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German Pages 660 [662] Year 2021
Matthias Wallich
Schulische Innereien Das theologische Herz der Pädagogik
Matthias Wallich
Schulische Innereien
Matthias Wallich
Schulische Innereien Das theologische Herz der Pädagogik
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„Mein Herz denkt an dein Wort: Suche mein Angesicht!“ Ps 27, 8 „Gott, wenn wir hoch stehen, ist alles; stehen wir niedrig, so ist er ein Supplement unserer Armseligkeit. … Die Güte des Herzens nimmt einen weiteren Raum ein als der Gerechtigkeit geräumiges Feld … Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens …“ Johann Wolfgang von Goethe1 „Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte, ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen und dir zuschicken. – Dummer Gedanke.“ Heinrich von Kleist2 „Mein entblößtes Herz Was ist die Liebe? Das Bedürfnis, aus sich selbst herauszugehen. Der Mensch ist ein anbetendes Tier … Mein entblößtes Herz Das einzig Interessante auf Erden sind die Religionen.“ Charles Baudelaire3 „Wenn es eine Gabe [jenseits des ökonomischen Tausches] gibt, dann gibt es sie ‚vielleicht‘. Wenn es sie gibt, darf man nicht davon sprechen können, darf man ihrer nicht sicher sein … Das Unmögliche muss im Herzen des Möglichen wohnen.“ Jacques Derrida4
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Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 372, 520, 527 (Nr. 50, 1121, 1185). Brief an Ulrike vom 13./14.3.1803, in: Sembdner, H. (Hg.), Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, München 2001, S. 729f. Baudelaire, C., Sämtliche Werke. Briefe, Bd. 6, München Wien 1991, S. 240, 245. Derrida, J., Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 58.
Inhalt Vorwort..................................................................................................................................................... 9 1. Diagnose Angina Pectoris – Zur Enge kollabierender Schulinnenräume............................... 14 2. (Kulturwissenschaftliche) Grundlagen der herzlichen Pädagogik........................................... 39 2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts.................................................................. 39 2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen – Der neue Gebrauch eines körperlosen Organs............................................................................................................... 63 2.3 Pulsierende Sätze – Herzschlag-Zitate (kleines schulisches Florilegium) ................... 115 3. Rechter Vorhof: „Wunde Punkte“ (Konkretisierung eines Unbehagens) ............................. 119 3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung – Zur theologischen Kritik beamtlicher Allmacht .............................................................................................. 120 3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität? – Gedanken zur praktischen Ethik der Schule.............................................................................................. 144 4. Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden (elementare Theologie ad usum Delphini)................................................................................ 158 4.1 „Religion ohne Religion“? – Zeitgenössische Glaubensprofile ..................................... 159 4.2 Auto-Meditation: Das Auto als Fetisch des Mobilisierungskults................................... 258 4.3 „Heaven“ – eine filmische Soteriologie ............................................................................ 261 4.4 Hybride Überforderungen – Glücksfall Pluralismus ..................................................... 265 5. Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht (Ästhetisierungen, Schulkunst)................................................................................................... 285 5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion ............................................................. 286 5.2 Weihnachtsbaum und Krippe ............................................................................................ 304 5.3 Advent-Zitatbaum................................................................................................................ 306 5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte.............................................................. 312 6. Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“ (Positionierung und Affirmation)............................................................................................... 340 6.1 Spiderman im Bildungsdschungel..................................................................................... 341 6.2 Das Lob der Lücke – Von den Schwierigkeiten des Abschlusses und dem Sinn/Unsinn von Ratschlägen (Oder: Wie Schule, Muße und Glück zusammenhängen)................ 353 6.3 Die Kunst des Übergangs – Vom rätselhaften Zugleich von Abschluss und Neubeginn............................................................................................................................. 376 7
6.4 Extreme Bildung – Bildung der Extreme ......................................................................... 389 6.5 Paradox und Pathos der Gabe/Zeugnisübergabe............................................................. 403 6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“ – Finales Posting und Miniaturisierung eines Schulmonsters. Eine kleine Perfektionismuskritik ......................................................... 408 6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“ – Von den „Wonnen des Trivialen“, der „Herzlichkeit der Vernunft“ und der Möglichkeit heiterer Abschiede ........................ 427 6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik................................................. 447 7. Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe (Theoriebildung als Stachel des Widerstands)........................................................................................................................... 462 7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/Überich-Krampf (elementare Religionskritik)............................................................................................... 463 7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare – Der Bildungsbegriff der elementaren/ relationalen Theologie......................................................................................................... 547 8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung............................................................................. 583 8.1 Bildung – zehn Optionen zur schulischen Arbeit (Kurzentwurf eines Leitbilds) ...... 584 8.2 Anmerkungen anlässlich der Auszeichnung zur Fairtrade-Schule............................... 590 8.3 Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen........................................................... 595 8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“......................................... 600 Nachwort – Widerwort – Dankeswort............................................................................................. 610 Anhang................................................................................................................................................. 618 Abkürzungsverzeichnis................................................................................................................ 618 Literaturverzeichnis...................................................................................................................... 619
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Vorwort „Be the change you want to see in the world.“ – Mahatma Gandhi1
