zugleich zu gedenken, wenn wir auch gerne wollten. […] Auch im gemeinen Leben bezieht man sich fleissig auf diese Regel, obwohl mehrentheils in besonderen Fällen, wenn man z. B. spricht: wenn ich recht thue, so kann ich nicht unrecht thun: so müßte Gott nicht Gott mehr seyn: so würde krumm gerade seyn müssen. Sie deuten alsdenn das Unmögliche an, und haben überhaupt die Regel (wenigstens undeutlich) in ihren Gedanken, daß ein Ding nicht zugleich seyn und nicht seyn könne, was es ist.88 85 Vgl. Frieder Lötzsch, Vorbericht des Herausgebers, in: Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre, Nachdruck der ersten Auflage von 1756, hg. von Frieder Lötzsch, München 1979, S. VII . 86 Vgl. Hans Werner Arndt, Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie, in: Wolfgang Walter / Ludwig Borinski (Hg.), Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ›Vernunftlehre‹ von Hermann Samuel Reimarus, Göttingen 1980, S. 59–74, hier S. 61. 87 Vgl. Apol II , S. 470. Zur Deutung dieser Stelle siehe unten Kapitel 2.6.3. 88 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre, Nachdruck der ersten Auflage von 1756, hg. von Frieder Lötzsch, München 1979, S. 34 f. Ausgelassen wurden Beispiele aus Algebra und Geometrie.
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In der dritten Auflage wird diese widerspruchslogische Grundregel im Blick auf die Prüfung von Zeugenberichten noch einmal expliziert: Eine Sache, die mehrmal geschehen, und in ihren Umständen zusammen hängt, macht die Erzählung an sich glaublich; und ein Vorurtheil der Unwissenheit macht sie noch nicht unglaublich. Wenn aber die erzählte Sache sich selbst oder andern klar erkannten Wahrheiten offenbar widerspricht, so ist sie, so wie ihr Zeuge, unglaubwürdig.89
Das Erbe Andreas Rüdigers, dessen Vorlesungen Reimarus 1714 in Leipzig besuchte, wird hier greifbar. Es war Rüdiger, der die Regeln der Logik auf die Testimonienfrage übertrug und so diejenigen historischen Wahrscheinlichkeitsabwägungen ermöglichte, die Reimarus in seinen berühmten Kritiken des Meerwunders und der Auferstehung anstellte.90 Jedoch wäre es zu kurz gegriffen, die bibelkritische Wirkung der Reimarus’schen Widerspruchslogik allein in der internen Destruktion biblischer Wunderberichte erkennen zu wollen. Grundlegender und angesichts des aus den handschriftlichen Vorstufen zur »Apologie« zu erhebenden Befunds ursprünglicher ist eine Anwendung der Reimarus’schen Widerspruchslogik, die nicht auf den biblischen Bericht beschränkt bleibt, sondern über ihn hinausgeht und ihn konfrontiert mit dem vernünftigen Gottesbegriff, den die philosophische metaphysica specialis auch ohne Zuhilfenahme der biblischen Offenbarung zu entwerfen vermag. Wenn die in der Bibel berichtete Geschichte des Volks Israel tatsächlich eine von Gott durch Offenbarungen gelenkte Geschichte ist, so müssen sich die der Vernunft bekannten Eigenschaften Gottes, besonders nämlich seine Weisheit und Güte, in der durch ihn gelenkten Geschichte spiegeln. Die geoffenbarten Gesetze müssen weise und gut sein, die Offenbarungsmittler, die die Gesetze überbringen, müssen selbst weise und gut handeln, und zuletzt müssen auch die Verhältnisse innerhalb der durch die geoffenbarten Gesetze geregelten israelitischen Volksgemeinschaft der Weisheit und Güte Gottes entsprechen. Ist dies nicht der Fall, so gerät die gesamte Konzeption einer historisch-biblischen Offenbarung in Schwierigkeiten. Sie kann dann nicht mehr ausgewiesen werden als die Offenbarung des aus der philosophischen Theologie hinsichtlich seiner Eigenschaften bekannten Gottes. Dieser grundlegenden widerspruchslogischen Einsicht folgend sind es zuerst die alttestamentlichen Berichte sittlicher Entgleisungen, die Reimarus’ Aufmerksamkeit erregen. Sehr früh schon fertigt Reimarus Listen an, die das Ausmaß der Unsittlichkeit unter den Israeliten belegen: Polygamie, Duldung von Sodomie, 89 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre, Nachdruck der dritten Auflage von 1766, hg. von Frieder Lötzsch, München 1979, S. 256. 90 Vgl. Frieder Lötzsch, Vorbericht des Herausgebers, S. XI , und Markus Völkel, »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis, Frankfurt am Main u. a. 1987, S. 311 f.
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Inzest sowie die vielen Fehltritte des Königs David91 notiert Reimarus, um zu belegen, wie weit die Israeliten von den Bestimmungen des natürlichen Sittengesetzes des guten Schöpfergottes abfielen. Explizit als Widerspruch gegen die göttlichen Eigenschaften der »Gerechtigkeit, Weisheit, Güte«92 behandelt Reimarus im Archivstück A 13 d zum ersten Mal zusammenhängend die Geschichte der unter Mose von Gott gestifteten Regierung Israels bis in die Zeit unter den Königen, ergänzt durch einen Abschnitt über die Priesterfinanzen93, die Reimarus als ein besonders herausragendes Beispiel der durch die mosaischen Gesetze gestifteten Ungerechtigkeiten erwähnenswert erscheinen. Reimarus ist klar, dass die Israeliten der natürlichen Moral zuwiderhandeln, muss aber konstatieren, dass sie dem biblischen Bericht zufolge ihre Fehltritte zum Teil als von Gott befohlene Maßnahmen zu deuten imstande sind. Ermöglicht werden diese verfehlten Deutungen durch die Inhalte der Offenbarungen, die sich von der natürlichen Moral und Religion her als nicht-göttlich zu erkennen geben, den Israeliten aber gleichwohl als göttliche Offenbarungen bekannt wurden. Es ist überraschend, wie zögernd Reimarus angesichts dieser früh geäußerten Einsichten zu einer Kritik des berichteten Offenbarungsgeschehens selbst und der die Offenbarung begleitenden Wunder übergeht. Es hätte nahegelegen, angesichts der Einsicht in den tatsächlich widergöttlichen Charakter der Offenbarungsinhalte unmittelbar zu einer Kritik der biblischen Berichte geschehener Offenbarungen überzugehen und sie wunderkritisch zu entkräften. Doch Reimarus geht hier mit Vorsicht zu Werke. Klar ist er sich darüber, dass ein Wunder, selbst wenn es wie berichtet stattgefunden hätte, wenig theologische Beweiskraft für sich in Anspruch nehmen könnte: »Für intelligente Menschen sind Wunder an sich minder glaubwürdig«,94 notiert er unvermittelt in einem Zettelkonvolut der 30er Jahre. Kurz darauf folgt ein weiterer Aphorismus: Wunder an sich zeigen einzig die Macht Gottes, nicht die Weisheit und Güte, vielmehr zeigen sie das Gegenteil, wenn man sagt, sie seien ohne Notwendigkeit getan. Aber wenn das, was durch ein Wunder eingetreten ist, auch durch natürliche Ursachen hätte geschehen können, und wenn sie getan wurden zum Vorteil eines stets halsstarrigen und an den Sitten verdorbenen Volks, das sich selbst durch Wunder nicht verbessert hat, wie sollte man glauben, dass sie etwas zur Kenntnis geben?95
Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, S. 9. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 13 d, S. 11. 93 Vgl. ebd., S. 47–52. 94 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, S. 10: »Miracula per se minus sunt credibilia hominibus intelligentibus.« 95 Ebd., S. 10: »Miracula per se potentiam tantum Dei non sapientiam, bonitatemque demonstrant, imo contrarium demonstrant, quando facta dicuntur praeter necessitatem, sed quando id quod per miraculum evenit etiam per causas naturalis potuisset fieri: et quando facta sunt in commodum populi semper refractarii et perditis moribus, qui ipse non e ¯didit miraculis, quomodo crederent opferi?«. 91 92
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose«
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Im Vordergrund steht hier neben der Frage nach der metaphysischen Möglichkeit von Wundern die Frage nach ihrem theologischen Sinn. Der maßgeblich durch Spinozas96 »Theologisch-politischen Traktat« geprägten Tradition einer Kritik biblischer Wunder folgend, fragt Reimarus, was durch ein Wunder, gesetzt den Fall, es geschähe eines, überhaupt bewiesen werden sollte und welche theologische Bedeutung einem Wunder in der höchst kontingenten Geschichte des Volks Israel beizumessen wäre. Zur Kritik des neutestamentlichen Auferstehungswunders bieten die frühen handschriftlichen Notizen Ansätze.97 Die alttestamentlichen Wunder dagegen kommen langsamer in den Blick. Dem Historiker und Philologen Reimarus war es offensichtlich wichtig, den biblischen Bericht als eine Geschichtsquelle höchst ernst zu nehmen und ihm hinsichtlich der Wunderberichte nicht diejenige Glaubwürdigkeit zu bestreiten, die er ihm hinsichtlich seiner Berichte über die Verhältnisse in der israelitischen Theokratie zubilligte. Die wunderbegleitete alttestamentliche Offenbarung, die offenkundig zu den barbarischen Verhältnissen bei den Israeliten beigetragen hatte, stellte ein Problem für Reimarus dar, das er zunächst auf unterschiedliche Weise zu lösen versuchte, ehe er in der Endfassung der »Apologie« ein in sich differenziertes Erklärungsmodell anbieten konnte. Um der Entwicklung der Reimarus’schen Kritik des Alten Testaments und seiner Offenbarungen auf die Spur zu kommen, bieten seine Ausführungen über die Wolken- und Feuersäule an der mosaischen Stiftshütte den geeigneten Ausgangspunkt. Denn sie ist nicht nur im dritten Buch der »Apologie« die Mitte, um die herum sich die verschiedenen Missstände in der Theokratie des Mose entspannen. Sie ist zugleich der Gegenstand, an dem Reimarus früh bereits Wunderkritik verschiedener Provenienz erprobte. Der erste Lösungsversuch, der sich aus den handschriftlichen Archivmaterialien rekonstruieren lässt, läuft auf eine natürliche Erklärung der sonderbaren Ereignisse rund um die mosaische Wolken- und Feuersäule hinaus. Die Ursache des israelitischen Offenbarungsglaubens wäre dann in Naturerscheinungen zu suchen, 96 Reimarus’ wunderkritische Aphorismen ähneln stark Spinozas Wunderkritik im sechsten Kapitel seines »Traktats«, vgl. Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1994, S. 93–112. Da Spinozas »Traktat« seit 1670 durch die Kritik Jakob Thomasius’ auch lutherischen Theologen nicht unbekannt war, dürften die Argumente Spinozas auch Reimarus früh bereits als wunderkritische Allgemeinplätze bekannt gewesen sein. Die Frage eines Einflusses von Spinozas »Traktat« auf Reimarus’ »Apologie« scheint sich an mehreren Stellen aufzudrängen und wird in den seltensten Fällen klar negativ zu beantworten sein. Zu beachten bleibt aber, dass Spinoza sehr viele bibelkritische Argumente formulierte, die später von anderen Autoren aufgenommen und weiterentwickelt wurden und erst dann für Reimarus’ Arbeit an der »Apologie« relevant wurden. Zur Wirkung des Traktats vgl. Günter Gawlick, Einleitung, in: Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hg. von Günter Gawlick, Hamburg 1994, S. XI –XXX . 97 Es handelt sich hier vermutlich um Notizen, die durch die Beschäftigung mit Woolstons »Discourses« angeregt waren und zunächst unverbunden neben der weiter ausgeführten Kritik des Alten Testaments standen. Siehe hierzu unten Kapitel 2.5.
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2 Das bibelkritische Werk
die durch Mose ebenso wie durch das Volk mehr oder minder ohne böse Absicht religiös gedeutet und als eine göttliche Bestätigung des mosaischen Gesetzes genommen wurden. Der einzige Beleg für diesen Lösungsansatz ist ein Handzettel aus dem ungeordneten Konvolut A 7 aus dem Staatsarchiv Hamburg, der eine Reihe von Bibelstellen zur Anwesenheit Gottes in den Wolken und besonders in der Wolken- und Feuersäule bietet.98 Darüber finden sich Notizen zu verschiedenen Wetter- und Himmelsphänomenen aus der »Meteorologie« des Aristoteles, ergänzt aus unmittelbar darunter vermerkten meteorologischen Werken Froidmonts und Du Hamels.99 Der Sinn dieser Notizen erscheint zunächst dunkel. Können die aristotelischen Beschreibungen des Aufsteigens eines trockenen und feuchten Wetterdunstes helfen, die wundertätige Wolkensäule an der Stiftshütte naturwissenschaftlich als ein einfaches Wetterphänomen zu erklären? Lassen sich außergewöhnliche Lichterscheinungen und Gestirnkonstellationen am Nachthimmel der vorchristlichen Antike mit den biblischen Berichten in Verbindung setzen? Aristoteles datiert einige der beschriebenen Phänomene, doch seine Aufzeichnungen reichen nicht bis in die mosaische Zeit zurück.100 Um den sonderbaren handschriftlichen Versuch des Reimarus zu verstehen, gilt es, ein anderes wunderkritisches Werk mit in den Blick zu nehmen, das schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfasst worden ist und in radikalaufklärerischen Kreisen zirkulierte, nämlich Giulio Cesare Vaninis »De admirandis Naturae reginae deaeque mortalium arcanis«101. Der Versuch, Aristoteles’ »Meteorologie« zur naturwissenschaftlichen Erklärung berichteter Wunderphänomene zu verwenden, begegnet in der Literatur nicht allzu oft, so dass es als legitim erscheint, den sonderbaren Notizzettel aus dem Reimarusnachlass als einen Versuch zur Fortführung des Vaninischen Ansatzes zu verstehen. Anders als Reimarus richtet sich Vanini mit seiner Wunderkritik freilich nicht primär gegen biblische Wunder. Seine Methode der Kritik führt er unverdächtig an Beispielen heidnischen 98 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 7. In Wilhelm Schmidt-Biggemanns Handschriftenverzeichnis sowie in Gerhard Alexanders Einleitung zur »Apologie« wird das Konvolut A 7 noch nicht erwähnt. Eine Datierung der ungeordneten Blätter fällt schwer, die Gestalt der Schrift legt jedoch eine Frühdatierung besagten Zettels nahe. Hinzu kommt, dass andere Notizen zu demselben Thema aus dem Konvolut A 14 m eindeutig in die 30er Jahre datiert werden können. 99 Vgl. Libert Froidmont, Meteorologica libri sex, Antverpia 1627, und Jean-Baptiste Du Hamel, De Meteoris et Fossilibus libri duo, Paris 1660. Reimarus muss mehr als diese beiden meteorologischen Werke benutzt haben, denn das Polarleuchten (lux borealis), das in der Liste von Phänomenen verzeichnet ist, wird in keinem der Werke besprochen. 100 Vgl. Aristoteles, Meteorologica, übers. und hg. von H. D. P. Lee, London / Cambridge, Massachusetts 1962, S. 55 f. und 232–241 (Kapitel I ,7 und III ,1). Für die Datierung der Mosegeschichte wäre hier der biblischen Chronologie zu folgen, die Reimarus nicht anzweifelt. 101 Vgl. Giulio Cesare Vanini, Le Opere di Giulio Cesare Vanini e le loro fonti, Bd. 2: De admirandis Naturae arcanis, hg. von Luigi Corvaglia, Milano u. a. 1990. Die Edition legt die Ausgabe Paris 1616 zugrunde. Zu Vanini vgl. Francesco Paolo Raimondi, Giulio Cesare Vanini nell’Europa del seicento, Pisa / Roma 2005, und Didier Foucault, Un philosophe libertin dans l’Europe baroque Giulio Cesare Vanini (1585–1619), Paris 2003.
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose«
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Aberglaubens innerhalb der Christentumsgeschichte durch. Was Reimarus auf seinem Notizzettel aufgreift, findet sich im vierten Buch von »De admirandis« im zweiten Dialog »De apparationibus in aere« durchgeführt.102 Vanini geht hier der Frage nach, wie und zu welchem Zweck die in der Literatur zuweilen erwähnten Lufterscheinungen entstehen. Die Frage nach dem Zweck findet schnell eine Antwort. Anknüpfend an Machiavellis »Discorsi« und deren Rekurs auf Numa Pompilius103, der die Religion unter den Römern zur Stärkung der Gesetzestreue des Volks einführte, verweist Vanini auf andere Beispielfälle, in denen Regenten politischen oder militärischen Gewinn aus der Religion zogen, indem sie die Begeisterung und Furcht des einfachen Volks Wundererscheinungen gegenüber für ihre Zwecke nutzten. Nach der eher unscheinbaren Diskussion einer mit einfachen Mitteln fingierten nächtlichen Gespenstererscheinung, die laut dem Bericht des Sir Thomas Gray104 dem schottischen König Kenneth einst zum Sieg über die Pikten verholfen hat, wendet sich Vanini der Frage zu, ob auch größer angelegte Luftspiegelungen als ein Mittel diskutiert werden müssen, durch das sich supranaturale Erscheinungen fingieren lassen. Bei Cornelius Agrippa und Girolamo Cardano findet er eine erste Bestätigung, dass dies möglich sei, wenn man aufsteigende Wetterdünste als Träger jeweiliger Erscheinungsbilder in Betracht ziehe.105 Während Agrippa seine Überlegungen zu der These steigert, das natürliche Phänomen der Luftspiegelung lasse sich gezielt steuern und zum Beispiel als ein Mittel zur militärischen Geheimkommunikation nutzen, bleibt Vanini mit Cardano zurückhaltender. Es genügt ihm festzuhalten, dass sich von der Aristotelischen »Meteorologie« und ihrer Lehre vom Aufsteigen der Wetterdünste eine naturwissenschaftliche Erklärungsweise anbietet, die beispielsweise geeignet ist, das Erscheinen des antiken Pseudopropheten Apollonius von Tyana verständlich zu machen.106 Vaninis Wunderkritik ist subtil formuliert und auf den ersten Blick schwer greifbar. Was der Passus bietet, sprengt kaum den Rahmen antiker Verspottungen des Aberglaubens und Götzendienstes, die nicht zuletzt die Kirchenväter als ein Argument für die Wahrheit der christlichen Religion freudig aufgegriffen hatten. Man muss die akademische Herkunft Vaninis im Auge behalten, will man ver102
Vgl. Giulio Cesare Vanini, De admirandis naturae arcanis, S. 277–279. Vgl. Niccolò Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, übers. und hg. von Rudolf Zorn, Stuttgart 21977, S. 43 f. 104 Zu den antiken Vorbildern dieser Kritik vgl. Francesco Paolo Raimondi, Giulio Cesare Vanini, S. 134. Die mittelalterliche Chronik des Sir Thomas Gray berichtet über Kenneths Sieg über die Pikten. Der Text wurde neu ediert: Sir Thomas Gray, Scalacronica 1272–1363, übers. und hg. von Andy King, Woodbridge 2005. 105 Vgl. Giulio Cesare Vanini, De admirandis naturae arcanis, S. 279, und Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophia. Drei Bücher über die Magie, übers. von Friedrich Barth, Stuttgart 1987, S. 25 ff. Zu Agrippa vgl. Christopher Lehrich, The language of demons and angels: Cornelius Agrippa’s occult philosophy, Leiden 2003, S. 25–42 und 73 ff. 106 Vgl. Giulio Cesare Vanini, De admirandis naturae arcanis, S. 279. 103
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stehen, warum er bevorzugt von Freidenkern und Atheisten gelesen wurde als ein entschiedener Gegner des neuerdings christlich genannten, alt bekannten Aberglaubens. Der Name Cardanos, auf den sich Vanini bezieht, gibt die Richtung an, in der die geistige Heimat Vaninis zu suchen ist: es ist der italienische Renaissancearistotelismus, in dessen geistigem Zentrum, Padua, Vanini als junger Mann naturwissenschaftliche und juristische Studien betrieben hatte. Vanini hatte hier die vor allem durch Pietro Pomponazzi repräsentierte radikale Aristotelesinterpretation kennen gelernt, die sich durch eine materialistische Deutung aristotelischer Schriften jenseits der während des christlichen Mittelalters etablierten Auslegungstradition auszeichnete. Im Schutz eines Bekenntnisses zur klaren Trennung theologischer und philosophischer Wahrheit führte Pomponazzi den kirchlich verurteilten Averroismus fort und leitete so zu einer naturwissenschaftlichen Wunderkritik an.107 Vanini seinerseits übernahm diese kritische Verfahrensweise ohne das schützende Bekenntnis zur Trennung philosophischer und theologischer Wahrheit und führte unter anderem im vierten Buch von »De admirandis« eine ausführliche und durch zahlreiche Beispiele illustrierte Kritik des Aberglaubens innerhalb der Christentumsgeschichte durch, ein Vorgang, in dem nicht erst die moderne Philosophiegeschichtsschreibung die Geburtsstunde des europäischen Atheismus erblickte. Atheistische Denktraditionen formierten sich innerhalb einer radikalisierenden Lektüre des Paduanischen Aristotelismus durch französische Frühaufklärer, die verschleiert vorgetragene Argumente offen materialistisch oder religionskritisch explizierten. Die Frage, ob und in welchem Maße Vanini selbst atheistisch oder christentumskritisch dachte, ist hierbei nebensächlich.108 Entscheidend für das Verständnis von Reimarus’ Vaninirezeption ist, dass Vanini früh bereits atheistisch gelesen wurde und man das Potential seiner subtil vorgetragenen Wunderkritik nicht übersah. »De admirandis« wurde unter Zurückhaltung des wunderkritischen vierten Buchs legal gedruckt und zunächst nicht indiziert. Erst nach dem Atheismusprozess, der 1619 zu Vaninis Verbrennung führte, wurde »De admirandis« zu einem verbotenen Buch und erreichte als solches einen außergewöhnlich hohen Bekanntheitsgrad. Ob und seit wann Reimarus selbst ein Exemplar von »De admirandis« besaß, ist nicht mehr festVgl. Francesco Paolo Raimondi, Giulio Cesare Vanini, S. 109–157. Vaninis Kritik speist sich aus verschiedenen Quellen. Antike Religionskritik und Machiavelli beispielsweise spielten eine Rolle neben dem Naturalismus, der Vanini ebensfalls nicht allein durch Pomponazzi vermittelt wurde. 108 Vgl. Paul Oskar Kristeller, The Myth of Renaissance Atheism and the French Tradition of Free Thought, in: Journal of the History of Philosophy 6 (1968), S. 233–243, und C. W. T. Blackwell, The historiography of Renaissance philosophy and the creation of the myth of the Renaissance eccentric genius – Naudé through Brucker to Hegel, in: Eckhard Keßler, Girolamo Cardano. Philosoph, Naturforscher, Arzt, Wiesbaden 1994, S. 339–369, betonen die radikalisierende Wirkung der Vaninirezeption, Francesco Paolo Raimondi, Giulio Cesare Vanini, und Didier Foucault, Un philosophe libertin, machen erkennbar, dass Vanini von seinen französischen Rezipienten kaum gegen die eigene Intention gelesen worden ist. 107
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zustellen. Bekannt gewesen sein dürfte ihm der einschlägige Passus aus der Philosophiegeschichte seines Wittenberger Lehrers Johann Franz Budde, der eine regelrechte Genealogie des atheistischen Denkens zu rekonstruieren versucht, in der Cardano, Aretino, Poggio, Bruno, Pomponazzi, Vanini und Machiavelli als enge Verwandte erscheinen.109 In Reimarus’ Hamburger Umfeld war mindestens ein ausgesprochener Vaninikenner präsent, Peter Friedrich Arpe, dessen »Apologia pro Vanino« offen für Vaninis Naturalismus eintritt. 110 Nachgewiesen sind Vaninis Werke zudem im Auktionskatalog zur Privatbibliothek Friedrich Lossaus, wo sie von Johann Melchior Goeze 1761 entdeckt und obrigkeitlich aus dem Verkehr gezogen wurden.111 Unter Hamburger Aufklärern war Vanini keineswegs unbekannt. Von dem wunderkritischen Experiment aus dem Konvolut A 7 hat sich in der Endfassung der »Apologie« nichts gehalten. Die Geschehnisse um die mosaische Wolken- und Feuersäule als natürliche Wetterphänomene und Erscheinungen am Nachthimmel hinweg zu erklären, erwies sich als unbefriedigend. Der biblische Befund erschien Reimarus hier vermutlich als zu massiv. Gleichwohl bleibt aber festzuhalten, dass ihm die Möglichkeit einer vorwiegend natürlichen Wundererklärung, die die Ursache des verfehlten Offenbarungsglaubens der Israeliten in einer verfehlten Ausdeutung von Naturphänomenen hätte suchen lassen, als bedenkenswert erschien. Attraktiver wurde für Reimarus daneben aber ein anderer Lösungsansatz, der sich schon bei Vanini ankündigt in der Erwähnung des Machiavellischen Rückgriffs auf die Figur Numa Pompilius’, der die Religion unter den Römern einsetzte, um stabile staatliche Verhältnisse herzustellen. Denn der zweite in den frühen handschriftlichen Notizen erhaltene Hinweis deutet auf den radikalen englischen Deisten John Toland, der seit 1709 in mehreren Schriften ein Werk über die »Respublica Mosaica« angekündigt und diverse Vorarbeiten zu diesem nie vollendeten Großprojekt zu Papier gebracht hatte.112 »Columna nubis et ignis a Tolando explicata«113 hält Reimarus in den 30er Jahren auf einem Notizzettel fest. Der nähere Kontext dieser Notiz macht es leicht, die Tolandschrift zu bestimmen, mit der sich Reimarus hier beschäftigt hatte. Es handelt sich um den ersten Traktat des »Tetradymus« mit dem Titel »Hodegus«, in dem Toland die Vgl. C. W. T. Blackwell, The historiography of Renaissance philosophy, S. 345. Zu Arpes »Apologia pro Vanino« vgl. Martin Mulsow, Freethinking in early eighteenthcentury Protestant Germany: Peter Friedrich Arpe and the Traité des trois imposteurs, in: Silvia Berti u. a. (Hgg.), Heterodoxy, Spinozism, and Free Thought in Early-Eighteenth-Century Europe, Dordrecht u. a. 1996, S. 193–239. Dass zwischen Reimarus und Arpe Kontakt bestand, ist sehr wahrscheinlich, bisher aber nicht nachgewiesen, vgl. ebd., S. 226. 111 Vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760, Hamburg 1998, S. 136 und 238. 112 Zu Tolands Mosedeutung vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München / Wien 1998, S. 133–138. 113 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, S. 12. 109 110
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Funktionsweise der Wolken- und Feuersäule erklärt. Reimarus benutzte die Ausgabe London 1720,114 die einzelnen Traktate des »Tetradymus« erschienen aber auch später noch an verschiedenen Orten im Druck.115 »Hodegus; or the Pillar of Cloud and Fire, that guided the Israelites in the Wilderness, not miracolous: but, as faithfully related in Exodus, a thing equally practis’d by other nations, and in those places not onely useful but necessary« lautet der volle Titel des »Hodegus«. Sein Grundanliegen ist wunderkritisch. Denn wie Toland in seiner bekanntesten Schrift »Christianity not Mysterious«116 bereits 1696 klargestellt hatte, zeichnet sich die wahre und vernünftige Religion dadurch aus, dass sie sich ohne Geheimnisse präsentieren kann und ohne den Schutzschild eines supranaturalen Wunderbeweises. Dass Mose, dessen Wirken sich nach Tolands Ansicht an den Maßstäben der vernünftigen Religion messen lassen muss, ausgerechnet in einer übernatürlichen Wolken- und Feuererscheinung die Mitte seiner Regierung gesucht haben sollte, erscheint Toland als abwegig. Gerade wenn Mose unter den Israeliten die wahre Vernunftreligion gelehrt und ein entsprechendes Staatswesen begründet hat, was Toland nicht in Zweifel zieht, dann muss auch die Wolken- und Feuersäule eine vernünftige Einrichtung ohne jeden geheimnisvollen Charakter gewesen sein. Wunder dürfen sich an ihr nicht ereignet haben, andernfalls wäre das Ansehen Moses beschädigt. Diesem argumentativen Grundinteresse folgend sucht Toland historische Parallelen zur mosaischen Wolken- und Feuersäule in der antiken Welt und kommt zu der Einsicht, dass es sich bei ihr um ein gewöhnliches Feldzeichen gehandelt haben muss, das die Israeliten auf ihrer Wüstenwanderung zum Zwecke der Orientierung mit sich führten. Untertags folgten sie dem Rauchzeichen, nachts dem Licht des Feuers. Dass die mosaischen Befehle, die rund um das Feldzeichen ergingen, nach und nach zu Befehlen Gottes wurden, erklärt Toland aus der Gewohnheit der Israeliten, die Anweisungen Moses, der vor ihnen als »JEHOVAH ’s Deputy, prime Minister, or General«117 agierte, als indirekt erteilte Befehle Gottes zu deuten und sie auch so zu bezeichnen. Die Befehle Moses bedurften also keiner Wunder, um sich göttliches Ansehen zu verschaffen. Analog erklärt Toland den »Engel des Herrn« an der Wolken- und Feuersäule. Er verweist auf die Grundbedeutung des hebräischen Wortes mal’akh, um zu beweisen, dass es sich auch bei ihm ursprünglich um nicht mehr als einen menschlichen Boten gehandelt hat, der beauftragt war, das Feuerzeichen zu tra114 Vgl. Apol I , S. 434. Der »Tetradymus« ist die einzige Tolandschrift, die Reimarus in der Endfassung der Apologie zitiert. 115 Vgl. John Toland, Tetradymus, London 1720. Zu den weiteren Drucken vgl. Giancarlo Carabelli, Tolandiana. Materiali bibliografici per lo studio dell’opera e della fortuna di John Toland (1670–1722), Firenze 1975, S. 225 ff. 116 John Toland, Christianity not mysterious, London 1696. Vgl. zum Folgenden insbesondere die §§ 12 und 19–27. 117 Vgl. John Toland, Hodegus or The Pillar of Cloud and Fire not Miraculous, in: John Toland, Tetradymus, London 1720, S. 3–60, hier S. 23.
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose«
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gen, und die Israeliten so durch die Wüste führte.118 Auch der Name dieses Engels ist Toland bekannt: es war Moses Schwager Hobab, der den günstigsten Weg kannte und ihn den Israeliten wies.119 Eine besondere göttliche Offenbarung war hierbei nicht nötig. Die »Respublica Mosaica« war ein vernünftiges Staatswesen und Mose ein vernünftiger Staatsmann, dessen einfaches legislatives Handeln man erst später durch geheimnisvolle Wunderberichte zu verdunkeln begann. Worin Toland den besonderen Vorzug des Staatsmannes Mose erblickt, verrät seine 1709 in den Niederlanden publizierte Schrift »Origines Judaicae«120, das andere der beiden erhaltenen Stücke zur geplanten »Respublica Mosaica«. Dem Vorbild Machiavellis folgend, der angeregt hatte, man könne die biblische Mosegestalt ebenso betrachten, wie es sich bei anderen Gesetzgebern der heidnischen Antike als zweckmäßig erwiesen hat, stellt er Mose, Lykurg, Minos und Zamolxus in eine Reihe, um zu zeigen, dass sie alle auf die Religion zurückgriffen, um ein stabiles Staatswesen zu begründen. Schon in der antiken Historiographie bei Strabo wird Mose als Gesetzgeber und Staatsgründer behandelt, so dass die durch Machiavelli eingeforderte Mosedeutung als legitim erscheint.121 Die Besonderheit des Gesetzgebers und Staatsgründers Mose erkennt Toland nun darin, dass er aufgrund seiner Erziehung am Hof des Pharao in der Weisheit der Ägypter gelehrt war und den Israeliten daher ein schlechthin vollkommenes Religionsgesetz als Grundlage ihres Staatswesens vorlegen konnte. Indem Toland die »Respublica Mosaica« auch »The Commonwealth of Moses«122 nennt, kündigt er zugleich an, warum die mosaischen Gesetze so vollkommen waren: Sie verzichteten auf die geheimnisvolle Einkleidung in Wundergeschehen und dunkle Lehren, die allein den Priestern dienen, um Furcht im Volk zu schüren und ein autoritäres Staatswesen, die Tyrannei, zu etablieren. Die »Respublica Mosaica« aber war der vollkommene commonwealth und die archetypische Verwirklichung republikanischer Ideale, deren Erneuerung sich der radikale Whig-Politiker Toland im nachrevolutionären England herbeisehnte. Und dieselbe unselige Rolle, die der monarchietreue Klerus durch sein Unfehlbarkeit verbürgendes theologisches Herrschaftsvokabular im nachrevolutionären England spielt, weist Toland auch dem israelitischen Priestertum nach Mose zu: es waren die Priester, die den vollkommenen commonwealth beschädigten, indem sie unvernünftige Mysterien
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Ebd., S. 46 ff. Ebd., S. 53 ff. 120 Die »Origines Judaicae« wurden 1709 zusammen mit dem »Adeisidaemon« gedruckt, vgl. John Toland, Adeisidaemon Sive Titus Livius A Superstitione vindicatus […] Annexae sunt ejusdem Origines Judaicae, Hagae-Comitis 1709. 121 Zitiert wird fortan nach der von Michael Palmer besorgten lateinisch-deutschen Textausgabe: John Toland, Origines Judaicae, in: Palmer, Michael, Adeisidaemon Vernunft zwischen Atheismus und Aberglaube. Materialism & Commonwealth bei John Toland, Berlin 2002, S. 238–275, hier S. 240 f. 122 Vgl. John Toland, Hodegus, S. 6. 119
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2 Das bibelkritische Werk
und Zeremonien einführten. Der mosaische commonwealth war tadellos, er wurde zerstört durch den Klerus. Anders als im Fall des Traktats »Hodegus« fehlt im Blick auf die »Origines Judaicae« zwar der eindeutige Beweis, dass Reimarus die Schrift benutzt hat.123 Seine Ausführungen in der »Apologie« über die Theokratie des Mose lassen es aber als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass sich Reimarus intensiv mit beiden Tolandschriften zur »Respublica Mosaica« beschäftigt hat. Es war nicht allein Tolands Erklärung der Wolken- und Feuersäule als ein Feldzeichen, das sein Interesse weckte. Angeregt durch seine Habilitationsschrift über den Machiavellismus musste ihm auch Tolands Deutung Moses als Staatsgründer und religiöser Gesetzgeber attraktiv erscheinen. Freilich teilte er Tolands Sicht der mosaischen Regierung als vollkommenem republikanischem commonwealth nicht. Aus dem »Mosaic Commonwealth« wird die »Theokratie des Mose«124, ein totalitäres Gewaltregime, dessen Besonderheit darin liegt, dass es die Religion eben nicht von den Furcht erregenden Wundern und Mysterien befreit, sondern diese vielmehr gezielt einsetzt, um das Volk unter der Führung Moses zu bändigen. Zwar hat Mose selbst die alte Weisheit der Ägypter gelernt, er behält die »hieroglyphische Theologie« aber für sich und bringt sie unter den Israeliten nicht zur Kenntnis. Vielmehr teilt er mit dem Priester Jitro die Ansicht, dem Volk sei eine andere, durch geheimnisvolle Wunder bewehrte Religion vorzulegen, um die eigene Herrschaft theologisch zu begründen. Immer wieder weist Reimarus auf Moses Schwächen als Staatsführer hin, die dieser durch religionsbetrügerische Maßnahmen zu überdecken versuchte. Die Theokratie des Mose war von Anfang an ein auf unvernünftige Religion gegründetes autoritäres Staatswesen, dessen autoritärer Charakter sich noch verschärfte, als Aaron und das levitische Priestertum Anteil an der mosaischen Herrschaft einforderten. Tolands scharfe Kritik an der Rolle, die der Klerus im mosaischen Staat spielte, nimmt Reimarus also auf. Allein die bei Toland noch erkennbare Antithese von mosaischem commonwealth auf der einen und dessen nachmosaischem Verfall auf der anderen Seite kann Reimarus nicht übernehmen. Schon Mose hatte in einer Gemengelage von politischer Führungsschwäche und unvernünftigem Religionsbetrug ein autoritäres Staatswesen begründet, das sich noch zu seinen Lebzeiten in ein religiös legitimiertes totalitäres Gewaltregime verwandelte, als sich das Priestertum zu ermächtigen begann. Reimarus übernimmt also die von Toland vorgegebene Stoßrichtung der Kritik, radikalisiert sie aber, indem er schon Mose auf die Seite der Religionsbetrüger stellt. Damit gibt er zugleich ein wesentliches Anliegen der Tolandschen Mosekri123 Eine Notiz aus dem Archivstück A 14 m direkt nach dem erwähnten Tolandeintrag betrifft Mose, der in aller Weisheit der Ägypter gelehrt war. Die Notiz könnte sich auf die »Origines Judaicae« beziehen. Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 14 m, S. 12. 124 Zu Reimarus’ Stellung in der Geschichte des Theokratie-Begriffs vgl. Wolfgang Hübener, Die verlorene Unschuld der Theokratie, in: Jacob Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 3: Theokratie, München u. a. 1987, S. 29–64, hier 56 f.
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose«
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tik preis. Denn bei Toland ist die »Mosaic Republic« oder der »Mosaic Commonwealth« eine politische Utopie, die er als den Archetyp des vollkommenen Staats in die biblische Mosegeschichte hineinzulesen versucht. Das nur fragmentarisch erhaltene Projekt einer Schrift zur »Respublica Mosaica« hat also eine deutliche politische Absicht, die auch aus anderen Tolandschriften bekannt ist. Toland geht es um eine Durchbrechung des religiös-politischen Herrschaftsanspruchs des Klerus, der promonarchistisch politische Pluralisierungsprozesse zu konterkarieren versucht, um seinen eigenen, nominell geistlichen status quo neben der staatlichen Zentralgewalt behaupten zu können. Dagegen stellt Toland die Utopie einer vernünftigen, nicht-autoritären Religion, die mit dem dunklen Lehrbegriff der theologischen Dogmatik bricht und so seit langem überfällige politische Pluralisierungsprozesse forciert.125 Dass Reimarus, der angeregt durch seinen Englandaufenthalt noch bis in die 60er Jahre hinein englische Zeitungsnachrichten zur Kenntnis nahm, dieses politische Grundinteresse Tolands übersah, wird sich kaum behaupten lassen.126 Allein, dass die biblische Mosegeschichte der richtige Ort war, eine politische Utopie des commonwealth zu platzieren, schien ihm nicht einsichtig. Reimarus’ radikalisierende Lektüre Tolands führt die antiklerikale Seite der Kritik konsequent fort, das utopische Moment wird durch sie aber verdrängt. Ob und in welcher Weise Reimarus auf die durch die »Apologie« abgelehnte positive Seite der Tolandschen Kritik zurückkam, wird an anderer Stelle zu erörtern sein. An dieser Stelle gilt es zunächst das Faktum einer radikalisierenden Lektüre festzustellen und naheliegende Gründe für sie anzugeben. Es ist bekannt, dass Reimarus mehrere Exemplare des anonymen religionskritischen Betrügertraktats besaß. Zu berücksichtigen sind hier zwei Texttraditionen. Die jüngere lässt sich in das Jahr 1719 verfolgen, in dem, vermutlich stimuliert unter anderen durch Toland, in den Niederlanden ein französischer »Traité des trois imposteurs« erschien.127 Ob Reimarus ihn besaß, ist ungewiss. Mit Sicherheit kannte er den älteren, in Norddeutschland entstandenen Traktat »De imposturis religionum«128. Eine heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle erhaltene Abschrift des Traktats stammt, wie der Namenseintrag belegt, aus der 125 Zur Verbindung von Politik und Religion im Denken Tolands vgl. Justin Champion, Republican learning. John Toland and the crisis of Christian culture, 1696–1722, Manchester / New York 2003, S. 13. 126 Vgl. hierzu die zahlreichen Exzerpte aus englischen Zeitungen auf verschiedenen Blättern des Konvoluts Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 7. 127 Vgl. Traktat über die drei Betrüger. Traité des trois imposteurs (L ’esprit de Mr. Benoit de Spinosa), hg. von Winfried Schröder, Hamburg 1992. Zu Tolands möglichem Beitrag zu dem Traktat vgl. Justin Champion, Republican learning, S. 179 ff. 128 Vgl. [Johann Joachim Müller], De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen, hg. von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstadt 1999. Johann Christoph Wolf zumindest kannte beide Traktate. Vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 80–111, hier S. 103.
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Feder des Reimarus. »De imposturis religionum« wurde 1688 von dem Hamburger Juristen Johann Joachim Müller verfasst und erzählt viel weniger detailliert als Toland und Reimarus die Mosegeschichte, deutet sie aber konsequent als die Geschichte eines Religionsbetrugs.129 Der Passus über Mose beginnt, wie folgt: Klüger stellte Moses seine Sache an, nachdem er vorher in den Künsten und Wissenschaften der Aegypter unterrichtet worden war, und neben der Sternkunde auch geheime Naturkenntniß oder Zauberkünste erlernt hatte, kraft deren er hernach die palästinischen Zaunkönige aus ihren Sitzen verdrang und unter pompilianischem Vorgeben (das ist eines geheimen Umganges mit Jehova) sich selbst zum Herzog und seinen Bruder zum Hohenpriester machte.130
Müller argumentiert hier als ein radikaler Machiavellist, der annimmt, Mose habe seine ägyptische Weisheit missbraucht, um als religiöser Führer die Israeliten beherrschen zu können. Die weiteren Einzelheiten seiner Ausführungen sind höchst eigen und stehen außerhalb der verbreiteten Mosedeutungen, auf die Toland und auch Reimarus ihre Darstellungen beziehen.131 Auch die religionsphilosophischen Argumente, durch die Müller die Notwendigkeit einer Gottesverehrung a priori zu bestreiten versucht, erscheinen wenig ausgereift. Für Reimarus stimulierend dürfte aber gewesen sein, dass sich der Traktat offen für eine Deutung Moses als Religionsbetrüger ausspricht und damit eine seit Machiavelli nur langsam sich verschiebende Grenze ein weiteres Mal überschreitet. Denn Machiavelli hatte die Ansicht vertreten, es sei aus Gründen der Pietät nicht geraten, die Mosegeschichte als die politische Geschichte einer Gesetzgebung und Staatsgründung zu beschreiben, wenngleich dies prinzipiell möglich wäre. Toland hatte dieses von Machiavelli nicht ausgeführte Programm ins Werk zu setzen beabsichtigt, Mose dabei aber die Rolle eines vorbildlichen Gesetzgebers und Staatsgründers gelassen und die Priester zu Religionsbetrügern gemacht. Mose selbst nun mit dem Betrugsvorwurf zu belegen, bedeutete einen weiteren Schritt über die bereits verschobene Grenze der Pietät, und es ist anzunehmen, dass der Müllersche Betrügertraktat, so schlecht ausgeführt er auch war, als eine exemplarische Überschreitung der genannten Grenze für Reimarus hohe Bedeutung hatte. Das 129 Zur Textgeschichte vgl. Winfried Schröder, Einleitung, in: [Johann Joachim Müller], De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen, hg. von Winfried Schröder, Stuttgart-Bad Cannstadt 1999, S. 7–77. 130 Zitiert wurde die 1761 in Berlin erschienene Übersetzung Johann Christian Edelmanns. Etwas abweichend der lateinische Text: »Sapientius Moses, qui artibus primo Aegyptiorum occultis, id est astrorum et magiae cultu, dein armorum ferocia Palaestinae regulos sedibus extrusit, et sub specie colloquii Pompiliani fidentem rebus suis exercitum in otiosorum hominum possessiones advexit. Scilicet ut ipse esset dux magnus, et frater ejus sacerdos maximus, ut ipse princeps et dictator at quanti populi esset.« Beide Fassungen finden sich in der Ausgabe [Johann Joachim Müller], De imposturis religionum, S. 116 und 207. 131 Nachgerade Tolands Projekt einer »Respublica Mosaica« ist zu verstehen als ein Alternativprogramm zur theologischen Suche nach einer mosaischen Philosophie, vgl. Justin Champion, Republican learning, S. 175.
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Faktum an sich, dass der seit dem Mittelalter immer wieder erwähnte, jedoch nie ausgeführte Traktat »De tribus impostoribus« geschrieben war, genügte, um Religionskritiker anzuregen, die heiligen Religionsstifter der abrahamitischen Religionen anzugreifen.132 Denn die technischen Einzelheiten des Religionsbetrugs und die Möglichkeiten einer politischen Instrumentalisierung des Aberglaubens waren seit der Antike bekannt. Nicht zufällig verweist Vanini in seiner Diskussion der Lufterscheinungen auf den antiken Pseudopropheten Apollonius von Tyana. Berichte über Pseudopropheten und Verspottungen des antiken Aberglaubens wurden seit der Zeit der Alten Kirche gern gelesen und waren auch im humanistischen Unterricht wichtige Studienobjekte. Ein gutes Beispiel hierfür sind die satirischen Texte Lukians, die jederzeit zum Kanon der in der humanistischen Ausbildung verwendeten Literatur zählten.133 Unter den Schriften Lukians findet sich ein historischer Bericht über den Pseudopropheten Alexander, der in der kleinasiatischen Stadt Abonoteichus durch einfache technische Betrügereien einen Asklepiuskult etablierte, dessen Mitte eine Schlange mit anthropomorph gestalteter Maske war. Die Schlange stand als Erscheinungsweise des Gottes Asklepius dem Priester und Propheten Alexander zur Verfügung, hielt das Volk der Stadt unentwegt durch Orakelsprüche in Aufregung und verschaffte Alexander so mehr und mehr Macht und Reichtum. Neben der detaillierten Beschreibung der von Alexander zur Anwendung gebrachten Betrügertricks bietet der Text einige soziologische Beobachtungen zu der Wirkung, die Alexanders Vorführungen auf die versammelte Menge haben. Die religiöse Begeisterung nimmt den Menschen ihr natürliches Vernunftvermögen und macht sie bereit, Alexander bedingungslos zu vertrauen. Auch zur Bedeutung der Priesterfinanzen im System des Alexander bietet der Text Hinweise.134 Die Trickkiste des priesterlichen Religionsbetrugs stand seit der Antike offen, nur war es nicht erlaubt, die jüdisch-christliche Heilsgeschichte mit ihrer Hilfe zu rekonstruieren. 132
Das Wort von den drei Betrügern erscheint erstmals in der arabischen Welt im 9. Jahrhundert in Nizam al-Mulks Bericht über den Karmatenaufstand (930 n. Chr.), wo der Karmatenführer Abu Tahir das Wort ausgesprochen haben soll. Vermutlich von dort übernimmt es Averroes. Daneben wird es gegen Ende des christlichen Mittelalters wieder und wieder erwähnt. Immer ist es jedoch der bloße Titel, von dem die Rede ist, nie taucht ein ausgeführter Traktat auf. Der Betrügertraktat, dessen Titel so lange schon bekannt war, wurde wohl tatsächlich erstmals in der Neuzeit verfasst. Vgl. Friedrich Niewöhner, Veritas sive varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988, S. 233 ff., und Winfried Schröder, Einleitung, S. 9–28. Schröder leugnet keineswegs das hohe Alter des Worts von den drei Betrügern. Er weist lediglich nach, dass die heute bekannten Beispiele ausgeführter Traktate auf eine sehr kurze Textgeschichte zurückblicken. 133 Lediglich innerhalb des Luthertums mag die Popularität Lukians gelitten haben unter Luthers Ablehnung Lukians als eines Vertreters epikureisch-atheistischen Religionsspotts, vgl. Christiane Lauvergnat-Gagnière, Lucien de Samosate et le lucianisme en France au XVI e siècle. Athéisme et polémique, Genève 1988, S. 135. 134 Lukian, alexandros e pseudomantis. Alexander the False Prophet, in: ders., Bd. 4, übers. von A. M. Harmon, London 1961, S. 173–253.
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Tatsächlich stellt die intensive Beschäftigung mit der antiken Literatur bei Toland und Reimarus gleichermaßen eine wichtige Grundlage für die Kritik der biblischen Heilsgeschichte dar. Toland greift in seiner Schrift »Adeisidaemon« 1709 die antike Kritik am verbreiteten Aberglauben auf und erklärt in einem einleitenden Brief an Anthony Collins seine Bewunderung für den römischen Historiographen Titus Livius, der bei allen christlichen Lesern seit Gregor dem Großen in Verruf geraten sei. Der Grund hierfür sei der »paduanische Stil« des in der Tat aus Padua stammenden Livius, der auch jüngeren Philologen aus dem Umfeld der Orthodoxie anstößig erschienen sei: Gegen alle die, teuerster Anthony, zeige ich mit Zitaten aus Livius (und fast nur mit solchen, weil das für diesen Gegenstand mehr als ausreicht), wie er ganz offensichtlich den fürchterlich verschrobenen Götterkult so sehr verabscheute, daß er die gesamte überkommene Religion ganz und gar für Erfindungen und Lügen hielt. Wundersame Erscheinungen und Zeichen, Weissagung und Wahrsagerei waren für ihn allerhohlstes Geschwätz. Den Hauch des Schreckens, den Sonnenfinsternisse & Kometen bei anderen verbreiteten, gab er genüßlich der Lächerlichkeit preis. Samt und sonders verwarf er die Prophezeiungen seiner Landsleute, die Wunder der Opferpriester, deren Gewerbe und Charakter er haargenau schildert, unter die Betrügereien. Solches und Ähnliches machte er nicht nur völlig lächerlich, sondern brachte überall die stärksten Argumente, die den Leuten das Täuschende solcher Zauberformeln, oder eher ihre alberne Leichtgläubigkeit vor Augen führten. Es gibt doch wirklich keinen gediegeneren Schriftsteller, keinen tüchtigeren im Verabschieden von Märchen.135
Titus Livius, mit dem sich Reimarus schon während seiner Machiavelliarbeit auseinanderzusetzen hatte, war eine der Hauptquellen für seine Arbeit an Cassius Dios »Römischer Geschichte«.136 Und ebenso wie für Toland liegen auch für Reimarus die Ursprünge der Kritik an Aberglauben und Religionsbetrug in der »gesunden Vernunft« der »vernünftigern Heyden« der Antike, die den Aberglauben und die durch ihn ermöglichte Unterjochung des einfachen Volks offenlegten und verspotteten.137 In dem um 1750 verfassten Fragment »[Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen]« wird Reimarus’ Sicht der antiken Vernunftreligion und ihrer Kritik am Aberglauben greifbar: Platon, Seneca, Cicero 135 Vgl. John Toland, Adeisidaemon, S. 198 f.: »Contra hos omnes, carissime ANTONI , per locos ex ipso autore citatos (& ex ipso [vii] fere solo, cùm huic argumento abundè sufficiat) evidentissimè commonstro, tantum illum a meticuloso pravoque Deorum cultu abhorruisse, ut totam Religionem patriam pro fictâ prorsus & ementitâ haberet. Prodigia, Oracula, Omnia, & Ostenta, ne vel cassae nucis duxit. Tremendas aliis Eclipsium & Comentarum [sic!] aspirationes suaviter derisit. Praesagia quaevis Gentilium & Miracula inter fraudes rejecit Sacrificulorum, quorum artes & ingenium ad amussim depingit. Non haecce solummodo, hisque similia, ludos omnino facit; sed rationes validissimas ubivis ex industria adducit, quibus talium naeniarum fallacia, vel stulta potiùs credulitas, cunctorum oculis subjicitur. Nullus mehercle scriptor aut luculentior in fabellis exauctorandis, aut solidior.« 136 Ich danke Ulrich Groetsch für diesen Hinweis zu Reimarus’ Arbeit an Cassius Dio. 137 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, [Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen], in: Apol II , S. 653–668, hier S. 655–658.
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und Plutarch stellten dem überkommenen Aberglauben ein »vernünftiges Lehrgebäude« entgegen. Lukian, Sextus Empiricus und Euhemeros gaben den Aberglauben der Lächerlichkeit preis.138 Ausdrücklich gegen Toland hebt Reimarus aber hervor, dass das »vernünftige Lehrgebäude der Heyden« nicht pantheistisch oder materialistisch angelegt war. Er beruft sich auf den lutherischen Theologen Tobias Pfanner, der 1679 in seinem »Systema theologiae gentilis purioris« nachgewiesen hatte, dass die vernünftige Theologie der Heiden sehr wohl einen Begriff von der Schöpfung und von der Unsterblichkeit der Seele zu formulieren imstande war.139 Hier werden zwei Alternativen erkennbar, wie die Geschichte von der vernünftigen Theologie der Heiden und ihrer Kritik am Aberglauben des Volks erzählt werden kann. Toland konstruiert eine pantheistische Theologie, die mit dem Schöpfungsglauben und der Lehre von der Unsterblichkeit bricht. Pfanner und Reimarus dagegen legen das Gewicht auf platonische und stoische Autoren und kommen zu einer vernünftigen Theologie, die Schöpfung und Unsterblichkeit beibehält. Beiden Wegen gemeinsam ist aber die Möglichkeit, die vernünftige Theologie der Heiden, die sich einst gegen den heidnischen Aberglauben richtete, gegen das Christentum und die Bibel ins Feld zu führen, und die Frage, ob und in welchem Maße radikal von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, hängt offensichtlich nicht direkt mit der Entscheidung für den pantheistischen oder den platonisch-stoischen Weg zusammen. Reimarus argumentiert nicht pantheistisch und mithin näher an einigen Grundwahrheiten der christlichen Dogmatik als Toland, radikalisiert zugleich aber dessen Mosekritik. Reimarus’ Rekurs auf die Religionskritik der »vernünftigern Heyden« lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen. Hinsichtlich seiner Kritik am Alten Testament ist der Hinweis auf Euhemeros aufschlussreich, den lediglich in einer Zusammenfassung bei Diodor überlieferten Autor der »hiera anagraphe«. Euhemeros beschreibt eine entlegene Insel mit Namen Panchaia, auf der sich in einem Zeustempel eine sehr alte Stele findet, die den Ursprung des Glaubens an die olympischen Götter offenlegt: die Götter waren Sterbliche, die wegen ihrer außergewöhnlichen Verdienste um die Menschheit religiös verehrt wurden.140 Mit dem Namen des Euhemeros verweist Reimarus auf eine schon in der Antike diskutierte religionstheoretische Tradition, nach der die menschliche Gottesverehrung soziologisch oder psychologisch auf das menschliche Bedürfnis zurückgeführt wird, jemanden oder etwas, das dem Menschen außergewöhnlichen Nutzen bereitet, religiös zu verehren. In anderer Weise erscheint derselbe 138
Ebd., S. 658–660. Vgl. Tobias Pfanner, Systema theologiae gentilis purioris, Basileae 1679. Pfanner versucht, alle Loci der orthodoxen Dogmatik in der antiken Philosophie wiederzufinden. 140 Vgl. Diodoros, Griechische Weltgeschichte Buch I –X . Zweiter Teil, übers. von Gerhard Wirth und Otto Veh, S. 513–515 [Fragment 1 des Buches VI ]. Zur Geschichte des Euhemerismus vgl. Carsten Colpe, Utopie und Atheismus in der Euhemeros-Tradition, in: Manfred Wacht (Hg.), Panchaia. FS für Klaus Thraede, Münster 1995, S. 32–44. 139
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Grundgedanke in einem Prodikosfragment, das bei Sextus Empiricus überliefert ist. Dort heißt es: Prodikos von Keos behauptet, daß die Menschen der Urzeit Sonne und Mond, Flüsse und Quellen und überhaupt alles, was für unser Leben von Nutzen ist, wegen des von ihnen gespendeten Nutzens für Götter gehalten hätten, wie z. B. die Ägypter den Nil, und daher sei das Brot für die Göttin Demeter gehalten worden, der Wein für den Gott Dionysos, das Wasser für Poseidon, das Feuer für Hephaistos und dementsprechend jedes Ding, das den Menschen¯ nützlich war.141
Der Euhemerismus braucht nur monotheistisch reformuliert zu werden, um auf das Alte Testament angewendet werden zu können. Behauptet Toland, die Befehle, die Mose an der Wolken- und Feuersäule erteilte, seien nach und nach in das Ansehen gekommen, göttliche Befehle zu sein, so argumentiert er innerhalb einer euhemeristischen Theorie. Denn er bestreitet die ursprüngliche Göttlichkeit der Befehle und nimmt an, sie seien als strategisch sinnvolle Befehle des Volksführers Mose nach und nach zu göttlichem Ansehen gekommen. Eine entscheidende Rolle spielt schon bei Toland hierbei die Sprache, die den Prozess der Vergöttlichung befördert. An diesen euhemeristischen Grundgedanken knüpft Reimarus an, wenn er die »theokratische Sprache« des Mose thematisiert. Denn auch bei Reimarus verdankt sich die Vergöttlichung des politischen Führers Mose und des Priestertums zu einem guten Teil der theokratischen Sprachgewohnheit, die auch den biblischen Bericht in den Büchern Mose prägt. Die Israeliten werden sprachlich daran gewöhnt, bestimmte mächtige Personen oder bedeutsame Gegenstände für göttlich zu halten, und die theokratische Sprache fungiert zugleich als der sakrale Schleier, der selbst die gottlosesten Handlungen Moses und seiner Gehilfen bemäntelt. Immer wieder fordert Reimarus, man müsse durch den irreführenden Schleier der theokratischen Sprache hindurchschauen, um die wahren Ereignisse hinter der Geschichtsschreibung der Bücher Mose zu erkennen. So brachte Kain sein vergebliches Opfer nicht vor Gott, sondern vor seinen Vater Adam, der vor Kain und Abel als Priester agierte und in der biblischen Geschichte daher »Herr« genannt wird: Nun denn, so ist ja die gantze Geschichte nach dem theokratischen Stilo gar stark verkleydet. Adam war wirklich derjenige, dem Kain und Abel ihre Opfer brachten. Adam war es, dem die fetten Erstlinge der Heerde Abels besser gefielen, als Kains magere Landfrüchte. Adam war es, der durch den Vorzug des jüngeren Bruders den älteren zu der bösen That reitzte. Adam war es, der den Kain zur Rede setzte. So hängt alles sehr gut zusammen, und alles ist sehr menschlich. Wenn es denn auch an dem wäre, daß das Schauen auf Abels Opfer, nach des Schreibers Absicht, eine wunderthätige Anzündung desselben bedeuten sollte: d. i. daß das Opfer ohne natürlich Kohlfeuer in den Brand gekommen wäre: so bewiese es nichts weiter, als was es zu Mosis Zeiten, und bey vielen heydnischen Priestern beweist, die eine Kunst wusten das Holtz und Opfer auch ohne ordentlich Feuer 141
Vgl. Wilhelm Capelle (Hg.), Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte übersetzt und eingeleitet, Stuttgart 1968, S. 367 f.
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anzuzünden; wie ich drunten zeigen werde. Allein es ist gar nicht wahrscheinlich, daß der Geschichtschreiber dahin ziele. Denn sonst würde er ja hier, da er doch Gott mit klaren Worten unmittelbar hineinbringt, ohne Umschweif gesagt haben: der Herr zündete Abels Opfer durch ein Feuer vom Himmel an, Kains Opfer aber zündete er nicht an. Es ist also sicherer, man bleibe bey dem wahren Verstande des hier gebrauchten Stili theocratici: was dem Adam, als Priester, gefiel oder nicht gefiel, das heist in der Schreibart, es habe dem Herrn gefallen oder nicht gefallen.142
Es sind die Priester, die als Repräsentanten Gottes angeredet werden, als seien sie Gott selbst, und so sprachlich vergöttlicht werden. In der Theokratie des Mose ist der Zweck dieser Vergöttlichung eindeutig politischer Natur. Mose und die Priester wissen um die menschliche Neigung zur Vergöttlichung von Führerpersonen und nutzen sie zur Festigung ihrer politischen Macht. Ausgehend von Tolands Theorie einer sprachlich vermittelten Vergöttlichung der mosaischen Gesetzgebung beginnt Reimarus also die euhemeristische Theorie rückwärts zu lesen. War es bei Euhemeros und leicht variiert auch bei Toland der vortreffliche Mensch, der aufgrund seiner Verdienste zum Gott bzw. zum göttlichen Gesetzgeber erhoben wurde, so sind es bei Reimarus sittlich verdorbene Menschen, die nach Vergöttlichung streben, um vor dem Volk in das Ansehen zu geraten, zugleich verdienstvolle politische Führer zu sein. Der Euhemerismus erscheint bei Reimarus als ein religionspsychologisches Geheimwissen Moses und der Priester, das diese in religionsbetrügerischer Weise zur Kompensation ihrer politischen Führungsschwäche einzusetzen versuchen. Eine vorwiegend sprachlich vermittelte Gewöhnung der Israeliten an die Göttlichkeit ihrer politisch-religiösen Führer allein reicht aber noch nicht aus. Es bedarf stärkerer Überzeugungsmittel, die Reimarus in den zahlreichen Inszenierungen sehr einfacher priesterlicher Wundertricks rund um die von Toland erklärte Wolken- und Feuersäule erkennt. Durch trockenes Pulver oder leicht brennbares Öl werden Altarfeuer auf wundersame Weise ferngezündet, das Auf- und Niederfahren des rauchenden Feldzeichens am Zelteingang macht den Israeliten die Anwesenheit Gottes bei Mose erkennbar, und je nach Bedarf schießt Josua mit seiner Petroleumspritze göttliche Feuerstrahlen aus dem feurigen Rauch. Das Wissen der Priester um publikumswirksame Wundertricks ist alt. Man findet es an verschiedenen Stellen bei antiken Autoren, woher es theologisch unanstößige Exegeten wie Samuel Bochart nehmen, um ein realistisches Bild von der antiken Umwelt des Alten Testaments zeichnen zu können.143 In seiner Kritik der Geschichte von Kain und Abel erwägt Reimarus, ob nicht schon der Priester Adam das Opfer Abels durch ein spontan aufflammendes Altarfeuer honorierte.144 Der 142
Vgl. Apol I , S. 198. Vgl. das Kapitel 35 aus dem zweiten Buch von Samuel Bochart, Hierozoicon sive de animalibus S. Scripturae, Lipsiae 1796, S. 359–363. Zu Bochart vgl. Johann Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 168 f. 144 Vgl. das vorausgegangene Zitat Apol I , S. 198. 143
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Feuerzauber zählt zu den gut gehüteten Geheimnissen der Priester. Mose lernte die geheimen Betrugstechniken bei den Ägyptern zusammen mit der »hieroglyphischen Theologie«, die dem Glauben des einfachen Volks weit überlegen ist. Mit dem Hinweis auf die »hieroglyphische Theologie« Moses bezieht sich Reimarus auf den durch John Spencers »De Legibus Hebraeorum«145 angeregten Diskurs über die ägyptischen Wurzeln der mosaischen Religion und Gesetzgebung innerhalb des englischen Deismus.146 Entgegen der orthodoxen Mosedeutung, die die mosaische Gesetzgebung ahistorisch als einen supranaturalen Akt göttlicher Offenbarung verstanden hatte, fragte Spencer gestützt auf Apg 7,22 und außerbiblische Quellen nach einer Verwurzelung der mosaischen Gesetze in einer Tradition ägyptischer Weisheit und lieferte damit eine Argumentationsfigur, die von der nachfolgenden Generation englischer Deisten begeistert aufgenommen wurde, weil sie eine historische Grundlage schuf für die Konfrontation der biblischen Offenbarung mit einer ursprünglichen, der Bibel vorausliegenden Vernunftreligion. Nahezu zeitgleich mit Spencer war es Ralph Cudworth, der in seinem »True Intellectual System of the Universe«147 zu den hinter dem bekannten Polytheismus der Ägypter verborgenen Geheimlehren vorzudringen versuchte und so das Gegenüber von esoterischer und exoterischer Lehre der alten Ägypter zum allgemeinen Bewusstsein brachte. Das von Spencer und Cudworth geschaffene Diskussionsschema konnte nun unterschiedlich gefüllt werden. Die esoterische und exoterische Seite der ägyptischen Weisheit konnte man dem je eigenen theologischen oder religionsphilosophischen Standpunkt folgend ausdeuten ebenso wie auch das Verhältnis der ägyptischen Weisheit zur mosaischen Gesetzgebung. Einen weit über die Grenzen Englands hinaus wahrgenommenen Lösungsvorschlag, der viele der religionsgeschichtlichen Resultate des deistischen Diskurses aufzunehmen verstand, ohne den orthodoxen Glauben an die göttliche Offenbarung des mosaischen Gesetzes zu verletzen, präsentierte William Warburton 1738 in seiner Schrift »The Divine Legation of Moses«148. Denn Warburton gelang eine positive Interpretation nicht nur der esoterischen Geheimlehre der Priester, sondern auch der exoterischen Volksreligion, die durch einen leicht begreiflichen Götter- und Jenseitsglauben das Volk zu bändigen imstande war und insofern eine wichtige politische Funktion übernahm. Die göttliche Sendung Moses, der mit dem ägyptischen Religionssystem sehr wohl vertraut war, erkennt Warburton nun darin, dass Mose jenseits aller religionspolitischen Klugheitsregeln 145 Vgl. John Spencer, De Legibus Hebraeorum Ritualibus Earumque Rationibus, 2 Bde., Tubingae 1732. Die erste Auflage erschien in Cambridge 1685. 146 Zum Folgenden vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München / Wien 1998, S. 83–146. 147 Vgl. Ralph Cudworth, The True Intellectual System of the Universe, London 1678, S. 308–355. 148 Vgl. William Warburton, The Divine Legation of Moses demonstrated, 2 Bde. London 1738–41. Eine deutsche Übersetzung von Johann Christian Schmidt erschien in Frankfurt am Main und Leipzig 1751–52. Reimarus benutzte die englische Fassung.
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die Trennung zwischen esoterischer und exoterischer Lehre aufhob, um das Volk unmittelbar mit der zuvor durch den Schleier des Vielgötterglaubens verhüllten Wahrheit des Monotheismus zu konfrontieren und zugleich den für die staatliche Ordnung konstitutiven Jenseitsglauben preiszugeben, ein politisch riskanter Schritt, den Mose ohne göttlichen Auftrag nicht hätte tun können. Dass Reimarus’ Ausführungen auf Warburton und dessen Vorgänger Bezug nehmen, liegt auf der Hand, jedoch füllt Reimarus das von dort aus vorgegebene Diskussionsschema neu, wobei er die von Warburton verteidigte göttliche Sendung Moses ablehnt und die politische Instrumentalisierung religiöser Wahrheit in die biblische Mosegeschichte hinein weiterverfolgt.149 Gründe für Reimarus’ Ablehnung des von Warburton erarbeiteten Lösungsvorschlags lassen sich mehrere nennen. Die grundsätzliche Forderung nach einer profanphilologischen Relektüre der biblischen Heilsgeschichte mag hier eine Rolle spielen, wie auch das Reimarus’sche Gottesbild, das für die Offenbarung einer zunächst mangelhaft verbleibenden Religionslehre keinen Platz bietet. Eine wichtige Rolle kann daneben aber auch erneut Toland gespielt haben, der früh bereits die politische Funktion religiöser Wahrheit kritisch reflektiert hatte. Reimarus bekannt war Tolands zweiter Traktat aus dem »Tetradymus«, genannt »Clidophorus, or of the Exoteric and Esoteric Philosophy, that is, of the External and Internal Doctrine of the antients: the one open and public, accomodated to popular Prejudices and the establish’d Religions; the other private and secret, wherein, to the few capable and discrete, was taught the real TRUTH stript of all disguises«150. Toland stellt seiner Argumentation die soziologische Beobachtung voran, dass die Wahrheit zwar allgemein ein hohes Ansehen genießt, tatsächlich aber nur in seltenen Fällen erreicht wird, weil sie teils aus pragmatischen Gründen zugunsten von Macht und Reichtum verleugnet und teils aufgrund eines Mangels an echter Vernunft und Gelehrsamkeit gar nicht erst erreicht wird. Aus diesem Missverhältnis ergibt sich nun, dass diejenigen, die aufgrund ihrer Bemühung der Wahrheit näher gekommen sind, um des öffentlichen Ansehens willen, das ihnen die Nähe zur Wahrheit bringt, ihre noch unvollkommene Wahrheit als die Einzige ausgeben und so verhindern, dass andere sich der Wahrheit annähern und das damit verbundene öffentliche Ansehen für sich in Anspruch nehmen. Es gilt, ein Monopol auf dem 149 Daniel Cyranka deutet Reimarus’ »Apologie« im Kontext des Streits um die Unsterblichkeitslehre zwischen Thomas Morgan und William Warburton und setzt mithin die Entstehung von Reimarus’ Kritik der Mosegeschichte verhältnismäßig spät an, vgl. Daniel Cyranka, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Göttingen 2005, S. 290 ff. Je früher man die Mosekritik der »Apologie« zu datieren bereit ist, desto geringer muss zugleich aber der Einfluss Morgans und Warburtons veranschlagt werden. Siehe hierzu oben Kapitel 2.2. Reimarus’ Positionierung innerhalb des schon von Spencer und Cudworth angeregten Diskurses stand möglicherweise lange vor dem Erscheinen der »Divine Legation« fest. 150 So die volle Überschrift im Inhaltsverzeichnis des »Tetradymus«. Dasselbe Thema berührt der erste Brief von John Toland, Letters to Serena, London 1704.
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Gebiet der Wahrheit zu behaupten, und hierzu ist es nötig, die eigene Wahrheit gegen die Angriffe möglicher Kritiker zu immunisieren. Toland nimmt an, dass es genau diese Immunisierung war, die die zum Teil höchst unvernünftigen Religionslehren der Antike zu leisten imstande waren. Indem sie die eigene Wahrheit als supranatural auswiesen, entzogen sie sie dem Zugriff der vernünftigen Kritik. Die Priester nun als die Verwalter jeweiliger supranaturaler Wahrheitsmonopole erwiesen sich als attraktive Partner jeweiliger Regenten, denn das öffentliche Ansehen ihrer Wahrheit stützte den Regenten, wie auch umgekehrt der Regent das Wahrheitsmonopol der Priester nötigenfalls mit Gewalt verteidigen konnte. In dieser Situation, in der die Suche nach Wahrheit zu einem brisanten Politikum geworden war, wurde es den Philosophen unmöglich, ihre Suche nach Wahrheit fortzusetzen. Sie erkannten öffentlich das Wahrheitsmonopol der Priester an und betrieben ihre davon unabhängige Wahrheitssuche insgeheim im Privaten. Mose stellt Toland ausdrücklich nicht auf die Seite der Wahrheitsmonopolisten. Seine Gesetzgebung war nicht so unvollkommen, dass sie gewaltsam hätte verteidigt werden müssen, sondern »truely divine, without any mixture of weakness and folly«151, d. h. vernünftig und mithin fähig, kritisch hinterfragt zu werden. An diesem von Toland herrührenden Gedanken der ursprünglichen Integrität der mosaischen Lehre hält Reimarus insofern fest, als er Warburton und der vorsliegenden Diskussion folgend behauptet, Mose sei am Hofe des Pharao die »geheime hieroglyphische Theologie« gelehrt worden, die besagt, »daß die vielen Bilder der Gottheit nur für das sinnliche Volk wären, in der That aber nur die mancherley Eigenschaften und Wohlthaten eines wahren Gottes vorstellen sollten.«152 Mose verfügte über eine vernünftige Religionslehre und wäre nicht gezwungen gewesen, sie vor dem Volk zu verbergen. Erst unter dem Einfluss des midianitischen Priesters Jitro verfiel er dem Spiel von esoterischer und exoterischer Wahrheit, behielt die vernünftigen Inhalte der »hieroglyphischen Theologie« für sich und befreite das Volk eben nicht, wie es Warburton behauptet hatte, vom Schleier unvernünftiger Volksreligion. Anders als die Philosophen der Antike befand sich Mose hierbei nicht von Anfang an unter dem Druck eines priesterlichen Wahrheitsmonopols. Unter den Israeliten hätte er alle Möglichkeit gehabt, die ihm bekannte, rein vernünftige Religionslehre zu verbreiten, ohne auf die geheimen Kunststücke des Religionsbetrugs zurückzugreifen. Doch er verspielte seine Chance und etablierte aus Angst vor seiner eigenen politischen Führungsschwäche ein unvernünftiges supranaturales Wahrheitsmonopol, das das levitische Priestertum später gewaltsam weiter verwaltete. Vermutet Reimarus, dass Mose am Ende des Deuteronomiums nicht stirbt, sondern sich an einen entlegenen Ort zurückzieht, den er den Israeliten nicht bekannt gibt, so illustriert er
151 152
Vgl. John Toland, Clidophorus, in: John Toland, Tetradymus, London 1720, S. 65. Vgl. Apol I , S. 273.
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damit einmal mehr die Verhältnisse in der mosaischen Theokratie.153 Für Mose als einen geheimen Anhänger der vernünftigen Religion ist in dem Gewaltregime, das er selbst geschaffen hat, kein Platz mehr. Mose ist an seiner Aufgabe in tragischer Weise gescheitert. Ihm bleibt nur der Rückzug ins Privatleben. Das zweite Beispiel für den Reimarus’schen Rückgriff auf die vernünftige Religionskritik der Antike führt von John Toland weg, der für Reimarus ansonsten der wichtigste Gewährsmann bei der Ausarbeitung seiner Kritik an der Mosegeschichte war. Denn während Reimarus ausgehend von Tolands Deutung der Wolken- und Feuersäule als eines militärischen Feldzeichens zu einer Wunderkritik gelangte, die die Entstehung des Wunders in der religionsbetrügerischen Absicht Moses und seiner Gehilfen sucht, übernahm er von dem antiken Christentumskritiker Porphyrios ein Verfahren der Wunderkritik, das darauf zielt, den Wunderbericht insgesamt als selbstwidersprüchlich zu denunzieren und auf diesem Weg die Behauptung einer Historizität des Berichteten zurückzuweisen. Die Berichte vom Meerwunder und von der Auferstehung Jesu werden aufgrund der internen Widersprüche des Berichts für historisch unglaubwürdig erklärt. Beschränkt man die Betrachtung auf Reimarus’ Kritik des alttestamentlichen Meerwunders, bei der er akribisch die Menge der Israeliten, die im Bericht angegebenen Zeiten sowie die geographischen Verhältnisse am Roten Meer gegeneinander aufrechnet, so erinnert das an einen bei Macarius Magnes überlieferten Passus aus Porphyrios’ verschollener Schrift »Gegen die Christen«.154 Der Passus bezieht sich auf Mt 14 und Mk 6, wo berichtet wird, Jesus sei seinen auf dem See Genezareth in Seenot geratenen Jüngern auf dem Wasser wandelnd zu Hilfe gekommen. Porphyrios erhebt aus dem Bericht die Zeitdauer, die die Reise der Jünger über den See in Anspruch genommen haben soll, ehe Jesus ihnen zu Hilfe kam, und konfrontiert den Bericht nachfolgend mit den realen geographischen Verhältnissen am See Genezareth. Der See ist in Wirklichkeit so klein, dass man ihn in zwei Stunden bequem durchqueren kann, ohne ein Unwetter fürchten zu müssen. Schwere See entsteht auf dem sehr kleinen See gewöhnlich nicht. Den biblischen Bericht zählt Porphyrios daher zu den Fabeln, noch bevor er sich über die Möglichkeit eines Wandelns auf dem Wasser Rechenschaft ablegen muss.155 Was nun den Reimarus’schen Rekurs auf Porphyrios angeht, so dürfte er durch Fabricius’ »Bibliotheca Graeca« angeregt sein. Denn Fabricius bemühte sich im 1711 erschienenen vierten Band um eine Rekonstruktion der verlorenen Schrift »Gegen die Christen« aus den überlieferten Fragmenten.156 Von der »Bibliotheca 153 Die gleiche Deutung von Dtn 34 bieten auch Gabriel Naudés »Considerations sur le coups d’estat«, die Reimarus im Kontext seiner Arbeit an der Machiavellismusarbeit zur Kenntnis nahm. Siehe hierzu oben Kapitel 2.1.2. 154 Vgl. Martin Biermann, Art.: »Macarius Magnes«, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur (21999), S. 410 f. Eine Rekonstruktion der verschollenen Porphyriosschrift bietet R. Joseph Hoffmann, Porphyry’s Against the Christians. The Literary Remains, New York 1994. 155 Ebd., S. 46 f. 156 Vgl. Johann Albert Fabricius, Bibiotheca Graeca, Bd. 4, Hamburg 1711, S. 192 f.