Welche Rolle spielt Theologie in der schulischen Bildung oder sollte sie spielen? Kulturwissenschaftliche, ethische und theologische Themenbereiche überschneiden sich jedenfalls permanent im Unterricht. Auch im Rahmen von schulischen Festen und Abschlussfeiern sind nicht selten theologische Deutungen gefragt. Pauschale Forderungen, religiöse Thematiken sollten in der Schule einen größeren Raum einnehmen, gestalten sich demnach als wenig hilfreich, wenn sie intendieren, den Schulalltag im Stile einer „künstlichen Bewässerung“ mit zusätzlichen Inhalten anzureichern oder supplementär „aufzuhübschen“; die Negativeffekte einer unmäßigen Flutung oder Überfrachtung wären verheerend; aufoktroyierte Umdeutungen und Interpretationsvorgaben wirken nicht nur auf Schüler bevormundend und abstoßend. Angemessener erscheint es aufzuzeigen, welches theologische Kapillarsystem die Schule und die pädagogischen Interaktionen immer schon versorgt. Wo und wie Theologie jenseits des Religionsunterrichts im Schulalltag virulent wird, soll im Folgenden konkret aufgezeigt werden. In den Blick geraten soll nun eine Theologie der Schule. Als eine „Theologie von unten“, eine „Theologie vor Ort“ enthält sie Gelegenheitstexte von Weihnachts- und Abschlussfeiern oder theologische Kommentare zum Referendariat, zum Qualitätsmanagement oder zum Thema Spicken. Sie legt Grundzüge einer theologischen Bildungstheorie dar und umfasst vor allem eine implizite Theologie, das heißt, sie weist die theologischen Imprägnierungen des Alltags auf. Und eine praxeologische Bildungsforschung wäre blind, wenn sie die zahlreichen konkreten Anknüpfungspunkte von Pädagogik und Theologie übersähe: Das pädagogische Tun ist getragen von Gesten unbedingter Wertschätzung und Vertrauensvorschüssen, vom Glauben an Entwicklung und Ermutigung. Schulische Interaktionen sind von einer zwischenmenschlichen Geschenkdimension getragen, die sich theologisch deuten lässt. Das Leistungsdenken wird durch die Dimension des zweckfreien Aufeinander-Verwiesenseins und Aufeinander-Achtens immer schon relativiert und
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Lakoff, G., Wehling, E., Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2007, S. 160. Žižek, S., Der Exzess der Leere, Wien 2020, S. 426f, weist in hegelscher Manier auf die Antithese des Satzes hin: „Das Subjekt ist selbst die Katastrophe, die es fürchtet und der es versucht zu entgehen.“
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Vorwort
transzendiert. Eine theologische Theorie des sozialen Handelns vermag die pädagogische Arbeit zu kontextualisieren und zu befruchten. So lassen sich Verstehensbemühungen von Schülern und Lehrkräften neu würdigen, wenn man bedenkt, dass das Ringen um Bedeutung und Sinn, Hermeneutik ganz allgemein, für Heinrich Ott mit Theologie gleichzusetzen und nach Rudolf Bultmann „Verstehen von Geschichte“ als Religion aufzufassen ist. Vor allem bewahrt eine solche Theologie davor, das Funktionieren schulischer Systemmechanismen sowie die Einordnung darin absolut zu setzen; sie stiftet an zu einer kritischen Distanz gegenüber offenen oder subtilen Unterdrückungsverhältnissen und Simplifizierungen des Qualitätsmanagements; sie betreibt Ideologiekritik, wenn sie sich gegen Verabsolutierungen und Heilsversprechen pädagogischer Moden wendet. Sie positioniert sich als Befreiungstheologie und hält vollumfänglich die emanzipatorischen Ziele der Pädagogik wach.2 Das „theologische Herz“ der Pädagogik erkunden heißt, seine Wirkweise darzulegen sowie seine Weitung und Öffnung zu erfahren, d. h. Momente der Durchdringung von Pädagogik, Kunst und Theologie zu umreißen. Die Reflexion pädagogischer Metaphern wird die Nähe und Verwobenheit der angesprochenen Bereiche belegen. In der herzlichen Pädagogik verschmelzen Lehrer-Identitätspolitik und Schulklimafragen. Das Selbstverständnis von Lehrkräften prägt die Schulkultur; ihre Sinngenerierung und Bedeutungsschöpfung beeinflusst die Lernatmosphäre im Klassenraum und den gesamtschulischen Resonanzraum.3 Aus der Fülle der Bildungsdefinitionen seien Reinhart Kosellecks Umschreibung von „Bildung als dem Wissen um die Selbstentfremdung und zugleich de[m] Weg, ihr zu entkommen,“ bzw. Günther Bucks Betonung des „schwindelerregenden Bewusstseins um das totale Werden, dem alles Menschliche ausgesetzt ist“ herausgegriffen (Rieger-Ladich, M., Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg 2019, S. 50). Rieger-Ladichs Überblick geht auf die diversen kulturwissenschaftlichen Basistheorien ein, die den Bildungsbegriff jeweils bestimmen. Rieger-Ladich macht am Ende drei Grundkonstellationen aus: das Verhältnis von Aktivität und Passivität, Ereignis und Struktur sowie von Individualität und Kollektivität (ebd., S. 181–186). Wenn Palla, R., Die Kunst, Kinder zu kneten. Ein Rezeptbuch der Pädagogik (Andere Bibliothek, Bd. 153), Frankfurt a. M. 1997, in seinem historischen Rückblick mit Sparta beginnt und abrupt und aporetisch mit extremen sexualpädagogischen Experimenten der 68er-Pädagogik endet, so lässt der ausschließliche Fokus auf pädagogische Brutalitäten ohne jeglichen positiven Ausblick das Desiderat einer Pädagogik, die mit der Absenz von Bevormundung, Zwang, Kontrolle oder Herrschaft verbunden wäre, umso deutlicher hervortreten. Pallas Pandämonium mag belegen, dass die Humanisierung des Menschen noch aussteht, dass die größten Grausamkeiten bei der Ausführung einer Programmatik und in der ideologischen Überzeugung erfolgen, gerade das Richtige zu tun und dabei den aktuellen Willen des Kindes missachten oder lenken zu müssen. Palla irritiert auch die Hoffnung, mit der Nicht-Teilnahme an neuen pädagogischen Moden das Missverstehen der Kinder nicht prolongiert und damit schon etwas erreicht zu haben. 3 Dem Vorwurf, eine „emphatische Pädagogik“ sei abgehobene „Stratosphärenpädagogik“, sei mit dem Verweis auf aktuelle, vor allem von Schülern forcierte Klimadebatten begegnet. Wer könnte noch die existentielle Bedeutung von Atmosphären und Klimaverhältnissen in Abrede stellen? Ohne weite Bildungshorizonte erscheint das pädagogische Überleben in Gefahr. Didaktische Fragen, die Diskussion 2
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Vorwort
Die vorliegende Veröffentlichung sucht ihren Platz zwischen heiteren Erfahrungsberichten4 wie Gabriele Frydrychs „Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben“ oder Jess Jochimsens „Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst“ und feuilletonistischen Publikationen5, etwa Christoph Türckes „Lehrerdämmerung“ und Jürgen Kaubes „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ mit ihrer deutlichen Kritik an kurrenten didaktischen Moden des Schulbetriebs. Kaubes Kritik etwa an der Umwertung des Lehrens in Lerncoaching, an der „Kompetenzphrasen-Industrie“, die Schüler verblöden lässt und sie nicht mehr fordert, in Zusammenhängen zu denken6, am anhaltenden PISA-Vergleichszwang, der ein Klima der Verunsicherung hervorruft und zu einem Verrat eigener Bildungstraditionen führt, oder auch an dem Digitalisierungshype, der die Gefahr einer Entsinnlichung in sich birgt, wird sicher von einem Gros der Lehrerschaft geteilt. Gegenüber derartigen Bestandsaufnahmen, die von außen auf die Schule blicken, soll nun die schulische Innenperspektive zur Sprache kommen, also konkrete Reaktionen auf überfrachtete Lehrpläne oder exemplarische Einblicke in die Gestaltung der Schule. Neben nüchternen Reflexionen findet sich ein Potpourri an satirischen Beiträgen. Interne Feiern innerhalb des Lehrerzimmers bieten ein geeignetes Forum, um mit szenischen Darbietungen oder Redebeiträgen Schul-Managementmoden zu persiflieren und dem eigenen Unmut Luft zu verschaffen. Im Gegensatz zu Sammelbänden akademischer Tagungen7 zum Thema Pädagogik und Theologie und zu universitären Bildungstheorien gehen die hier präsentierten Überlegungen „autosoziobiografisch“8 vor. Die in den vergangenen Jahren während der Lehrtätigkeit des Autors an einer beruflichen Schule entstandenen Texte treten einer Marginalisierung der theologischen Perspektive im Bildungsbetrieb entgegen. Dargeboten wird eine elementare relationale
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um passende Lehr-Lern-Methoden sind durchaus entscheidend, hier aber nur mittelbar im Fokus. Pragmatisch-funktionale Zwecke werden an den vorhandenen hohen Bildungsansprüchen gemessen, an denen Unterricht und Schule auszurichten ist (vgl. Gruschka/Heimann, zit. n.: Rosch, J., Didaktisches Denken in der Lehrerbildung: ein Problem von Vermittlung oder eines der Bildung von Urteilsfähigkeit, in: Jornitz, S., Pollmanns, M. (Hg.), Wie mit Pädagogik enden. Über Notwendigkeit und Formen des Beendens, Opladen Berlin Toronto 2019, S. (219–244) 219; Nikolaides, D., Die Pädagogik an ihrem Ende?, in: Jornitz, S., Pollmanns, M. (Hg.), ebd., S. 113–125). Frydrych, G., Man soll den Tag nicht vor dem Elternabend loben. Von Schülern, Lehrern und anderen Hochbegabten, München 2019; Jochimsen, J., „Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?“ Geschichten von einem chaotischen Grundschüler und seinem Rabenvater, München 2012). Kaube, J., Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, Berlin 2019; Türcke, Ch., Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München 2016. Kaube, J., a. a. O., S. 184ff. Vgl. etwa: Bouillon, Chr., Heiser, A., Iff, M., (Hg.), Person, Identität und theologische Bildung, Stuttgart 2017; Schlag, Th., Suhner, J. (Hg.), Theologie als Herausforderung religiöser Bildung. Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik, Stuttgart 2017. Spoerhase, C., zit. n.: Rieger-Ladich, M., Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg 2019, S. 193.
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Vorwort
Theologie in praxi, die in pädagogischen Kontexten relevant werden kann, eine Theologie des sozialen/pädagogischen Beziehung. In Publikationen zur allgemeinen Bildungsthematik vermisst man nämlich Antworten auf die Frage, was theologische Bildung umfassen soll. Genau hierzu finden sich systematische Reflexionen. Erst eine Theologie, die für die Tiefe sozialer Beziehungen sensibilisiert, vermag zu verhindern, dass Bildung als Distinktionsinstrument fungiert. Kaube fordert schließlich von den Lehrkräften, hinter dem zu stehen, was man lehrt. Er legt mehrfach dar, dass die Lehrpläne zu viele wolkige Formulierungen enthalten und ein unerfüllbares Pensum beinhalten.9 Sein entlastender Appell an die Lehrerschaft, sich mehr Freiheiten zu nehmen und eigene Schwerpunkte zu setzen, wird sicher gern vernommen. Pädagogisches Tun braucht allerdings eine Perspektivierung, die Angabe eines Horizonts, der nicht zu eng gesteckt sein darf. Schule hat nach Kaube auf eine radikal unbekannte Zukunft vorzubereiten: „Fast möchte man sagen: Aller Unterricht ist sinnvollerweise Fremdsprachenunterricht.“10 Auch das Hinterfragen des Vertrauten, das Kaube eher dem wissenschaftlichen Denkduktus zuschreibt, gehört zu den schulischen Aufgaben; die Irritation des Selbstverständlichen gehört wesentlich zu theologischen Argumentationen. Die hier nun veröffentlichten Redebeiträge, die sich zu diversen Anlässen an die Schüler wenden, sollen nicht so sehr den blumigen Idealismus des Autors offenlegen, der im Schulalltag noch nicht verflogen ist; sie folgen vielmehr der Intuition, dass man nicht „zu kurz springen“, sein Gegenüber nicht unterschätzen, Schüler nie unterfordern, also vor allem nicht langweilen sollte. Die Abiturreden versuchten mit philosophischen Anregungen, Positionen zur Lebenskunst oder Zeitdiagnosen über eine finale schulische Selbstzelebrierung hinauszugehen. Kaube liegt richtig, ganz grundsätzlich zu betonen, Schule sei nicht nur vom zukünftigen späteren Nutzen her zu bestimmen, sie habe vielmehr einen Eigenwert – schließlich verbringe jeder in der Schule einen beträchtlichen Teil seines Lebens.11 Zu Kaubes Plädoyer für eine Konzentration auf das „Kerngeschäft von Schule“, die Kultivierung von Nachdenklichkeit, gehört allerdings auch die Beschäftigung mit theologischen Fragen, die Sensibilisierung für Mitmenschlichkeit, die Kritik der Dominanz des ökonomischen Weltzugriffs usw., also die Auseinandersetzung mit Themenfeldern, die der FAZ-Herausgeber nicht anspricht oder ausspart.12 Gerade auf dem
Kaube, J., a. a. O., S. 249ff. Ebd., S. 52. 11 Ebd., S. 23f. 12 Ebd., S. 241ff. Kaubes Ruf nach realistischen Zielen will einer Überlastung der Schule entgegenwirken, Schule soll nicht sozialpolitische Defizite kompensieren oder ausbügeln müssen. – Dass die einfache (entpolitisierte) Rollenzuweisung von Schule als Lern-Anstalt nicht funktioniert, lässt sich 9
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Vorwort
Hintergrund von Kaubes Kritik an einem zunehmenden Zentralismus der Bildung, an der Vorstellung, Bildungspluralität gleichschalten zu können, rückt das in den Fokus, was sich in Schulen als bewährt und erprobt herausgestellt hat.13 Die hier verbürgte Praxisnähe enthält ein Tauglichkeitsversprechen; den letztlichen Beweis der Übertragbarkeit oder eine Garantie direkter Anwendbarkeit muss die Bildungstheorie jedoch schuldig bleiben. Dass Bildung erst geschieht, wenn der Zwangscharakter der Schule vergessen/überwunden wird und das Lernen in einem selbstproduktiven, eigengesetzlichen Prozess übergeht,14 lässt sich erneut als pädagogischen Konsens ausmachen. Wie diese Transzendierung des Alltagsgeschäfts, die nichts mit einer Disneyfizierung von Schule oder einfachen Bespaßungseffekten zu tun hat, zu erreichen ist, lässt Kaube geflissentlich offen. Dass Bildung nicht machbar, produzierbar ist, betonen Bildungstheorien, die theologische Bildungstheorie einmal mehr, da sie im Gegensatz zu Lerntheorien, denen Steuerungsabsichten und Planungsphantasien zugrunde liegen, mit dem Nichtobjektivierbaren, Überraschenden und Irritierenden rechnet und dafür sensibilisiert. „Schulische Innereien“ arbeitet mit einigem Zitataufwand. Gerade ungewöhnliche Gedanken sollten belegt werden. Da Lesern zum Teil weite Argumentationswege abverlangt werden, wäre womöglich der Untertitel „Ein Arbeitsbuch“ angebracht; andererseits bietet die Abhandlung klare Positionierungen; zumindest diese „Arbeit“ ist dem Leser abgenommen. Schließlich muss sich jede Publikation mit der Möglichkeit abfinden, missverstanden zu werden: „Der Hörer/Leser, nicht der Sprecher/Autor, bestimmt die Bedeutung einer Aussage“ (Heinz von Foerster).
schon an der zunehmenden Sozialpädagogisierung der Lehrerprofession feststellen (vgl. Türcke, Ch., ebd., S. 80). Heilsam ist die Kritik an der gegenwärtigen Methodenfixierung, die Kaube und Türcke gleichermaßen teilen. Dass Erziehung immer schon politisch ist (Paolo Freire), ist kein Gegenargument gegen Kaube, sondern ein weiteres Argument für eine theologische Kontextualisierung. 13 Wenn Kaube mehr Wettbewerb unter Schulen propagiert (ebd., S. 295ff), scheint er zu übersehen, dass das die Selbstvermarktung der Schule nochmals in den Vordergrund rückt und Schulen in ihrem Ringen um ihren Ruf beginnen werden, Angebote zu machen, hinter denen sie nicht stehen; Letzteres läuft aber den Intentionen Kaubes entgegen. Dass finanzielle Autonomie oder gar Wettbewerb in der Schule zu besserem Unterricht führen (ebd., S. 308), darf bezweifelt werden. Treffend scheint allerdings Kaubes Bemerkung, dass die verbreitete Kritik an der Schule („oft zutreffend, aber zugleich heuchlerisch, weil selbstgerecht“) auf Defizite bei den Bildungsanstrengungen der gesamten Gesellschaft verweist (ebd., S. 268). 14 Ebd., S. 288.
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1. Diagnose Angina Pectoris – Zur Enge kollabierender Schulinnenräume „In der Kultur kommt es nicht auf die großen Kontraste, sondern auf die Nuancen an. Aus ihnen gebiert sich die Welt immer neu.“ – Walter Benjamin1 „Das Desaster zerstört alles, und lässt doch alles bestehen.“ – Maurice Blanchot2 „Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man sieht, zum Weiterdenken oder Weiterschauen unentbehrlich ist.“ „Denken heißt Springen.“ „Was ich Denken nenne, ist der Bruch mit dem Regime dieser (verwaltenden) Langeweile.“ – Marcus Steinweg3
Schulen als soziale Echokammern Warum sollte man einige Momente des extrem schnelllebigen Schulbetriebs, eine Abiturrede oder einen Beitrag zu einer Weihnachtsfeier, herausgreifen und mit ihrer Veröffentlichung das zu konservieren suchen, was sich auf konkrete Anlässe bezog oder lediglich für einen sehr überschaubaren Zuhörerkreis relevant war? Bloß rückwärtsgerichtete oder gar larmoyante Selbstbespiegelungen erscheinen belanglos. Als probate Speicher- oder Erinnerungsmedien eignen sich bereits Lehrerblogs oder Memory-Einträge auf Schulwebseiten; mehr als den Transparenzmedien ist es jedoch dem hergebrachten Buch zuzutrauen, auch KomplexUntergründiges darzustellen und der „Austreibung des Anderen“4 entgegenzuwirken, die nach dem Philosophen Byung-Chul Han gerade mit der Digitalisierung einhergeht. Schließlich gilt es, Benjamin, W., Das Passagen-Werk. Bd. 2. Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1982, S. 1026. Blanchot, M., Das Buch des Desasters, München 2005, S. 9. Vgl. auch Toufic, J., Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster, Berlin 2009. 3 Steinweg, M., Inkonsistenzen, Berlin 2015, S. 44, 45, 81. 4 Han, B.-C., Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, Frankfurt a. M. 2016. – Wie sehr die Reflexivität an der herkömmlichen Literalität hängt, belegen auch die Schriften von Reuß, R., Vom Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch, Frankfurt a. M. Basel 1 2
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1. Diagnose Angina Pectoris
ausgehend vom Buch auch Phänomene zu lesen (und nicht etwas nur zu posten), wie das Walter Benjamin vorgemacht hat. Schulische Konstellationen/Entwicklungen sollen im Folgenden neu eingeordnet werden. Schulinterna scheinen dann von allgemeinerem Interesse, wenn an ihnen wie einem Brennglas fundamentalere Zeitfragen sichtbar werden. Die aktuelle Bildungsdebatte darf um Innenperspektiven ergänzt werden, die in den universitären Diskursen nicht zu Wort kommen. Beiträge, die im schulischen Binnenraum relevant wurden, sollen nun gebündelt vorgestellt werden. Auf diese Weise kristallisiert sich eine Bildungstheorie als unabweisbar heraus, die man als „herzliche Pädagogik“ oder als „Theologie der Schule“ bezeichnen könnte. Wenn im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs ein Defizit an schulischen Innenperspektiven diagnostiziert werden kann, so ist damit nicht gemeint, dass wissenschaftliche Studien über die Schule auf zu wenig Datenmaterial zurückgreifen. – Es wird wahrlich genug evaluiert, bald wird auch noch „gequoppt“, und jede Lehrkraft ist bereits über das erträgliche Maß hinaus zur Dokumentation von Unterrichtsgeschehen, insbesondere von Schülerleistungen angehalten. – Es ist vielmehr eine Geringschätzung der Reflexionen auszumachen, die im Schulinnenraum immer schon geleistet werden. Man übersieht bislang geflissentlich, wie Schüler und Lehrer5 ihre Arbeit „kontextualisieren“, in welchen philosophischen Bedeutungshorizont sie ihr Tun einordnen, wie sie dem schulischen Treiben Sinn geben. – Wenn nach P. Freire ein ständiger Positionswechsel die hergebrachte Lehrer- und Schülerrolle aufzuheben vermag, wären Schülerstandpunkte von Lehrerseite durchaus adaptierbar. Die Perspektive der Schüler, ihre Generierung von Sinnhorizonten, kommt in den folgenden Ausführungen allerdings eher indirekt zur Sprache, insofern die Beiträge Ergebnisse eines ständigen Austauschs mit Schülern sind. Bei den hier präsentierten Texten waren die Schüler häufige Adressaten, ständiges Gegenüber. Die herzliche Pädagogik hat sich allerdings nicht nur im Klassenraum zu entfalten. Sie startet im Lehrerzimmer mit clownesken Einlagen bei diversen Feierlichkeiten; wenn also von der geisteswissenschaftlichen Profession Beiträge erbeten wurden, konnten die Gelegenheiten zur willkommenen Platzierung und Präsentation philosophisch-theologischer Reflexionen nicht ausgelassen
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2012; ders., Die perfekte Lesemaschine. Zur Ergonomie des Buches, Göttingen 2014; ders., Fors. Der Preis des Buches und sein Wert, Frankfurt a. M. 2013. Zu Beginn der obligatorische Rechtfertigungsversuch: Die verwendeten Begriffe Schüler, Lehrer, Kollegen usw. sind geschlechtsneutral gemeint. Die Vereinfachung zum Zwecke vertrauter und leichterer Lesbarkeit sollte keine Rückschlüsse auf eine Missachtung von Genderaspekten zulassen. Katja LangeMüllers kurze Begründung in „Das Problem als Lösung. Frankfurter Poetikvorlesungen“ (Köln 2018, S. 6) lautet: „weil die genderkorrekte Formuliererei eh nicht allen Geschlechtern gerecht wird und mächtig aufhält, beim Schreiben und beim Lesen“. Der Autor macht sich den lapidaren Duktus der Aussage nicht zu eigen; es täte ihm leid, wenn sich feministische Pädagoginnen und Theologinnen vorschnell von den in defiziente Form gegossenen Inhalten abwendeten. Leserinnen und Leser sind immer aufgerufen mitzudenken, da eine gendersensible Orthographie gegenwärtig nicht alle Geschlechtsaspekte berücksichtigen kann, ohne die Lesbarkeit eines Textes einzuschränken.