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Graeca« her hatte Reimarus also früh bereits Kenntnis von der Bibelkritik des Porphyrios und konnte sie in seiner Arbeit an der »Apologie« übernehmen. Dass er hierbei den alttestamentlichen Bericht über das Meerwunder zum Gegenstand machte, muss nicht verwundern. Denn für Reimarus, der angeregt durch Toland zunächst versuchte, die biblischen Wunderberichte als historische Zeugnisse ernst zu nehmen, das Berichtete aber als nicht wunderbar und aus einfachen mechanischen Vorgängen zustande gebracht deutete, stand im Fall des Meerwunders vor einem unlösbaren Problem. Die Teilung des Wassers durch eine priesterliche Betrugstechnik zu erklären, erschien unmöglich. Die von Porphyrios übernommene Methode der Wunderkritik aber ermöglichte es, das Berichtete als Ganzes für unhistorisch zu erklären und den Betrugsvorwurf gegen Mose, der bei Reimarus’ Erklärung der Wunder stets die Hauptrolle spielte, zu verlagern auf die literarische Ebene. Das Wunder ist nun nicht in der durch den biblischen Bericht korrekt beschriebenen historischen Wirklichkeit durch mechanische Hilfsmittel zustande gekommen, sondern von einem Geschichtsschreiber erfunden. Durch den Rückgriff auf Porphyrios’ Methode der Kritik eröffnet sich für Reimarus so ein zweites Feld, auf dem sich religionsbetrügerische Aktivitäten aufspüren lassen: das Feld der biblischen Geschichtsschreibung, das er wieder und wieder einer differenzierenden Analyse unterzieht, um es abschließend in einem Abschnitt über die Kanongeschichte des Alten Testaments zusammenzufassen. Die Wunderkritik, die angesichts physikalisch unmöglicher Wunder wie dem der Teilung eines Meeres nicht allein auf der Ebene des Historisch-Faktischen verhandelt werden kann, setzt also eine Quellenkritik des Pentateuchs aus sich heraus, deren Ergebnisse es an dieser Stelle noch einmal knapp zusammenzufassen gilt: Die Bücher Mose bieten nur zu einem geringen Teil von Mose selbst verfasste Abschnitte. Reimarus beschränkt den Anteil Moses auf einen Grundbestand des mosaischen Gesetzes, den er spät erst mit Segen und Fluch bewehrte. Ergänzt wurde dieses Gesetz durch mündliche Traditionen priesterlicher Herkunft sowie durch das Königsgesetz, das man vormals als eigenständigen Gesetzestext tradierte.157 Der übrige Pentateuch wurde weit nach Mose von einem oder mehreren Geschichtsschreibern verfasst, die vom geographischen und historischen Umfeld Moses keine eigene Kenntnis hatten und daher gezwungen waren, auf verschiedene Urkunden zurückzugreifen, die ihrerseits auf vorausliegende mündliche Traditionen gründen. Da die Geschichtsschreiber ihre Quellen unkritisch benutzten, kam es zu Doppelüberlieferungen und ähnlichen Unstimmigkeiten im Erzählverlauf.158 Darüber hinaus nimmt Reimarus an, dass es immer wieder zu literarischen Ausschmückungen besonders der Wunderberichte kam, die von dem durch die Geschichtsschreiber geschaffenen Grundbestand zu unterschei-
157 158
Apol I, S. 845–848. Ebd., S. 359 f., 863–866 und 918–921.
2.4 Über die Macht des Betrugs – Die »Theokratie des Mose«
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den sind.159 Leider führt Reimarus seine literarkritische Theorie zur Entstehung des Pentateuchs nicht an einzelnen Textbeispielen durch. Literarkritische Überlegungen werden in der »Apologie« immer nur angedeutet, nie aber in extenso durchgeführt. Eine weitere wichtige Beobachtung muss der Diskussion von Reimarus’ Kritik des Meerwunders hinzugefügt werden. Die »Apologie« ist nicht die einzige bibelkritische Schrift des 18. Jahrhunderts, die eine widerspruchslogische Betrachtung des Meerwunders mit Zahlenberechnungen und geographischen Erwägungen im Geiste Porphyrios’ betreibt. Eine bis in die Einzelheiten der Berechnung gleich verfahrende Kritik des Meerwunders bietet der »6. Anblick« von Johann Christian Edelmanns »Moses mit aufgedeckten Angesichte«160, den dieser 1754 in Berlin verfasste, ohne ihn in Druck geben zu können. Die Parallele legt eine positive Beantwortung der Frage nach einem möglichen Kontakt zwischen den Radikalaufklärern Reimarus und Edelmann nahe. Edelmann hatte in den Jahren 1720 bis 1724 in Jena bei Budde und Danz Theologie studiert und sich später, nach der Veröffentlichung der ersten drei Anblicke des »Moses«, in das dänische Altona geflüchtet, wo er als »Licentiat Kunad« untertauchte. Irgendwann in den 1740er Jahren könnte es zu einer Kontaktaufnahme zwischen Reimarus und Edelmann gekommen sein, die Frage ist nur, wie und durch wessen Vermittlung. Zu denken wäre hier etwa an Johann Lorenz Schmidt, der zeitgleich mit Edelmann in Jena studiert hatte und ebenfalls polizeilich verfolgt im Hamburg der 1740er Jahre unter falschem Namen lebte, zeitweise vermutlich als Tutor im Hause Reimarus.161 Auch Barthold Heinrich Brockes, ein Freund Reimarus’ und auch Edelmanns, hätte bis zu seinem Tod 1747 den Kontakt vermitteln können.162 Bislang freilich mangelt es der Hypothese eines persönlichen Kontakts an handfesten quellenmäßigen Beweisen, so dass die durch die auffällige Parallele zwischen Edelmanns »Moses« und Reimarus’ »Apologie« in der Kritik des Meerwunders nahegelegte Frage nach einer Beeinflussung unbeantwortet bleiben muss. Von den handschriftlichen Vorarbeiten zur »Apologie« aus sprechen zumindest keine Indizien dagegen, dass Reimarus tatsächlich in den 1740er Jahren mit der Kritik des Meerwunders beschäftigt war, woraus nicht notwendig gefolgert werden muss, er habe die Kritik von Edelmann übernommen. Der umgekehrte Vermittlungsweg wäre mindestens ebenso gut denkbar.163 159
Ebd., S. 347 ff. Vgl. Johann Christian Edelmann, Moses mit aufgedeckten Angesichte, in: ders., Sämtliche Schriften in Einzelausgaben, Bd. VII ,2, hg. von Walter Grossmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 99 ff. 161 Siehe hierzu oben Kapitel 2.1.4. 162 Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus, S. 177–187, diskutiert Georg Schade als Vermittler, kommt über Vermutungen aber auch hier nicht hinaus. 163 So gegen Annegret Schaper, Ein langer Abschied vom Christentum. Johann Christian Edelmann (1698–1767) und die deutsche Frühaufklärung, Marburg 1996, S. 203–213. Der Prio160
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2 Das bibelkritische Werk
Die soweit ausgeführte Rekonstruktion der Reimarus’schen Kritik an der »Theokratie des Mose« in ihrer Entstehung beleuchtet ausschnittweise die enorme Komplexität des bibelkritischen Denkens, das hinter der »Apologie« in ihrer Endgestalt steht. Zahlreiche Quellen der Kritik konnten ausfindig gemacht und relevante Faktoren in ihrem dynamischen Verhältnis gegenseitiger Verstärkung dargestellt werden. Im Rückblick auf die vorangegangenen Untersuchungen ergibt sich das folgende Bild der Reimarus’schen »Theokratie des Mose« in ihrer Entstehung: In den 1730er Jahren begann Reimarus durch widerspruchslogische Konfrontation des aus der philosophischen Gotteslehre bekannten gerechten, guten und weisen Gottes mit dem biblischen Bericht einer Offenbarung, die zu dem Naturund Völkerrecht offen widersprechenden staatlichen Verhältnissen unter den Israeliten geführt hatte, den biblischen Konnex zwischen Gott und Geschichte zu sprengen. Die alttestamentliche Offenbarung erwies sich Reimarus als ein historisches Faktum, das dem gütigen und weisen Schöpfergott unter gar keinen Umständen angelastet werden konnte. Dem biblischen Bericht als einer historischen Quelle zunächst vertrauend, suchte er daher einen Weg, die Ereignisse unter den Israeliten zu erklären, ohne Gott hierbei als Ursache des Geschehenen in Betracht ziehen zu müssen, ein Verfahren, das sich ihm auch von seinem philosophischen Standpunkt her nahelegte. Die Möglichkeit eines wundersamen Eingreifens Gottes in den Geschichtslauf erschien Reimarus a priori fragwürdig, so dass es ihm leicht fiel, bei seiner Revision der biblischen Heilsgeschichte Alten Testaments an den Wundern, die Mose für sich in Anspruch nahm, anzusetzen. Innerhalb einer Phase des wunderkritischen Experimentierens, die durch den beschriebenen Versuch über Vaninis Wunderkritik womöglich nur ausschnittweise illustriert wird, setzte sich der englische Theologiekritiker und politische Theoretiker des Commonwealth, John Toland, als der wichtigste Gewährsmann durch. Bei ihm fand Reimarus eine Erklärung der wundersamen Wolken- und Feuersäule, die seinem Wunsch entsprach, die berichteten Wunder einerseits auf vernünftige Weise erklären zu können und andererseits die Glaubwürdigkeit der biblischen Berichte als Geschichtsquellen nicht leichtfertig infrage zu stellen. Einen Umgang mit den von Reimarus stets genau notierten sittlichen Entgleisungen, von denen das Alte Testament berichtet, boten Tolands Betrachtungen über die »Respublica Mosaica« freilich nicht. Denn Toland erkannte in der mosaischen Regierung die gelungene politische Umsetzung einer vernünftigen Religion ohne Geheimnisse und mithin die historisch archetypische Realisierung des idealen commonwealth, für den er als Politiker kämpfte. Angeregt durch den Betrügertraktat begann Reimarus daher, Tolands Kritik der biblischen Mosegestalt zu radikalisieren. Nach dem Vorbild ritätsstreit zwischen Edelmann und Reimarus lässt sich derzeit weder zugunsten des einen noch des anderen klar entscheiden. Solange sich die Konstellation nicht rekonstruieren lässt, innerhalb derer der Austausch stattgefunden haben könnte, bleiben alle Lösungsmodelle spekulativ.
2.5 Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament
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Tolands und Machiavellis deutete er Mose zwar als einen politischen Führer und die Gesetzgebung am Sinai als einen menschlichen Akt der Legislative. Anders als Toland legte er damit aber zugleich alle unvernünftigen Wunder rund um die Wolken- und Feuersäule sowie alle durch das mosaische Gesetz geregelten staatlichen Missstände dem Regenten Mose zur Last. Mose wurde bei ihm so zu einem Religionsbetrüger, der zwar selbst die Inhalte der vernünftigen Religion kannte, sie aber aus politischer Führungsschwäche nicht zu verbreiten imstande war und seine Regierung stattdessen auf eine unvernünftige und autoritäre Religion stützte. Damit gewann Reimarus zugleich eine Antwort auf die Frage, wer all die Ungerechtigkeiten und sittlichen Entgleisungen, von denen das Alte Testament berichtet, zu verantworten hat: nicht Gott sind sie anzulasten, sondern Mose und anderen Religionsbetrügern. In die Krise geriet dieses Verfahren der Kritik bei denjenigen Wundern, die angesichts des biblischen Berichts nicht anders als tatsächliche Durchbrechungen des Naturlaufs zu deuten sind. Angeregt durch Porphyrios’ Kritik neutestamentlicher Wunderberichte betrieb Reimarus am Beispiel des Meerwunders die widerspruchslogische Zersetzung des Wunderberichts von innen heraus. Das Meerwunder verlor so jeden Anspruch auf Historizität und wurde zu einem Beispiel des Religionsbetrugs auf literarischer Ebene. Damit wiederum gewann die biblische Geschichtsschreibung für Reimarus an Interesse. Mehrere Geschichtsschreiber arbeiteten an der Ausgestaltung der Bücher Mose, schmückten Wunderberichte aus, erfanden neue hinzu und setzten so den Religionsbetrug Moses und der Priester auf literarischer Ebene fort. Was die Genese der Wunderkritik auf der literarischen Ebene angeht, darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass sie eng verschränkt ist mit der neutestamentlichen Wunderkritik besonders des Auferstehungswunders. Schon in den 30er Jahren machte sich Reimarus Notizen zu einer widerspruchslogischen Kritik des Auferstehungsberichts nach dem Vorbild des englischen Deisten Woolston. Die Rekonstruktion der Genese der Reimarusschen Wunderkritik vervollständigt sich also von seiner Kritik des Neuen Testaments her, die, angeregt durch Lessing, jederzeit als die eigentliche Mitte der Reimarus’schen Bibelkritik verstanden wurde.
2.5 Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament Weit bekannter als Reimarus’ Kritik des Alten Testaments ist seine Kritik des Neuen Testaments und des Historischen Jesus, die angesichts der Lessing’schen Publikation der »Fragmente« jederzeit den Mittelpunkt des theologischen Interesses an Reimarus’ »Apologie« bildete. Seit längerem steht fest, dass Reimarus’ Kritik des Neuen Testaments maßgeblich durch seine Beschäftigung mit dem englischen
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2 Das bibelkritische Werk
Deismus beeinflusst ist und dass Reimarus konsequent nach einer Deutung des historischen Jesus im Kontext der jüdischen Religionsgeschichte sucht. An diesen grundsätzlichen Erkenntnissen werden auch die nun folgenden Untersuchungen nichts ändern. Es kann lediglich versucht werden, die chronologische Abfolge der kritischen Ansätze sowie ihre schrittweise Konstruktion und Ausarbeitung im Denken Reimarus’ anhand der handschriftlichen Archivmaterialien nachzuvollziehen, um so die bereits vorliegenden Erkenntnisse weiter zu präzisieren. Was die Reimarusforschung nämlich bislang zu wenig beachtet hat, ist der Umstand, dass Reimarus viele der Probleme, die die Debatte innerhalb des englischen Deismus bestimmen, seit der Schulzeit am Akademischen Gymnasium und dem Studium in Jena und Wittenberg durchaus vertraut waren, so dass es irreführend wäre anzunehmen, Reimarus sei durch die Lektüre englischer Literatur allererst auf den Gedanken gekommen, bestimmte philologisch-theologische Problemzusammenhänge zu überdenken. Vielmehr erscheint der umgekehrte Weg als der richtige: die Literatur des englischen Deismus erschien dem jungen Hebraisten Reimarus deshalb interessant, weil er in ihr altbekannte philologisch-theologische Probleme in innovativer Weise diskutiert fand und er in der Auseinandersetzung mit dem Deismus gewisse Konsequenzen erneut als notwendig bestätigt fand, die er lange zuvor bereits zu ziehen begonnen hatte. Nähert man sich Reimarus’ Kritik des Neuen Testaments von den frühesten erhaltenen Notizzetteln her, so scheint es eine widerspruchslogische Relektüre der Evangelien gewesen zu sein, die die Kritik in Gang brachte. Reimarus wendete also dasjenige kritische Verfahren auf das Neue Testament an, das er zeitgleich in weit größerem Umfang am Alten Testament erprobte. In den 30er Jahren beschäftigte sich Reimarus mit der Auferstehung als dem zentralen Wunderbeweis des Neuen Testaments, übersetzte entsprechende Passagen aus den verschiedenen neutestamentlichen Berichten, listete einschlägige Bibelstellen auf geordnet nach Berichten vom leeren Grab und von Erscheinungen des Auferstandenen, und legte mehrere »Contradictionen« zwischen den verschiedenen Berichten offen.164 Was der Hintergrund dieser exegetischen Notizen war, ist nicht schwer zu ergründen. 1729 hatte Thomas Sherlock »The Tryal of the Witnesses of the Resurrection of Jesus«165 publiziert, in dem er den durch Thomas Woolstons »A Discourse on the Miracles of our Saviour«166 angegriffenen Auferstehungsglauben mit Hilfe eines »gerichtlichen Verhörs« der Auferstehungszeugen verteidigte. Schon Woolstons Versuch, verschiedene Wunder des Neuen Testaments in ihrer Historizität zu bestreiten und ihnen stattdessen mit Hilfe allegorischer Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 11, S. 1–10. Vgl. Thomas Sherlock, The Tryal of the Witnesses of the Resurrection of Jesus, London 1729. 166 Thomas Woolstons insgesamt sechs Discourses erschienen ohne Angabe des Verlags in London 1727–1729. Über die Kontroverse insgesamt vgl. Gotthard Victor Lechler, Geschichte des englischen Deismus, Tübingen 1841, S. 289–314. 164 165
2.5 Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament
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Interpretationen einen symbolischen Sinn beizulegen, hatte weit über die Grenzen Englands hinaus für Aufsehen gesorgt, und ein mindestens ebenso großes öffentliches Interesse wie die Wunderkritik Woolstons erregte die lange ersehnte Widerlegung durch Sherlock, die in der Debatte um Woolston tatsächlich einen gewissen Schlussstrich zu ziehen imstande war, zumal der Kontrahent Woolston im Gefängnis verstarb, ohne sich erneut zu der Widerlegung äußern zu können.167 So wie viele Theologen der 30er Jahre nahm auch Reimarus die englische Debatte um Woolstons »Discourses« zur Kenntnis und probierte an seinem Schreibtisch aus, ob das von Sherlock empfohlene gerichtliche Zeugenverhör tatsächlich zu demjenigen orthodoxen Ergebnis führen musste, das Sherlock so stolz präsentierte. Reimarus nahm den Versuch Sherlocks offensichtlich sehr ernst, kam aber zum gegenteiligen Ergebnis: Die Berichte der Evangelien zur Auferstehung widersprechen einander und legen daher den Verdacht nahe, dass es sich bei der Auferstehung um ein von den Jüngern fingiertes Wundergeschehen handelt, das diejenige theologische Beweislast nicht tragen kann, die ihm die christliche Theologie zumutet. Wie die frühen handschriftlichen Notizen belegen, genügte es Reimarus aber nicht, bei diesem negativen Ergebnis stehen zu bleiben. Handelt es sich bei der Auferstehung um ein von den Jüngern fingiertes Wunder, so stellt sich umso mehr die Frage, wie sich der Auferstehungsglaube innerhalb der jüdischen Welt, in der die ersten Christen standen, behaupten konnte. Aufschlussreich ist daher die folgende Notiz aus der Feder des Reimarus: Es werden die Apostel in ihrem Zeugnis vor dem hohen Raht nicht unterlassen haben, sich auf das Gewissen des hohen Rahts zu beruffen: und die Pharis ¯r hatten ein ausnehmend zeugnis wieder die Sadduceer gehabt.168
Die Notiz steht für sich unter den übrigen Notizen zu den Auferstehungsberichten, lässt aber erkennen, dass Reimarus von Anfang an das jüdische Umfeld der ersten Christen im Blick hatte. Die Situation einer Befragung der Jünger stellt er sich höchst lebendig vor. Wann immer die Jünger mit ihrem Auferstehungsglauben vor jüdischem Publikum auftraten, positionierten sie sich zugleich gegenüber den verschiedenen theologischen Parteien des zeitgenössischen Judentums. Zwischen Pharisäern und Sadduzäern bestanden Differenzen, unter anderem hinsichtlich des Auferstehungsglaubens, und Reimarus nimmt an, dass die Jünger mit ihrem Auferstehungszeugnis bei den Pharisäern auf ein gewisses theologisches Interesse stießen, das ihnen die Sadduzäer verwehrten. Der zweite Beleg eines frühen Ansatzes der Kritik des Neuen Testaments ist ein ausführliches auf Englisch geschriebenes Exzerpt hauptsächlich über Anthony 167 Das deutsche Interesse an Sherlock schlägt sich in mehreren Übersetzungen nieder, vgl. hierzu Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003, S. 72–81. 168 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 11, S. 9.
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Collins »A Discourse of the Grounds and Reasons of the Christian Religion«169 von 1724 samt der dazugehörigen Verteidigung »The Scheme of Literal Prophecy«170 von 1726. Das Exzerpt durchzieht über fünf Seiten hin den ungeordneten Zettelkonvolut A 7 und bietet keinerlei Hinweise für eine Datierung nach den 1730er Jahren.171 Vermutlich ungefähr zeitgleich mit der Beschäftigung mit der durch Woolston und Sherlock angeregten Hinterfragung des Auferstehungswunders befasste sich Reimarus also auch mit der englischen Debatte über die alttestamentlichen Weissagungsbeweise des Neuen Testaments, ein Thema, dem er sich früher schon hatte stellen müssen, von der orthodoxen Exegese her ebenso wie vom Streit um die Wertheimer Bibel. Den Mittelpunkt der englischen Debatte bildete Anthony Collins, der sich in »A Discourse of the Grounds and Reasons of the Christian Religion« gegen William Whistons unglücklichen Versuch gewendet hatte, die neutestamentlichen Weissagungsbeweise zu verteidigen durch die These, ehemals eindeutig auf Christus hindeutende Passagen des Alten Testaments seien durch antichristlich gesonnene Juden des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts in der hebräischen Bibel sowohl wie auch in der griechischen Übersetzung der Septuaginta gezielt so abgewandelt worden, dass die neutestamentlichen Weissagungsbeweise unglaubwürdig wurden, obwohl sie sich ursprünglich auf den Literalsinn des unverfälschten alttestamentlichen Texts bezogen. Collins übernahm Whistons zugrunde gelegten Zweifel angesichts der offenkundigen Divergenz zwischen gewissen alttestamentlichen Versen und deren neutestamtlicher Interpretation, suchte den Grund dieser Divergenz aber nicht in einer nachträglichen jüdischen Verfälschung des alttestamentlichen Bibeltexts.172 Collins nahm vielmehr an, es sei die in Teilen des Judentums verbreitete Methode einer allegorischen Interpretation des Alten Testaments, deren sich auch die neutestamentlichen Schriftsteller bedienten, wenn sie Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias auszuweisen versuchten.173 Collins verweist auf exegetische Schriften Hugo Grotius’ und Wilhelm von Surenhuisens174, die vor 169 Vgl. [Anthony Collins], A Discourse of the Grounds and Reasons of the Christian Religion, London 1724. 170 Vgl. ders., The Scheme of Literal Prophecy considered, in A View of the Controversy, occasioned by a late Book, intitled, A Discourse […], London 1726. 171 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 7 (ohne Paginierung). 172 Vgl. [Anthony Collins], A Discourse, S. 97–102. 173 Ebd., S. 227 ff. 174 Ebd., S. 53: »But since that time, the learned Surenhusius, professor of the Hebrew tongue in the illustrious school of Amsterdam, has made an ample discovery to the world of the rules by which the apostles cited the Old Testament, and argued from thence, in a treatise; wherein the whole mystery of the apostles applying scripture in a secondary or typical, or mystical, or allegorical sense seems unfolded.« Es folgt ein umfassendes Referat der Ergebnisse von Guilielmus in quo secundum veterum theologoSurenhusius, sive rum hebraeorum Formulas allegandi, & Modos interpretandi conciliantur loca ex V . in N. T. allegata, Amstelaedami 1713. Reimarus selbst zitiert dieses Buch mehrfach in der Endfassung der »Apologie«.
2.5 Vom Scheitern eines Messias – Historischer Jesus und Neues Testament
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ihm bereits festgestellt hatten, dass sich die neutestamentlichen Schriftsteller in ihrem Weissagungsbeweis derjenigen allegorischen Interpretationsmethode bedienten, die auch die Auslegungstradition des rabbinischen Judentums bestimmt. Die Frage, ob der neutestamentliche Weissagungsbeweis damit tatsächlich kraftlos werde, ließ Collins offen. Die zahlreichen Gegenschriften, die »A Discourse of the Grounds and Reasons of the Christian Religion« provozierte, weisen aber darauf hin, dass zumindest die Mehrzahl seiner Leser diese Konsequenz ziehen zu müssen meinte. Collins habe »die Beweisthümer des Alten Tetsaments, womit man die im Neuen Testament enthaltene Lehre vom Meßia bestärcket, absonderlich vor ungegründet ausgegeben«, urteilten die »Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen« 1725.175 Auch Reimarus versteht die Ausführungen Collins als eine Absage an die messianische Auslegung des Alten Testaments. In der Debatte um Collins erkennt er den Endpunkt einer langen Tradition der Kritik des messianischen Weissagungsbeweises: Es sind schon in der ersten christlichen Kirche Leute von Einsicht und Gelehrsamkeit gewesen, welche diesen vielfachen Mißbrauch der Schrifftörter bemerket, und dagegen behauptet haben, daß ein solcher Erlöser, als das christliche System annimmt, im gantzen Alten Testament nicht zu finden sey. Selbst die Apostel haben bey Christi Leben, und bis an seinen Tod, eine weltliche Erlösung und ein weltliches Reich von ihm erwartet, und sie haben das System von einem geistlichen, leydenden Erlöser, erst nach seiner Kreutzigung, aus Noht, wegen ihrer fehlgeschlagenen Hofnung, ergriffen, und sich zu dem Ende die allegorische Erklärungs-Art der Pharisäer zu Nutze gemacht. Gescheute Juden sagen von diesem Spielwerk der Einbildungskrafft: in allegoria non est veritas, in der Allegorie werde nicht auf die Wahrheit gesehen. Grotius hat in seinem bündigen Commentario den buchstäblichen und historischen Sinn der meisten Schrifftörter glücklich aufgedeckt, und Calov hat ihm mit aller seiner Weitläuftigkeit gar nicht überzeuglich geantwortet. Engeländer haben sich durch den Collins genöthiget gesehen, die buchstäbliche Weissagungen von Christo beynahe aufzugeben, und bloß eine accomodationem darin zu erkennen. Und Surenhusen, welcher die Schreiber des N. T. aus den Jüdischen Erklärungs-Regeln retten wollte, hat nichts anders gethan, als dadurch noch mehr an den Tag zu legen, daß beyder Regeln unrichtig sind und von dem wahren Verstande der Schrifftörter abführen. Alle Demonstrationes evangelicae und Systemata unsrer heutigen Theologorum legen eine gar elende Logik, und gar verkehrte Erklärungsart, die in keinem andern Schrifftsteller gelten würde, zum Grunde.176
Dieser Grundeinsicht folgend leugnet Reimarus konsequent alle messianischen Deutungen alttestamentlicher Verse, die in der Tradition orthodox dogmatischer Exegese in Geltung stehen. Abgelehnt werden in der Kritik der Genesis das Adam gepredigte ›Protevangelium‹177 und die messianischen Deutungen der 175 Zitiert nach Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland, S. 54 f. Zur Debatte in England vgl. Gotthard Victor Lechler, Geschichte des englischen Deismus, S. 266–288. 176 Vgl. Apol I , S. 728. 177 Ebd., S. 194: »Ich gestehe es aufrichtig: ich kann weder die tröstliche Verheissung eines Erlösers der Menschen, in diesen Worten sehen, wenn ich auch alle meine Erklärungs-Kunst zur
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Abrahamsverheißungen178 sowie seiner Opferung Isaaks179. In einem eigenen Kapitel werden die angeblich messianischen Passagen der Propheten und des Psalters ausgelegt ohne jeden Bezug zum Neuen Testament und dem Messias Jesus Christus.180 Betrachtet man diese und andere einschlägige Passagen der »Apologie« sowie den dazugehörigen Fußnotenapparat genauer, so wird deutlich, dass Reimarus in Collins’ Rückgriff auf Grotius’ und Surenhuisens These, die messianische Interpretation alttestamentlicher Verse verdanke sich der allegorischen Auslegungsmethode des rabbinischen Judentums, ein Thema wiedererkannte, das ihm von seiner eigenen Arbeit als Hebraist bestens vertraut war. Mindestens ebenso dicht wie bei Surenhuisen und bei Collins ist in der »Apologie« der Apparat von Verweisen auf unterschiedliche Judaika von der Antike bis ins Spätmittelalter. Reimarus weist nach, dass der Messiasglaube und die messianische Interpretation Hülffe nehme; noch einsehen, aus welchen Anzeigen man schliessen könne, daß Adam seinen Kindern und Enkeln den Messias geprediget habe, wenn ich auch meine gantze Schluß-Kunst zu Rahte ziehe. Gott sagt die Worte nicht zu dem Menschen, sondern zur Schlange, auf welche Eva die Schuld der Verführung warf; und sagt sie nicht zur Verheissung, sondern zu beider Strafe: Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, desgleichen zwischen deinem Saamen und ihrem Saamen; derselbe wird dir den Kopf zerknirschen, und du wirst ihm (dem Saamen des Weibes) die Fersen zerknirschen.« 178 Ebd., S. 225 f.: »Der Glaube des Abrahams bezieht sich also keines Weges auf einen Erlöser, sondern, wie der Buchstab klar sagt, auf die Verheissung eines Sohns der von seinem Leibe kommen sollte, und von dem eine unzehlbare Nachkommenschaft entspringen würde. […] Daher kann man auch denken, wie der actus des Glaubens, ohne alles Zweiffeln und Einwenden, dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet worden: nämlich, weil er sogleich der Wahrheit und Allmacht Gottes alle Zweiffel aufopferte. Darin handelte er für sich recht, und ließ auch den Vollkommenheiten Gottes in seinem Urtheil Recht wiederfahren. Justitia suum cuique tribuit. An eine andere evangelische Glaubens-Gerechtigkeit, oder vielmehr Rechtfertigung durch fremdes Verdienst, ist hier gar nicht zu denken. Was bedeutet denn aber der Segen, womit alle Völker werden gesegnet werden, sich selbst und unter einander segnen? Abraham sollte der Segen werden; sein Saame sollte zum Segnen dienen. Es bedeutet: wenn sie einander Glück und Heil wünschen wollten, so würden sie die Glückseligkeit des Abrahams und seiner Nachkommenschaft zum Muster und Sprichwort brauchen: Gott mache dich so glücklich wie den Abraham und wie seine Nachkommen!« 179 Ebd., S. 238: »Was soll man aber vollend dazu sagen, daß Abraham sich von einer vermeynten göttlichen Eingebung so weit treiben läst, daß er seinen andern geliebten Sohn von der Sarah Gott zum Opfer schlachten will? […] Unsre Herrn Theologi mögten sagen: es sey bloß eine actio symbolica, ein typus oder Vorbild von Christi Kreutzigung und Auferstehung, da Gott seines einigen Sohnes uns zur Liebe nicht verschonet, sondern ihn für uns alle am Kreutze aufopfern lassen. Allein wenn gleich die Einbildungskraft hier einen reichen Stoff zu ihrem Spielwerk finden könnte; so wird dadurch die Unanständigkeit dieses Unternehmens oder dieser vorgegebenen göttlichen Eingebung, nicht gehoben. Wenn ein solch Geheimniß einer übernatürlichen Religion den Gläubigen Altes Testaments durch Vorbilder hätte sollen offenbaret werden: so würde Gott auch solche Bilder dazu gewehlt haben, welche der Würde einer so wichtigen Sache gemäß und angemessen wären, nicht aber solche, welche den Vollkommenheiten des höchsten Wesens, und den Pflichten der Menschen gegen einander und gegen Gott selbst gäntzlich wiederstritten, und ein schädliches Beyspiel der Nachahmung hinterliessen.« 180 Ebd., S. 721–755. Das Kapitel wiederholt verkürzend auch die Kritik an der messianischen Auslegung der Väterverheißungen.
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alttestamentlicher Verse schon innerhalb des Judentums immer wieder ein empfindlicher Streitpunkt war, und konstruiert eine Traditionslinie wahrhaft jüdischer Exegese, die philologisch exakt und stets vorsichtig distanziert gegenüber allzu freier allegorischer Interpretation den Wortsinn des Alten Testaments erschließt und mithin einen klaren exegetischen Gegenpol zur verbreiteten allegorischdogmatischen Exegese des Neuen Testaments bildet. Die These einer Verwurzelung der neutestamentlichen Exegese in einer jüdischen Tradition allegorischer Deutung des Alten Testaments lehnt Reimarus hierbei keineswegs ab. Er bestreitet aber, dass diese Tradition allegorischer Deutung die wahre jüdische Tradition ist, und verweist bevorzugt auf diejenigen jüdischen Autoren, die sich gegenüber allegorischen Auslegungen skeptisch zeigen. Wenn Reimarus auf diese Weise zwei gegensätzliche Zweige der exegetischen Tradition des Judentums unterscheidet, so folgt er darin dem lutherisch-orthodoxen Orientalisten Theodor Hackspan181, der 1644 von Altdorf aus Rabbi Yom Tov Lipmann von Mühlhausens Buch »Nizachon« ediert hatte und dem Druck einen Traktat »De scriptorum Judaicorum in theologia usu«182 beigefügt hatte. In dem Traktat leitet Hackspan an, von der neutestamentlichen Unterscheidung zwischen Sadduzäern und Pharisäern ausgehend exegetische Traditionslinien in die Geschichte des Judentums einzuzeichnen, nämlich eine pharisäische, die sich im rabbinischen Judentum fortsetzt, und eine sadduzäische, die in der jüdischen Sekte der Karäer aufgeht, derjenigen Bewegung also, die eine vernünftige, nicht traditionsgebundene und nicht allegorisch verfahrende Exegese des Alten Testaments einforderte.183 Das Buch »Nizzahon«, so Hackspan, argumentiere zwar zum Teil antichristlich, sei aber gleichwohl eine Schrift von hohem Wert für die 181
Informationen über Theodor Hackspan sind rar. Zu Leben und Werk vgl. Gustav Georg Zeltner, Vitae theologorum Altorphinorum, Norimbergae et Altorphii 1722, S. 304–326. Eine Analyse des Titelkupfers der u.g. Ausgabe des »Liber Nizachon« bietet Malka Rosenthal, Stippvisite in Altdorf, in: Kalymnos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut 4 (2001), S. 7–9. Auch Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988, S. 67, berührt Hackspan und den Traktat. 182 Theodor Hackspan, De scriptorum Judaicorum in Theologia usu vario & multiplici Tractatus, in: Yom Tov Lipmann von Mühlhausen, Liber Nizachon, hg. von Theodor Hackspan, Noribergae 1644. 183 Ebd., S. 225–230. Dass auch die karäische Exegese eine eigene exegetische Tradition bildet und z. T. eigene, von den rabbinischen abweichende allegorische Auslegungen kennt, spielt für Hackspan in Anlehnung an Lipmann keine Rolle: »Quando verò Sadducaeos elegit adversarios, eosque argumentis vincere satagit, è re foret, nosse in quibus principiis cum illis conveniat, & quae tandem sint controversiarum capita. Hinc enim, credo, facilius innotescet, quinam Sadducaeorum nomine hic veniant. De principio disputandi seu argumentandi valdè laborat: hinc num. 62. [Hackspan bezieht sich hier auf seine Lipmannedition, aus deren aramäischem Text er zitiert] inquit: […] Sadducaei vocantur nostrâ aetate Karaei, vel Karaitae, quorum majores admittere noluerunt legem oretenus solùm traditam h. e. traditiones« (S. 225). Die Karäer erheben die Tora zur einzigen Norm und versperren der pharisäischen Allegorese damit den Weg: »Mordicus itaque tenebant Sadducaei Sacras literas, usq; adeò, ut interpretationes mysticas Pharisaeorum certatim repudiarent« (S. 230 f.). Eine differenzierte Betrachtung der Sadduzäern und Karäern kam erst
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christliche Apologetik, weil in ihr neben den Christen auch die Sadduzäer oder Karäer angegriffen würden, mithin also derjenige Zweig der jüdischen Exegese, der die Legitimität der der christlichen Dogmatik zugrunde liegenden allegorischen Interpretation des Alten Testaments bestreite.184 Die pharisäisch-rabbinische Traditionslinie sieht Hackspan zudem durch den Koran und die arabische Literatur gestützt, weil der Koran ein eindeutiges Zeugnis gegen die »Ungläubigen« ablegt, die der koranischen Beschreibung nach exakt das Profil der sadduzäisch-karäischen Linie aufweisen, und weil auch Muslime sich der allegorischen Interpretationsmethode der pharisäisch-rabbinischen Linie bedienen und deren Legitimität auf diese Weise unter Beweis stellen.185 Theodor Hackspans Traktat »De scriptorum Judaicorum in theologia usu« ist nur eine von mehreren Schriften lutherischer Hebraisten des 17. Jahrhunderts, die mit der Unterscheidung zweier Auslegungstraditionen innerhalb des Judentums argumentieren, um das Recht der allegorischen Schriftauslegung zu verteidigen. Den Hintergrund dieser Schriften bildet ein im Kreise der Schüler Georg Calixts186 diskutiertes Problem: mit Calixts Einverständnis hatte sein Schüler Johann Latermann in Auseinandersetzung mit der sozinianischen Kritik an der Trinitätslehre zugegeben, die Gottheit des Sohnes lasse sich aus dem Alten Testament allein nicht beweisen, sondern werde erst unter Einbeziehung des Neuen Testaments erkannt und von dort her zu Recht in das Alte Testament hineingelesen.187 Mit diesem Zugeständnis allerdings hatte er die Autorität des neutestamentlichen Weissagungsbeweises angegriffen. Denn die neutestamentlichen Schriftsteller ihrerseits hatten ja allein vom Alten Testament aus die Messianität Jesu begründet und waren so zur Lehre von der Gottsohnschaft Christi gelangt. Wollte man die Autorität des neutestamentlichen Weissagungsbeweises retten, so brauchte man gegen Ende des 17. Jahrhunderts in den Blick, vgl. Art. »Sadducäer«, in: J. H. Zedler Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste 33 (1742), S. 315–320. 184 Die vielseitige apologetische Einsetzbarkeit rabbinischer Schriften zeigt Hackspan am Ende des Traktats, vgl. Theodor Hackspan, De scriptorum Judaicorum, S. 497 ff. 185 Der Koran selbst ist in der alten, unversehrten Tradition des rabbinischen Judentums verwurzelt. Es ist kein historischer Zufall, dass man die koranische Polemik gegen die »Ungläubigen« anti-sadduzäisch lesen kann. Vgl. Ebd. S. 244 »Judicet Lector, annon haec [voraus gehen Zitate aus Koransuren, zuletzt 4,136] de Sadducaeis accipi queant, ceu illi quidem vulgò aestimantur. Vir Maximus Widmanstadius ad Theologiam Mohammaedis, & Epitomen Alkorani passim observat, locis tamen minimè notatis, in Rapsodia Alkorani complura inveniri, è rivulis Judaeorum Cabbalisticis hausta.« 186 Zu Georg Calixt vgl. Christoph Böttigheimer, Zwischen Polemik und Irenik. Die Theologie der einen Kirche bei Georg Calixt, Münster 1996. Zur Bedeutung Calixts für die lutherische Hebraistik vgl. Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung, S. 63–66. 187 Ebd., S. 66. Die von Friedrich angegebene antisozinianische Disputation Latermanns fällt in das Jahr 1645, könnte aber Einsichten aussprechen, die Calixt gegenüber seinen Schülern schon weit früher geäußert hatte. Hackspans 1644 erschienener Traktat kann sich auf Latermanns Äußerung nicht beziehen, wohl aber auf mögliche mündliche Äußerungen Calixts, bei dem Hackspan 1633–1636 studiert hatte, vgl. Gustav Georg Zeltner, Vitae theologorum Altorphinorum, S. 307–309.
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nun eine dritte Bezugsgröße neben dem Alten und dem Neuen Testament, und diese dritte Bezugsgröße fanden lutherische Hebraisten wie Hackspan, aber auch Peter Haberkorn, Michael Havemann188 und andere in der allegorischen Auslegungstradition des rabbinischen Judentums, auf die sich die neutestamentlichen Ausleger des Alten Testaments ihrerseits stützten, und verlagerten die Diskussion um die Rechtmäßigkeit des neutestamentlichen Weissagungsbeweises und der Trinitätslehre so in die Geschichte des Judentums, innerhalb dessen sie die Tradition ›orthodoxer‹ allegorischer Exegese gegen eine verderbte Tradition verteidigen zu können glaubten. Es ist die griffige Unterscheidung zwischen einer wahren, pharisäisch-rabbinischen und einer falschen, sadduzäisch-karäischen Linie, die Reimarus von Hackspan übernimmt mit dem Unterschied, dass für Reimarus die sadduzäischkaräische Linie es ist, der in der Exegese gefolgt werden soll.189 Hackspans Versuch, die pharisäisch-rabbinische Linie im Zusammenspiel der Zeugnisse aller drei abrahamitischer Religionen als wahr zu erweisen, um so die biblisch-historische Grundlage der christlichen Zentraldogmen zu retten, wird von Reimarus nicht kommentiert. In exakter Umkehrung der apologetischen Strategie Hackspans folgt er dem sadduzäisch-karäischen Weg und entzieht den christlichen Zentraldogmen so die Grundlage.190 Zwar lässt sich nicht sagen, dass Reimarus in seiner Abwehr einer messianischen Interpretation des Alten Testaments vom Neuen her durchweg karäische Literatur aufbietet.191 Unverkennbar ist jedoch, dass er sich konsequent an diejenigen Autoren des rabbinischen Judentums hält, 188 Peter Haberkorn, Syntagma Dissertationum Theologicarum, Gissensi 1650, und Michael Havemann, Theognosia Antiquissima, Mosaica, Prophetica, Rabbinica, Freiberg 1651. Zur Bedeutung Haberkorns und Havemanns in diesem Kontext vgl. Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung, S. 93. 189 Reimarus’ Entscheidung für den karäischen Weg der Exegese steht im Kontext millenaristischer Begeisterung protestantischer Gelehrter für das möglicherweise bekehrungswillige Karäertum in seiner Abwendung vom rabbinischen Mehrheitsjudentum. So widmeten sich John Selden, Adam Boreel, Johann Rittangel u. a. der Erforschung des karäischen Schrifttums. Auch Johann Christoph Wolf nahm in Hamburg am gelehrten Austausch über die Karäer teil, vgl. Yosef Kaplan, An alternative path to modernity. The Sephardi Diaspora in Western Europe, Leiden u. a. 2000, S. 254–261. 190 Reimarus zitiert Hackspan in der »Apologie« insgesamt zweimal: Apol I , S. 929, und Apol II , S. 274. 191 Das in Wagenseils »Tela ignea satanae« enthaltene Buch »Chizzuk Emunah« des Rabbi Isaac Troki ist ein Beispiel karäischer Polemik. In Wagenseils Ausgabe war es Reimarus zugänglich: Johann Christoph Wagenseil, Tela ignea satanae, 2 Bde., Altdorfi Noricorum 1681. In der »Apologie« würdigt Reimarus ihn mit folgenden Worten: »Der R. Isaac in seinem Chissuk Emunah, wirfft ihnen nicht allein überhaupt vor, daß sie die Sprüche der Propheten, wieder den wahren Verstand, im N. T. mißhandelten, indem man aus dem Vorhergehenden und Nachfolgenden leicht sehen könnte, daß jene gar nicht an das gedacht hätten, was die Evangelisten und Apostel daraus beweisen wollten; sondern er wiederlegt auch im zweyten Theil seines Werks alle Deutungen der besonderen Stellen A. T. die man im Neuen angeführt findet, als falsch und verkehrt; und soferne ist dieser Jude der gründlichste und stärkste Wiedersacher des Christenthums«, vgl. Apol II , S. 268.
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denen im Geiste Hackspans eine deutlich sadduzäisch-karäische Tendenz nachzusagen wäre. Die Fußnoten der Endfassung der »Apologie« sowie einige in den Haupttext eingefügte kleinere Exkurse zur Theologiegeschichte des Judentums erzählen eine Geschichte der ständigen Beschränkung des Rechts einer allzu freien allegorischen Interpretation messianischer Verse des Alten Testaments. Um die von Reimarus gebotene Auswahl zu verstehen, muss man sich einige einschlägige Alternativen des jüdischen Messiasglaubens vergegenwärtigen, die zugleich den Hintergrund jeweiliger Auslegungen messianischer Verse des Alten Testaments bilden. Die messianische Zeit kann erscheinen als die vollständige Restauration des historischen Königtums Davids in der Zeit, aber auch als eine jenseitige, eschatologische Utopie, die eintreten wird als ein radikaler Bruch mit dem Bestehenden, als ein apokalyptisches Geschehen am Ende der Zeit. Und ebenso kann die Person des Messias vorgestellt werden als der siegreiche politische Herrscher, dessen Archetyp die biblische Gestalt des Königs David ist, oder als Sohn des biblischen Josef, als eine leidende Gestalt, die die Wehen der kommenden Endzeit auf sich nimmt.192 Da die jüdische apokalyptische Hoffnung auf die jenseitige Heilszeit des kommenden Messias stets eine gewisse Tendenz zum Antinomismus hin aufwies, bemühte sich das rabbinische Judentum in der Tat, dieser Gestalt des Messiasglaubens Grenzen zu setzten. Reimarus lässt seine Darstellung der messianischen Idee im Judentum zulaufen auf Rabbi Josef Albo, der in seinem »Sefer ha-iqqarim« bestimmt habe, »der Punkt von dem Messias sey kein Haupt-Artikel des Glaubens, habe auch keinen Grund in der Schrifft selbst, sondern nur in den Traditionen«.193 In Josef Albo, der in der Unterscheidung von ikkarim, d. i. fundamentalen Glaubensartikeln, und deren untergeordneten Nebenartikel (emunot) den Messiasglauben insgesamt zu den emunot rechnete, erkennt Reimarus den exemplarischen Vertreter einer Abwertung des Messianismus innerhalb des Judentums, dessen Beispiel »neuere Spanische Juden« gefolgt seien.194 Nur eine deutlich distanzierte Haltung dem Messiasglauben gegenüber hält Reimarus für echt jüdisch. Reimarus’ Sicht der jüdischen Debatte über den Messianismus entspricht die Auswahl exegetischer Literatur jüdischer Provenienz, die er benutzt. Es ist nicht möglich, hier ein vollständiges Panorama zu bieten. Neben dem Talmud als dem exegetischen Grundtext des rabbinischen Judentums zitiert Reimarus bevorzugt Judaika christlicher Herkunft, die das Spektrum der exegetischen Literatur des Judentums überschaubar machen, aber auch einzelne jüdische Autoren wie Ibn Ezra oder Rabbi David Kimchi. Auch jüdische antichristliche Polemiken werden 192 Zur messianischen Idee im Judentum vgl. Gershom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Judaica, Bd. 1, Frankfurt am Main 1963, S. 7–74. 193 Apol I , S. 725. 194 Zu Josef Albos »Sefer ha-iqqarim« und dessen Wirkung vgl. Sina Rauschenbach, Josef Albo. Jüdische Philosophie und christliche Kontroverstheologie in der Frühen Neuzeit, Leiden u. a. 2002, S. 47–54. Zu Reimarus’ Rückgriff auf Josef Albo vgl. ebd., S. 281.
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von Reimarus benutzt, wenngleich er sie nicht offen zitiert. In der von Johann Christoph Wagenseil herausgegebenen Sammlung »Tela ignea satanae«195 standen ihm die Texte zur Verfügung. Als ein Beispiel jüdischer exegetischer Gebrauchsliteratur sei hier vorgeführt Rabbi David Kimchis Psalmenkommentar, der Reimarus durch Adriaan Relands »Analecta Rabbinica«196 in hebräisch-lateinischer Fassung vorlag. Der in der dogmatischen Tradition des Christentums stets christologisch interpretierte Psalm 2 wird von Kimchi nicht auf einen kommenden Messias bezogen, sondern auf den historischen König David, der ihn sang, als er sich durch die Philister bedroht sah (2 Sam 5). Der in Vers 2 erwähnte »Gesalbte« des Herrn ist somit niemand anderes als der König David, der in Vers 7 der »heute« gezeugte »Sohn« Gottes genannt wird, weil der Psalm auf die unmittelbar zuvor geschehene Salbung Davids zum König anspielt, durch die David als ein »Sohn« Gottes zum Gehorsam gegen Gott verpflichtet wurde.197 Dass neben dieser nüchternen historischen Auslegung auch noch andere möglich wären, verneint Kimchi nicht. Er verweist auf die Möglichkeit, den ersten Vers des Psalms auf das eschatologische Aufbegehren Gogs und Magogs in Ez 38 zu beziehen und den Psalm so als Hinweis auf einen zukünftigen Messias zu verstehen.198 Er selbst macht von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch und empfiehlt so eine streng historische, nicht-allegorische Auslegung, die jeder dogmatischen Instrumentalisierung der Stelle zuwiderläuft. Zu einer regelrechten Verspottung der allegorischen Ausdeutung alttestamentlicher Verse steigert sich Reimarus angesichts des neutestamentlichen Berichts über die Rede des Apostels Paulus vor den Juden von Antiochia, in der dieser den christlichen Auferstehungsglauben und die Messianität Jesu als ein und dasselbe exegetische Thema vom Alten Testament her zu verteidigen versucht. Reimarus reinszeniert die biblische Rede als einen Dialog, indem er der Rede des Paulus fiktive kritische Einwürfe der versammelten Juden entgegenstellt. Der erste Einwurf wendet sich gegen den von Paulus vorangestellten Rückblick auf die Heilsgeschichte Israels: Mein guter Paule wenn dieses letztere der Hauptsatz deines Vortrages werden sollte, so hättest du die vorangeschickten alten und bekannten Historien, welche nichts zu dieser Sache beytragen, wohl erspahren mögen. Dagegen kannstu bey uns nicht so bekannt annehmen, 195
Vgl. oben Anm. 28. David Kimchi, Commentarius Rabbi Davidis Kimchi in aliquot Psalmos Davidicos, in: Adrian Reland, Analecta Rabbinica, Trajecti ad Rhenum 1723. 197 Ebd., S. 34–36: »ac si diceret, Rex iste, meus est, & filius meus, & servus meus qui mihi obtemperat: omnis enim qui ita mihi obedit, ut Deo serviat, vocabitur filius, sicut filius qui patri obtemperat, & illi servire paratus est. […] Ego hodie genui te, dies quo in regem unctus fuit, ipse est quo Deus eum suscepit in filium, ut supra dictum fuit, Providi mihi in regem.« 198 Ebd., S. 42: »Sunt porro qui hunc Psalmum exponant de (f) Gog & Magog, & de Meia, hoc est de Rege Messia, & sic ipse interpretati sunt Magistri nostri piae memoriae. Et si hac ratione exponatur hic Psalus, sensus ejus erit dilucidus: sed verovidetur similius Davidem hunc Psalmum de seipso composuisse sicut nos explicuimus.« 196
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was du von deinem Jesu aus Nazareth in aller Kürtze sagest. Wir verlangen also zuvörderst dreyerley Beweise von dir: 1) Daß dieser Jesus von dem König David entsprossen sey. Denn wir hören, daß ihr Leute die Abstammung seiner Mutter, (auf welche es vornehmlich ankommt) von dem Könige David nicht so recht beweisen könnt. 2) Daß, wenn er auch aus dem Geschlecht gewesen wäre, er allein vor vielen andern, die Davids Nachkommen waren und noch sind, der Heiland Israels seyn müsse. 3) Daß die Verheissungen eines Heilands aus Davids Geschlecht solche persönliche Merkmaale enthalten, die sämtlich auf diesen Jesum, und sonst auf niemand passen. Denn, soviel wir gelesen und gelernet haben, so sollte ja der Erlöser Israels auf dem Thron Davids zu Jerusalem als ein großer Regente sitzen, alle Feinde unsers Volks demühtigen, alle zerstreute und gefangene Israeliten befreyen und sammlen. Wie reimt sich das zusammen mit einem der gekreutziget ist?199
Nach einem Wortwechsel über die Beweiskraft des Zeugnisses Johannes’ des Täufers erhebt sich ein zweiter Einwand, als Paulus fortfährt und das Zeugnis der Propheten anführt: Lieber Paule, du wendest dich mit sanften und einnehmenden Worten zu uns, und magst es vielleicht selbst meynen, daß du uns Heil bringest. Aber, ehe wir dir das recht verdanken können, müstest du uns zuvor gründlich überführt haben, daß Jesus, den du uns predigest, der verheissene Heiland Israels sei. Ohne Überführung sich ein Heil versprechen, hieße nach einem Schatten, ja vielleicht nach seinem eigenen Verderben greiffen. Du weist, daß in unsern Tagen schon manche falsche Christi aufgestanden sind. Woraus sollen wir erkennen, daß Jesus von Nazareth der wahre sey, welchen die Propheten verheißen und bezeichnet haben, und daß wir nicht durch den Glauben an ihn betrogen und verführet werden?200
Das letzte Argument, das Paulus zu bieten hat, ist die Auferstehung Jesu, die die versammelten Juden als einen Beweis der Messianität Jesu ebenfalls ablehnen: So wollet ihr denn, Paulus und Barnabas, jetzt, vor uns, weder aus eigener Erfahrung, als die Jesum auferstanden gesehen hätten noch auf der andern Jünger Zeugniß, sondern hauptsächlich aus der Schrifft beweisen, daß Gott Jesum von den Todten erweckt habe, und daß folglich in ihm die Verheissungen erfüllet sind. Nun mögen wir doch gerne wissen, wie das im zweyten Psalm enthalten sey. Du (David) bist mein Sohn, heute hab ich dich gezeuget, soll so viel heissen: ich will Jesum von Nazareth, des Josephs Sohn, künftig vom Tode erwecken. Himmel! wer kann solche Erklärungs-Art begreiffen oder verstehen, da kein eintzig Wort, nicht Subjectum, nicht Prädicatum nicht Umstände, in ihrer natürlichen Bedeutung bleiben? Gesetzt, die Rede sey auch in dem Psalm von dem Messia. Wodurch wird doch angedeutet, daß es Jesus von Nazareth seyn werde?201
Tatsächlich sprengt der paulinische Rückgriff auf das Alte Testament hier den Rahmen dessen, was Exegeten des ausgehenden 17. Jahrhunderts als eine jüdische allegorische Interpretation nachvollziehen konnten. So lässt Wilhelm von Su«202 eine mögrenhuisen, der im dritten Buch seines » 199
Vgl. Apol II , S. 255. Ebd., S. 256. 201 Ebd., S. 257 f. 202 Guilielmus Surenhusius, 200
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lichst vollständige Analyse allegorischer Auslegungen alttestamentlicher Verse im Neuen Testament anstrebt, ausgerechnet die Paulusrede Apg 13 unbearbeitet. Es blieb der modernen Exegese vorbehalten, in der unübersichtlichen Gemengelage des überlieferten Redetextes einen genuin jüdischen Pesher über 2 Sam 7 und eine damit aufs engste verbundene paulinische Deutung des zweiten Psalms im Kontext christlicher Auferstehungshoffnung zu unterscheiden.203 Entsprechend fein differenzierende Auslegungen standen Reimarus nicht zur Verfügung, der in dem Passus Apg 13 daher folgerichtig nichts anderes erkennt als einen Angriff gegen den gesunden Menschenverstand der zu Antiochia versammelten Juden. Es ist vor allem der Weissagungsbeweis, den Reimarus mit Hilfe jüdischer Literatur zu entkräften versucht. Das weitere kritische Potential der jüdischen Literatur, die ihm zur Verfügung steht, schöpft er nicht voll aus. Es wurde bereits erwähnt, dass Reimarus die von Johann Christoph Wagenseil herausgegebene Sammlung »Tela ignea satanae« benutzte und folglich auch ein weites Spektrum antichristlicher Polemik jüdischen Ursprungs überblickte. Ein einschlägiger Text aus der Sammlung Wagenseil sind die »Toldoth Jeschu«204, eine vermutlich späte Textfassung des jüdischen Leben Jesu. Schon Reimarus’ Lehrer Wolf hatte in seiner »Bibliotheca Hebraea« die Textgeschichte der von Wagenseil edierten »Toldoth Jeschu« zu rekonstruieren versucht.205 Ohne Frage war auch Reimarus mit dem sehr kurzen und einprägsamen Text bestens vertraut. Die »Toldoth Jeschu« stellen Jesus als das uneheliche Kind Mirjams vor, das ungehorsam gegen seine jüdischen Lehrer aus der Gemeinde verstoßen wird und allein seinen Weg durch Galiläa suchen muss. Nachdem es Jesus gelingt, im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels den Schem zu erlernen, zieht er als religiöser Wundertäter durchs Land, nennt sich selbst den jungfräulich geborenen Sohn Gottes und gewinnt mit seinem Verhalten die leichtgläubige Königin Helena von Jerusalem, die an ihn glaubt und ihn unterstützt. Die verärgerten Juden lassen nun Judas als einen Konkurrenten ebenfalls den Schem lernen und rufen die beiden Wundertäter zu einem Wettbewerb vor die Königin in Jerusalem. Jesus unterliegt, wird zum Tode verurteilt, kann aber entfliehen, bis er schließlich erneut in Jerusalem durch Judas gestellt und diesmal tatsächlich hingerichtet wird. Nach erfolgter Bestattung stiehlt Judas den Leichnam und wirft ihn in einen Wasserkanal seines Gartens. Das leere Grab bewegt die Jünger und auch die Königin, an Jesu Auferstehung zu glauben, bis man den Leichnam im Kanal wieder findet und ihn öffentlich zur Schau stellt. Juden und Apostel geraten hierüber in Streit.206 203 Vgl. Dale Goldsmith, Acts 13,33–37: A Pesher on II Samuel 7, in: Journal of Biblical Literature 87 (1968), S. 321–324. 204 Vgl. Liber Toldos Jeschu, in: Johann Christoph Wagenseil, Tela ignea satanae, Bd. 2, Altdorfi Noricorum 1681. 205 Vgl. Samuel Krauss, Einleitung, in: ders., Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Berlin 1902, S. 1–23, hier S. 10–13. 206 Für eine detaillierte Inhaltszusammenfassung der »Toldoth Jeschu« in der Wagenseil-Textfassung vgl. Samuel Krauss, Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Berlin 1902, S. 28 f.
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Die »Toldoth Jeschu« zielen unverkennbar auf eine Verspottung des historischen Jesus und geben damit eine Richtung vor, die der Reimarus’schen »Apologie« fremd ist. So sehr Reimarus bereit ist, die Apostel mit ihrem verfehlten Auferstehungsglauben und Weissagungsbeweis ins Lächerliche zu ziehen, so wenig lässt er solchen Spott im Blick auf den historischen Jesus zu. Denn in dem historischen Jesus erkennt Reimarus einen Lehrer der praktischen Religion und einen politischen Messias, der das Judentum von innen heraus erneuern wollte und keinen Konflikt mit der geltenden jüdischen Tradition suchte. Als der Messias empfahl er sich den Juden und scheiterte, weil sein messianischer Anspruch ihn vor der römischen Justiz angreifbar machte. Es sind die einfachen Worte der Bergpredigt, in denen Reimarus die Mitte der Verkündigung des historischen Jesus erblickt: Diese praktische Religion, welche Jesus durch die Hofnung einer ewigen Glückseligkeit erhöhet und belebet hatte, bringt er, nach den Worten des Gesetzes, in einen gantz kurtzen Auszug: Du sollt lieben den Herrn deinen Gott von gantzem Hertzen, und von gantzer Seele, und von gantzem Gemühte: du sollt deinen Nächsten lieben als dich selbst. An diesen zweyen Geboten hänget das gantze Gesetz und die Propheten. Thuhe das so wirstu leben. Das hieß ja wohl mit Recht, den Kern der Religion aller Menschen aus so vielen Schalen, worin sie Moses verhüllet hatte, heraussuchen, und die Juden, welche sich mit den Schalen aufhielten, darauf verweisen. Wie konnte das Wesentliche einer thätigen Verehrung Gottes und der HauptPflichten gegen uns und andere, kürtzer und besser gefaßt werden, als in dem einen Worte der Liebe, als der Haupt-Triebfeder? […] Die Idee von Gott, welche zur praktischen Religion dienet, ist nach Jesu Lehre, die Vollkommenheit; und darum sagt er: ihr sollt vollkommen seyn, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Diese Vollkommenheit ist in Beziehung auf seine Creaturen, besonders die Menschen, Güte. Jesus spricht, wie ihn einer anredet, Guter Meister: Was heissest du mich gut? Niemand ist gut, dann nur der Eine, nämlich Gott. […] Wie vortrefflich und rührend ist nicht die Stelle von der weisen und gütigen Vorsehung und Vorsorge Gottes für die Menschen? Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet – Sehet die Vögel des Himmels an: denn sie säen nicht, sie ernten auch nicht, sie samlen auch nicht in die Scheuren; und euer himmlischer Vater nähret sie doch.207
Die praktische Religion Jesu verfügt über einen vernünftigen Gottesbegriff, über eine vernünftige Moral und den vernünftigen Glauben an die göttliche Vorsehung, die den Menschen Gott und dessen Schöpfung gegenüber in einen Zustand der Zufriedenheit und Seelenruhe versetzt. Da Jesus zudem die Unsterblichkeit der Seele lehrt, ist seine praktische Religion beständiger als die weit weniger vollkommene Religions- und Morallehre des Alten Testaments. Diese Suche nach einer unverfälschten Lehre Jesu machte Reimarus offenkundig auf eine 1720 in Hamburg erschienene Ausgabe des Neuen Testaments aufmerksam, in der die Worte Jesu rot hervorgehoben sind.208 Die Suche nach 207
Vgl. Apol II , S. 30 f. Vgl. Apol II , S. 21, Anm. p: »Es ist auch ein teutsches N. T. heraus, darin Jesu eigene Worte mit rohten Buchstaben gedruckt sind.« Gerhard Alexander merkt an, gemeint sei hier Das 208
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den echten Aussprüchen Jesu in den heiligen Büchern des Neuen Testaments erschien im lutherisch-orthodoxen Hamburg der 1720er Jahre offensichtlich nicht anstößig. Dass die rote Markierung von Jesusworten innerhalb des durchweg inspirierten Bibeltexts zu einer Unterscheidung zwischen der eigentlichen Lehre Jesu und einer sekundären Lehre der Apostel anleiten könnte, befürchtete man nicht. Die Hervorhebung der Jesusworte diente vermutlich der Erbauung und nicht der Aushöhlung der Schriftautorität, konnte aber, wie Reimarus’ Benutzung zeigt, hierzu verwendet werden. Auch was die im Neuen Testament berichteten Wundertaten des historischen Jesus angeht, erhebt Reimarus keinen Betrugsvorwurf gegen Jesus selbst. Der Frage, inwiefern Jesus bei der Durchführung gewisser kleinerer Heilungswunder etwa auf einschlägiges iatrisches Fachwissen der Zeit zurückgriff, geht Reimarus kaum nach. Jesus selbst machte sich nicht des Religionsbetrugs schuldig. Der Religionsbetrug setzte erst ein nach dem Ableben Jesu. Getragen von eindeutig weltlichen Interessen suchten die Jünger nach Jesu Kreuzigung einen Weg, das politische Neuerungswerk Jesu fortzusetzen und sich diejenige Herrschaft über die zwölf Stämme Israels zu verschaffen, die sie sich von der Beteiligung an Jesu messianischem Reich unter den Juden versprochen hatten. Geschickt nutzten sie die doppelte Gestalt der jüdischen Messiaserwartung und deuteten den gekreuzigten Jesus als den leidenden Erlöser Israels, fingierten das Auferstehungswunder, konstruierten Weissagungsbeweise vom Alten Testament her und behaupteten die baldige Wiederkunft des Auferstandenen. Alles dies betrachtet Reimarus als planmäßig durchgeführte Betrugsmaßnahmen und nicht als theologisch legitime Ausdeutungen des Todes Jesu auf dem Boden der jüdischen Tradition, in der die Jünger standen. Mindestens eine Möglichkeit, den Betrugsvorwurf gegen die Jünger abzuschwächen, ohne die deistische Grundanschauung zu verletzen, dürfte Reimarus aus der Debatte um Woolstons »Discourses« bekannt gewesen sein. Im fünften der Woolstonschen »Discourses«209 werden Auferweckungswunder des Neuen Testaments, nämlich das der Erweckung der Tochter des Jaïrus, des Sohns der Witwe von Nain sowie des Lazarus durch den Aufweis innerer Widersprüche und durch naturalistische Erklärungen negiert. Peter Annet griff dieses Argumentationsschema in »The Resurrection of Jesus considered, in Answer to the Tryal of Witnesses. By a Moral Philosopher«210 1744 noch einmal auf und wandte dasNeue Testament Unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi … alle Worte und Reden, welche der Herr Jesus selbst gesprochen mit rothen Littern […], Hamburg 1720. Ein Exemplar stand mir nicht zur Verfügung. 209 Thomas Woolston, A fifth discourse on the miracles of our Saviour, in view of the present controversy between infidels and apostates, London 1728. 210 Peter Annet, The Resurrection of Jesus considered, in Answer to the Tryal of Witnesses. By a Moral Philosopher, in: ders., Complete Works, London 1744, S. 265–326. Zur Präsenz von Annet-Abschriften in Hamburg im Umkreis Schades vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760, Hamburg
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selbe Verfahren auf das Wunder der Auferstehung Jesu an. Jesus, so deutet er an, sei womöglich gar nicht am Kreuz gestorben, sondern nur scheintot gewesen.211 Es liegt auf der Hand, welche Vorteile die Argumentation im Rahmen einer solchen Scheintodhypothese für Reimarus hätte haben können. Ebenso wie sich Reimarus im Blick auf das Alte Testament die Deutung der mosaischen Wolkenund Feuersäule als ein natürliches Wetterphänomen angeboten hätte, um Mose vom Vorwurf des wissentlichen Religionsbetrug freizusprechen, so hätte auch der Rückgriff auf die Scheintodhypothese im Blick auf das Neue Testament es zugelassen, die Jünger nicht als Religionsbetrüger, sondern als naturwissenschaftlich-medizinisch unbedarfte Fehldeuter des plötzlichen Erscheinens des angeblich toten Jesus zu betrachten. Von der Arbeit an der Theokratie des Mose her war Reimarus bereits von dem Gedanken abgekommen, biblische Wunderberichte ließen sich als Fehldeutungen natürlicher Ausnahmephänomene betrachten.212 Verzichtet Reimarus im Blick auf das Neue Testament auf den Gebrauch der Scheintodhypothese, so folgt er eben der Linie, auf die er zuvor seine Kritik des Alten Testament gebracht hatte: die Wunderberichte zeugen von wissentlichem Religionsbetrug teils auf der Ebene der realen Geschichte Israels, teils auf der Ebene der biblischen Geschichtsschreibung, und schuldig sind im Blick auf das Neue Testament in beiden Fällen die Jünger Jesu, die angesichts der Kreuzigung ihres Meisters nicht von ihrer Hoffnung auf weltliche Herrschaft unter den Juden lassen wollten, Wunder- und Weissagungsbeweise erfanden und diese in ihren Evangelien als historische Wahrheiten ausgaben. Auf diese Weise erschließt Reimarus jedoch lediglich eine erste Entwicklungsstufe der frühchristlichen Geschichte, auf der der ursprüngliche Glauben an Jesus Christus zunächst noch ganz und gar im Kontext der jüdischen Messiaserwartung rekonstruiert werden kann. Diese frühe Entwicklungsstufe betrachtet Reimarus als eine Vorstufe der eigentlichen Lehrentwicklung einer regelrechten christlichen Theologie. Die Deutung des Todes Jesu als das Leiden eines Israel erlösenden Messias erscheint Reimarus noch nicht als ein Aspekt der christlichen Dogmatik. Die christliche Dogmatik beginnt in Reimarus’ Sicht dort, wo sich der Christusglauben auch außerhalb des Judentums zu verbreiten begann und man gezwungen war, die Person Christi zu vergöttern, um eine universale Versöhnung in der stellvertretend leidenden Person des Gottmenschen Christus behaupten zu können.
1998, S. 185. Es ist gut vorstellbar, dass Reimarus um 1750 Annets Kritik der Auferstehung zur Kenntnis nahm und angeregt durch Woolston Annets Ansichten teilte. 211 Vgl. Peter Annet, The Resurrection of Jesus considered, S. 296, zitiert nach Gotthard Victor Lechler, Geschichte des englischen Deismus, S. 313. 212 Zur Scheintodhypothese siehe unten Kapitel 2.7.2.
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie«
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2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie« Bietet Reimarus im Anschluss an seine Kritik des Neuen Testaments eine zum Teil weit ausgeführte Kritik der christlichen Dogmatik, so kann er hierbei auf eine lange Tradition der Dogmenkritik seit dem 16. Jahrhundert zurückgreifen. Während die Reformatoren ihre Lehre stets im Einklang mit den alten, unverdorbenen Autoritäten der Schrift und des altkirchlichen Bekenntnisses formulierten, begannen radikale Humanisten im Gefolge der Reformation früh bereits, die Schriftautorität zu verabsolutieren und im Interesse einer philologisch reinen und vernunftgemäßen Exegese zunächst das Trinitätsdogma, später aber auch weitere Zentraldogmen anzugreifen.213 Allein die Schrift leite den Menschen zur Erkenntnis Gottes und dessen Willen, erklärte Fausto Sozzini 1568 in seiner Schrift »De auctoritate sacrae scripturae«214. Durch die Schrift nicht zu beweisen seien der Glaube an die substanzielle Gottheit Jesu Christi sowie die Zwei-Naturen-Lehre. Jesus sei vielmehr ein göttlicher Mensch gewesen, der auf wundersame Weise von Gott selbst unterrichtet, den Menschen Gottes Willen kundtue. Ein Angriff auf die Versöhnungslehre folgte zehn Jahre später in der Schrift »De Jesu Christo salvatore«215. Gott sei von den Handlungen der Menschen schlechterdings unabhängig zu denken, fordert Sozzini hier, eine Beleidigung und ein hieraus resultierender Zorn Gottes gegen den Menschen schränke die absolute Freiheit Gottes ein und dürfe folglich nicht behauptet werden. Das Grundprogramm der sozinianischen Dogmenkritik stand damit fest: die Trinitätslehre und auch die christologischen Lehren von Person und Werk Christi sind als schriftund vernunftwidrig abzulehnen. Weitere Themenfelder wie das der Harmatiologie gesellten sich hinzu. Der philosophisch-theologische Ausgangspunkt der Sozinianer unterscheidet sich letztlich kaum von dem vieler Reformatoren. Hier wie dort paarte sich die Philologie und Metaphysikkritik Lorenzo Vallas mit dem nominalistischen Glauben an die absolute Freiheit Gottes.216 Bei den Sozinianern allerdings zerbrach die analogia fidei auf die dogmatischen Konzilsentscheidungen der Alten Kirche hin an einem entfesselten Biblizismus, der sich im Verbund mit der zunächst nur als Werkzeug der Exegese verwendeten Vernunft als eine Gefahr für die reformatori213 Zu den Anfängen der sozinianischen Dogmenkritik vgl. Delio Cantimori, Italienische Haeretiker der Spätrenaissance, übers. von W. Kaegi, Basel 1949, S. 336–348. Zum Sozinianismus vgl. Zbigniew Ogonowski, Der Sozinianismus, in: [Friedrich Ueberweg] (Hg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bd. 4.2: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001, S. 871–881. 214 Zusammengefasst nach Delio Cantimori, Italienische Haeretiker der Spätrenaissance, S. 337 ff. 215 Zusammengefasst nach ebd., S. 341 ff. 216 Vgl. hierzu Eckhard Kessler, Einleitung, in: Lorenzo Valla, Über den freien Willen. De libero arbitrio, hg. von E. Keßler, München 1987, S. 9–51, hier S. 17 ff.
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sche Dogmatik insgesamt erwies.217 Durch den »Rakower Katechismus« von 1605 als eine eigene Konfession ausgewiesen präsentierte sich der Sozinianismus der jeweiligen lutherischen beziehungsweise reformierten Orthodoxie als häretische Herausforderung. Innerhalb des Luthertums waren es vor allem Abraham Calov und Johann Adam Scherzer, die durch umfangreiche Polemiken auf den Sozinianismus reagierten. Eine unüberschaubare Fülle minder populärer Widerlegungsschriften wäre zu ergänzen.218 Obwohl offiziell verboten, war die sozinianische Dogmenkritik innerhalb der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts alles andere als eine Geheimlehre. Die Kenntnis der sozinianischen Lehren gehörte ebenso zum Rüstzeug des lutherischen Theologen wie das Wissen um apologetische Strategien zu deren Widerlegung. Seit wann Reimarus die verbotenen sozinianischen Schriften selbst besaß und studierte, ist nicht mehr zu ermitteln. Die sozinianische Dogmenkritik dürfte ihm als ein häretischer theologischer Allgemeinplatz früh bereits zu Ohren gekommen sein. In der »Apologie« finden sich besonders zur Trinität und zur Versöhnungslehre Passagen, die eindeutig die Argumente bestimmter sozinianischer Autoren aufbieten. Andere Passagen wiederum sind zu allgemein gehalten, um mit einem bestimmten Autor oder Werk in Verbindung gebracht werden zu können. Reimarus setzt die genaue Kenntnis der jeweils angesprochenen dogmatischen Loci offensichtlich voraus und verzichtet vollständig auf Zitate dogmatischer oder dogmenkritischer Literatur. Seine Ausführungen sind häufig knapp, bieten die eigentlichen theologischen Argumente in kürzester Zusammenfassung, nur um die innere Widersinnigkeit der dogmatischen Lehren umso ausführlicher und zum Teil in unterhaltsamen Parabeln zur Schau zu stellen. Man sucht vergeblich nach Hinweisen, welche theologischen Werke Reimarus benutzte und welche konkrete Lehrgestalt des lutherischen Bekenntnisses er bei seiner Kritik jeweils zugrunde legt.219 Anzunehmen ist, dass die Dogmatik Johann Franz Buddes dasjenige theologische Werk ist, das Reimarus in seiner Auseinandersetzung mit den Zentraldogmen primär vor Augen hat. Wie ein Brief des jungen Jenaer Studenten Reimarus an 217 Im Fall, dass Schriftstellen unklar sind oder einander widersprechen, fungiert die Vernunft als Richterin und stellt so die sufficientia und perspicuitas der Schrift sicher. Diese zunächst nur helfende Aufgabe gewinnt an Bedeutung und wertet die Vernunft innerhalb der sozinianischen Argumentation zunehmend auf, vgl. Klaus Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der historisch-kritischen Theologie, München 1966, S. 34–56. 218 Vgl. Klaus Scholder, Ursprünge und Probleme der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, S. 34–41. Siehe hierzu auch oben Kapitel 2.1.5. 219 Aus dem Auktionskatalog der Reimarusbibliothek Rückschlüsse auf Reimarus’ Auseinandersetzung mit der lutherischen Dogmatik zu ziehen, ist schwierig, weil die Präsenz oder Nichtpräsenz einschlägiger Werke in der Bibliothek kaum Aufschluss über das tatsächliche mehr oder weniger intensive Studium eines bestimmten Werks erlaubt und Reimarus’ Auseinandersetzung mit Problemen der Dogmatik vermutlich sehr früh beginnt, möglicherweise bereits im Elternhaus in Gestalt eines einfachen Katechismusunterrichts.