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1. Diagnose Angina Pectoris
werden. – Die hier veröffentlichten schriftlichen Eingaben, Reden, Diskussionsbeiträge oder Installationen spiegeln die Umrisse eines Bildungskonzepts, das an konkreten Schulsituationen entwickelt und vor Ort angewendet wurde. Es übersteigt die Anstrengungen der einzelnen Schulfächer bzw. führt diese zusammen. In Aussicht steht eine Bildungsphilosophie in actu. Es ist mitzuverfolgen, welche Dimensionen von Bildung in der schulischen Vermittlung virulent werden oder welchen Deutungsrahmen Schüler und Lehrer einfordern. „Die Bildung ist die soziale Existenz der Philosophie, vielleicht hat sie gar keine andere.“6 Dass Bildung in gleicher Weise auch die Heimstatt der Theologie ist, wie nicht zuletzt der Titel nahelegt, wird ausführlich dargelegt. – Eine selbstbewusste schulische Bildungstheorie muss jedenfalls an der Normalität der Schule erprobt sein, ein Antidot gegen den institutionalisierten Perfektionierungsdruck, gegen das Optimierungsdispositiv der Enhancement-Gesellschaft, bereitstellen und eine kritische Distanz zu pädagogischen Moden erlauben: „Wir müssen den Mut haben zu fordern, dass wir nicht mehr (obgleich auch nicht weniger) ‚Philosophie‘ wollen als ‚Sport‘, Geographie oder Technologie, sondern dass wir eine wirkliche Bildung, das heißt eine Bildung zu einer Wahrheit und durch die Wahrheit unserer Geschichte, wollen.“7
Die Schule stellt im Sinne Nancys den sozialen, dialogischen Probierstein philosophisch-theologischer (Bildungs-)Theorie dar. Hier lassen sich Sozialtheorien unmittelbar anwenden, die Plausibilität von Herrschaftskritik, die Überzeugungskraft von Machtanalysen beobachten: Bildung heißt mit Rekurs auf Hegel, mit den Gedanken des Anderen mitgehen können, also sich fortsetzende Selbstirritation. … Erziehung bedeutet seit der Klassik immer Selbsterziehung, die Weiterentwicklung der subjektiven Autonomie. … Die Umwertung des Revolutionsbegriffs im Sinne Michael Hardts lautet: „heute konkret Demokratie für möglich halten“8. In Schulen lässt sich leicht ablesen, ob die gerade aufgeführten Theoreme den Praxistest bestehen, wie sie aufgenommen und zu neuen Konzepten weitergesponnen werden können. Nancy weiterführend lässt sich sagen, dass (Bildungs-)Theorie Bildungspraxis zu sein hat und eine empathische Lebensform oder neugierig offene Lebenshaltung impliziert, die sich im schulischen Alltag bewährt. Nichts wirkt erheiternd-befreiender, erleichtert die tägliche Arbeit mehr als philosophische Ansätze, die eine Distanz zum laufenden Schulbetrieb erlauben und ein Neuverstehen
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Nancy, J.-L., Philosophie und Bildung, in: Bolz, N., Wer hat Angst vor der Philosophie. Eine Einführung in Philosophie, München 2012, S. 190. Ebd., S. 193. Hardt, M., in: Taylor, A., Examined life (DVD), Berlin 2010.
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1. Diagnose Angina Pectoris
verstörender Alltagsbegebenheiten ermöglichen. Daher kann die Pädagogik nicht genug Philosophie in sich aufsaugen. Paolo Freire meint zu Recht: „Es gibt keine andere als politische Pädagogik.“9 Und Slavoj Žižeks Option „Die einzige Möglichkeit, ein echter Materialist zu sein, besteht heute darin, den Idealismus bis zum Äußersten zu treiben“10 deutet die maßgebliche Richtung an, in die argumentiert werden muss. Nur mit theologischem Pathos und Rekurs auf idealistische Essentials der Bildungstradition lassen sich sozialtechnologische Übergriffe in das Bildungsgeschehen wirksam und zugleich grundlegend-einfach zurückweisen und korrigieren. Es schlägt die Stunde des Theologen, des „theologischen Materialisten“: Es gilt, die religiösen Imprägnierungen des Qualitätsmanagements ideologiekritisch herauszustellen, die theologische Dimension der pädagogischen Praxis zu reflektieren. Nur mit einer klaren theologischen Option scheint es noch möglich, im Dickicht der Schulkonzepte und Leitlinien die Orientierung nicht zu verlieren. Nur wer die (quasi-)religiöse Konnotierung des Alltags sieht, die Verquickung von Inhaltsaspekten und elementaren Anerkennungsfragen versteht oder vielmehr erahnt, kann auf Schülerfragen adäquat antworten. Dabei ist gerade die prinzipielle Unsicherheit hinsichtlich des angemessenen pädagogischen Tuns herauszustellen: Robert Walsers Satz „Wenn man weiß, dass man nicht weiß, kann es noch gut kommen“11 – zur pädagogischen Leitlinie erhoben – beugt krampfhafter Rechthaberei vor und macht gekünstelte Souveränität und Machtdemonstrationen unmöglich. Wie das obige Benjamin-Zitat ankündigt, will Bildung nicht nur auf große Unterschiede pochen, sondern die Wirkung von Sinnnuancen verfolgen und die Frage nach dem Ausgeschlossenen, Verfemten, dem übersehenen Rest, stellen, die nach dem Philosophen und Psychoanalytiker Slavoj Žižek zugleich als zutiefst christliche Frage aufzufassen ist12; im hermeneutischen Kontext wird der paradoxe Zusammenhang von Frage und Antwort, die Ermittlung von in der Frage verborgenen Lösungssuggestionen, die Veränderung von Fragen, beobachtet. Man setzt auf die Bewusstmachung von Vorverständnis und Vorurteilen. Beobachten heißt in systemtheoretischen Bezügen nach Dirk Baecker, mit Unterscheidungen zu hantieren, nachzuvollziehen, wie sich Unterschiede zu Paradoxa verkomplizieren, und nach der Leistungsfähigkeit und den blinden Flecken von Unterscheidungen zu fragen. Zum pädagogischen Alltag gehört die Vermittlung, Anwendung, Variation oder Neujustierung von Differenzen, das Eröffnen neuer Perspektiven, aber auch der Umgang mit Paradoxa, Unmöglichkeiten. – Angesprochen auf
Freire, P., zit. n.: Goddar, J., Langer Weg, in: Erziehung und Wissenschaft 5/2017, S. 22. Žižek, S., Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus, Frankfurt a. M. 2016, S. 54. 11 Spruch einer Literatur-/Kunstkarte. 12 Vgl. Žižek, S., Die Brisanz des christlichen Erbes, in: Information Philosophie Nr. 1 3/2002, S. 7–17; ders., Die Puppe und der Zwerg. Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003. 9
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vorherrschende schulische Dilemmata wird jeder Lehrer sofort an die Unmöglichkeiten der Umsetzung institutioneller Vorgaben sowie das Paradox von Regel und Ausnahme denken.13 Eine vollständige Listung von Dysfunktionalitäten des Schulbetriebs wäre lang; einige Beispiele für blinde Flecken, paradoxe Konstellationen, kommunikative Sackgassen oder auch systemische Realitätsverleugnung seien hier beschrieben.