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seinen Hamburger Lehrer Wolf erkennen lässt, hörte Reimarus 1714 bei dem 1705 erstmals auf einen theologischen Lehrstuhl berufenen Budde Vorlesungen und äußerte seine Bewunderung für dessen große eklektische Gelehrsamkeit.220 Es wird sich zeigen, dass von der Dogmatik Buddes aus, auf die in der »Apologie« freilich nicht explizit verwiesen wird, viele Besonderheiten der Reimarus’schen Dogmenkritik erklärt werden können. Ein weiteres Problem ist die Anordnung der dogmatischen Loci in der »Apologie«, die die Anfänge der christlichen Dogmatik zunächst in lückenlosem Anschluss an die Kritik des Neuen Testaments und der frühesten Verbreitung des Christentums bietet. Auf die chronologische Anordnung des Stoffs folgt ein zweiter Durchgang durch die dogmatischen Loci im Kapitel V,2, diesmal in systematischer Anordnung als »Prüfung des Protestantischen Systems« ergänzt durch ein Kapitel »Von der Heilsordnung des Neueren Christenthums«. Folgt man der chronologischen Anordnung, so kommt zuerst die in Christus geschehene Versöhnung in den Blick und von dieser ausgehend die Anfänge trinitätstheologischer Deutungen Jesu Christi als des göttlichen Logos. Den weiteren Entwicklungsweg der christlichen Dogmatik zeichnet Reimarus nicht nach. Seine dogmengeschichtliche Perspektive endet bei den Kirchenvätern, die den Glauben an die Gottheit Jesu Christi in die Gestalt der christlichen Trinitätslehre überführen. Vor der Aufgabe einer vollständigen Dogmengeschichte schreckt Reimarus zurück: Wie es nach der Apostel Zeiten in der Christenheit wirklich ergangen sey, und wenn ein jedes Evangelium, ein jeder Glaubens-Artikel, ein jeder Gebrauch aufgekommen, und wiederum verändert sey: das würde unendlich seyn aus allen Urkunden hervorzusuchen. Wir wollen aber setzen, daß der protestantische Catechismus, als der Vernünftigste, in allen Stücken mit der apostolischen Heils-Ordnung übereinstimmete, und das wahre alte Christenthum enthielte […]221
In der systematischen Anordnung des »protestantische[n] Catechismus«, der Reimarus nun folgt, wird der Versöhnungslehre die Sündenlehre vorgeschaltet. Trinität und Zwei-Naturen-Lehre folgen nach zusammen mit weiteren kritischen
Vgl. Reimarus’ Brief an Wolf vom 14. Juli 1714 zitiert bei Carl Mönckeberg, Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann, Hamburg 1867, S. 16. Es ist anzunehmen, dass Budde seine Jenaer Vorlesungen nutzte, um sein dogmatisches Hauptwerk, die »Institutiones theologiae dogmaticae« (Leipzig 1723), vorzubereiten. Den Versuch eines Frankfurter Verlegers, Teile der Buddeschen Dogmatik aus Vorlesungsmitschriften vorab zu publizieren, deutet Nüssel sogar als einen Beleg dafür, dass Buddes Jenaer Dogmatikvorlesungen äußerst populär waren, vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996, S. 40 f. Zur Biographie Buddes vgl. Johannes Kunze / (E. Schwarz), Art. »Buddeus«, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 3 (1897), 518–522, und Gustav Frank, Geschichte der Protestantischen Theologie, Teil 2, Leipzig 1865, S. 214 ff. 221 Vgl. Apol II , S. 451. 220
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Bemerkungen zur Glaubensgerechtigkeit, zu den ewigen Höllenstrafen und zum Teufelsglauben. Was das Problem der Anordnung angeht, so halten wir zunächst an der von Reimarus vorgeschlagenen Chronologie fest, so dass wir zuerst die Versöhnungslehre und von dieser ausgehend die Trinitäts- und Zwei-Naturen-Lehre betrachten. Die Sündenlehre folgt dann nach, weil Reimarus sie in seine chronologische Rekonstruktion der Anfänge christlicher Dogmatik nicht integriert. Eine Lücke lassen wir bei Reimarus’ Ausführungen über das Gottesbild der vernünftigen Religion, das er mit dem verfehlten, anthropomorphen Gottesbild der christlichen Dogmatik kontrastiert. Die von Reimarus trotz aller Kritik weiterhin akzeptierten theologischen Lehrstücke zu sammeln, bleibt dem nächst folgenden Hauptteil dieser Arbeit vorbehalten über »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«.222
2.6.1 Versöhnung Fragt Reimarus im Kapitel V,1 seiner »Apologie« unter der Überschrift »Lehrgebäude der Apostel und ersten Kirche« nach den historischen Anfängen der christlichen Dogmatik, so betritt er ein Feld, das zu erschließen lutherische Theologen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begonnen haben. Die Erforschung der Dogmengeschichte223 erschien lutherischen Theologen zunächst nicht als erforderlich. Sollten die Dogmen zusammen mit der Schrift als historisch unwandelbare Wahrheiten den Weg der Kirche begleiten, so war es widersinnig, die Dogmen hinsichtlich ihres historischen Ursprungs und Wandels untersuchen zu wollen. Eine allgemeine Kirchengeschichtsschreibung zwar wurde als legitim betrachtet, weil sie Theologen mit einem für die Kirchenleitung notwendigen historischen Erfahrungswissen auszustatten vermochte. Eine besondere Dogmengeschichtsschreibung aber erschien als unnötig und fand im theologischen Fächerkanon zunächst keinen Platz. Es war das Phänomen divergierender dogmatischer Lehrmeinungen, die kirchengeschichtliche Ausdifferenzierung von orthodoxer und häretischer Lehre, an dem eine regelrechte Dogmengeschichtsschreibung ihren Ausgang nahm. Gottfried Arnolds »Unpartheiische Kirchenund Ketzerhistorie«224 nahm in diesem Sinne früh die Aufgabe einer Dogmengeschichtsschreibung wahr und wies dem pietistischen Grundinteresse Arnolds folgend auf die wiederholte Marginalisierung christlicher Minderheiten durch 222
Dort im Kapitel 3.5. Zu den Anfängen der Dogmengeschichtsschreibung vgl. Friedrich Loofs, Art. »Dogmengeschichte«, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 4 (1898), S. 752–764. 224 Vgl. Gottfried Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie vom Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Christi 1688, Bd. I 1.2, Franckfurt am Mayn 1729. 223
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die intolerante Mehrheitskirche hin. Bald darauf folgten Lorenz von Mosheim, Johann Salomo Semler und Christian Wilhelm Franz Walch mit ihren dogmengeschichtlichen Arbeiten, die der historischen Entwicklung des Dogmas erstmals einen eigenständigen theologischen Wert beimaßen.225 Hinsichtlich ihres dogmatischen Ausgangspunkts verfährt die Dogmengeschichtsschreibung in ihren Anfängen stets orthodox. So nennt Arnold als den Glaubensgrund der ersten Christen den Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes, in dem die Selbstoffenbarung Gottes geschieht.226 Das Dogma bestimmt hier unverkennbar den historischen Ansatzpunkt der Dogmengeschichtsschreibung: Ist Jesus Christus von Ewigkeit der Sohn Gottes, so muss folgerichtig auch die Dogmengeschichtsschreibung einsetzen mit dem Glauben an Jesus Christus, den Sohn Gottes. Die Grundwahrheiten der christlichen Zentraldogmen stehen wie selbstverständlich am Anfang der Dogmengeschichte, bleiben das historische Kontinuum, um das sich die Darstellung dreht. Was sich verändert, sind die Meinungen, die sich mal als orthodox behaupten können, mal als Häresien kirchlich marginalisiert werden.227 Ein entsprechendes orthodox-dogmatisches Kontinuum fehlt Reimarus’ Beschreibung des Lehrgebäudes des ersten Christentums. Der seinerseits aus der Geschichte der jüdischen Messiaserwartung erwachsene Glaube, »daß Jesus von Nazareth der Christ sey«228, blieb dogmatisch zunächst völlig unbestimmt. Es waren die Apostel, die nach dem Ableben Jesu begannen, den vagen Christusglauben zu einem ebenfalls dogmatisch noch unterbestimmten christlichen Lehrsystem auszubauen. Ihr Ansatzpunkt hierbei war der jüdische Glaube, der leidende Messias werde ein Erlöser Israels sein. In dem Interesse, auch Heiden für den Glauben an den Erlöser Jesus Christus gewinnen zu können, versuchten sie, die durch den leidenden Messias Jesus Christus erwirkte exklusive Erlösung Israels zu universalisieren, indem sie die besondere Bedeutung der Person des leidenden Messias hervorhoben, in dessen stellvertretendem »Versühn-Opfer« die Vergebung der Sünden begründet sei. Die Terminologie, in der Reimarus den Übergang vom ersten, dogmatisch unbestimmten Christusglauben zum über die Grenzen Israels hinaus bedeutsamen Glauben an den Sühnetod Christi beschreibt, macht deutlich, dass Reimarus nahezu den vollen orthodoxen Lehrbegriff der Versöhnung an den Anfang der Dogmengeschichte stellt: Eben diesen gekreutzigten oder aufgehenkten Jesum unternahmen nun die Apostel, selbst wegen seines Leydens, zu dem ehrwürdigen Namen eines Messias, Christs, oder Heilands der gantzen Welt zu erheben; so, daß alle Menschen, welche gläubten, daß er von Gott 225
Vgl. Friedrich Loofs, Art. »Dogmengeschichte«, S. 752–764. Vgl. Gottfried Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, S. 48. 227 Ohne eine Fußnote zu setzen, verweist Reimarus im Haupttext der »Apologie« auf die »Anleitung einer dogmatischen Kirchen- und Ketzer-Historie«, vgl. Apol II , S. 431. Die Werke Semlers und Walchs standen ihm noch nicht zur Verfügung. 228 Ebd., S. 425. 226
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zum Versühn-Opfer für sie bestimmet worden, Vergebung ihrer Sünden empfahen sollten. Dies gab seiner Person und seinem Schiksal ein erhabenes Ansehen. Denn wer wollte wohl nicht Vergebung der Sünden und Gnade bey Gott haben, wenn er sie auf eine so leichte Weise, durch die Genugthuung eines andern, erhalten konnte? Allein, das kam auf guten Glauben der Menschen an. An sich hatte es keine Verknüpfung: Ein Menschenkind wird zum Tode verurtheilt, ich will auch setzen, unschuldig verurtheilt; also stirbt er für mich, ja für alle Menschen, nach dem Raht Gottes, zur Versöhnung unsrer Sünden. Denn, wie viele sind wohl nicht unter den Juden, in der tumultuarischen Republik, auch unschuldig, hingerichtet worden? Folgt es deswegen, daß sie für fremde Sünden, nach göttligem Willen, gestorben sind? Folgt es, daß ihr Leyden und Sterben bey Gott eine Versühnung anderer Sünder wirke, wenn sie das glauben, oder sichs einbilden? Selbst Propheten und Männer Gottes waren ja, wie die Historie sagt, vielfältig, ungeachtet ihrer Wunder, unschuldiger Weise getödtet worden. Wurden sie darum für geistliche Erlöser des menschlichen Geschlechts, oder der Juden, gehalten? Man sieht hieraus die Ursache, warum die Apostel Jesum besonders, noch weiter als alle vormaligen Propheten, zu erheben suchten, und nach gerade daran arbeiteten ihn nach seinem Tode zu vergöttern. Ich sage, nach gerade. Denn auf ein mal ließen sie sich nicht so deutlich und ausdrücklich über die Person Jesu aus, hatten auch wohl ihren Begriff von ihm noch nicht unter sich so genau bestimmt und vest gesetzt; daher ihre schwankende Redensarten in diesem Punkt entstanden sind.229
Es ist zuerst die universale Sündenvergebung in dem Versöhnungsopfer Christi, die die Apostel zur Mitte des christlichen Glaubens bestimmen. Der Glaube an die Gottheit Christi setzt sich erst später durch als eine Folge des Versöhnungsglaubens. Durch die Berichte von der Auferstehung und der Himmelfahrt bieten die Apostel Beweise für die Gottheit Christi ebenso wie durch den Bericht von der jungfräulichen Geburt, durch die auch im antiken Heidentum die Vergötterung menschlicher Personen begründet wurde. Jedoch wird die volle Gottheit Christi erst erreicht, als man die Person Christi mit dem platonischen Logos identifiziert und sie zur zweiten Person des dreieinigen Gottes macht. Auf diese Weise setzt Reimarus die dogmatischen Lehrstücke von Versöhnung und Trinität in einen historischen Zusammenhang: am Anfang der Dogmengeschichte steht die Versöhnungslehre und nicht die Lehre von der Gottheit Christi und der Trinität, die sich als eine Folge der Versöhnungslehre allererst entwickelt. Freilich ist Reimarus nicht der erste, der die Versöhnungslehre in ihrer argumentativen Verschränkung mit der Lehre von der Gottheit Christi zur Darstellung bringt. Schon Anselm von Canterbury hatte in seiner Schrift »Cur deus homo«230 darauf hingewiesen, dass der Glaube an die Gottheit Christi – in christologischer Terminologie beschrieben als der Glaube an die göttliche Natur der Person Christi – eine notwendige Voraussetzung des universalen satisfaktorischen Werts des Strafleidens Christi sei, und durch diesen in die lutherische Dogmatik aufgenommenen Gedanken Reimarus diejenige Argumentationsfigur geliefert, 229
Ebd., S. 429 f. Vgl. Kapitel II ,6 in Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo. Warum Gott Mensch geworden, lateinisch und deutsch hg. und übers. von F. S. Schmitt, Darmstadt 1956, S. 97–99. 230
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die dieser nun in die Geburtsstunde der christlichen Dogmatik zurückprojiziert. Zu beachten ist aber, dass der Anselmsche Satisfaktionsgedanke die ewige Gottheit Christi jederzeit voraussetzt und vom stellvertretenden Sühnetod Christi die christologischen Lehren von der Person Christi lediglich erneut plausibilisiert, deren sachliche Wahrheit von Ewigkeit her feststeht. Davon dass die Gottheit Christi zur Begründung des einmal gefassten Versöhnungsglaubens erfunden wird, ist in der Anselmschen Satisfaktionslehre nicht die Rede. Entsprechend fremd mutet denn auch die von Reimarus betriebene dogmengeschichtliche Umsetzung des Zusammenhangs von Versöhnungsglauben und dem Glauben an die Gottheit Christi an. Wie erklärt sich die sonderbare dogmenhistoriographische Behandlung, die die Versöhnungslehre in Reimarus’ »Apologie« erfährt? Zu erwägen wäre zuerst, ob nicht die Positionierung der Versöhnungslehre am Anfang der Dogmengeschichte eine generelle, spezifisch lutherische Hochschätzung der Versöhnungslehre widerspiegelt. Schließlich begründet die Versöhnungslehre unmittelbar den Rechtfertigungsglauben, der das eigentliche Zentrum der Theologie Luthers und der Reformation war.231 In diesem Sinne das theologische Grundinteresse lutherischer Theologie wahrnehmend hatte Johann Franz Budde in seinem systematischen Entwurf der lutherischen Dogmatik die verschiedenen dogmatischen Loci von der zentralen, im Kirchenalltag eigentlich relevanten Versöhnungslehre aus entwickelt. Weniger vermutlich eine Öffnung zum pietistischen Glaubenssubjektivismus als vielmehr interne Veränderungen an der Organisation des theologischen Studiums hatten Budde zu einer verstärkt pragmatischen Anlage der Dogmatik geführt. Das alltägliche Interesse an der Versöhnung konnte sich nicht mehr in einer eigenständigen katechetischen Behandlung der Dogmatik niederschlagen und hielt daher Einzug in die akroamatische Darstellung des dogmatischen Systems.232 Die subjektive Aneignung der dogmatischen Wahrheit konnte auf diese Weise innerhalb der Dogmatik an Bedeutung gewinnen neben der ewigen, objektiven Wahrheit der dogmatischen Lehrstücke. Budde gesteht zu, dass die Erkenntnis Christi als des gottmenschlichen Mittlers sich dem Menschen erst aus dem Offenbarungszusammenhang erschließt, in dem Prozess gehorsamer Selbsterniedrigung und schließlicher Erhöhung Christi.233 Auch betont er gegen die sozinianische Kritik der Versöhnungslehre, die Bedeutung des Namens »Jesus« sowie des Titels »Christus« belege eindeutig, dass Jesus von Anfang an als der versöhnende Mittler erkannt worden sei.234 Damit ergibt sich für Budde ähnlich wie für Reimarus ein historischer Ansatzpunkt zur Entwicklung der gesamten 231 Zur Bedeutung der Versöhnungslehre im Luthertum vgl. Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München 1984, S. 62–85. 232 Vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung, S. 56–66 und 163 f. 233 Ebd., S. 121. 234 Ebd., S. 189 f.
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Christologie von der Versöhnungslehre aus. Anders als Reimarus hält Budde aber unbeschadet dieses historischen Ansatzpunktes an der ewigen Sohnschaft der gottmenschlichen Person Christi fest. Sie ist bei Budde alles andere als ein subjektives dogmatisches Konstrukt der Apostel. Reimarus nahm während seiner Jenaer Zeit diesen kirchlichen Pragmatismus der Buddeschen Entwicklung des dogmatischen Systems aufmerksam zur Kenntnis, ebenso wie auch die sich andeutende Tendenz Buddes, auch die Dogmengeschichte des ersten Christentums von der Versöhnungslehre aus zu betrachten. In systematischer Perspektive allerdings ist Reimarus’ Einschätzung der Versöhnungslehre eine völlig andere als die Buddes. Zwar bestreitet er nicht die kirchenalltägliche Relevanz der Versöhnung, er bestreitet aber vehement die innere Kohärenz des Dogmas. Hierbei ist Reimarus’ Ansatzpunkt der Kritik vor dem Hintergrund der sozinianischen Kritik der Versöhnungslehre sowie deren pietistischen Reformulierung durch Dippel durchaus als traditionell zu bezeichnen.235 Es sind die alten Zweifel an der theologischen Denkbarkeit einer Beleidigung Gottes durch menschliche Sünden und an der Möglichkeit einer Zurechnung der fremden Gerechtigkeit Christi an den sündigen Menschen, die Reimarus ebenso kurz wie klar wiederholt: Gott wird in dem System beleydiget durch unsre Sünden. Wie ist das zu verstehen? Gott ist unendlich, unabhängig, unveränderlich, höchst vollkommen und glückselig. Eine Beleydigung aber ist, wenn jemandes Vollkommenheit und Glückseligkeit, es sey auf was Art es wolle, durch eines andern Thun oder Lassen etwas abgehet. Das ist der beständige allgemeine Begriff, den alle Menschen mit diesem Worte verknüpfen; und wenn Beleydigung das nicht heissen soll, so bleibt uns gar kein Begriff übrig, den wir damit verknüpfen könnten, sondern das Wort wird ein leerer Ton. Wenn nun der große Gott durch der Menschen sündliches Thun oder Lassen beleydiget würde: so müste seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit etwas abgehen. Er wäre also nicht mehr so vollkommen als vorhin; seine Vollkommenheit hätte jetzt Schranken bekommen.236
Die gesamte Versöhnungslehre beginnt mit der theologisch selbstwidersprüchlichen Grundannahme einer Beleidigung Gottes durch die menschliche Sünde. Selbst unter der Voraussetzung, man würde diese selbstwidersprüchliche Grundannahme teilen, so wäre noch immer der Weg einer stellvertretenden Genugtuung der Sünde als ebenfalls selbstwidersprüchlich abzulehnen: Einem etwas imputieren oder zurechnen, heist ihn für den freywilligen Urheber der Handlung erklären. Wenn ich demnach sage, dass einem eine fremde Handlung oder Schuld derselben, und wiederum eine fremde Gerechtigkeit imputirt oder zugerechnet werde: so hebt eins das andere wieder auf. Der Mensch ist nicht Urheber der Schuld oder Gerechtigkeit, so ferne sie nicht von ihm herkommt, sondern fremde ist: und er müste doch Urheber davon seyn, wenn sie ihm imputirt werden könnte. Beides Sünde und Gerechtigkeit sind 235
Vgl. Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre, Bd. 1, S. 100–127 und 158–
169. 236
Apol II , S. 487 f.
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etwas persönliches, und dem eintzelen Wesen, welches eins von beiden verrichtet oder an sich hat, eigenes.237
Die in der Dogmatik angenommene Sündenschuld des Menschen darf nicht mit einer Geldschuld verwechselt werden, die dem Menschen äußerlich bleibt. Und selbst dann noch wäre sie gegenstandslos angesichts der Vollkommenheit Gottes, die sich im Bild des Schuldhandels als ein überfließender Reichtum des Gläubigers spiegeln müsste: Wenn daher der Gläubiger so überflüssig reich ist, daß er den Verlust gar nicht empfindet, und also für Nichts achtet: so kann und pflegt er ja wohl, wo er anders billig ist, dem fußfälligen Schuldner, ohne alle Genugthuung oder Bezahlung, seine Schuld [zu] erlassen. Er müste sehr geitzig und Lieblos seyn, wenn er zum völligen Untergange seines Schuldners auf die Ersetzung dringen wollte.238
Wie immer man das Satisfaktionsgeschehen veranschaulicht, stets verhindern die beiden Hauptkritikpunkte die vernünftige Auflösung der Widersprüche. In unverkennbarer Anknüpfung an Dippel skizziert Reimarus daher einen Weg der Versöhnung des Menschen mit Gott, der auf die traditionelle Stellvertretungsvorstellung vollständig verzichtet. Der unwandelbare, vollkommene Gott ist seinem Wesen nach Liebe und bedarf keiner Genugtuungsleistung. Es ist vielmehr der Mensch, »welcher sich ändert, verdirbt, beleydiget, indem er von der Vorschrifft seiner Vollkommenheit und Glückseligkeit abweicht«239, und folglich sich in seinem Leben und darüber hinaus vervollkommnen muss. Es ist der Prozess einer Vervollkommnung des Menschen, innerhalb dessen Reimarus den alten dogmatischen Gedanken einer »Strafgerechtigkeit« Gottes andeutungsweise erneut zu verorten versucht »als eine poenam medicinalem« 240, eine zur Besserung des Menschen notwendige, aber schmerzhafte Kur, die in keinem Widerspruch steht zur Liebe Gottes gegen den Menschen. Die alte Versöhnungsvorstellung der Orthodoxie lehnt Reimarus ab. Sie ist das selbstwidersprüchliche, anthropomorphe Zerrbild des in Wahrheit unwandelbaren und vollkommenen Gottes. Wie passen dogmengeschichtliche und systematische Behandlung der Versöhnungslehre in Reimarus’ Denken zusammen? Kombiniert man die beiden von Reimarus gewählten Perspektiven, so ergibt sich das folgende Bild: in vager Anknüpfung an jüdische Erlösungsvorstellungen konstruierten die Apostel aus missionspragmatischen Erwägungen ein selbstwidersprüchliches Dogma, dessen Wahrheitsanspruch sie nachher durch Hinzuerfindung weiterer Dogmen zu untermauern versuchten. Die Geschichte der frühen christlichen Dogmatik ist nicht eine Geschichte der subjektiven Aneignung einer objektiven dogmatischen Wahrheit durch die Jünger. Sie ist eine Geschichte der planmäßigen Erfindung 237
Ebd., S. 489 f. Ebd., S. 492. 239 Ebd., S. 501. 240 Ebd., S. 506. 238
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und sukzessiven Erweiterung eines dogmatischen Systems, das als eine objektive Wahrheit ausgewiesen wird, um subjektiv als wahr akzeptiert werden zu können. In seiner Behandlung der Dogmatik findet Reimarus also zu der in der Theokratie des Mose ansetzenden Linie des Religionsbetrugs zurück. Sie durchzieht die Geschichte des Alten Testaments, wird kurz nur unterbrochen durch die Verkündigung des historischen Jesus und meldet sich zurück in der Kirchengeschichte im Zeitalter der Apostel. Von den Juden wenig beachtet müssen sie ihre neu begründete Messiasreligion für die Heiden öffnen und erreichen dies durch die Lehre vom stellvertretenden Leiden des Messias Jesus zur universalen Genugtuung der Sünden aller, die sich der neuen Religion der Apostel anzuschließen bereit sind. Mit der Erfindung dieses ersten, seinem Wesen nach widersinnigen Dogmas bahnt sich zugleich die Erfindung eines weiteren an. Denn soll der Kreuzestod des Messias Jesus einen universalen satisfaktorischen Wert haben, so gilt es, die Person des Messias Jesus über das Maß des normal Menschlichen hinaus aufzuwerten. Die einmal behauptete Versöhnung fordert also ein zweites Dogma, das Dogma von der Gottheit Christi.
2.6.2 Trinität und Zwei-Naturen-Lehre Um zu rekonstruieren, wie die sukzessive Aufwertung des leidenden Messias Jesus zu der dem Vater wesensgleichen zweiten Person des trinitarischen Gottes geschah, verweist Reimarus zunächst auf die biblischen Berichte von der jungfräulichen Geburt und von der Auferstehung Jesu. Neben diesen Wunderberichten sind es vor allem die zahlreichen christologischen Einzelverse des Neuen Testaments, die eine unmittelbare Beteiligung der Person Christi am inneren Wirken Gottes bezeugen: Christus ist der eingeborene Sohn des Vaters, der Erstgeborene vor aller Schöpfung, durch den Gott sein Schöpfungswerk vollzog und in dem er selbst die Fülle seiner Gottheit wohnen ließ. Als den äußersten Gipfel dieser christologischen Verse erkennt Reimarus den Johannesprolog, in dem durch die Identifikation Jesu mit dem Logos und des Logos mit Gott erstmals »ohne Umschweiffe« die Behauptung gewagt wurde, »Jesus sey ein Gott«241. Von hier aus geht Reimarus zu seiner hauptsächlichen These über, es sei die dem Platonismus entstammende Gewohnheit zur Hypostasierung göttlicher Eigenschaften, die in ihrer Anwendung auf die Logoschristologie des Johannesprologs die Behauptung einer wesentlichen Gottheit der Person Christi allererst ermöglicht habe: Nämlich, was Johannem betrifft, so wäre eine grosse Frage, ob er nicht nach den dunklen Platonischen Ideen, durch vielmehr Vernunft oder Weißheit verstanden, welche im 241 Ebd., S. 435. Wie bereits erwähnt, diskutiert Reimarus die Trinitätslehre zweimal. Die folgende Darstellung hält sich an die ausführlichere Diskussion innerhalb des Kapitels »Lehrgebäude der Apostel und ersten Kirche«.
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Anfang der Schöpfung Gott beygewohnt hätte, und also Gottes wesentliche Eigenschaft, oder Gott selbst, gewesen wäre, nach welcher er die Welt geschaffen, und welche er besonders in seinem geliebten Sohne Jesu offenbaret hätte. Denn heist nicht allein Wort oder Rede, sondern auch Vernunft, Verstand und Weißheit. Die Platoniker aber waren gewohnt, abgesonderte Ideen zu realisieren, und Eigenschaften zu personificiren; so wie auch die Hebräer von der Weißheit zu reden pflegten, als z. B. in den Sprüchen Salomons, da die Weißheit spricht: […] Daher sind viele Ausleger der Meynung, daß in diesem Capittel der Sprichwörter von der wesentlichen Weißheit, dem Sohne Gottes gehandelt werde: indem sie den wahren Schlüssel solcher mystischen Ausdrücke nicht kennen, und, wie der Jude Philo auf eine mehr philosophische Art gethan, in dieser abstrakten Idee eine Substantz, ein verbum substantiale, oder eine Person erblicken, welche auf Jesum Christum zu deuten sey. Man mag denn von Johanne selbst denken was man will, woher er doch diesen fremden Ausdruck genommen habe: so ist doch gewiß, daß die nachfolgende Kirchenlehrer fast alle Platoniker gewesen sind, und also der , aus ihrer verblühmten Sprache, endlich zu einer göttlichen Person gedien sey, so wie etwa bey dem gemeinen Hauffen der Heyden die Minerva ex Jovis cerebro nata, eine Göttin geworden ist.242
Die Hypostasierung des Logos als einer göttlichen Person, die die ersten Kirchenlehrer betrieben, führte freilich nicht direkt zum nizänischen Glaubensbekenntnis. Seit der Zeit der Apostel war die Gottheit des Logos der des Vaters subordiniert und erreichte erst spät die volle Gottheit im Sinne der Wesensgleichheit mit dem Vater.243 Ohne den Platonismus allerdings wäre es zu überhaupt keiner Hypostasierung und Vergöttlichung der Person Christi gekommen. Der Glaube an die Gottheit Christi ist eine Folge des Platonismus. In seiner Kritik der frühen trinitarischen Lehrentwicklung berührt Reimarus nur stichpunktartig einige der zentralen Ergebnisse eines Diskurses über den ›Platonismus der Kirchenväter‹ während des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Man kommt nicht umhin, diesen äußerst komplexen Diskurs anhand einiger Eckdaten zu skizzieren, will man verstehen, wie Reimarus sich im Gegeneinander der verschiedenen Lösungsansätze positioniert. Der Platonismus der Kirchenväter beschreibt das innerhalb der protestantischen Theologie empfindlich wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen dem biblisch begründeten Offenbarungsglauben einerseits und der heidnischen Philosophie andererseits, ein Problem, das später unter dem Begriff der ›Hellenisierung‹ in der modernen Theologie angeregt von Adolf von Harnack erneut intensiv diskutiert werden sollte.244 Die theologiegeschichtlichen Wurzeln dieses Diskurses liegen in dem Versuch der Reformatoren, das aus dem altkirchlichen Bekenntnis übernom242
Ebd., S. 435 f. Ebd., S. 437 f. 244 Vgl. Walther Glawe, Die Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart, Berlin 1912; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Ralph Häfner (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹, Tübingen 2001, S. 265–301, und Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, S. 261–307. 243
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mene Trinitätsdogma sola scriptura begründen zu wollen. Der neuralgische Punkt der protestantischen Trinitätslehre wurde damit die Exegese, die zur Bedrohung wurde, sobald sie die Vorgaben dogmatischer Schriftauslegung außer Acht ließ und philologisch objektiv arbeitete. Die Begründung der Trinitätslehre sola scriptura war ihrerseits nur möglich als ein dogmatisches Unternehmen, das die allererst zu begründende Trinitätslehre bereits voraussetzte, zuletzt also unbegründet den in den Konzilien von Nizäa und Konstantinopel festgelegten Konsens der Kirchenväter der Alten Kirche übernahm.245 Es muss daher nicht verwundern, dass protestantische Theologen empfindlich reagierten, als der französische Jesuit Denis Pétau zwischen 1644 und 1650 sein »Opus de Theologicis Dogmatibus«246 vorlegte, in denen er offen den Platonismus der vornizänischen Kirchenväter analysierte und zeigte, dass sie nur teilweise einer dogmatisch orthodoxen, immanenten Trinitätslehre anhingen, während andere, wie zum Beispiel Philo, aber auch christliche Väter, den göttlichen Logos lediglich hinsichtlich seiner Funktion als Schöpfungsmittler betrachteten und das nizänische Dogma mithin verfehlten. Die Möglichkeit einer solchen kritischen Haltung Pétaus den vornizänischen Vätern gegenüber verdankte sich dem Umstand, dass die katholische Theologie seit dem Tridentinum das Trinitätsdogma in einem consensus patrum begründet sein ließ, der seinerseits das Maß seiner Orthodoxie in dem Heiligen Geist findet, der exklusiv innerhalb der katholischen Kirche wirkt. Der katholische Theologe Pétau brauchte sich um den Bestand der Trinitätslehre also nicht zu sorgen, als er die vornizänischen Väter untersuchte. Ihre häretischen Abweichungen konnten verstanden werden als eine Entwicklung auf die orthodoxen Lehrformulierungen von Nizäa und Konstantinopel hin.247 Anders Pétaus protestantische Rezipienten. Angeregt durch Pétaus Untersuchungen zum Platonismus der Kirchenväter begann innerhalb des Protestantismus eine rege Debatte, wie mit den vorwiegend subordinatianischen Häresien der vornizänischen Väter umzugehen sei. Den protestantischen Theologen boten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf das durch Pétau aufgeworfene Problem zu reagieren. Sie konnten entweder protrinitarisch argumentieren und die Autorität der Kirchenväter retten, indem sie aufzeigten, wie die angeblich subordinatianischen Häresien der vornizänischen Väter in ein Verhältnis der Harmonie mit den späteren Konzilsentscheidungen zu bringen sind. Beispielhaft war hier der Anglikaner George Bull, der in seiner »Defensio Fidei Nicaenae«248 darauf beharrte, die vornizänischen Väter seien durchaus als orthodox zu verstehen, sofern man nur bereit sei, die Bestimmung des Begriffs der Wesensgleichheit ein wenig zu lockern.249 Als zweite Möglich245 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus, S. 266 f. und 277. 246 Denis Pétau, Opus de Theologicis Dogmatibus, Lutetia Parisorum 1644/50. 247 Ebd., S. 274 f. und 279–283. 248 George Bull, Defensio Fidei Nicaenae, Oxonii 1685. 249 Ebd., S. 286 ff., und Walther Glawe, Die Hellenisierung des Christentums, S. 62–65.
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie«
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keit neben diesem Versuch, den Platonismus der Kirchenväter innerhalb der protestantischen Theologie als eine der Begründungsinstanzen der Trinitätslehre zu retten, stehen andere Autoren, die auf eine gänzliche Ausscheidung des Platonismus aus der Theologie zielen und zusammen mit dem Platonismus auch die Trinitätslehre preiszugeben bereit sind. Am Beginn dieser Linie steht Fausto Sozzini, der das sola scriptura weit strenger auffasste als seine orthodoxen Gegner und bereits im 16. Jahrhundert in seiner »Explicatio primae partis primi capitis Euangelistae Johannis«250 gefordert hatte, man müsse die ursprüngliche Wortbedeutung des Johannesprologs unterscheiden von dessen späterer platonischer Auslegung und das Trinitätsdogma ablehnen.251 Diese Position Sozzinis wurde gegen Ende des Jahrhunderts erneut durch Jacques Souverain in die Debatte gebracht, in einer Zeit, als innerhalb der lutherischen Orthodoxie die durch Jacob Thomasius begründete Kritik am Platonismus in vollem Gange war. Mit Thomasius erkannten lutherische Theologen im Platonismus den wichtigsten Bundesgenossen des um sich greifenden mystischen Spiritualismus, der als ein Feind der orthodoxen Theologie und Kirchlichkeit zu bekämpfen war. In dieser Situation konnte Souverain mit seiner im Jahr 1700 anonym gedruckten Schrift »Le Platonisme devoilé, ou Essai touchant le Verbe Platonicien«252 erneut als eine Lösung der im Raum stehenden Probleme erscheinen. Souverain nimmt Fausto Sozzinis Unterscheidung zwischen ursprünglichem Johannesprolog und dessen platonischer Deutung auf und präzisiert sie. Der johanneische Logos ist vom Hebräischen her zu verstehen als der dabar Gottes, d. h. als Gottes Befehl oder Kraft. Die Deutung des Logos als zweite Person des dreieinigen Gottes aber folgt einem aus Platons »Timaios« bekannten Schema, nach dem einzelne Eigenschaften des Schöpfergottes zu eigenständigen Hypostasen erhoben werden können. Eine solche Hypostasierung aber ist zutiefst unbiblisch und findet selbst in der biblischen Weisheitstheologie keine Analogie. Konsequenter Weise muss Jesus verstanden werden als der Prophet des einen Schöpfergottes. Seine Beteiligung an Gottes Wesen und Schöpfungswerk ist abzulehnen. Fast scheint es, als habe Reimarus schlicht eben diese radikale Konsequenz aus dem Platonismus der Kirchenväter gezogen, die vor ihm auch Souverain gezogen 250
Fausto Sozzini, Explicatio primae partis primi capitis Euangelistae Johannis, in: Bibliotheca Fratrum Polonorum I , Irenopoli 1656, S. 74–85. 251 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus, S. 270 f. 252 Matthieu [=Jacques] Souverain, Le Platonisme devoilé, Paris 2004 (Reprint), zuerst Cologne 1700. Zur Darstellung der Argumentation Souverains vgl. Wilhelm SchmidtBiggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus, S. 270 f., S. 294 ff., und Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 261–264. Für eine deutsche Übersetzung der Souverainschrift siehe Matthieu [=Jacques] Souverain, Versuch über den Platonismus der Kirchenväter. Oder Untersuchung über den Einfluß der Platonischen Philosophie auf die Dreyeinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten, übers. und hg. von Josias Friedrich Christian Loeffler, Züllichau 21792.
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hatte, wären da nicht seine exegetischen Ausführungen über den Johannesprolog und die Theologie des »mystische[n] Evangelist[en] Johannes […] der sein System aus lauter dunkelen Begriffen der Kabbalisten und Platonischen Juden zusammengesetzt hatte«.253 Als weitere Quellen johanneischer Theologie nennt Reimarus auch die »mystische Philosophie des Zoroastris, Orphei, Pythagorae«254. Der Lösungsvorschlag Sozzinis und Souverains wird hier in einem nicht unerheblichen Punkt modifiziert. Denn anders als Sozzini und Souverain spart Reimarus den Evangelisten Johannes und dessen Evangelium nicht aus von der antiplatonischen Kritik an den Kirchenvätern. Das seinem Ursprung im frühen Sozinianismus nach biblizistische Grundinteresse der Souverainschen Kritik an der platonischen Johannesdeutung verwandelt sich bei Reimarus in eine Kritik, die die ursprüngliche johanneische Theologie selbst explizit einschließt. Bereits Johannes griff auf die dunklen Lehren des Platonismus zurück, so dass die Kirchenväter keine fremden Begriffe an das Evangelium herantragen mussten, als sie mit ihrer platonisierenden Exegese begannen. Die Bibel selbst ist platonisch, zumindest im Johannesevangelium, und nimmt an allen Ambivalenzen des Platonismus teil. Damit fällt die mühsam in Abgrenzung gegen den vorausliegenden Renaissanceplatonismus gewonnene Unterscheidung zwischen heidnischem Platonismus und biblischer Offenbarung, die den Diskurs über den Platonismus der Kirchenväter strukturiert hatte.255 Ähnlich wie vormals innerhalb des Renaissanceplatonismus Platon, eingereiht in die Ahnenreihe der prisca sapientia, mit der biblischen Tradition harmonisiert werden konnte, konstatiert auch Reimarus zumindest im Hinblick auf das Johannesevangelium erneut eine Verwandtschaft zwischen Bibel und platonischer Philosophie, nur dass nun die traditionsgeschichtlichen Vermittlungswege in umgekehrter Reihenfolge rekonstruiert werden: nicht Platon übernahm von den Hebräern eine alte Weisheit. Es wurden vielmehr die Hebräer mit dem Platonismus konfrontiert, als sie sich der hellenistischen Welt öffneten. Es gab einen Platonismus innerhalb des Judentums, auf den der Evangelist Johannes zurückgreifen konnte, als er sein Evangelium verfasste. Wie Reimarus zu dieser Verlagerung der ursprünglich gegen die Kirchenväter gerichteten Platonismuskritik auf das Johannesevangelium kam, lässt seine im Juni 1728 gehaltene Antrittsrede am Akademischen Gymnasium Hamburg erkennen, die in einem handschriftlichen Entwurf erhalten ist.256 Den alten Hebräern gesteht Reimarus hier lediglich einen durch die ägyptische Weisheit vermehrten Katalog von Grundlehren der vernünftigen Religion zu, der von der heidnischen
253
Vgl. Apol II , S. 65. Ebd., S. 69. 255 Vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 278. 256 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 1. Die Seitenangaben folgen der Bleistiftpaginierung auf dem Manuskript. 254
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie«
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Philosophie zunächst unberührt blieb.257 Erst nach dem Auftreten Alexanders des Großen begann das Judentum, sich den heidnischen Philosophien zu öffnen und das Studium heidnischer Literatur zuzulassen.258 Reimarus verweist auf Pierre Bayles »Dictionaire« und auf dessen lutherische Leser Christian Thomasius, Hieronimus Gundling, Johann Franz Budde und August Heumann, die durch die These einer späten Hellenisierung des Judentums die alte Ansicht einer »Polymathia priscorum Ebraeorum« ersetzen und so zugleich den historischen Boden für Reimarus’ spätere These einer hellenistischen Beeinflussung auch des Neuen Testaments bereiten.259 Welche Bedeutung die Hellenisierung des Judentums für das Verständnis des Neuen Testaments haben könnte, führt Reimarus in seiner öffentlich vorgetragenen Antrittsrede freilich nicht aus. Erst einige Jahre später in der »Apologie« zieht er die einfache Konsequenz und hebt die lange aufrecht erhaltene Trennung zwischen der Bibel und ihrer hellenistischen Umwelt auf: waren die heidnischen Philosophien und besonders der Platonismus im hellenistischen Judentum präsent, so liegt es nahe, dass auch der Evangelist Johannes sie als Quellen seines mystischen Systems benutzte. Benutzte er aber solche plato-
257 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 1, S. 15: »Esse scilicet Deum aliquem, unum non varium, aeternum non factum genitumve, infinitum non circumscriptum spatiis locorum: Naturam ejus simplicem esse puram incorruptam, perfectam, nulli adstrictam corpori, nulla labe vitiore foedatam: Eum nosse cuncta, et nihil non verbulo posse efficere, velle autem pro summa sua sapientia ac benignitate: tanti vero opificis pulcherrimam fabricam esse mundum, non ex sese natum quidem coecoque concretum impletu aut initio et finibus carentem, sed factum, sed circumscriptum sed sapienter dispositum: Curam vero gerere Deum machinae a se extructae et in primis rebus propedere humanis: Hominem enim spiritu s. mente ornatum a Deo esse, quae capax sit rationis atque legum.« 258 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 1, S. 6: »Principio quidem haud dificile fuerit intelligere, si graecae tantum nominandae sint illae literae, quae Graecis Magistris, usuque graecorum docti Judaei coeperint adamare, vix ultra Alexandri M. memoriam initia illarum posse referri. Nam ante ejus in Asiam adventum nulla intercesserunt utrique genti inter se commercia, neque ita multo ante Graeci animum ad contemplationem rerum adjecerant. Sed Graecitatis a. grae ¯arum literarum, certe humanitatis nomine solet quoque appellari omne genus artium, quod qui omnino Judaeis ante graecorum tempora abjudicant elegantiorem eruditionem omnem.« Die Durchsetzung der griechischen Bildung innerhalb des Judentums beschreibt Reimarus noch einmal ausführlich auf S. 18–23. 259 Vgl. Staatsarchiv Hamburg 622–1 Familie Reimarus A 1, S. 7: »Baelium autem secuti sunt Viri Summi Christianus Thomasius Hieron: Gundlingius, Joh. Fr. Buddeus, Aug: Heumannus, qui ipsi dum in eo sunt, ut praejudicatam de Polymanthia priscorum Ebraeorum opinionem tollant, parum abest, quin eos habeant in numero barbarorum, et rudes omnium artium fuisse atque miseram et agrestem traduxisse vitam existiment, ut una propemodum arte pascendi pecora, omnem eorum scientiam definiant atque complectantur.« Am weitesten stieß der hier nicht zitierte Jean Le Clerc auf die These einer Hellenisierung auch des Neuen Testaments hin vor, indem er feststellte, Johannes sei von der platonischen Philosophie insofern beeinflusst worden, als er die formale und begriffliche Struktur seiner Theologie aus dem Platonismus gewonnen habe. In inhaltlicher Hinsicht hält Le Clerc die johanneische Theologie aber weiterhin für gegenüber dem Platonismus eigenständig, vgl. Walther Glawe, Die Hellenisierung des Christentums, S. 58.
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nischen Quellen, so verfällt auch das Johannesevangelium der antiplatonischen Kritik, die seit Jakob Thomasius die lutherische Orthodoxie prägte. Schon die Debatte um Denis Pétau hatte die Ambivalenz des Platonismus offengelegt. Subordinatianische Häresien konnten platonisch begründet werden ebenso wie die christentumskritische Angriffe eines Porphyrius oder Julian Apostata.260 In der theosophischen Mystik Jakob Böhmes spielt die platonische Idee des Einen eine zentrale Rolle und gefährdet das extra nos der kirchlichen Rechtfertigungslehre durch die schwärmerische Vorstellung einer mystischen Vereinigung mit Gott.261 Durch Georg Wachters »Spinozismus im Jüdenthumb« und »Elucidarius cabbalisticus« waren die Gefahren eines Umschlagens platonisch-kabbalistischer Emanationsvorstellungen in den spinozistischen Atheismus erkennbar geworden.262 Gundling erklärte gar die ursprüngliche Philosophie Platons für atheistisch, indem er die platonische Hypostasenlehre mit der spinozistischen Lehre von den zwei Attributen Gottes parallelisierte.263 Vor diesem Hintergrund ist Reimarus’ Spott über eine »fanatische« Auslegung des Johannesevangeliums zu verstehen, die die platonischen Argumentationsfiguren der Trinitätslehre übernehmen und ad absurdum führen. Das gesamte Spektrum der Gefahren des Platonismus ist in der johanneischen Theologie voll präsent und braucht nur aktiviert zu werden: Die Unio fidelium cum Deo oder cum Christo, ist ja in der vernünftigen Theologorum Gedanken keine individualis, substantialis oder essentialis, obgleich dieser und jener Fanaticus, in dem finstern Abgrund seiner Einbildungen, sich selbst verliert, und mit seinem verbo interno, oder Deo inhabitante, aus heiliger Brunst, in eins geflossen zu seyn träumet. Wollten wir die mystischen Ausdrücke Jesu von seiner Einheit mit dem Vater, wie sie Johannes aufgezeichnet hat, nicht auf eine vernünftige sondern fanatische Weise erklären: so würden wir uns einen Gott bilden müssen, an dessen einem Wesen nicht allein Jesus, sondern auch alle Gläubige Theil nähmen, oder das aus unendlich vielen Personen bestünde; welches vom Spinozismo nicht weit entfernt ist.264
Anspielungen auf Böhmes Mystik und möglicherweise auch auf Gundlings Parallelisierung von platonischer Hypostase und spinozistischem Attribut werden hier greifbar. Reimarus befürchtet, dass die johanneische Logoslehre und ihre dogmatische Ausformulierung in der Trinitätslehre Denkfiguren bereitstellt, die jederzeit in mystische oder atheistische Verirrungen hinüberführen können. Lehnt Reimarus die Trinitätslehre ab, so liegt der Grund hierfür vor allem in der engen Verbindung von Trinitätslehre, Platonismus und spinozistischem Atheismus, die 260 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus, S. 279 f. 261 Ebd., S. 292 ff., und Walther Glawe, Die Hellenisierung des Christentums, S. 89 f. 262 Vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, S. 281–283. Durch Buddes Kontroverse mit Wachter war Reimarus mit diesem Problemkomplex früh bereits vertraut. 263 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus, S. 289–291. 264 Vgl. Apol II , S. 68.
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie«
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der Diskurs über den Platonismus der Kirchenväter offengelegt hatte. Hätte Reimarus die Trinitätslehre beibehalten, so wären weite Teile seiner Atheismuskritik, die eines der Hauptinteressen der »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« darstellt, ungültig geworden. Es lag daher nahe, die Trinitätslehre als einen Folgefehler der ebenfalls theologisch verfehlten Versöhnungslehre abzuhandeln. Es muss nicht verwundern, dass Reimarus die christologische Zwei-NaturenLehre, die auf das Trinitätsdogma aufbaut, nur am Rande erwähnt und sie keiner ausführlichen Kritik unterzieht. Trinitäts- und Zwei-Naturen-Lehre fasst Reimarus wie folgt zusammen: Da des Menschen Sohn Jesus hat sollen vergöttert, und zu der zweyten Person der Gottheit gemacht werden: so hat diese zweyte Person auch zweyerley Naturen bekommen, nebst der göttlichen, auch eine menschliche aus Leib und Seele; und die menschliche Natur ist mit der göttlichen dieser Person des Gott-Menschen aufs genauste vereiniget, und aller göttlichen Eigenschaften theilhaftig geworden. Demnach soll sich ein rechtgläubiger Christ in seinem dreyeinigen Gott zugleich vorstellen 1) einen eintzelnen einfachen Geist, dessen Substantz oder Wesen ohne Zusammensetzung ist; 2) drey verschiedene ausser einander seynde geistige Personen, welche den einfachen Geist ausmachen; 3) in der mittleren Person, zwo Naturen, eine göttliche und eine menschliche; 4) in der menschlichen, die zwey wesentlichen Theile, Leib und Seele; 5) in der Seele menschlichen Verstand und Willen, welche an sich von dem Verstande und Willen der göttlichen Natur verschieden sind; 6) in dem menschlichen, obgleich verklärten, Leibe alle partes integrantes, die zu einem unverstümmelten Leibe einer lebendigen Manns-Person gehören, Kopf, Rumpf, Hände, Füße, beschnittenes Geschlechts-Glied, Augen, Ohren, Nase, Mund, u.s.w. Mein Gott! ich erschrecke, ich erschrecke dafür, was die Christen, welche vor allen andern Nationen auf der Welt allein von dir selbst in göttlichen Dingen unterrichtet seyn wollen, für ein zusammengesetztes Ungeheuer aus dir machen, das sich weder sichtig noch geistig vorstellen läßt, und in sich selbst zu Nichts wird!265
2.6.3 Sündenlehre Dass Reimarus die Sündenlehre nicht chronologisch-dogmengeschichtlich behandelt innerhalb des »Lehrgebäude[s] der Apostel und ersten Kirche« erscheint insofern nicht als verwunderlich, als die eigentliche christliche Sündenlehre, die sich im Neuen Testament in Röm 7 lediglich umrisshaft zu erkennen gibt, erstmals durch Augustin in eine geschlossene dogmatische Form gebracht wurde. Die Sündenlehre liegt damit außerhalb des von Reimarus anvisierten Zeitfensters und lässt sich nicht ebenso bruchlos an die Analyse neutestamentlicher Texte anhängen, wie dies im Fall der Trinitätslehre vom Johannesprolog aus möglich ist. Im dogmenkritischen Schluss der »Apologie« jedenfalls wird die Sündenlehre nur innerhalb der »Prüfung des Protestantischen Systems« behandelt und nicht im chronologisch-dogmengeschichtlichen Kapitel. Was die inhaltliche Gestalt der 265
Ebd., S. 515.
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Reimarus’schen Kritik angeht, so ist es schwer zu entscheiden, ob sie sich erneut der Lektüre sozinianischer Schriften verdankt oder ob sich in ihr ebenso eine innerlutherische Destruktion der Sündenlehre niederschlägt, wie es Anspielungen auf die Coccejanische Bundestheologie und auf Pufendorf nahelegen. Vermutlich verbinden sich in Reimarus’ »Apologie« mehrere Ansätze der Kritik, die ihm allesamt durch die Vorlesungen bei Budde bekannt geworden sein können. Die Sündenlehre gliedert Reimarus in die vier Lehrpunkte von der urständlichen Integrität des gottebenbildlichen Menschen, vom Verlust der urständlichen Integrität durch den Sündenfall, von der Erbsünde und von der Verderbnis der Vernunft und des Willens. Obwohl das Ganze der Sündenlehre streng genommen von einer Kritik nur des ersten der vier Punkte aus zu destruieren wäre, listet Reimarus gewissenhaft kritische Argumente gegen alle vier Punkte auf und ergänzt lehrreiche Parabeln, durch die er die Kritik untermauert. Eine urständliche Integrität der ersten Menschen habe es nie gegeben, erklärt Reimarus zu Beginn. Mindestens hinsichtlich ihres Vernunftgebrauchs stehen die ersten Menschen hinter den nachfolgenden Generationen der vom Fall betroffenen deutlich zurück: Wie ist denn doch Eva so einfältig, daß sie sich ohne Verwunderung und Nachdenken mit einer sprechenden Schlange einläst, und so wenig arges daraus denkt, daß sie sich gar von ihr bereden läst, das ausdrückliche Gebot Gottes zu übertreten?266
Die ersten Menschen widerlegen durch ihr unvernünftiges Verhalten die Lehre von der urständlichen Integrität. Sie sprechen mit Tieren, sie glauben, durch den Verzehr einer materiellen Frucht ihre immaterielle Seele verbessern zu können, sie handeln bewusst gegen den bekannten Rat Gottes. Einen Urstand hat es offenkundig nie gegeben. Der Vollständigkeit halber diskutiert Reimarus aber dennoch, inwiefern der Verlust der urständlichen Integrität durch den Sündenfall gemäß dem biblischen Bericht als ein moralisches Vergehen des Menschen zu betrachten wäre. Das Geschehen des Sündenfalls veranschaulicht er in einer einprägsamen Parabel von der Bewirtung eines Gastes mit Namen Simplicius in seinem Haus: Gesetzt, ich weis [zum] voraus, daß Simplicius sich wird voll sauffen, und sich sowohl als seinen Nachkommen eine unheilbare Krankheit, die schwere Noht, zuziehen, wenn man ihm einen schönen Römer mit Wein vor Augen setzt, und einen schlauen Menschen dabey stellet, der ihn zum Trunke nöhtigen wird. Ich mache mein bestes Zimmer im Hause zurecht: setze zwar hin und wieder allerley Eßwaren, auch Wasser, Bier, Thee, Caffee herum, in der Mitte aber setze ich einen grossen Römer auf dem Tische, dessen Wein mit seinem glüenden Glantze und erquickenden Geruche einen desto angenehmern Geschmack verspricht. Unter dem Tische liegt ein Anthal von demselben Weine, woraus mehr zu zapfen ist; ich gebe ihm den Namen Vin de joie. Nun lasse ich Simplicium zu mir bitten, führe ihn in dies Zimmer, und spreche: Hört, ich kann für eine Weile nicht bey euch seyn; wenn ihr aber unterdessen Appetit bekommt, so steht da allerley Essen und Trinken zur Erfrischung 266
Ebd., S. 454.
2.6 Kampf gegen die Unvernunft – Die Dogmenkritik der »Apologie«
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im Zimmer herum; aber nehmt euch in acht für den Vin de joie in der Mitte, daß ihr nicht davon trinket; denn wo ihr das thut, so werdet ihr euch eine unheilbare Krankheit zuziehen. Hierauf gehe ich weg, lasse aber Cacochartum alsobald hinein, ohne daß der da was zu schaffen hat. Ich weis es unterdessen wohl, daß der eine Freude daran zu haben pflegt, wenn er jemand zum Argen verleiten kann, und daß er dem Simplicio viel zu schlau ist. Dieser fängt ein freundschaftlich Gespräch mit Simplicio an, kommt endlich auf den Wein und nöhtiget ihn zum Trinken. Simplicius weigert sich, mit wiederholter Warnung des Wirts. Ey, sagt Cacochartus, merkt ihr denn nicht, daß der Wirt diesen Wein nur für sich allein behalten will? Riecht nur den Wein einmal, und seht wie er im Glase spielt: er heist nicht umsonst Vin de joie: wenn man den trinkt, so wird man so vergnügt als immer ein König seyn kann. Last uns heute lustig seyn; ich will den ersten Trunk thun, ihr sollt sehen, daß es mir nicht schadet. Mein Simplicius läst sich bereden, trinkt, kommt in den Geschmack, berauscht sich, daß er allen Verstand verliert, und kriegt die schwere Noht; da liegt er! Nun komme ich wieder dazu, wie Simplicius sich etwas wieder erholt, schmäle ich mit Cacocharto sowohl als Simplicio, daß sie beide ihr Unglück zur Strafe davon tragen würden. Endlich jage ich Simplicium aus dem Zimmer und Hause, verschließe das Zimmer und stelle ein paar Diener mit bloßen Degen davor, daß niemand weiter hineinkommen und von dem Wein trinken solle. Sagt mir: Würde ich nicht meine Unschuld treflich gerettet haben?267
Die moralische Schuld des Verlusts eines Urstands – den es tatsächlich nie gab – träfe gemäß dem biblischen Bericht vom Sündenfall Gott und nicht den Menschen. Jedoch, selbst wenn man bereit wäre eine Schuld des Menschen am Sündenfall anzunehmen, bliebe zu klären, wie aus der persönlichen Sünde Adams eine allgemeine Erbsünde werden kann, die alle nachfolgenden Menschengenerationen gleichermaßen betrifft. Reimarus betritt hier ein Feld, auf dem lutherische Theologen noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein um die Rettung des orthodoxen Lehrbegriffs kämpften.268 Durch seine zivilrechtliche Diskussion der Möglichkeit einer Vererbung von Schuld verweist Reimarus auf die um die Rechtsphilosophie Samuel Pufendorfs entstandene Debatte, ob die Sünde dem Menschen über Generationen hinweg zugerechnet werden darf. Pufendorf selbst bestritt diese Möglichkeit und zwang die Theologie so, nach alternativen Begründungen der universalen Bedeutung der Sünde Adams zu suchen.269 Budde versuchte das Problem zu lösen, indem er auf die aus der Bundestheologie Coccejus’ stammende Vorstellung Adams als Stellvertreter der Menschheit insgesamt zurückgriff. In Adam habe die gesamte Menschheit mit Gott einen Bund geschlossen und denselben im Sündenfall Adams gebrochen. Eine Zurechnung der Sünde Adams an die gesamte Menschheit sei daher gerechtfertigt, so die Lösung Buddes.270 Auch auf diesen Ausweg reagiert Reimarus in seiner Kritik. Er besteht darauf, dass die nachfolgenden Menschengenerationen bereits hätten da gewesen 267
Ebd., S. 463 f. Vgl. Anselm Schubert, Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen 2002. 269 Ebd., S. 201–204. 270 Ebd., S. 213 f. 268
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sein müssen, um den Handlungen Adams zustimmen zu können. So aber, folgert Reimarus, ist »die Schuld lediglich seine, und nicht die unsrige, er hat uns nicht fragen, und wir ihm nicht rahten können.«271 Ohne den dogmatischen Zusammenhang mit der Erbsündenlehre eigens herzustellen, wendet sich Reimarus abschließend der Verderbnis von Vernunft und Willen zu. Er macht hierbei auf einen offensichtlichen Widerspruch zum erklärten Ziel der dogmatischen Heilsordnung insgesamt aufmerksam, das darin besteht, den Menschen zum rechtfertigenden Glauben zu führen. Ist die Vernunft verderbt, so kann sie die Inhalte der Offenbarung, auf die der Glaube sich richten soll, nicht erkennen, und ist der Wille zum Guten erstorben, so kann er die Erlösung nicht wollen. Die Verderbnis von Vernunft und Willen versperrt den Weg zum Heil.272 Allerdings verleugnet Reimarus nicht, dass die Lehre von der Vernunftverderbnis für den Theologen, der sie lehrt, auch praktische Vorteile bietet. Erneut bietet Reimarus hier eine Parabel, in der ein Bauer durch einen juristisch geschulten Amtmann oder Richter belehrt wird, ein Mord, den ein entfernter Vorfahre einst beging, werde nun ihm angelastet aufgrund der Verwandtschaft mit dem Mörder. Der Bauer widerspricht, wird aber von dem Richter zurechtgewiesen: Wie kann ich denn an dem Morde, von welchem ich jetzt nach so langer Zeit zum ersten male etwas höre, schuld seyn, und deswegen den Tod verwirkt haben? Das macht deine Einfalt, erwiedert der Richter, daß du das nicht begreiffen kannst. Verstehestu die Rechte, weistu sie zu erklären? kannstu Latein? So mustu ja bekennen, daß dir die Sache viel zu hoch sey. Dein Bauren-Verstand vernimmt nichts von dem was Recht und Gerechtigkeit heisse: ich muß sie als Richter handhaben, und dir bleibt nichts übrig als glauben daß dir Recht geschehe.273
Die Pointe der Parabel liegt weniger bei der erneuten Veranschaulichung des Problems der Imputationstheorie der Erbsündenlehre als vielmehr in der abschließenden Antithese von »Bauren-Verstand« und dem juristischen Expertenwissen des Richters, denn Reimarus erklärt: Setzet nun, anstatt des einfältigen unstudirten Bauren, den natürlichen Menschen mit seiner bloßen schwachen Vernunft, anstatt der bürgerlichen Rechte die Offenbarung, anstatt des Richters die Gottesgelahrten. […] Dann sagt mir […] ob der natürliche Mensch mit seiner gesunden Vernunft nicht klare Wiedersprüche in geistlichen Dingen eben so gut einsehen kann, als hier der Bauer, da es Recht und Gerechtigkeit betraf: woferne nicht die Offenbarung, und die geistlichen Dinge ein Vorrecht haben, daß darin wiedersprechende Dinge wahr seyn können.274
271 Vgl. Apol II , S. 465. Reimarus zitiert weder Pufendorf noch Budde. Seine Anspielungen bleiben vage. 272 Ebd., S. 473 f. 273 Ebd., S. 470. 274 Ebd., S. 470.
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Die Sündenlehre ermöglicht es den Theologen, einen unantastbaren Bereich dogmatischer Offenbarungswahrheit für sich in Anspruch zu nehmen, der durch die natürliche Vernunft nicht hinterfragt werden darf. In diesem Sinne kritisiert Reimarus schon zu Beginn seiner »Apologie« die Sündenlehre und die dogmatische Exegese von Gen 3, die einzig darauf zielt, das Vernunftvermögen des Menschen theologisch zu entwerten und den Menschen an den Glauben der Offenbarungswahrheit zu binden.275 Ohne die Lehre von der Vernunftverderbnis wäre die orthodoxe Dogmatik kritisierbar hinsichtlich ihrer Selbstwidersprüche und müsste von Grund auf reformiert werden gemäß den Ansprüchen der natürlichen Vernunft. Der Sonderstatus theologischer Offenbarungswahrheit wäre dann nicht mehr zu halten. Zumindest ihrer kirchenalltäglichen Funktion nach stellt die Sündenlehre also den Abschluss der Dogmatik dar. Die Versöhnungslehre macht das Christentum attraktiv, ermöglicht die frühchristliche Mission bis weit über die Grenzen des Judentums hinaus. Die Trinitätslehre schließt ein argumentatives Defizit der Versöhnungslehre und macht ihrerseits die christologische Zwei-Naturen-Lehre notwendig. Die Sündenlehre aber verdeutlicht nicht nur die Notwendigkeit einer Erlösung des an sich verderbten Menschen. Sie bestreitet zugleich auch das Recht des Menschen, an der Wahrheit der Dogmatik insgesamt zu zweifeln, und verleiht dem an sich selbstwidersprüchlichen christlichen Lehrsystem auf diese Weise dauerhaften Bestand.
2.7 Rezeptionsgeschichte 2.7.1 Lessings Veröffentlichung der »Fragmente« Es ist allgemein bekannt, dass die radikale Bibelkritik des Hermann Samuel Reimarus durch Lessing das Licht der Öffentlichkeit erblickte. In den Jahren 1774 bis 1778 veröffentlichte Lessing in Gestalt handlicher Fragmente Auszüge aus einer frühen Fassung der »Apologie«276, die ihm die Kinder des verstorbenen Reimarus zur Verfügung gestellt hatten, und verursachte so den größten theologischen Streit des 18. Jahrhunderts seit dem Streit um die Wertheimer Bibel. Um Lessings Motivation für die riskante Veröffentlichung der Fragmente nachvollziehen zu können, gilt es, in Umrissen das theologische Profil des Literaten Lessing zu skizzieren. Lessing selbst verstand sich nicht als Theologe. Er hatte freilich auf 275
Vgl. Apol I , S. 96–144. Die Lessingschen Fragmente repräsentieren unterschiedliche Stadien der »Apologie«, die mehr oder minder eng mit Stücken der zweiten Fassung verwandt sind. Vgl. Gerhard Alexander, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Bd. 1, hg. von Gerhard Alexander, Frankfurt am Main 1972, S. 9–38, hier S. 27 f. 276
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Drängen des Elternhauses zunächst einen theologischen Bildungsweg einschlagen müssen, verabschiedete sich aber sobald als möglich von der Theologie und bezeichnete sich später lediglich als einen »Liebhaber der Theologie«, um sich von den zumeist orthodoxen Berufstheologen des Zeitalters zu unterscheiden. Wird Lessing heute ein bedeutender Platz in der Theologiegeschichte zugewiesen, so verdankt sich dies vor allem seiner theologischen Positionierung während des Fragmentenstreits. Die wenigen Zeugnisse theologischer Arbeit, die aus der Zeit vor dem Streit stammen, erscheinen demgegenüber als zweitrangig. Gleichwohl sind es aber gerade diese frühen Stücke, die erkennen lassen, was Lessing an der Reimarusschen Kritik so faszinierte, dass er ihre Veröffentlichung für unumgänglich hielt. Hierbei zeigt sich deutlich, dass der Anfang der Theologie Lessings weniger in einer positiven theologischen Erkenntnis zu suchen ist als vielmehr in einer teils polemischen, teils spöttischen Abkehr von gewissen herrschenden Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen Theologie. Es sind vor allem drei theologische Haltungen, die Lessing ablehnt. Die erste Haltung ist die des orthodoxen Amtstheologen, der sich in der falschen Sicherheit wiegt, das historische Zeugnis der Bibel und das aus ihr gewonnene Bekenntnis seien unfehlbar wahr und es sei mit Leichtigkeit möglich, diese Wahrheit gegen historische und philosophische Angriffe zu verteidigen. Bereits 1754 machte Lessing in seiner höchst ambivalenten »Rettung des Hieronymus Cardanus«277 deutlich, dass der Wahrheitsanspruch des Christentums gegenüber dem Judentum und dem Islam weit weniger gesichert war, als es die orthodoxen Theologen zu glauben geneigt waren. Cardano hatte um die Mitte des 16. Jahrhunderts Judentum, Christentum und Islam in offen vergleichender Weise gegenübergestellt und war angesichts dieses Vorgehens unter den Theologen in Verruf geraten. Lessings Rettung bestand nun darin nachzuweisen, dass Cardano prochristlich argumentiere, da er offenkundige Vorzüge des Islam gegenüber dem Christentum verschweige. Die Rettung Cardanos erfolgt also auf Kosten des Überlegenheitsanspruchs des Christentums dem Islam gegenüber. Lessing war klar, dass die Wahrheit des Christentums in der Begegnung mit Judentum und Islam nicht unverändert bestehen bleiben konnte, und der Umgang orthodoxer Theologen mit diesem Problem erschien ihm als defizitär. In anderer Weise wendet sich Lessings Schrift über »Berengarius Turonensis«278 1770 gegen den naiven Bibelund Bekenntnisglauben der Orthodoxie. Lessing spielt mit der orthodoxen Begeisterung für die Wahrheit der jeweils eigenen Fassung der Abendmahlslehre, Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Rettung des Hier. Cardanus, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 3: Werke 1754–1757, hg. von Conrad Wiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 198–223. 278 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Berengar Turonensis oder Ankündigung eines wichtigen Werkes desselben, wovon in der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ein Manuscript befindlich, welches bisher völlig unerkannt geblieben, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 9–126. 277
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indem er den Verlauf des Abendmahlsstreits zwischen Berengar von Tour und Lanfranc historisch-kritisch revidiert und die vermeintlich klaren Grenzen zwischen kirchlicher Lehre und verurteilter Häresie auflöst. Aus einer angeblich rein theologiegeschichtlichen Arbeit wird so eine allgemeine Anklageschrift gegen dogmatische Ketzermacherei, die sich nachgrade an diejenigen streitenden Konfessionsparteien richtet, die die Lessingsche Schrift als Schutzschrift für die eigene Lehre verwenden zu können hofften. Die Versuche der zeitgenössischen Theologie, die Wahrheit der christlichen Lehre zu retten sind Lessing suspekt. Seit den 1760er Jahren nimmt er die apologetischen Debatten der Orthodoxie verstärkt wahr und beginnt, ein Scheitern der alten Verteidigungsstrategien zu konstatieren, ein Scheitern, das vielfach in der Struktur der apologetischen Diskurse angelegt ist, die die Orthodoxie selbst in Gang setzt.279 Reimarus’ »Apologie« passte zu diesem theologiekritischen Interesse Lessings, weil sie die Orthodoxie nicht ›von außen‹ angreift, sondern kritische Argumente aus der Tradition lutherischer Apologetik entwickelt. Als eine zweite Haltung, die Lessing ablehnt, ist daneben die der Neologen zu nennen, die in ihrem Umgang mit Bibel und Bekenntnis dem von den Sozinianern eingeschlagenen Weg folgen, nominell aber orthodox bleiben wollen. Lessing vermutet hier einen Etikettenschwindel, der eine offene Debatte über die theologischen Probleme letztlich verhindert. In seinen »Briefe[n] die neueste Literatur betreffend« richtet sich Lessing gegen den Kopenhagener Hofprediger Johann Andreas Cramer, der vorgeschlagen hatte, man solle in der Katechese zunächst lehren, Jesus sei ein vorzüglicher Mensch und Religionslehrer gewesen, und erst die älteren Kinder mit der Lehre von der Gottheit Jesu Christi konfrontieren. Lessing denunziert dieses Vorgehen als sozinianisch. Ebenfalls auf das Vorgehen der Neologie bezogen ist die 1773 erschienene Schrift »Leibniz, Von den ewigen Strafen«280. Lessing arbeitet sich hier in neologischer Manier kritisch an der orthodoxen Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen ab, macht dabei allerdings nicht vor dem Dogma halt, sondern wandelt es konsequent um in eine aufklärerische Lehre von der ewigen Läuterung und Vervollkommnung der Seelen. Eine dritte von Lessing abgelehnte Haltung muss erwähnt werden, wenngleich sie in den explizit theologischen Schriften vor dem Fragmentenstreit weniger 279 Zu Lessings Wahrnehmung der apologetischen Diskurse der Zeit vgl. Friedrich Vollhardt, Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk G. E. Lessings, in: Markus Fauser (Hg.), Gotthold Ephraim Lessing. Neue Wege der Forschung, Dramstadt 2008, S. 182– 198. 280 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 7: Werke 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 472–501. Zur theologischen Deutung der beiden Schriften vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 4, hg. von Albrecht Beutel, Waltrop 2000, S. 140–142.
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präsent ist. Es ist die verbreitete ablehnende Haltung gegenüber den Juden, deren Emanzipation zu gleichberechtigten Bürgern man beargwöhnte. Willi Jasper hat in seiner Lessingbiographie die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder diskutierte These reformuliert, Lessings Publikation der Fragmente sei eng bezogen auf die Toleranzproblematik, die ihm in Gestalt seines Freundes Moses Mendelssohn deutlich vor Augen gestanden habe.281 Denn Mendelssohn war nach Johann Kaspar Lavaters Aufforderung, er möge eine von Charles Bonnet in Genf verfasste populäre Verteidigung des Christentums entweder widerlegen oder selbst Christ werden, gezwungen, sich mehr oder minder kritisch gegen die christliche Apologetik zu stellen. In dieser prekären Lage suchte Mendelssohn einen diplomatischen Mittelweg, der seine christlichen Herausforderer ebenso wie ihn selbst möglichst unverletzt ließ. Lessing nun, so die Vermutung, habe eine entschiedenere Entgegnung auf Lavaters Herausforderung erwartet und Mendelssohn gewissermaßen zur Ermutigung 1770 eine Kopie des Reimarus’schen Manuskripts geschickt. In der Tat könnte Lessing darauf gehofft haben, dass eine Schwächung des objektiven Wahrheitsanspruchs der christlichen Theologie zugleich eine Haltung der Toleranz gegenüber den Juden befördern würde. Mendelssohn freilich erachtete das Manuskript nach einer eiligen Lektüre zwar für »in aller Betrachtung sehr wichtig«, warf dem Verfasser aber vor, »eben so sehr wider gewisse Charaktere eingenommen, als andre für dieselben eingenommen« zu sein und »alles aus bösen, grausamen, menschenfeindlichen Absichten« herzuleiten.282 In der Auseinandersetzung mit Lavater griff er auf das Manuskript nicht zurück. Innerhalb dieser Konstellation verschiedener Irrwege der zeitgenössischen Theologie konnte Lessing ein vierter Weg, wenn auch nicht als eine Lösung, so doch als ein Verschmelzungspunkt der zutage liegenden Probleme erscheinen. Im Deismus fand Lessing eine theologische Haltung, die bezogen war auf die drei abgelehnten theologischen Wege und somit einen Ansatzpunkt bot für einen die Theologie insgesamt belebenden Streit. Denn die Deisten kritisierten den Wahrheitsanspruch der christlichen Offenbarung, indem sie sie konfrontierten mit einer allgemeinen Vernunftreligion: sie nahmen ebenso wie die Neologen die sozinianische Kritik an Bibel und Bekenntnis auf, verzichteten aber hierbei auf das Bekenntnis zur Orthodoxie und ihren Dogmen, und sie waren mehr noch als die Juden ein Prüfstein für die Toleranzfähigkeit des Zeitalters. Denn während man den Juden theologischerseits mit einer dogmatisch eingeschränkten Toleranz begegnen konnte, indem man sie als Anhänger eines noch unausgereiften Mes281 Vgl. Willi Jasper, Lessing. Aufklärer und Judenfreund. Biographie, Berlin / München 2001, S. 217–255. Adolf Bartels, Lessing und die Juden. Eine Untersuchung, Dresden / Leipzig 1918, S. 135–138, führt den Ursprung des Arguments auf Erich Schmidt zurück. Zu Erich Schmidt im Kontext der Lessingdeutung des 19. Jahrhunderts, vgl. Monika Fick, LessingHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 22004, S. 25. 282 Vgl. Moses Mendelssohn, Brief an Lessing vom 29.11.1770, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 11,2: Briefe von und an Lessing 1770–1776, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt am Main 1988, S. 99 f.
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siasglaubens behandelte, bildeten die Deisten eine Gruppe, die man schlechterdings nur ablehnen konnte. »Ein Jude, ein Türke, ein Arminianer, ein Fantaste, ein Herrnhuter kannstu öffentlich seyn; aber bloß als ein vernünftiger, tugendhafter, frommer Mensch findestu noch nirgend eine ruhige Statt, alles wird in Empörung gegen dich gebracht.«283 So charakterisiert Reimarus im Vorbericht der »Apologie« die Stimmung der Zeit, und auch Lessing ist die Schwierigkeit, die gerade die Deisten haben, nicht entgangen. In den »Briefe[n] die neueste Literatur betreffend« reagiert er empfindlich auf Cramers Behauptung, auf die Offenbarung könne man um der Moral willen nicht verzichten. Lessing verweist ausdrücklich auf die Deisten, die moralisch auch dann vorbildlich leben können, wenn sie die Offenbarung kritisieren.284 Die Öffentlichkeit ausgerechnet mit den deistischen Fragmenten des Reimarus zu konfrontieren, erschien Lessing als heilsam. Er hoffte durch die Publikation ein Gespräch über die zentralen theologischen Probleme des Zeitalters provozieren zu können, und seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Die ersten konkreten Schritte, die Lessing auf die Publikation der Fragmente hin tat, waren freilich alles andere als wohlgeordnet. Bereits 1770 bot Lessing sein Manuskript den Berliner Verlegern Friedrich Nicolai und Christian Friedrich Voss an, bei letzterem mit der Absicht, das skandalöse und fraglos publikumswirksame Manuskript zugleich als eine Art Wertpapier zur Abdeckung seines überzogenen Kredits zu verwenden. Beide Verleger lehnten ab mit Hinweis auf die preußische Zensur.285 Eine Möglichkeit zur freien Publikation der Fragmente bot sich Lessing erst 1772, als man seine Reihe »Beyträge zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel« von der Zensur befreite.286 1774 erschien ein erstes Fragment »Von Duldung der Deisten«287, in dem Reimarus seinen kritischen Ansatz in Kontinuität zur Reformation setzt, den christlichen Glaubenszwang und die Unterdrückung der Vernunft beklagt und Schwierigkeiten der Toleranz besonders den Deisten gegenüber zur Sprache bringt. Eine öffentliche Reaktion blieb aus. Erst als Lessing im Januar 1777 fünf weitere, diesmal explizit offenbarungskritische Fragmente vorlegte, erhob sich der Protest. In dem Fragment »Von Verschreyung der Vernunft von den Kanzeln«288 283
Vgl. Apol I , S. 56. Vgl. die Deutung bei Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, S. 140–142. 285 Vgl. Adolf Bartels, Lessing und die Juden, S. 135 und Willi Jasper, Lessing, S. 252 f. 286 Zur Chronologie des Fragmentenstreits vgl. William Boehart, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing), Schwarzenbek 1988, 373–384. 287 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Von Duldung der Deisten, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 116–129. 288 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 175–188. 284
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kritisiert Reimarus den blinden Kinderglauben, den die Priester durch ihre Verteuflung der Vernunft bis ins Erwachsenenalter aufrechterhalten, und wendet sich offen gegen die christliche Sündenlehre. In einem weiteren Fragment beschreibt er die »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten«289. Die Partikularität einer konkreten Offenbarung wird hier als ein Problem hinsichtlich der Gerechtigkeit Gottes beschrieben. Es folgt in einem Fragment über den »Durchgang der Israeliten durchs Rothe Meer«290 ein Exempel alttestamentlicher Wunderkritik. Das Fragment »Daß die Bücher des Alten Testaments nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren«291 konfrontiert das gesamte Alte Testament abschließend mit den Ansprüchen einer allgemeinen Vernunftreligion und legt das Defizit offen, das das Alte Testament hinsichtlich des Unsterblichkeitsglaubens aufweist. Das fünfte und vorläufig letzte Fragment »Über die Auferstehungsgeschichte«292 zeigt acht offenkundige Widersprüche innerhalb des Berichts der Evangelien über die Auferstehung und stellt so die Historizität des Auferstehungswunders infrage. Mitten im Streit mit Goeze erschien dann 1778 noch ein letztes Fragment »Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten«293, das über die Auferstehungsgeschichte hinaus Reimarus’ Betrachtungen zur Geschichte Jesu, der Jünger und des Neuen Testaments bietet. Es muss an dieser Stelle darauf verzichtet werden, den Fragmentenstreit in seinem Verlauf detailliert abzubilden. Der Fragmentenstreit ist bereits als ein eigenständiges Forschungsthema erkannt und durch mehrere Monographien erforscht worden.294 Im Folgenden soll vielmehr der theologische Ansatz Lessings kurz 289 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 189–236. 290 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Durchgang der Israeliten durchs rote Meer, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 236–246. 291 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Daß die Bücher des Alten Testaments nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 246–277. 292 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Über die Auferstehungsgeschichte, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 277–311. 293 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 9: Werke 1778–1780, hg. von Klaus Bohnen / Arno Schilson, Frankfurt am Main 1993, S. 217–340. 294 Hervorzuheben sind hier William Boehart, Politik und Religion; Gerhard Freund, Theologie im Widerspruch. Die Lessing-Goeze-Kontroverse, Stuttgart / Berlin / Köln 1989; Wolfgang Kröger, Das Publikum als Richter. Lessing und die »kleineren Respondenten« im Fragmentenstreit, Nendeln / Liechtenstein 1979; Arno Schilson, Fragmentenstreit – Erster Teil, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 960–1075, ders., Fragmentenstreit – Zweiter Teil, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 9: Werke 1778–1780, hg. von Klaus Bohnen /
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beleuchtet werden, der sich aus dem Streit ergab. Unter den von Wolfgang Kröger so genannten »kleineren Respondenten« stand zunächst die Frage nach einer Verteidigung der durch die Fragmente bedrohten historischen Absicherung der christlichen Glaubenswahrheiten im Vordergrund. Es war vor allem das Skandalon einer Infragestellung der Auferstehungsberichte, das die Kritiker mobilisierte, zumeist Pastoren und Lehrer städtischer Gymnasien.295 Ihnen an öffentlicher Bekanntheit weit überlegen war der Hamburger Hauptpastor an St. Katharinen und Senior der Hamburgischen Geistlichkeit Johann Melchior Goeze, den Lessing bereits 1769 in Hamburg besucht hatte, um mit ihm über dessen Kontroverse mit dem Neologen Semler zu sprechen und seine berühmte Bibelsammlung zu besichtigen.296 Welche Argumente Lessing von seiner Seite zu erwarten hatte, war absehbar. Seit Thomas Abbts Satire »Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effige zu haltenden erwünschten Evangelisch-lutherischen Auto de Fe«297 von 1766 war Goeze unter Aufklärern bekannt und verspottet als Repräsentant eines zutiefst rückständigen theologischen Konservatismus, und tatsächlich bezog Goeze genau diejenigen orthodoxen Trutzburgen, die durch Reimarus’ historische Kritik unbewohnbar gemacht wurden.298 Denn Goeze und Reimarus teilten im Grunde die theologische Überzeugung, der Streit um die Wahrheit der christlichen Religion könne nur auf dem Feld des historischen, biblischen Glaubens ausgefochten werden, und es war nicht zu übersehen, dass Reimarus’ Fragmente auf der historischen Ebene einige sehr stichhaltige Argumente boten. Eine Ausnahme unter den Respondenten stellt demgegenüber Semler dar. Er verzichtete auf den Nachweis der Historizität der Auferstehung und deutete sie als ein Ereignis innerhalb der moralischen Welt. Reimarus’ Darstellung Jesu als eines gescheiterten Messiasprätendenten wies er unter Aufbietung zahlreicher historischphilologischer Argumente zurück und beschuldigte Reimarus, sich ausschließlich an diejenigen bildreichen Worte Jesu zu halten, durch die dieser seine Aussagen der Verständnisweise des jüdischen Volks angepasst habe.299 Lessings Wunsch, die Arno Schilson, Frankfurt am Main 1993, S. 753–759, sowie insbesondere als Überblick: Monika Fick, Lessing-Handbuch, S. 344–375. 295 Vgl. ders., Fragmentenstreit – Erster Teil, S. 961. 296 Vgl. William Boehart, Politik und Religion, S. 373 f. 297 Vgl. Thomas Abbt, Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effige zu haltenden erwünschten Evangelisch-lutherischen Auto de Fe, in: Thomas Abbt, Vermischte Schriften, Bd. 3, Berlin / Stettin 1781, S. 1–24. 298 Zur Wirksamkeit Goezes und dem Goezebild des Zeitalters vgl. Gerhard Freund, Theologie im Widerspruch, S. 5–10 und S. 124–156. 299 Reimarus selbst beachtet, wohl angeregt durch seine Lektüre der Semlerschen Schriften, die von Semler geforderte Differenzierung im Jesuanischen Kerygma in der Endfassung der »Apologie«. Die Lessingschen Fragmente, die eine frühere Textfassung repräsentieren, bieten sie nicht. Zu den hermeneutischen Erkenntnissen, die Semler in der Auseinandersetzung mit dem Fragmentisten gewann, vgl. die Zusammenstellung bei Gottfried Hornig, Johann Salomo
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Neologie über ihre selbstverordneten dogmatischen Grenzen hinauszutreiben, zeitigte hier einige Wirkung. Die Orthodoxie folgte Semler allerdings nicht und stellte sich weiterhin den historischen Angriffen des Fragmentisten. Bereits im Oktober 1777 legte sich Lessing in seiner Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« offen Rechenschaft ab über die verheerende destruktive Wirkung der von ihm publizierten Fragmente. Der Glaube an die biblischen Wunder war als Wahrheitserweis der christlichen Religion wertlos geworden. Jedoch bestreitet Lessing, dass sich angesichts der Bibelkritik des ungenannten Fragmentisten ein Problem zu erkennen gebe, das nicht ohnehin in der Struktur einer jeden historisch vermittelten Offenbarung angelegt ist. Denn selbst wenn man annimmt, so der vielfach wiederholte Gedanke Lessings, die Wunder hätten so stattgefunden, wie sie in der Bibel berichtet werden, bleiben sie für den neuzeitlichen Menschen doch ein Teil der kontingenten Geschichte, auf die er sich nicht verlassen kann, weil er sie nicht selbst unmittelbar erlebt hat.300 Anders als für Reimarus wird für Lessing aus der Krise der »zufälligen Geschichtswahrheiten« der Bibel daher keine Bankrotterklärung der christlichen Religion als Offenbarungsreligion insgesamt. Indem er die »zufälligen Geschichtswahrheiten« der Bibel mit den höher angesehenen »notwendigen Vernunftwahrheiten« kontrastiert, weist er in die Richtung, in der er eine Lösung des im Raum stehenden Problems erwartet. Es ist die unmittelbar erlebbare Vernünftigkeit der christlichen Religion, durch die sie sich als wahr zu erkennen gibt. 1777 bereits veröffentlichte Lessing zusammen mit den fünf Fragmenten eines Ungenannten die ersten dreiundfünfzig Paragraphen seiner Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts«301, die er 1780 fertig stellte. Lessing reiht hier sowohl die Offenbarung als auch die in ihrer Vernünftigkeit darzustellende christliche Religion ein in eine Geschichte der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts und weist so der Bibel, dem sich im Verlauf der Christentumsgeschichte entwickelnden Bekenntnis, wie auch dem aufklärerischen Streben nach der allgemeinen Vernunftreligion einen Platz zu. Auf die »Elementarbücher« des Alten Testaments baute Christus auf mit seiner praktischen Religion und Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, worauf dann wiederum im Zeitalter der Kirche die christliche Religion mit ihren dogmatischen Lehrsätzen folgte.302 Erblickt Lessing nun in einem Christentum der Vernunft einen neuen, die vorausgehenden Zeitalter Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Tübingen 1996, S. 59–63. 300 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 437–445. 301 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 10: Werke 1778–1781, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, S. 73–99. 302 Zur Unterscheidung von Religion Christi und christlicher Religion vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Religion Christi, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe,
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aufhebenden Entwicklungsstand in der Erziehungsgeschichte des Menschengeschlechts, so versteht er darunter nicht diejenige vernünftige Religion, die Reimarus in seinen »Vornehmsten Wahrheiten« formulierte und in der »Apologie« gegen die biblische Offenbarung zu Felde führte. Denn Reimarus unterscheidet nicht zwischen einer »vernünftigen Religion« und einer »natürlichen Religion«.303 Die vernünftige oder natürliche Religion ist für ihn diejenige Religion, die sich der Mensch von Natur aus allein durch seinen Vernunftgebrauch und die vernünftige Naturbetrachtung ohne eine spezielle Offenbarung erschließen kann. In Lessings Konzeption der vernünftigen Religion dagegen spielt die spezielle Offenbarung eine zentrale Rolle. Denn was das Menschengeschlecht im Verlauf seiner Erziehungsgeschichte an religiösen Wahrheiten lernt, das ist zunächst durch die Offenbarung mit ihren Geschichten und Wundern vermittelt. Und das dem biblischen Zeitalter folgende Zeitalter der christlichen Religion verdankt sich ganz und gar der biblischen Offenbarung, aus der heraus es sich entwickelt. Daher kann auch die vernünftige Religion, die Lessing als eine höhere Entwicklungsstufe jenseits der in die Krise geratenen orthodoxen Dogmatik der christlichen Religion anvisiert, das Erbe des ihm vorausliegenden Zeitalters nicht verleugnen. Die Dogmen der christlichen Religion bleiben erhalten. Sie werden jedoch in ihrer Vernünftigkeit expliziert und verwandeln sich so in Vernunftwahrheiten, ein Verfahren, das Lessing besonders an der Trinitätslehre beispielhaft durchführt.304 Melden nun Deisten Kritik an den biblischen Wundern oder an den zentralen Dogmen der christlichen Religion an, so verletzt dies Lessings theologisches Ziel einer vernünftigen Religion nicht, denn sie waren nicht mehr als pädagogische Hilfen auf dem Erziehungsweg des Menschengeschlechts, und ihre Kritik berührt den Wahrheitsgehalt der christlichen Lehren nicht. Der Überblick über die theologischen Lehren, die Lessing aus dem Fragmentenstreit gezogen hat, bliebe unvollständig ohne den Hinweis auf sein theologisch tiefsinniges Plädoyer für die religiöse Toleranz, das er in seinem Stück »Nathan der Weise« 1779 dem Publikum präsentierte. Sein Optimismus, der apologetische Wettstreit um die lehrmäßige Wahrheit der Religionen könne umgewandelt werden in einen ethischen um das größtmögliche Bemühen um Toleranz und Menschenliebe, nährt sich aus seinem Verständnis der ursprünglichen Religion Christi, die sowohl der Dogmatik als auch der Vernunftreligion vorausliegt. Sie war eine wesentlich praktische Religion, deren Zusammenfassung Lessing in Bd. 10: Werke 1778–1781, hg. von Arno Schilson / Axel Schmitt, Frankfurt am Main 2001, S. 223–224. 303 Ein differenzierender Gebrauch der beiden Begriffe ist in der »Apologie« nicht feststellbar. 304 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, S. 93, und Gotthold Ephraim Lessing, Das Christentum der Vernunft, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 2: Werke 1751–1753, hg. von Jürgen Stenzel, Frankfurt am Main 1998, S. 401–407.
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dem johanneischen »Kinderchen liebt euch« erblickt.305 Es war ohne Frage bevorzugt diese auf den ersten Blick erfrischend naiv anmutende Vision religiöser Toleranz, die die Herzen der Theaterbesucher jederzeit zu gewinnen vermochte, selbst dann, wenn die im Hintergrund stehende geschichtstheologische Theorie unbekannt blieb. Fragt man dagegen nach einer explizit theologischen Langzeitwirkung der theologischen Spätschriften Lessings, so ist es vor allem das in der Schrift »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« formulierte Eingeständnis einer tiefen Krise der neuzeitlichen Theologie, das sich bis in die gegenwärtige theologische Diskussion halten konnte.306 Wieder und wieder zitiert werden die Lessingschen Bedenken hinsichtlich eines »Sprungs« über den »garstigen breiten Graben«, der den neuzeitlichen Menschen von der unmittelbaren Evidenz der biblischen Wunderberichte trennt. Vermittelt durch Sören Kierkegaards »Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken«307 wurden sie während des 20. Jahrhunderts vielfach von Theologen aufgegriffen und verschiedentlich gedeutet. Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass es Reimarus war, der durch unermüdliche historisch-philologische Detailarbeit den Graben vermessen hat, dessen Überwindung dem Lessing-Kierkegaardschen Sprung zugemutet wird. Das Historische ist freilich nur ein Aspekt des hier zur Diskussion stehenden Problemzusammenhangs, für die christliche Theologie bleibt es aber ein zentraler. Jedoch ist neben dieser theologiegeschichtlichen Langzeitwirkung im Blick auf die Lessingsche Edition der Fragmente noch ein Zweites zu bedenken. Die publikumswirksame Veröffentlichung einzelner Stücke musste notwendig zu einer Verkürzung der Reimarusschen Kritik führen. Vergleicht man die Lessingschen Fragmente mit der weit umfangreicheren »Apologie«, so wird deutlich, dass die deutsche Öffentlichkeit nur einen winzigen Bruchteil des Materials zu Gesicht bekam und dass sehr viele Passagen zu benennen verbleiben, die ebenfalls eine Veröffentlichung verdient hätten, in den Lessingschen Fragmenten aber keinen Platz fanden. Fast scheint es, als hätte Lessing gezielt nur das publiziert, was in der deutschen Öffentlichkeit dem Inhalt nach so und so schon bekannt war. Das Pro305 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Das Testament Johannis, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 8: Werke 1774–1778, hg. von Arno Schilson, Frankfurt am Main 1989, 447–454, hier 451. Dass die Theologie des »Nathan« nicht notwendig so eindimensional dargestellt werden muss, wie hier geschehen, belegen mehrere theologische Deutungen des Stücks, die im Einzelnen aufzuführen den Umfang einer Fußnote sprengen würde. Exemplarisch sei hier verwiesen auf Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt am Main 1974, S. 15–135. 306 Zur bleibenden Bedeutung der Geschichtstheologie Lessings vgl. Arno Schilson, Geschichte im Horizont der Vorsehung. G. E. Lessings Beitrag zu einer Theologie der Geschichte, Mainz 1974, S. 295–313. 307 Vgl. Sören Kierkegaard, Etwas über Lessing, in: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. 16: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, 1. Teil, Düsseldorf / Köln 1957, S. 55–117, hier S. 86 und 91 ff.
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blem der Duldung der Deisten war spätestens seit den Wertheimer Streitigkeiten präsent. Zweifel an den Wundern und am biblischen Bericht über die Auferstehung waren dem deutschen Publikum ebenfalls vertraut durch den englischen Deismus und die durch Woolston angeregte Debatte.308 Über die Wolfenbüttelschen Fragmente regte man sich nicht deshalb auf, weil in ihnen etwas substantiell Neues zu lesen war, sondern weil man die bereits bekannten theologischen Probleme plötzlich inmitten der deutschen Öffentlichkeit vorfand. Der Vergleich mit der Endfassung der Apologie zeigt, dass einige der radikalsten Passagen der »Apologie« unveröffentlicht geblieben sind. Unter den kritisierten Wundern des Alten Testaments bieten die Fragmente ausgerechnet ein solches, das als ganzes für historisch unglaubwürdig gehalten und als eine dichterische Ausschmückung der Mosegeschichte abgetan werden kann. Die viel häufigere Deutung mosaischer Wunder als bösartige priesterliche Trickbetrügereien mit politischer Absicht bleibt unbekannt. Damit geht ein wesentliches Anliegen der »Apologie« verloren, nämlich die Verlängerung der kirchengeschichtlichen Thematik eines Kampfs von staatlicher und kirchlicher Macht in die biblische Geschichte hinein und die damit verbundene radikale Kritik an priesterlicher Machtpolitik im Medium der kritischen Bibellektüre. Ähnliches ist im Blick auf die Reimarussche Dogmenkritik zu sagen, die viel stärker als die sozinianische oder Dippelsche Kritik unter dem Gesichtspunkt des Religionsbetrugs erarbeitet wird und sich teilweise zu einer regelrechten Verspottung des biblisch-dogmatischen Gottesbildes steigert. Auch dieser Aspekt der »Apologie« blieb der Öffentlichkeit verborgen. Zahlreiche weniger auffällige Punkte wären zu ergänzen. Angesichts dieses Befunds stellt sich umso mehr die Frage, wie groß der Textbestand überhaupt war, aus dem Lessing auswählen konnte. Hatten Reimarus’ Kinder Lessing so etwas wie eine Vollversion der »Apologie« überlassen oder verfügte Lessing seinerseits nur über eine stark verkürzte Fassung? Gegenüber Herder erwähnte Lessing 1779 rückblickend, er habe die Vollversion des Werkes bei Freunden gesehen, selbst allerdings nur Stücke erhalten.309 Genaueres, über den Termin und die Umstände der Übergabe des Manuskripts etwa, lässt sich allerdings nicht mehr ermitteln. Während Lessings Zeit in Hamburg war der Kontakt zur Familie Reimarus noch nicht sehr intensiv. Erst später intensivierte sich die Freundschaft zwischen Elise Reimarus und Lessing, was durch zahlreiche Briefe belegt ist.310 Auch zu Johann Albert Hinrich bestand Kontakt. Letzterer ermahnte Lessing während des Fragmentenstreits eindringlich, mit Rücksicht auf 308 Vgl. Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. 309 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Brief an Herder vom 10.1.1779, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, Bd. 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt am Main 1994, S. 225–227. 310 Vgl. Almut Spalding, Elise Reimarus (1735–1805) The Muse of Hamburg. A Woman of the German Enlightenment, Würzburg 2005, S. 168 ff.
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seine noch lebende Mutter die Verfasserschaft seines Vaters geheim zu halten. Die Geheimhaltung war offensichtlich versprochen worden. Mehr jedoch erfährt man über die Übergabe des Manuskripts und über das Manuskript selbst nicht. Als Herzog Karl Lessing die Zensurfreiheit entzog, forderte er von ihm zugleich die Herausgabe des Manuskripts, aus dem dieser die Fragmente entnommen hatte. Am 20. Juli 1778 gab Lessing die Papiere eines Ungenannten unter Protest ab, und sie sind seither verschollen.311 Die von Lessing vorgenommene Auswahl von Fragmenten aus einem möglicherweise größeren Textbestand lässt sich also nicht mehr genau rekonstruieren. Lediglich der weitere Rahmen des fünften Fragments über die Auferstehungsgeschichte ist erkennbar durch die ebenfalls von Lessing 1778 vorgenommene Publikation unter dem Titel »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten«312. Der Text bietet in Grundzügen Reimarus’ Sicht der neutestamentlichen Geschichte, wie sie auch in der Endfassung der »Apologie« geboten wird, ausgehend vom Messiasglauben im Judentum über die Auferstehungsgeschichte bis hin zur apostolischen Aus- und Umgestaltung des ursprünglichen Kerygmas. Eine Lücke vermerkt Lessing dort, wo er das zuvor publizierte fünfte Fragment entnommen hat. Im Falle der vorangegangenen Fragmente aus dem ersten Teil der »Apologie« fehlen entsprechende Ergänzungspublikationen seitens Lessings. Hier liegt es nahe, auf die 1787 von Andreas Riem unter dem Pseudonym C. A. E. Schmidt edierten »Uebrige[n] noch ungedruckte[n] Werke des Wolfenbüttelschen Fragmentisten. Ein Nachlaß von Gotthold Ephraim Leßing«313 zurückzugreifen. Sie bieten eine kurze ethische Kritik der Erzväter bis Mose, die Mosegeschichte, eine verkürzte Kritik der Bücher Jos bis 2 Kön sowie der Propheten und eine abschließende Kritik der Religionslehre des Alten Testaments. Riem nimmt für sich in Anspruch, von Lessing selbst »in einer seiner verdrießlichen Stunden« wohl in den Jahren 1778 bis 1781 ein Manuskript der fraglichen Papiere erhalten zu haben »mit der Bedingung es, so lange er lebte, nicht herauszugeben.«314 Da Lessing das Originalmanuskript im Sommer 1778 aus den Händen gab, kann es sich bei dem von Riem verwendeten Manuskript also nur um eine Abschrift desselben handeln, und auch dies erscheint als fragwürdig. Im Fall Riems findet sich nicht der leiseste Hinweis
311
Vgl. Gerhard Alexander, Einleitung, S. 14 f. Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten, hg. von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig 1778. 313 Vgl. [Hermann Samuel Reimarus], Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten. Ein Nachlaß von Gotthold Ephraim Leßing, hg. von C. A. E. Schmidt (=Andreas Riem), 1787. 314 Vgl. [Andreas Riem], Vorbericht, in: [Hermann Samuel Reimarus], Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten. Ein Nachlaß von Gotthold Ephraim Leßing, hg. von C. A. E. Schmidt (=Andreas Riem), 1787. 312
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auf einen vertieften Kontakt mit Lessing.315 Dass Lessing ausgerechnet ihm das Manuskript anvertraut haben soll, ist äußerst unwahrscheinlich. Riem konnte allerdings darauf vertrauen, dass der Hinweis auf Lessing im Titel den Absatz seines Drucks verbesserte. Die Aura, die den Namen Lessings schon zu Lebzeiten umgab, konnte zu solcherlei Versuchen locken. Die genannten Ungereimtheiten rund um die Riemsche Edition bleiben jedoch nicht ohne Konsequenzen. Ist man geneigt zu glauben, dass Riem das Manuskript nicht von Lessing hatte, so stellt sich umso mehr die Frage, wo es dann herstammte. Einen Hinweis hierzu gibt Riem selbst im Vorbericht seiner Ausgabe der »Uebrige[n] noch ungedruckte[n] Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten«. Anschließend an Lessings Begründung für die Publikation der Fragmente schreibt er: »Ich gebe sie heraus, weil ich in Hamburg vier, in Berlin sechs bis acht, in Braunschweig nicht weniger Abschriften kenne, welche, wie Leßing sagt, durch das Schleichen im Verborgenen mehr Proselyten machen, als sie im Angesichte einer widersprechenden Welt thun würden.«316 Zehn Jahre nach der Publikation der Fragmente kursierten also mehrere Abschriften des Wolfenbüttelschen Manuskripts in Hamburg, Berlin und Braunschweig. Lessing hatte offensichtlich Abschriften des Manuskripts in Umlauf gebracht, die im Verborgenen fleißig kopiert und weitergereicht wurden. Es ist schwierig, solche verborgenen Verbreitungswege neben und möglicherweise weit vor der Lessingschen Publikation der Fragmente offen zu legen. Der brisante Stoff der »Apologie« verlangte von allen Beteiligten Verschwiegenheit. Will man fündig werden, so muss man die städtischen Aufklärungsmilieus außerhalb Hamburgs beobachten und den literarischen Niederschlag der »Apologie« notieren. Eine Spur führt hierbei nach Berlin, wo Moses Mendelssohn 1770 bereits über eine Abschrift des Manuskripts verfügte und sie im kleinen Kreis weitergab.
2.7.2 Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Christian Tobias Damm Zwei Jahre vor Beginn der Lessingschen Publikation der Fragmente eines Ungenannten erschien in Berlin 1772 anonym und »Auf Kosten des Verfassers« der erste Teil eines heute weithin vergessenen Buchs »Vom historischen Glauben«317. In einer Vorrede richtet sich der Verfasser gegen einen blinden, buchstäblichen Bibelglauben, der die Offenbarungsgrundlage der fides historica glaubt gegen die Vgl. Karl H. L. Welker, Andreas Riem. Daten und Fakten zu seiner Biographie, in: Karl H. L. Welker (Hg.), Andreas Riem. Ein Europäer aus der Pfalz, Stuttgart 1999, S. 9–23, und Katharina Becker, Andreas Riem als Theologe, in: Karl H. L. Welker (Hg.), Andreas Riem. Ein Europäer aus der Pfalz, Stuttgart 1999, S. 61–77, hier S. 71 f. 316 Vgl. Andreas Riem, Vorbericht. 317 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben, Berlin 1772 (zweiter Teil 1773). 315
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um sich greifende historische Kritik nur dann verteidigen zu können, wenn er sich pauschal gegen alle Neuerungen der biblischen Hermeneutik sperrt. Hinter den biblischen Geschichten erkennt der Verfasser eine vernünftige Moral, eine vernünftige Naturlehre sowie eine vernünftige Gotteslehre, die von hebräischer Poesie eingekleidet wird. »Die ältesten und weisesten Lerer der Menschen in aller Absicht, waren Dichter«318, konstatiert der Verfasser und wirbt für eine vernünftige, allegorische Hermeneutik, wie sie sich an der profanen antiken Literatur, etwa bei Homer, als zweckmäßig erwiesen hat. Bedenken müsse man hier lediglich einige formale Unterschiede zwischen der griechischen und der hebräischen Poesie: Der älteste und zugleich Jüdische, Dichter, sahe mer auf das Dichterische der Gedanken und Ausdrücke, als auf äußere Abmessung der Worte. Die älteste maiestätische Poesie bekümmerte sich um das innere ihrer Gesänge, um erhabene Gedanken, um schöne und zum Theil küne Erfindungen von Bildern, um Allegorie, um viel-bedeutende und annemlich auf einander folgende Worte, um Umstände mit denen etwas zum Grunde liegendes Wares erweitert, verschönert, ler-reicher, ein-nemender, bewegender, gemachet würde: mit einem Worte, sie sahen auf einen hohen, Bewunderung erregenden Vortrag wichtiger grosser Gedanken. Von Syllben und Zeilen nach einer bestimmeten gezwungenen Messung, wusten sie nichts. Es ist daher vergeblich, dergleichen bey den Ebräischen Dichtern entdecken zu wollen.319
Die biblischen Bücher sind mithin Zeugnisse einer zwar sehr ursprünglichen und lehrreichen, jedoch menschlichen Poesie, so dass der Verfasser den Glauben an die Kanonizität der biblischen Bücher in seiner traditionellen Gestalt für gegenstandslos erklären kann.320 Der Glaube an die Bibel als das buchstäbliche Wort Gottes fällt. Den Glauben an eine biblische Heilsgeschichte, die es mit einer Folge von Offenbarungen Gottes an die Menschen zu tun hat, möchte der Verfasser aber gleichwohl nicht aufgeben. Die biblischen Bücher sind mehr als ein poetisches Phantasiewerk. Sie berichten von einer konkreten Geschichte Gottes mit den Menschen, deren Mitte die Offenbarung Gottes bildet, die der Verfasser freilich anders zu verstehen versucht als die Theologen seiner Zeit. Es sind nicht die Inspiriertheit der Schrift und auch nicht der historische Nachweis geschehener Wunder, die die biblische Heilsgeschichte und mithin die theologische Bedeutung der biblischen Bücher begründen. Es ist der zunächst weit weniger konkrete theologische Gedanke eines Redens Gottes mit einigen dazu besonders bestimmten Menschen, von dem aus der Glaube an eine göttliche Offenbarung verständlich gemacht werden soll. In der Argumentation des Anonymus wird das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie zu dem Punkt, von dem aus das Wesen der biblischen Offenbarung erkennbar wird. Denn was die biblischen Be318 Vgl. die Vorrede zum ersten Teil von C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben. 319 Ebd. 320 Ebd., S. 276.
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richte naiv als ein physikalisches Sprechen Gottes an seine prophetischen Offenbarungsmittler berichten, das ist tatsächlich eine theologische Reflexion auf die Welterfahrung, die die Offenbarungsmittler in besonderem Maße zu leisten imstande sind und die sie zu Recht als ein göttliches Reden ausdeuten: Gott redet mit Menschen durch ihre Empfindungen und Erfahrungen, die sie von Dingen in der Welt bekommen, und aus denen sie Folgerungen ziehen können; er redet mit ihnen durch besondere Veranlassungen, die er, aus der Anlage in seiner Welt und nach seiner festegesetzeten Bestimmung, ihnen zukommen lässet, und aus denen sie was gewar werden können, was sie vorher nicht sahen: er redet mit einigen durch die größern Fähigkeiten, die er ihrer denkenden Kraft mitgetheilet hat, und vermöge welcher Fähigkeiten sie aus dem, was sie in der Welt vor sich finden, geschwinder oder leichter als andre Menschen neben ihnen, Schlüße abfassen: mit einem Worte, er redet mit Menschen durch seine Regierung, nach welcher er diesem Menschen eine feinere und durchdringendere und hurtigere Verstandes-Kraft von Mutterleibe an zu Theile werden lassen, nach welcher er diesem Menschen einen erhabnern und größern Muth, eine zuverläßigere Entschlossenheit, einen merern Hang zu etwas, gegeben hat; und nach welcher er diesen Menschen in solche Umstände setzet, in denen er das oder das ansichtig werden, und das oder das ausführen, kann, was Gott will, daß es ietzo bekannt werden, oder ausgefüret werden soll.321
Die Prophetie gründet also in einer intensiven Welterfahrung, die der Prophet aufgrund seiner überdurchschnittlich hohen Vernunftbegabung theologisch zu deuten versteht. Hierbei ist es nicht dem Zufall überlassen, wann und unter welchen Umständen er zu einer bestimmten theologischen Erkenntnis gelangt. Seine prophetische Gabe ist nicht frei. Sie ist bestimmt von der göttlichen Vorsehung, die sie jeweils so steuert, dass der Menschheit zu einer jeweiligen Zeit die von Gott selbst vorherbestimmte theologische Erkenntnis mitgeteilt wird. Der literarische Niederschlag der so verstandenen Prophetie sind die poetisch ausgeschmückten Erzählungen der Bibel. Was der Verfasser damit im Blick auf die traditionellen theologischen Lehrstücke der Vorsehung einerseits und der konkreten biblischen Heilsgeschichte andererseits anvisiert, ist nicht schwer zu erraten. Der Glaube an eine biblische Heilsgeschichte wird in Einklang gebracht mit Gottes Regierung des natürlichen Weltlaufs, der dem neuzeitlichen Menschen zunehmend als ein durch das unwandelbare Naturgesetz beschreibbares Kontinuum erkennbar wird. Die Offenbarung verstanden als ein Reden Gottes mit den Propheten ereignet sich als ein vorherbestimmtes Zusammenspiel zwischen dem determinierten Naturlauf auf der einen Seite und dem in seiner individuellen Disposition ebenfalls determinierten Bewusstsein des Propheten auf der anderen Seite. Auf alles Wunderbare kann diese Offenbarungslehre des Berliner Anonymus daher verzichten. Das Erscheinen bestimmter theologischer Lehren in der Geschichte vermag er auch so als göttlich verursacht auszuweisen. Wie
321
Ebd., S. 24 f.
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Reimarus und andere Deisten schließt er die Möglichkeit von Wundern explizit aus. Sie sind ihm Teil der poetischen Ausschmückung des Berichteten.322 Betrachtet man die Durchführung der hier in Grundzügen vorgestellten Hermeneutik des Anonymus an den biblischen Büchern, so fallen einige formale und inhaltliche Bezugnahmen auf die »Apologie« des Reimarus ins Auge. Nach seinen einleitenden Ausführungen zum rechten Verständnis der hebräischen Poesie entwickelt der Verfasser zunächst, so wie Reimarus, allgemeine Kriterien zur kritischen Prüfung der biblischen Berichte. Sie beziehen sich auf die innere Logik des Berichts, aus der auf die historische Möglichkeit des Geschehens geschlossen werden soll, und auf die berichtende Person, den Grad ihrer Verständigkeit, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Neigung zur dichterischen Übertreibung.323 Anders als bei Reimarus zielen die vorangestellten Kriterien der Prüfung also nicht auf die Entlarvung biblischen Religionsbetrugs, sondern auf eine korrekte Einschätzung des Anteils und der Absicht der beigegebenen poetischen Ausgestaltung jeweiliger Erzählungen. Entsprechend behutsam fällt die hierauf folgende Diskussion der einzelnen Bücher zunächst des Alten, später auch des Neuen Testaments aus. Der Verfasser scheidet jeweils zwischen theologischer Wahrheit und poetischer Ausgestaltung, um so zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die biblischen Bücher sehr wohl die Inhalte der vernünftigen Religion und Moral transportieren. Anders als Reimarus spart er hierbei den biblischen Schöpfungsbericht nicht aus. Er ist ihm eine im Kern wahre, aber dichterisch ausgeschmückte Naturlehre, die missverstanden wird, wenn man sie in allen ihren Einzelheiten wörtlich nimmt.324 Ähnliches gilt von der Paradiesgeschichte. Sie wurde von Mose »nach Aegyptischer Art in etwas übertriebene Sinnbilder eingekleidet«325 und schildert ansonsten nichts als allgemeine anthropologische Gegebenheiten, die sich durch allegorische Deutungen des Texts erschließen lassen. Die sprechende Schlange beispielsweise weist auf nichts anderes hin als auf den Menschen selbst in seiner Neigung zur unvernünftigen Begierde.326 So gelingt es dem Berliner Anonymus, selbst in anstößigen Stellen des Alten Testaments einen vernünftigen Gehalt zu finden und den von Reimarus gegen die Erzväter und Mose erhobenen Vorwurf der moralischen Verderbnis und des Religionsbetrugs abzuwehren. Immer wieder finden sich hierbei Passagen, die eine Kenntnis der »Apologie« voraussetzen. Explizit wendet sich der Verfasser gegen den Versuch, anhand einer Berechnung der Anzahl der in Ägypten verweilenden Israeliten die historische Unglaubwürdigkeit des Meerwunders unter Beweis stellen zu wollen, deutet Mose als einen »Heerfürer und Gesetzgeber«, der das Priestertum als Stütze des Staats fördert, und hält es für möglich, dass Mose vor dem Einzug in das gelobte Land nicht gestorben sei, 322
Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 11–16, und Apol I , S. 183–191. 324 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben, S. 26–35. 325 Ebd., S. 50. 326 Ebd., S. 52 f. 323
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sondern sich zusammen mit seinen engsten Vertrauten insgeheim in ein anderes Land abgesetzt habe.327 Auch die Geschichte Jesu und des Neuen Testaments entwickelt der Verfasser vor dem Hintergrund des jüdischen Messiasglaubens und greift hierbei ansatzweise auf die für den zweiten Teil der »Apologie« charakteristische Unterscheidung innerhalb des jüdischen Messiasglaubens zurück.328 Die genannten Belege machen es wahrscheinlich, dass die gesamte Kritik der Theokratie des Mose in Berlin bekannt war und mindestens große Teile aus dem zweiten Teil der »Apologie«. Der Rückschluss ist erlaubt, dass mindestens diese Stücke auch in dem Manuskript, das Lessing benutzte, enthalten waren, will man nicht annehmen, in Berlin sei ein völlig anderes Manuskript benutzt worden als dasjenige, auf das Lessing und Riem verweisen. Einen höchst kreativen Beitrag zum Verständnis des Auferstehungsberichts leistet der Berliner Anonymus im Rahmen seiner Kritik des Neuen Testaments. Mit Reimarus einig ist er sich darin, dass eine Durchbrechung des unwandelbaren Naturgesetzes auch hier nicht möglich ist. Einen Leichendiebstahl oder Betrug schließt er jedoch aus. Um das obskure Phänomen eines zweifelsohne nicht schlichtweg erfundenen Auferstehungsberichtes dennoch erklären zu können, behauptet er, Jesus sei nach erfolgter Kreuzigung lediglich scheintot gewesen: Weil Jesus, durch seine letzten Begebenheiten auf Erden, dem Jüdischen Volke nochmals als sein warer Meßias empfolen werden solte: so hatte es die göttliche Regierung also gefüget, daß er gekreuziget werden solte, wobey der Leib die wenigste Beschädigung litte, daß er one alle Hinderung zeitig wieder abgenommen, in ein eigenthümlich Begräbniß eines vornemen Hauses geleget, und hiernächst auf eine Art, die nicht gemeldet ist, sich aber unschwer gedenken läßet, wieder erquicket und geheilet, werden muste. Er zeigete sich darauf den Seinen unter der Hand auf eine ziemliche Zeitlang: und weil es doch mit Jesu von seinen Feinden auf den Tod angesehen gewesen war; so konnten diese mit Recht sagen, er sey vom Tode auferstanden.329
Genau wie im Fall der alttestamentlichen Prophetie begegnet also auch hier der Versuch, eine Heilsgeschichte zu denken, in der der alte, wundersame concursus specialis theologisch zwar in Anspruch genommen, eine tatsächliche Durchbre327 Ebd., S. 168, 159, 185 ff. und 195. Neben den genannten Stellen blieben viele weitere zu nennen, die sich ebenfalls als ein Reflex auf die »Apologie« lesen lassen. Im Einzelfall ist aber Vorsicht geboten, denn die Bibelkritik der »Apologie« reagiert vielfach auf vorausliegende exegetische Debatten, deren Kenntnis man dem Verfasser des Werks »Vom historischen Glauben« durchaus auch zutrauen darf. Ein Beispiel hierfür ist die Frage, ob es chemisch möglich war, das goldene Kalb zu zermahlen und sodann in Wasser aufzulösen (Ex 32,20), ebd. S. 183 und Apol I , S. 380. Der gemeinsame Bezugspunkt ist hier die sehr alte Debatte um eine mosaische Chemie, die über die Kunst der Lösung von Gold verfügt haben soll. Ähnliches ist von der Deutung des Todes Moses zu sagen, die sich vor Reimarus bei Naudé findet (siehe oben Kapitel 2.4). Was die Kritik des Meerwunders angeht, so bleibt die Möglichkeit eines Einflusses Edelmanns auf Damm zu überprüfen, auf die die wenigen Hinterlassenschaften Damms soweit keinen Hinweis geben. 328 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben II , S. 7 ff. und öfter. 329 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben, S. 76 f.
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chung des allgemeinen Naturgesetzes aber gleichwohl verneint wird. In der göttlichen Vorherbestimmung des Weltlaufs ist ein Ereignis festgeschrieben, das von den Jüngern als so außergewöhnlich empfunden werden muss, dass sie von ihm ausgehend einen christlichen Auferstehungsglauben zu formulieren gezwungen sind. Mit einer göttlichen Durchbrechung des unwandelbaren Naturlaufs hat das alles jedoch nichts zu tun. Die Verfasserschaft der anonymen Schrift »Vom historischen Glauben« ist eines der wenig gehüteten Geheimnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die Initialen »C. T. D.«, die die Titelei der in geringer Auflage erschienenen Schrift zieren, konnte man unschwer mit dem Namen des Berliner Rektors am Köllnischen Gymnasium, Christian Tobias Damm, in Verbindung bringen, der wenige Jahre zuvor durch eine kritische Neuübersetzung und Kommentierung des Neuen Testaments einiges Aufsehen erregt hatte.330 Da über Damms Biographie kaum gedruckte Mitteilungen vorliegen, sollen die erhaltenen biographischen Daten kurz zusammengestellt und aus den wenigen handschriftlichen Hinterlassenschaften Damms ergänzt werden:331 Damm wurde am 9. Januar 1699 im sächsischen Geithain als viertes Kind des lutherischen Pfarrers Johann Andreas Damm geboren. Seine drei älteren Geschwister verstarben früh. Nach ihm gebar seine Mutter, Floriana Damm, geb. Müller, Tochter eines sächsischen Verwaltungsbeamten, weitere vier Töchter. Nachdem sein Vater, der sich während oder nach dem Studium in Wittenberg und Leipzig dem Pietismus zugewandt hatte, 1705 in »Pietistische Troubeln« verwickelt worden war, musste die Familie Geithain verlassen und fand für zwei Jahre bei pietistisch gesonnenen Adeligen Unterschlupf. 1708 erhielt sein Vater erneut eine Stelle im sächsischen Schönberg, wo Christian Tobias Damm die Lateinschule besucht haben dürfte. Über seine Studienzeit liegen wenige Daten vor. Ab 1717 studierte er in Halle, wo er später ab 1724 auch als Lehrer im Waisenhaus tätig war. 1730 wurde Damm als Konrektor an das Köllnische Gymnasium in Berlin berufen, 1734 folgte die Heirat mit der lutherischen Pfarrerstochter Maria Margaretha Heisch, aus der drei Söhne und drei Töchter hervorgingen. Im Sommer 1738 verstarben in kurzer Folge sein Vater und seine Mutter in Schönberg. Schon während der 1730er Jahre war Damm offensichtlich als Gräzist weithin bekannt, denn in den Jahren 1735/36 reiste der junge Winckelmann eigens nach Berlin, um bei Damm Griechisch zu studieren. 330 Vgl. Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker, kritisch hg. von Bernd Witte, Stuttgart 1991, S. 558. 331 Zur Verfügung stehen hier der Art. »Damm, Christian Tobias«, in: Christian Jöcher, Allgemeines Gelehrtenlexikon. Fortsetzungen und Ergänzungen von J. C. Adelung, Bd. 2, 1787; Karl Friedrich von Klöden / Valentin Heinrich Schmidt, Ältere Geschichte des Köllnischen Gymnasiums, Berlin 1825, S. 21 und 24 f.; außerdem die Ankündigungsplakate zu Feierlichkeiten im Köllnischen Gymnasium, archiviert in den Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster (Streitsche Stiftung) – Leihgabe an die Zentral- und Landesbibliothek Berlin, sowie handschriftliche genealogische Notizen Damms im Einband seiner Übersetzung der Cicerobriefe (Streitsche Stiftung: GK l A 373).
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1742 erfolgte Damms Beförderung zum Rektor des Köllnischen Gymnasiums. Nach dem Tod seiner Ehefrau Ostern 1752 blieb Damm das Rektorenamt weitere fünfzehn Jahre erhalten. 1767 wurde das Köllnische Gymnasium mit dem Grauen Kloster vereinigt und Damm in den Ruhestand entlassen. Er starb am 27. Mai 1778 in Berlin. Was Damm vor dem Fragmentenstreit mit der Reimarusschen »Apologie« in Kontakt brachte, war der Umstand, dass Friedrich Nicolai ihn 1757 bat, er möge ihm und seinem Freund Moses Mendelssohn bei der Lektüre griechischer Texte zur Seite stehen. Besonders Mendelssohn, der Latein im Selbststudium hatte lernen müssen und die griechische Sprache als weit schwieriger einschätzte, hatte die größten Bedenken, sich ohne den Beistand eines erfahrenen Gräzisten der Sprache Platons zu nähern. In Damm fand er einen geduldigen Lehrer, der ihm als ein »lebendiges Lexikon« stets die unbekannten Wortbedeutungen erklärte.332 In den Jahren 1757 bis 1759 trafen sich die drei regelmäßig mittwochs und samstags, um gemeinsam zunächst die Ilias und die Odyssee zu lesen, später auch Xenophon und vor allem Platon, um dessentwillen sich Mendelssohn hauptsächlich auf das Griechischstudium eingelassen hatte. 1759 musste Nicolai die regelmäßige Teilnahme aufgeben. Mendelssohn und Damm aber setzten die Griechischlektüre fort. Aus dem Bericht Nicolais über die gemeinsamen Treffen geht hervor, dass zwischen Damm und seinen beiden Schülern grundsätzliche Differenzen im Umgang mit Literatur bestanden. Während Damm sich als ein Experte auf dem Gebiet der Wortkunde und Etymologie erwies, suchten Mendelssohn und Nicolai nach einem vertieften Verständnis poetischer Ausdrucksformen, und beide Seiten lernten voneinander. Damm verband seine Worterklärungen zumeist mit allegorischen Deutungen, die ihn zur Erkenntnis einer natürlichen Religion und vor allem Moral selbst in dem Anschein nach anstößigen Passagen der Homerischen Dichtungen führten. In der griechischen Dichtung erkenne man die Ursprünge der »alte[n] natürliche[n] Religion und Gewissenhaftigkeit, die ersten Fußtapfen der Weisheit, der Sittenlehre und der Staatsklugheit«333, und alles dies lasse sich erschließen durch die Kunst der Worterklärung und Allegorie. Im Gegenzug wiederum empfing auch er von Nicolai und Mendelssohn Anregungen: Oft geschah es, daß wir die poetische Schönheit einer Stelle empfanden, und unsere Empfindungen gegen einander äußerten. Dabei hörte er denn sehr aufmerksam zu, sagte auch zuweilen: »Das ist wohl wahr. Aber unser Einer hat das in der Jugend nicht gelernt; da blieben wir immer bei den Worten stehen.« So war es auch, wenn wir, ohne seine allegorischen 332 Vgl. Friedrich Nicolai, Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn, in: Friedrich Nicolai, Sämtliche Werke Briefe Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 6,1: Gedächtnisschriften und philosophische Abhandlungen, Bern u. a. 1995, S. 89–97. 333 Zitiert nach Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. 1, Leipzig 41943, S. 47. Übersetzung aus einem (wohl ungedruckten) »Programm« Damms von 1757.
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Deutungen zu widerlegen, ihm manche uns bekannte Bemerkungen neuerer Kritiker über diese oder jene Stelle mittheilten, die freilich mit seinen Erklärungen nicht wohl zu vereinigen waren. Dies nahm er gar nicht übel, sondern meinte, auch das könne wohl so sein, denn Homer sei unerschöpflich. – Bei allen seinen kleinen Schwachheiten, gewann Damm in aller Betrachtung immer mehr, je mehr man ihn kennen lernte.334
Dem lutherischen Schulmann Damm fehlte von Haus aus der Umgang mit poetischer Schönheit. Es waren die Wörter und ihre Geschichte, auf die er zu achten gelernt hatte. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass das etymologisch-allegorische Verfahren, das Damm anwendet, nicht identisch ist mit dem sich erst im 19. Jahrhundert durchsetzenden rein philologischen Verfahren der Etymologie. Im Zeitalter der Orthodoxie stand die Etymologie noch ganz im Kontext einer Suche nach der prisca theologia, bei der aufgrund der primären Orientierung an den biblischen Sprachen das Semitische eine entscheidende Rolle spielte. Auf der Suche nach der ursprünglichen Bedeutung einzelner Nomina versuchte man vorzudringen zu Urquellen menschlicher Weisheit, die man je nach eigenem philologischem Interesse hinter unterschiedlichen Sprachfamilien vermutete und für die eigene theologische Argumentation instrumentalisierte. Auch der Gedanke einer viele Jahrtausende währenden Geschichte der Sprachentwicklung war unbekannt. Ausgehend von der biblischen Zeitrechnung blieben nur wenige Jahrhunderte, in denen sich alles abgespielt haben musste, und auch die prisca theologia erschien zum Greifen nah, konnte man einen jeweiligen Text als alt ausweisen. Rein philologische Argumente setzten sich in diesem Verfahren nur langsam durch. Im 17. Jahrhundert waren es Scaliger und vor allem Vossius, die das Semitische innerhalb der griechisch-lateinischen Etymologie zurückzudrängen begannen. Erst Damm zählt mit einigen anderen zu den ersten, die im 18. Jahrhundert die griechische Sprache als eigenständig wahrnahmen. Ebenso wie seine barocken Vorgänger hielt aber auch Damm die Sprachgeschichte für einen Prozess weniger Jahrhunderte, so dass auch ihm die prisca theologia, auf die die barocke Etymologie zielte, noch unmittelbar greifbar schien. Wenige Dezennien von der alten Homerischen Dichtung entfernt lag sie, die ursprüngliche Religion und Moral der Alten, und wartete darauf, wiederentdeckt zu werden. Dass dieses Vorgehen des alten Rektors Damm auf den Literaten Nicolai einen antiquierten Eindruck machte, muss nicht verwundern. Er sah in ihm vor allem das »lebendige Lexikon«, das ihm sympathischer wurde, je mehr es sich seinem Verständnis von Poesie öffnete.335
334 Vgl. Friedrich Nicolai, Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn, S. 92 f. 335 Zu Damm im Kontext der Geschichte der Etymologie vgl. die historische Einleitung in Georg Curtius, Grundzüge der griechischen Etymologie, Leipzig 51879, S. 5–12. Zu Damms Übersetzungsweise vgl. Martin Vöhler, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005, S. 132–134, auch S. 90–97.
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Das letzte, was Nicolai über die gemeinsamen Treffen berichtet, ist, dass Damm 1758 seine Pläne zu einer kommentierten Neuübersetzung des Neuen Testaments innerhalb der Dreierkonstellation zur Diskussion stellte. Nicolai und Mendelssohn rieten ab und warnten Damm vor den Folgen, die die Publikation möglicherweise nach sich ziehen konnte. Damm ließ sich jedoch nicht beirren. 1762 erschien das Johannesevangelium in kleiner Auflage. 1764 und 1765 folgte die Publikation der vollständigen Übersetzung in zwei Bänden.336 Die Folgen waren, wie von Mendelssohn vorausgesagt, verheerend. Zwar wurde der Forderung nach Entlassung des von einigen Orthodoxen als Sozinianer denunzierten Damm nicht nachgegeben, der biedere Schulmann sah sich jedoch der öffentlichen Anfeindung durch den Berliner Pöbel ausgesetzt, der ihn unter Beschimpfungen bis vor seine Haustür verfolgte. Angesichts der Zusammenführung des Köllnischen Gymnasiums und des Grauen Klosters erhielt die lutherische Schulaufsicht Gelegenheit, den angegriffenen Damm in den Ruhestand zu verabschieden.337 Über den weiteren Weg der Dreierkonstellation Nicolai, Mendelssohn und Damm lassen sich nur Vermutungen anstellen. Im Sommer 1770 wurde Lessing mit dem Manuskript der Reimarusschen »Apologie« bei Nicolai vorstellig, der den Druck ablehnte. Kurz darauf erhielt Mendelssohn eine Abschrift des Manuskripts als Zurüstung im Kampf mit dem bekehrungswütigen Lavater.338 Ohne Frage wurde die Abschrift der Wolfenbütteler Fassung der »Apologie« innerhalb des Berliner Griechischlektürekreises gelesen und diskutiert. Besonders von Mendelssohn dürfte hierbei eine harte Verurteilung der Reimarusschen Kritik des Alten Testaments ausgegangen sein, die Damm dann im Sinne seiner weiterentwickelten Hermeneutik poetischer Texte aufgriff und in seiner anonymen Schrift »Vom historischen Glauben« noch vor dem Fragmentenstreit weit ausführte. Nicht auf Mendelssohn und Nicolai geht die skurrile Theorie vom Scheintod Jesu zurück. Sie erscheint in der theologischen Literatur um die Wende zum 19. Jahrhundert insgesamt dreimal.339 In Deutschland ist Damm der erste, der sie 336 Vgl. Theodor Klema (= Christian Tobias Damm), Evangelium des Apostels Johannes von neuem übersetzt und mit einigen Anmerkungen für denkende Leser begleitet, Amsterdam 1762, und [Christian Tobias Damm], Das Neue Testament unseres Herrn Jesu Christi: von neuem übersetzt und mit einigen Anmerkungen für sorgfältige Leser begleitet, 2 Bde., [Berlin] 1764–65. 337 Vgl. Friedrich Nicolai, Etwas über den verstorbenen Rektor Damm und Moses Mendelssohn, S. 96 f., und Karl Friedrich von Klöden / Valentin Heinrich Schmidt, Die ältere Geschichte des Köllnischen Gymnasiums, S. 21 und 24 f. 338 Siehe hierzu das vorige Kapitel. 339 Vgl. zum Überblick Albert Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906, S. 38–47. Außerdem [Karl Friedrich Bahrdt], Briefe über die Bibel im Volkston: eine Wochenschrift von einem Prediger auf dem Lande, 2 Bde., Halle 1782–83, und [Carl Venturini], Jesus der Auferstandene. Nachtrag zur natürlichen Geschichte des großen Propheten von Nazareth, Aegypten 1802, S. 7–62. Zur von Bahrdt und Venturini in je unterschiedlicher Weise vorgetragenen These, Jesus sei als Geheimbündler tätig gewesen, vgl. Florian Maurice, Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die
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formuliert. Weshalb sie Damm so plausibel erscheinen konnte, lässt ein Brief an den Pietisten Johann Albrecht Bengel erkennen, mit dem Damm 1740 anlässlich seiner Übersetzung der Cicerobriefe korrespondierte: In Berlin ist diesen Winter sonsten nichts merklichers vorgefallen als der Tod unsers berühmten Astronomi Kirch. Dieser Mann war einige Tage vor seinem Tode sehr tiefdenkend, sonsten aber, wie es wenigstens schiene, ganz gesund. Er starb darauf plötzlich: sein Körper aber gab nicht die geringsten Zeichen eines leblosen Leichnams von sich. Er sah so lebhaft aus als bey gesunden Tagen. Man ließ ihn daher über 6. Wochen in einem warmen Zimmer in Betten liegen, es wurden ihm fleißig die stärksten Spiritus vorgehalten, auch in den Mund geflößet; und was ihm eingeflößet wurde, bliebe alles bey ihm. Kein Leichen Geruch oder sonst dergleichen war zu spüren. Daher iederman hoffte, er würde wieder zu sich selber kommen. Endlich nach langem Harren stellte sich der Todten Geruch ein, und man begrub ihn darauf. Es waren einige, die da sagen wollten, man habe es vielleicht mit dem alzuvielen einflößen starker Spirituum versehen; da seine hinterlaßene ¯, die ihn höchst ungerne verlohren, ihn gar zu gerne wieder lebendig machen wollen. Er hatte einige Zeit vor seinem Ende besondre Speculationen zum Saturnus gehabt, auch von dieser Materie sehr viel mit seinen Freunden geredet. Unser Herr Hofprediger Jablonsky, der in seinem sehr hohen alter noch ganz munter ist, hat insonderheit auf sein wiederaufwachen vertröstet, weil er sagte es erlebt zu haben, daß in Polen iemand gleichfals nach ein paar Wochen wieder zu sich selber gekommen. Der Körper wurde täglich von allerley Personen besucht: bis endlich der Ausgang die Hofnung endigte.340
Der Astronom Kirch befand sich offensichtlich in einem komatösen Zustand, den auch die verantwortlichen Ärzte nicht sicher dem Leben oder dem Tod zurechnen konnten. Um ihn wieder zum Leben zu erwecken, flößten ihm die Hinterbliebenen verschiedene spiritus ein, die unter fahrenden Händlern in unzähligen Varianten zu haben gewesen sein dürften. Denn die beschriebene Therapie entspricht ganz und gar der Theorie des Preußischen Hofmediziners Friedrich Hoffmann, der lehrte, die physiologischen Abläufe des Körpers würden beeinflusst durch feinmaterielle ätherische Substanzen, die mit der Atemluft aufgenommen auf Blutkreislauf und Gehirn einwirkten.341 Die heilsamen Tropfen hatten Hochkonjunktur, und am Totenbett Kirchs hegte man offensichtlich die Hoffnung, die ätherischen Tropfen ließen sich mit einem so überaus potenten Heilmittel beschicken, dass sie den scheidenden Kirch zurück ins Leben zu reißen vermöchten. Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch der Name des Berliner Hofpredigers Daniel Ernst Jablonski, dessen Wort in dieser Angelegenheit einiges Gewicht hatte.342 Was nun Damm angeht, so nahm er alle diese Aktivitäten zur Kenntnis Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. 370–381. Entsprechende Überlegungen kommen bei Damm nicht vor. 340 Brief an Johann Albrecht Bengel vom 27.4.1740 (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: Cod. hist. Fol 1002). 341 Vgl. Erwin H. Ackerknecht / Axel Hinrich Murken, Geschichte der Medizin, Stuttgart 71992, S. 90. 342 Daniel Ernst Jablonski war seit 1733 Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften und starb 1741.
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und berichtete sie detailgetreu an Bengel. Am Totenbett des Astronomen Kirch konnte Damm zweierlei studieren: Zum einen, wie schwierig es selbst für Ärzte war, das Eintreten des Todes sicher zu bestimmen, und zum anderen, in welcher Intensität die Hinterbliebenen ein Wiedererwachen ihres geliebten Kirch herbeisehnten. Es lag nahe, diese beiden Beobachtungen mit dem biblischen Auferstehungsbericht in Verbindung zu bringen und den aufrichtigen Auferstehungsglauben der Jünger so gegen den Reimarusschen Betrugsvorwurf zu verteidigen. Blickt man auf das Ganze der Dammschen Argumentation, sein Verständnis der Prophetie sowie seinen Versuch, die traditionell durch ein Wunderereignis in der Mitte einer Heilsgeschichte verankerte Christologie über eine providentiell festgeschriebene subjektive Deutung des natürlichen Todes Jesu seitens der Jünger einzuholen, so drängt sich ein Vergleich mit dem dogmatischen System, das Schleiermacher in seiner Glaubenslehre formuliert, geradezu auf. Auch hier steht die Vorsehung Gottes im Einklang mit dem unwandelbaren Naturgesetz, so dass die Möglichkeit eines historisch objektiven Wunderereignisses, also eines concursus specialis im Sinne einer Durchbrechung der Naturgesetze, ausgeschlossen ist.343 Und ebenso wie Damm versucht auch Schleiermacher, einige traditionelle Gehalte der Christologie einzuholen, indem er sie über das religiöse Bewusstsein Jesu und der Jünger zu rekonstruieren versucht. In der Lehre von der Person Christi ist eine gewisse Parallelität unbestreitbar. Begründet Schleiermacher die einmalige Besonderheit Jesu durch die Kräftigkeit seines Gottesbewusstseins, so bedient er sich derselben Argumentationsfigur, die Damm zur Verteidigung der alttestamentlichen Prophetie benutzt, um sie später ebenfalls auf den herausragenden Propheten Jesus im Kreis seiner Jünger anzuwenden.344 Selbst der Gedanke eines Scheintods Jesu bleibt der Schleiermacherschen Glaubenslehre nicht fremd, wenngleich der fragliche Passus seiner Formulierung nach nicht auf Damm, sondern auf die weithin bekannte, 1782 durch Bahrdt formulierte Variante des Scheintodgedankens hinzuweisen scheint.345 Doch konnte Schleiermacher die Gedanken Damms »Vom historischen Glauben« kennen? In Schleiermachers Bibliothek war das Buch nicht enthalten, und der bloße Umstand allein, dass sowohl Schleiermacher als auch Damm in Berlin lebten, genügt nicht, die vage Vermutung einer Wirkung der Dammschen Gedanken auf die Schleiermachers zu begründen.346 Der Nach343 Vgl. hierzu die §§ 46–47 der Glaubenslehre in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13,1: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. von Rolf Schäfer, Berlin / New York 2003, S. 264 ff. und 276 ff. 344 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube, S. 52–58 (§ 94). 345 Vgl. den § 99 der Glaubenslehre in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube, S. 95 ff. 346 Vgl. Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlags G. Reimer, Schleiermacher-Archiv Bd. 10, Berlin / New York 1993.
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weis muss sich auf einen konkreten Punkt in der Schleiermacherbiographie beziehen, an dem die Wirkung der Theologie Damms auf Schleiermacher greifbar wird. Dieser Punkt ist Schleiermachers Zeit als Schulamtskandidat am Gymnasium zum Grauen Kloster, das er von September 1793 bis März 1794 unter der Leitung des Rektors Friedrich Gedike absolvierte.347 Zusammen mit sieben weiteren Kandidaten wurde der junge Schleiermacher hier in die Praxis des Unterrichtens eingeführt. Wöchentliche Treffen unter dem Vorsitz Gedikes boten den Kandidaten Gelegenheit, ihre Ansichten zur Pädagogik untereinander zu diskutieren, kurze Vorträge zu halten und bemerkenswerte Werke aus der Schulbibliothek zu besprechen.348 Besonderes Gewicht legte Gedike hierbei freilich auf die Beschäftigung mit den großen Editionen antiker Texte. Andere Themenbereiche waren aber nicht ausgeschlossen. Um sich auf die wöchentlichen Treffen vorbereiten zu können, hatten die Schulamtskandidaten freien Zutritt zur schuleigenen Bibliothek, zu deren Beständen selbstverständlich auch die Werke des mittlerweile verstorbenen Rektors Christian Tobias Damm gehörten, dessen guter Ruf als Gräzist weit über die Stadtgrenzen Berlins hinaus reichte. Dass das hier zur Frage stehende Buch »Vom historischen Glauben« mit zu denjenigen Büchern zählte, das die Schulamtskandidaten lasen, beweist das Exemplar, das heute in den Beständen der Streitschen Stiftung an der Zentral- und Landesbibliothek Berlin aufbewahrt wird.349 Es stammt aus der Schulbibliothek des Gymnasiums und ist mit einem anderen, ebenfalls deistischen Werk Damms, den »Betrachtungen über die Religion«, zusammengebunden. In diesem ebenfalls anonym 1772 erschienenen deistischen Werk stellt Damm dem unvernünftigen pietistischen Bekehrungsglauben zunächst die allgemeine Vernunftreligion entgegen, zeigt in einem zweiten Teil, inwiefern diese Vernunftreligion mit der Lehre Jesu übereinstimmt, um in einem dritten Teil alle Verfälschungen dieser ursprünglichen Vernunftreligion Jesu durch die christliche Dogmatik aufzuweisen. Das Exemplar aus der Schulbibliothek ist durchschossen von unzähligen, zum Teil mikroskopisch kleinen handschriftlichen Anmerkungen, die es erlauben, der Rezeption des Werks durch Benutzer der Schulbibliothek nachzuspüren. 347 Auf das Rektorat Damms folgte nach der Zusammenlegung 1767 das Anton Friedrich Büschings, der seit 1766 bereits Rektor des Grauen Klosters war. Friedrich Gedicke leitete ab 1787 das Schulamtskandidatenseminar und wurde 1793 Rektor. Zur Schulgeschichte vgl. Erika Schachinger, Abriß der Schulgeschichte, in: Harald Scholtz, Gymnasium zum Grauen Kloster 1874–1974. Bewährungsproben einer Berliner Gymnasialtradition in ihrem vierten Jahrhundert, Weinheim 1998, S. 13–37, hier S. 21–24. 348 Vgl. Günter Meckenstock, Historische Einführung, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1: Jugendschriften 1787–1796, hg. von Günter Meckenstock, Berlin / New York 1984, S. XVII –LXXXVIII , hier LXX ff. 349 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Betrachtungen über die Religion, Erste und zweyte Abtheilung, Berlin 1773 und C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben, Berlin 1772 (zweiter Teil 1773). In einem Band zusammengefügt. (Streitsche Stiftung: GK l A 384 1/2).
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Zu unterscheiden sind drei Kommentatoren, die anhand ihrer Handschriften deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Der erste schreibt mit einer sehr dünnen Feder und lässt sich durch Formulierungen wie »das 18. Jahrhundert« klar dem 19. Jahrhundert zuordnen. Er verziert den Text durch zumeist überschwänglich lobende Äußerungen zur Vernünftigkeit der Argumentation Damms. Ein zweiter Kommentator schreibt auf Deutsch und lässt sich anhand der Literatur, die er notiert, auf die Zeit nach 1780 datieren. Eine weit spätere Datierung scheidet aus, da sich einige seiner Notizen auf Einzelheiten des Fragmentenstreits beziehen, die um die Wende zum 19. Jahrhundert mehr und mehr in Vergessenheit gerieten. Ebenfalls in die Zeit nach 1780 fällt ein dritter Kommentator, der durchweg auf Französisch schreibt und ähnliche theologische Interessen verfolgt wie sein zuvor genannter Kollege.350 Ein weiterer Hinweis zur Einordnung der handschriftlichen Marginalien findet sich auf der Innenseite des Bucheinbands. Hier macht sich der deutschsprachige Kommentator Notizen zur Pädagogik, die er aus Gedikes »Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern«351 von 1779 entnimmt. Die Kommentierung geschah also vermutlich kurz nach der Gründung von Gedikes Schulamtskandidatenseminar 1787 durch zwei der je Kurs acht Kandidaten. Sie nutzten den Bucheinband offensichtlich als Schmierpapier, als sie ihre pädagogischen Vorträge für das Seminar vorbereiteten. Weit interessanter sind jedoch ihre Anmerkungen zu Damms Werken selbst. Der französisch und der deutsch schreibende Kommentator sind sich einig, dass der Dammsche Versuch einer Rettung der durch die deistische Kritik verletzten christlichen Heilsgeschichte fehlgeschlagen ist. »Die Religion, die die Unterwerfung unter die Providenz und Tugend ist, hat sie es wirklich nötig lächerlich zu sein, um angenommen zu werden?«352 liest man im Titel des zweiten Teils der »Betrachtungen über die Religion«. Mit großem Eifer werden Verweise auf Bibelstellen neben die jeweiligen Ausführungen Damms gekritzelt, aktualisierende Erklärungen verwendeter philosophischer Begriffe notiert und Bezüge zu bekannten theologischen Kontroversen, besonders zum Fragmentenstreit, hergestellt. Dominierend bleibt hierbei jedoch die Einsicht, dass der Kredit von Bibel und Dogmatik ein für allemal aufgebraucht ist, und das bereits seit Jahr350 Dass hier nicht mit einem einzigen Kommentator gerechnet werden kann, der die französischen Notizen mit lateinischen Buchstaben schrieb, die deutschen aber mit deutschen, belegt eine Notiz auf S. 19 im ersten Teil der »Betrachtungen über die Religion«, in der der deutsch schreibende Kommentator ein französisches Buch in lateinischer Schrift anführt. Die Stelle ermöglicht einen Schriftvergleich, aus dem erkennbar wird, dass zwei Kommentatoren unterschieden werden müssen. 351 Vgl. Friedrich Gedike, Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern, Berlin / Leipzig 1779. 352 Übersetzt aus der Titelseite des zweiten Teils der »Betrachtungen über die Religion«: »La religion qui est la soumission à la Providence et l’amour de la vertu, a-t-elle besoin de devenir ridicule pour être embrassée?«
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hunderten. Neben einem Passus zur Kritik der Trinitätslehre wird säuberlich ein hierzu passender Satz aus dem Rakower Katechismus notiert, der ›Bekenntnisschrift‹ der sozinianischen Dogmenkritik. Der Kommentator ist sich bewusst, dass die Kritik der christlichen Zentraldogmen eine lange Tradition hat, und verehrt diejenigen Zeugnisse, die diese Tradition verkörpern. Auf der Rückseite des Titels des ersten Teils der »Betrachtungen über die Religion« trägt er biographische Daten über Christoph Sand den Jüngeren zusammen, der im Spektrum der dem Sozinianismus nahe stehenden Autoren durch sein Eintreten für die historische Erforschung der arianischen Abweichungen von der angeblich alten und ursprünglichen orthodoxen Trinitätslehre auffällt.353 Die Probleme der christlichen Zentraldogmen sind so alt wie die christliche Dogmatik selbst, lehrt Sand, aus dessen »Scriptura S. Trinitatis revelatrix«354 der Kommentator Passagen übersetzt. Jedoch wollen die beiden Kommentatoren keineswegs bei der ursprünglich biblizistisch begründeten Dogmenkritik der Sozinianer stehen bleiben. Es gilt, die dogmenkritische Tradition fortzusetzen und weiter zu radikalisieren. Damms Versuch, unter Verzicht auf einige Dogmen die biblische Heilsgeschichte als Zeugnis einer poetischen Äußerung des religiösen Bewusstseins zu retten, lehnen sie ab. Was das Bewusstsein hervorbringt, gilt ihnen in keiner Weise als göttlich verursacht. Damm verwandle »alles in Fabeln (warum nicht gleich Lügen!)«, klagt der deutsch schreibende Kommentator in eben dem Kapitel, in dem Damm seine Ansichten über die »Erzelungs-Art der ältesten Welt« entfaltet und die biblischen Offenbarungen offen mit der profanen Poesie der Antike vergleicht.355 Was Menschen erfunden haben, verfällt dem Betrugsvorwurf und kann keine besondere Autorität für sich in Anspruch nehmen. Mit welchem Typ von Religionstheorie auf den Dammschen Rettungsversuch zu antworten ist, hält der französisch schreibende Kommentator in zahlreichen Literaturnotizen fest, die zumeist die oberen Seitenränder der beiden zusammengebundenen Werke Damms durchziehen. Sie bieten ein breit angelegtes Panorama radikal religionskritischer Schriften französischer Aufklärer, die die Religion werten als Betrug mit politischer Absicht, zum Teil unter atheistischen Prämissen. Notiert werden zahlreiche
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Zu Christoph Sand dem Jüngeren vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Die philologische Zersetzung des christlichen Platonismus am Beispiel der Trinitätstheologie, in: Ralph Häfner (Hg.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher ›Philologie‹, Tübingen 2001, S. 265–301, hier S. 283–286. 354 Vgl. Hermannus Cingallus (=Johann Crell), Scriptura S. Trinitatis revelatrix, Goudae 1678. Unter dem Pseudonym »Hermannus Cingallus« publizierte gewöhnlich Johann Crell. Im Fall der vorliegenden Schrift geht man aber mindestens von einer maßgeblichen Beteiligung Sands aus, so dass die Zuordnung des Berliner Kommentators nicht ganz unzutreffend ist. Zur Kenntnis genommen hat er offensichtlich auch Christoph Sands »Bibliotheca Antitrinitariorum«, die ihm als dessen Hauptwerk gilt. 355 Vgl. C[hristian] T[obias] D[amm], Vom historischen Glauben, S. 16 f. (das durchschossene Exemplar der Streitschen Stiftung).
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Werke d’Holbachs356 und Boulangers357 nebst einigen anderen zum Teil anonymen religionskritischen Einzelwerken.358 Die Liste ist aufschlussreich, denn sie belegt zugleich, dass die beiden Kommentatoren außerhalb der Schulbibliothek auf religionskritische und mithin streng verbotene Bücher zugreifen konnten. Im Verzeichnis der Streitschen Stiftung tauchen die genannten Bücher nicht auf. Sie müssen den beiden Kommentatoren andernorts bekannt geworden sein. Zu denken wäre hier beispielsweise an einen Kontakt zu dem Preußischen Sekretär Paalzow, der just in den 1780er Jahren einige religionskritische und atheistische Schriften französischer Provenienz ins Deutsche übersetzte.359 Unmittelbar vor Schleiermachers Eintritt in Gedikes Schulamtskandidatenseminar las und kommentierte man also in der Schulbibliothek des Friedrichwerderschen Gymnasiums die anonymen deistischen Schriften Damms. Gut gerüstet mit den radikal religionskritischen Theorien französischer Aufklärer kam man hierbei zu dem Schluss, dass der von Damm halbherzig unternommene Versuch einer Rettung der biblischen Heilsgeschichte mindestens ebenso unakzeptabel war wie die lange schon abgelehnte Dogmatik. Die Bibel zeugt von menschlichem Religionsbetrug und nicht von der allgemeinen Vernunftreligion, deren Bedeutung die Kommentatoren nicht in Abrede stellen. Ob der junge Schleiermacher die beiden Kommentatoren kannte, ist hierbei schwer zu beurteilen. Da die Teilnehmer des Seminars zweimal jährlich wechselten, darf 356 Der Verfasser der Werke wird oft nicht oder falsch angegeben. Die sehr genauen bibliographischen Angaben ermöglichen zum Teil eine Identifizierung des Verfassers und der jeweiligen Ausgabe. Hinter dem Erscheinungsort »Londres« verbergen sich zumeist Amsterdam oder Paris. Die zitierten Werke d’Holbachs sind: Paul Henri Thiry d’Holbach, Histoire critique de JésusChrist. Ou Analyse raisonnée des évangiles, Amsterdam 1778; ders., Le christianisme dévoilé. Ou examen des principes et des effets de la religion chretienne, Londres 1767; ders., La contagion sacrée. Ou histoire naturelle de la superstition, Londres 1768; ders., Lettres à Eugénie. Ou Préservatif contre les préjugés, Londres 1768; ders., Les Prêtres démasqués. Ou des iniquités du Clergé Chrétien, Londres 1768, sowie die von d’Holbach bearbeitete Ausgabe von Orobio de Castro, Isaac, Israel vengé ou exposition naturelle des prophéties hébraiques, Londres 1770. 357 Die zitierten Werke Boulangers sind: Nicolas Antoine Boulanger, L ’Antiquité devoilée par ses Usages, Tom. 1–3, Amsterdam 1766; ders., Recherches sur l’origine de Despotisme oriental, Londres 1762; ders., Dissertation sur Elie et Enoch, ohne Ort ca 1760. 358 Zitiert werden ferner: Jean Baptiste Cloots, La certitude des preuves du Mahométisme, ou réfutation de l’examen critique, Londres 1780; Nicolas Fréret, Recherches sur les miracles, Londres 1773; Jean B. de Mirabaud, Opinions des anciens sur les Juif, Londres 1769; Jacques A. Naigeon, Le Militaire philosophe. Ou difficultés sur la religion proposées au R. P. Malebranche, Londres 1768; [anonym], L ’esprit du Judaisme, Londres 1770; [anonym], De l’Imposture Sacerdotale, Londres 1767; [anonym], La Fausseté Des Miracles Des Deux Testamens, Londres 1775. Die Liste ist nicht vollständig. Nicht aufgenommen wurden französische Übersetzungen englischer Deisten, die in Deutschland ohnehin bekannt waren, Werke deutscher Freidenker, wie z. B. Georg Schade, einige allgemein bekannte Schriften Voltaires sowie eine Reihe von Titeln, die sich nicht identifizieren ließen. Über Inhalt und Charakter der aufgeführten Werke Auskunft gibt zum Teil Winfried Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 359 Mündlicher Hinweis von Martin Mulsow.
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vermutet werden, dass die radikal religionskritische Kommentierung der Werke Damms innerhalb weniger Monate geschah, irgendwann nach der Gründung des Seminars 1787, aber nicht viel später. Mindestens das fertig kommentierte Buch in der Schulbibliothek dürfte also 1793 durch Schleiermachers Hände gegangen sein. Der junge Schleiermacher begeisterte sich für die griechische Philologie und fand in den Werken des damals noch berühmten Winckelmannlehrers Damm vermutlich ein willkommenes Studienobjekt, und dies umso mehr, da sich Damm in seinen Büchern »Betrachtungen über die Religion« und »Vom historischen Glauben« zugleich theologischen Fragen zuwendet. Schleiermacher konnte aus der Lektüre der beiden anonymen Dammschriften zweierlei lernen: Zum einen, wie eine Dogmatik in Grundzügen konstruiert werden könnte, die auf eine biblische Heilsgeschichte nicht verzichten will, ein göttliches Wunderwirken aber ausschließt und, um dies zu ermöglichen, den traditionellen concursus specialis aufzuwiegen versucht durch ein Ereignis im religiösen Bewusstsein der Offenbarungsmittler. Und zum anderen, welcher vernichtenden Kritik ein solcher Versuch verfallen kann, wenn man dem religiösen Bewusstsein der Offenbarungsmittler diejenige theologische Autorität nicht beizugeben versteht, die das objektive Wunder in der traditionellen Dogmatik jederzeit beanspruchen konnte. Damm kann letztlich nicht erklären, warum die subjektiven Äußerungen des religiösen Bewusstseins göttlich verursacht sein sollen. In diffuser Weise verweist er auf die providenzielle Vorausprogrammierung bestimmter religiöser Bewusstseinszustände ansonsten frei handelnder Menschen, durch die bestimmte theologische Erkenntnisse zu bestimmten Zeiten offenbar werden müssen, verfügt aber offenkundig über keine valide Theorie des religiösen Bewusstseins an sich. Für den jungen Schleiermacher einmal mehr erkennbar wurde hier die dringende Notwendigkeit einer religionsphilosophisch vertieften Theorie des religiösen Bewusstseins, die sicherstellt, dass man die christlichen Glaubenssätze nicht zu bloßen Phantasiebildern der menschlichen Einbildung degradiert.