Paradoxe Konstellationen zwischen pädagogischer Vertrautheit und Controlling-Transparenz In den Schulen treten auf verschiedensten Ebenen diverse Paradoxa oder double binds zutage, Spielarten des Unmöglichen, die einmal im Verdacht standen, traumatisierend zu wirken bzw. Schizo-Persönlichkeiten hervorzubringen (vgl. die Annahme Batesons und der PaloAlto-Schule). Da ihre Nichtthematisierung oder Verdrängung in jedem Fall problematisch ist, erscheint die Identifizierung und bloße Spiegelung der Paradoxa schon als ein Moment der Bewältigung, der Neutralisierung ihrer Pathogenität: Schließlich meinte Stanislav Lem: „Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel.“14 Der Kardiologe rät in jedem Fall zur Vorsicht: Ein Ignorieren der Symptome von Bedrängnis und Atemnot kann zu lebensbedrohlichen Überanstrengungen und schließlich zum Infarkt führen …
Mobilisierungsdruck und Überlastung Während jede Schule aufgerufen ist, ihr spezifisches Profil, ihren ganz eigenen Charakter und ihre besondere Schulkultur, in einem Leitbild herauszuarbeiten, soll sie natürlich nach wie vor vergleichbare Prüfungen und kompatible oder gleichwertige Abschlüsse gewährleisten. – Ältere Kollegen erinnern sich noch an den Zeitpunkt, an dem Schulen Namen bekamen; die Herausarbeitung der individuellen Charakteristik ist eine weitere Stufe in der Subjektwerdung der Institution. – Dabei scheint evident, dass die spezifische Schulkultur sich immer aus dem konkreten Miteinander von Lehrkörper und Schülerschaft ergibt. Die Lehr-Lern-Situationen gleichen sich an, wenn immer mehr Zentralprüfungen mit Kerncurricula und einem gemeinsamen Hierzu gehört die italienische Weisheit, wonach mit dem Erlass eines Gesetzes schon das Schlupfloch aus ihm heraus miterfunden ist: „Fatta la legge, trovato l’inganno“/„Kaum ist ein Gesetz gültig geworden, ist es auch schon durchlöchert, die Art und Weise gefunden, wie man es unterlaufen kann“ (zit. n.: Klinger, K., Ein Papst lacht. Die gesammelten Anekdoten um Johannes XXIII., Frankfurt a. M. 1963, S. 95). 14 Lem, S., zit. n.: Programmheft des hessischen Staatsballetts zu „Spiegelungen“, Darmstadt 2016, S. 39. 13
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Bildungskanon durchgeführt werden; und dieser Prozess ist schulpolitisch gewollt. Der steigende Standardisierungs- und Homogenisierungsdruck, ebenso die Tendenz der Ökonomisierung der Bildung, scheint durch die Leitbild-Fassade lediglich kaschiert und kleingeredet zu werden.15 Nicht zuletzt werden Leitbilder häufig als Arbeitsprogramme mit überprüfbaren, operationalisierbaren Zielen missverstanden. Die Funktion von Manifesten, auch Freiräume zu schaffen, Abwehrrechte gegen sich totalisierende Organisationen, „gierige Institutionen“16, zu definieren, geht auf diese Weise vollends verloren. Man darf annehmen, dass in allen Schulen die gleiche Kurzatmigkeit und Gehetztheit vorherrschen, ein ähnlicher permanenter Termindruck erzeugt wird. Alle in das Schulsystem Involvierten sind so „getaktet“, dass kaum Zeit zur Reflexion bleibt, immer neue pädagogische Konzepte (Selbstorganisiertes Lernen, Lernfelddidaktik, Inklusion) wollen adaptiert und im Schulalltag umgesetzt werden. Im Reigen immer neu sich konstituierender Arbeitsgruppen und Planungsteams, im Mahlstrom der Gesamt-, Fach- und Klassenkonferenzen oder der diversen Besprechungen/Absprachen/Meetings gehen auch häufig geäußerte Bedenken, Befindlichkeiten oder Diskussionsbeiträge leicht unter – Soziologen sprechen wohl von einer Chronifizierung von Problemen –, während die einzelnen Lehrer das Gefühl haben, sich ständig mit unveränderten Problemkonstellationen herumplagen zu müssen. – Zur Abfassung von Überlastungsanzeigen bestehen keine zeitlichen Ressourcen; und wenn Teile des Kollegiums im Auftrag der Lehrerschaft eine Überlastungsanzeige formulieren wollen, fragen sie vorsichtig bei der Schulleitung nach, ob und in welchem Rahmen dies möglich oder gewünscht ist. Denn man will den unterbesetzten Schulleitungen nicht in den Rücken fallen, sich ja vor der zuständigen Schulbehörde nicht auseinanderdividieren lassen und längst identifizierte systemische Defizite den entsprechenden Behörden gemeinsam zu Gehör bringen. – Es kommt nicht zur Ausbildung von Diskursen über den Bildungsbegriff und zu einer kritischen Reflexion über ideologische Implikationen von ministeriellen Erlassen. Nach Foucault sind Mikrostrukturen der Macht durch archäologische Arbeiten nachzuweisen: Die Herrschaftsstrukturen, die in die Architektur von Organisationen, Systemen eingegangen, nur scheinbar „verschwunden“ sind und etwa als „Schere im Kopf “/internalisierte Selbstbeobachtung persistieren, sind nochmals herauszupräparieren.
Was Luhmann als „Schließung der Systeme“ beschrieben hat, äußert sich auch als Ökonomisierung des Bildungssystems; Stiegler, B., Allgemeine Organologie und positive Pharmakologie, in: Hörl, E., Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin 2011, S. 112, nennt die Planetarisierung des technischen Systems und gleichzeitige Finanzialisierung des weltweiten Kapitalismus, die wir Globalisierung nennen, unverhohlen „eine Misswirtschaft“. Vgl. auch das GEW-Papier Scheppler, R. (Hg.), „Schule ist kein Wirtschaftsbetrieb“, Frankfurt 2016, das einige Vorträge zweier Vorlesungsreihen an der Universität Frankfurt der vergangenen Jahre zusammengetragen hat. 16 Coser, L. A., Gierige Institutionen. Soziologische Studien über totales Engagement, Berlin 2015. 15
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Foucault bemüht das eindrucksvolle Gefängnisbeispiel des Panopticons, bei dem die Zellen von einer zentralen Stelle aus einsehbar sind, so dass auch dann, wenn keine reale Beobachtung vorliegt, eine disziplinierende Wirkung durch die Architektur der Transparenz erreicht wird. Der Gefangene muss permanent davon ausgehen, beobachtet werden zu können. Im Gegensatz zu früheren dunklen Verliesen oder Zellen mit undurchsichtigen Türen erreicht diese neue Architektur eine Zunahme an Disziplin, Beobachtungsdruck. Mit der Verfeinerung der Machtmechanismen moderner Dispositive ist also zu rechnen. Jeder Lehrer spürt, wie von der unauflösbaren Hektik des Tagesgeschäfts eine disziplinarische Wirkung ausgeht: Das alltägliche Funktionieren dominiert oder begrenzt gemeinsame Reflexionsprozesse derart, dass die schulische Bildung nicht den Grad an Systemkritik erreicht, der die Kontinuität der Konsum-/Leistungsgesellschaft gefährdet. Mit Foucault wäre also nach archäologischen Befunden für diese Thesen zu suchen. Dass digitale Hyperkommunikation Massenüberwachung zulässt, mediale Transparenz Kontrolle bedeutet, ist allen Mediennutzern inzwischen deutlich geworden. Im schulischen Kontext befinden sich diejenigen allerdings im Rechtfertigungsdruck, die sich gegen zunehmende Transparenzforderungen und Evaluierungszwänge wenden. Controller setzen auf einen durchsichtig-gläsernen Unterrichtssaal, die Abgeschlossenheit und Uneinsehbarkeit des Klassenraums als Voraussetzung einer vertrauten intimen Lernsituation wird immer häufiger infrage gestellt. Die Anwesenheit von Beobachtern und die zunehmende Transparenz von Klassenräumen lässt allerdings schulische Interaktion zu einem Showgeschehen und zur Inszenierung mutieren. Digitale Klassenbücher und Notenprogramme für Lehrer perfektionieren die Schulverwaltung; dass die neue Übersichtlichkeit das nachträgliche Korrigieren und pädagogisches Optieren erschwert oder unmöglich macht, ist ein erster konservativer „Angstreflex“. Durch Klassen/Notenverwaltungsprogramme auf Tablets wird eine Note präfiguriert; diese Zahl mag bei Notenbesprechungen mit Schülern eine gewisse Überzeugungskraft haben, weil sie vorzeigbar auf dem Display blinkt. Die nicht verebbende Frage, ob nun eine vom Programm errechnete 3,49 eine 3– oder 4+ ist, und die wiederholten Hinweise von Schulleitungen, dass der pädagogische Spielraum nicht an den Computer delegiert werden kann, werfen ein Licht auf die Verwerfungen infolge der Digitalisierung bzw. die neuen technischen Systemschließungen, die das pädagogische Tun und Ermessen zu eliminieren versuchen und Verantwortung systematisch zu delegieren versprechen. Der Notenprogramm-Support suggeriert eine Endgültigkeit und Unabänderlichkeit („vollendete Tatsachen“), gegen die Pädagogik ganz grundsätzlich Sturm läuft. Eine Note wird nicht überzeugender und mitnichten für Schüler einsichtiger, wenn sie scheinbar von einem neutralen Dritten errechnet wird. Man darf hier schon darauf verweisen, dass für Hegel der neutrale Blick der Inbegriff des Bösen ist, eine zu einfache, sich selbst immunisierende Fiktion. Jedenfalls wäre ein Upload der Klassenverwaltungsprogramme opportun, 20
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bei dem ein Infofenster die Funktion der Note klärt und ein entsprechender Warn-Button neben jeder vom Programm errechneten Note „aufploppt“ und die auf dem Display erscheinenden Computernoten mit einer verzerrenden „Disappear-Animation“ relativiert.