2.7.3 David Friedrich Strauß Um die Geschichte der Rezeption der »Apologie« zu einem gewissen Abschluss zu bringen, gilt es auf das allgemein bekannte Feld zurückzukehren, das durch Lessing und die Fragmente abgesteckt ist. Nach dem Fragmentenstreit legte sich das Interesse an dem Wolfenbüttelschen Fragmentisten zunächst. Die theologischen Probleme, die durch ihn aufgeworfen worden waren, konnten bald auch ohne konkreten Hinweis auf die Fragmente weiter diskutiert werden, so dass es schwer fällt, ein genaues Ende des Fragmentenstreits zu bestimmen. Auch die angesichts des fünften Fragments viel gestellte Frage nach dem Verfasser der Fragmente verlor an Wichtigkeit. Zwar erhärtete sich der Verdacht immer weiter, dass Hermann Samuel Reimarus der Verfasser sei. Letzte Sicherheit hierüber
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fehlte aber. Erst 1814 übergab Johann Albert Hinrich Reimarus das vollständige Manuskript der Endfassung der »Apologie« der Hamburger Stadtbibliothek und bestätigte in einem Brief an die Universitätsbibliothek Göttingen, die eine Kopie erhielt, den allgemeinen Verdacht, sein Vater habe das Manuskript der Fragmente geschrieben.360 Eine erneute öffentliche Debatte angesichts der Übergabe des Manuskripts blieb aus. Erst knapp vierzig Jahre später kümmerte sich der Sekretär der Hamburger Stadtbibliothek Karl Rudolf Wilhelm Klose um eine Publikation der »Apologie« in ihrer Endfassung. Sein ursprünglicher Plan, die etwa zweitausend Seiten Text en bloc drucken zu lassen, erwies sich allerdings als unpraktikabel. Es fehlte an Verlegern, die den umfangreichen Druck trotz möglicherweise sehr geringer Absatzmöglichkeiten riskiert hätten.361 So war Klose gezwungen, erneut, wie einst Lessing, in einzelnen Stücken zu publizieren. In den Jahren 1850 bis 1852 erschienen in der von Christoph Niedner herausgegebenen »Zeitschrift für die historische Theologie« rund dreihundert Seiten der »Apologie«, doch blieb der Gedanke einer Publikation des gesamten Textes unverwirklicht. Allerdings rief der misslungene Publikationsversuch Kloses einen anderen Bewunderer der Reimarusschen Bibelkritik auf den Plan, der sich in seinem Umgang mit dem umfangreichen Textbestand der »Apologie« weit geschickter verhielt als Klose.362 Es war der theologischerseits abgelehnte Linkshegelianer David Friedrich Strauß, der sich nach dem gescheiterten Versuch einer politischen Karriere mit verschiedenen vergessenen Gestalten der neuzeitlichen Theologiegeschichte befasste. Strauß erblickte in Reimarus einen Urvater der historischen Kritik, über den die zeitgenössische Theologie zu Unrecht hinwegzusehen versuchte: Seit ich vor nächstens dreißig Jahren die sogenannten Wolfenbüttelschen Fragmente zuerst genauer kennen lernte, ist ihr Verfasser ein Gegenstand meiner besondern Liebe und Verehrung geblieben. Nicht blos als Vorgänger in dem Kampfe, in den mich einzulassen ich eben damals im Begriffe stand; denn das waren auch Andere gewesen, die ich darum wohl schätzte, aber noch lange nicht verehrte oder liebte, unerachtet ich mit manchem derselben in Hauptpunkten weit mehr als mit Reimarus einverstanden war. Allein was mich an diesem so besonders ansprach, war nicht diese oder jene Ansicht, keine einzelne Fähigkeit oder Eigenschaft, sondern der ganze Mann. In Reimarus sah ich das freie vernünftige Denken in Sachen der Religion zum Charakter geworden.363
360 Vgl. Gerhard Alexander, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Frankfurt am Main 1972, S. 9–38, hier S. 17. 361 Vgl. Art. »Klose (Karl Rudolf Wilhelm)«, in: Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 4, Hamburg 1866, S. 63–65. 362 Strauß weist in seinem Vorwort auf Klose hin. Vgl. David Friedrich Strauss, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Leipzig 1862, S. VII . 363 Ebd., S. Vf.
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Strauß nimmt Anstoß an dem »Hochmuth der Theologen […], die [Reimarus] mit dem Einwurfe, daß das alles längst widerlegt sei, das Wort abzuschneiden Lust haben möchten.«364 Denn die historische Kritik an Bibel und Dogma ist mehr denn je Thema der Theologie. Angesichts des im Rechtshegelianismus verbreiteten Versuchs, die theologischen Offenbarungswahrheiten möglichst bruchlos in die philosophische Spekulation zu überführen, mahnt Strauß an, dass ein solches Verfahren die konsequente Selbstbefreiung der Spekulation hemme.365 Es sei zuerst nötig, das Mythische in den Evangelien zu identifizieren und vom Historischen zu trennen und nachfolgend auch die auf die biblischen Mythen unmittelbar aufbauenden Dogmen in ihrer Entstehung und neuzeitlichen Kritik historisch zu erschließen, um erst dann die wahren spekulativen Gehalte der Christologie zu entfalten. Die Geschichte wird so zu einem Prozess der sukzessiven Selbstbefreiung der spekulativen Vernunft, dessen Mitte die historische Kritik an Bibel und Dogma ist. Die theologiegeschichtliche Stellung früher Bibel- und Dogmenkritiker wie Reimarus ist für Strauß also eine zentrale. Trotz des ausgeprägten philosophisch-theologischen Deuterahmens Strauß’ gelingt es ihm, eine nahezu unverfälschte Wiedergabe der Reimarusschen Argumente zusammengefasst auf gut zweihundert Seiten zu bieten. In flüssiger, gut lesbarer Sprache führt Strauß seine Leser durch die »Apologie« und illustriert seine Ausführungen zuweilen durch treffende Zitate. Als Textgrundlage benutzt Strauß hierbei, anders als Klose, eine Kopie der Endfassung, die ihm der Hamburger Kaufmann und Zuckerfabrikant Otto Christian Gädechens zur Verfügung stellte.366 Auf markante Differenzen zwischen den bekannten Lessingschen Fragmenten und der Endfassung der Apologie weist Strauß jeweils hin. So macht er beispielsweise darauf aufmerksam, dass die Unterscheidung zwischen einem an das zeitgenössische Judentum adressierten und einem allgemeinen Jesuanischen Kerygma erst in der Endfassung der »Apologie« in den Blick kommt, angeregt durch die Lektüre der Schriften Semlers.367 Auch Ansätze zu einer Kritik der »Apologie« finden sich zwischen den einzelnen Abschnitten. Reimarus’ These von der Präsenz eines alternativen, minderpopulären Messiasglaubens, der den Messias als einen leidenden und dereinst in Herrlichkeit wiederkehrenden Erlöser versteht, erscheint Strauß wenig plausibel. Er weist darauf hin, dass Reimarus keine vorchristlichen Belege für diese alternative Fassung des Messiasglaubens bietet, und fordert, man müsse diesen Glauben daher für eine genuin christliche Erfindung halten und auf den Versuch einer streng religionsgeschichtlichen Ab364
Ebd., S. IX . Zur philosophie- und theologiegeschichtlichen Einordnung Strauß’ vgl. Jan Rohls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, S. 465–467, und Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 508–512. 366 Vgl. Art. »Gaedechens (Otto Christian)«, in: Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Bd. 2, Hamburg 1854, S. 418 f. 367 Vgl. David Friedrich Strauss, Hermann Samuel Reimarus, S. 182 f. 365
2.7 Rezeptionsgeschichte
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leitung allein aus dem Judentum verzichten.368 Erst am Schluss seiner Darstellung der »Apologie« macht Strauß deutlich, was ihn an Reimarus’ Bibelkritik stört. Es ist das mangelnde Gespür für die mythenbildende Phantasie der ersten Christen, die das Leben Jesu ausschmückte. Freilich griffen sie auf Traditionen des Alten Testaments zurück. Ihre Deutung des Lebens Jesu muss aber gleichwohl verstanden werden als eine mythische Neuschöpfung. Mit dem historischen Jesus haben die Evangelien wenig zu tun. Das gleiche gilt für die von Reimarus scharf verurteilte Gestalt des Mose. »Was kann der israelitische Gesetzgeber dafür, daß spätere Sage und Dichtung seine Geschichte mit Wundern jeder Art verherrlichte«369, fragt Strauß und wirft Reimarus vor, aus einem naiven Vertrauen auf die historische Glaubwürdigkeit der biblischen Berichte heraus zu einer überzogenen Kritik der biblischen Gestalten als Religionsbetrüger zu kommen. Hätte Reimarus der Phantasie der biblischen Geschichtsschreiber mehr zugetraut, so hätte er auf die Verurteilung des historischen Mose verzichten können. Den Umgang des 19. Jahrhunderts mit der Religionsgeschichte kann Strauß daher als fortschrittlich gegenüber der durch Reimarus repräsentierten Haltung des 18. Jahrhunderts ausweisen. Es ist die »wissenschaftliche Mythologie«, die einerseits eine kritische Lektüre der Bibel ermöglicht und andererseits auf den böswilligen Betrugsvorwurf verzichten lässt. Strauß warnt die Theologie jedoch, von einer solchen Kritik der »Apologie« aus auf den supranaturalen Wunderglauben zurückzufallen. »Weil Moses gewiß kein Gaukler war, ist er ihr wieder ein Wunderthäter; weil die Beschuldigung eines Leichendiebstahls gegen die Jünger Jesu keinen Anklang mehr findet, glaubt sie seine Auferstehung von Neuem als übernatürlichen Vorgang behaupten zu können.«370 Dass die Theologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich durch Strauß tatsächlich zu einer Rückbesinnung auf Reimarus anleiten ließ, zeigt neben der zweiten Auflage des Buchs 1877371 eine zwar kurze, jedoch in höchst begeistertem Ton gehaltene Rezension von unbekannter Hand, die im November 1862 in den »Blätter[n] für literarische Unterhaltung«372 erschien. Der Rezensent nimmt erfreut zur Kenntnis, dass der auf dem Gebiet der Theologie schwer angeschlagene Strauß im Medium seiner historischen Beschäftigung mit Reimarus einen Weg zur Theologie zurück sucht, und eröffnet eine philosophiegeschichtlich freilich nicht ganz treffende Analogie zwischen Reimarus im 18. Jahrhundert und Strauß im 19. Jahrhundert: So wie Reimarus auf dem Boden der Wolffschen Phi368
Ebd., S. 211 f. Ebd., S. 275. 370 Ebd., S. 285. 371 Vgl. David Friedrich Strauss, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2. unveränderte Aufl., Bonn 1877. Die 2. Auflage ist nicht identisch mit dem Abdruck der Schrift im 2. Bd. der »Gesammelten Schriften« 1876 in demselben Verlag (David Friedrich Strauß, Gesammelte Schriften, hg. von Eduard Zeller, Bd. 2, Bonn 1876). 372 Vgl. Blätter für literarische Unterhaltung 45 (1862), S. 817–820. 369
200
2 Das bibelkritische Werk
losophie, habe auch Strauß eine historische Kritik der Bibel zu betreiben begonnen auf dem Boden der Hegelschen Philosophie, was den Rezensenten dazu veranlaßt, zugleich von einem geistesgeschichtlichen Fortschritt zwischen Reimarus und Strauß, bzw. genauer von einer »Aufhebung« der Reimarusschen Kritik in der Straußschen zu sprechen. Die Hegelsche Philosophie, so der Rezensent, sei »bei weitem fähiger […] als die Wolffsche, in die fremde Eigentümlichkeit geschichtlicher Gegenstände einzugehen«.373 Denn indem Reimarus die Offenbarung im Sinne Wolffs ausschließlich nach dem Satz vom Widerspruch kritisiere, könne er dem biblischen Bericht nicht gerecht werden: »Von der Geschichte der göttlichen Offenbarung bleibt als historischer Kern kurz gesagt nur menschlicher Betrug übrig.«374 Dieses negative Resultat der Bibelkritik des 18. Jahrhunderts stelle das 19. Jahrhundert nun vor die Entscheidung, das Programm einer historischen Kritik der Bibel entweder rundweg abzulehnen oder es in einer neuen, zeitgemäßen Weise fortzusetzen. Höchste Achtung verdiene daher der bibelkritische Hegelianer Strauß, der das von Reimarus begonnene Programm gründlicher und dem historischen Gegenstand angemessener zu vollenden imstande sei.375
373
Vgl. ebd., S. 818. Vgl. ebd., S. 819. 375 Vgl. ebd., S. 819 f. 374
3 Das Religionsphilosophische Werk: »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« 3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten« 3.1.1 Johann Albert Fabricius und die englische Physikotheologie Um Reimarus’ Weg zu der vorwiegend naturphilosophisch begründeten Apologetik der »Vornehmsten Wahrheiten« nachvollziehen zu können, gilt es ein weiteres Mal auf Johann Albert Fabricius zurückzukommen. Bei Fabricius lernte Reimarus nicht nur die griechische und lateinische Literaturgeschichte kennen, sondern auch die physikotheologische Beobachtung der geschaffenen Welt, die in ihrer zweckmäßigen Hinordnung auf das Wohl der Geschöpfe die Absichten des weisen, gütigen und allmächtigen Schöpfers offenbart. Als eine zusätzliche Bestätigung des durch die biblische Offenbarung begründeten christlichen Gottesglaubens gewann die Physikotheologie zu Beginn des 18. Jahrhunderts an Bedeutung. Fabricius übernahm sie aus England, wo universal gelehrte Theologen wie Richard Bentley, Samuel Clarke und William Derham den Aufschwung der Naturwissenschaft und namentlich der Newtonschen Physik für die christliche Apologetik fruchtbar machten, indem sie die neuen Theorien aufs engste mit der theologischen Schöpfungs- und Vorsehungslehre verknüpften. Die neue Newtonsche Physik wurde so zu einem Wahrheitserweis der christlichen Lehre gegen den Atheismus, wie auch umgekehrt die theologische Schöpfungs- und Vorsehungslehre zu einem Wahrheitserweis der Newtonschen Physik wurde, der nicht unwesentlich zu deren schnellen Durchsetzung beitrug. Denn während die kontinentale cartesische Physik die res extensa streng kausalmechanisch betrachtete und die teleologisch mit Finalursachen argumentierende Schöpfungs- und Vorsehungslehre als Thema rein naturwissenschaftlicher Theoriebildung ablehnte, stellte sich die Newtonsche Physik niemals explizit gegen die Annahme von Finalursachen und bot auf diese Weise Raum für theologische Apologetik.1 Es war Robert Boyle, der diesen Raum beispielhaft nutzte. Im Bewusstsein der Überlegenheit der teleologischen Argumentation gegenüber der kontinentalen Kausalmechanik und überzeugt von der Möglichkeit und Notwendigkeit 1
beit.
Zur zentralen Bedeutung der Teleologie in diesem Kontext vgl. das Kapitel 3.4 dieser Ar-
202
3 Das Religionsphilosophische Werk
eines engen Schulterschlusses zwischen Theologie und neuer, experimenteller Naturwissenschaft, verfügte er 1691 testamentarisch die Einrichtung der später so genannten »Boyle Lectures«, deren Zweck die Verteidigung der Wahrheit der »christlichen Religion gegen notorisch Ungläubige, nämlich Atheisten, Deisten, Heiden, Juden und Mohammedaner«2 sein sollte. Die Theologen, die innerhalb der »Boyle Lectures« predigten, führten die von Boyle eingeforderte Harmonisierung von Theologie und Naturwissenschaft im Dienste der Apologetik fort und verdeutlichten den theologischen Erkenntniswert der neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet der naturwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung.3 Der erste Gelehrte, der innerhalb der »Boyle Lectures« die Kanzel bestieg, war Richard Bentley. In acht Predigten wandte er sich gegen den vor allem durch Hobbes repräsentierten Atheismus, den er durch Hinweis auf die besondere seelische und körperliche Ausstattung des Menschen und die physikalische Beschaffenheit der Welt widerlegt, deren korrekte Beschreibung er in der Newtonschen Gravitationstheorie erkennt. Die in dem harmonischen Zusammenspiel der Eigenbewegung der Planeten einerseits und der zwischen ihnen wirkenden Gravitationskraft andererseits ermöglichte unveränderliche Kreisbewegung der Planeten weist den Beobachter auf die Existenz eines überaus weisen Schöpfers, der das exakte Gleichgewicht der Kräfte hergestellt hat.4 Das Grundprogramm der innerhalb der »Boyle Lectures« vorgetragenen physikotheologischen Apologetik hat Bentley damit umrissen. Unter den nachfolgenden Vortragenden war es vor allem William Derham, der in seiner aus den »Boyle Lectures« hervorgegangenen »PhysicoTheology«5 an Bentley anknüpfte und das Feld physikotheologischer Betrachtung erweiterte. Derham beschreibt die besondere Beschaffenheit der Erde innerhalb des Kosmos, die Lebewesen der Erde und besonders den Menschen und schließt mit einer physikotheologischen Betrachtung der Pflanzenwelt. In seiner »Astro2 Aus einem Bericht Bentleys über das Boylesche Testament, zitiert nach Henning Graf Reventlow, Apologetik, in: Helmut Holzhey / Vilem Mudroch (Hgg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 1: Grossbritannien und Nordamerika Niederlande, Basel 2004, S. 215–245, hier S. 215. 3 Udo Krolzik, Art. »Physikotheologie«, in: Theologische Realenzyklopädie 26 (1996), S. 590–596, hier S. 591, betont die Eigenständigkeit der Physikotheologie neben der älteren Apologetik, der es noch primär um die Widerlegung des Atheismus ging. Zumindest wenn man die Physikotheologie von den »Boyle Lectures« aus betrachtet, verwischt dieser Unterschied jedoch. Beiden Gattungen geht es explizit um die Widerlegung des Atheismus. Zur Physikotheologie des 18. Jahrhunderts vgl. auch Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, und Dorinda Outram, Aufbruch in die Moderne. Die Epoche der Aufklärung, übers. von Ervin Tivig, Stuttgart 2006, S. 238–267. 4 Vgl. Gilbert Burnet (Hg.), A Defence of Natural and Revealed Religion Being an Abridgement of Sermons preached at the Lecture founded by Robert Boyle, 4 Bde., Dublin 1737. Über die »Boyle-Lectures« vgl. Henning Graf Reventlow, Apologetik, S. 215–245. 5 Vgl. William Derham, Physico-Theology, or: A Demonstration of the Being and Attributes of God from his Works of Creation, London 1713. Zu Derham vgl. Henning Graf Reventlow, Apologetik, S. 225 f.
3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten«
203
Theology«6 greift er die Thematik der ersten Teile der »Physico-Theology« noch einmal auf und arbeitet die Überlegenheit des Newtonschen Weltbildes älteren kosmologischen Theorien gegenüber heraus. Die strategische Allianz zwischen Theologie und Newtonscher Physik wird hier noch einmal klar erkennbar: die Newtonsche Physik bietet sich der Theologie an als Trägerin apologetischer Argumentation und gewinnt so an Popularität und Akzeptanz. Dass Johann Albert Fabricius auf die englische Physikotheologie aufmerksam wurde, verdankt sich seinem literaturgeschichtlichen Interesse an dem besonders als Philologe weithin bekannten Richard Bentley.7 Der Kontakt zwischen Fabricius und Bentley ist ein Musterbeispiel philologischen Austausches innerhalb der Gelehrtenrepublik. Fabricius bewunderte den sieben Jahre älteren Bentley und dessen Texteditionen, benutzte diese innerhalb seiner beiden »Bibliothecae«, schrieb Briefe, vermittelte Kontakte mit reisenden Gelehrten, offerierte Manuskripte. 1700 widmete er ihm seine Ausgabe der »Vita Procli« des Marinus Neapolitanus, Unterrichtsmanuskripte der Jahre 1705 und 1706 belegen, dass Fabricius Bentleys Werke neben den Werken anderer großer Philologen und Philosophen wie Jean Le Clerc und Descartes am Akademischen Gymnasium vorstellte.8 Fabricius zählte Bentley zu den großen Gelehrten seiner Zeit, und Bentleys theologisch-naturwissenschaftliches Engagement innerhalb der »Boyle Lectures« blieb ihm nicht verborgen. Er nahm es interessiert zur Kenntnis und engagierte sich seinerseits auf dem Feld der Physikotheologie. Anfänge physikotheologischer Argumentation finden sich in Fabricius’ »Delectus argumentorum«9 von 1725, wo er die Beobachtung der zweckmäßigen Einrichtung der Welt im siebten Kapitel als Mittel gegen den Atheismus empfiehlt. Er verweist auf Seneca und Paulus, die auf je eigene Art den Weg der Physikotheologie gewiesen haben und der Theologie als Vorbild dienen können.10 1728 folgten mehrere Übersetzungen, zum einen von François de Salignac de la Mothe Fénelons »Demonstration de l’existence de Dieu tirée de la connaissance de la nature« und zum 6 Vgl. William Derham, Astro-Theology Or a Demonstration of the Being and Attributes of God, from a Survey of the Heavens, London 1731. 7 Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf Erik Petersen, Johann Albert Fabricius en Humanist i Europa, 2 Bde., Kopenhagen 1998. In deutscher Sprache bietet Ralph Häfner, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736), Tübingen 2003, zahlreiche Informationen und Hintergründe zum Thema, die zusammengefasst in dem Aufsatz vorliegen: Ralph Häfner, Literaturgeschichte und Physikotheologie: Johann Albert Fabricius, in: Johann Anselm Steiger (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 34–57. 8 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 654–688, besonders S. 656 und S. 665–668. 9 Vgl. Johann Albert Fabricius, Delectus argumentorum et Syllabus Scriptorum qui veritatem religionis Christianae adversus atheos, deistas seu naturalistas, idolatras, Iudaeos et Muhamedanos lucubrationibus suis asseruerunt, Hamburg 1725. 10 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 709–715.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
anderen von William Derhams »Astro-Theology«, zu der Fabricius ein lobendes Vorwort beitrug.11 1734 erfolgte dann Fabricius’ eigener Beitrag zur Physikotheologie, die »Hydrotheologie«12, die in drei Büchern zunächst die physikalische Beschaffenheit des Wassers bietet, dann philologisch aus der Literaturgeschichte einschließlich der Bibel belegt die geographische Verbreitung des Wassers auf der Erdoberfläche und schließlich die Bewegung des Wassers, besonders die Gezeiten. Weitere sieben Bücher zur Hydrotheologie waren geplant, ebenso wie ein Werk zur »Pyrotheologie« und zur »Aerotheologie«.13 Fabricius förderte die Physikotheologie in Deutschland, schrieb Vorreden für physikotheologische Werke anderer Theologen und verbreitete die Physikotheologie auch in Hamburg am Akademischen Gymnasium, wo Barthold Heinrich Brockes, von Fabricius’ Begeisterung mitgerissen, die Physikotheologie in die deutsche Dichtung einführte, zusammen mit Daniel Wilhelm Triller, Albrecht Jacob Zell und vielen anderen.14 Mit Fabricius als »Anreger und geistige[m] Mittelpunkt« wurde Hamburg das »Zentrum der deutschen physikotheologischen Bewegung«15. Der von den »Boyle Lectures« ausstrahlende Optimismus, Theologie und neue, experimentelle Naturwissenschaft seien keine gegensätzlichen, sondern vielmehr sich gegenseitig ergänzende und fördernde Größen, wurde hier freudig aufgenommen. Allerdings wird man dem Selbstverständnis der Physikotheologen nicht gerecht, wenn man sie einseitig als Profiteure der an Bedeutung gewinnenden Naturwissenschaften betrachtet, die durch ihre Arbeiten alltägliche Naturerfahrungen lediglich theologisch zu deuten beabsichtigten. Fabricius zumindest verstand seine physikotheologische Arbeit als einen eigenständigen Beitrag zur Weiterentwicklung der nach seinem Empfinden allzu langsam fortschreitenden Naturwissenschaft.16 Tatsächlich wird man seiner »Hydrotheologie« nicht absprechen können, dass sie ein ebenso literaturhistorisch beladenes wie physikalisch hoch aktuelles naturwissenschaftliches Kompendium über das Wasser ist, das auf dem deutschen Buchmarkt des Jahres 1734 seinesgleichen sucht. Freilich kommen die physikotheologischen Werke nach den großen universalen Werken Bentleys und Derhams ohne eine thematische Spezialisierung nicht mehr aus. Schon Fabricius beschränkt sich auf konkrete Gegenstände wie Wasser, Feuer oder Luft. Wer physikotheologisch arbeiten wollte, der musste sich ein Spezialgebiet suchen, 11
Ebd., S. 709 und 728 ff. Vgl. Johann Albert Fabricius, Hydrotheologie Oder Versuch, durch aufmerksame Betrachtung der Eigenschaften, reichen Austheilung und Bewegung Der Wasser, die Menschen zur Liebe und Bewunderung Ihres Gütigsten, Weisesten, Mächtigsten Schöpfers zu ermuntern, Hamburg 1734. 13 Vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 691 f. 14 Ebd., S. 693. 15 So die euphorische Beschreibung bei Wolfgang Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, S. 33. 16 So beschreibt Reimarus in Erinnerung an Gespräche mit Fabricius dessen Sicht der naturwissenschaftlichen Entwicklung, vgl. Erik Petersen, Johann Albert Fabricius, Bd. 2, S. 705 f. 12
3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten«
205
auf dem er die physikotheologische Argumentation entwickeln konnte, musste den aktuellen Forschungsstand literaturgeschichtlich erarbeiten, möglicherweise eigene Beobachtungen beitragen und kam allein dadurch gar nicht umhin, ein auch naturwissenschaftlich relevantes Buch zu schreiben. Auch wäre es verfehlt, die neue, experimentelle Naturwissenschaft vorschnell in Gegensatz zu einer älteren, barocken Wissenschaft zu setzen, die innerhalb der inventio überproportionales Gewicht auf die literaturgeschichtliche Erschließung historischen Erfahrungswissens zum Thema legt. Mindestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts liefen historisches Sammeln und eigenes Experimentieren noch nebeneinander, und es dauerte lange, bis Experiment und Beobachtung die einzigen Erfahrungsquellen innerhalb der Naturwissenschaft wurden.17 Die Physikotheologie argumentiert theologisch, leidet besonders bei Fabricius an literaturgeschichtlicher Überfrachtung, steht damit aber in keinem grundsätzlichen Gegensatz zur experimentellen Naturwissenschaft Newtonscher Prägung. Vielmehr setzt die apologetische Verschränkung von Theologie und neuer, experimenteller Naturwissenschaft, wie sie in den »Boyle-Lectures« beispielhaft betrieben wird, eine durchaus produktive wissenschaftliche Literaturgattung aus sich heraus, deren wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung nicht vorschnell geleugnet werden sollte. Die Blüte der Physikotheologie kündigte sich in Hamburg an, als Reimarus dort das Akademische Gymnasium besuchte und Fabricius die Werke Bentleys in seinen Vorlesungen zu loben begann. Bei ihm lernte Reimarus die Begeisterung für das physikotheologische Arbeiten, das er bis ins hohe Alter betrieb und in eigenen physikotheologischen Werken auf hohem Niveau umsetzte.
3.1.2 Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten« Reimarus’ Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten« sind durch die erhaltenen Materialien schlecht dokumentiert verglichen mit den umfangreichen Beständen zur Entwicklung der »Apologie«. Zwei Entwicklungslinien lassen sich unterscheiden, die in den »Vornehmsten Wahrheiten« zusammenlaufen. Eine Linie der physikotheologischen Beobachtung von Tiertrieben führt von dem Wismarer Schulprogramm »Instinctum Brutorum« von 1725 über langjährige, nicht mehr genau rekonstruierbare ethologische Forschungen zur vierten und fünften Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« und darüber hinaus zu den separat publizierten »Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere«. Eine andere, religionsphilosophische Linie führt von drei fragmentarisch erhaltenen Vorstufen der »Vornehmsten Wahrheiten« zur ersten bis vierten, achten und 17 Zur Disqualifizierung der Geschichte innerhalb der ausgehenden Barockwissenschaft vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. 288–292 und 297–299.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
neunten Abhandlung der Endfassung. Die Zusammenführung der beiden Linien in einem populärphilosophischen Gesamtwerk dürfte Reimarus nicht schwer gefallen sein. Inhaltlich beschreiben sie zwei Seiten ein und desselben theologischphilosophischen Zusammenhangs und dienen sich gegenseitig als Begründung. Die Schulrede »Instinctum Brutorum«18 hielt Reimarus in seiner Zeit als Rektor des Lyzeums in Wismar als ein »Programm, durch das zugleich zu den feierlichen Vorträgen über die Überlegenheit des menschlichen Körpers über den Körper der Tiere auf Grund des Petersenschen Legats am 1. November 1725 die hochzuverehrenden Gönner aller Stände offiziell eingeladen werden«19. Das Programm eröffnet eine Reihe von öffentlichen lateinischen Vorträgen, die »besonders ausgezeichnete Schüler«20 zu Übungszwecken über das von Reimarus vorangestellte Thema halten sollten. Durch seine Rede führt Reimarus in das Thema ein. Er verweist auf das zweite Buch aus Ciceros Schrift »De natura deorum«, in dem der Stoiker Balbus den zweckmäßigen Körperbau der Tiere als einen Beweis der Vorsehung lobt, und fordert, man müsse besonders das Triebverhalten der Tiere beobachten und »zum Beweis der Natur des höchsten Schöpfers und seiner Vortrefflichkeit verwenden.«21 Zur Frage des Ursprungs des tierischen Triebverhaltens stellt Reimarus zwei jeweils unbefriedigende Möglichkeiten der Beantwortung zur Wahl. Die Triebe können entweder durch ein den Tieren eigenes Vernunftvermögen erdacht oder durch »Erziehung, Unterricht oder Beispiel«22 erlernt sein. Beides lehnt Reimarus ab und kommt zu dem Schluss, dass das Triebverhalten eine »natürliche Verhaltenseigentümlichkeit«23 sein muss, deren Ursache allein der höchst gütige und weise Gott sein kann.24 Eigene Beobachtungen trägt Reimarus nicht bei. Er verweist auf antike Werke zur Naturgeschichte, namentlich Aristoteles’ und Plinius’ des Älteren, auch Horaz und Lukrez werden herangezogen. Ein entsprechendes Verfahren dürfte auch den besonders ausgezeichneten Schülern in ihren nachfolgenden Vorträgen aufgetragen gewesen sein, deren Zweck es war, die Beherrschung der lateinischen Sprache und die Kenntnis der antiken Literatur zur Schau zu stellen. 18 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Instinctum Brutorum Existentis Dei Ejusdemque Sapientissimi Indicem. Programmate quo simul AD ORATIONES SOLEMNES De Praestantia corporis humani prae corpore brutorum. Ex LEGATO PETERSENIANO ad d. 1. November: A. MDCCXXV . habendas O.O. Summe Colendi Patroni officiosissime invitantur sistit. M. Hermannus Samuel Reimarus Lyc. Wism. Rect., Wismar 1725. Der Text mit einer deutschen Übersetzung von Michael Emsbach findet sich in Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich ihre Kunsttriebe, hg. von Jürgen von Kempski, Bd. 2, Göttingen 1982, S. 757–780. 19 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Instinctum Brutorum, S. 757. 20 Ebd., S. 779. 21 Ebd., S. 759. 22 Ebd., S. 773. 23 Ebd., S. 775. 24 Ebd., S. 777.
3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten«
207
In welchem Maße Reimarus seit dem Programm von 1725 eigene Beobachtungen zu den Tiertrieben gemacht hat, ist schwer zu rekonstruieren. Über regelrechte zoologische Laboratorien verfügte der Reimarushaushalt nicht. Auch ist nicht bekannt, dass Reimarus Exkursionen durchführte, innerhalb derer er sich als Feldforscher mit dem tierischen Triebverhalten beschäftigte. Lediglich das physikotheologische Interesse am eigenen Garten, das Reimarus mit Barthold Heinrich Brockes teilte, weist auf ein gewisses praktisches Engagement biologischer Art.25 Auch wenn einige Passagen der »Vornehmsten Wahrheiten« und besonders der »Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere« auf eigene ethologische Beobachtungen schließen lassen, scheint sich Reimarus’ jahrzehntelange Arbeit über die Tiertriebe doch weitgehend als eine Literaturarbeit vollzogen zu haben. Zwar tritt an die Stelle der antiken Werke Aristoteles’ und Plinius’ des Älteren neuere biologische Literatur, in der das Verhalten selbst exotischer Lebewesen beschrieben wird. Reimarus’ hauptsächliche Leistung besteht aber im Sammeln und Systematisieren bereits vorhandenen ethologischen Wissens. Der Ethologe Reimarus ist ein Schreibtischtäter, der über Jahrzehnte hin gewissenhaft Literatur auswertet, die Feldforschung aber anderen überlässt. Was die zweite, religionsphilosophische Entwicklungslinie angeht, die mit den drei fragmentarisch erhaltenen Kapiteln zu den späteren »Vornehmsten Wahrheiten« beginnt, so betrachtet man sie in der Reimarusforschung gewöhnlich als Hinweis darauf, dass die Religionsphilosophie der »Vornehmsten Wahrheiten« ursprünglich eingebettet war in den Gesamtplan eines umfassenden Werks zu allen denjenigen Thematiken, die später differenziert auch in der »Vernunftlehre« und zum überwiegenden Teil in der »Apologie« entwickelt wurden. Die konkrete Einordnung der drei Kapitel in den frühen Gliederungsentwurf »Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes« fällt freilich schwer. Es erscheint grundsätzlich als plausibel, die drei Kapitel in den weiteren Kontext des ersten Buchs einordnen zu wollen.26 Die im Gliederungsentwurf vorgesehenen fünf Kapitel des ersten Buchs weisen aber auf bestimmte Inhalte, die innerhalb des ersten Buchs hätten verhandelt werden sollen, und stimmen mit den drei fragmentarisch erhaltenen Kapiteln zu den späteren »Vornehmsten Wahrheiten« inhaltlich nicht überein. Das erste Buch des Gliederungsentwurfs behandelt die Vernunft als 25 Vgl. Carl Mönckeberg, Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann, Hamburg 1867, S. 36–44, und David Friedrich Strauss, Barthold Heinrich Brockes und Hermann Samuel Reimarus, in: ders., Kleine Schriften biographischen, literar- und kunstgeschichtlichen Inhalts, 1862, S. 1–22. 26 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie, Göttingen 1979, S. 20, und Günter Gawlick, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. von Günter Gawlick, Göttingen 1985, S. 9–50, hier S. 30, nehmen die Zuordnung zum frühen Gliederungsentwurf der späteren »Apologie« vor, differenzieren aber nicht zwischen den drei unter der Signatur A 13 c archivierten Fragmenten. Lediglich die ersten beiden Fragmente der Signatur A 13 c passen in den Gliederungsentwurf hinein, vgl. hierzu oben das Kapitel 2.2.3.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Grundlage der vernünftigen Religion, die in ihren Vorzügen für den Menschen beschrieben und anschließend mit der zweifelhaften Offenbarung kontrastiert wird. Demgegenüber bieten die drei Kapitel zu den späteren »Vornehmsten Wahrheiten« Inhalte, die über den durch den Gliederungsentwurf abgesteckten Rahmen deutlich hinausgehen und, wenn überhaupt, eher als Teil einer das geplante erste Buch flankierenden, zusätzlichen religionsphilosophischen Schrift erscheinen. Das Problem der Zuordnung wird sich nicht befriedigend lösen lassen. Klar ist, dass der frühe Gliederungsentwurfs der späteren »Apologie« Thematiken behandelt, die in den »Vornehmsten Wahrheiten« wieder aufgegriffen werden. Die drei Vorstufen zu den »Vornehmsten Wahrheiten« müssen aber nicht notwendig aus den 1730er Jahren stammen. Sie könnten auch einen Entwicklungsstand des religionsphilosophischen Denkens Reimarus’ aus der langen Zeit zwischen der »Apologie« erster Fassung und der Druckfassung der »Vornehmsten Wahrheiten« repräsentieren. Die fragmentarisch erhaltene Folge der drei Kapitel setzt abrupt ein in einem ersten Kapitel »[Von den Verknüpfungen in der Welt]«27, in dem Reimarus zeigt, dass die durch mechanische Gesetze der Physik beschreibbare »Verknüpfung« oder Anordnung der materiellen Welt in sich selbst nicht notwendig ist, sondern vielmehr abhängig von einem selbständigen Wesen, das dem allgemeinen Sprachgebrauch nach Gott genannt wird und den zureichenden Grund der Welt in ihrer Verknüpfung bereithält.28 Nachdem Reimarus auf diese Weise kosmologisch einen Begriff Gottes erschlossen hat, geht er im zweiten Kapitel »[Von den göttlichen Eigenschaften]« von dem gewonnenen Begriff Gottes als selbständiges Wesen aus und deduziert aus diesem ausführlich die Eigenschaften Gottes, nämlich der Gott allein, nicht aber der Welt vorbehaltenen Ewigkeit und Unendlichkeit, der Unveränderlichkeit, Einzigkeit, Macht, Weisheit und Güte.29 Indem Reimarus innerhalb der Deduktion der göttlichen Eigenschaften dem unendlichen und schrankenlosen Wesen Gottes die stets beschränkte und durch ihre unterschiedlichen Beschränkungen zur Mannigfaltigkeit bestimmte geschaffene Welt gegenüberstellt, gewinnt er zugleich die Möglichkeit, die zuerst apriorisch aus dem Begriff Gottes entwickelte Argumentation schöpfungstheologisch zu wenden und auch aposteriorisch aus der Erfahrung der Welt die zuvor aus dem Begriff deduzierten Eigenschaften Gottes zu erschließen: Weil die Weißheit Gottes das Vollkommenste einsiehet, die Güte das beste will, und die Allmacht solches zur Würcklichkeit bringet, so muß hauptsächlich in diesen dreyen Eigenschaften der Grund der gegenwärtigen Welt enthalten seyn; und wenn wir anders diese 27 Die Kapitelüberschriften gehen zurück auf Wilhelm Schmidt-Biggemanns Ausgabe (Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 521–558). 28 Ebd., S. 521–530. 29 Ebd., S. 532–547.
3.1 Auf dem Weg zu den »Vornehmsten Wahrheiten«
209
Eigenschaften aus deutlichen Begriffen vernünftig zu [sic!] richtig von Gott geschlossen haben, so wird sich auch der Beweiß davon in der That in dieser Welt allenthalten [sic!] befinden.30
Damit ist der Weg für die physikotheologische Erschließung göttlicher Eigenschaften aus der Erfahrung der Welt geebnet. Im Verhältnis zur vorangestellten apriorischen Argumentation aus dem Begriff Gottes fällt die aposteriorische Argumentation innerhalb des zweiten Kapitels freilich sehr kurz aus. Reimarus verweist auf die ordentliche Anlage der Planetenbahnen und leitet dann über zum dritten Kapitel »[Von dem Bösen in der Welt]«, das es als einen Grund möglichen Zweifels gegen die zuvor entwickelte Gotteslehre zu diskutieren gilt. Die ca. fünf Seiten, die zu dem Kapitel erhalten sind, lassen erkennen, dass Reimarus das Problem des Bösen in der Welt nach dem Vorbild der Leibnizschen Theodizee angeht. In der Endlichkeit und Beschränktheit der geschaffenen Welt ist die Einschränkung ihrer Vollkommenheit mitgesetzt. Die Geschöpfe erreichen je unterschiedliche Grade der Vollkommenheit und sind eingebunden in die Verknüpfung der Welt insgesamt, innerhalb derer ihnen nicht mehr Vollkommenheit hätte zugeteilt werden können. Der Mensch, der sich einen höheren Grad der Vollkommenheit wünscht, gerät in ein selbstwidersprüchliches Denken, denn er müsste sich wünschen, ein anderer Mensch zu sein, als er es de facto ist, in seinem Wunsch folglich die eigene Identität aufgeben und die gute Ordnung der Welt stören.31 Wie Reimarus die Theodizee an dieser Stelle weiter auszuführen beabsichtigte, wissen wir nicht. Festzuhalten ist, dass der Zusammenhang der drei fragmentarisch erhaltenen Kapitel eine deutlich rationalistische Argumentation vorlegt, in der die apriorische Argumentation aus dem Begriff die aposteriorische Argumentation aus der Welterfahrung klar überwiegt. Deutlich ist auch, dass Leibniz’ Theodizee den Mittelpunkt der Argumentation bildet, deren Gotteslehre Reimarus in der Weise mit der Schöpfungslehre verschränkt, dass die physikotheologische Beobachtung von Schöpfungsabsichten in ihr einen bevorzugten Platz einnehmen kann, den Reimarus in den drei erhaltenen Kapiteln freilich noch wenig ausfüllt. Die drei Kapitel zu den späteren »Vornehmsten Wahrheiten« dokumentieren Reimarus’ eindeutige Orientierung an der rationalistischen Gotteslehre Leibniz’ zumindest während der 1730er Jahre, die sich in abgeschwächter Form bis zur Druckfassung der »Vornehmsten Wahrheiten« durchhält. In einem Brief an Johann Georg Büsch aus den 1750er Jahren antwortet Reimarus auf die Frage, welche philosophischen Lehrer er empfehle: »Lesen Sie die Bücher, denen ich fast alles in der Philosophie zu danken habe, nemlich Leibnizens Theodicee und Pufendorfs Natur und Völkerrecht«32. Auf das Leibnizsche Erbe in der Reli30
Ebd., S. 548. Ebd., S. 553–558. 32 Aus: Johann Georg Büsch, Erfahrungen, Bd. 4: Über den Gang meines Geistes und meiner Thätigkeit, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 15, Wien 1817, S. 224, zitiert nach Wilhelm 31
210
3 Das Religionsphilosophische Werk
gionsphilosophie der »Vornehmsten Wahrheiten« gilt es an späterer Stelle zurückzukommen.33 Es tritt an verschiedenen Stellen der »Vornehmsten Wahrheiten« zu Tage als das rationaltheologische Gerüst, an dem die ansonsten »auf eine begreifliche Art« argumentierende Rettung der Religion aufgehängt ist.
3.2 Die »Vornehmsten Wahrheiten«: Inhaltszusammenfassung und Fortsetzung in den »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere« Den Grund für die Publikation seiner religionsphilosophischen Hauptschrift »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet« gibt Reimarus zu Beginn seiner »Vorrede« an. Es geht ihm darum, diejenigen Grundwahrheiten der Religion, die ihm selbst jederzeit als Beruhigung dienten, zum allgemeinen Nutzen geordnet und in »faßliche[r] Weise« zur Darstellung zu bringen (II ).34 Reimarus verweist auf das Umsichgreifen atheistischer und religionsspöttischer Literatur besonders aus Frankreich, die eine Absicherung der christlichen Offenbarungswahrheiten durch die Grundwahrheiten der natürlichen Religion nötiger macht als je zuvor. Denn die christliche Offenbarungswahrheit wird besonders dort angreifbar, wo ihre in der natürlichen Religion begründeten Prämissen angezweifelt werden. Möglichkeitsgrund eines Glaubens an die Offenbarung ist der Glaube, dass ein Gott sei, der Möglichkeitsgrund eines Gehorsams göttlichen Geboten gegenüber das Wissen von Gottes Eigenschaften und Vorsehung, der einer Hoffnung auf jenseitige Seligkeit und Belohnung das Wissen um eine unsterbliche, immaterielle Seele (II –III ). Reimarus führt mehrere Gründe an, warum die Grundwahrheiten der Religion abgelehnt werden: die »Vornehmern« verfügen lediglich über eine oberflächliche Bildung und geben sich dem Atheismus und der ausschweifenden Lebensart als einer Mode hin (IV und VI ). Aberglaube und falsches theologisches Lehren von Gott und dessen Vorsehung innerhalb der Kirche verdirbt das Ansehen der Religion insgesamt (V ). Auch der schleichende, nicht öffentlich geäußerte Zweifel gläubiger Christen erscheint Reimarus als eine Gefahr für die Religion (VII ). Um die Grundwahrheiten der Religion zu sichern, schlägt er den Weg einer vernünftigen Erschließung vor. Denn jeder Erfahrung, sei es der übernatürlichen Offenbarung oder der natürlichen Sinneswahrnehmung, liegt das natürliche menschliche Urteilsvermögen voraus, durch das der Mensch ErSchmidt-Biggemann, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 9–65, hier S. 45. 33 Siehe unten Kapitel 3.5.1. 34 Die Angabe der Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die Ausgabe VW I u. II von 1985. Die Vorrede ist nicht paginiert.
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fahrungen allererst verarbeitet (VII –VIII ). Das vernünftige Urteilen muss daher das Erste in aller Betrachtung der Religion sein und kann nicht durch einen unmittelbaren Offenbarungsglauben übergangen werden. In der vernünftigen Erschließung der Religion lehnt Reimarus freilich den Weg »metaphysische[r] Demonstrationen aus der höheren Weltweisheit«, die mit »abgesonderten Begriffen« und »weitgeholte[n] und verkettete[n] Vernunftschlüsse[n]« argumentiert, ab. Um die Allgemeinverständlichkeit seiner Darstellung zu sichern, bietet er leichter nachvollziehbare »Gründe der gesunden Vernunft« (VIII –IX ). Auch kündigt er an, auf eine schönende Sprache verzichten zu wollen. Reimarus nimmt vielmehr an, dass die Religion an sich ihrem Inhalt nach so schön ist, dass ihre Schönheit sprachlich nicht mehr gesteigert werden muss (X –XII ). Die ersten drei der insgesamt zehn Abhandlungen über »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« widmet Reimarus der Widerlegung des Atheismus, dessen Grundlehren er zu Beginn der ersten Abhandlung »Vom Ursprunge der Menschen und Thiere« mit den Grundlehren der natürlichen Religion kontrastiert. Der Glaube an Gott »als das erste, selbständige, nothwendige und ewige Wesen, welches die Welt, nebst allem, was darinn ist, durch seine Weisheit, Güte und Macht geschaffen hat, und beständig erhält und regieret«, wird von den Atheisten abgelehnt ebenso wie die besondere göttliche Vorsehung für den Menschen, den Gott über den Tod hinaus »zu einer höheren und unaufhörlich wachsenden Vollkommenheit und Glückseligkeit bestimmt hat« (1 f.). Um aufweisen zu können, an welchem philosophischen Grundgedanken sich die Wege atheistischer und religiöser Argumentation trennen, erschließt Reimarus zunächst den Begriff der materiellen Welt, deren Existenz er gegen mögliche Einwände der »Idealisten« verteidigt, und den Begriff eines »schlechterdings Nothwendige[n]«, das die alltäglich erfahrbare Bestimmtheit alles Wirklichen in der Welt einfordert (3). »Wenn etwas wirklich ist, das einen Anfang gehabt hat und entstanden ist«, konkretisiert Reimarus den in den beiden vorangestellten Begriffsbestimmungen angelegten Gedanken, »so muss es ursprünglich von dem selbständigen, nothwendigen, ewigen Wesen entstanden seyn.« Denn die materielle Welt selbst hält den »ursprünglichen Grund entstandener Dinge« nicht in sich, so dass alles Wirkliche der Welt hinsichtlich seines Anfangs auf ein von der Welt unterschiedenes Notwendiges verweist (4 f.). Ein Grundanliegen der religiösen Argumentation ist also der Nachweis eines Anfangs alles Wirklichen in der Welt, den Reimarus exemplarisch bei den Menschen und Tieren führt. Den Ausgangspunkt bildet hierbei das Faktum der Sterblichkeit aller Menschen, die in der Vergangenheit lebten, aus dem die Endlichkeit aller Menschen ersichtlich ist (5–7). Vom Ende des menschlichen Lebens nun schließt Reimarus auf dessen Anfang, da es unmöglich wäre zu behaupten, »daß etwas, welches ein Ende hat, ohne Anfang seyn könne« (7). Waren alle Menschen der Vergangenheit je für sich wiederum bestimmt durch einen Anfang, so müssen sich die Anfänge ihres Lebens auf eine jeweilige wirkende Ursache zurückführen lassen, so dass
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sich eine Verkettung wirkender Ursachen ergibt, die im Anfang des Menschengeschlechts insgesamt auf eine erste wirkende Ursache verweist. Dasselbe gilt von den Tieren, die, ehe sie sich von Generation zu Generation selbst erzeugten, eine erste wirkende Ursache ihrer jeweiligen Art erfordern (8 f.). Von hier ausgehend diskutiert Reimarus verschiedene Versuche, die Plausibilität dieses Schlusses von der Anfänglichkeit allen Lebens auf ein schlechterdings Notwendiges als erste wirkende Ursache zu beschädigen. Das erste ist hierbei der Rekurs auf einen mathematischen Unendlichkeitsbegriff, dessen Gültigkeit Reimarus auf dem Gebiet der praktischen Rechenkunst anerkennt, nicht aber auf dem Gebiet der philosophischen Letztbegründung von Wirklichkeit (9–18). Denn weder erreicht der mathematische Unendlichkeitsbegriff die Qualität des philosophischen, der Unendlichkeit als das fasst, »dem nichts in seiner Art weiter kann hinzugefüget werden« (19), noch ist es legitim, den Gedanken eines zukünftigen, bloß potentiellen Fortgangs ins Unendliche zu übertragen auf die Wirklichkeit einer in der Vergangenheit liegenden unendlichen Verkettung von tatsächlichen Ereignissen (19–25). Einen Versuch, diesen falschen philosophischen Grundgedanken praktisch auf dem Feld der Geschichte umzusetzen, findet Reimarus bei dem französischen Historiker Jean Frédéric Bernard, der die These einer Unendlichkeit des menschlichen Geschlechts aus historischen Quellen zu plausibilisieren versucht. Gegen Bernard zeigt Reimarus, dass sich gerade aus der Geschichte die These eines Anfangs des Menschengeschlechts viel eher bestätigen lässt. Immer wieder versuchten Völker, ihren eigenen Ursprung zu ergründen (26–34). Die historische Entwicklung der Bevölkerungszahlen verweist auf eine Frühzeit der Menschheit, in der es nur sehr wenige Menschen gab, so dass es naheliegt, von hier aus auf einen Anfang des Menschengeschlechts zu schließen (34–58). Die Verwandtschaft und Geschichte der menschlichen Sprachen, die Entwicklung von Wissenschaften und Künsten weist in dieselbe Richtung (58–67). Zuletzt wendet sich Reimarus gegen die verschiedenen Formen des Katastrophismus, demzufolge die Entwicklung der Menschheitsgeschichte immer wieder von gewaltigen Naturkatstrophen wie Kometeneinschlägen, Fluten und ähnlichem unterbrochen und zu einem Nullpunkt geführt wurde. Im Rahmen solcher Theorien wäre es zwar möglich unbeschadet der offenkundigen Entwicklung der Menschheitsgeschichte von einem Anfangspunkt aus, die Ewigkeit der Welt und des auf ihr lebenden Menschengeschlechts zu behaupten. Reimarus hält diese Theorien aber für zu schwach begründet, da sie genaue Kenntnisse über höchst seltene Naturphänomene in Anspruch nehmen, die seitens der Naturforschung noch gar nicht erschlossen wurden (67–81). Zu Beginn der zweiten Abhandlung »Daß Menschen und Thiere ihren Ursprung nicht von der Welt oder der Natur haben« gesteht Reimarus zu, dass die Behauptung einer Ewigkeit der Welt und des Menschengeschlechts seltener behauptet wird als die Ewigkeit allein der Welt, die dann zugleich als der erste Ursprung des menschlichen Lebens angenommen wird. Reimarus verweist auf La
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Mettrie, der anknüpfend an antike epikureische Traditionen eine Geburt des Lebens aus der an sich toten Materie lehrt und so die Natur zum »Abgotte« erhebt (82–84). Eine spontane Generation des Lebens, sei dieses tierisch oder pflanzlich, lehnt Reimarus ab und widerlegt ausführlich alle neueren biologischen Argumente für eine spontane Generation (84–129). Ein besonderes Problem stellen hierbei Buffons und Needhams mikroskopischen Beobachtungen über Kleinstlebewesen in Tier- und Pflanzensäften dar, deren Entstehen nicht klar in Analogie zu den Vorgängen im zoologischen Makrokosmos erklärt werden kann. Reimarus nimmt an, dass sich die These einer spontanen Generation hier dem fehlerhaften Einsatz mangelhafter Mikroskope verdankt, und verweist auf andere Autoren, die Buffons und Needhams Beobachtungen bestreiten (88–112). Als ein weiteres wichtiges Argument gegen die spontane Generation führt Reimarus die Wahrscheinlichkeitsabwägung an. Denn innerhalb der Theorie einer spontanen Generation müsste die Entstehung des geordneten Lebens als ein zufälliges Zusammentreffen unzähliger materieller Bausteine in der hoch komplexen Gestalt eines Lebewesens erklärt werden. Ein solches zufälliges Zusammentreffen erscheint Reimarus als höchst unwahrscheinlich (112–117). Auch müssten sämtliche in dem späteren Tierkörper befindlichen Bausteine bereits im Schlamm toter Materie, aus dem allein die spontane Generation erfolgen soll, vorhanden sein (119 f.). Scheidet aber der Zufall als Ordnungsprinzip aus, so müsste allein das wärmende Sonnenlicht die zweckmäßige Anordnung der materiellen Bausteine bewirken, was nicht vorstellbar ist (120–127). Zuletzt entkräftet Reimarus die These, von Ewigkeit in der Materie befindliche Sameneier verursachten das spontane Auftreten von Lebewesen, was auf eine Erneuerung der These von der Ewigkeit des Lebens hinausläuft. Diese Theorie kann nicht erklären, warum die Sameneier nur zu einer bestimmten Zeit Frucht brachten, wer sie befruchtete und warum man die Geburt des Lebens aus Sameneiern nicht gegenwärtig beobachten kann (127–129). Aus alledem schließt Reimarus, dass der Ursprung des Lebens auf natürliche Weise nicht erklärt werden kann. Mindestens im Blick auf die ersten Paare der Menschen und jeweiliger Tierarten muss man anstatt der Natur eine höhere Wirkursache annehmen. Auf diese Weise findet der Mensch in der Beobachtung seiner selbst und anderer Lebewesen das »Merkmaal« eines von der Welt unterschiedenen »ersten selbständigen Wesen[s]« oder »Schöpfer aller Dinge« (130–133). In der dritten Abhandlung weist Reimarus nach, »Daß die körperliche Welt an sich leblos: und daher keiner innern Vollkommenheit fähig sey: folglich auch nicht selbständig, ewig, nothwendig; sondern von einem andern, um eines andern willen, hervorgebracht seyn müsse« (133–135). Eine Betrachtung der materiellen Welt an sich ohne das tierische Leben hält Reimarus angesichts des vorausgegangenen Nachweises eines Anfangs allen Lebens für legitim. Gab es eine Zeit, da es noch kein Leben in der Welt gab, so darf die materielle Welt an sich in dieser ihrer ursprünglichen Gestalt betrachtet werden (135 f.). Gegen die
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antike These einer lebendigen Weltseele, die die Materie ordnet, setzt Reimarus hierbei allerdings als unstrittig voraus, dass die Materie an sich leblos ist, und baut auf diesen Grundsatz seine weitere Argumentation zunächst für die innere Unvollkommenheit der materiellen Welt auf (137–140). Denn den Begriff der Vollkommenheit bestimmt Reimarus in dreifacher Weise, nämlich in metaphysischer Hinsicht als die widerspruchsfreie Übereinstimmung eines jeweiligen möglichen Dings mit seinem allgemeinen Begriff, in moralischer Hinsicht als die Übereinstimmung einer freien Handlung mit ihrem Zweck und in physischer Hinsicht als die Übereinstimmung eines jeweiligen wirklichen Dings mit einem »äußersten oder letzten Ziele« (141–144). Im Blick auf die Welt kann also nur nach einer physischen Vollkommenheit gefragt werden, die Reimarus wiederum differenziert als eine innere oder äußere, je nachdem, ob das letzte Ziel, mit dem das wirkliche Ding übereinstimmt, innerhalb desselben Dings, hier also der Welt, liegt oder außerhalb (144–148). Eine innere Vollkommenheit spricht Reimarus der materiellen Welt ab. Die Welt erscheint dem Menschen zwar als zweckmäßig und auf ein bestimmtes Ziel hin eingerichtet. Dieses Ziel findet sich aber nicht in der materiellen Welt selbst, so dass ihr lediglich eine äußere physische Vollkommenheit zugesprochen werden kann (148–158). Ohne eine innere Vollkommenheit, so schließt Reimarus weiter, kann die Welt zugleich nicht aufgefasst werden als das »erste, selbständige Wesen«, sondern muss vielmehr als von diesem unterschieden werden als dessen Schöpfung (158 f.). Auf diese Weise kommt mit dem Nachweis der inneren Unvollkommenheit der Welt zugleich die These von der Ewigkeit der Welt zu Fall. Die Welt ist aus dem Nichts geschaffen, wobei das Nichts nicht als ein Etwas, sondern als ein »Mangel an Wirklichkeit« zu diskutieren ist (160–163). Auch die These einer Ewigkeit der Schöpfung Gottes, der Reimarus lange angehangen zu haben eingesteht, bietet der einer Schöpfung aus dem Nichts gegenüber keine Vorteile. Die These einer ewigen Schöpfung verschiebt den Anfang der Welt auf einen mathematischen Begriff des Unendlichen und liefert keinen zureichenden Grund für das Dasein der Welt (163–167). Ist die Welt aber von einem von ihr unterschiedenen ersten, selbständigen und ewigen Wesen erschaffen ohne eine innere Vollkommenheit, schließt Reimarus weiter, so muss das Ziel, von dem her der Welt eine äußere Vollkommenheit zukommt, in einem von der Welt unterschiedenen Anderen gesucht werden, das Reimarus in dem »Lebendigen« findet, um dessentwillen die an sich leblose Welt erschaffen wurde (167 f.). Er verweist auf die zweckmäßige Einrichtung »des großen Weltbaus« mit seinen Sphären, die physikalische Beschaffenheit der Erdkugel, deren Bewegung und Oberfläche, auf den Mond und die Planeten, um zu beweisen, dass die Welt vollkommen geschaffen ist um der Lebewesen willen, die in ihr leben (173–187). Von hier aus wendet sich Reimarus gegen Spinoza, der die Unterscheidung der Welt von ihrem Schöpfer und dem Grund ihrer äußeren Vollkommenheit nicht einhält. Spinozas Lehre von der einen Substanz und deren inneren Notwendigkeit, die als »ein ewiges, fatales, unbedingtes Muß« (192) den
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Weltlauf bestimmt, lehnt Reimarus ab (187–195). Ebenso wendet er sich gegen den Gebrauch eines Naturbegriffs, der die Summe aller in der Welt wirksamen Naturkräfte als Eines auszuweisen versucht und diesem unbedingte Notwendigkeit zuspricht (195–203). In der vierten Abhandlung »Von Gott und göttlichen Absichten in der Welt« zeigt Reimarus, wie in der Erfahrung der an sich leblosen materiellen Welt und des in ihr befindlichen Lebens der Rückschluss auf ein selbständiges, ewiges, notwendiges Wesen als erste Ursache mitgesetzt ist, das er nun explizit »mit dem Worte Gott« (207) bezeichnet. Das Dasein eines Schöpfergottes auf diese Weise voraussetzend unterscheidet Reimarus zwei Wege zur Erschließung der Eigenschaften Gottes, den einen über den verwendeten Begriff Gottes, den anderen über die Erfahrung seiner Schöpfungswerke, die die göttlichen Eigenschaften zu erkennen geben. Um die Eigenschaftslehre abzusichern, kombiniert Reimarus die beiden Argumentationswege miteinander (206 f.). Aus dem Begriff Gottes als des selbständigen, ewigen und notwendigen Wesens erschließt Reimarus zunächst die Attribute der Unveränderlichkeit, Unendlichkeit und Einzigkeit Gottes, um von diesen aus auf Gottes innere Vollkommenheit zu schließen (208–211). Den als Schöpfer der Welt von dieser unterschiedenen, unkörperlichen Gott erweist Reimarus zudem als durch Verstand, Willen, Lust und Glückseligkeit ausgestattet (211 f.). Von Gottes Schöpfung ausgehend schließt er auch auf eine Macht Gottes, die angesichts der zuvor erschlossenen Unendlichkeit Gottes als Allmacht gefasst werden muss. Ebenfalls die Weisheit und Güte erschließt Reimarus aus dem Begriff Gottes als Schöpfer. Aus einer gemäß der Größe seines Verstands unendlichen Zahl möglicher Dinge wählte Gott frei seinem Willen nach und in Übereinstimmung mit seinen Eigenschaften diejenigen aus, die er erschuf und gemäß seiner Vollkommenheit zum Wohl der Lebendigen absichtsvoll einrichtete, und erwies sich so im Gebrauch seines Verstands und Willens als überaus weise und gut (213–217). Von hier ausgehend zeigt Reimarus, wie die eben zuvor durch rationale Schlussfolgerung aus dem Begriff deduzierten Eigenschaften Gottes auch aus der Welterfahrung gewonnen und so bestätigt werden können (217–219). Den »gemeinschaftlichen Mittelpunkt[]« (219) der beiden Argumentationswege bilden die Absichten Gottes in der Schöpfung, deren rechter Beobachtung Reimarus den gesamten Rest der vierten Abhandlung widmet. Denn der bloße »Beweis von der Ordnung und Übereinstimmung der Dinge« (221) wird erst dann wertvoll, wenn man die beobachtete absichtsvolle Ordnung physikotheologisch auf einen »Werkmeister« (223) bezieht, der die Ordnung errichtete. Diese Möglichkeit eines Rückbezugs auf einen Werkmeister wiederum veranlasst die Atheisten, die an sich deutlich erkennbaren Absichten in der Welt grundsätzlich zu bestreiten, noch ehe sie auf Gott als Ursache rückbezogen wurden (223–230). Um die verbreitete Kritik an der physikotheologischen Beobachtung von Absichten in der Welt ausführlich diskutieren zu können, greift Reimarus auf naturphilosophische Schriften Maupertuis’ zurück, den Reimarus selbst freilich nicht zu den
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Atheisten zählt (230 f.). Maupertuis bestreitet den von Newton vorgetragenen Versuch, die Ordnung der Planeten auf eine absichtsvolle Wahl zurückzuführen (238–242), er verweist auf die Unähnlichkeit der Tierarten, um der These einer zufälligen Entwicklung der Tierarten aus unzähligen Missgeburten Vorschub zu leisten (242–244), verweigert unter allgemeinem Hinweis auf die wissenschaftliche Irrtumsfähigkeit des Menschen den weit ausgreifenden Schluss von der Beobachtung beschränkter Einzelphänomene auf allgemeine Schöpfungsabsichten, wodurch er die gesamte vor allem durch Derham repräsentierte Physikotheologie beschädigt (244–260), und gerät mit seiner Naturlehre letztlich in Theodizeekonflikte (260–270). Abschließend verteidigt Reimarus die der Physikotheologie zugrunde liegende Frage nach Endursachen gegen eine auf Descartes und Bacon zurückgehende Naturwissenschaft, die solches teleologisches Denken ablehnt und auf die Angabe zureichender Gründe des Beobachteten verzichtet (271–277). Denn die Frage nach Endursachen spiegelt nicht nur den subjektiven menschlichen Wunsch, die Welt willkürlich hinsichtlich ihres Nutzens für ihn selbst zu betrachten, sie führt vielmehr die Wirklichkeit und Beschaffenheit natürlicher Dinge auf objektive Absichten Gottes in seiner Schöpfung zurück (277–282). Auch erweist sich die Frage nach Endursachen innerhalb der Naturwissenschaft als nutzbringend. Zwar gesteht Reimarus zu, dass in dem Wissen um das Dass von Absichten in der Welt noch keine genaue Kenntnis des konkreten Wie mitgesetzt ist, er nennt aber mehrere Beispielfälle, in denen sich das allgemeine Wissen um die Absichten in der Erforschung des Einzelnen als hilfreich erwies (282–295). Ohne die Frage nach allgemeinen Absichten wüsste der Mensch zudem nichts von seiner eigenen Bestimmung als Geschöpf, könnte sich kein Bild eines Ganzen der Wissenschaften und ihres Gegenstands entwerfen, begriffe den inneren Zusammenhang der Natur nicht und fände in der Betrachtung der Natur keine »Nahrung und Beruhigung« (299) des Gemüts (295–300). In der fünften Abhandlung »Von den besondern Absichten Gottes in dem Thierreiche« fasst Reimarus den der folgenden Betrachtung zugrunde liegenden Schluss noch einmal in fünfzehn Punkten zusammen und hebt zwei Hauptanliegen der Physikotheologie hervor (300–303). Erstens geht es der physikotheologischen Beobachtung der Schöpfungsabsichten Gottes darum, die Vielfalt der tierischen Arten sowie die große Unterschiedlichkeit des Grades ihrer jeweiligen Vollkommenheit insgesamt als einen Spiegel der Vollkommenheit des unendlich weisen, guten und mächtigen Schöpfergottes verständlich zu machen. Denn die Tierarten, die vom Menschen als dem höchsten Lebewesen bis hinab zu den »Thierpflanzen« (306) je unterschiedliche Stufen der Vollkommenheit erreichen, bilden ein in sich übereinstimmendes Ganzes, »das des unendlichen Schöpfers würdig ist« (305) und dessen eigener unbeschränkter Vollkommenheit durchaus entspricht (306–310). Zweitens aber geht es der physikotheologischen Beobachtung der Schöpfungsabsichten Gottes darum, ebenso die selbst bei einfachsten, an sich unvernünftigen Tierarten auftretenden Triebverhalten als Spiegel der Ei-
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genschaften des unendlich vollkommenen Schöpfergottes zu betrachten (310– 319). Dass die der Zoologie bekannten 291 000 Tierarten an jeweils eigenen Orten der Erdkugel überleben können, verdanken sie ihrer je unterschiedlichen Ausstattung an körperlichen Beschaffenheiten und besonders den ihren Seelen »angeborene[n] und erbliche[n] Triebe[n], Fertigkeiten und Künste[n]« (323) der Bewegung, Ernährung, Jagd, Vorratshaltung, Orientierung, des Winterschlafs, Wohnungsbaus, der Kleidung, anschließenden Häutung, dem Tarn- und Fluchtverhalten, dem Sozialverhalten, das Tierarten eine »Republik« (326) bilden lässt, dem Balz- und Paarungsverhalten, dem Nestbau und der Aufzucht von Jungen (324–327). Die genannten Triebe der Tiere verlangen nach einer Erklärung, die die verbreitete mechanistische Theorie nicht zu geben vermag, die die Triebe der Tiere im materiellen Körperbau der Tiere angelegt sein lässt (327–331). Der Grund des tierischen Triebverhaltens ist vielmehr in der Seele der Tiere zu suchen. Hier wiederum schließt Reimarus aus, dass das Triebverhalten durch eine augenblickliche Schmerz- oder Lustempfindung der Tierseele stimuliert ist (331–336), dass es aus Erfahrung erlernt (336–338) oder aus der eigenen Vernunft der Tiere erdacht wurde (339–343), so dass schließlich als erste Ursache des tierischen Triebverhaltens allein der unendliche Verstand Gottes bleibt, der »mit Absicht, Weisheit, Güte und Vorsehung für jedes Thieres Erhaltung, Wohl und Glückseligkeit« (344) sorgt, ganz gleich welcher Stufe der Vollkommenheit das jeweilige Tier angehört und in welchem Maße es folglich durch eigene Verstandeskraft ausgestattet ist (343–346). Die Defizite einer mechanistischen Deutung der tierischen Triebe legt Reimarus am Beispiel der Buffonschen Erklärung des Verhaltens und des Zusammenwirkens der Bienen in ihrem Bienenstaat offen (346–360). Es folgen beispielhafte physikotheologische Betrachtungen einzelner tierischer Triebe der Fortbewegung (360–375), Ernährung (375–383), Vorratshaltung (383–385), Orientierung (385–388), Jagd (388–397), Beutewahl (397– 405), Flucht (405–409), Paarung und Fortpflanzung (409–427). In der sechsten Abhandlung »Von dem Menschen an sich, insonderheit nach der Seele betrachtet«, wehrt Reimarus einerseits eine anthropozentrische Betrachtung des Menschen ab, indem er betont, die Schöpfungsabsichten Gottes seien auf den Menschen bezogen nur, insofern dieser Teil eines Gesamtzusammenhangs verschiedenster Tierarten ist. Andererseits hebt er aber die Sonderstellung des Menschen vor den Tieren hervor, indem er auf eine allgemeine Fähigkeit des Menschen verweist, sich seiner selbst bewusst zu sein, von der ausgehend Reimarus die Psychologie entwickelt (430–432). Am Anfang steht hier aber nicht ein rationalistisches Konzept des Selbstbewusstseins, sondern zunächst ein sensualistisches, das das Ich des Menschen körperlich beschreibt ausgehend von dem Gefühl von Lust und Schmerz, anhand dessen man den eigenen Körper von der Außenwelt abgrenzt (433 f.). Den Überschritt von diesem körperlichen Ich des Menschen zu einem unkörperlichen, seelischen Ich erreicht Reimarus, indem er einerseits auf den ständigen materiellen Wandel des Körpers und andererseits
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auf die bleibende Identität des Ich sowie auf dessen Fähigkeit zur Erinnerung früherer Zustände hinweist. Das Ich kann nicht als körperlich beschrieben werden, weil ihm, dem körperlichen Wandel unterworfen, nicht diejenige Kontinuität zukäme, die das Ich auszeichnet (434–445). Auch wäre ein rein körperliches Ich nicht fähig, sowohl veränderlich hinsichtlich seiner Empfindungen, Gedanken, Neigungen und Begierden zu sein und zugleich unveränderlich als ein »fortdaurendes Wesen« (447–450). So kommt Reimarus zu dem Schluss, dass das zunächst über die sinnliche Empfindung des eigenen Körpers erschlossene menschliche Ich aufgefasst werden muss als ein einziges unkörperliches, fortdauerndes Wesen, Substanz oder Seele (450–464). Gegen La Mettries Anthropologie besteht Reimarus auf der klaren Unterscheidung zwischen materiellem Körper und immaterieller Seele. Zwar gesteht Reimarus zu, dass die Seele hinsichtlich ihrer leiblichen Empfindung in gewisser Weise vom Körper abhängt. Gegen eine rein materielle Anthropologie sprechen aber die zuvor vorgebrachten Argumente sowie die alltäglich gebräuchliche Unterscheidung zwischen körperlichem und geistigem Empfinden (464–479). Das Verhältnis des Körpers zur Seele beschreibt Reimarus als das eines Spiegels, in dem die Seele die Welt, den eigenen Körper in Unterscheidung von der Welt, sich selbst und schließlich auch in der Betrachtung der leblosen Welt in ihrer Einrichtung auf die Lebendigen hin Gott sowie dessen Eigenschaften erkennt (479–482). Zuletzt wendet sich Reimarus der Frage zu, wie angesichts der gewonnenen Unterscheidung das Zusammenspiel des aus unzähligen Einzelsubstanzen bestehenden Körpers mit der einen Seelensubstanz beschrieben werden kann. Als eine Möglichkeit, diese schwierige Frage zu beantworten, verweist Reimarus auf Leibniz’ Konzept einer prästabilierten Harmonie, verlässt dieses aber, indem er fordert, die gegenseitige Beeinflussung von Körper und Seele sei zu denken als eine »wirksame Vereinigung« (487) auf der Ebene feinmaterieller »Urstoffe« (489), durch deren je einzelne Beeinflussung die Seelensubstanz durch einen minimalen mechanischen Kraftaufwand die Bewegung des Körpers insgesamt steuert, gleich einem Steuermann, der durch eine geringfügige Bewegung des Steuerrads die Bewegung eines großen Schiffes bestimmt (484–491). In der siebten Abhandlung »Vergleichung der Menschen mit den Thieren, nach ihrer Lebensart, wozu sie bestimmt sind« entwickelt Reimarus in Auseinandersetzung mit Rousseaus Anthropologie eine Lehre vom Naturzustand des Menschen, die zwar ebenso wie die Rousseaus beginnt mit einem Vergleich der Menschen mit den Tieren, gegen Rousseau aber die Unterschiede zwischen Mensch und Tier im Naturzustand hervorhebt und die besonderen Vorzüge des Menschen betont. Den Menschen im Naturzustand betrachtet Rousseau als ein unvernünftiges Tier unter Tieren, das in der Nachahmung jeweiliger den Tieren angeborener Triebverhalten seinen primären Bedürfnissen nachkommt und darin seine Zufriedenheit findet (492–498). An dieser Lehre einer ursprünglichen tierischen Unvernunft des Menschen im Naturzustand setzt Reimarus mit seiner
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Kritik an, indem er zeigt, dass die von Rousseau behauptete Nachahmung tierischer Triebverhalten, der Gebrauch von Werkzeugen und auch die Wahlfreiheit im Handeln den von Rousseau konsequent bestrittenen Vernunftgebrauch des Menschen voraussetzen (498–503). Auch die aus dieser selbstwidersprüchlichen Lehre vom Naturzustand folgende Rousseausche Kritik an der durch Vernunftgebrauch ermöglichten kulturellen Entwicklung des Menschen innerhalb einer Gesellschaft lehnt Reimarus ab (504–511) und fordert gegen Rousseau eine Lehre vom Naturzustand des Menschen, die eine aus dem natürlichen Schutzbedürfnis des Menschen erwachsende »Geselligkeit« (512) sowie den Gebrauch der Vernunft, der sich stets sprachlich äußert, in den Vordergrund stellt (511–516). Ausgehend von einer Bestimmung der »Natur des Menschen« (516), die neben der leiblichen Beschaffenheit besonderes Gewicht auf die »Seelenkräfte[] […] [der] Vernunft, Freyheit und Perfectibilitet« (516) des Menschen legt, gelangt Reimarus zu einem »natürliche[n] Zustand des Menschen« (519), der sich zwar von einem »statu[s] civili[s]« (519) unterscheiden lässt, zu diesem aber in keinem Gegensatz steht. Denn vermittelt durch die Sprache tritt der Mensch von Kindheit an in vernünftigen Austausch mit seinen Mitmenschen und nimmt so an einem Prozess der Gesellschaftsbildung teil, der sich auf einer gewissen Stufe der zivilisatorischen Menschheitsentwicklung insgesamt durch den »Contractus Societatis civilis« (528) um der Wahrung menschlicher Rechte willen verfassen muss (519–530). Nach dieser Abgrenzung gegen Rousseau beginnt Reimarus seinen eigenen Vergleich von Mensch und Tier, in dem er zunächst zeigt, dass der Mensch zwar ebenso wie das Tier in der Erfüllung primärer leiblicher Bedürfnisse eine gewisse Lust empfinden kann und soll, dass er darin jedoch keine dauerhafte Zufriedenheit findet (530–534). Denn während das Tier seine Lebenslust sorglos und unmittelbar empfinden kann, gewinnt der Mensch seine Glückseligkeit erst durch die dauerhafte Betätigung der Vernunft innerhalb von Kulturen, durch Mäßigung und geselliges Beisammensein (534–541). Auch zwingt ihn das Vernunftvermögen, die Zukunft zu bedenken und für sie Sorge zu tragen (541–543). Alle diese Mängel des Menschen dem Tier gegenüber befähigen ihn zugleich aber zu einer Reihe umso größerer Vorzüge, die Reimarus am Schluss der Abhandlung auflistet. Denn da der Mensch gezwungen ist, seine Bedürfnisse unter Zuhilfenahme der Vernunft zu befriedigen, übt er zugleich den Gebrauch der Vernunft und genießt so auch die Vorzüge, die die Übung der Vernunft gewährt, nämlich den Fortschritt in Wissenschaft und Sittlichkeit sowie die Fähigkeit, unterschiedliche Genüsse mit größerer Feinsinnigkeit wahrzunehmen (544–549). Auch unterliegen die Felder geistiger Betätigung nicht den Beschränkungen des Leibes. Während der Leib »matt und stumpf« (551) wird, gewinnt der Geist in seiner Tätigkeit stets an Stärke (550–555). Als dritten Vorzug des Menschen nennt Reimarus die Erkenntnis der Schöpfungsabsichten Gottes in der Einrichtung der Welt, der Vollkommenheit anderer Menschen sowie der eigenen Vollkommenheit (555–560), um als vierten und letzten Vorzug die Perfektibilität des Menschen hinsichtlich des
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Verstands und Willens sowohl des Einzelnen wie auch des Menschengeschlechts insgesamt anzuführen (560–566). Abschließend hebt Reimarus hervor, dass seine Anthropologie die Bestimmung des Menschen durch eine ihm eigene Natur keineswegs verneint. Die Naturbestimmung des Menschen ist allerdings vermittelt durch die vernünftige Erkenntnis der göttlichen Absichten in der Natur, denen entsprechend der Mensch durch seine freie Willensentscheidung handeln kann, um so den Weg einer Vervollkommnung zu beschreiten, die den Menschen zugleich über die Spanne des eigenen Lebens hinaus verweist auf die Hoffnung eines »vollkommenern unvergänglichen Lebens« (574), das die göttliche Vorsehung für ihn bereithält (566–574). Die achte Abhandlung handelt daher »Von der göttlichen Vorsehung«, die Reimarus zunächst aus dem Begriff Gottes als Schöpfer sowie dessen Eigenschaften begründet. Die Lehre von der Vorsehung ergibt sich aus der Zusammenschau des vollkommenen göttlichen Vorauswissens des Weltlaufs mit seinem willentlichen Ratschluss, dem gemäß er die Welt zur Wirklichkeit brachte (574 f.). Der göttliche Ratschluss, die Welt zur Wirklichkeit zu bringen, kann sich angesichts seines vollkommenen Vorauswissens nicht anders als in einer kontinuierlichen Erhaltung der Welt äußern. Andernfalls müsste man annehmen, Gott habe, als er die Welt erschuf, nicht gewollt, was er wusste oder nicht gewusst, was er wollte. Auch wäre es nicht denkbar, der Welt nach der Schöpfung diejenige selbständige Begründung ihrer Wirklichkeit zuzusprechen, die sie im Augenblick der Schöpfung nicht besaß (575–577). Dieser Begründung der Vorsehung aus dem Begriff Gottes und seiner Eigenschaften stellt Reimarus eine alternative Begründung aus der Erfahrung der göttlichen Schöpfungsabsichten zur Seite. Erneut verweist er hier auf die besondere Bewegung und Beschaffenheit der Erdkugel (579–584) und auf die natürliche Ausstattung der Tiere, die dieser Beschaffenheit der Erde jeweils angepasst ist (584–587). Den Begriff der Vorsehung als ein besonderes Wirken Gottes innerhalb des Weltlaufs grenzt Reimarus ab von dem Begriff des Wunders als einer Durchbrechung des Naturgesetzes. Zwar ist die Vorsehung zu unterscheiden von anderen »natürlichen Wirkungen« innerhalb des Weltlaufs, sie bleibt aber stets gebunden an das allgemeine Naturgesetz und hebt dieses niemals auf (587 f.). Innerhalb der Natur ist die Vorsehung nur dort wirksam, »wo die Schranken der Natur, das ist, der Substanzen in der Welt und ihrer Kräfte, eine Abhängigkeit von einem unendlichen Wesen erfordern« (589), so dass die Welt von der göttlichen Vorsehung bestimmt wird, wie ein Staat, in dem ein Regent durch ein System untergebener Richter Recht spricht, ohne in jedem Einzelfall selbst präsent sein zu müssen und ohne den Rahmen einer allgemeinen Verfassung zu verletzen (590). Als Beispiele dieser besonderen Wirkung der Vorsehung auf der Ebene kleinster materieller Substanzen nennt Reimarus die notwendige Erstverursachung mechanischer Bewegungen (590–593), die allen Substanzen eigene Schwerkraft (593–595) und die Samenbildung im Tierreich, die sich allein durch die Wirkung einer »höhere[n] Kraft« (601) erklären lässt (595–601). Abschließend
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skizziert Reimarus die menschliche Hoffnung, die göttliche Vorsehung, die dem Menschen in der Bekanntgabe der Schöpfungsabsichten in der Welt den ihm bestimmten Weg einer unendlichen Vervollkommung gewiesen hat, halte dem Menschen zugleich über den Tod hinaus eine Zukunft bereit, in der solche Vervollkommnung auch wirklich werden kann (602–605). In der neunten Abhandlung »Worinn die Nichtigkeit der Zweifel gegen die göttliche Vorsehung gezeiget wird« diskutiert Reimarus eine Reihe von Einwürfen gegen die Vorsehung, die er entsprechend eines am Ende der achten Abhandlung (607 f.) skizzierten Schemas in sechs Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe betrifft diejenigen Zweifel, die aus der Erfahrung der Unvollkommenheit der Welt erwachsen und sich in einer Leugnung der Vorsehung oder der durch Pierre Bayle erneut zur Diskussion gestellten dualistischen Irrlehre des Manichäismus ausdrücken (609–611). Mit Leibniz erkennt Reimarus in der Unterscheidung eines allgemeinen metaphysischen Übels der endlichen Welt und dessen Konkretisierung als physisches und moralisches Übel ein geeignetes Mittel, die Zweifel angesichts der Unvollkommenheit der Welt anzugehen, und besteht darauf, dass die Welt in ihrer Einrichtung auf das Wohl der Lebendigen die bestmögliche Welt ist, in der das Gute insgesamt überwiegt und selbst das Böse durch die Wirkung der Vorsehung zum Guten gelenkt wird (612–617). Als eine zweite Gruppe von Einwänden diskutiert Reimarus das Problem des physischen Übels in Auseinandersetzung mit Lukrez, der die augenscheinliche Unvollkommenheit der Welt beklagt, selbst jedoch über keine annähernd vollständige Kenntnis des Weltganzen in seiner Verknüpfung verfügt. Die Zweckmäßigkeit der Einrichtung der Erdoberfläche, der anthropologische Wert mühsamer Feldarbeit und das kulturelle Entwicklungspotential, das in der biologischen Mangelhaftigkeit des Menschen begründet ist, bleiben Lukrez verborgen (618–633). Auch die dritte Gruppe von Einwänden betrifft das Problem des physischen Übels. Reimarus beklagt, dass der Mensch die Welt egozentrisch hinsichtlich seiner unmittelbaren Wünsche betrachtet, jedoch die weitere Verknüpfung der Natur nicht überblickt und so den Nutzen von Schädlingen und Raubtieren nicht einsehen kann (633–655). Reimarus empfiehlt, das Weltganze als eine Stadt zu betrachten, deren Regent verschiedensten Bewohnern Bürgerrecht, Wohnung und jeweilige Aufgaben zugewiesen hat und dem Menschen als einem Vornehmen der Stadt die Achtung aller seiner minderen Nachbarn, also der Tiere, abverlangt (636 f.). Die Einwände zum physischen Übel abschließend wendet sich Reimarus in der vierten Gruppe gegen die Ansicht, die Welt könne zum Wohl des Menschen angenehmer und bequemer eingerichtet sein. Er bezweifelt, dass eine unentwegte Lustempfindung der menschlichen Natur gemäß wäre (655–664). Die Probleme des moralischen Übels behandelt Reimarus in der fünften Gruppe, in der er zunächst das Problem der moralischen Ungerechtigkeit angesichts des viel behaupteten Leidens der Frommen und gleichzeitigen Wohls mancher Gottloser diskutiert. Die Möglichkeit einer Lösung des Problems durch ein wundersames Eingreifen Gottes hält
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Reimarus weder für denkbar noch für wünschenswert, weil durch eine stets unmittelbar erfolgende göttliche Vergeltung tugendhaften Handelns die Möglichkeit negiert würde, die gute Tat um ihrer selbst willen zu tun (664–674). Die Zulassung solcher »widriger Begebenheiten des Glückes und Unglückes« (674) ist also notwendig um der Übung von Pflicht und Tugend willen. Auch bewirkt ein jeweiliges Unglück in der Verknüpfung der Welt stets ein anderes Glück, das dem betroffenen Menschen nicht immer erkennbar ist (674–683). Selbst moralische Vergehen werden durch die göttliche Vorsehung gelenkt zum Nutzen der Menschheit (683–688). Zuletzt verweist Reimarus gegen die Leugner der Unsterblichkeit auf die Hoffnung eines zukünftigen Lebens, in dem die Vorsehung weiter wirkt auf das Ziel der Vollkommenheit hin (688–690). In der zehnten Abhandlung »Von der Seelen Unsterblichkeit, und den Vortheilen der Religion« unterscheidet Reimarus zunächst zwei Wege zur Erschließung der Unsterblichkeitslehre. Der eine führt über den Begriff der Seele als einfacher, unkörperlicher Substanz und erschließt die Möglichkeit eines Fortdauerns der Seele nach dem leiblichen Tod. Der andere führt über die Erkenntnis der göttlichen Schöpfungsabsichten aus der Welterfahrung und erschließt die legitime Hoffnung auf die Wirklichkeit eines zukünftigen Lebens. Denn da die Seele ohne den Körper fortbestehen kann und Gott den Menschen durch seine Ausstattung an Seelenvermögen zur Erkenntnis und Hoffnung auf ein zukünftiges Leben befähigt hat, so darf erwartet werden, dass die göttliche Vorsehung diese einmal angelegte Hoffnung auch zur Erfüllung bringen wird (691–696). Nach der Diskussion mehrerer Vorstellungsmodelle eines möglichen Fortlebens der Seele ohne den materiellen, sterblichen Körper (696–699) erklärt Reimarus, wie die Hoffnung einer Wirklichkeit des Fortlebens in Analogie aus der Beobachtung der Tiere begründet werden kann. Die Tiere sind auf die augenblickliche Erfüllung ihrer Bedürfnisse hin erschaffen und finden in dieser Bedürfniserfüllung das Ziel ihrer Vollkommenheit und Glückseligkeit. Der Mensch aber ist durch seine besonderen Seelenvermögen auf eine dauerhafte Vollkommenheit und Glückseligkeit seiner unvergänglichen Seele im Zukünftigen hin erschaffen und darf hoffen, dass dieses ihm anerschaffene Verlangen ebenso wie das den Tieren eigene Verlangen nicht unerfüllt bleibt (700–709). Andernfalls wären die menschlichen Vorstellungen vom Zukünftigen falsch, das wissenschaftliche und moralische Streben der Menschheit bliebe unabgeschlossen und unerfüllt, und auch die Religion verfehlte ihr wesentliches Ziel der Gotteserkenntnis (709–721). Von hier aus wendet sich Reimarus gegen Atheisten, die ein Fortleben der Seele leugnen und die der Religion eigene Betrachtung der Welt ablehnen. Am Beispiel La Mettries macht Reimarus deutlich, dass das atheistische System dem Menschen keine beruhigende Erkenntnis des Weltganzen in seiner Verknüpfung ermöglicht und die bürgerliche Gesellschaft untergräbt, weil es keinerlei moralische Regeln zu begründen imstande ist (721–744). Nach dieser ethischen Kritik des Atheismus stellt Reimarus abschließend die Vorzüge der Religion zusammen. Die Religion
3.2 Die »Vornehmsten Wahrheiten«
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bildet den Menschen zur Geselligkeit und stärkt den Zusammenhalt innerhalb der Republik (744–750), sie weist dem Einzelnen das Ziel seiner Vollkommenheit (750–755), ordnet seine Begierden (755–758), intensiviert angenehmes Empfinden (758–761), befördert die Wissenschaften und Künste (761 f.) und verschafft dem Menschen Gemütsruhe und Zufriedenheit angesichts des unausweichlichen leiblichen Todes (762–766). Die vier Jahre nach den »Vornehmsten Wahrheiten« 1760 erschienenen »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich über ihre Kunsttriebe« führen die innerhalb der fünften Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten«, »Von den besonderen Absichten Gottes in dem Thierreiche«, sehr knapp behandelte Thematik der Tiertriebe ausführlich fort.35 Als Trieb versteht Reimarus zunächst sehr allgemein »alles natürliche Bemühen zu gewissen Handlungen«36, um anschließend das weite Feld der Triebe in mechanische Triebe, Vorstellungstriebe und willkürliche Triebe zu unterteilen. Von hier ausgehend unterscheidet er insgesamt zehn »Klassen« von Trieben, die sich ihrerseits in insgesamt 57 Unterklassen differenzieren lassen.37 Durch diese Systematik gewinnt Reimarus einen Rahmen, innerhalb dessen er das umfangreiche Material vermutlich jahrzehntelanger Auswertung biologischer Literatur seit Aristoteles präsentieren kann. Im Vorbericht des Werks kündigt Reimarus zudem an, seine Arbeit zu den Tiertrieben auch nach der Publikation der »Allgemeinen Betrachtungen« fortführen zu wollen,38 und tatsächlich belegen die postum 1773 durch Reimarus’ Sohn, Johann Albert Hinrich, herausgegebenen »Betrachtungen über die besonderen Arten der thierischen Kunsttriebe«39, dass Reimarus die in den »Allgemeinen Betrachtungen« lediglich angefangene Arbeit zu einem wahrhaften deskriptorischen Großprojekt auszuweiten beabsichtigte. Die ca. hundert von Johann Albert Hinrich Reimarus herausgegebenen Seiten behandeln nur ausschnittweise die erste der insgesamt zehn Klassen. Eine Vollendung des Werks hätte sich vermutlich auf unzählige Bände erstreckt. Dass Reimarus die Beschreibung der Tiertriebe als ein eigenständiges Projekt neben den »Vornehmsten Wahrheiten« zunehmend ernster nahm, bedeutet 35 Vgl. VW I , S. 300–430. Reimarus nimmt gleich zu Beginn seiner »Allgemeine[n] Betrachtungen über die Triebe der Thiere« ausdrücklich Bezug auf die »Vornehmsten Wahrheiten«, vgl. hierzu die erste Seite der nicht paginierten Vorrede in Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich ihre Kunsttriebe, hg. von Jürgen von Kempski, Bd. 1, Göttingen 1982, S. I . 36 Ebd., S. III . 37 Vgl. hierzu die schematische Darstellung in Jürgen von Kempski, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere hauptsächlich ihre Kunsttriebe, hg. von Jürgen von Kempski, Bd. 1, Göttingen 1982, S. 21–56, hier S. 38. 38 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Bd. 1, S. VII f. 39 Abgedruckt in Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Bd. 2, S. 581–700.
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jedoch nicht, dass er zugleich das in der fünften Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« festgeschriebene theologische Interesse an der Triebforschung aus den Augen verlor. Wie Reimarus in der Vorrede zu den »Allgemeinen Betrachtungen« feststellt, geht es bei der Beobachtung der Tiertriebe auch darum, »daß diese so determinirten Grundkräfte der Thiere, und die darinnen liegenden Kunsttriebe derselben, nicht anders als von dem allerweisesten und gütigsten Urheber der Natur herrühren können, welcher allen möglichen Arten der Lebendigen nicht allein die Wirklichkeit, sondern auch einen angenehmen Genuß ihres Daseyns schenken wollen, indem er die allergeschicktesten Mittel für die Bedürfnisse so vieler tausend Lebensarten bedacht, und die niedrigsten Kräfte der Thiere zu einer solchen angebornen und erblichen Kunstfertigkeit determiniret, daß sie ohne Ueberlegung dennoch ihre und ihres Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt meisterlich bewirken können.«40 Auf dieses theologische Interesse kommt Reimarus im elften, abschließenden Kapitel »Anwendung der thierischen Kunsttriebe zur Erkenntniß des Schöpfers und unser selbst« noch einmal zurück. Die Triebbeobachtung zeigt den »weise[n] Zusammenhang der Welt mit der gütigsten Absicht des Schöpfers«41, offenbart also die Eigenschaften besonders der Weisheit und Güte des Schöpfergottes und ist für das religiöse Erkennen des Menschen wertvoll. Das Interesse der »Allgemeinen Betrachtungen« ist stets auch ein theologisches. Zu Recht allerdings hat Jürgen von Kempski in der Einleitung42 seiner Ausgabe der »Allgemeinen Betrachtungen« darauf hingewiesen, dass Reimarus’ Naturbeobachtung nicht allein der Absicherung theologischer Wahrheit dient, sondern dass vielmehr auch umgekehrt die Naturbeobachtung von dem philosophisch-theologischen Theorierahmen profitiert, den Reimarus in seinen »Vornehmsten Wahrheiten« absteckt. Denn Reimarus muss sich nicht an das von einer jeweiligen philosophischen Metaphysik diktierte Entweder-Oder totaler Determination oder Freiheit halten, das die Triebhandlungen der Tiere als determinierte Handlung eines mechanischen Automaten oder als die freie Handlung eines intelligenten Lebewesens, das das Triebverhalten erdacht oder erlernt hat, betrachtet. Der in den »Vornehmsten Wahrheiten«43 unscharf bleibende Begriff einer Determination des Leibes oder der materiellen Welt durch die Kräfte der Seele oder der göttlichen Vorsehung eröffnet Reimarus Spielräume, die es ihm ermöglichen, eine höchst präzise Beschreibung des tierischen Triebverhaltens zu geben, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht übertroffen wurde. Reimarus unterscheidet verschiedene Grade der Determination und kommt damit dem 40 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Bd. 1, S. VI . 41 Ebd., S. 364. 42 Vgl. Jürgen von Kempski, Einleitung, S. 29 f. 43 Vgl. hier besonders die Passagen zur Psychologie und Vorsehung: VW II , S. 484–491 und S. 587–590.
3.2 Die »Vornehmsten Wahrheiten«
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Phänomen des tierischen Triebverhaltens sehr nahe, weil es ihm möglich ist, den eher willkürlichen und den eher automatischen Anteil eines jeweiligen Verhaltens gleichberechtigt zu beobachten. Dass dieses Verfahren aus philosophischer Perspektive, zumal der Leibniz-Wolffschen, als defizitär erscheinen muss, hat Moses Mendelssohn in einer Rezension der »Allgemeinen Betrachtungen« deutlich gemacht.44 Gegen diese Kritik bleibt aber festzuhalten, dass sich der philosophisch unscharfe Theorierahmen der »Vornehmsten Wahrheiten« im Blick auf Reimarus’ biologische Verhaltensforschung zumindest als pragmatisch sehr vorteilhaft erwies. Es ist zu vermuten, dass Reimarus sich über die philosophischen Schwächen seines Determinationsverständnisses schon lange vor Mendelssohns Rezensionen im Klaren war, er aber angesichts seiner langjährigen empirischen Arbeit über das Phänomen des tierischen Triebverhaltens nicht bereit war, die Frage der Determination zu der einen oder anderen Seite hin zu beantworten.45
3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten« Ein Jahr nach der ersten Auflage der »Vornehmsten Wahrheiten« erschien in Hamburg und Leipzig der erste zusammenfassende Band einer bis 1764 auf insgesamt vier Bände anwachsenden moralischen Wochenschrift mit dem Titel »Der Bienenstock. Eine Sittenschrift der Religion, Vernunft und Tugend gewidmet«46, ergänzt bis 1768 um drei weitere Bände unter dem Titel »Neuer Bienenstock«47. Die einzelnen Blätter des »Bienenstocks« bieten je eine moralisch lehrhafte Fabel, ein Gedicht oder eine allegorische Erzählung, die an öffentlichen Orten und Postämtern wöchentlich ausliegen und »alle Menschen […] mit Hülfe der besten alten und neuern Schriftsteller«48 verbessern sollte. Über den Initiator des »Bienenstocks«, Johann Dietrich Leyding, ist wenig bekannt.49 1757 kam er nach Hamburg, wo er mit den Dichtern Johann Friedrich Löwen und Johanne Charlotte Unzer in Kontakt kam, eine Erziehungsanstalt leitete und als Privatlehrer tätig war. Unzählige moralisch erbauliche Dichtungen sind von Leyding erhalten, die die moralische Bedeutung religiöser Bildung betonen und einen pietistischen 44 Mendelssohns Rezensionen in den »Briefe[n] die neueste Litteratur betreffend« finden sich abgedruckt in: Hermann Samuel Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, Bd. 2, S. 789–855, ebenso wie Reimarus’ Erwiderung »Anhang von der verschiedenen Determination der Naturkräfte, und ihren mancherley Stufen, zur Erläuterung des zehnten Capitels« auf den S. 478–580. 45 Vgl. hierzu auch unten Kapitel 3.5.2. 46 Vgl. Johann Dietrich Leyding, Der Bienenstock. Eine Sittenschrift der Religion, Vernunft und Tugend gewidmet, 4 Bde., Hamburg 1755–1764. 47 Vgl. ders., Neuer Bienenstock, 3 Bde., Hamburg 1764–1768. 48 ders., Der Bienenstock, S. 1 und S. 416. 49 Zu Leyding vgl. »Leyding (Johann Dietrich)« in: Hans Schröder, Lexikon der hamburgischen Schriftsteller, Bd. 4, Hamburg 1866. Nicht erwähnt wird Leyding in Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Hintergrund Leydings vermuten lassen. Obwohl die aus England stammende Gattung der moralischen Wochenschrift durch die Herausgabe des »Patriot« in Hamburg schon seit den 1720er Jahren etabliert war, erscheint die Frage berechtigt, inwiefern begeistert das Hamburger Publikum die neue Wochenschrift des gerade erst zugezogenen Leyding aufnahm.50 Die große Menge von moralischen Wochenschriften, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien, dürfte auch in Hamburg zu einer Übersättigung des Marktes geführt haben, die es Außenseitern wie Leyding schwer machte, weitere moralische Botschaften unters Volk zu bringen. 1759 jedenfalls erschien in Hamburg anonym und ohne Angabe von Ort und Verlag ein »Historischer Bienenstock voller schalkhaften und muthwilligen Erzählungen«51, der 1763 noch einmal mit der Angabe »Surate: auf Kosten der Gesellschaft« vermutlich bei dem Verleger Friedrich Ludwig Gleditsch52 gedruckt wurde. Den Titel des Leydingschen »Bienenstocks« persiflierend bietet der anonyme »Historische Bienenstock« insgesamt achtundzwanzig leicht frivole bis pornografische Schwänke, die sich zum Teil als deutsche Nacherzählungen einschlägiger französischer Autoren identifizieren lassen und im Gewand eingängiger Unterhaltungsliteratur gesellschafts- und religionskritische Botschaften transportieren.53 Wer immer der oder die Verfasser des »Historischen Bienenstocks« waren, sie mochten Leyding und dessen moralisches Wochenprogramm nicht und machten sich über ihn und seinen »Bienenstock« lustig. Das Erscheinen des »Historischen Bienenstocks« 1759 illustriert nicht mehr als eine von vermutlich mehreren Peripherien des weiten Feldes der Hamburger Radikalaufklärung, vermag aber gleichwohl einen nicht unwichtigen Beitrag zum Verständnis der Atheismuskritik zu leisten, die Reimarus in seinen »Vornehmsten Wahrheiten« vorträgt. Denn eine Anthologie wie der »Historische Bienenstock« entsteht gewöhnlich nicht aus dem Nichts. Bevor er im Druck erscheinen konnte, mussten die französischen Vorlagen erworben und womöglich im kleinen Kreis gelesen, besonders reizvolle Stücke ausgewählt, übersetzt oder nacherzählt und schließlich in Zusammenarbeit mit dem Verleger Gleditsch zu einem Band arrangiert werden, der seinerseits den riskanten anonymen Druck nicht übernommen hätte, wenn er nicht auf einen guten Absatzmarkt in Hamburg hätte rechnen können. Freilich war das Phänomen einer Beschäftigung mit 50 Zum Patriot vgl. Jörg Scheibe, Der »Patriot« (1724–1726) und sein Publikum. Untersuchungen über die Verfasserschaft und die Leserschaft einer Zeitschrift der frühen Aufklärung, Göppingen 1973. Zur Gattung der moralischen Wochenschrift im Allgemeinen vgl. W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der moralischen Wochenschrift, Stuttgart 1968. 51 Vgl. [anonym], Historischer Bienenstock voller schalkhaften und muthwilligen Erzählungen, Surate: auf Kosten der Gesellschaft (= Hamburg: Gleditsch) 1763. 52 Vermutlich ein Sohn der Verlegerfamilie Gleditsch in Leipzig. 53 Zum kritischen Potential pornografischer Literatur des 18. Jahrhunderts vgl. Margaret C. Jacob, Die materialistische Welt der Pornographie, in: Lynn Hunt (Hg.), Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne, Frankfurt 1994, S. 132–182.
3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten«
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frivolen religionskritischen Texten 1755 in Hamburg nicht mehr neu. Schon Johann Christoph Wolfs Benutzung mehrerer Texte Adrian Beverlands im Kontext neutestamentlicher Exegese zeigt, dass die brisante Mischung von Dogmenkritik und einer klassischen Gelehrsamkeit, die sich nachgerade auf antike Obszönitäten spezialisiert, schon im frühen 18. Jahrhundert auf einen fruchtbaren Boden im Hamburger Bürgertum fiel.54 Allein der Adressatenkreis des »Historischen Bienenstocks« ist in einem anderen, weniger gelehrten Milieu als dem um Wolf zu suchen. In deutscher Sprache ermöglicht er einem breiten Publikum ungelehrter Laien den Zugriff auf obszöne Texte und macht aus dem Umgang mit libertiner Literatur eine Modeerscheinung, die der inzwischen über sechzigjähriger Reimarus mit Sorge betrachtet. In der Vorrede der »Vornehmsten Wahrheiten« bemerkt er, »daß seit wenig Jahren eine ganz ungewohnte Menge kleiner Schriften, mehrentheils in französischer Sprache, über die Welt gestreuet ist, worinn nicht sowohl das Christenthum, als vielmehr alle natürliche Religion und Sittlichkeit, verlacht und angefochten wird«55, und gibt weiter zu bedenken: Wenn die, bey heutiger galanten Erziehung, so wenig andere gründliche Wissenschaft, als vernünftigen Unterricht in den Grundwahrheiten aller Religion, ja kaum Gedächtnißformeln einer Kinderlehre, mit in die große Welt bringen: so sind sie tausenderley Gefahr bloß gestellet. Was bekommen sie, zuweilen schon als Knaben, für freye Reden, Einwürfe und Vernünfteleyen gegen die Religion zu hören? was lesen sie nachmals für schlüpfrige und ungezähmte Bücher? was denken sie oft selbst, bey einer flatterhaften Unwissenheit, ins Wilde? Wenn dann etwa zugleich die Neigung zu Lastern eine offenere Thüre findet, so ist kein Wunder, wenn sie das Joch, welches ihre Ausschweifungen hemmen will, ganz abschütteln.56
Reimarus meint hier nicht den alten, orthodox gelehrten Umgang mit atheistischer oder libertiner Literatur, wenn er die Gefahren des atheistischen Spotts über Religion und Sittlichkeit beschwört. Es geht ihm vielmehr um das neue, oft junge und ungelehrte Publikum, das sich den Atheismus oberflächlich als eine Mode aneignet und unmittelbar in die Abgründe der Ausschweifung und moralischen Orientierungslosigkeit hinabgleitet, auf die der Atheismus hinführt. Reimarus sieht sich mit einer neuen Zuwendung zum Atheismus konfrontiert, die er von einer älteren orthodoxen Auseinandersetzung mit dem Atheismus sehr wohl unterscheidet, begegnet ersterer aber konsequent mit den alten Schemata orthodoxer Atheismuskritik. Indem Reimarus »Einwürfe und Vernünfteleyen gegen die Religion« mit der »Neigung zu Lastern« in Verbindung bringt, über54 Vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, in: Johann Anselm Steiger, 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin / New York 2005, S. 80–111, hier S. 100 f. 55 Vgl. VW I , S. II . 56 Ebd., S. IV .
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nimmt er die seit Gisbert Voetius in der orthodoxen Atheismuskritik geltende Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Atheismus und erklärt, auch hierin orthodoxer Tradition folgend, die Entstehung des einen aus dem anderen. Denn so sehr sich Voetius auch bemühte, in Anlehnung an die philosophische Distinktion zwischen voluntas und ratio praktischen und theoretischen Atheismus als Phänomene differenziert diskutierbar zu machen, blieb innerhalb des theologischen Atheismusdiskurses doch die dogmatische Forderung wirksam, rechten Glauben und gute Werke als eine unzertrennliche Einheit zu betrachten und folglich auch den Unglauben des Atheisten mit dessen lasterhaftem Handeln zu verbinden.57 Dem Atheisten fehlt der rechtfertigende Glauben, aus dem die guten Werke getan werden, und er verfügt zudem über keine Vorstellung einer jenseitigen Vergeltung, die seinen Lastern in der Angst vor künftigen Strafen Grenzen setzen könnte. Als Pierre Bayle in seinen »Penseés diverses à l’occasion de la comète«58 den notwendigen Zusammenhang zwischen Atheismus und lasterhaftem Handeln bestritt und gegen die vorherrschende Meinung der Theologen behauptete, der Atheismus sei, anders als der Aberglaube, für die Gesellschaft unschädlich, entstand auch in Deutschland eine ethische Debatte über den Atheismus, auf die sich Reimarus in der zehnten Abhandlung seiner »Vornehmsten Wahrheiten« bezieht:59 Sehet mir aber einen witzigen Atheisten, der nicht allein die grobe Wollust, sondern auch alle übrige schandbare Laster und Bosheit, mit Verachtung aller Religion und alles Gewissens, als den einzigen Weg zur Glückseligkeit vorzustellen bemüht ist. Man streitet bisher, ob die Atheisterey zu Lastern führe, und der menschlichen Gesellschaft und Glückseligkeit gefährlich sey. Aber man muß aufhören, daran zu zweifeln, wenn man des La Mettrie Schriften liest, und überführet werden, daß ein Spinoza und sehr wenige seines gleichen, nicht nach dem System der Atheisterey, sondern bloß nach Temperament, Erziehung und Gewohnheit, ehrbar gelebet haben.60
Reimarus hält an der alten Lehre eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs zwischen Atheismus und moralischem Laster fest und greift diesem Argumentationsmuster folgend den neuerdings zur verbreiteten Modeerscheinung gewordenen Atheismus bei seiner Wurzel an, die er in dem falschen »System der Atheisterey« erkennt. Den Kampf gegen den Atheismus gilt es also zuerst auf dem Feld der Theorie zu führen, auf dem die Atheisten ihr »System« errichtet haben. Doch wie ist das »System der Atheisterey« in allgemeiner Weise zu beschreiben? Orthodoxe Theo57 Vgl. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971, S. 83 ff. 58 Pierre Bayle, Pensées diverses à l’occasion de la comète, in: ders., Œuvres diverses, hg. von E. Labrousse, Bd. 3, Den Haag 1727. 59 Zu der Debatte vgl. Johann Anton Trinius, Freydenker-Lexicon, Leipzig / Bernburg 1759, S. 63 f. Auch Wolf richtet sich gegen Bayle vgl. Johann Christoph Wolf, Atheismi falso suspectos, Vitembergae 1717, S. 1 f. 60 Vgl. VW II , S. 734.
3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten«
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logen, die sich mit dem Problem des Atheismus befassten, hatten früh bereits definitorische Probleme diskutiert und die lange Geschichte des Begriffs »Atheismus«, der allzu oft zur polemischen Etikettierung beliebiger theologischer Gegner verwendet worden war, kritisch reflektiert. Eines der Ergebnisse dieser Diskussion war die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Atheismus, derer sich auch Reimarus bedient.61 Für die weitere definitorische Annäherung an das Phänomen eines theoretischen Atheismus boten sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch mehrere mögliche Wege, die das Problem des Atheismus zugleich in je unterschiedliche philosophisch-theologische Problemzusammenhänge stellen. Reimarus legt das folgende atheistische Credo als Definition zugrunde, demzufolge die Atheisten bekennen, »die körperliche Welt und deren Natur sey das erste, selbständige, nothwendige Wesen, und ausser derselben sey weiter nichts; wodurch denn zugleich Verstand, Absicht, Weisheit, Vorsehung, von der Einrichtung und den Begebenheiten der Welt gänzlich ausgeschlossen, alles einem wüsten Ungefähr, oder einer blinden Nothwendigkeit überlassen, und die ganze Dauer und Glückseligkeit der Menschen in dieses kurze und sinnliche Leben eingeschränket wird.«62 Die Tradition theologischer Atheismuskritik, an die Reimarus hier anknüpft, ist die der Wittenberger Orthodoxie, der sich auch Wolf verpflichtet wusste. In seiner Dissertation von 1717, in der er die »Atheismi falso suspectos«63 in Schutz nimmt, erarbeitet Wolf in Auseinandersetzung mit dem Atheismusbegriff der antiken Philosophen und Kirchenväter sowie des neueren Atheismusdiskurses zwischen Gisbert Voetius und Abraham Calov eine Formel, die als Atheisten diejenigen definiert, »die sich Gott oder dessen Attribute materiell vorstellen oder ihn gänzlich zunichte machen oder in Zweifel ziehen, insbesondere auch die Vorsehung aufheben oder die Unsterblichkeit der Seele beschmutzen.«64 Wolfs Definition ist sehr kurz, bietet aber diejenigen drei Punkte, um die es auch Reimarus geht: Der Glaube an einen von der Materie unterschiedenen Gott, die Vorsehung und die Unsterblichkeit der Seele. Um die Genese dieser Atheismusdefinition und besonders des ersten ihrer drei Punkte verständlich zu machen, gilt es, zurückzugehen bis auf Jakob Thomasius, der in den 1660er Jahren das Programm der späteren Wittenberger Atheismuskritik bestimmte durch sein »Schediasma historicum«65 zur Geschichte der 61
Vgl. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie, S. 68–96. Vgl. VW I , S. 2. 63 Vgl. Johann Christoph Wolf, Atheismi falso suspectos. 64 Ebd., S. 8: »Atheos hic appellamus […] qui v.c. Deum sibi fingunt materialem, vel attributa eius aut subvertunt omnino, aut in dubium vocant, ac speciatim providentiam tollunt, aut animae immortalitatem inficiantur.« 65 Jacob Thomasius, Schediasma historicum, quo occasione definitionis vetustae, qua phi, varia discutiantur ad historiam tum philosophicam, tum losophia dicitur ecclesiasticam pertinentia: Imprimis autem inquiritur in ultimas origines Philosophiae gentilis, & quatuor in ea sectarum apud graecos praecipuarum; haereseos item Simonis Magi, Gnosticorum, Massalianorum & Pelagianorum; denique theologiae mysticae pariter ac scholasticae, Leipzig 62
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3 Das Religionsphilosophische Werk
christlichen Häresien. Thomasius entwirft hier eine Verfallsgeschichte der antiken Metaphysik, die in ihren Anfängen mit der Gottes- und Schöpfungslehre der mosaischen Philosophie übereinstimmte, dann aber in Teilen aus dem Gleichgewicht geriet und sich in den Pantheismus verkehrte. Als für die christliche Lehre gefährliche Häresien bestimmt Thomasius alle diejenigen Philosophien, die das Verhältnis von Gott und Materie nicht als das einer Schöpfung aus dem Nichts bestimmen, sondern die ungeschaffene Materie als neben Gott eigenständig betrachten oder Gott und Materie identifizieren. Der manichäische Dualismus ist in diesem Sinne häretisch, weil er der Materie Eigenständigkeit neben Gott zuspricht. Bestimmte Formen des neuplatonischen Emanatismus sind häretisch, insofern sie den Unterschied zwischen Gott und Welt nivellieren, und zuletzt sind auch weite Teile des mystischen Erfahrungschristentums häretisch, weil sich dessen mystischer Enthusiasmus auf pantheistische Häresien gründet. Die Wittenberger Häresiographie und Atheismuskritik richtet sich also zu einem guten Teil gegen die christliche Mystik, die innerhalb des Pietismus eine Blüte erlebt. Theosophische Naturbetrachtung oder Erfahrungen eines inneren Lichts verfallen dem Thomasianischen Häresieurteil, sind so letztlich atheistisch. Verstärkend tritt hier die Konkurrenz zwischen der pietistischen Reformuniversität Halle und der alten Universität Wittenberg hinzu, in der man gegen pietistische und frühaufklärerische Neuerungen am orthodoxen lutherischen Bekenntnis festhält und die Berufung auf innere Gotteserfahrung als suspekt empfindet. Das apologetische Mittel, mit dem man den Erscheinungsformen der atheistischen Häresien begegnet, ist das der Historisierung66. Philologisch vielseitig geschulte lutherische Polyhistoren können das Thomasianische Programm der Häresiographie auf hohem Niveau fortsetzen und bestimmte Entwicklungszweige der antiken Philosophiegeschichte als Perversionen einer ehemals intakten ersten Philosophie ausweisen. Im Übergang zum 18. Jahrhunderts rückt die Philosophie Spinozas in den Mittelpunkt des apologetischen Interesses. Denn die Metaphysik der »Ethik« Spinozas erfüllt wie kaum eine andere alle Kriterien des durch die Häresiographie Jakob Thomasius’ wesentlich bestimmten Atheismusbegriffs der Orthodoxie, so dass es Johann Franz Budde möglich ist, das »System« Spinozas seiner Philosophiegeschichtsschreibung als Kriterium des Atheismus zugrunde zu legen.67 Es sind vor allem zwei Punkte, in denen Spinozas philosophisches System dem 1665. Zum »Schediasma historicum« vgl. Ralph Häfner, Jacob Thomasius und die Geschichte der Häresien, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 141–164. 66 Zum Begriff der Historisierung in diesem Kontext vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Karlfried Gründer / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.), Spinoza in der Frühzeit seiner Religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 27–63, hier S. 47 ff. Zur antipietistischen Tendenz dieses orthodoxen Diskurses vgl. Martin Mulsow, Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg, S. 84 f. 67 Vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus?, S. 48 f.
3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten«
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orthodoxen Atheismusbegriff entspricht: erstens hebt seine Identifizierung der Attribute des Denkens und der Ausdehnung über den Substanzbegriff die für die traditionelle Gottes- und Schöpfungslehre konstitutive Unterscheidung von Gott und Welt auf. Und zweitens bietet die von Spinoza im fünften Teil der »Ethik« explizierte dritte Erkenntnisart ein Beispiel, wie unter den pantheistischen Prämissen des spinozistischen Systems eine Selbsterkenntnis Gottes in der menschlichen Anschauung der Natur behauptet werden kann.68 Spinozas System wird damit zum Prototyp des Atheismus überhaupt. Es gilt Spinoza einerseits historiographisch zu isolieren und von denjenigen Philosophien abzugrenzen, auf die die Theologie nicht verzichten kann, andererseits aber sein System zu widerlegen, und beides leistete Johann Franz Budde.69 Wie nachhaltig die Spinozakritik Buddes auf Reimarus und dessen Atheismusverständnis wirkte, belegt Reimarus’ Kritik des Beispielatheisten Spinoza in den »Vornehmsten Wahrheiten«.70 Die bei Budde zum größeren Teil historiographisch betriebene Aufarbeitung des Problems, deren Reflex sich in einigen Passagen der »Apologie« noch zeigt, lässt Reimarus hier jedoch hinter sich.71 Er wendet sich direkt gegen das atheistische System, das er einerseits vom Substanzbegriff her angeht und andererseits vom Begriff der Notwendigkeit, die Spinoza der Natur zuspricht. Reimarus setzt an bei Spinozas Definition der Begriffe »Substanz«72 und »Gott«73, in denen er nicht mehr als »willkührliche Begriffe, nach willkührlichen Bedeutungen der Wörter«74 erkennt. Denn die Definition der einen selbständigen Substanz, die aus sich selbst begriffen werden kann, verletzt die Regeln philosophischer Begriffsbildung, innerhalb derer die 68
Vgl. die Lehrsätze 25 ff. in: Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, übers. u. hg. von Otto Baensch, Hamburg 1976, S. 83. Budde, der sich dem teilweise mystisch begründeten Erfahrungschristentum des Pietismus nicht unbegründet verschließen möchte, versucht freilich, diese nahe liegende Liaison zwischen Spinozismus und christlicher Mystik abzuwehren. Die dichte Verbindung der Spinoza- und Böhmerezeption in den Niederlanden und in England zeigt aber, dass die Verbindung bestand und von Thomasius nicht zu Unrecht in den Atheismusdiskurs eingebracht worden war, vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus?, S. 48, und Michael John Petry, Behmenism and Spinozism in the Religious Culture of the Netherlands, 1660–1730, in: Karlfried Gründer / Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hgg.), Spinoza in der Frühzeit seiner Religiösen Wirkung, Heidelberg 1984, S. 111–147. 69 Siehe hierzu oben Kapitel 2.1.2. 70 Als solcher wird Spinoza in der zehnten Abhandlung zusammen mit La Mettrie genannt. Reimarus’ Kritik an Spinozas System steht in der dritten Abhandlung, vgl. VW II , S. 187– 195. 71 Vgl. hierzu das Kapitel 2.6.2 dieser Arbeit. 72 Vgl. die dritte Definition in: Baruch de Spinoza, Ethik, S. 3: »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist, und durch sich begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, den Begriff eines anderen Dinges nicht bedarf.« 73 Vgl. die sechste Definition ebd. S. 4: »Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, das heißt die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt.« 74 Vgl. VW I , S. 188
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Begriffe in nachvollziehbarer Abstraktion von der erfahrbaren Weltwirklichkeit gewonnen werden müssen. Gegen Spinoza fordert Reimarus, man müsse eine Vielzahl von Substanzen annehmen, die zwar je in sich selbst sein, nicht aber durch sich selbst begriffen werden und selbständig sein können.75 Ebenfalls gegen die übliche Definitionsgewohnheit bestimmt Spinoza auch Gott als ein Wesen, das unendlich ist angesichts der mathematisch unendlichen Anzahl seiner Eigenschaften, nicht aber unendlich ist im Sinne eines theologischen Begriffs der Unendlichkeit. Schon in den vorangestellten Definitionen der »Ethik« findet sich also eine unerhörte Behauptung ausgesprochen, die Reimarus in dem Satz zusammenfasst: »Die Welt ist die einzige Substanz, welche ich (zum Scheine) Gott nenne, und ausser derselben ist nichts.«76 Alle weiteren Ausführungen der »Ethik« können damit übergangen werden. Sie bieten keinen Beweis der einmal in den Definitionen aufgestellten These und erscheinen Reimarus daher als ein unnötiges »Blendwerk«77. Gewisse Reminiszenzen an die Spinozakritik Buddes bleiben hier erkennbar, denn schon Budde hatte mit seiner Kritik bei den Definitionen, besonders der Substanz, angesetzt und die Verwendung des Wortes »Gott« innerhalb der sechsten Definition als eine illegitime Titulierung abgelehnt.78 So sehr Reimarus an dieser Buddeschen Kritik der Definitionen der »Ethik« festhält, sieht er die Möglichkeit zu einer letztendlichen Entkräftung der Lehren Spinozas doch auf einem ganz anderen Feld, nämlich dem der naturwissenschaftlichen Empirie. »[S]o sehe man nur die wirkliche Welt nach der Erfahrung an, ob sich das bey ihr in der That und Wahrheit finde, was Spinoza geschlossen hat«79, fordert Reimarus und weist auf die Insuffizienz der Philosophie Spinoza hinsichtlich einer Erklärung des Entstehens vielfältigen tierischen Lebens auf der an sich toten Materie der Welt. Ohne die Annahme eines anderen, sowohl von der toten Materie wie auch von dem tierischen Leben auf ihr unterschiedenen Wesens kann eine solche Erklärung nicht gegeben werden: Wenn also der Begriff eines andern Wesens ausser der Welt nöthig ist, um mit Verstand und Wahrheit zu begreifen, daß die leblose Welt lebendige Thiere habe, und daß sie mit dem Nutzen dieser Thiere übereinstimme: so ist die Welt nicht das selbständige Wesen, oder nach der Sprache des Spinoza, nicht die einzige Substanz, nicht Gott.80
Damit fällt zugleich aber auch die Lehre von der Notwendigkeit, die Spinoza allem Geschehen innerhalb der Natur zuschreibt. Die Welt oder Natur besteht aus einer Vielzahl einzelner Substanzen, die selbst über keine innere Notwendigkeit 75
Ebd., S. 195. Ebd., S. 188. 77 Ebd., S. 189. 78 Vgl. Walter Sparn, Formalis Atheus?, S. 48. 79 Vgl. VW I , S. 189. 80 Ebd., S. 191. 76
3.3 Die Atheismuskritik der »Vornehmsten Wahrheiten«
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verfügen und diese auch in ihrer Summe nicht durch eine mathematisch unendliche Verkettung gegenseitiger Verursachung aufbringen können.81 Reimarus’ Kritik an Spinoza zeigt, wie er die ältere Atheismuskritik der Orthodoxie mit einer neueren zu verbinden bemüht ist, die das Problem des Atheismus auf dem Feld der Naturwissenschaft anzugehen hat. Reimarus’ »Vornehmste Wahrheiten«, die den Glauben an Gott, dessen Eigenschaften und Vorsehung begründen in dem Zusammenspiel der voneinander klar unterschiedenen drei Größen der Materie, des Lebens und des Gottes, der sowohl die Materie wie auch das Leben erschaffen und absichtsvoll aufeinander abgestimmt hat, müssen weite Teile der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theoriebildung als implizit oder explizit atheistisch ablehnen. Die Anfangslosigkeit der Materie oder des Lebens, die spontane Entstehung des Lebens aus der Materie sowie die Leugnung einer absichtsvollen Einrichtung der Welt, die es bestimmten Tierarten ermöglicht, an bestimmten Orten der materiellen Welt zu überleben, gilt es abzuwehren, um den Begründungszusammenhang des theistischen Gottes- und Vorsehungsglaubens zu retten. Beispielhafter Repräsentant des neuen naturwissenschaftlichen Atheismus ist La Mettrie, der nicht nur implizit atheistische Theorien vorträgt, sondern sich auch explizit zum Atheismus bekennt.82 In seinem »Système d’Epicure«83 erneuert er die antike Theorie einer spontanen Entstehung des Lebens aus der Materie und verabsolutiert die Materie in der Weise, dass er zuletzt in »L’homme machine«84 die Existenz einer immateriellen Seele gänzlich ablehnt und mithin dem Unsterblichkeitsglauben die Basis entzieht. Reimarus kann auf die publikumswirksame Erwähnung des radikalen Materialisten La Mettrie nicht verzichten, setzt sich mit dessen Schriften aber kaum auseinander. Denn als das wichtigste Feld der Bewährung des Schöpfungs- und Vorsehungsglaubens erkennt Reimarus das der physikotheologischen Beobachtung von Schöpfungsabsichten, dem er die vierte und fünfte Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« sowie die eigenständigen »Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere« widmet. Hier ist es nicht La Mettrie, dessen explizit atheistischen Argumente überwunden werden müssen, sondern eine vergleichsweise gemäßigte Erscheinungsweise materialistischer Naturwissenschaft, die sich zum Atheismus nicht offen bekennt, aber die von Reimarus und der Tradition der Physikotheologie in Anspruch genommene teleologische Beobachtung von 81
Ebd., S. 191–195. Vgl. VW II , S. 82 ff., 734 u. ö. Zu La Mettries Materialismus und dem Skandalon seines öffentlichen Auftretens vgl. Arno Baruzzi, La Mettrie, in: ders., Aufklärung und Materialismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts. La Mettrie – Helvétius – Diderot – Sade, München 1968, S. 21–62. 83 Vgl. Julien Offray de La Mettrie, Système d’Epicure, in: ders., Œuvres philosophiques, Londres (= Berlin) 1751, S. 329–364. 84 Vgl. Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, übers. von Theodor Lücke, Stuttgart 2001. Reimarus benutzte die französische Ausgabe aus den »Œuvres philosophiques« von 1751. 82
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Schöpfungsabsichten ablehnt. Die Aufgabe einer Verteidigung des theistischen Schöpfungs- und Vorsehungsglaubens fällt für Reimarus auf diese Weise zusammen mit der naturwissenschaftlichen Aufgabe, den Geltungsanspruch der Physikotheologie im Feld der biologischen Forschung zu behaupten.
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker Wer die »Vornehmsten Wahrheiten« zur Hand nimmt, dem fällt ab der zweiten Auflage von 1755 ein Titelkupfer des Hamburger Buchillustrators Christian Fritzsch ins Auge, das den Leser auf das Thema des Buchs vorbereitet.85 In der Mitte des Bildes sieht man eine Gruppe von sechs Engeln, die eine Schriftrolle entspannen, auf der das Planetensystem mit seinen Kreisbahnen um die Sonne sowie die übrigen Sterne zu sehen sind. Die Engel deuten auf die einzelnen Himmelskörper und erklären so die zweckmäßige Anordnung des Makrokosmos der Himmelswelt, die am klarsten zu erkennen gibt, was die Welt in ihrem Zusammenhang ist. Sie ist die »magna civitas dei«, wie die Inschrift am oberen Rand der Schriftrolle verrät, ein von Gott regiertes Ganzes, in dem jedes Einzelne nach den von Gott gegebenen Gesetzen wie in einem Staat auf einen bestimmten Zweck hingeordnet ist. Durch die Beobachtung der großen Bewegungen der Himmelskörper erschließt sich zugleich der tiefere Sinn der alltäglichen Weltwirklichkeit auf dem Planet Erde bis hinab zum Mikrokosmos einzelner Pflanzen und Tiere. Hinter der Gruppe der Engel erstreckt sich eine Landschaft mit Hügeln, Bäumen und Tieren. Sonne und Mond stehen am Himmel. Ein Rahmen aus Blättern, Ranken, verschiedenen fremdartigen Tieren, Gewürm und Insekten umschließt die Szene. In der linken unteren Ecke des Bildes baut eine Spinne ihr Netz. Hier gibt sich im Mikrokosmos die »magna civitas dei« zu erkennen, deren zweckmäßige Anordnung die Gruppe der Engel von der Beobachtung der großen Bewegungen der Himmelskörper aus exemplarisch erschließt. Nimmt man das Titelkupfer Christian Fritzschs als einen Hinweis auf die inhaltliche Mitte der »Vornehmsten Wahrheiten«, so wird man auf die vierte Abhandlung »Von Gott und göttlichen Absichten in der Welt« verwiesen. Mitten in der Auseinandersetzung mit Maupertuis, der das epistemologische Vorrecht der Beobachtung umfassender Schöpfungsabsichten bestreitet, verweist Reimarus hier auf die Aristoteles zugeschriebene Schrift »Über die Welt«86, in 85 Über Fritzsch vgl. Art. »Fritzsch, Christian« in: Georg Kaspar Nagler, Neues allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 5, Linz 21905, S. 186. Der verbreitete Reprint in VW I bietet das Titelkupfer in guter Druckqualität. Die Details des Bildes sind im Originaldruck kaum besser zu erkennen. 86 Vgl. Aristoteles, Über die Welt, übers. u. kommentiert von Otto Schönberger, Stuttgart 2005. Unter kritischen Philologen galt »Über die Welt« bereits vor Reimarus als Pseud-
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker
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der der im Titelkupfer Fritzschs aufgegriffene Gedanke der »magna civitas dei« grundgelegt ist: Aristoteles hat schon die Welt als eine große Stadt Gottes angesehen; und man erkennet genug, daß die lichten und finstern Kugeln, woraus sie besteht, zu lauter Wohnungen für Lebendige geschickt und angelegt sind. Niemand ist so unwissend und fühllos, daß er nicht die Einrichtung des Sonnen-Systems, und die Vortheile, die wir auf dem Erdboden davon genießen, so weit einsehen und empfinden sollte, als genug ist, die weise und gütige Vorsorge seines Schöpfers zu preisen.87
Die Berufung auf »Über die Welt«, die sich Reimarus vermutlich von Melanchthons »Initiae doctrinae physicae«88 her nahelegte, erscheint in doppelter Hinsicht als begründet. Denn zum einen wendet sich »Über die Welt« ähnlich wie Reimarus in seinen »Vornehmsten Wahrheiten« an ein Publikum philosophischer Laien, nämlich an den jungen König Alexander, zu dessen Unterrichtung Aristoteles die Schrift verfasst haben soll, und zum anderen erschließt »Über die Welt« die kosmologische Bedeutung des Gottesgedankens der philosophischen Metaphysik auf eine anschauliche und begreifliche Art. Die Hinordnung der Welt auf Gott wird hier im Bild der Regierung der persischen Könige erklärt, die selbst unbeschwert in ihren Palästen zu Susa und Ekbatana residieren und mit minimalem Aufwand das gesamte persische Großreich durch ein System von Boten, Informanten, Vasallen und Feldherrn regieren. Ähnlich müsse man sich die Weltregierung Gottes vorstellen, der selbst ruhig von einem höchsten Platz aus die Bewegungen in der Welt verursacht, gleich einem Marionettenspieler, der durch die allergeringste Bewegung seiner Hände die erstaunlichsten Bewegungen der Puppe hervorruft. Die ausführliche philosophische Gotteslehre aus dem zwölften Buch der Aristotelischen »Metaphysik«, die Gott jenseits der äußersten Himmelssphären als den selbst unbewegten Beweger des Kosmos einführt, präsentiert sich hier in vereinfachter Form als eine der Auffassungsgabe eines jungen Königs
epigraph. Einen Überblick über die philologische Diskussion der Verfasserschaft bietet Otto Schönberger, Nachwort, in: ebd., S. 46–63. 87 Vgl. VW I , S. 245 f. 88 Vgl. Philipp Melanchthon, Initiae doctrinae physicae, in: ders., Philippi Melanchthonis Opera quae supersunt omnia, hg. von Carolus Gottlieb Bretschneider, Halle 1846, Sp. 179–412. Dort in Sp. 213 f.: »Magis autem conspici potest, quid sit mundus, cum maximae partes ordine considerantur, coelum, sydera, elementa, plantae, animantia, hominum natura, artes et omnium virtutum intellectus, ac Dei agnitio, sed tamen usitatam definitionem recitabo, quae est in libro de Mundo, qui inter Aristotelicos ponitur, etsi ab alio multo recentiore scriptus esse adparet: Mundus est compages coelestium et inferiorum corporum arte distributorum, continens animantia et alias naturas, quae in singulis partibus procreantur, aut existunt. Haec est vetus definitio, cui vere addi potest, conditum esse hoc tantum et tam mirandum opus a Deo, ut sit domicilium humanae naturae, in qua Deus innotescere et conspici voluit, ac saepe cogitanda est bonitas Dei, et erga genus humanum, ingens amor, quod vere nostra causa tantus labor institutus est.« Zum Vorbild Melanchthons vgl. auch unten Kapitel 3.5.2.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
gemäßere Lehre von der Welt als der »magna civitas dei«, die Gott aus der Ferne und ohne eigene Anstrengung nach Gesetzen regiert.89 Die bei Aristoteles grundgelegte Vorstellung von der Weltregierung Gottes verfolgt Reimarus in einer Fußnote weiter zu Cicero und Seneca, die die Welt als eine den Menschen und Göttern gemeinsame gesetzlich geordnete civitas beschreiben, und geht von hier aus zu Philo über, der die Priorität der Beschreibung der Welt als einer von Gott erschaffenen und nach göttlichen Gesetzen regierten Stadt für Mose in Anspruch nimmt, um die besondere Gesetzgebung der Israeliten als ein Abbild der gesetzlichen Verfassung der Welt insgesamt betrachten zu können.90 Eine Brücke zu Augustins »Gottesstaat« schlägt Reimarus nicht. Mit dem geschichtstheologischen Dualismus zweier civitates hat sein Verständnis der »magna civitas dei« nichts zu tun. Reimarus geht es nicht um die Geschichte, sondern um die Natur, um die materielle und belebte Welt, die in ihrer Vielgestaltigkeit und zweckmäßigen Ordnung die weise und gütige Regierung des allmächtigen Schöpfergottes offenbart. Doch wie funktioniert die Weltregierung Gottes, um die es Reimarus der aristotelisch-stoischen Traditionslinie folgend geht? Soll die materielle Welt in ihrem Lauf als von Gott regiert betrachtet werden, so gilt es, das grundsätzliche philosophische Problem einer Vermittlung zu lösen, zwischen einer materiellen Welt einerseits und einem Gott andererseits, der sowohl für Aristoteles wie auch für Reimarus als reines Denken von der materiellen Welt unterschieden ist. Es gilt, die alltäglich beobachtbaren Bewegungen der materiellen Welt in Verbindung zu setzen mit dem immateriellen Gott, der einer jeweiligen Bewegung innerhalb der Welt die ihr eigene Zielbestimmung zuweist. Nur bruchstückhaft gibt »Über die Welt« die Umrisse der in der »Metaphysik« ausgearbeiteten Problemlösung zu erkennen. Von den ewigen Kreisbewegungen der äußersten Himmelssphären abwärts bis hinab zu den endlichen, sublunaren Bewegungen durchdringt eine göttliche Kraft die Welt, die alle Bewegung auf Gott als die gemeinsame Zielursache der Welt hin ausrichtet.91 Die in der »Metaphysik« verwendete metaphorische Beschreibung der ersten Zweckursache, die die Kreisbewegung der äußersten Himmelssphäre mit Gott als einem »Geliebten« verbindet, sowie die differenzierte Beschreibung der Finalität auf der Ebene der insgesamt fünfundfünfzig Beweger der unterschiedlichen Sphären findet sich in der Schrift »Über die Welt« nicht, auch nicht, dass die finale Ausrichtung aller Bewegung im Kosmos letztlich auf eine intellektuelle Liebe der Sphärengeister zu Gott gründet.92 Stattdessen bietet die Schrift »Über die Welt« umso mehr Bilder, die die Hinordnung der mate89
Vgl. Aristoteles, Über die Welt, S. 18–26 (Kapitel 6). Vgl. VW I , S. 245, Anm. 19. 91 Vgl. Aristoteles, Über die Welt, S. 19. 92 Vgl. Aristoteles, Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z )-XIV (N ), griech.-dt. hg. von Horst Seidl, übers. von Hermann Bonitz, Bd. XII , Hamburg 31991, S. 253–275 (Buch XII , 7 und 8). 90
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker
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riellen Welt auf Gott veranschaulichen, an erster Stelle das der Welt als eines von Gott durch göttliche Gesetze regierten Staatswesens. Weitere Vorstellungsbilder finden sich am Ende des sechsten Kapitels zusammengefasst: Mit einem Wort: Was auf dem Schiff der Steuermann, auf dem Wagen der Lenker, im Reigen der Chorführer, im Staat das Gesetz, im Lager der Feldherr, das ist Gott in der Welt, nur daß jenen ihr Amt Mühsal, schlimme Hetze und viele Sorgen bringt, während es für Gott leid- und mühelos ist, fern jeder Schwächung des Körpers. Denn an unbeweglicher Stätte thronend, bewegt er alles und führt es herum, wo und wie er will, in tausend Gestalten und Wesenheiten, wie ja auch das Gesetz der Stadt unbewegt in der Seele derer wohnt, die ihm folgen, und das ganze Staatsleben ordnet.93
Es sind diese Vorstellungsbilder, die Reimarus übernimmt, ohne sie mit der Aristotelischen Metaphysik und ihrer Lehre vom ersten Beweger in Verbindung zu bringen. Er stellt sie vielmehr in den Dienst einer stark modifizierten Fassung der Leibniz-Wolffschen Metaphysik und erklärt durch sie die schwer begreifliche Wirkung intelligibler Substanzen auf materielle Körper. So nähert sich Reimarus in der sechsten Abhandlung »Von dem Menschen an sich, insonderheit nach der Seele betrachtet« dem Leib-Seele-Problem, indem er zunächst auf Leibniz’ Lehre von der prästabilierten Harmonie als eine Lösungsmöglichkeit verweist, um dann jedoch umzuschwenken auf die obskure Theorie einer gegenseitigen Beeinflussung der beiden Substanzen auf der Ebene feinmaterieller Urstoffe, die die Seelensubstanz mit dem allergeringsten mechanischen Kraftaufwand an bestimmten entscheidenden Orten beeinflusst. Seine in der Tat schwer nachvollziehbare Lösung des Leib-Seele-Problems veranschaulicht Reimarus an dem aus »Über die Welt« bekannten Bild des Steuermanns. Der Steuermann kann die Erschütterungen des sich bewegenden Schiffs abgeschwächt mitempfinden und selbst durch eine minimale Bewegung des Steuerrades die große Bewegung des Schiffes lenken.94 In Analogie hierzu erklärt Reimarus in der achten Abhandlung »Von der göttlichen Vorsehung« auch den göttlichen Einfluss auf den Lauf der materiellen Welt als eine Wirkung auf der Ebene einzelner Substanzen, die nur da geschieht, »wo die Schranken der Natur, das ist, der Substanzen in der Welt und ihrer Kräfte, eine Abhängigkeit von einem unendlichen Wesen erfordern«95. Die göttliche Weltregierung geschieht mit minimalem Kraftaufwand an bestimmten Orten innerhalb des Gesamtzusammenhangs der Materie und bleibt gebunden an die göttlichen Gesetze, die alles physikalische Geschehen in der Welt bestimmen. Von Gott einmal weise und gut eingerichtet erhält Gott sie mit seiner Weisheit und Güte in ihrem gesetzmäßigen Lauf. Erneut kommt hier das aristotelische Bild Gottes als eines Gesetzgebers im Staat zum Tragen, durch das die Lehre von der beständigen, welterhaltenden Vorsehung Gottes veranschaulicht werden kann: 93
Vgl. Aristoteles, Über die Welt, S. 25. Vgl. VW II , S. 491. 95 Ebd., S. 589. 94
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Wir können uns einen Begriff solcher Erhaltung machen, wenn wir eine Vergleichung von dem sittlichen Einflusse nehmen, den eines Regenten Obermacht in das Daseyn der Unterrichter, und in ihre abhängige Macht bey der Handhabung der Gesetze hat. Die unteren Obrigkeiten, und ihre Macht, nebst den Gesetzen, wornach sie dieselbe brauchen, haben nicht allein ihr erstes Daseyn und ihren ersten Ursprung von des Oberregenten Macht, sondern auch ihre Dauer von dem fortfahrenden Einflusse dieser Macht. Wenn dieser Einfluß aufhörete, wenn der Regent nicht allezeit die Richter, Gesetze, Sprüche bestätigte, für die seinen erkennete, und ihnen den Nachdruck seines unveränderten Willens und seiner Obermacht verliehe: so würden auch Richter, und richterliche Macht, Gesetze und Sprüche, nichts mehr seyn. Die Ursache dessen liegt in der Abhängigkeit dieser Dinge von der Obermacht des Regenten, und in ihrem eingeschränkten Wesen. Und eben diese Ursache muß auch in der Natur, bey der Dauer eingeschränkter Substanzen, ihrer Kräfte, und deren Gesetze gelten, daß alles seine Wirklichkeit von der unendlichen Obermacht des Schöpfers behält. Gleichwie aber der Einfluß der Obermacht des Regenten in die Bestätigung der Richter, Gesetze und Sprüche, der Verfassung des Staats nicht entgegen, sondern gemäß ist: so ist auch der göttliche Einfluß in die Erhaltung der Welt und ihrer Kräfte der Natur und dem Zwecke der Schöpfung nicht entgegen, sondern gemäß.96
An diese Vorstellung von der göttlichen Vorsehung, die die Welt als ein großes, von Gott durch unveränderliche Gesetze einmal geordnetes und in dieser Ordnung stets erhaltenes Gemeinwesen beschreibt, bindet Reimarus seine physikotheologische Naturbeschreibung, die in der vierten Abhandlung theoretisch vorbereitet in der fünften Abhandlung am Beispiel des Tierreichs weit ausgeführt wird. Ihr Fundament ist die Argumentation mit weit entferntliegenden Finalursachen, die es erlaubt, selbst dem Anschein nach marginale Phänomene des biologischen Mikrokosmos mit dem höchst weisen und gütigen Schöpfergott in Verbindung zu bringen. Von Fabricius und den englischen Physikotheologen übernommen ist der Optimismus, die unveränderliche Bewegung der Planeten auf ihren Bahnen lasse sich als ein Hinweis auf die höchst weise Einrichtung und fortwährende Erhaltung des Planetensystems durch den Schöpfergott verstehen.97 Dieser physikotheologischen Tradition folgend richtet Reimarus den Blick auf das Reich der Tiere, die in ihrer Vielgestaltigkeit den unterschiedlichen Lebensräumen der Erde optimal angepasst sind und sich durch ihr anerschaffenes Triebverhalten in besonderer Weise eignen, die umfassenden Absichten Gottes in seiner Schöpfung zu offenbaren. Freilich kommt das Programm einer physikotheologischen Beobachtung der Absichten Gottes in der Welt als seiner »magna civitas« ohne theoretische Legitimation nicht aus. Unter den im Erscheinungsjahr der »Vornehmsten Wahrheiten« bereits durchaus zahlreichen Kritikern physikotheologischer Argumentation sucht sich Reimarus Pierre Louis Moreau de Maupertuis aus, den 1746 durch Friedrich II . zum Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften ernannten französischen Naturphilosophen, der das Anliegen der Physikotheologie zwar grund96 97
Ebd., S. 589 f. Vgl. hierzu oben Kapitel 3.1.1.
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker
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sätzlich unterstützt, ihr epistemologisches Recht aber empfindlich einschränkt.98 Bei Maupertuis findet Reimarus einige einschlägige Argumente gegen die Physikotheologie aufgelistet, die die verbreitete Haltung derer beschreiben, »welche zwar vom Daseyn Gottes aus andern Gründen überführet sind, aber den Beweis aus der Ordnung und Uebereinstimmung der Dinge, und aus den Absichten, für schwach und unzulänglich erklären«99. Maupertuis’ Kritik richte sich, wie Reimarus weiter ausführt, direkt gegen die Grundlegung der Physikotheologie in der Naturphilosophie Newtons, der »die Gleichförmigkeit oder Ordnung in der Bewegung der Planeten« und »die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung in dem Baue der thierischen Körper«100 zur physikotheologischen Beweisführung zu nutzen versucht habe. Gegen den Beweis aus der Ordnung der Planetenbewegung nun führe Maupertuis an, es müsse nicht notwendig aus dem Nichtwissen der wahren Ursachen der Planetenbewegung auf die weise Einrichtung und Erhaltung des Kosmos in seiner Bewegung durch Gott geschlossen werden. Vielmehr gebe es andere, ebenfalls mögliche Theorien zur Erklärung der Planetenbewegung wie die durch Descartes vertretene Theorie einer Verursachung der Bewegung durch materielle kosmische Wirbel, die eine zwar überholte, aber in sich schlüssige mechanistische Erklärung der Planetenbewegung anbiete und eine physikotheologische Instrumentalisierung nicht zulasse.101 Ebenso gut könne man in der Betrachtung der Tierwelt anstatt der Ähnlichkeit und Übereinstimmung des Körperbaus der vielgestaltigen Tierarten die große Unähnlichkeit der Tierarten hervorheben und ihre Entstehung nicht auf den weisen und gütigen Schöpfergott, sondern auf den Zufall zurückführen, der »erst unzählige vorhergehende Misgeburten hervorgebracht hätte, welche nothwendig umgekommen wären, weil sie nicht alles gehabt, was zur Erhaltung nöthig war«102, bis schließlich überlebensfähige Arten entstanden seien. Mit dieser Argumentation gegen die durch Newton begründete Physikotheologie sieht Reimarus Maupertuis in gefährlicher Nähe zu radikalen Materialisten wie La Mettrie. Maupertuis’ Bereitschaft, die einschlägigen, implizit atheistischen Argumente ausführlich darzustellen und öffentlich als stichhaltig zu erweisen, verdanke sich dem überzogenen Optimismus, die gesamte Beweislast der physikotheologischen Argumentation, die vormals auf die vielgestaltigen Naturphänomene des Makro- und Mikrokosmos verteilt war, lasse sich auf ein einziges von Maupertuis entdecktes Naturprinzip verlagern, das »Gesetz[] der Sparsamkeit, oder der kleinsten Handlung in der Natur«103. 98 Zu Maupertuis’ Wirkung an der reorganisierten Akademie vgl. Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I .1: Von der Gründung bis zum Tode Friedrichs des Großen, Berlin 1900, S. 293–354. 99 Vgl. VW I , S. 230. 100 Ebd., S. 233. 101 Ebd., S. 234 und 238–242. 102 Ebd., S. 236. 103 Vgl. VW I , S. 231.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Was ist gemeint? Das von Maupertuis entdeckte und später so genannte »Prinzip der kleinsten Wirkung« markiert den Zenit der langjährigen akademischen Laufbahn des Naturforschers Maupertuis.104 Hierbei freilich ist das Bild eines intellektuellen Profils, das sich aus Reimarus’ kurzem Referat der Argumente Maupertuis’ gegen Newton ergibt, irreführend, denn es erweckt den Eindruck, es handle sich bei Maupertuis um einen verspäteten Cartesianer, der das Recht einer alten, metaphysisch überladenen mechanistischen Erklärung der Vorgänge innerhalb der res extensa gegen das empirisch erfolgreiche, allein durch Experiment und exakte Beobachtung gewonnene Newtonsche Wissenschaftsideal zu verteidigen sucht. Das Gegenteil ist der Fall. Während eines Aufenthalts in England hatte der junge Maupertuis die Naturwissenschaft Newtonscher Prägung kennen gelernt und die Vorzüge ihrer Methode erkannt. Seit 1728 Mitglied der Royal Society in London hatte er, zurück in Paris, 1732 durch seinen »Discours sur les différentes figures des astres«105 der Newtonschen Physik und ihrer Gravitationslehre gegen den Widerstand des verbreiteten naturwissenschaftlichen Cartesianismus Vorschub geleistet, indem er Newtons Lehre von der Gestalt der Himmelskörper der cartesischen Lehre gegenüberstellte. Die Himmelskörper seien nicht, wie die Cartesianer annahmen, genau kugelförmig, sondern vielmehr an den Polen abgeflacht, da sich die zentripetale Wirkung der Schwerkraft im Verhältnis zur Fliehkraft auf den um ihre eigene Achse rotierenden Himmelskörpern nicht gleichmäßig verteilen könne. Innerhalb der Pariser Académie des sciences zunächst kritisiert gelang Maupertuis 1737 der empirische Beweis der aus der Newtonschen Gravitationstheorie lediglich abgeleiteten Hypothese, auch die Erde sei an ihren Polen abgeflacht. Während einer Expedition nach Lappland führte er Messungen der Bogenlänge ein und desselben Meridians an verschiedenen Breiten durch und bestätigte so die Newtonsche Theorie experimentell.106 Zusammen mit der Newtonschen Gravitationslehre etablierte Maupertuis auch die naturwissenschaftliche Epistemologie Newtons und der Royal Society auf dem Kontinent. Denn anders als der Cartesianismus und auch Leibniz vertrat Newton die Auffassung, Naturforschung und Metaphysik seien streng voneinander zu trennen.107 Gegenstand der Naturforschung seien konkrete Experimente, 104
Zur intellektuellen Biographie Maupertuis’ vgl. David Beeson, Maupertuis: an intellectual biography, Oxford 1992, und Mary Terrall, The Man Who Flattened the Earth. Maupertuis and the Science in the Enlightenment, Chicago / London 2002. 105 Vgl. Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Discours sur les différentes figures des astres Où l’on essaye d’expliquer les principaux phénomenes du Ciel, in: ders., Œuvres, nouvelle édition corrigée et augmentée, Bd. 1, Lyon 1756, S. 79–170. 106 Vgl. David Beeson, Maupertuis: an intellectual biography, S. 88–134. 107 Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 21932, S. 62–85. Zum Gegensatz zwischen Newtons und Leibniz’ Naturwissenschaftsverständnis vgl. ders., Newton und Leibniz, in: ders., Philosophie und exakte Wissenschaft. Kleine Schriften, hg. von Wilhelm Krampf, Frankfurt am Main 1969, S. 132–164. Das englische Original findet sich in Philosophical Review 52 (1943), S. 366–391.
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker
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die es dem Vorbild Galileis folgend mit Hilfe der Mathematik auszuwerten gelte, um die Ergebnisse dann auf verallgemeinerbare Naturgesetze hin zu systematisieren. Die Frage nach einer den gesamten Weltzusammenhang umfassenden metaphysischen Wahrheit, als deren Deduziertes die mathematisch vereinheitlichte experimentelle Erfahrung dann auszuweisen wäre, spielt für Newton keine Rolle. Seine naturwissenschaftliche Arbeit betrachtet er als die eines Kindes, »das am Meeresstrand spielt und sich freut, wenn es ab und zu einen besonders glatten Kieselstein oder eine schönere Muschel findet, während der große Ozean der Wahrheit noch unentdeckt vor [ihm] liegt.«108 Einen letzten metaphysischen Grund der experimentell vermessenen und mathematisch durch gültige Gesetze beschriebenen Phänomene will Newton nicht angeben. Philosophisch-theologischen Kontroversen geht er aus dem Weg, lässt den theologischen Wahrheitsanspruch der dogmatischen Schöpfungs- und Vorsehungslehre unangetastet, greift selbst sogar auf den Gottesgedanken als Erklärungsinstanz zurück, wo es sein naturwissenschaftliches Weltbild erfordert.109 Es war diese epistemologische Bescheidenheit des Naturforschers Newton, an die die Physikotheologen ihre Beobachtung der weisen und gütigen Absichten Gottes in seiner Schöpfung knüpfen konnten. Die ursächliche Verbindung, die die Physikotheologen zwischen Gott und den konkreten physikalischen oder biologischen Erscheinungen der geschaffenen Welt herstellten, lag weit außerhalb des Blickwinkels der experimentellen Naturforschung und konnte widerspruchsfrei neben ihr behauptet werden. Konflikte erkannte man nur dort, wo sich die experimentelle Naturforschung auf eine Liaison mit umfassenden metaphysischen Entwürfen einer Naturphilosophie einließ, die das Recht der physikotheologischen Argumentation mit weit ausgreifenden göttlichen Schöpfungsabsichten bestritt. Die Naturforscher der Royal Society vermieden eine solche Liaison und wahrten so die Harmonie zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Die Cartesianer aber auf dem Kontinent füllten den noch unentdeckten ›Ozean der Wahrheit‹ mit metaphysischen Annahmen, die das Recht der Physikotheologie beschränkten. Greifbar wird dieser Gegensatz in Robert Boyles »A Disquisition about the final Causes of natural Things«110, in der er das Recht der schöpfungstheologischen Argumentation mit final causes oder ends innerhalb der Naturwissenschaft gegen den epikureischen Atomismus und den Cartesianismus verteidigt: 108 Zitiert nach Ernst Cassirer, Newton und Leibniz, S. 149 f. aus David Brewster, Memoirs of the life, writings, and discoveries of Sir Isaac Newton, Edinburgh 1855. Die deutsche Übers. geht auf Wilhelm Krampf zurück. 109 Zu Newton als Theologe vgl. James E. Force, Newton’s God of dominion: the unity of Newton’s theological, scientific, and political thought, in: ders. / Richard H. Popkin, Essays on the context, nature, and influence of Isaac Newton’s theology, Dordrecht, S. 75–102. 110 Vgl. Robert Boyle, A Disquisition about the final Causes of natural Things: Wherein it is inquired, Wether, and (if at all) with what Cautions, a Naturalist should admit them?, in: ders., The Works, Bd. 5, London 1772, S. 392–444.