Untiefen von Mediatisierung und Virtualisierung Aufgrund der ständigen Verlockungen der Mediatisierung, dem Bedürfnis nach permanenter digitaler Erreichbarkeit und Kommunikation, gibt es wohl inzwischen ebenfalls in allen Schulen Handy-Verbote während des Unterrichts, zuweilen auch ein radikaleres allgemeines Handynutzungsverbot auf dem gesamten Schulgelände (wie nun in Frankreich), was die tatsächliche Verwendung der neuen Prothesen oder ihren illegalen Einsatz in Klassenarbeiten in keiner Weise unterbindet. Es darf vermutet werden, dass das Verbot lediglich eine Regulierbarkeit des Gebrauchs und eine Handlungsfähigkeit der Schulorganisation vorgaukelt, während längst eine neue Faktenlage entstanden ist: Der Soziologe Jean Baudrillard würde sicherlich ein Gesamtklima der Simulation und Virtualität auf allen Ebenen des Schulsystems identifizieren. Das Vorlegen von Statistiken mit Zahlen über erfolgreiche Absolventen simuliert Funktionalität, eine Geste, die Schulen vorgesetzten Dienststellen schulden. Schulverwaltungen verweisen in manchen Bundesländern auf eine Bedarfsdeckung von 105 % und übergehen den Unterrichtsausfall, das Ausmaß an nicht besetzten Ethik- oder Deutschstunden im beruflichen Bildungsbereich etwa. Simulation bestimmt bereits die banale Alltagspraxis: So machen Activeboards den Tafelanschrieb zu einer Pseudoaktion. Es scheint, als schreibe man, und die Stiftbewegung hinterlässt auf der Projektionsfläche eine virtuelle Spur. Die Faszination des Bildschirms besteht bei Schülern ungebrochen und müsste keineswegs genährt werden. Während vor ein paar Jahren noch der Einsatz von Videos von den wenigen in der Schule vorhandenen Fernseh-/ Videogeräten abhängig war, sind inzwischen die Netze auf dem Schulgelände so überlastet, dass man gezwungen ist, die Internetseiten, auf die man in seinem Unterricht rekurrieren möchte, einen Tag vorher bereits herunterzuladen. Alle Klassen sind permanent online; die übergroße Online-Faszination erzeugt Off-Line-Phasen und gerät in Sackgassen, dies erinnert an das Paradoxon, das schon vor Jahrzehnten von Sloterdijk nachgewiesen wurde, dass die Zunahme an Beschleunigung zu Staus, vermehrtem Stillstand führt. Das Visualisierungsbedürfnis steigt, die Einsatzmöglichkeiten neuer Medien im Unterricht scheinen noch lange nicht ausgeschöpft. Konkrete Effekte der Digitalisierung auf Schulorganisation und Schulklima können bereits abgeschätzt werden: Die neuen Medien verstärken den Selbstprofilierungs- und Präsentationszwang der Schülerinnen und Schüler. Dierk Spreen redet – erneut in Anlehnung an Foucault – von einem Optimierungsdispositiv, einer Entfremdungssituation, die durch das Klima des perfektionistischen Selbstdesigns 21
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entsteht und letztlich eine Identitätsbildung, die Annahme eigener Kontingenz, erschwert.17 Dass überdies Filterblasen, die auf das Individuum abgestimmten Suchergebnisse, den Nutzer in seinen Haltungen und Meinungen bestätigen und verstärken, erhöht die Attraktivität von Verschwörungstheorien, begünstigt das Cocooning in eigene Interessen-Gruppen; dass auf diese Weise ein politischer Diskurs vereitelt wird, beginnt man als soziales Problem wahrzunehmen; aus dem Politikunterricht kennt man die Unmöglichkeit der Diskussion, wenn die krudesten Vorstellungen kursieren und Ordnungsversuche, die Herstellung einer Gesprächsbasis oder Begriffsklärungen alle zeitlichen Ressourcen binden oder vielmehr sprengen. Die Subjektivierung des Wissens, die unausweichlichen Folgen der individualisierten Wissenskonstruktion im Horizont der Digitalisierung, sind in den schulischen Diskussionen schon länger unübersehbar. Die Wirkung von Hate-/Shitstorms, virtuellen Blamings, lässt sich von Lehrkräften nur schwer ermitteln oder gar unterbrechen. Die mühsame Korrektur von medial übermittelten Fakes erfordert auf Seiten der Schüler die Bereitschaft zur Mitarbeit, die Fähigkeit zur Differenzierung. Auch hier belegt der Politikunterricht, wie Datenmüll Nachrichten überlagert und Diskussionen sich in unübersichtlichen Detailfragen verfangen. Wenn Schulen Medienkonzepte erstellen, geht es um WLAN, Synergien bestehender Techniken, medientechnologische Aufrüstung, um eine Vorbereitung auf den Geldregen, der mit dem Digitalpakt auf die Schule ausgeschüttet wird; Stichworte wie Medientheorie oder medienkritische Aufklärung, Lesarten von McLuhans Menetekel „The medium is the message“ – Fehlanzeige. Der Zusammenhang von Transparenz und Kontrolle, der mit Blick auf die neuen Medien offensichtlich ist, lässt sich auch auf schulorganisatorischer Ebene verfolgen: Die Instrumente des Controllings bringen die Pädagogik mit betriebswirtschaftlichen Prozessen in Verbindung, ohne dass diese Allianz noch legitimiert werden muss. Das Qualitätsmanagement behandelt Unterricht als evaluierbare Prozessgröße. Schulen sind internen und externen Rankings ausgesetzt. Vor Jahrzehnten unkte Sloterdijk, man könne eine neue Generation am Wechsel ihres Spielzeugs in den Kinderzimmern erkennen, und meinte, dass die Dinosaurier oder andere diverse Monster ein eindeutiges Indiz für eine neue Ära seien.18 Epochen der Schulpolitik lassen sich aber nach wie vor etwas nüchterner etwa an dem Aufkommen von unanfechtbaren Schlüsselbegriffen unterscheiden. „Feedback“ ist ein solcher Terminus, über dessen Berechtigung und Sinnhaftigkeit überhaupt nicht mehr diskutiert oder nachgedacht werden kann.19 Solche Letztbegriffe oder
Spreen, D., Upgrade-Kultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld 2015. Sloterdijk, P., Nietzsche im Monsterpark, in: Figal, G., Schwilk, H. (Hg.), Magie der Heiterkeit, Stuttgart 1995, S. 109–132. 19 Stroebe, W., Große Vorsicht geboten. Was evaluieren Studierende, wenn sie Lehrveranstaltungen evaluieren?, in: Forschung & Lehre: 2/2017, S. 136–137: Studenten neigen dazu, die Veranstaltungen positiv zu bewerten, in denen sie weniger Vorbereitungsaufwand erbringen müssen. 17 18
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Herrensignifikanten stehen nach Jacques Lacan und Slavoj Žižek immer unter dem Verdacht, leere Signifikanten zu sein oder vielmehr Leerstellen zu bezeichnen. Die „Feedback-Kultur“, die so häufig für Schulinnenräume eingefordert wird, ist längst Teil eines globalen Hypes um Rankings und Scores. Das Klima der totalen Bewertung scheint bei Schülern das Missverständnis zu fördern, als Kunde für ein fertiges/ungares Unterrichtsprodukt Zufriedenheitsquoten definieren zu können. Die Like-Bewertung, das Äußern von Vorlieben, machen der Kulturredakteurin Petra Kohse zufolge zunächst einen pubertären Gestus aus, Jugendliche stabilisieren sich in klaren Voten.20 Dass das Liken nicht an die politische Wahl heranreicht, hat B.-C. Han herausgestellt. Beim Verteilen von „Gefällt-mir“-Buttons fehlt der Diskurs, der offene Austrag von Argumenten. – Schließlich sind bei Gesamtkonferenzen viele froh, dass ohne leidige Intervention der üblichen Schwerenöter ein strittiger Punkt durchgewinkt, über ein leidiges Leitbild kurz und knapp abgestimmt wird. Schon hier nimmt das Liken Überhand. – Eine Ausweitung konsumistischer Bewertungspraxis in schulische Zusammenhänge erreicht einen Kurzschluss, dass jeder jeden zu jeder Zeit bewerten kann/darf. Die schon angesprochenen Tabletprogramme mögen die ständige Bewertung und Kontrolle ermöglichen oder erleichtern. Schule wäre aber als panoptischer Überwachungsraum missverstanden, in dem Schüleraktionen totalprotokolliert werden. Die Note muss daher neu gegenüber den omnipräsenten Rankings und Scores abgegrenzt werden. Kohse gibt zu bedenken: Während die Gesellschaft uns immer mehr zu Feedbacks drängt, werden wir „dabei gleichzeitig der Möglichkeit tatsächlicher Differenzen beraubt. … Der Konsum regiert in Form eines euphemistischen Kindkaisertums.“21 Der Regression kann die Konsumgesellschaft keinen Einhalt gebieten, denn das Feedback, das scheinbare Medium der Kritik, tarnt eine grundlegendere Alternativlosigkeit; man darf daran erinnern, dass Schüler-Mitbestimmung eine früher geforderte, viel tiefgreifendere Form der Beteiligung wäre. Konsumhaltung und Ökonomismus setzen sich fort. Die Frage nach einem alternativen Umgang jenseits einer fixierenden, totalen Vermessung – das wäre die heideggersche Kritik an der Moderne als Maschinerie der Verobjektivierung – sollte aber lebendig gehalten und nicht ständig vertagt werden. Es ist nämlich die Grundfrage der Pädagogik. Von Sloterdijk ist zu lernen, dass das Normalisierungsbedürfnis der Aufklärer die Aufklärung regelmäßig zum Scheitern bringt.22 Hier ist Dietmar Daths Einsicht anzufügen, dass „Drastik … der ästhetische Rest der Aufklärung [ist], nachdem sie politisch Kohse, P., Wie war ich? Jedes Produkt und jede Dienstleistung wollen heute bewertet werden. Aber was macht das ewige Rating aus uns?, in: FR vom 19.8.2016, S. 10, gibt auch auf die selbstgestellten Fragen einen Antwortversuch. 21 Kohse, P., ebd. 22 Sloterdijk, P., Heinrichs, J.-H., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 285. 20
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gescheitert ist.“23 Im Innenraum der Schule werden Zeitanalysen allerdings eher abgemildert und verharmlost. Frank Witzel, der Dath zitiert, sieht in der Verharmlosungsstrategie einen typisch bundesdeutschen Bewältigungsmechanismus, alternativ dazu werden Katastrophen als von außen kommend (und niemals selbstgeneriert) beschrieben. Und das Grauen besteht seiner Meinung nach darin, dass es sich „normal gibt und immer ganz logische und zwingende Gründe benennen kann.“24 Kurzum, die Illustrierung der Bedrängnissituation, die Auflistung der Paradoxalitäten, ließe sich fortschreiben, dies wird in späteren Kapiteln auch getan.