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For Epicurus, and most of his followers […] banish the consideration of the ends of things; because the world being, according to them, made by chance, no ends of any thing can be supposed to have been intended. And on the contrary, Monsieur des Cartes, and most of his followers, suppose all the ends of God in things corporeal to be so sublime, that it were presumption in man to think his reason can extend to discover them. So that, according to these opposite sects, it is either impertinent for us to seek after final causes, or presumptuous to think we may find them.111
Die cartesische Naturwissenschaft bestreitet die Finalursachen zwar nicht explizit, sie macht die epistemologische Bescheidenheit der Naturforschung aber zu einem Argument gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis von umfassenden Absichten Gottes in seiner Schöpfung und nicht, wie Newton und die englischen Physikotheologen dies taten, für dieselben. Epikureischer Atomismus und Cartesianismus treffen also zusammen in einer ablehnenden Haltung gegenüber der Annahme von Schöpfungsabsichten innerhalb eines naturwissenschaftlichen Weltbilds. Argumente gegen diese Ablehnung und für die Suche nach final causes innerhalb der Naturwissenschaft findet Boyle in der Tradition aristotelischer Schulphilosophie und in der Bibel.112 Das Gesamtbild der Kosmologie, in das er die Arbeit der exakten, auf Experimente gegründeten Naturwissenschaft einbettet, ist ein biblisch-theologisches, das auf die lange Tradition des mittelalterlichen Aristotelismus zurückverweisen kann. Das Gesamtbild der Kosmologie, in das die Cartesianer ihre ebenfalls streng empirisch verfahrende Naturforschung einbetten, ist dagegen geprägt von der neuen, cartesischen Metaphysik, die die Vorgänge innerhalb der res extensa durch begrenzte mechanische Wirkursachen beschreiben muss und sich mit der traditionell-schöpfungstheologischen Annahme weit entfernter Endursachen schwertut. Es erscheint paradox, doch zwischen dem cartesianischen und dem streng auf das Experiment und dessen Auswertung beschränkten Newtonschen Wissenschaftsideal ergibt sich ein Streit um die rechte Metaphysik. Während die Cartesianer die empirische Forschung eng mit der cartesischen Metaphysik verbinden, suchen die Newtonianer die vage Harmonie mit der theologischen Tradition eines aristotelisch-biblischen Weltbildes, das weniger distinkt ist als das cartesische und die experimentelle Forschung daher nicht behindert. Maupertuis nun, dem die beiden naturwissenschaftlichen Ideale gleichermaßen vertraut waren, gab dem Newtonschen den Vorzug. Der Grund hierfür war nicht das Harmonieverhältnis mit der traditionellen Schöpfungslehre, das die Newtonsche Naturwissenschaft besser wahrte als die cartesische. Der Grund war vielmehr, dass die dem Cartesianismus eigene Metaphysik sich im Blick auf die experimen111 Ebd., S. 393. Boyles Descarteskritik wiederholt viele der Argumente, die schon die frühe theologische Descartesrezeption in den Niederlanden konturiert hatten, vgl. Jan Rohls, Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, S. 323 ff. und 336 f. 112 Vgl. Robert Boyle, A Disquisition about the final Causes of natural Things, S. 401 f. und 411 u. ö.
3.4 Magna civitas dei – Die Physikotheologie und ihre Kritiker
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telle empirische Forschung als nachteilig erwies. Denn die Cartesianer, die die aus Experimenten und deren Interpretation gewonnenen Gesetze stets als Teil eines philosophischen Gesamtsystems der Natur verstehen mussten, wurden den empirischen Phänomenen schlechter gerecht als die Newtonianer, die gänzlich darauf verzichteten, Naturphänomene aus einem Gesamtsystem deduzieren zu wollen. Diese verabsolutierten die Induktion, hielten sich an die experimentell erfassbaren Phänomene, die sie mathematisch analysierten, um allgemeine Gesetze formulieren zu können, ohne diesen ewige Gültigkeit zuzusprechen. Die Naturgesetze verstanden sie als gültig nur, insofern sie Naturphänomene erklärten und voraussagten.113 Diesem Weg folgend betrieb Maupertuis auch in Berlin an der Akademie der Wissenschaften eine streng experimentell und empirisch verfahrende Naturforschung, folgte Leibniz zwar in dessen physikalischen und biologischen Forschungen, teilte dessen Forderung nach einer Einbettung der Naturforschung in einen metaphysischen Rahmen aber nicht. Selbst die Gültigkeit der Mathematik, deren unumstößliche logische Regeln Leibniz zum Rückgrat der Philosophie insgesamt erklärt hatte, band er an die Erfahrung der Naturphänomene, die zu erfassen sie offenkundig als geeignet gelten konnte.114 Dass Maupertuis, wie Reimarus vorführt, kritische Argumente sammelt gegen die physikotheologische Argumentation mit Finalursachen auf der Ebene des Makrokosmos des Sternenhimmels ebenso wie auf der des biologischen Mikrokosmos, muss nicht verwundern. So eng die Physikotheologie mit der Tradition Newtonscher Wissenschaft verbunden ist, widerspricht sie letztlich doch den Regeln einer streng empirisch verfahrenden exakten Naturwissenschaft und ist ebenso inakzeptabel wie der metaphysische Ballast, den Descartes und Leibniz der naturwissenschaftlichen Forschung aufgebürdet hatten. Innerhalb der naturwissenschaftlichen Arbeit an konkreten Einzelphänomenen hat die Annahme weit entfernter Ursachen, die das konkrete Phänomen mit dem Schöpfergott und dessen Weisheit und Güte in Verbindung bringen, nichts zu suchen. Am ehesten ließe sich das physikotheologische Argument an Naturprinzipien binden, die hinreichend allgemein sind, um das zweckvolle Wirken Gottes in seiner Schöpfung insgesamt erkennbar zu machen. Als ein solches hinreichend allgemeines Naturprinzip betrachtet Maupertuis das von ihm entdeckte Prinzip der kleinsten Aktion.115 An die Leibnizsche Dynamik anknüpfend hatte Mau113
Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 68 f. Vgl. Helmut Pulte, Das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Kraftkonzeptionen der rationalen Mechanik. Eine Untersuchung zur Grundlegungsproblematik bei Leonhard Euler, Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Joseph Lagrange, Stuttgart 1989, S. 29–36. Dass Maupertuis’ Haltung der Metaphysik gegenüber als das einer reinen Ablehnung unzureichend beschrieben wäre, wird deutlich in: David Beeson, Maupertuis: an intellectual biography, S. 153– 163. Zu Maupertuis’ Auffassung der Mathematik vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Berlin 1911, S. 423. 115 Zum theologisch-metaphysischen Interesse Maupertuis’ vgl. Mary Terrall, The Man Who Flattened the Earth, S. 270–286. Zum Prinzip der kleinsten Aktion vgl. Horst-Heino 114
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3 Das Religionsphilosophische Werk
pertuis die in einem System von Körpern wirksamen Zentralkräfte untersucht und war gegen Leibniz zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Bewegungsänderung nicht entweder durch maximale oder minimale, sondern nur durch minimale Kräfteeinwirkung verursacht wird. Diese Erkenntnis hatte er in dem allgemeinen Satz formuliert: »Wenn eine Veränderung in der Natur vorgeht, so ist die Menge der Wirkung, welche zu dieser Veränderung nötig ist, so klein als möglich.«116 An dieses Prinzip der kleinsten Aktion nun knüpfte Maupertuis den physikotheologischen Beweis der göttlichen Schöpfungsabsichten, ein angesichts der von Maupertuis stets eingeforderten empiristischen Selbstbescheidung der Naturwissenschaft durchaus bemerkenswerter Schritt, dessen innere Spannung Ernst Cassirer treffend formuliert: Der Grundplan der göttlichen Verfassung des Universums ist uns durch die Prinzipien der Mechanik selbst verbürgt. Die ›Zufälligkeit‹ der Naturgesetze, die uns ihr rein logisches Verständnis verwehrte, erschließt uns zugleich eine wichtige positive Einsicht, sofern sie uns ihren teleologischen Charakter und Ursprung enthüllt. Das Prinzip der kleinsten Wirkung muß als oberster Grundsatz der Mechanik proklamiert werden, weil in ihm diese Beziehung und diese Bedingtheit am deutlichsten zutage tritt: die Bewegungsgesetze, denen die Herleitung aus Begriffen des Denkens versagt war, werden jetzt aus den Attributen der höchsten, verstandesbegabten Ursache deduziert. So ist bei aller Relativierung unseres Erfahrungswissens der Gedanke des Absoluten noch in voller Kraft geblieben und beherrscht, wie bisher, das Gesamtsystem der Erkenntnis.117
Die Einsicht, dass Maupertuis durch die physikotheologische Ausdeutung seines Prinzips der kleinsten Aktion den Gedanken des Absoluten im Gesamtsystem der Erkenntnis gerettet habe, erreicht Reimarus in seiner Auseinandersetzung mit Maupertuis freilich nicht. Er wirft Maupertuis vielmehr vor, dass er die Plausibilität der physikotheologischen Argumentation besonders an den Phänomenen des biologischen Mikrokosmos leichtfertig aufs Spiel setze und das eigentliche Anliegen der Physikotheologie von dem Prinzip der kleinsten Aktion aus nicht im Mindesten zu erreichen imstande sei: Ich will die algebraische Berechnung der Kräfte und Wirksamkeit in der Welt gerne andern überlassen, welche besser davon urtheilen können. Aber in dem metaphysischen Felde, wo aus diesem Principio ein weiser Stifter dieser Regel der Sparsamkeit geschlossen werden soll, läßt es uns noch viele Blößen übrig. Es ist 1) auszumachen, daß die kleinste HandBorzeszkowski, Der epistemologische Gehalt des Maupertuisschen Wirkungsprinzips, in: ders. / Renate Wahsner, Maupertuis: Eine metaphysische Diskussion über eine neue Physik, Berlin 1998, S. 17–27, hier S. 24 f., und Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, S. 425 f. 116 »Lorsqu’il arrive quelque changement dans la Nature, la Quantité d’action nécessaire pour ce changement, est la plus petite qu’il soit possible«, zitiert bei Mary Terrall, The Man Who Flattened the Earth, S. 272, Anm. 8, aus: Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Les loix du mouvement et du repos, déduites d’un principe de métaphysique, in: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, Berlin 1 (1746), S. 267–294, hier S. 290. 117 Vgl. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, S. 426.
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lung in der Natur nicht die einzig mögliche, und also nicht an sich und schlechterdings nothwendig sey: und 2) wenn mehrere Wege und Mittel möglich sind, daß die Natur nicht von ungefähr und gleichsam im Blinden auf den kürzesten Weg geraten können. Dann aber 3) wenn eine äussere weise Direction, une intelligence, une sagesse ordonnatrice, daraus folgen soll, wird allemal erst zu beweisen seyn, daß die Sparsamkeit einen Zweck oder eine Absicht, und zwar etwas Gutes, und unter allen Guten das Beste, zur Absicht habe. Denn auch das Böse könnte durch die kürzesten Mittel ausgerichtet werden; und das wäre keine Weisheit.118
Maupertuis’ Argumentation läuft auf einen naturgesetzlich festgeschriebenen Determinismus hinaus und kann den Beweis der Güte und Weisheit Gottes, um den es der Physikotheologie geht, nicht erbringen. Sie verstrickt sich vielmehr in unlösbare Schwierigkeiten hinsichtlich des Theodizeeproblems und arbeitet dem Anliegen der Physikotheologie entgegen.119 So sehr Reimarus Maupertuis zuerkennt, dass er selbst kein Atheist, sondern vielmehr ein gottesgläubiger und auch sittlich tadelloser Wissenschaftler sei, muss er ihm doch vorwerfen, die jahrtausendealte Tradition einer Betrachtung der Welt als der »magna civitas dei« beschädigt zu haben. Mit seiner Kritik der traditionellen Gestalt der Physikotheologie stellt sich Maupertuis auf die Seite der radikalen, atheistischen Materialisten, die den Atomismus der antiken Epikureer wiederzubeleben versuchen. In seiner Funktion als Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften steht er mit dieser Haltung zudem in der Mitte der Öffentlichkeit, so dass der Eindruck entsteht, die durch Maupertuis repräsentierte exakte Naturwissenschaft sei die einzig mögliche.120 Diesem Alleingeltungsanspruch der über Newtons Forderungen weit hinausgehenden neuen exakten Naturwissenschaft der Berliner Akademie der Wissenschaften stellt Reimarus seine eigene physikotheologische Beschreibung der Tiertriebe entgegen als einen praktischen Erweis der naturwissenschaftlichen Nützlichkeit der Physikotheologie. Die schon von Bacon und Descartes zurückgedrängte Beobachtung von Endursachen muss als nützlich ausgewiesen werden, soll sie innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung ihre Geltung behalten.121 118 119
Vgl. VW I , S. 232 f., Anm. Die Theodizeeprobleme, in die Maupertuis gerät, führt Reimarus weit aus, ebd. S. 264–
270. 120 Der Prioritätsstreit, der um das Prinzip der kleinsten Aktion entstand, dürfte zur öffentlichen Verbreitung von Maupertuis’ Wissenschaftsideal beigetragen haben. Zur frühen Rezeption von Maupertuis’ »Essai de cosmologie« in Deutschland vgl. Mary Terrall, The Man Who Flattened the Earth, S. 286–309. Zum Verlauf des Streits vgl. außerdem Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 331–345. Die verschiedenen literarischen Beiträge zu dem Streit finden sich zusammengestellt in: Luise Adelgunde Victorie Gottsched (Hg.), Sammlung aller Streitschriften, die neulich über das vorgebliche Gesetz der Natur, von der kleinsten Kraft in den Wirkungen der Körper, zwischen dem Hn. Präsidenten von Maupertuis, zu Berlin, Herrn Professor König in Holland u. a. m. gewechselt worden, [ohne Ort] 1753. 121 Zum Nachweis der Nützlichkeit gegen Descartes und Bacon vgl. VW I , S. 271–300.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Mit dieser apologetischen Strategie übernimmt Reimarus stillschweigend den auf Newton zurückgehenden Ausschluss der Frage nach metaphysischer Wahrheit aus der Naturwissenschaft. Die Zulassung der Physikotheologie im Bereich der exakten Naturwissenschaft hängt nicht von der Frage ab, ob die von ihr in Anspruch genommene Metaphysik wahr ist oder falsch, sondern allein davon, ob sie zu Ergebnissen führt, die den Naturphänomenen gerecht werden. Die physikotheologische Frage nach Absichten hat, wie Reimarus am Ende der vierten Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« zeigt, immer wieder zu neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen geführt und tut dies auch noch, wie er am Beispiel seiner physikotheologischen Beschreibung des Tierreichs in der fünften Abhandlung und darüber hinaus in den »Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere« vorführt. Die Physikotheologie hat noch nicht ausgedient und mit ihr die uralte philosophisch-theologische Vorstellung der Welt als einer »magna civitas dei«, in der alle Naturphänomene, die großen ebenso wie die mikroskopisch kleinen, die weisen und gütigen Absichten des allmächtigen Schöpfergottes offenbaren. Auch wenn es Reimarus gelingt, mit dem Hinweis auf die Nützlichkeit der Frage nach Schöpfungsabsichten deren Geltung im Bereich der Naturwissenschaft zu untermauern, bleibt die philosophisch-theologische Frage nach der metaphysischen Wahrheit der Vorstellung der Welt als einer »magna civitas dei« von der Auseinandersetzung mit Maupertuis doch letztlich unberührt. Sie erweist die Vorstellung der »magna civitas dei« weder als wahr noch als falsch. Zwar mag es so scheinen, als habe die kontinentale Physik durch ihr Scheitern an der Empirie sich gegenüber der Newtonschen als unterlegen erwiesen und damit zugleich die cartesische Metaphysik falsifiziert. Zumindest aus der Perspektive der exakten Naturwissenschaftler im Gefolge Newtons, wäre dieser Schluss aber zurückzuweisen. Gerade Newton hatte ja die strikte Trennung zwischen experimenteller Forschung und metaphysischer Wahrheitsfrage gefordert und hätte den Rückschluss von der empirischen Schwäche der cartesischen Physik auf die Unwahrheit ihrer Metaphysik nicht zugelassen. Entsprechend kann auch umgekehrt der empirische Erfolg, den Reimarus für seine physikotheologische Arbeit an den Tiertrieben beansprucht, im Geiste der strengen Newtonschen Naturwissenschaft nicht als ein Argument für die metaphysische Wahrheit der »magna civitas dei« angeführt werden. Exakte Naturwissenschaft und philosophisch-theologische Systementwürfe sind ein für alle Mal getrennt, so dass die Naturwissenschaft zum Wahrheitsbeweis philosophisch-theologischer Kosmologien nicht mehr beitragen kann.122 So sehr Reimarus sich auch bemüht, seine apologetische Argumentation auf dem Feld der Naturwissenschaft zu entwickeln, findet sich das, was von seinem 122
Zur theologischen Bedeutung der hier ansetzenden Trennung von Theologie und Naturwissenschaft vgl. Ulrich Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 401–426.
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik
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Wahrheitsbeweis der Vorstellungswelt der »magna civitas dei« übrig bleibt, doch auf den altbekannten Feldern der philosophisch-theologischen Diskussion über das Dasein und die Eigenschaften Gottes. Der biblisch-dogmatische Schöpfungsglauben der Tradition spielt hier eine entscheidende Rolle ebenso wie die Vorgaben einer rationalistischen Metaphysik, die die Eigenschaften Gottes zunächst auf apriorischem Weg aus dem Begriff Gottes deduziert. Erst vor diesem Hintergrund wird es möglich, die aposteriorische Argumentation aus der Welterfahrung einzuführen als die zusätzliche empirische Bestätigung einer Wahrheit, die in der philosophisch-theologischen Tradition christlicher Dogmatik lange schon feststeht. Die »magna civitas dei« ist kein Thema der Naturwissenschaft, sie ist das Weltbild der christlichen Dogmatik, das seinen Platz zu behaupten versucht innerhalb einer Naturwissenschaft, die auf alle theologisch-philosophischen Weltbilder zu verzichten lernt.
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik Eine Beschreibung des Verhältnisses der »Vornehmsten Wahrheiten« zur christlichen Dogmatik, zu deren Verteidigung Reimarus das Werk empfiehlt, kann sich an den drei Teilen der philosophischen metaphysica specialis orientieren, den Lehren von Gott, der Welt und dem Menschen. Die »Vornehmsten Wahrheiten« präsentieren sich als eine der alltäglichen gesunden Vernunft plausible Bestätigung und Stütze der Wahrheit auch der geoffenbarten christlichen Religion, deren konkrete Formulierung Reimarus primär im dogmatischen Lehrsystem der lutherischen Orthodoxie findet, wie es sich bei Reimarus’ theologischem Lehrer Johann Franz Budde in dessen »Institutiones theologiae dogmaticae«123 dargestellt findet. Den Umstand, dass allein aus Vernunft und Erfahrung eine Lehre vom Dasein Gottes und dessen Eigenschaften, von der Welt, ihrem Ursprung und Lauf sowie von dem Menschen, seiner Seele und deren Unsterblichkeit entwickelt werden kann, hatte sich früh bereits die theologische Apologetik zunutze gemacht, die der dogmatischen Offenbarungswahrheit die philosophischen Wahrheiten der metaphysica specialis bestätigend zur Seite stellte. Innerhalb des Luthertums war es der apologetische Bedarf einer Metaphysik, der der zunächst abgelehnten aristotelischen Schulphilosophie der Scholastik ein Existenzrecht neben der allein aus der Schrift und den altkirchlichen Konzilsentscheidungen zu 123 Johann Franz Budde, Io. Francisci Buddei institutiones theologiae dogmaticae variis observationibus illustratae, Lipsiae 1723. Die Bezugnahme auf Buddes Dogmatik lässt sich hier nicht so deutlich belegen wie in der Dogmenkritik der »Apologie« (oben Kapitel 2.6). Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass Budde diejenige Dogmatik, die den Hintergrund seiner Dogmenkritik bildet, auch in seiner positiven Aufnahme christlicher Dogmen zugrunde legte.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
erschließenden Offenbarungswahrheit sicherte.124 An diese Tradition theologischer Apologetik, die ein Verhältnis der Harmonie zwischen Metaphysik und Offenbarungswahrheit in Anspruch nimmt, knüpfte Leibniz 1710 mit seinen »Versuche[n] in der Theodicée«125 an. Er skizziert die Geschichte von Glauben und Vernunft seit der Alten Kirche und verweist auf einen grundsätzlichen Konsens der Theologen »aller Richtungen«, der besagt, »daß kein Glaubensartikel einen Widerspruch enthalten, noch Beweisen widersprechen darf, die exakt sind wie die mathematischen, wo das Gegenteil der Schlußfolgerung ad absurdum, d. h. auf einen Widerspruch geführt werden kann«126. Theologie und Philosophie stehen in einem grundsätzlichen Verhältnis der Harmonie, das nachgerade der Theologie hilft, die Möglichkeit der theologischen Offenbarungswahrheit gegen Atheisten, Zweifler oder Anhänger falscher Religionen zu verteidigen. In diesem Sinne hatte auch Reimarus’ Jenaer Lehrer, Johann Franz Budde die philosophische Metaphysik innerhalb der Theologie zugelassen als ein zusätzliches apologetisches Fundament zum Erweis der höherstehenden Offenbarungswahrheit, und Reimarus seinerseits folgt dem Beispiel Buddes, indem er die zentralen Gegenstände der metaphysica specialis innerhalb seiner »Vornehmsten Wahrheiten« allgemeinverständlich erschließt.127 Seine hauptsächliche Quelle ist hierbei die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie, wie sie sich in Wolffs so genannter ›Deutschen Metaphysik‹128 ausgeführt findet. Reimarus greift auf einige wichtige Lehrstücke aus der Wolffschen Metaphysik zurück, ohne sich jedoch exakt an dessen Vorgaben zu halten. Der Begründungszusammenhang einzelner Lehrstücke wird von Reimarus eigenmächtig abgewandelt, andere fallen ganz weg. Sein Zugriff auf die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie ist ein eklektischer.129 Steht das Programm der »Vornehmsten Wahrheiten« in der Tradition lutherischer Apologetik, wie sie nicht zuletzt in der Übergangstheologie Johann Franz Buddes betrieben wird, so bleibt doch ein entscheidender Unterschied festzuhalten: die Offenbarungswahrheit, deren metaphysisches Fundament die 124
Vgl. Peter Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921, S. 254 f. Zur Geschichte der Verteidigung der Wahrheit der christlichen Religion außerhalb des Luthertums vgl. C. Gellinek, Die Verteidigung der Wahrheit der christlichen Religion im Jahrhundert des Späthumanismus (1540–1631) bei Juan Luis Vives, Philippe Duplessis Mornay, Hugo Grotius und der Opitzschule, in: G. P. Knapp (Hg.), Sprache und Literatur. Festschrift für Arval L. Straedbeck zum 65. Geburtstag, Bern 1981, S. 53–64. 125 Gottfried Wilhelm Leibniz, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übers. von Artur Buchenau, Hamburg 1996. 126 Ebd., S. 49. 127 Vgl. Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996, S. 253–259. 128 Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, hg. von Charles A. Corr, Halle 1751. Einen Überblick über die Argumentationen der deutschen und der lateinischen Metaphysik Wolffs bietet Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, S. 158 ff. und 190 ff. 129 Zur Methode des eklektischen Philosophierens vgl. oben Kapitel 2.1.2.
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik
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»Vornehmsten Wahrheiten« erschließen, wird von Reimarus selbst niemals positiv aufgegriffen. Das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bleibt in den »Vornehmsten Wahrheiten« bemerkenswert unklar. Denn einerseits entwickelt Reimarus die metaphysischen Lehren von Gott, der Welt und dem Menschen je für sich, als könnten sie auch ohne die dogmatische Offenbarungswahrheit als wahr erwiesen werden. Andererseits aber entsprechen die inhaltlichen Zielpunkte der ihrem Anspruch nach rein philosophischen Argumentation oft so exakt dem dogmatischen Gehalt der theologischen Lehrstücke, zu deren Verteidigung sie in der apologetischen Tradition verwendet wurden, dass sich die apologetische Zusammenschau der »Vornehmsten Wahrheiten« mit der orthodoxen lutherischen Dogmatik geradezu aufzudrängen scheint. Lediglich in der Anthropologie stimmt Reimarus’ Argumentation mit den Zielvorgaben der Dogmatik nicht überein. Die Lehren von Gott und der Welt aber entsprechen exakt den Erfordernissen lutherischer Dogmatik, so sehr sich Reimarus auch bemüht, sie rein philosophisch zu entwickeln. Die Reste lutherisch-dogmatischer Wahrheitsgewissheit spielen in Reimarus’ eklektischem Einsatz der vorwiegend Wolffschen Philosophie eine weit wichtigere Rolle, als es auf den ersten Blick scheint.
3.5.1 Gott Was zunächst den Gottesbegriff angeht, so fasst Reimarus ihn als den eines »erste[n], selbständige[n], nothwendige[n] und ewige[n] Wesen[s]«130. Argumentativ erschlossen wird dieser Gottesbegriff aus der Erfahrung der Welt, die selbst den zureichenden Grund ihrer Wirklichkeit nicht in sich hält und daher in ihrer Kontingenz auf das Dasein eines selbständigen, ewigen und notwendigen Wesens verweist. Einen entsprechenden aposteriorischen Zugang zum Gottesbegriff wählt auch Wolff in seiner ›Deutschen Metaphysik‹, in der er Gott als ein »selbständiges Wesen, darinnen der Grund von der Würcklichkeit der Welt und der Seelen zu finden« ist und das »von den Seelen der Menschen als von der Welt unterschieden«131 ist. Diese doppelte Unterscheidung Gottes von der Welt einerseits und der menschlichen Seele andererseits als deren jeweiliger Grund spielt bei Reimarus kaum eine Rolle.132 Es ist vor allem das kosmologische Argument, das er in der Grundstruktur von Wolff übernimmt, um dessen Plausibilität in der Auseinandersetzung mit implizit oder explizit atheistischen Lehren zu verteidigen. Soll bewiesen werden, dass die Welt den Grund ihrer Wirklichkeit nicht in sich selbst hält, so gilt es, die These einer Ewigkeit oder Anfangslosigkeit der Welt, von Reimarus unterschieden in leblose Materie einerseits und Leben an130
Vgl. VW I , S. 1. Vgl. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken, S. 584. 132 Lediglich der kurze Absatz gegen die »Idealisten« zu Beginn der ersten Abhandlung könnte ein Reflex auf Wolffs Argumentation sein, vgl. VW I , S. 2 f. 131
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3 Das Religionsphilosophische Werk
dererseits, abzuwehren, wobei die Grundthese von der Ewigkeit der Welt sich in verschiedenen Variationen zeigt, in denen die Ewigkeit zwar nicht explizit behauptet, aber doch stillschweigend vorausgesetzt ist. Jean Fédérìc Bernards These einer Unendlichkeit des Menschengeschlechts gilt es hier zu widerlegen ebenso wie den Katastrophismus, der den historischen Befund einer Entwicklung des Menschengeschlechts von einem Anfangspunkt aus mit der These einer Ewigkeit der Welt versöhnt.133 Hinsichtlich des Lebens in der Welt ist es die von La Mettrie in Anküpfung an den antiken Epikureismus formulierte These einer spontanen Generation des Lebens aus der Materie, die dazu beiträgt, die Weltwirklichkeit ohne Rekurs auf Gott zu erklären. Johann Hamm, Niklaas Hartsoeker, Antoni van Leeuwenhoek, Buffon und John Tuberville Needham knüpfen an diese Lehren an und bestätigen die Theorien der spontanen Generation auf dem Boden der exakten, beobachtenden Naturforschung.134 Die weit ausgeführten naturwissenschaftlichen Diskussionen der ersten drei Abhandlungen der »Vornehmsten Wahrheiten« erweisen sich als empirische Verteidigungen des von Wolff ins Zentrum der philosophischen Gotteslehre gerückten kosmologischen Arguments. Der ›Deutschen Metaphysik‹ folgend greift Reimarus freilich nur eine Hälfte der von Leibniz her zweifach begründeten Gotteslehre auf. Leibniz nämlich unterscheidet in seiner »Monadologie«135 zwei Wege der argumentativen Erschließung des Daseins Gottes, an zweiter Stelle lediglich den aposteriorischen, der aus der Existenz kontingenter Wesen auf Gott als einen zureichenden Grund schließt, an erster Stelle aber den apriorischen, der aus dem Begriff Gottes als desjenigen, »bei dem die Essenz die Existenz einschließt oder für das es zureicht, möglich zu sein, um wirklich zu sein«, dessen Dasein beweist.136 Auch Wolff ist dieser von Kant später so genannte ontologische Beweis keineswegs fremd. In seiner lateinischen Metaphysik bietet er ihn gleichberechtigt neben dem aposteriorisch argumentierenden kosmologischen Beweis.137 Reimarus aber folgt in diesem Punkt der ›Deutschen Metaphysik‹, die den ontologischen Beweis auslässt. Der Grund hierfür dürfte zum einen sein, dass der ontologische Beweis »metaphysische Demonstrationen aus der höheren Weltweisheit«138 in Anspruch nehmen müsste, die Reimarus seinen Lesern im Interesse einer »begreiffliche[n]« Darstellung ersparen möchte.139 Zum anderen könnte hier aber auch das Vorbild von Reimarus’ theologischem Lehrer Budde eine Rolle gespielt haben, der 133
Vgl. die detaillierte Inhaltszusammenfassung zur ersten Abhandlung oben Kapitel 3.3. Vgl. VW I , S. 88. 135 Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, Französisch / Deutsch, übers. und hg. von Hartmut Hecht, Stuttgart 1998. 136 Ebd., S. 35 (§ 44). 137 Vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 194. 138 Vgl. VW I , »Vorrede«. 139 So mit Günter Gawlick, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. von Günter Gawlick, Bd. 1, Göttingen 1985, S. 9–50, hier S. 16 f. 134
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik
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in seinen »Theses theologicae de atheismo et superstitione«140 von 1717 ebenfalls den Gottesgedanken der Metaphysik apologetisch nutzt, hierbei aber eine Lücke lässt bei dem ontologischen Beweis, dessen Plausibilität und Überzeugungskraft dem Thomasianer Budde verschlossen blieb. Budde argumentiert, wie später Reimarus, begreiflich und verlagert die Beweislast der metaphysischen Gotteslehre auf das kosmologische Argument.141 Mit zu den gegen den Atheismus vorgebrachten Beweisen des Daseins Gottes zählt Budde auch den physikotheologischen Beweis, der aus der absichtsvollen Einrichtung der Welt auf den weisen und gütigen Schöpfergott schließt. An dieser Stelle jedoch variiert Reimarus die Argumentation seines Lehrers Budde. Zwar verwendet Reimarus große Mühe auf die Verteidigung des Rechts der Physikotheologie innerhalb der Naturwissenschaft. Die Physikotheologie führt er aber nicht an als einen Beweis des Daseins Gottes. Vielmehr setzt sie das auf kosmologischem Weg bewiesene Dasein Gottes voraus und ermöglicht lediglich eine Erschließung der Eigenschaften Gottes. Sie bestätigt aposteriorisch aus der Welterfahrung argumentierend die Eigenschaften Gottes, die sich ebenso apriorisch aus dem Begriff begründen lassen. Hier führt Reimarus aus, was er in den Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten« die »gedoppelte Spuhr«142 einer Verschränkung apriorischer und aposteriorischer Argumentation nennt. Dem Begriff als des selbständigen, ewigen und notwendigen Wesens nach ist Gott vollkommen, unveränderlich, unendlich, einzig, unkörperlich, allmächtig, allwissend und allgütig.143 Aus der Erfahrung der geschaffenen Welt lassen sich diese Eigenschaften bestätigen, besonders die der Macht, Weisheit und Güte. Diese Eigenschaftslehre entspricht ihrem Resultat nach weitgehend der orthodoxen lutherischen Dogmatik, die die göttlichen Attribute als Teil der geoffenbarten Gotteserkenntnis aus der Bibel erschließt.144 Reimarus’ Argumentation bewegt sich hier voll und ganz in der Tradition lutherischer Apologetik, die die 140 Johann Franz Budde, Theses theologicae de atheismo et superstitione variis observationibus illustratae, Lugdunum Batavorum 1767. 141 Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 41968, S. 320–322. 142 Vgl. Hermann Samuel Reimarus, [Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« im Rahmen der 1. Fassung der »Apologie«], in: ders., Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 521–585, hier S. 531. 143 Vgl. VW I , S. 208–217. 144 In der orthodoxen lutherischen Dogmatik wird Gott von der Bibel her seinem Wesen nach erkannt als vollkommen, einzig, wahr, gütig, unabhängig vom Sein, ewig, unermesslich, unwandelbar und unbegreiflich; seinem Wirken nach als lebendig, allwissend, allweise, gütig, heilig, gerecht und wahrhaftig, vgl. beispielsweise Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664), hg. und übers. von Andreas Stegmann, Tübingen 2006, S. 52–59. Auch Budde erweist die dogmatische Attributenlehre als vernunftgemäß und stellt ihr die Trinitätslehre gegenüber als »aliquid […] quod rationi ignotum prorsus atque occultum est«, vgl. Johann Franz Budde, Institutiones theologiae dogmaticae, S. 277 f. und S. 343.
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3 Das Religionsphilosophische Werk
Offenbarungswahrheit der Dogmatik metaphysisch zu stützen versucht durch den Aufweis der Kongruenz philosophischer und theologischer Wahrheit. Reimarus’ Überschritt freilich vom kosmologischen Beweis des Daseins Gottes zur physikotheologischen Argumentation, die er zur Erschließung der göttlichen Eigenschaften nutzt, setzt seinerseits ein anderes, weniger philosophisches als vielmehr dogmatisches Lehrstück voraus, nämlich das von der Schöpfung. Der kosmologische Beweis aus der Kontingenz der Welt macht lediglich erkennbar, dass die Welt von einem ersten, selbständigen und notwendigen Wesen als zureichendem Grund abhängt. Wie diese Abhängigkeit aber zu denken ist, geht aus dem kosmologischen Argument selbst nicht mit Bestimmtheit hervor. Hier bedarf es des zweiten, kosmologischen Teils der metaphysica specialis, in dem Reimarus die rein vernünftige Lehre von der Welt, ihrer Entstehung und ihrem Lauf mit den dogmatischen Lehrstücken von der Schöpfung und Vorsehung in Einklang zu bringen hat.
3.5.2 Schöpfung und Vorsehung Die Schöpfung der Welt betrachtet Reimarus als eine Schöpfung aus dem Nichts. Durch die Schrift und die altkirchlichen Bekenntnisse fand sich die reformatorische Dogmatik von Anfang an auf die Lehre einer Schöpfung aus dem Nichts verpflichtet. Denn der im Bekenntnis festgeschriebene Glaube an Gottes Schöpfung des Himmels und der Erde verweist auf den Schöpfungsbericht der Genesis, von dem her der Gedanke einer Schöpfung aus dem Nichts als fest begründet erschien. Eine zusätzliche Bestätigung dieser Lehre durch die Vernunft bleibt innerhalb der reformatorischen Dogmatik zunächst ausgeschlossen. Die Schöpfung aus dem Nichts ist unbegreiflich und lässt sich durch kein analoges menschliches Handeln veranschaulichen. Sie muss daher geglaubt werden als ein Bekenntnis der unvergleichlichen Allmacht und Einzigkeit des dreieinigen Schöpfergottes und entzieht sich dem menschlichen Verstehen. So hatte Luther den Schöpfungsglauben aufgefasst, und auch in der späteren orthodoxen Lehrentwicklung blieb man dem von Luther in Übereinstimmung mit Schrift und Bekenntnis formulierten Glauben an die Schöpfung aus dem Nichts treu.145 Als ein Thema der geoffenbarten Theologie und unter Rekurs auf die Schrift behandelt daher auch Johann Franz Budde in seinen »Institutiones theologiae dogmaticae« die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts als einen dem menschlichen Verstehen unbegreiflichen Glaubenssatz. Die Vernunft lässt er lediglich am Rande zu Wort kommen. Unter Hinweis auf seine »Theses theologicae de atheismo et superstitione« diskutiert Budde kurz einschlägige philosophische Bestreitungen der Schöpfung aus 145
Zur Grundlegung der Schöpfungslehre bei Luther vgl. Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, Gütersloh 1991, S. 27–119, hier S. 38–44.
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dem Nichts, die auf die These von der Ewigkeit der Welt hinauslaufen, widerlegt diese implizit atheistischen Lehren aber nicht philosophisch.146 Im Rahmen der Dogmatik sind sie bereits widerlegt durch die überlegene Offenbarungswahrheit, die die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts eindeutig vorschreibt. Ohne den Rekurs auf die Schrift hält Reimarus an der Schöpfung aus dem Nichts fest, schließt aus, dass das Nichts, aus dem Gott schuf, in irgendeiner Weise als Etwas zu charakterisieren sei, und wendet sich gegen die Behauptung eines infiniten Regresses, der die Erstverursachung der Welt auf einen mathematischen Unendlichkeitsbegriff verlagert.147 Das Interesse, aus dem heraus Reimarus für die Schöpfung aus dem Nichts argumentiert, wird hier deutlich erkennbar. Nicht Schrift und Bekenntnis verpflichten ihn auf den orthodoxen Glauben an die Schöpfung aus dem Nichts, sondern die philosophische Denknotwendigkeit, die erfordert, dass für die an sich kontingente Welt ein von ihr unterschiedener zureichender Grund als Erstursache angegeben wird. So sehr die These einer ewigen Schöpfung sich nahezulegen scheint vom Begriff der Macht Gottes her, die ewig und mithin ohne Anfang fähig ist, die Welt zu erschaffen, widerspricht sie doch der Notwendigkeit, Gott als zureichenden Grund der Welt als von der Welt unterschieden zu denken. Die Schöpfung muss Reimarus als den konkreten Anfangspunkt eines Zeitvektors des Weltlaufs beschreiben, um in dessen Jenseits Gott als zureichenden Grund angeben zu können. Was Reimarus’ Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts fehlt, ist der Glaube an das Wort, durch das der dreieinige Gott die Schöpfung zugleich befiehlt und ins Werk setzt. Budde nämlich, der die Schöpfung als Teil der geoffenbarten Theologie abhandelt, verweist hinsichtlich der Frage nach dem genauen Wie der Schöpfung allein auf das göttliche Wort, das er näher bestimmt als das »verbum «, also die zweite Person der Trinität.148 Ein solches christologisches Verständnis der Schöpfung aus dem Nichts erreicht Reimarus nicht. Den biblischen Glauben an die Schöpfung durch das Wort ersetzt er durch den Erweis der metaphysischen Notwendigkeit einer Schöpfung aus dem Nichts, muss in der Erklärung des Wie dieser unbegreiflichen Schöpfung aber auf die von Budde und der lutherischen Tradition angebotene Argumentation verzichten. 146
Vgl. Johann Franz Budde, Institutiones theologiae dogmaticae, S. 451–456. Vgl. VW I , S. 163–167. Eine Kritik der biblischen Schöpfungslehre findet sich in der »Apologie« nicht. Entsprechende Ansätze, die in den Vorarbeiten zur »Apologie« noch nachweisbar sind, lässt Reimarus im Verlauf der weiteren Arbeit an der »Apologie« fallen, ein Vorgehen, das von den »Vornehmsten Wahrheiten« aus als konsequent erscheint; siehe hierzu oben Kapitel 2.2.2. 148 »Diversimode equidem scriptura hac de re loquitur, sed vt omnia eodem redeant. Moses per verbum hoc exprimit: dixit Deus, fiat lux, & exstitit lux; Gen I,3. Ita & psalm. XXXIII,9, creatio describitur: ipse dixit, & exstitit, praecepit ipse, & stetit. Quod tamen ita capiendum, vt ad verbum simul respiciatur. Recte namque AVGVSTINVS obseruat, Deum in hoc aeterno verbo dixisse, eoque dicente, creaturam temporalem factam esse; lib. II. de Genesi ad litter. cap. II.« Vgl. Johann Franz Budde, Institutiones theologiae dogmaticae, S. 460. 147
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Ein analoges Erklärungsdefizit ergibt sich bei der Lehre von der ständigen, welterhaltenden Vorsehung, die schon Luther als das eigentliche Zentrum des christlichen Schöpfungsglaubens erkannt hatte. Die Vorsehung bestimmt Reimarus zu Beginn der achten Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« wie folgt: Die Vorsehung ist eine Folge des Rahts der Schöpfung. Eben die inneren Vollkommenheiten der Weisheit, Güte und Macht, welche ihn vermocht haben, die Welt in gewisser Absicht zur ersten Wirklichkeit zu bringen, die erstrecken sich auch über die ganze Dauer der Welt in allem Zustande, nach allen und jeden, selbst den allerkleinsten Theilen und Begebenheiten.149
Die Wirklichkeit der so bestimmten Vorsehung kann Reimarus in doppelter Weise beschreiben, zum einen ontisch, insofern durch die Weisheit, Güte und Macht Gottes der Weltlauf seit der Schöpfung bestimmt wird, und zum anderen noetisch, insofern in der alltäglich erfahrbaren Weltwirklichkeit dem Menschen die göttlichen Eigenschaften der Weisheit, Güte und Macht erkennbar werden.150 Erneut begegnet hier der Versuch, unter Hinweis auf die metaphysische Denknotwendigkeit einer Vorsehung, die traditionelle, biblische Begründung der Vorsehung innerhalb eines dogmatischen Systementwurfs zu ersetzen. Denn ebenso wie im Fall der Schöpfung aus dem Nichts verzichtet Reimarus auch im Blick auf die Vorsehung auf eine dogmatische Beantwortung der Frage nach dem Wie, weil sie ohne Rekurs auf die Christologie letztlich nicht auskommt. Schon die Auseinandersetzung mit den verschiedenen philosophischen Theorien zur göttlichen Vorsehung hatte seit Melanchthons »Initiae doctrinae physicae«151, in der der lutherische Schöpfungs- und Vorsehungsglaube erstmals konsequent auf philosophische Kosmologien bezogen wurde, im Wesentlichen zu einer Ablehnung verfehlter Konzeptionen geführt.152 Denn einer christlichen Vorsehungslehre stellt sich die Aufgabe, Gottes ständige Erhaltung, Begleitung und Lenkung der Welt in ihrem Lauf so zu denken, dass Gott als das wirkende Subjekt der Vorsehung einerseits von der Welt und dem Menschen unabhängig bleibt und andererseits dem Menschen innerhalb der geschaffenen Welt ein, freilich beschränkter, Freiheitsraum erhalten wird. Den antiken philosophischen Begriff der pronoia153 darf die christliche Dogmatik daher nicht unverändert übernehmen. Sowohl in epikureischem wie stoischem Verständnis wird die pronoia begriffen als eine Eigenschaft der materiellen Natur und nicht als die Wirkung eines 149
Vgl. VW II , S. 574. Ebd., S. 579. 151 Philipp Melanchthon, Initiae doctrinae physicae, in: ders., Philippi Melanchthonis Opera quae supersunt omnia, hg. von Carolus Gottlieb Bretschneider, Halle 1846, Sp. 179– 412. 152 Zu Melanchthons Vorsehungslehre vgl. Christian Link, Schöpfung, S. 81–99. 153 Zur Ambivalenz des antiken pronoia-Begriffs vgl. Heinrich Dörrie, Der Begriff »Pronoia« in Stoa und Platonismus, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 24 (1977), S. 60–87. 150
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von der Welt unterschiedenen Gottes, und auch die Freiheit des Menschen wird durch die epikureische wie auch durch die stoische pronoia negiert oder eingeschränkt, die in je unterschiedlicher Weise als eine determinierende Schicksalsmacht des Naturlaufs aufgefasst wird, bestimmt durch den blind waltenden Zufall im einen, durch den notwendigen Kausalmechanismus des Naturzusammenhangs im anderen Fall. Die antike pronoia-Lehre kann zeigen, dass es eine pronoia gibt, und auch, dass sie die Welt für den Menschen zumeist in vorteilhafter Weise bestimmt. Die Vermittlung mit einem theistischen Gottesbegriff einerseits und mit der Freiheit des Menschen andererseits misslingt ihr jedoch.154 Reimarus, der noch in seinem frühen Schulprogramm zur Physikotheologie bevorzugt auf stoische Autoren verweist, reflektiert diese Schwierigkeiten der antiken Vorsehungslehre.155 In der vierten Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« bemängelt er, dass die richtig erkannte absichtsvolle Einrichtung der Welt nicht immer mit dem Beweis einherging, »daß solche Uebereinstimmung nothwendig von einer Absicht eines Werkmeisters herrühren müsse, und sonst keinen Grund haben könne«156, der Rückbezug der Beobachtung auf Gott also ausgespart blieb. Im Einklang mit der dogmatischen Unterscheidung zwischen dem Menschen als dem finis intermedius der Schöpfung und Gott als deren finis ultimus weist Reimarus eine allein anthropozentrische Betrachtung der absichtsvollen Einrichtung der Welt zurück.157 Das letzte Ziel, das die eingeschränkte Vollkommenheit der Welt begründet, findet sich nicht in der Welt selbst, sondern in dem von ihr unterschiedenen Gott. Auch den Determinismus der antiken pronoiaLehre lehnt Reimarus ab. Zwar begründet er nicht ausführlich die menschliche Freiheit, er setzt sie aber stillschweigend voraus, wenn er das menschliche Streben nach sittlicher Verbesserung thematisiert.158 Auch die Spontaneität, die er in der Beschreibung der Tiertriebe annimmt, schließt einen reinen Determinismus aus. An den beiden hauptsächlichen Differenzpunkten, die lutherische Theologen zur Verurteilung der antiken pronoia-Lehren geführt hatten, hält Reimarus also fest und begibt sich damit in partiellen Widerspruch zur Leibniz-Wolffschen Philosophie, der er noch im Blick auf die Gotteslehre weitgehend treu blieb. Allein die Frage nach dem Wie der göttlichen Vorsehung und Regierung des Weltlaufs muss er anders beantworten, als die lutherische Dogmatik es tut, deren Zielvorgaben er ansonsten durchaus teilt. Johann Franz Budde nähert sich in seinen »Institutiones theologiae dogmaticae« der schwierigen Frage nach dem Wie der Vorsehung zunächst auf dem von 154
Zu Melanchthons Auseinandersetzung mit der antiken pronoia-Lehre vgl. Christian Link, Schöpfung, S. 84–94. 155 Vgl. hierzu oben Kapitel 3.1.2. 156 Vgl. VW I , S. 221. 157 Ebd., S. 150 f., 431 und Bd. 2, S. 633 ff. 158 Zu den menschlichen Seelenkräften zählt Reimarus »Vernunft, Freyheit und Perfectibilitet«, vgl. VW II , S. 516.
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Melanchthon vorgezeichneten Weg in einer Diskussion grundsätzlicher philosophischer Denkmodelle eines göttlichen concursus, diskutiert mechanistische Konzeptionen ebenso wie okkasionalistische, lehnt die epikureische und stoische pronoia-Lehre ab, um letztlich auf die dogmatische Konzeption der Schöpfungsmittlerschaft Christi zurückzukommen, die eine Beeinflussung des Weltlaufs durch den von der Welt unterschiedenen Gott denkbar macht.159 Denn durch die Gemeinschaft der beiden Naturen Christi ist es begründet, dass Christus gemäß seinem königlichen Amt im regnum potentiae überall und zu jeder Zeit in der geschaffenen Welt gleichermaßen anwesend sein und die göttliche Weltherrschaft ausüben kann. Die Providenz diskutiert Budde zunächst allgemein als eine Wirkung des dreieinigen Gottes, verweist aber von der christologischen Ämterlehre aus auf die Vorsehungslehre zurück, die von der Christologie her eine Antwort auf die Frage nach dem Wie der providentiellen Vermittlung zwischen Schöpfer und Geschöpf erhält.160 Die Zwei-Naturen-Lehre ermöglicht es, einen Einfluss Gottes auf die Welt anzunehmen, ohne die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf aufheben zu müssen. Der von der Welt unabhängige Gott bestimmt den Lauf der Welt in seiner zweiten, gottmenschlichen Person und hält insbesondere dem Menschen in jedem Augenblick eingeschränkte Handlungsfreiheit bereit. Reimarus spart dieses christologische Ende der von Budde zunächst philosophiegeschichtlich begonnenen Diskussion um das Wie eines göttlichen concursus aus und sucht stattdessen, das Vorbild der Melanchthonschen Physik über Budde hinaus gegen die Offenbarung wendend, nach einer Beantwortung der Frage allein auf dem Boden der Naturphilosophie. Der dogmatischen Lösung, die das Problem der Vermittlung von der christologischen Zwei-Naturen-Lehre und der communicatio idiomatum her angeht, setzt er das bereits beschriebene philosophische Modell einer Beeinflussung der Materie durch den immateriellen Gott auf der feinmateriellen Ebene einzelner Substanzen oder Urstoffe entgegen und versucht so, die argumentativen Ziele der dogmatischen Vorsehungslehre zu erreichen, ohne auf die innerhalb der »Apologie« vehement abgelehnte Christologie zurückgreifen zu müssen.161 Ob die Annahme feinmaterieller Urstoffe als Ort der Vermittlung eine befriedigende Lösung des zur Diskussion stehenden Pro-
159 Zur philosophiegeschichtlichen Aufarbeitung des Problems vgl. Johann Franz Budde, Institutiones theologiae dogmaticae, S. 563–601. 160 »Regnum itaque potentiae, quod vocatur, a reliquis obiecto differt, cum ad totum hocce vniversum, caelum & terram, omnesque quae in iis sunt, res creatas, sese extendat. […] Referre ad regnum hocce potentiae licet omnia ea, quae supra de providentia divina disputauimus; cum ea, quae Deo ibi adseruimus, etiam Christo, qua humanam natura spectato, conueniant. Hinc & res creatas omnes conseruat, ad earum motus concurrit, cunctaque sapienter dirigit ac gubernat; speciatim & hostibus suis dominatur, furorem illorum cohibendo, conatusque faciendo irritos, & peccata puniendo; conf. psalm. II ,1,4, seq.«, vgl. Johann Franz Budde, Institutiones theologiae dogmaticae, S. 1136. 161 Vgl. VW II , S. 589.
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blems darstellen, mag dahingestellt bleiben. Für Reimarus zumindest erschien sie plausibler als die biblisch begründete Christologie.
3.5.3 Mensch, Seele und Unsterblichkeit Eine sowohl der Leibniz-Wolffschen Philosophie als auch der lutherischen Dogmatik gegenüber sehr eigenständige Leistung stellen Reimarus’ Ausführungen zur Anthropologie innerhalb der »Vornehmsten Wahrheiten« dar. Im Hintergrund steht hier die Ablehnung des Sündenfalls und der Erbsündenlehre, die Reimarus hier, anders als in der »Apologie«, zwar nicht offen vertritt, in allen seinen Überlegungen aber stillschweigend voraussetzt. Als eine Verteidigung der dogmatischen Anthropologie können die »Vornehmsten Wahrheiten« nur insofern gelten, als sie die Existenz einer vom Körper unterschiedenen Seele beweisen. Denn die christliche Dogmatik beschreibt den Menschen hinsichtlich seiner leiblichen und seelischen Beschaffenheiten und Vermögen, begründet diese Unterscheidung aber nicht eigens. Erst in der Auseinandersetzung mit philosophischen Anthropologien, die die Beschreibung des Menschen durch Leib und Seele ablehnen oder das eine mit dem anderen in eins setzen, geraten die Grundkonstanten auch der biblisch-dogmatischen Anthropologie ins Wanken. Für Reimarus wird eine solche philosophische Bestreitung der Existenz einer vom Leib unterschiedenen Seele greifbar in La Mettries »L ’homme machine«162. Reimarus wirft La Mettrie vor, die alltäglich erfahrbare Abhängigkeit der Seele von den Empfindungen des Leibes über die Maßen zu betonen und dies in illegitimer Weise als ein Argument für die Materialität der Seele anzuführen.163 Ebenso wie La Mettrie von der alltäglichen sinnlichen Erfahrung ausgehend liefert Reimarus daher einen Gegenbeweis, der ausgehend von der Empfindung des eigenen Leibes und der Außenwelt ein seelisches Ich als Grund der bleibenden Identität des Ich in den wechselnden Empfindungen erschließt. Reimarus’ Vorgehen erinnert hier an das Wolffs, der ebenfalls allgemeinverständlich hinführt auf die Lehre von der Seele als »dasjenige Ding […], welches sich seiner und anderer Dinge ausser ihm bewust ist«164, indem er ausgeht von dem, »was wir durch tägliche Erfahrung von ihr wahrnehmen.«165 Die Wahrnehmung, um die es in der Wolffschen Psychologie geht, ist aber nicht die Empfindung, auf die Reimarus seine Argumentation gründet, sondern der »Gedancke[]«, den Wolff bestimmt als »Veränderung[] der Seele, deren sie sich bewust ist.«166 Diese sensualistische 162 Julien Offray de La Mettrie, Der Mensch eine Maschine, übers. von Theodor Lücke, Stuttgart 2001. 163 Vgl. VW II , S. 468–479. 164 Vgl. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken, S. 107. 165 Ebd., S. 106. 166 Ebd., S. 108.
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Korrektur der Wolffschen Erschließung der Seele durch »tägliche Erfahrung« dürfte eine späte Frucht der Vorlesungen sein, die Reimarus 1714 in Leipzig bei Andreas Rüdiger hörte.167 Mit Rüdiger teilt Reimarus die Überzeugung, die sensualistische Begründung der Lehre von der Seele sei »nicht allein faßlicher und kürzer, sondern auch überzeuglicher und unleugbarer, als scharfsinnige Beweise, welche aus der wesentlichen Beschaffenheit der Materie und des Geistes, durch weitläuftige Vernunftschlüsse gezogen werden.«168 Gerade in der Auseinandersetzung mit La Mettrie erweist sich die sensualistische Begründung der Psychologie als vorteilhaft. In der hierauf folgenden Auseinandersetzung mit der Rousseauschen Lehre vom Naturzustand des Menschen bedient sich Reimarus der durch Pufendorf und Thomasius begründeten Naturrechtslehre, der zufolge der hilflos geborene Mensch gemeinsam mit anderen allein ebenfalls hilflosen Menschen durch die Betätigung seiner Vernunft ein Überleben finden kann. Der Mensch ist also zur socialitas erschaffen und nicht, wie Rousseau behauptet, als ein Tier unter Tieren, dem das soziale Leben letztlich fremd ist.169 Im Rahmen der Habilitationsschrift über den Machiavellismus von 1719 hatte sich Reimarus in die Thomasianische Naturrechtslehre eingearbeitet und die politische Theorie Machiavellis in naturrechtlicher Terminologie diskutiert.170 Den Thomasianischen Leitbegriff der socialitas hat er fortan nicht mehr aus den Augen verloren. 1723 hielt er eine Schulrede171 über das decorum, die Schicklichkeit, in der sich die dem Menschen innewohnende Ehrbarkeit praktisch äußert. Das decorum ist mithin konstitutiv für das gesellschaftliche Zusammenleben und bildet die Mitte auch der Erziehung der Kinder im Hause Reimarus: 1742 gab Reimarus die Erziehung seiner eigenen Kinder in die Hand privater Hauslehrer, die unter anderem Französisch unterrichteten ebenso wie Tanz, Fertigkeiten also, die für den vernünftigen geselligen Austausch und gesitteten Umgang in der bürgerlichen Gesellschaft Hamburgs unerlässlich sind.172 Die Auffassung vom Naturzustand des Menschen, die Reimarus
167 Zu Rüdigers Sensualismus vgl. Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 82–98, hier besonders S. 84 f., und Andreas Rüdiger, De sensu veri et falsi libri IV, Lipsiae 21722, S. 7 f. (§ 20 der Dissertatio Prooemialis). 168 Vgl. VW II , S. 468. Reimarus’ Kritik dürfte sich hier vor allem auf Wolffs streng rationalistische Fortführung der zunächst unter Rückgriff auf die tägliche Erfahrung begonnenen Psychologie im fünften Kapitel »Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt«, vgl. Christian Wolff, Vernünftige Gedancken, S. 453 ff. 169 Vgl. VW II , S. 492–516. 170 Vgl. hierzu oben Kapitel 2.1.2. 171 Hermann Samuel Reimarus, Programma de decori cum philosophia morali nexu, in: ders., Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Göttingen 1994, S. 199–206. 172 Vgl. Almut und Paul Spalding, Der rätselhafte Tutor bei Hermann Samuel Reimarus: Begegnung zweier radikaler Aufklärer in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 87 (2001), S. 49–64, hier S. 58 f.
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik
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in den »Vornehmsten Wahrheiten« vorträgt, wird hier praktisch umgesetzt in der häuslichen Erziehung. Mit der dogmatischen Anthropologie der Orthodoxie hat das alles nur noch wenig zu tun. Die das biblisch-dogmatische Menschenbild kennzeichnende Verderbnis des Menschen wird verneint. Als einziger gravierender Mangel des Menschen bleibt seine natürliche Hilflosigkeit, die ihn zur Gemeinschaft zwingt. Und gerade in diesem angeborenen Mangel des Menschen sieht Reimarus zugleich den größten Vorzug des Menschen vor den Tieren angelegt. Denn der Mensch ist gezwungen zum gemeinschaftlichen Vernunftgebrauch, erlernt diejenigen Fertigkeiten erst mühsam, die den Tieren als Triebverhalten angeboren sind, beschreitet damit aber einen Weg der vernünftigen und moralischen Vervollkommnung, der ihn über die Tiere weit erhebt. Der einzelne Mensch wie auch die Menschheit insgesamt befinden sich auf einem Weg der ständigen Weiterentwicklung, der über das eingeschränkte zeitliche Leben des Menschen weit hinaus verweist. An die Erkenntnis der Perfektibilität des Menschen bindet Reimarus den Glauben an dessen Unsterblichkeit als Ort der jenseitigen Vervollkommnung. Das zentrale Argument bildet hierbei die bereits erschlossene Vorsehungslehre, die die Hoffnung auf die kommende Wirklichkeit der aus dem Begriff der Seele lediglich als möglich erweisbaren Unsterblichkeit und Vervollkommnung begründen soll. Reimarus verweist auf die Tiere, denen Gott in der augenblicklichen Triebbefriedigung diejenige Glückseligkeit bereitet, zu der er sie befähigt hat. Hat er aber den Menschen dazu erschaffen, die ihm eigene Glückseligkeit in der fortwährenden vernünftigen und moralischen Vervollkommnung zu suchen, so muss er ihm einen jenseitigen Fortbestand der Seele als Ort dieser fortwährenden Vervollkommnung bereithalten, wenn anders er dem Menschen nicht diejenige Glückseligkeit verwehren wollte, die er den Tieren gewährt.173 Den Ursprung dieser höchst originellen Begründung einer Unsterblichkeitshoffnung offenzulegen ist schwierig. Unsterblichkeit, Reinkarnation und Seelenwanderung sind Leitbegriffe der Aufklärungsphilosophie, und die Variationen philosophischer Begründungen sind hier überaus zahlreich. Zwei Besonderheiten des Reimarus’schen Ansatzes gilt es herauszustellen: zum ersten distanziert sich Reimarus von Descartes und der Leibniz-Wolffschen Philosophie, die das immaterielle Wesen der Seele als ein Argument für den wirklichen Fortbestand der Seele nach dem Tod anführt. Aus dem Wesen der Seele lasse sich nur die Möglichkeit der Unsterblichkeit begründen, nicht aber deren Wirklichkeit. Diese sei vielmehr eine Sache der göttlichen Vorsehung, auf die gehofft werden dürfe. Reimarus argumentiert also nicht für die Wirklichkeit der Unsterblichkeit selbst, sondern für deren begründete Hoffnung, ein Ansatz, der auf die erkenntniskritische Restriktion der Unsterblichkeitslehre durch Kant vorauszuverweisen 173
Vgl. hierzu oben die detaillierte Inhaltszusammenfassung zur zehnten Abhandlung der »Vornehmsten Wahrheiten« in Kapitel 3.2.
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scheint. Zum zweiten meidet Reimarus hermetische Ansätze, die die jenseitige Vervollkommnung der Seele in Kontinuität setzen zu materiellen physiologischen Vorgängen und die Vervollkommnung beschreiben als einen Prozess der unaufhörlichen materiellen Verfeinerung der Seele. Für Reimarus dürften entsprechende hermetische Ansätze einer Unsterblichkeitslehre, wie sie von Edelmann und Georg Schade diskutiert wurden, zumindest interessant erschienen sein.174 In der Psychologie der »Vornehmsten Wahrheiten« hält Reimarus aber fest an der Trennung von Materie und Geist und geht auf alternative hermetische Ansätze nicht ein. In dem Versuch, eine rein vernünftige Begründung der Unsterblichkeitshoffnung zu geben und diese zum Ziel und zur Mitte der natürlichen Religion zu machen, gibt sich in Umrissen das große Programm der Offenbarungskritik zu erkennen, das Reimarus insgeheim in seiner »Apologie« ausarbeitete. Denn die natürliche Religion bietet hier ohne Rekurs auf die biblische Offenbarung eine Aussicht auf die Unsterblichkeit und den jenseitigen Lohn des Vollkommenheitsstrebens des Menschen. Von der Unsterblichkeitslehre her gewinnt die natürliche Religion diejenige Eigenständigkeit, die nötig ist, sie als Beurteilungskriterium an die biblische Offenbarung heranzutragen. Obwohl diese Verbindung zur »Apologie« dem zeitgenössischen Leser der »Vornehmsten Wahrheiten« verborgen blieb, ist doch unverkennbar, dass Reimarus durch seine philosophische Unsterblichkeitslehre diejenige argumentative Schuld einlöst, die sein Religionsbegriff der »Apologie« unbeglichen lässt. Angeregt durch die Debatte um William Warburtons »The Divine Legation of Moses demonstrated«175 macht Reimarus innerhalb der »Apologie« die Unsterblichkeitshoffnung zum Erkennungszeichen wahrer Religion und verurteilt das Alte Testament unter anderem anhand dieses Kriteriums.176 Dass die »Vornehmsten Wahrheiten« argumentativ auf die Unsterblichkeit hinführen, um aus ihr die »Vortheile der Religion« zu entwickeln, erklärt sich aus dem Religionsbegriff der »Apologie«. Die natürliche Religion muss in der Unsterblichkeit gipfeln, soll sie dem aus der Debatte um Warburton erwachsenen Kriterium wahrer Religion entsprechen.
174 Zur Begegnung zwischen Reimarus, Schade und Edelmann vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747– 1760, Hamburg 1998, S. 163–187. 175 William Warburton, The Divine Legation of Moses demonstrated, London 1742. 176 Daniel Cyranka, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung, Göttingen 2005, S. 290–302, macht auf die Bedeutung Warburtons für das Verständnis der »Apologie« aufmerksam, führt den Nachweis der Benutzung von Warburtons »Divine Legation« aber aus dem Auktionskatalog der Reimarusbibliothek. Die Frage, ab wann und wie intensiv Reimarus sich mit Warburton beschäftigte, bleibt damit offen. Collins und Toland lassen sich sehr früh in den Vorstufen zur »Apologie« nachweisen. Entsprechende Belege für Warburton fehlen.
3.5 Die »Vornehmsten Wahrheiten« zwischen Metaphysik und Dogmatik
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3.5.4 Theodizee Das Verhältnis der »Vornehmsten Wahrheiten« zur lutherischen Dogmatik wäre unvollständig beschrieben ohne Hinweis auf Reimarus’ Diskussion der Theodizee in der neunten Abhandlung »Worinn die Nichtigkeit der Zweifel gegen die göttliche Vorsehung gezeiget wird«. Die Lösung des Problems findet Reimarus bei Leibniz, der durch seine Unterscheidung zwischen metaphysischem, physischem und moralischem Übel einen Rahmen schafft, innerhalb dessen sich die von Pierre Bayle aufgeworfenen Fragen angesichts des Bösen in der Welt abarbeiten lassen.177 Hinsichtlich des physischen Übels ist es der Verweis auf die »Verknüpfung der Dinge« in der Welt, die der Mensch durch seine eingeschränkte Wahrnehmung nicht zu erkennen vermag. Vieles, was in der einen Hinsicht schlecht erscheint, erweist sich in einer anderen Hinsicht als gut, so dass es verfehlt wäre, sich eine andere, bessere Einrichtung der Welt zu wünschen. Jede scheinbare Verbesserung würde in der umfassenden Verknüpfung der Dinge in der Welt letztlich auf eine Verschlechterung hinauslaufen und sollte nicht gewünscht werden. Es ist der angenehme Alltag des betuchten Hamburger Gymnasialprofessors Reimarus, der diesen Optimismus begründet: Wie schlecht würde der die Verbindung unter uns Menschen selbst übersehen, der da meynete, er hätte nur seiner Nachbarn allein nöthig, die andern könnten seinethalben aus der Welt seyn. Nein: dort in America pflanzet, wartet und presset jetzt ein Mohr das Zuckerrohr für dich: dort gräbt ein Sclav in Brasilien das Gold und Silber, welches du brauchen wirst: dort bereitet ein Russe die Juchten zu deinen Stühlen: dort fährt ein Bergmann in Schweden nach seiner Grube, Eisen und Kupfer zu deinem Hause und Geräthe zu holen. Der Sineser ist emsig, dir den feinsten Thee und Porcellan zu schaffen. Der Indianer nimmt mit Reis vorlieb, damit er deine Speisen mit allerhand Gewürze schmackhaft mache. Der Grönländer, der Matrose schlägt die Robben, fängt die Wallfische, mit seiner Mühe und Gefahr, zu deinem Gebrauche, ohne daß du es bedenkst und weißt. Und ehe du nur dein Schälchen Thee und Caffee mit einer Pfeife Tabak trinken kannst, so hat die Hälfte des menschlichen Geschlechtes, nicht nur der jetzt, sondern auch der vormals Lebenden, müssen da und beschäfftiget seyn.178
Die Familie Reimarus gehört zu den Profiteuren der umfassenden Verknüpfung der Dinge in der Welt, die nicht zuletzt auch eine für Hamburg günstige Verknüpfung von Handelswegen ist. Doch ist es auch der Naturforscher Reimarus, der einsieht, dass die Verknüpfung in der Welt die bestmögliche ist, und von verbessernden Eingriffen des Menschen in das ›Ökosystem‹ abrät. Selbst offenkundige Schädlinge des Menschen und seines Feldbaus sind in der Verknüpfung betrachtet nützlich und sollten nicht unbedacht bekämpft werden.179
177
Vgl. VW II , S. 612 f. Ebd., S. 639 f. 179 Ebd., S. 633–655. 178
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Ebenso wie die Unsterblichkeitslehre lässt sich auch Reimarus’ Optimismus hinsichtlich der Theodizee von der »Apologie« her deuten. Die Bibelkritik der »Apologie«, die von Reimarus’ Zweifeln an der Gerechtigkeit Gottes angesichts der durch seine Offenbarung begleiteten Geschichte Israels, die durch religiös legitimiertes Gewalthandeln und Völkerrechtsbrüche bestimmt ist, ihren Ausgang genommen hatte und die gesamte biblische Heilsgeschichte als historischen Beweis der Ungerechtigkeit Gottes betrugstheoretisch entkräften musste, ist darauf angewiesen, das von der Bibel her beschädigte Gottesbild auf anderem Gebiet neu zu errichten, und dieses Gebiet ist die Natur. Die Natur spiegelt diejenige Güte Gottes wider, die sich in der biblischen Heilsgeschichte offenkundig nicht finden lässt.180 Auch hinsichtlich der Theodizee begleichen die »Vornehmsten Wahrheiten« also zu einem guten Teil diejenige Rechnung, die die »Apologie« offenlässt.
3.6 Rezeptionsgeschichte Das Erscheinen der »Vornehmsten Wahrheiten« 1754 markiert den Zenit der öffentlichen Reputation des Hamburger Philologen Reimarus. Zuvor bereits hoch geschätzt als Herausgeber der von Johann Albert Fabricius begonnenen Ausgabe zu Dio Cassius’ »Römischer Geschichte« erlebte Reimarus im Alter von sechzig Jahren einen zweiten durchschlagenden Erfolg als Populärphilosoph und Verteidiger der Religion.181 Die »Vornehmsten Wahrheiten« trafen den Nerv der Zeit und erfreuten sich nicht nur bei Theologen und Philosophen großer Beliebtheit. Vielmehr gehörten sie bald auch zum Lektürekanon gebildeter Laien, die angesichts der im Titel versprochenen »begreifliche[n] Art« der Erklärung in philosophische und theologische Materien eintauchen konnten, ohne sich auf den schwerfälligen Stil streng rationaler Argumentation Leibniz-Wolffscher Prägung einlassen zu müssen. Aufschlussreich ist hier der folgende Passus aus Friedrich Nicolais »Sebaldus Nothanker«, in dem beschrieben wird, wie die Hauslehrerin Mariane die von der Frau von Hohenauf den Töchtern verordnete Unterrichtslektüre absetzt und stattdessen nützliche Literatur auf den Lektüreplan setzt: Anstatt zu lehren, wie ein Schmikpflästerchen mit Koketterie zu legen oder wie eine affaire de cœur am rechten Ende einzufädeln sei, worin die gute Mariane ohnedies sehr unwissend war, suchte sie den Kindern vielmehr einzuprägen, daß sie ihren Geist mit nützlichen Kenntnissen auszieren und ihr Herz der Wohltätigkeit und der Menschenliebe beständig offen erhalten müßten. Die »Lettres d’une réligieuse portugaise« wurden daher sehr bald 180 Vgl. Stefan Lorenz, De mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791), Stuttgart 1997, S. 181 f. 181 Für eine ausführliche Darstellung der Wirkung der »Vornehmsten Wahrheiten« vgl. Günther Gawlick, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. von Günther Gawlick, Bd. 1, Göttingen 1985, S. 9–50.
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von Basedows »Elementarbuch« und »Hipolyte Comte de Douglas« von Reimarus’ »Natürlicher Religion« verdränget.182
Man darf annehmen, dass der Verleger Nicolai den Leserkreis der »Vornehmsten Wahrheiten« hier treffend charakterisiert. Die »Vornehmsten Wahrheiten« setzen keine besonderen Vorkenntnisse voraus, führen in die damals aktuellen Problemzusammenhänge der Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft ein, bieten eine ebenso geschliffene wie verständliche deutsche Sprache und erweisen sich so gerade für Laien als attraktiv. Die erste Auflage der »Vornehmsten Wahrheiten«, die in Hamburg bei Johann Carl Bohn in Druck ging, war so rasch vergriffen, dass gleich im darauffolgenden Jahr 1755 eine zweite Auflage nötig wurde. Eine dritte Auflage erschien 1766, weitere drei Auflagen postum bis 1791. Noch in den 50er Jahren meldeten sich Verleger aus England und Frankreich bei Reimarus, um die Möglichkeiten einer Übersetzung zu sondieren. 1758 ging eine niederländische Übersetzung in Druck, 1766 eine englische, 1768 eine französische Teilübersetzung. Auch die Rezensionen waren voll des Lobes und feierten die »Vornehmsten Wahrheiten« als ein »goldenes Werk«, wobei mit »fortschreitende[r] Zahl der Auflagen […] die Besprechungen kürzer, die Lobsprüche lauter«183 wurden. Besonderes Augenmerk verdient daneben die theologische Rezeption des Werks durch die Orthodoxie. Es mag verwundern, dass auch die frühe orthodoxe Reaktion ausgesprochen positiv ausfiel angesichts der – öffentlich freilich unbekannten – »Apologie« und des durchweg rein vernünftigen und teilweise implizit wunderkritischen Inhalts. Aus einem Briefwechsel zwischen Reimarus und seinem Sohn, Johann Albert Hinrich, ist bekannt, dass die »Vornehmsten Wahrheiten« Leidener Theologen verdächtig erschienen. In Hamburg bezweifelte Hermann Christian Hornbostel, Hauptpastor an St. Nicolai, dass sich die vernünftige Argumentation der »Vornehmsten Wahrheiten« tatsächlich, wie in der Vorrede und der zehnten Abhandlung angedeutet, in einem Verhältnis der Ergänzung und Stützung des Offenbarungsglaubens und nicht vielmehr in einem Verhältnis der Konkurrenz befinde.184 Ansonsten schloss sich die Orthodoxie dem allgemeinen Lob der »Vornehmsten Wahrheiten« an. Bis in die 1790er Jahre hinein empfahlen Theologen das Werk ihren Studierenden zur Lektüre.185 An Passagen, aus denen sich eine orthodoxe Kritik an den »Vornehmsten Wahrheiten« hätte nähren können, fehlt es freilich nicht. So äußert sich Reimarus
182
Vgl. Friedrich Nicolai, Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 145. 183 So Günther Gawlick, Einleitung, S. 39. 184 Vgl. hierzu den Brief Johann Albert Hinrich Reimarus’ in: Heinrich Sieveking, Georg Heinrich Sieveking. Lebensbild eines Hamburgischen Kaufmanns, Berlin 1913, S. 521, und Günther Gawlick, Einleitung, S. 14. 185 Ebd., S. 43–46.