Regulierungswut/Kontroll-Religion versus aufgeklärte Bildungsautonomie Das existenzphilosophische Argument, dass der Daseinsvollzug nicht in verallgemeinerbaren Sätzen darstellbar ist und das je Konkrete sich in vorgegebenen Rastern verflüchtigt (individuum est ineffabile), hält Controlling-Experten indes keineswegs davon ab, mit einfachen Rastern die komplexe Schulwirklichkeit zu scannen und zu kategorisieren. Weiterer Protest gegen die Banalisierung und Trivialisierung der Schulwirklichkeit in Teststandards ist daher angebracht. Dass Schüler und Lehrer gegensätzlichsten Ansprüchen oder Systemzwängen ausgesetzt sind, scheint nicht in der Manier vorgefertigter Fragebögen erfasst werden zu können. Die Gegenreaktion gegen die technokratische Evaluationswut ist natürlich in einem Metier schwierig, das sich ansonsten die Objektivierbarkeit und Quantifizierbarkeit von Leistung auf die Fahnen schreibt. An dieser Stelle kann deutlich werden, wie ergiebig und zweckmäßig eine theologische Kritik ist, die der Objektivierbarkeit misstraut und subtile Herrschaftsformationen zu identifizieren gewohnt ist. Wenn die Religionskritik die Kritik aller Kritik ist (Marx), sind divinisierende Momente der Selbstzelebrierung oder Positivierungsmomente von Institutionen als implizit-religiös oder zivilreligiös konnotiert herauszustellen. – Für den Soziologen Niklas Luhmann ist die Positivierung des Negativen bereits ein Kriterium oder Funktionsmerkmal von Religion.25 Witzel, F., in: Felsch, P., Witzel, F., BRD Noir, Berlin 2016, S. 69. Ebd., S. 74f. 25 Die in Gesamtkonferenzen gepflegte Praxis, „positive Nachrichten“ zuerst vorzustellen, instantiiert eine amerikanische Religion des „positive thinking“, der programmatischen Happiness. – Schulen sind an einer Aufklärung über Ausmaß und Wirkungsweise unreflektiert praktizierter, zivilreligiöser Momente wenig interessiert; die hohe Zahl nichterteilten Religions-/Ethikunterrichts an staatlichen Schulen komplettiert den ganz normalen, säkularen Verblendungszusammenhang. Wie jedes anankastische Moment hat nach Freud auch der Zwang zum Positiven Züge des Religiösen. – Dieser Kult des Positiven, der Selbststabilisieung/Selbstzelebrierung, wie er der bürgerlichen Religion eigen ist, wäre schließlich mit einer negativen Nachricht zu durchbrechen, die als positiv dargestellt wird, da ihr Positives darin besteht, der Negativität endlich wieder neuen Raum einzuräumen. 23 24
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Der klagende Aufschrei „Muss es denn schon wieder Religion sein?“26 wird also schon mit Verweis auf die Religionskritik, die immer schon ein integraler Teil von Religion ist und hier besonders betont wird, bzw. auf die Ideologiekritik, die von religiösen Phänomenen ihren Ausgang nimmt, relativiert. Dass das Subjekt sich selbst fremd ist und die Eigendynamik der sozialen Prozesse selten überschaut, die Akteure „nicht wissen, was sie tun“ (Lk 23,34), wären zugleich marxsche sowie christliche Annahmen, die eine Analyse von Institutionen erleichtern. Dass eine kritische Bestandsaufnahme von schulischen Mechanismen zunächst auf ein leichtfertiges Kürzen des Religionsunterrichts und Riten/Selbstzelebrierungen der „Bildungsreligion“ stößt, bildet den ersten Mosaikstein eines keineswegs harmlosen Befunds. „Wir halten unsere Situation für normal, weil wir keine Begriffe haben, unsere Überlastung zu beschreiben“, lässt sich in Anlehnung an S. Žižek sagen. Die „Normalität der Überlastung“ deutet nach B.-C. Han auf Selbstausbeutung hin: Eine Arbeitsorganisation, die auf dem Satz „Ich muss können“/„Ich kann“ basiert, erlaubt im Gegensatz zu „Du sollst“-Imperativen einen rückhaltlosen Einsatz der Arbeitskraft bis zum totalen Burn-out, der kollektiven Erschöpfung als dem sozialen Grenzwert. Zeit zur Reflexion bleibt nicht mehr; die Lehrerfunktionen, allen voran das Dokumentieren/ Verwalten verschlingen letzte Ressourcen. Die vorliegenden Beiträge gehen überdies davon aus, dass das Schul-Reglement, schulische Macht- oder Ohnmachtsstrukturen in ähnlicher Weise Körper formatieren, wie etwa Stelarcs Selbst-Aufhängungen oder andere seiner Medienkunstaktionen buchstäblich unter die menschliche Haut gehen.27 Žižeks Hinweis auf die „Unterseite des obszönen Genießens“ von Institutionen kann hier maßgeblich werden. Jenseits einer banalen Skandalisierung, die den Voyeurismus bedient, gilt es, das Genießen der Organisation mit zu verfolgen. Die Restkategorien – Dimensionen des Ausgeschlossenen und Verfemten – sollen aufgedeckt, der Untergrund einer Organisation angedeutet oder umschrieben werden. Die folgenden Ausführungen wollen sich also auch von psychoanalytischen Einsichten leiten lassen. Zu den theologischen Verweisen kann noch gesagt werden, dass sie keineswegs „identitär“ als fertiges Antwortregister gemeint sind. Jullien verneint die Frage, ob es so etwas wie eine (fixierbare) kulturelle Identität gibt. Kulturen, Religionen, und hier Bezugnahmen auf
Vgl. Krätzer, J., Atheismus ist immer noch erlaubt! Warum wird jetzt ständig die Religion verteidigt. Ein Einspruch, in: Die Zeit vom 18.8.2016, Nr. 35, S. 50. Dem berechtigten Anliegen Krätzers wird entsprochen, wenn etwa in Kapitel 3 eine „Religion ohne Religion“ diskutiert wird. Wie sehr die Religionskritik Teil der „Herz-Theologie“ ist, wird im Folgenden deutlich werden. 27 Bourdieu, P., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2003, S. 230f: „Es ist völlig illusorisch zu glauben, dass die symbolische Gewalt schon durch die Waffen des Bewusstseins und des Willens zu besiegen wäre: Sie ist so wirksam, weil sie den Körpern auf Dauer in Form von Dispositionen eingeprägt wurde.“ 26
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christliche Theologie, sind vielmehr als Reservoir und Motivationshorizont – Jullien spricht von aktivierenden „Ressourcen“28 – zu verstehen, die sich nicht aufbrauchen, vielmehr mannigfache Möglichkeiten der Interpretation bieten. Die enge Verbindung von Theologie und Pädagogik soll noch verschiedentlich expliziert werden.