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beispielsweise in der achten Abhandlung kritisch zur Möglichkeit von Wundern, die den von Gott weise eingerichteten Lauf der Natur stören würden: Je mehr er nach der Schöpfung Wunder thäte, desto mehr würde er die Natur wieder vernichten, und umsonst geschaffen haben, nicht aber erhalten; und für sich würde er entweder die möglichen Naturmittel zu seinem Zwecke nicht eingesehen haben, oder auch seine Zwecke oft ändern, und seinem eigenen Einflusse in die Erhaltung der Natur entgegen arbeiten.186
Wer sich Reimarus’ Gesamtwerk von der »Apologie« her nähert, dem mag es scheinen, als bekenne sich Reimarus hier zum gesamten Programm seiner biblischen Wunderkritik. Der Schein trügt aber, denn Reimarus setzt nach, die Unmöglichkeit eines wundertätigen Eingreifens Gottes sei nur dort zu behaupten, »wo von der ordentlichen und beständigen Erhaltung die Rede ist«187, und steuert so in das ungefährliche Fahrwasser der Orthodoxie zurück. Denn der lutherischen Schöpfungslehre ist der Gedanke einer durch die Vorsehung bestimmten kontinuierlichen Naturordnung neben der besonderen biblischen Heilsgeschichte, in der allein ein concursus specialis seinen Ort hat, keineswegs fremd.188 Die Wunderkritik der »Vornehmsten Wahrheiten«, die sich in der neunten Abhandlung ausdrücklich gegen diejenigen wendet, die sich zur Lösung des Problems des Leidens des Gerechten ein besonderes Wunderhandeln Gottes wünschen, konnte von orthodoxer Seite durchaus als ein Beitrag zur Kritik gegen pietistische Schwärmer betrachtet werden, die sich mit den Wundertaten Gottes innerhalb der biblischen Heilsgeschichte nicht zufrieden geben wollen.189 Die Annahme, Reimarus bekenne sich mit seinen »Vornehmsten Wahrheiten« zur allgemeinen Unmöglichkeit auch biblischer Wunder, war nur eine mögliche Deutung und keineswegs die naheliegendste. Mit etwas gutem Willen konnten die »Vornehmsten Wahrheiten« in allen ihren Teilen orthodox gelesen werden als eine philosophische Wegbereitung der theologischen Offenbarungswahrheit, und man las sie so, zumal Reimarus durch den vorangestellten Hinweis auf den gemeinsamen Feind des Atheismus einen Schulterschluss zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Philosophie und Theologie nahelegte. Der bedeutendste Rezipient der »Vornehmsten Wahrheiten« ist ansonsten Immanuel Kant, der Reimarus zweimal im Kontext seiner Diskussion der Gottesbeweise erwähnt, einmal 1762 in seiner vorkritischen Schrift »Der einzig mög186
Vgl. VW II , S. 588. Ebd., S. 588. 188 Vgl. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, S. 102 f. Zwar nennt Luther auch die ständige providentielle Erhaltung der Welt »eitel grosse wunderthaten Gottes«. Sie durchbrechen aber keineswegs den natürlichen Lauf der Welt, sondern zeigen vielmehr in demselben die alltägliche Weisheit und Güte Gottes dem Geschöpf gegenüber, vgl. Martin Luther, Der 147. Psalm, Lauda Jerusalem, ausgelegt, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 31,I , Weimar 1913, S. 427–456, hier 450. 189 Vgl. VW II , S. 669–674. 187
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liche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes«190, ein weiteres Mal im Anhang der »Kritik der Urtheilskraft«191. Der ontologische Gottesbeweis argumentiert aus dem Begriff mit »logische[r] Genauigkeit und Vollständigkeit«192. Der kosmologische Beweis argumentiert aus der Erfahrung der Welt, ist »der mathematischen Gewißheit und Genauigkeit unfähig«193, liegt dem menschlichen Denken aber gleichwohl näher. Kant erwähnt Derham und Nieuwentyt, die zur Erkenntnis Gottes aus seinen Werken beigetragen haben, und Reimarus, der mit dem ihm eigenen »ungekünstelten Gebrauche einer gesunden und schönen Vernunft« zur »wichtigen Erkenntnis von Gott und seinen Eigenschaften«194 anleitet. Innerhalb des kosmologischen Beweisweges aus der Welterfahrung unterscheidet Kant nicht, wie Reimarus dies tut, zwischen einem kosmologischen Beweis des Daseins Gottes und einem Beweis der göttlichen Eigenschaften aus der Beobachtung seiner Schöpfungsabsichten, so dass Kant das Ganze der Reimarus’schen Argumentation als einen Beweis Gottes und dessen Eigenschaften betrachten kann. Im Kontext derselben generellen Differenzierung innerhalb des Gottesbeweises steht auch Kants zweite Erwähnung der »Vornehmsten Wahrheiten« im Anhang zur »Kritik der Urtheilskraft«: Dieses aus der physischen Teleologie genommene Argument ist verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Überzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den subtilsten Denker; und ein Reimarus in seinem noch nicht übertroffenen Werke, worin er diesen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläuftig ausführt, hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben.195
Für Kant sind Reimarus’ »Vornehmste Wahrheiten« das beste Beispiel eines kosmologischen Gottesbeweises. Reimarus ist nicht der erste, der die Argumentation aus der absichtsvollen Einrichtung der Welt betreibt, er versteht sie aber in unvergleichlicher Weise zu präsentieren und bleibt so auch für die Nachwelt relevant. Mit Kants Lob der »Vornehmsten Wahrheiten« geht freilich eine erhebliche Reduktion ihres vielgestaltigen Inhalts im philosophischen Gedächtnis nach Kant einher. Reimarus wird dem Leser Kants bekannt als der Vertreter eines kosmologischen Gottesbeweises. Andere Inhalte wie die weit ausgeführte Kritik des Materialismus und der Rousseauschen Anthropologie oder die von Günther Gawlick in ihrer Bedeutung hervorgehobene neunte Abhandlung zur Theodizee 190 Vgl. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, in: ders., Kant’s Werke, Bd. 2: Vorkritische Schriften II 1757–1777, Berlin 1912, S. 64–163. 191 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in: ders., Kant’s Werke, Bd. 5: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft, Berlin 1913, S. 166–485. 192 Vgl. Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund, S. 161. 193 Ebd., S. 160. 194 Ebd., S. 161. 195 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, S. 477.
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treten demgegenüber zurück.196 In geringerem Maße als Lessing im Blick auf die Rezeption der »Apologie« gab also auch Kant im Blick auf die Rezeption der »Vornehmsten Wahrheiten« deutliche Akzentuierungen vor, die bis heute nachwirken und nur langsam überwunden werden.
196
Vgl. Günther Gawlick, Einleitung, S. 20 f.
4 Schlussbetrachtung Die Ergebnisse der vorausliegenden Untersuchungen zusammenzufassen, erscheint nur auf den ersten Blick als eine einfache Aufgabe. Die vorliegende Arbeit hat soweit zu den beiden bekannten Hauptwerke, der »Apologie« und den »Vornehmsten Wahrheiten« einige vornehmlich in theologischer Hinsicht wichtige Beobachtungen gesammelt, wird dem Phänomen Reimarus damit aber nur zum Teil gerecht. Die Theologie ist lediglich eine von weit mehr Leidenschaften, denen sich der geheimnisvolle Hamburger Aufklärer hingab. Neben dem theologischen Werk wäre ein ebenfalls bedeutendes profanphilologisches Werk, ein naturkundliches Werk und sicherlich auch das in Gestalt literarischer Hinterlassenschaft schwer greifbare Lebenswerk des aufgeklärten Hamburger Bürgers Reimarus sowie dessen Rolle innerhalb der gelehrten Netzwerke der respublica literaria zu untersuchen, ehe man eine auch nur vorläufige Summe aus der Reimarusforschung ziehen kann. Hinzu kommt, dass die vorliegende Arbeit angesichts der Fülle des zur Verfügung stehenden Archivmaterials gezwungen war zu fokussieren auf bestimmte besonders markante Seiten des Werks und andere, bei näherer Betrachtung möglicherweise ebenso theologisch relevante Aspekte auszublenden. Auch einer theologischen Reimarusforschung der Zukunft bleibt also noch einiges an Material. Aller Vorläufigkeit zum Trotz lassen sich die Ergebnisse der vorausliegenden Untersuchungen nach fünf zentralen Entwicklungslinien geordnet zur Darstellung bringen. Die fünf Linien setzen jeweils an in Reimarus’ Schul- und Studienzeit, lassen sich weiter verfolgen durch die lange Zeit, die Reimarus als Professor und späterer Rektor des Akademischen Gymnasiums still an seinen Buchprojekten arbeitete, und enden je nachdem in der »Apologie«, in den »Vornehmsten Wahrheiten« oder in beiden Werken zugleich. Die Ansatzpunkte der fünf Entwicklungslinien sind 1. die lutherische Exegese und Philologie, die Reimarus bei Fabricius und Wolf ebenso wie in Jena und Wittenberg kennen lernte, 2. die von Wolf und Budde intensiv vorangetriebene apologetische Beschäftigung mit dem Atheismus, 3. die lutherische Dogmatik, die sich Reimarus in der Gestalt von Buddes »Institutiones theologiae dogmaticae« präsentierte, 4. die in Jena und Wittenberg im Geiste Christian Thomasius’ eklektisch betriebene Auseinandersetzung mit den verschiedenen Schulphilosophien und 5. die physikotheologische Beobachtung von Schöpfungsabsichten, mit der Fabricius den jungen Reimarus früh bereits vertraut machte. Zwischen diesen Entwicklungslinien ergeben sich in
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4 Schlussbetrachtung
Reimarus’ biographischer Entwicklung mehrere Berührungspunkte und Wechselwirkungen, die Reimarus’ theologischem Werk, wie es sich in der Endgestalt der beiden Hauptwerke zu erkennen gibt, ihr spezifisches Gepräge geben. Was zunächst die Exegese angeht, so nahm Reimarus sie früh bereits zur Kenntnis im Spannungsfeld zwischen den dogmatischen Ansprüchen einer hermeneutica sacra auf der einen und den rein philologischen Ansprüchen einer profanen Hermeneutik auf der anderen Seite. Am Akademischen Gymnasium hörte Reimarus Vorlesungen zur hermeneutica sacra, sah sich aber in seinen beiden Lehrern Fabricius und Wolf mit international renommierten Meistern der profanen Philologie konfrontiert. Zwar traten Fabricius und Wolf nicht offen für eine Vermischung der beiden Philologien ein. Ihre großen literaturgeschichtlichen »Bibliothecae« bieten aber Ansätze dazu, die der junge Reimarus nicht übersehen konnte. Auch im Verlauf seines Studiums, während dessen Reimarus sich, dem Vorbild Wolfs folgend, vor allem der hebräischen Philologie widmete, blieben ihm die Schwierigkeiten, die die dogmatische hermeneutica sacra gerade auf dem Gebiet der alttestamentlichen Exegese hinsichtlich der messianischen Verheißungen zu bewältigen hat, nicht verborgen. Über die Inhalte des philologischen Studiums in Jena und Wittenberg liegen kaum Erkenntnisse vor. Der Fußnotenapparat der späteren »Apologie« beweist aber, dass Reimarus ein intimer Kenner der einschlägigen exegetischen Literatur seiner Zeit war, auch und insbesondere orthodoxer Provenienz. Während der akademischen Reise in die Niederlande trat Reimarus unter mehreren antiquarisch vielseitig interessierten Philologen Jean Le Clerc entgegen, ein Exeget, der unmissverständlich für die Anwendung profanphilologischer Methoden auf das Alte Testament eintrat und mit dieser Forderung längerfristig auf Reimarus Eindruck machte. Noch 1731 suchte Reimarus zumindest innerhalb seiner öffentlichen Vorlesungen zur hermeneutica sacra nach einem konsensfähigen Modell der Vermittlung zwischen den beiden Philologien. Schon in der Fertigstellung des Hiobkommentars Johann Adolf Hoffmanns aber stellte Reimarus die profanphilologische Kommentierung der dogmatisch-erbaulichen Exegese Hoffmanns entgegen und beschritt so den neuen Weg einer profanen Philologie der Bibel. Kurz darauf hörte er auf, Vorlesungen zur hermeneutica sacra zu halten. Stattdessen schaltete er sich durch zwei anonyme Rezensionen in den Streit um die Wertheimer Bibel ein und stimmte für die Aufkündigung des von der Theologie in Anspruch genommenen Harmonieverhältnisses von Schrift und Bekenntnis. In Schmidts Bibelkommentierung fand Reimarus’ profane Hermeneutik eine erneute Bestätigung, diesmal vom Standpunkt der Wolffschen Philosophie her. Zumindest dem Befund aus den handschriftlichen Vorarbeiten zur »Apologie« nach kommt erst jetzt eine positive Aufnahme des englischen Deismus ins Spiel. Frühe Nachweise finden sich vor allem zu Toland, Collins und der Debatte um Woolston. Andere Autoren wurden erst später berücksichtigt. Was die Tolandlektüre angeht, so verdankt sie sich zum geringeren Teil Reimarus’ rein exege-
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tischem Interesse. Zwar passte sie gut zum antiquarisch gelehrten Umgang mit dem Alten Testament, den Reimarus bevorzugte. Die eigentliche Motivation für die Beschäftigung mit Toland geht aber auf die lutherisch-orthodoxe Atheismuskritik zurück, zu der Reimarus durch seine Habilitationsschrift über den Machiavellismus einen Beitrag leistete. In Kontinuität zu den exegetischen Fragen, mit denen sich Reimarus bis in die 1730er Jahre bereits beschäftigt hatte, steht vielmehr seine Beschäftigung mit Collins’ Kritik des alttestamentlichen Weissagungsbeweises. Reimarus fand hier die Bestätigung seiner eigenen nüchternen und undogmatischen Exegese, die der pharisäischen Allegorese, auf die die Schriftsteller des Neuen Testaments ihre Auslegungen des Alten gründen, widerspricht. Die Argumente Collins’ stellten für Reimarus hierbei kein Novum dar, das er begeistert aufnahm. Vielmehr erschienen sie Reimarus als die konsequente Vollendung eines exegetischen Weges, der schon innerhalb der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der jüdischen Exegese zumindest auf die Möglichkeit einer gut begründeten Ablehnung des Weissagungsbeweises hingeführt hatte. Collins passte hinein in ein exegetisches Arbeiten, das immer größeres Gewicht auf die Erforschung der jüdischen Religionsgeschichte legt und die Geschichte des Messias Jesus als ein Ereignis in dieser Geschichte zu betrachten lernt. Die Konsequenz, mit der Reimarus diesen exegetischen Weg zu Ende geht, sucht innerhalb des 18. Jahrhunderts freilich ihresgleichen. Die Geschichte des Messias Jesus und seiner Bewegung wird durchweg rekonstruiert als ein Ereignis der jüdischen Geschichte, innerhalb derer auch die weitere Geschichte der Jünger Jesu nach der Kreuzigung ihres Meisters eingezeichnet werden muss. Von der dogmatischen Antithese der dunklen Gesetzesreligion des Judentums auf der einen und Jesus, dem inkarnierten Gottessohn, auf der anderen Seite ist hier nichts zu spüren. Zwar nimmt Jesus einen besonderen Platz ein innerhalb der jüdischen Geschichte als Lehrer der vernünftigen Religion und Moral. Als solcher bleibt er aber Jude, der unter Juden seinen Weg als Messias zu gehen versucht, bis er schließlich der Justiz zum Opfer fällt, und zwar der römischen und nicht der jüdischen. Zumindest an der Rekonstruktion des Lebens Jesu hat der gegen Reimarus oft erhobene Antijudaismusvorwurf keinen Anhalt. Anders verhält es sich mit Reimarus’ Rekonstruktion der Geschichte Moses und des Alten Testaments, deren Genese sich auf der zweiten großen Entwicklungslinie darstellen lässt, nämlich der der orthodoxen Atheismuskritik. Diese Linie wird greifbar in Reimarus’ früher Machiavellismusarbeit und lässt sich von verschiedenen Passagen der »Apologie« und der »Vornehmsten Wahrheiten« zurückverfolgen auf Reimarus’ Lehrer Wolf und Budde. Ihre eigentlichen Wurzeln aber liegen in jenem vieldimensionalen Diskurs des ausgehenden 17. Jahrhunderts, dessen Umfang abgesteckt ist durch die Schlagworte Häresiographie, Pietismuskritik, Platonismus der Kirchenväter, Kabbala und Spinozismus. Es ist Wolf, durch den Reimarus in den orthodoxen Atheismusdiskurs Einblick gewann. Wolf hatte beigetragen zur Abwehr der Zwei-Prinzipien-Lehre der Manichäer und
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4 Schlussbetrachtung
zu einer differenzierenden Betrachtung der Kabbala, die einerseits eine tragende Rolle in der Apologetik spielte, andererseits aber durch die Debatte um Wachter unter Spinozismusverdacht geraten war. Aus apologetischem Interesse sammelte er häretische Bücher und pflegte Kontakt zu radikalaufklärerischen Kreisen des Hamburger Bürgertums, die über seltene häretische Bücher verfügten. Schon früh lernte Reimarus bei ihm, dass die wichtigste Grundlage einer erfolgreichen Widerlegung häretischer Ansichten das genaue Studium der häretischen Literatur ist, so dass Reimarus durch Wolf früh bereits Kenntnis gewann von der Existenz einschlägiger Bücher, die er dann zum Teil in seiner »Apologie« benutzte. Von Wolf geschult kam er nach Jena und hörte bei Budde, der sich seinerseits auf dem Gebiet der Atheismuskritik verdient gemacht hatte und für die eklektische Historisierung atheistischer Anschauungen stand. Zur Debatte um Wachter hatte er Wichtiges beigetragen, und ebenso zur philosophiegeschichtlichen Erschließung des Atheismus und seiner Wurzeln insgesamt. In der Habilitationsschrift über den Machiavellismus folgte Reimarus dem Vorbild der Atheismuskritik Buddes und Wolfs und bearbeitete exemplarisch den von Budde zu den Atheismen gerechneten Machiavellismus, dessen Argumente er historisch bis auf antike Wurzeln hin zurückverfolgte. Auch wenn die Habilitationsschrift auftragsgemäß auf eine Widerlegung der Lehren Machiavellis zielt, zeigt die spätere »Apologie«, dass besonders die Religionstheorie Machiavellis, die die Religion als ein politisch instrumentalisierbares Machtmittel beschreibt, auf Reimarus nachhaltig gewirkt hat. Bei Toland fand Reimarus das Beispiel einer tatsächlichen Durchführung der von Machiavelli lediglich vorgeschlagenen Interpretation der Mosegeschichte als der Geschichte einer profanen Staatsgründung und Gesetzgebung, teilte aber die von Toland betriebene Deutung der Theokratie des Mose als des vollkommenen vernünftig und ohne Wunder begründeten commonwealth nicht und verkehrte die bei Toland positive Wertung des Staatsgründers Moses in ihr Gegenteil, indem er Mose vorwarf, seine an sich schwache Herrschaft unter den Israeliten unter Zuhilfenahme unlauterer religionsbetrügerischer Mittel befestigt zu haben. Ermutigend könnte auf Reimarus hierbei der Betrügertraktat gewirkt haben, der eine Deutung Moses als Religionsbetrüger empfiehlt. Der Rückgriff auf religionskritische Theorien der Antike erleichterte es Reimarus hierbei, die betrugstheoretische Interpretation der Mosegeschichte ins Werk zu setzen. Charakteristisch für Reimarus’ machiavellistische Kritik des Alten Testaments ist das weitgehend ungebrochene Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Alten Testaments als Geschichtsquelle. Soweit nur irgend möglich werden die biblischen Berichte als historisch zuverlässige Tatsachenberichte gelesen und die Wunder auf das religionsbetrügerische Handeln des Gesetzgebers Mose zurückgeführt. Eine breite antiquarische Gelehrsamkeit hilft Reimarus, alle technischen Einzelheiten der mosaischen Wunderinszenierungen aufzudecken. Erst im Falle technisch beim besten Willen nicht mehr erklärbarer Geschehnisse wie dem des Meerwunders verlagert Reimarus den Betrugsvorwurf auf die literarische Ebene
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und verdächtigt den Geschichtsschreiber, den Wunderbericht erfunden zu haben. Die betrugstheoretische Rekonstruktion der Mosegeschichte setzt auf diese Weise eine literargeschichtliche Theorie zum stufenweisen Wachstum des Pentateuch aus sich heraus, in der nicht Mose sondern Esra als der Geschichtsschreiber erscheint, der die biblische Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zum Exil unter Rückgriff auf ältere Quellen komponierte. Das Modell zu einer Wunderkritik auf literarischer Ebene findet Reimarus bei Porphyrios und bei Woolston, die gleichermaßen Wunderberichte widerspruchslogisch destruieren. Die Frage, ob Edelmanns Kritik des Meerwunders innerhalb seines »Moses mit aufgedeckten Angesicht« von hier aus beeinflusst ist, muss seitens der Reimarusforschung unbeantwortet bleiben. Im Hamburg der 1740er Jahre wäre ein Austausch der beiden Aufklärer über diesen Gegenstand zumindest möglich gewesen. Obwohl Reimarus den historischen Jesus vom Vorwurf des Religionsbetrugs ausnimmt, hält sich der betrugstheoretische Ansatz, der aus Reimarus’ früher Beschäftigung mit Machiavelli erwuchs, auch im zweiten Teil der »Apologie« durch. Denn die Jünger, die ihre Hoffnung auf politische Herrschaft im kommenden Reich des Messias nach der Kreuzigung Jesu nicht aufgeben wollen, bedienen sich erneut der unlauteren Mittel des Religionsbetrugs, inszenieren das Auferstehungswunder, schmücken den neutestamentlichen Bericht mit Wundergeschichten aus und erfinden Weissagungsbeweise vom Alten Testament her, die ihre neue Religion unter den Juden akzeptabel machen sollen. Auch die Entstehung der christlichen Dogmen verdankt sich einem rein missionspragmatischen Interesse der Jünger, ihre Religion für Heiden attraktiv zu machen. Die Zentraldogmen des Christentums werden so Teil eines letztlich religionsbetrügerischen Programms, das die ersten Christen nahezu ebenso skrupellos umsetzen wie zuvor der Religionsbetrüger Mose. Durch ein auf Wunder und unvernünftige Dogmen gegründetes Lehrsystem gelingt es ihnen, ein gegen alle vernünftige Kritik immunes religiöses Wahrheitsmonopol zu errichten, das einen nicht zuletzt auch politischen Herrschaftsanspruch des Klerus begründet. In Reimarus’ Kritik der Zentraldogmen zeigt sich hierbei eine erneute Wirkung des orthodoxen Atheismusdiskurses, auf den schon Reimarus’ Machiavelliarbeit bezogen war. Denn in seiner Kritik der Trinitätslehre nimmt Reimarus die orthodoxe Verurteilung des subordinatianischen Logosbegriffs vornizänischer Kirchenväter auf und verbindet die Logoslehre des Johannesprologs historisch so eng mit den als häretisch verurteilten Platonismen der ersten Jahrhunderte, dass die biblische Begründung der Trinitätslehre in sich zusammenbricht. Die johanneische Logoslehre ist ebenso häretisch wie die der vornizänischen Väter und verfällt daher dem Atheismusurteil der Orthodoxie. Reimarus trifft hier eine schwerwiegende Entscheidung, denn so zwingend die Verwerfung der Trinitätslehre und Christologie als implizit atheistisch aus der orthodoxen Auseinandersetzung mit dem Platonismus der Kirchenväter in Verbindung mit einer methodisch sich stets verfeinernden Exegese hatte hervorgehen müssen, reißt sie doch eine erhebliche Lücke in Reimarus’ theologischem Denken,
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4 Schlussbetrachtung
das sich von den »Vornehmsten Wahrheiten« her vollständig zu erkennen gibt. Auch hier verhält sich Reimarus treu der Tradition orthodoxer Atheismuskritik gegenüber, entkräftet die Argumente des Beispielatheisten Spinoza nach dem Vorbild Buddes und verteidigt auf diese Weise den theistischen Gottesbegriff. In der Lehre von der Schöpfung und Vorsehung aber macht sich der Verlust der innerhalb der »Apologie« als implizit atheistisch verworfenen Trinitätslehre und Christologie empfindlich bemerkbar, denn ohne den Rekurs auf die Logoslehre kann Reimarus ebensowenig die Schöpfung aus dem Nichts wie auch insbesondere die göttliche Vorsehung erklären. Der theistische Gottesbegriff ist, soll Gott innerhalb der Welt anwesend und wirksam vorgestellt werden, angewiesen auf ein theoretisches Konzept der providentiellen Vermittlung, das in der von Reimarus in diesem Punkt abgelehnten dogmatischen Tradition noch immer die Christologie und die Lehre von der Schöpfungsmittlerschaft Christi vorgibt. Um die theoretische Lücke zu schließen, flüchtet sich Reimarus in eine philosophischen Standards der Zeit nicht entsprechende Theorie der Vermittlung, die eine Einwirkung Gottes auf den Lauf der materiellen Welt auf der Ebene feinmaterieller Substanzen oder Urstoffe annimmt. Das Problem, das Reimarus ausgehend vom orthodoxen Atheismusdiskurs richtig erkennt und formuliert, ist nicht mehr befriedigend lösbar. Er sieht sich vor der Entscheidung zwischen einem spinozistischen Atheismus auf der einen Seite und einer orthodox-dogmatischen Logoslehre auf der anderen Seite, die sich ihrer biblischen Begründung nach ebenso als platonisch und mithin atheistisch erweist. Seine Ausflucht ist ein zutiefst unbefriedigendes philosophisches Konzept der Vermittlung, das die Zielvorgaben der dogmatischen Vorsehungslehre zu erreichen versucht, ohne hierbei andere, bereits als atheistisch gebrandmarkte Konzepte in Anspruch nehmen zu müssen. Die Kritik der Logoslehre freilich ist nur ein Aspekt der Auseinandersetzung mit der Dogmatik, die für beide Hälften des Reimarus’schen Werks grundlegend ist. Obwohl Reimarus vermutlich von Kindesbeinen an mit den lutherischen Katechismen und den zentralen Grunddaten der christlichen Dogmatik vertraut war, wird seine Auseinandersetzung mit der lutherischen Dogmatik erstmals greifbar während seines Studiums in Jena, wo er Buddes Vorlesungen besuchte, die dieser dazu nutzte, seine »Institutiones theologiae dogmaticae« vorzubereiten. Offenkundig prägte die Übergangstheologie Buddes Reimarus, obwohl sich der Weg seiner weiteren Beschäftigung mit der Dogmatik aus den erhaltenen Materialien nicht rekonstruieren lässt. Lediglich das Fragment über Dippel und Wagner zeigt, dass Reimarus die Kritik der Versöhnungslehre aufmerksam zur Kenntnis nahm. Als eine durch Dippels Kritik ebenso wie durch den betrugstheoretischen Ansatz der Mosedeutung zusätzlich motivierte kritische Relektüre der Buddeschen Dogmatik präsentiert sich die Dogmenkritik der »Apologie«. Budde, der angesichts der hervorgehobenen Stellung der Versöhnungslehre im kirchlichen Alltag die Versöhnungslehre auch in seiner Dogmatik aus praktisch-theologischen Gründen in den Mittelpunkt gestellt hatte, lieferte für Reimarus die Vorlage zu
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einer Rekonstruktion der Dogmengeschichte von der Versöhnungslehre aus. Die Argumentation Buddes pervertierend stellt er das missionspragmatische Interesse an einer universalen Versöhnung voran und entwickelt die Trinitätslehre samt der Christologie und der Sündenlehre als nachfolgende Erfindungen, die nötig wurden, um die einmal behauptete universale Versöhnung verteidigen zu können. Soll die in Christus geschehene Versöhnung universal sein, so muss die Person des Erlösers zum Gottmenschen aufgewertet werden, ein Schritt den der trinitätstheologische Platonismus Johannes’ und der frühen Väter ermöglichte. Das so gewonnene Grundgerüst eines christlichen Lehrsystems gegen vernünftige Kritik zu verteidigen, leistete dann die Sündenlehre, die die menschliche Vernunft als durch den Sündenfall verderbt marginalisiert. Argumente gegen die Sündenlehre braucht Reimarus nicht lange zu suchen. Die Kritik der Sündenlehre setzt schon in der Orthodoxie ein und zählt – auch für Budde, der sie teilweise aufnimmt – zu den dogmenkritischen Allgemeinplätzen. Im Gegensatz zu dieser Kritik der Versöhnungs-, Trinitäts- und Zwei-Naturen-Lehre sowie der Sündenlehre steht die positive Aufnahme und Verteidigung einiger Elemente besonders der dogmatischen Gottes-, Schöpfungs- und Vorsehungslehre in den »Vornehmsten Wahrheiten«. Reimarus übernimmt hier Buddes Konzept einer Verteidigung der christlichen Dogmatik durch den eklektischen Einsatz der Philosophie. Unmittelbar greifbar wird die lutherische Dogmatik in den »Vornehmsten Wahrheiten« freilich kaum. Auffällig ist aber, dass die Zielpunkte der stets philosophisch durchgeführten Argumentation zumeist genau mit den argumentativen Zielpunkten der Dogmatik in den entsprechenden Loci übereinstimmt. Zumindest im Blick auf die Gottes-, Schöpfungs- und Vorsehungslehre kommt Reimarus dem im Vorwort angekündigten Vorhaben nach, »Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« als religionsphilosophische Grundlage und Stütze der dogmatischen Wahrheiten der geoffenbarten Religion des Christentums entwickeln zu wollen. Lediglich in der Anthropologie erlaubt sich Reimarus einen gegenüber der Dogmatik verhältnismäßig eigenständigen Weg der Entwicklung einer Unsterblichkeitslehre. Die in der »Apologie« ausgeführte Kritik der Sündenlehre wird hier stillschweigend vorausgesetzt. In seiner Diskussion der Theodizee schließt sich Reimarus dem von Leibniz vorgezeichneten Lösungsweg an und zeigt, was er angesichts des kritischen Rundumschlags der »Apologie« auch muss, die Suffizienz der natürlichen Religion hinsichtlich der Lösung des Theodizeeproblems. Zu sehr hat Reimarus in der »Apologie« die Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit Gottes angeklagt, die sich im biblischen Bericht über die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk zeigt. Als Quelle eines Gottesglaubens, der Gott in seiner Weisheit und Güte erkennt, bleibt Reimarus nur noch die Natur. Die biblische Heilsgeschichte ist als Ort des Gottesglaubens von der »Apologie« her disqualifiziert. Obwohl also die lutherische Dogmatik, wie sie Reimarus in Buddes »Institutiones theologiae dogmaticae« greifbar war, eine nicht unwichtige Rolle in den
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4 Schlussbetrachtung
»Vornehmsten Wahrheiten« spielt, stellt das Rückgrat ihrer Argumentation doch die Philosophie dar, die sich besonders in der Gotteslehre als wolffianisch zu erkennen gibt, in einigen entscheidenden Punkten aber doch von Wolff abweicht. Zeichnet man die Linie der Reimarus’schen Auseinandersetzung mit der Philosophie von ihren Anfängen an nach, so fällt der Blick zuerst auf die Studienzeit in Jena und Wittenberg, wo Reimarus in die Kunst des eklektischen Philosophierens im Sinne der Philosophie Christian Thomasius’ eingeführt wurde und durch die Machiavelliarbeit einen eigenen Beitrag zur eklektischen Philosophiegeschichtsschreibung leistete. Es muss daher nicht verwundern, dass Reimarus in den »Vornehmsten Wahrheiten« sich der eklektischen Methode gegenüber treuer verhält als dem Gesamtsystem der Wolffschen Philosophie. Der Satz vom Widerspruch, den Reimarus auch der Bibelkritik der »Apologie« zugrunde legt, ist wolffianisch, ebenso auch der kosmologische Gottesbeweis, mit Einschränkungen auch der Begründungsweg der Psychologie. Nicht wolffianisch dagegen sind die Ablehnung der prästabilierten Harmonie, die auf einen Determinismus des Naturlaufs hinführt, und die Spontaneität, die dem Naturforscher Reimarus im Blick auf die Ethologie wichtig erschien. Ebenso zeigt Reimarus’ Tendenz, empiristische und sensualistische Argumente in den Vordergrund zu rücken, einen Bruch mit der Wolffschen Philosophie. Zwischen den frühen religionsphilosophischen Gedanken im Rahmen der ersten Fassung zur »Apologie«, den fragmentarisch erhaltenen Vorarbeiten zu den »Vornehmsten Wahrheiten« und deren Endfassung lässt sich eine zunehmende Neigung feststellen, in der Verschränkung apriorischer und aposteriorischer Argumentation die aposteriorische, erfahrungsbezogene Argumentation mehr und mehr zu betonen, was in der Endfassung der »Vornehmsten Wahrheiten« zur tatsächlichen Einlösung der im Titel versprochenen »begreifliche[n] Art« der Erklärung führt. Das Vorbild Rüdigers spielt hier eine wichtige Rolle, den Reimarus während seines Studiums besuchte. Auf Rüdiger geht nicht nur die Anwendung des Widerspruchsprinzips auf die Testimonienfrage zurück, die Reimarus in seiner widerspruchslogischen Destruktion biblischer Wunderberichte zusätzlich bestärkt haben mag. Rüdiger stand vor allem für eine am englischen Empirismus und an den Bedürfnissen der Naturwissenschaft orientierten Philosophie, die der sinnlichen Wahrnehmung verhältnismäßig große Bedeutung beimisst. Reimarus lernte von Rüdiger, modifizierte die bei Wolff stärker rationalistisch konzipierte Argumentation im Sinne Rüdigers und kam so zu seiner weithin gut akzeptierten allgemein verständlichen Erklärungsart. Die argumentative Mitte der »Vornehmsten Wahrheiten« erschließt sich allerdings nicht aus Dogmatik oder Philosophie allein, die Reimarus in apologetischem Interesse aufeinander bezieht. Im Mittelpunkt der »Vornehmsten Wahrheiten« steht die physikotheologische Beobachtung von Schöpfungsabsichten, deren Recht Reimarus im Feld der Naturforschung zu verteidigen sucht. Die Physikotheologie als Teil lutherischen Schöpfungsglaubens lernte Reimarus schon als Schüler bei Fabricius kennen, dessen eigene Begeisterung für die Physikotheologie
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sich unter anderem dem philologischen Austausch mit Richard Bentley verdankte, der als erster in der Reihe der »Boyle Lectures« physikotheologische Vorlesungen hielt. In einem Schulprogramm griff Reimarus während seiner Zeit als Rektor der Stadtschule in Wismar das Thema der Physikotheologie erneut auf und betätigte sich selbst über Jahrzehnte hin in der physikotheologischen Beschreibung und Systematisierung des tierischen Triebverhaltens, was er in einer eigenen Abhandlung »Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere« zur Darstellung brachte. Innerhalb der »Vornehmsten Wahrheiten« stellt Reimarus die Physikotheologie in die Tradition der namentlich von Melanchthon eingeforderten Harmonisierung von Schöpfungstheologie und Naturphilosophie und umschreibt, wie dieser ausgehend von der pseudoaristotelischen Schrift »Über die Welt«, die Welt als eine magna civitas dei, in der Gott alles auf bestimmte Zwecke hin eingerichtet hat und gemäß seinen unwandelbaren Naturgesetzen erhält. Dieses Bild der Welt als einer magna civitas dei verteidigt Reimarus gegen die neue, durch Maupertuis repräsentierte Naturwissenschaft an der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die die alten cartesischen Bedenken gegen die Physikotheologie insofern erneuert, als sie die von Newton eingeforderte erkenntnistheoretische Selbstbeschränkung der Naturwissenschaft auf die Beobachtung und Erklärung jeweiliger durch Experimente erschlossener Einzelphänomene zu einem Argument macht gegen die physikotheologische Thematisierung weit ausgreifender Schöpfungsabsichten in der Welt, die einzelne Phänomene selbst des biologischen Mikrokosmos mit Gott als letzter Zweckursache verbindet. Maupertuis lehnt die physikotheologische Argumentation nicht ab, beschränkt ihr Recht aber auf Naturprinzipien, die hinreichend allgemein sind, das zweckvolle Wirken Gottes in seiner Schöpfung insgesamt erkennbar zu machen, und verweist auf das von ihm entdeckte Prinzip der kleinsten Aktion, das allein diesem Kriterium genügt und die volle Beweislast der physikotheologischen Argumentation daher tragen soll. Die Physikotheologie aber, die Reimarus von Fabricius und den englischen Physikotheologen übernommen hat, verliert hierdurch ihr epistemologisches Recht. Gegen Maupertuis versucht Reimarus daher, das Recht der alten physikotheologischen Argumentation zu verteidigen, indem er auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinweist, den die Beobachtung von Schöpfungsabsichten immer wieder ermöglichte, ein Verfahren, das die Nützlichkeit der Physikotheologie unter Beweis stellt, nicht aber ihre Wahrheit. Die Wahrheit der Physikotheologie gründet vielmehr in der letztlich mittelalterlichen Harmonie von aristotelischer Metaphysik und biblischem Schöpfungsglauben, an der Reimarus, Melanchthon und den englischen Physikotheologen folgend, festzuhalten versucht. Was zu erwähnen bleibt, ist die Wirkung, die die beiden Hälften des Reimarus’schen Werks zeitigten. Was die Wirkung der »Apologie« betrifft, so ist sie bestimmt durch Lessings Herausgabe der »Fragmente eines Ungenannten«, die den Fragmentenstreit provozierte. Die Endfassung der »Apologie« wurde 1972 erstmals vollständig von Gerhard Alexander ediert. Davor war der volle Zusam-
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4 Schlussbetrachtung
menhang der Argumentation der »Apologie« allenfalls in Gestalt der von David Friedrich Strauß verfassten Zusammenfassung zur »Apologie« erkennbar. Die Lessingsche Edition prägt daher bis heute das Bild von Reimarus’ »Apologie«. Zwar brachte der Fragmentenstreit ein zentrales Thema der »Apologie« zur Diskussion, insofern es Lessing gelang, innerhalb des Streits die tiefe Krise ins allgemeine Bewusstsein zu rufen, in die das theologische Programm einer biblisch-historischen Begründung der Wahrheit der christlichen Religion geraten war. Lessings Auswahl einzelner Fragmente aus dem Gesamtzusammenhang der »Apologie« führte aber gleichwohl zu einer Verengung der Perspektive auf einige wenige Aspekte. Duldung der Deisten, Prüfung der Offenbarung am Maßstab der Vernunft, widerspruchslogische Bestreitung der Historizität von Wundern, Jüngerbetrug, das alles sind zentrale Themen der »Apologie«, aber bei weitem nicht die einzigen. Lessing wählte sie aus nicht deshalb, weil sie neue, der Öffentlichkeit unbekannte Themen boten, sondern deshalb, weil sie vermittelt vor allem durch den Streit um die Wertheimer Bibel und die Rezeption deistischer Werke aus England der Öffentlichkeit schon einmal zu Gehör gekommen waren und daher einen umso größeren Protest erregten. Die skurrilen Welten des mosaischen Trickbetrugs mutete Lessing der Öffentlichkeit nicht zu, auch nicht die Dogmenkritik, die Reimarus zum Teil aggressiv steigert zu einer regelrechten Verspottung des biblisch-dogmatischen Gottesbildes. Ebenso zählt auch die theologisch scharfsinnige Applikation der orthodoxen Atheismuskritik auf die christliche Trinitätslehre und die johanneische Christologie nicht zu den Stücken, die Lessing durch seine Fragmente zur Diskussion stellte. Lessing musste auswählen und machte die Öffentlichkeit gewissermaßen nur mit der Spitze eines weit größeren Eisbergs bekannt. Umso interessanter ist daher die Frage nach möglichen Verbreitungswegen einzelner Manuskripte der »Apologie« jenseits des durch Lessing provozierten Fragmentenstreits. Das Beispiel der Rezeption der »Apologie« durch Moses Mendelssohn und Christian Tobias Damm in Berlin zeigt, dass die »Apologie« auch im Verborgenen wirkte und durch diese verborgene Wirkung ebenso den Gang der großen, bekannten Theologiegeschichte beeinflusste. Was die Wirkung der »Vornehmsten Wahrheiten« angeht, so fiel sie weit weniger turbulent aus als die der »Apologie«. Paradoxerweise waren es nachgerade lutherische Theologen, die die »Vornehmsten Wahrheiten« noch bis ins späte 18. Jahrhundert ihren Studenten zur Lektüre empfahlen und offenkundig nicht ahnten, dass die »Vornehmsten Wahrheiten« nur die eine Hälfte des zum überwiegenden Teil radikal kritischen Werks repräsentieren. Was den »Vornehmsten Wahrheiten« eine Wirkung über das 18. Jahrhundert hinaus bescherte, war der Umstand, dass Kant in seinen Diskussionen der Gottesbeweise auf Reimarus’ »Vornehmste Wahrheiten« verweist, die ihm als beispielhaft gelungene Darstellung des physikotheologischen Beweises galten. Genügt das Material, um die Frage nach Reimarus’ Stellung in der Theologiegeschichte der Aufklärungszeit zu stellen? Es sei an dieser Stelle erlaubt,
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zumindest einen bleibenden Ertrag seines theologischen Werks festzuhalten, der, so negativ er auch scheinen mag, einen starken positiven Keim in sich trägt. Was auffällt, wenn man Reimarus’ theologisches Werk liest, ist eine Radikalität bibel-, religions- und dogmenkritischer Gedanken, die innerhalb der deutschen Aufklärung ihresgleichen sucht. Reimarus begnügt sich nicht damit, Linien der Kritik konsequent an ihr Ende zu verfolgen und nüchtern das Scheitern einer biblischen Begründung der christlichen Dogmatik zu konstatieren. Immer wieder zielen seine Ausführungen auf die Verspottung biblischer Gestalten wie Mose, König David aber auch Paulus. Auch das Gottesbild, das die christliche Dogmatik ausgehend von der biblischen Heilsgeschichte entwirft, wird bei Reimarus zur Karikatur eines ebenso eitlen wie letztlich hilflosen Tyrannen: Man giebt Gott die Person eines großen Königes und Herrn über die gantze Welt. Er hat die Welt geschaffen um sein selbst willen, und zu seiner Ehre: er hat den Menschen, die ihn verehren können, Gesetze gegeben, denen sie aufs genauste Gehorsam leisten sollen. Wie er also, vermöge der Schöpfung, ein vollkommenes Recht und unumschränkte Macht hat, von seinen vernünftigen Creaturen allen Gehorsam, und die höchste Verehrung zu fordern: so will er auch seine Ehre keinem andern geben, noch seinen Ruhm den Götzen. Er fragt: Bin ich denn Vater: wo ist meine Ehre? Bin ich Herr: wo fürchtet man mich? Er ist ein eifriger Gott, der die Missethat der Väter auch an den Kindern aufs schärfste heimsuchet. Wer seinem Willen wiederstrebt, der beleydiget seine Majestät, der empöret sich gegen seinen Schöpfer und Herrn. Wie will er die Beleydigung eines so großen Herrn wieder gut machen? welche Strafe ist groß genug, solchen Frevel zu büßen? Gott würde seiner Hoheit und Herrschaft etwas vergeben, wenn er diese Boßheit nicht aufs äusserste ahndete. […] Daher muß er uns nun um sein selbst willen strafen, und sich selbst durch unsre Straffe Satisfaction schaffen, damit sein Reich wieder die Abtrünnigen bevestiget, und er von allen geehret und gefürchtet werde. […] Ja, wenn er sich denn durch Strafen, und Verdamnis zu einer ewigen Quaal, Furcht schaffen will, und darin seine Genugthuung sucht: so hilfft es doch nichts; der allergrößte Theil seiner Unterthanen bleibt rebellisch, die Empörung wehrt immer fort, und es steht den Aufrührern mitten unter ihren Strafen frey, die Majestät Gottes bis in Ewigkeit zu beleydigen und zu lästern. Ja, wenn er endlich auch seinen eigenen Sohn dahin giebt, daß er die Abtrünnigen belehren, und sein Reich unter ihnen wieder aufrichten soll: er schaffet doch nichts damit; sie spotten seiner, und todten ihn gar. Noch mehr angebotene Gnade! Er will ihnen sogar diese äusserste Frevelthat an seinem Sohne als ein Versühn-Opfer und eine Genugthuung für ihre Sünde, ja zur Gerechtigkeit anrechnen, wenn sie nur noch in Gnaden-Zeit an sein Verdienst um sie glauben. Aber alles umsonst; die allerwenigsten nehmen solch sonderbares Evangelium an, und noch wenigere leben darnach, der andere Hauffe geht dennoch ohne weitere Hofnung verloren.1
Passagen wie diese erinnern an d’Holbachs beißenden Spott über das Gottesbild der christlichen Dogmatik, das dieser als das Abbild und die Stütze des verkommenen politischen Systems der absolutistischen Monarchie entlarvt und als solches bekämpft.2 Die Monarchie findet im Gottesbild, das die Theologen 1
Vgl. Apol II , S. 493 und 496 f. Vgl. beispielsweise den Abschnitt aus dem »Christianisme dévoilé« in der deutschen Übersetzung Paul Thiry d’Holbach, Das entschleierte Christentum oder Prüfung der Prinzipien 2
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4 Schlussbetrachtung
entwerfen, die Stütze ihrer Macht und muss in sich zusammenbrechen, wenn dieses Gottesbild als Chimäre entlarvt dem Spott verfällt. Es ist die Einsicht in die dichte Verbindung von politischer Herrschaft und theologischer Wahrheitsmacht, die radikale Aufklärer wie d’Holbach zu ihrer Religionskritik motiviert. Unter den Bedingungen des Ancient Régime wird jeder Angriff auf die Priester und ihre dogmatischen Lehren ein Befreiungsschlag gegen die Monarchie, die im Schulterschluss mit dem Klerus der politischen Pluralisierung und bürgerlichen Emanzipation Einhalt zu gebieten versucht.3 Und nicht nur im vorrevolutionären Frankreich steht die radikalaufklärerische Kritik an Klerus und Dogmatik im Kontext politischer Pluralisierungs- und Emanzipationsprozesse. Es wurde darauf hingewiesen, dass beispielsweise auch der pantheistisch gefärbte Deismus Tolands vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit als radikaler Whig-Theoretiker verständlich wird als ein bibelkritisches Plädoyer für den demokratischen commonwealth. Auch Dippels Kritik der Versöhnungslehre, die das vom lutherischen Klerus beanspruchte Monopol in der Heilsvermittlung durch die provokante Reformulierung sozinianischer Thesen zu unterlaufen versucht, konnte innerhalb der politischen Pluralisierungsprozesse verortet werden, die die schwedische Freiheitszeit bestimmten. Aber was ist der politisch-soziale Kontext der »Apologie« des Reimarus, die bei weitem radikaler ausfällt als die Kritik Tolands oder Dippels? Gibt es im Hamburg des Hermann Samuel Reimarus einen vergleichbaren politischen Kampf, aus dem heraus sich die enorme Radikalität seiner Kritik mit ihrer dezidiert antiklerikalen Stoßrichtung erklären lässt? Von den genannten Beispielen aus mag es plausibel erscheinen, die Kritik der »Apologie« als eine Kritik am Hamburger Klerus zu deuten, an der lutherischen Orthodoxie also, der Reimarus selbst seiner akademischen Herkunft und seinem schulischen Amt nach angehörte. Die »Apologie« pauschal als einen Angriff auf die Orthodoxie zu verstehen, fällt von daher schwer. Man müsste innerhalb der Orthodoxie in Hamburg differenzieren und möglicherweise eine ältere, an der eklektischen Gelehrsamkeit Wittenberger Prägung orientierte Orthodoxie unterscheiden von einer neueren, minder gelehrten als vielmehr im Sinne des theologischen Wolffianismus eines Baumgarten vernünftigen Orthodoxie. Fabricius, Wolf und als ein Spätling Reimarus ständen dann für die erstere, Johann Melchior Goeze für die letztere. Als Erklärung reicht das allein aber nicht aus. Zu beachten wäre zusätzlich mindestens auch die gerade in religionspolitischen Fragen liberale Haltung der Hamburger Bürger, die in den 1760er Jahren in den bekannten und Wirkungen der christlichen Religion von weiland Herrn Boulanger, in: Paul Thiry d’Holbach, Religionskritische Schriften, hg. von Manfred Naumann, Berlin / Weimar 1970, S. 51–171 hier S. 79 f. 3 Vgl. Manfred Naumann, Die Bedeutung des »Christianisme dévoilé«, der »Théologie portative« und der »Lettres à Eugénie« für die weltanschaulichen Kämpfe in der französischen Aufklärung zwischen 1760 und 1770, in: Paul Thiry d’Holbach, Religionskritische Schriften, hg. von Manfred Naumann, Berlin / Weimar 1970, S. 5–49.
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religionspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Goeze und dem Senat gipfelten. Im politisch-ökonomischen Taktieren Altona gegenüber, dem Handelsstützpunkt des dänischen Merkantilismus konnte die Orthodoxie den Hamburger Bürgern leicht als ein Störfaktor erscheinen, den es auszuschalten galt. Gründe wie diese mögen eine Rolle gespielt haben, als Reimarus die religionskritischen Gedanken seiner »Apologie« zu Papier brachte. Was daneben aber eine mindestens ebenso große Rolle gespielt haben dürfte, ist Reimarus’ gleichermaßen gründliches wie konsequentes Durchdenken theologisch-philologischer Problemzusammenhänge und seine Bereitschaft, sich einzulassen auf gewisse Wechselwirkungen und gegenseitige Verstärkungen kritischer Argumente, die sich im Zusammenspiel von Exegese, Dogmenkritik und der orthodoxen Polemik gegen den Atheismus ergeben konnten. Die notwendigen Konsequenzen hat Reimarus jederzeit gezogen, wie es insbesondere das Beispiel der Trinitätslehre zeigt, die Reimarus fallen lässt, ohne die entstandene Lücke in seinem philosophisch-theologischen System auf befriedigende Weise schließen zu können. Hier wie an vielen anderen Stellen zeigt sich, dass Reimarus – so sehr er sich über manche Vertreter der Hamburger Orthodoxie zeitweise geärgert haben mag – eben nicht allein betrachtet werden kann als ein Freigeist und aufgeklärter Gegenspieler der lutherischen Orthodoxie, sondern vielmehr als einer ihrer umtriebigsten und konsequentesten Vertreter. Was Reimarus durch seine jahrzehntelange Schreibtischarbeit gezeigt hat, ist, dass die Aporien, die sein theologisches Werk offenlegt, Aporien sind, die der Tradition lutherischer Theologie keineswegs fremd sind, dass vielmehr die lutherische Orthodoxie schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein so auswegloses Labyrinth sich gegenseitig ausschließender theologischer Optionen betreten hatte, dass eine Lösung der seit Luther und der Reformation angehäuften Probleme nur noch auf der Grundlage einer totalen Bankrotterklärung der eigenen theologischen Tradition erreichbar war. Dass Reimarus weit aggressiver schreibt als Baumgarten beispielsweise oder Semler, erklärt sich zu einem Gutteil aus der außergewöhnlichen Konsequenz seines Denkens, die es nicht duldet, klare Sachverhalte aus Rücksicht auf die Leser zu verschleiern. Mit dem theologischen Vermächtnis des Hermann Samuel Reimarus umzugehen, ist eine der bleibenden Aufgaben der Theologie. Als Beispiel mag ihr Lessing dienen und dessen eingangs zitiertes Spinozabekenntnis des Sommers 1780. Es steht für den theologischen Mut dessen, dem es gelingt, die bleibenden Gehalte des christlichen Bekenntnisses neu zu erschließen als einen Glauben, der Wahr! Ich weiß nichts anders. Dahin geht heit an sich selbst genug findet. » auch dies Gedicht; und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr.«
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Sekundärliteratur
301
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Personenregister Ackerknecht, Erwin H. 190 Agrippa von Nettesheim, Cornelius 113 Alberti, Valentin 17 Albo, R. Josef 142 Alexander der Große 77, 163 Alexander, Gerhard 7, 9, 48, 50, 59 f., 112, 169, 180, 197, 275 Althaus, Paul 264 Annet, Peter 147 f. Anselm von Canterbury 47, 154 Aretino, Pietro 115 Aristoteles 29, 112–114, 206, 223, 234–237, 242 Arndt, Hans Werner 108 Arnold, Gottfried 152 f. Arpe, Friedrich 23, 115 Assmann, Jan 115, 126 Augustinus, Aurelius 164, 236, 253 Averroes 121 Bacon, Roger 216, 245 Bahrdt, Karl Friedrich 189 Bartels, Adolf 172 f. Barth, Hans-Martin 12, 228 f. Barth, Ulrich 246 Baruzzi, Arno 233 Basedow, Johann Bernhard 263 Baumgarten, Siegmund Jakob 63, 278 f. Baur, Ferdinand Christian 42 Bayle, Pierre 29, 163, 221, 228, 261 Becker, Katharina 181 Beeson, David 240, 243 Bekker, Balthasar 71 Bender, Wilhelm 42 Bengel, Johann Albrecht 190 f. Bentley, Richard 201–203, 275 Berengar von Tour 171 Bernard, Jean Frédéric 212, 250 Beutel, Albrecht 14 Beverland, Adriaan 23, 227 Biermann, Martin 129 Blackwell, C. W. T. 27, 114 f. Blount, Charles 62
Blumenberg, Hans 7 Bochart, Samuel 77, 125 Bodin, Jean 62 Boehart, William 8, 174 f. Böhme, Jakob 164 Bohn, Johann Carl 263 Bonnet, Charles 172 Boreel, Adam 141 Borinski, Ludwig 8 Borzeszkowski, Horst-Heino 243 f. Böttigheimer, Christoph 140 Boulanger, Nicolas Antoine 195 Boyle, Robert 201 f., 205, 241 f. Brewster, David 241 Brockes, Barthold Heinrich 3, 131, 204, 207 Bruno, Giordano 62, 115 Budde, Johann Franz 4, 13, 25–28, 31, 115, 131, 150 f., 155 f., 163, 166–168, 230–232, 247 f., 250–253, 255 f., 267, 269 f., 272 f. Buffon, George Louis 213, 217, 250 Bull, George 160 Bullock, Thomas 36 Bultmann, Christoph 8 Burnet, Gilbert 202 Busch, Alexander 24 Büsch, Johann Georg 209 Büsching, Anton Friedrich 192 Buxtorf, Johannes 66 Calixt, Georg 140 Calov, Abraham 34, 66, 137, 150, 229 Calvin, Jean 66 Cantimori, Delio 149 Capelle, Wilhelm 124 Carabelli, Giancarlo 116 Cardano, Girolamo 114 f., 170 Caspari, Wilhelm 7 Cassirer, Ernst 240 f., 243 f. Cassius Dio 122, 262 Celsus 101 Champion, Justin 119 f.
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Personenregister
Cicero 122, 206, 236 Clarke, Samuel 201 Cloots, Jean Baptiste 195 Coccejus, Johannes 84, 166 f. Coler, Johann Christoph 32 Collins, Anthony 36 f., 39, 122, 135–138, 260, 268 f. Colpe, Carsten 123 Conring, Hermann 30 Cramer, Johann Andreas 171, 173 Crell, Johann 194 Cudworth, Ralph 126 f. Curtius, Georg 188 Cyprian, Johannes 32 Cyranka, Daniel 127, 260 da Costa, Uriel 71 Damm, Christian Tobias 181 f., 184–196, 276 Damm, Floriana (geb. Müller) 186 Damm, Johann Andreas 186 Danz, Johann Andreas 4, 26, 131 Derham, William 201–204, 216 Descartes, René 26, 203, 216, 239 f., 242 f., 245, 259 Desch, Joachim 9 d’Holbach, Paul Henri Thiry 194 f., 277 f. Diodor 123 Dippel, Johann Konrad 5, 11, 41–47, 54, 67, 156 f., 179, 272, 278 Dörrie, Heinrich 254 Dreitzel, Horst 30 Dreyer, Johann Matthias 63 Du Hamel, Jean-Baptiste 112 Edelmann, Johann Christian 11, 131 f., 185, 260, 271 Edzardi, Georg Eliezer 4 Edzardi, Sebastian 18 Engert, Joseph 6 Epikur 242 Fabricius, Johanna Friederike 4, 5 Fabricius, Johann Albert 3–5, 13, 17–23, 33, 35, 37, 40, 66 f., 129, 201, 203 f., 262, 267 f., 273, 275, 278 Fénelon, François 203 Fick, Monika 172 Flacius (Illyricus), Matthias 36 Force, James E. 241 Foucault, Didier 112, 114 Frank, Gustav 151 Fréret, Nicolas 195
Freund, Gerhard 8, 174 f. Friedrich II. (von Preußen) 238 Friedrich, Martin 23, 139–141 Fritzsch, Christian 234 f. Froidmont, Libert 112 Fück, Johann 125 Gädechens, Otto Christian 198 Galilei, Galileo 241 Gawlick, Günter 3, 8 f., 24, 111, 207, 250, 262 f., 265 f. Gedike, Friedrich 192 f., 195 Gensichen, Hans-Werner 43 Gericke, Wolfgang 10, 11, 36 Gesner, Johann Matthias 4 Glassius, Salomon 36 Glawe, Walter 159, 160, 163 f. Gleditsch, Friedrich Ludwig 226 Goethe, Johann Wolfgang von 1 Goeze, Johann Melchior 62, 64, 66, 115, 175, 278 Goldenbaum, Ursula 37 f. Goldschmidt, Stephan 42 Goldsmith, Dale 145 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 245 Graupe, Heinz Mosche 9 Gray, Sir Thomas 113 Gregor der Große 122 Groetsch, Ulrich 122 Grossmann, Walter 11 Grotius, Hugo 34, 94, 136–138 Gundling, Hieronimus 163 Haberkorn, Peter 141 Hackspan, Theodor 23, 139 f., 142 Häfner, Ralph 12, 203, 230 Hamm, Johann 250 Harnack, Adolf von 159, 239, 245 Hartsoeker, Niklaas 250 Havemann, Michael 141 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 200 Heisch, Maria Margaretha 186 Henning, Karl Fredrik Salomon 44 Herder, Johann Gottfried 179 Herrera, Alonso 28 Heubel, Johann Heinrich 23 Heumann, Christoph August 163 Hirsch, Emanuel 9, 171, 173, 251 Hirsching, Friedrich Carl Gottlob 44 Hobbes, Thomas 62, 202 Hoffmann, Friedrich 190 Hoffmann, Johann Adolph 5, 10, 35, 37, 40, 268
Personenregister Hoffmann, R. Joseph 129 Holzhey, Helmut 25, 27 Horaz 206 Hornbostel, Hermann Christian 263 Hornig, Gottfried 175 Hübener, Wolfgang 118 Ibn Ezra 142 Ibn Ruschd (s. Averroes) Jablonski, Daniel Ernst 190 Jacob, Margaret C. 226 Jacobi, Friedrich Heinrich 1, 2 Jasper, Willi 172 Josephus, Flavius 86 Julian Apostata 164 Justi, Carl 187 Kant, Immanuel 6, 264–266, 276 Kaplan, Yosef 141 Karl XII. (von Schweden) 44 Kempski, Jürgen von 8, 9, 223 f. Kessler, Eckhard 149 Kierkegaard, Sören 178 Kimchi, R. David 142 f. Kirch, Christfried 190 f. Klöden, Karl Friedrich von 186, 189 Klose, Karl Rudolf Wilhelm 6, 7, 197 Klose, Wilhelm 42 Kohl, Johann Peter 39 Kopitzsch, Franklin 13, 20 Krauss, Samuel 145 Krauss, Werner 9 Kristeller, Paul Oskar 114 Kröger, Wolfgang 175 Krolzik, Udo 202 Kunze, Johannes 151 La Mettrie, Julien Offray de 212 f., 218, 228, 231, 233, 239, 250, 257 f. Lanfranc 171 Lange, Joachim 38 f. Latermann, Johann 140 Lau, Theodor Ludwig 61 f. Lauvergnat-Gagnière, Christiane 121 Lavater, Johann Kaspar 172, 189 Lechler, Gotthard Victor 134, 137, 148 Le Clerc, Jean 34 f., 37, 66, 77, 94, 203, 268 Leibniz, Gottfried Wilhelm 26, 209, 218, 240, 243 f., 248, 250, 261, 273 Lessing, Gotthold Ephraim 1–3, 14, 37, 60, 107 f., 133, 169–181, 185, 189, 196–198, 266, 275 f., 279
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Leuwenhoek, Antoni van 250 Leyding, Johann Dietrich 225 f. Link, Christian 252, 254 f. Lipmann von Mühlhausen, R. Yom Tov 139 Livius, Titus 122 Locke, John 108 Loeffler, Josias Friedrich Christian 161 Loofs, Friedrich 152 f. Lorenz, Stefan 262 Lossau, Christian Joachim 23, 62, 115 Lötzsch, Frieder 8, 108 f. Löwen, Johann Friedrich 225 Lukian 121, 123 Lukrez 206, 221 Luther, Martin 38, 66, 155, 252, 254, 264, 279 Machiavelli, Niccolò 4, 24, 26 f., 29–32, 41, 113, 115, 117, 120, 133, 258, 270 f. Maimonides, Moses 71, 74 Makarius Magnes 20, 129 Marinus Neapolitanus 203 Martini, Cornelius 30 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 215 f., 234, 238–240, 242–246, 275 Maurice, Florian 189 Mayer, Johann Friedrich 17 Meckenstock, Günter 191 f. Melanchthon, Philipp 235, 254–256, 275 Mendelssohn, Moses 172, 181, 187, 189, 225, 276 Mill, John 105 Mirabaud, Jean B. de 195 Mönckeberg, Carl 3, 33, 151, 207 Morgan, Thomas 127 Mosheim, Lorenz von 153 Mühlpfordt, Günter 10, 63 Müller, Johann Joachim 119 f. Mulsow, Martin 11–13, 15, 21, 23, 33, 62, 66, 115, 119, 131, 147, 159, 161 f., 164, 195, 227, 230, 260 Murken, Axel Hinrich 190 Müsing, Hans-Werner 11 Naigeon, Jacques A. 195 Naudé, Gabriel 32, 129, 185 Needham, John Tuberville 213, 250 Nehr, Johann Georg 37 Newton, Isaac 201, 203, 205, 239–243, 245 f. Nicolai, Friedrich 173, 181, 187–189, 262 f. Niedner, Christoph 197 Niewöhner, Friedrich 121
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Personenregister
Nizam al-Mulk 121 Nüssel, Friederike 13, 25 f., 151, 155, 248 Ogonowski, Zbigniew 149 Oppenheimer, R. David 21 Orobio de Castro, Isaac 195 Paalzow, Christian Ludwig 195 Pasor, Georg 66 Pearson, John 105 Pétau, Denis 160 Petersen, Erik 13, 17–19, 203 f., 248 Petry, Michael John 231 Pfanner, Tobias 123 Philipp, Wolfgang 202, 204 Philo von Alexandrien 159 f., 236 Platon 88, 122, 162, 187 Plinius d. Ä. 206 Plinius d. J. 101 Plutarch 123 Poggio Bracciolino, Gianfrancesco 115 Pomponazzi, Pietro 114 f. Porphyrios 20, 129 f., 133, 164, 271 Pott, Martin 61 Prodikos von Keos 124 Proklos 203 Pufendorf, Samuel 27, 166–168, 208, 258 Pulte, Helmut 243 Radicati, Alberto 62 Raimondi, Francesco Paolo 112, 114 Rambach, Johann Jakob 36 Rauschenbach, Sina 142 Reimarus, Johann Albert Hinrich 5, 179, 197, 223, 263 Reimarus, Katharina Elisabeth (Elise) 5, 13, 179 Reimarus, Nikolaus 3 Reland, Adriaan 143 Reventlow, Henning Graf 9, 34, 202 Riem, Andreas 180 f. Ritschl, Albrecht 42 Rittangel, Johann 141 Rohls, Jan 198, 242 Rosenthal, Malka 139 Rousseau, Jean-Jacques 218 f., 258, 265 Rüdiger, Johann Andreas 4, 26, 108 f., 258, 274 Rüping, Hinrich 28 Sand d. J., Christoph 194 Scaliger, Joseph Justus 188 Schachinger, Erika 192
Schade, Georg 62–64, 66 f., 195, 260 Schaper, Annegret 131 Scheibe, Jörg 20, 226 Scherer, Carl Christoph 6 Scherzer, Johann Adam 150 Schettler, Rudolf 6 Schilson, Arno 178 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 191 f., 195 f. Schmidt, Johann Lorenz 10 f., 14, 37–40, 62, 131, 268 Schmidt, Valentin Heinrich 186, 189 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 3, 6, 8, 10, 12, 24–26, 33, 35 f., 48–51, 112, 159–161, 164, 194, 205, 207 f., 210 Schneiders, Werner 31 Scholder, Klaus 150 Scholem, Gershom 28, 142 Schönberger, Otto 235 Schröder, Winfried 13, 120 f., 195 Schubert, Anselm 13, 167 Schulze, Harald 11 Schweitzer, Albert 7, 189 Seelen, Johann Heinrich von 21, 29, 36 Selden, John 71, 74, 141 Semler, Johann Salomo 153, 175 f., 198, 279 Seneca 122, 203, 236 Servet, Miguel 62 Sextus Empiricus 123 f. Sheehan, Jonathan 37 Sherlock, Thomas 36, 134 f. Siebers, Winfried 33 Sieveking, Heinrich 263 Sokrates 88 Souverain, Jacques 161 f. Sozzini, Fausto 149, 161 f. Spalding, Almut 11, 13, 21, 39, 179, 258 Spalding, Paul 11, 21, 258 Sparn, Walter 12, 28, 230–232 Spencer, John 126 f. Spinoza, Baruch de 1, 2, 28, 39, 61 f., 111, 214, 228, 230–233, 272, 279 Steiger, Johann Anselm 13 f. Stemmer, Peter 10, 36 f., 40 Stosch, Friedrich 62 Strabo 117 Strauß, David Friedrich 6, 7, 196–200, 207, 276 Surenhuisen, Wilhelm von 136, 138, 144 Terral, Mary 240, 243–245 Tholuck, Friedrich August Gottreu 26
Personenregister Thomasius, Christian 24 f., 27, 61 f., 71, 163, 258, 267, 274 Thomasius, Jakob 23, 28, 111, 161, 164, 229 f. Timm, Hermann 178 Tindal, Matthew 39 f. Toland, John 36, 61, 62, 115–120, 122–125, 127–130, 132 f., 260, 268–270, 278 Triller, Daniel Wilhelm 204 Trinius, Johann Anton 228 Tyssot de Patot, Simon 62 Unzer, Johanne Charlotte 225 Valla, Lorenzo 149 Vanini, Giulio Cesare 62, 112–115, 121, 132 Venturini, Carl 189 Voetius, Gisbert 228 f. Vöhler, Martin 188 Voigt, Christopher 135, 137, 179 Völkel, Markus 109 Vollhardt, Friedrich 171 Voltaire, François Marie Arouet 195 Voss, Christian Friedrich 173 Vossius, Johann Gerhard 188 Wachter, Georg 164, 270 Wagenseil, Johann Christoph 23, 141, 143, 145
307
Wagner, Friedrich 41, 43 f., 46 f., 67, 272 Walch, Christian Wilhelm Franz 153 Walter, Wolfgang 7 f. Warburton, William 85, 126–128, 260 Webster, John 71 Welker, Karl H. L.. 181 Wenz, Gunther 42–44, 155 f. Wetken, Johanna 3 Whiston, William 136 Wichmannshausen, Christoph 26 Wieckenberg, Ernst-Peter 64 Winckelmann, Johann Joachim 186, 196 Wolf, Johann Christoph 3 f., 13, 17, 21–23, 28 f., 31 f., 35–37, 40, 66 f., 145, 151, 227–229, 267–270, 278 Wolff, Christian 38, 45, 108, 199 f., 248–250, 257 f., 274 Woolston, Thomas 36, 39, 111, 134 f., 147, 179, 268, 271 Wundt, Max 250, 258 Xenophon 187 Zell, Albrecht Jacob 204 Zeltner, Gustav Georg 139 f. Zernack, Klaus 44 Zurbuchen, Simone 25, 27
Sachregister Abendmahl 80, 90 f., 102, 170 f. Aberglaube 60, 71, 75, 77, 84, 113 f., 121– 123, 210, 228 Akademisches Gymnasium Hamburg 3, 5, 17 f., 21, 35, 66, 134, 162, 203–205, 267 f. Allegorese, Allegorie 52, 73, 134–137, 139–145, 182, 184, 187 f. Allmacht (s. Macht) Almosen 50, 95 f., 98 f. Anthropologie 9, 84 f., 249, 257–259, 265, 273 Anthropomorphismus 52, 58, 84, 103 f., 152 Apologetik 12, 27–29, 66–68, 93, 140, 150, 170–172, 177, 201–203, 205, 210, 229 f., 232, 234, 246–249, 251, 267, 270, 274, 279 Atheismus 1, 12 f., 23, 26 f., 29, 32, 38, 61, 71 f., 114 f., 164 f., 194 f., 202 f., 210 f., 216, 222, 225–231, 233, 245, 248 f., 251 f., 264, 267, 269–272, 276, 279 Attribute (s. Eigenschaften) Auferstehung 49–51, 54, 59, 92–96, 101, 107, 111, 133–136, 143–148, 154, 158, 174 f., 179 f., 185 f., 191, 199, 271 Betrügertraktat 11, 23, 62, 119, 121, 270 Böses 46, 85, 209, 245, 261 Christologie 47, 89 f., 97, 101, 103 f., 149– 151, 156, 158, 165, 169, 191, 198, 254, 256 f., 271–273, 276 Christus 32, 54, 58, 136–138, 148–150, 153–156, 158, 164, 273 creatio ex nihilo (s. Schöpfung) Deismus 1, 9 f., 14, 36–38, 62–64, 71 f., 94, 115, 126, 134–138, 147, 172 f., 177, 179, 184, 192 f., 195, 202, 268, 276 f. De tribus impostoribus (s. Betrügertraktat) Dogmatik 12–15, 23, 25 f., 89, 102, 104 f., 107, 119, 123, 140, 148–152, 155, 157 f.,
169, 177, 192–196, 247, 251–254, 257, 261, 267, 271, 273 f., 277 f. Dreieinigkeit (s. Trinität) Eigenschaften (Gottes) 45 f., 54, 56, 69, 103 f., 109 f., 158, 206, 208–211, 215– 218, 220, 224, 229, 232 f., 237, 243–245, 247, 251–254, 262, 265 Eklektik 4, 25 f., 32, 151, 248 f., 267, 273 f., 278 Emanzipation 59, 64, 172 Erbsünde (s. Sünde) Eschatologie 52, 95, 98, 104, 142, 152 Ethologie 5, 206 f., 217, 223 f., 238, 245, 274 f. Etymologie 187 f. Euhemerismus 123–125 Fragmente, Fragmentenstreit 2, 6, 8 f., 14, 37, 169–181, 187, 189, 193, 196, 275 f. Gelehrtenrepublik 33, 203, 267 Genugtuung (s. Versöhnung) Gesetz 52, 78 f., 84–90, 110, 112 f., 117, 120, 126, 133, 146, 163, 270 Gottesbeweise 6, 249–251, 265, 274, 276 Gravitation 202, 240 Gräzistik 18, 186 f., 192, 196 Güte (Gottes) 45 f., 56, 104, 109 f., 206, 208, 211, 215, 217, 224, 237, 243 f., 251, 254, 262 Häresiographie 23, 28 Heilsgeschichte 58, 68, 83, 132, 182 f., 193, 195 f., 271, 273 Hermeneutik 10, 14, 34–41, 182, 184, 189, 268 Hebraistik 4, 12, 21 f., 26, 134, 138, 141 Hiob 10, 35, 37, 40 f. Hölle, Höllenstrafen 68, 152, 171 Historischer Jesus 7, 50, 59, 88 f., 92 f., 96, 105, 107, 133 f., 146 f., 158, 171, 174 f., 192, 199, 269, 271
Sachregister Idolatrie 76, 79 Johannesprolog 89f, 158 f., 161 f., 165, 271 Kabbala 28, 89, 140, 162, 164, 269 f. Kanonkritik 22, 55, 60, 75, 78, 82, 86–88, 105–107, 130 f., 133, 271 Karäer 139, 140–142 Katastrophismus 212, 250 Kirchenkritik (s. Priesterkritik) Leben Jesu (s. Historischer Jesus) Liebe 42, 46, 50, 55, 57 f., 104, 157 Literarkritik (s. Kanonkritik) Logos 90, 101, 151, 154, 158–161, 164, 271 f. Machiavellismus 4, 24, 26 f., 29, 30 f., 122, 214, 258, 269 f. Macht (Gottes) 56, 208, 211, 215, 251, 253 f. Manichäer, Manichäismus 28 f., 221, 230, 269 Materialismus 27, 114, 123, 212 f., 218, 233, 239, 245, 257, 265 Mechanismus 26, 201, 208, 217, 224, 240, 255, 256 Messias, Messianismus 49, 54, 84, 88–96, 98–101, 133, 136–138, 140–143, 146– 148, 153, 158, 172 f., 175, 180, 185, 198, 269, 271 Naturwissenschaft 202–205, 216, 233, 263 Neologie 171, 175 f., 279 Notwendigkeit 211 f., 214 f., 229, 253 Omnipotenz (s. Macht) Perfektibilität (s. Vollkommenheit) Pietismus 11, 18, 71, 152, 155 f., 186, 190, 192, 225, 230, 264, 269 Pharisäer 88 f., 135, 137, 139–141, 269 Physikotheologie 6, 14, 201–205, 207, 209, 215–217, 233 f., 238 f., 241–246, 251, 255, 267, 274 f. Platonismus 12, 89, 101, 105, 154, 158–165, 230, 269, 273 Polytheismus 84, 126 f. Priesterkritik 14, 44, 50, 63, 71 f., 76, 79– 83, 110, 117–119, 121, 124–126, 128, 130, 174, 179, 184, 271, 278
309
Prinzip der kleinsten Aktion 239 f., 243 f., 275 prisca theologia 162, 188 Providenz (s. Vorsehung) Psychologie (s. Seele) Rechtfertigung 42, 52, 63, 97, 106, 138, 152, 155, 164, 168, 228 Reformation 59, 64, 70, 155, 173, 279 Religionsbetrug 63, 68, 76, 79, 88, 92 f., 97, 118–122, 125 f., 128–130, 133, 135, 145, 147 f., 157 f., 179, 184 f., 191, 194 f., 199, 270–272, 276 Religionskritik 14, 20, 31, 80, 85, 113 f., 121, 123–125, 194 f., 226 f., 270, 277–279 respublica litteraria (s. Gelehrtenrepublik) Sadduzäer 88 f., 135, 139–142 Satisfaktion (s. Versöhnung) Scheintod 189–191 Schöpfer, Schöpfung 28 f., 46, 52, 69, 73, 87, 110, 123, 132, 159, 184, 201 f., 206, 208, 214, 216, 220, 224, 230 f., 233 f., 239, 241–243, 246 f., 251–256, 264, 271– 275, 277 Seele 54, 56 f., 59, 86, 104, 146, 171, 176, 217 f., 224, 233, 237, 247, 257–260 Sozinianer, Sozinianismus 43, 71, 89, 94, 140, 149 f., 156, 162, 166, 171, 179, 189, 194, 278 Spinozismus 1,2, 12, 28, 164, 269 f. Sünde 13, 50, 52, 55, 57, 70, 84 f., 102–104, 149, 154, 156–158, 165–169, 174, 257, 259, 273 Taufe 90, 92, 96 Teleologie 201, 216, 233, 236, 238, 241, 243–245, 265, 275 Textkritik 22, 34 Theodizee 29, 209, 216, 221 f., 245, 248, 261 f., 264 f., 273 Theokratie (des Mose) 76, 78–82, 88, 107, 111, 118, 124, 129, 132, 148, 158, 185, 270 Theologiegeschichte 3, 9, 14 f., 70, 142, 151–153, 156, 165, 171, 273, 276 Toleranz 59, 60 f., 68, 71, 83, 96 f., 172 f., 177 f. Transsubstantiation (s. Abendmahl) Trinität 38, 50, 52, 55, 59, 68, 101, 104, 140 f., 149–152, 154, 158–161, 164 f., 169, 177, 194, 252 f., 256, 271–273, 276, 279
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Sachregister
Unsterblichkeit 54, 57, 59, 73, 85 f., 89, 104, 123, 146, 174, 176, 210, 220, 222, 229, 233, 247, 257, 259, 260, 262, 273 Vernunftlehre 55 f., 108, 168 f., 172, 211, 274 Versöhnung 5, 11, 25 f., 41–47, 50, 52, 57 f., 67, 96, 102–104, 148–158, 165, 273, 277 f. Vollkommenheit 51 f., 57, 85, 104, 146, 156 f., 171, 209, 211, 213–216, 219–222, 254 f., 259 f. Vorsehung 29, 42, 89, 146, 183, 185 f., 191, 193, 196, 201, 206, 210, 217, 220–224, 229, 233–238, 241, 252, 254–256, 259, 261, 264, 272
Weisheit (Gottes) 46, 56, 109 f., 206, 208, 211, 215, 217, 229, 237, 243, 245, 251, 254 Weissagungsbeweis 14, 37 f., 40, 53 f., 73 f., 84, 91, 94, 136–138, 140 f., 143–148, 268 f., 271 Wertheimer Bibel 5, 10 f., 38–40, 136, 169, 268, 276 Widerspruch, Satz vom 55, 108 f., 274 Wunderkritik 49 f., 52, 54, 58, 72, 76–78, 98, 107, 110–118, 125, 129–133, 134 f., 145, 147, 174, 176, 179, 183 f., 196, 220, 263 f., 270 f., 276 Zauberei 76, 145 Zwei-Naturen-Lehre (s. Christologie)