Literarisch-pragmatische Bearbeitung von Paradoxa – fortgesetzte Machtanalysen „Wirklich aktuell und dringlich wird etwas genau dann, wenn es [scheinbar] ausgedient hat. … Angesichts des Interesses der herrschenden Mächte, die Vergangenheit in Museen auszulagern und ihr geistiges Erbe zu entsorgen, ist jeder Versuch, in eine lebendige Beziehung zur Gegenwart zu treten, ein revolutionärer Akt. Aus diesem Grund glaube ich mit Michel Foucault, dass die Archäologie – anders als die Zukunftsforschung, die per definitionem im Dienst der Macht steht – vor allem eine politische Praxis ist …“: „Denn was ich eine lebendige Beziehung zur Vergangenheit nenne, interessiert mich nur insofern, als sie einen Zugang zur Gegenwart ermöglicht. … Die Gegenwart bekommen wir nie zu fassen, sie wird sich uns immer entziehen. Deshalb ist Zeitgenossenschaft das
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Jullien, F., Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 2017, S. 58. Jullien ruft dazu auf, sich vom „(psychologischen) Prinzip der Identifikation“ (S. 62) zu lösen. Die Metapher der Wurzel ist für ihn auch wegen der Assoziation der Natürlichkeit verdächtig. Und S. 68: „Wir müssen endlich darüber nachdenken, was das Christentum an Menschlichem befördert hat. Das heißt nicht – das wäre zu einfach –, es auf seinen ‚anthropologischen‘ Gehalt zu reduzieren (wie es ein Feuerbach getan hat), vielmehr gilt es, das Christentum als eine Ressource zu betrachten, die zur existenziellen Förderung des Subjekts beiträgt. Zu erkunden, wie das Christentum es gewagt hat, das Gesetz (durch die ‚Liebe‘) zu überschreiten, und wie es (durch die ‚Verrücktheit‘ des Kreuzes) die Vernunft umgekehrt hat, so dass eine paradoxe Logik entstand, welche die Existenz in Spannung versetzt.“ Jullien hebt noch die christliche Bewusstseinsbildung hervor, die gegenüber der griechischen Orientierung am Guten/Schönen, hin zum Leben schlechthin, zum Unendlichen bzw. zum Konkreten sich öffnet. Seine Ausführungen zeigen hier eine große Nähe zu Bultmanns existenzialer Interpretation bzw. zur relationalen Theologie (vgl. Kap. 7.2). „Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren und von der Identität einer Kultur zu sprechen“ (S. 47). Und mit der Betonung des Austauschs zwischen Kulturen/ Disziplinen wird „das offene Zwischen“ und der die Beziehungen konstituierende Abstand entscheidend (ebd., S. 48f). Jullien hebt gegen einen einfachen Universalismus oder einen denkfaulen Relativismus hervor, dass das Gemeinsame nicht das Ähnliche (Gleiche) ist: „Das Gemeinsame ist der Ort, an dem sich die Abweichungen, Abstände entfalten, und die Abstände bringen das Gemeinsame zur Entfaltung“ (ebd., S. 80).
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Schwerste, denn wahrhaft zeitgenössisch ist – wie schon Nietzsche wusste – nur das Unzeitgemäße.“ – Giorgio Agamben29
Zur Abwehr-Reaktion des fontaneschen Lehrertypus Schmidt Wer im Kontext offizieller Schulevaluationseuphorie und zunehmender Technisierung schulischer Abläufe nach Alternativen sucht, findet einen direkten Weg zu den Kernanliegen der (Herz-)Pädagogik. Um den Unbilden kurzfristiger pädagogischer Moden und schulverwaltungsstruktureller Neuerungen zu trotzen, könnten aber auch literarische Vorbilder eine zeitweise Zuflucht geben. Hier wäre auf die Strategie einer ironischen Lehrerpersönlichkeit vom Schlage des Gymnasialprofessors Schmidt aus Fontanes „Frau Jenny Treibel“ zu verweisen. Schmidt ist orientiert am „Klassischen“, um sich vom Druck momentaner Sachzwänge zu befreien und von unnötigen Komplexitäten zu entlasten. Er legt eine gewisse „Wurstigkeit“ an den Tag, die ihn im schulischen Kontext nicht untergehen lässt. Lehrertypen des Kalibers Schmidts könnten hoffen, dass der Zugriff des Systems nicht weiter zunimmt. Sie setzen darauf, in die Schlupflöcher des Systems abzutauchen, von denen ihnen die Sicht auf das entscheidend Menschliche nicht versperrt bleibt. Schmidt, hinter dessen Gestalt bekanntlich Fontane selbst vermutet werden darf – zumindest gelten ihm Fontanes ganze Sympathien –, verfügt über die Fähigkeit der Selbstdistanzierung, über einen analytischen Blick, der von Marginal-Nebensächlichem Rückschlüsse auf das Ganze zieht. Und doch gerät auch Schmidt bei Fontane zu einer Karikatur seiner selbst. Schmidts Haltung wird von zum Teil sehr banalen Lebensweisheiten bestimmt, in denen der Rationalität nicht viel zugetraut wird: „Das Natürliche ist das Vernünftige“; diese Äußerung am Ende des Romans erscheint besonders platt; man kann Schmidts Ansichten für bürgerlich beschränkt halten: Die Reichweite seiner Lebensweisheiten oder des von ihm beschworenen gesunden Menschenverstands ist begrenzt. Sie sind zwar den treibelschen, die von universalem Kapitalismus und Besitzstandswahrung durchdrungen sind, überlegen, entkommen aber nicht der permanent relativierenden Ironie Fontanes. Man mag Schmidts Heiterkeit für erstrebenswert halten und in seinem Sinne dafür optieren, dass die klassische Lehrer-Schüler-Situation zu kostbar oder zu wunderbar vielschichtig ist, um von Statistikern auf einen einfachen Nenner gebracht werden zu können. Auf alle Fälle würde Schmidt darauf drängen, dass Schulprogramme nicht den anmaßenden falschen Eindruck der Machbarkeit und Planbarkeit von Erziehung vermitteln dürfen; schließlich wirken zu viele Erziehungsinstanzen auf den Einzelnen ein, neben Eltern und Lehrern und Peergroups etwa Agamben, G., Europa muss kollabieren. Interview mit I. Radisch, in: Die Zeit vom 27.8.2015, Nr. 35, S. 39–40.
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auch die so viel gescholtenen Medien. Auf die luhmannsche These von der Unmöglichkeit von Erziehung wird noch eingegangen. Und letztlich sind es die Bescheidenheit und Nachsicht Schmidts, die ihn zu einer solch sympathischen Figur werden lassen. Schmidt argumentiert häufig unter Rekurs auf das Menschliche, wie es bei antiken Denkern grundgelegt ist. Das Menschliche mag ein Vexierbegriff sein. – Von „garbage can“ sprechen selbstkritische Kulturwissenschaftler etwas despektierlich in Bezug auf ihre Zunft. – Das Diffuse des Begriffs hat aber den Vorteil, dass es dem konzertierten Verständigungsperfektionismus (Marquard) und technokratischen Effizienzsteigerungen zuwiderläuft. Der schmidtsche Lehrertypus gebraucht die Kategorie, um sein Misstrauen gegenüber den Reformen kundzutun, die das System „verschlimmbessern“ und Formen der Heuchelei, des institutionalisierten Selbstbetrugs erweitern. Die schmidtsche Strategie wehrt sich gegen Versuche der Effizienzsteigerung, denn sie weiß um die Mühen der klassischen Bildung. Der fontanesche Held gerät allerdings zu einem Vertreter der Antibildung, wenn er nicht zu viel erkennen will, einen Modus vivendi anzielt, der die Not um ihn herum weitgehend ausblendet oder auf Distanz hält. Seine Kategorie des gesunden Menschenverstands ist auch insofern kritikwürdig, als sie wie ein Ruhekissen wirkt und ein wohlfeiles, saturiertes Verhalten sicherstellt. Das muntere Weiterdilettieren braucht eine Atmosphäre der Isolation. Schmidt mag das System ausnützen, er lässt sich aber auch von der Ordnung verbrauchen. Letztlich erweist er sich als ein unpolitischer Verteidiger des Status quo.
Gesteigerte Selbstdistanzierung von schulischen Komödien/Paradoxa Angesichts der Fülle der aufgelisteten Paradoxa sieht man sich unterdessen auch an die dürrenmattsche Theatertheorie verwiesen; denn Paradoxa bilden ja den Grundstoff und das Webmuster seiner Komödien. Im Sinne Dürrenmatts können Abhandlungen über „schulische Innereien“ nicht anders als heiter-kurios und bitter zugleich ausfallen: Das Spiel der Paradoxe ist auf die Spitze zu treiben, so dass die Spiegelung der Wirklichkeit zu einer gesteigerten Beunruhigung führt. Sogleich hätte Dürrenmatt wohl das Bildungsziel der inneren Ruhe und Beruhigung, das Dievernich und Frey propagieren, literarisch verarbeitet; die Autoren grenzen es zwar klar von einer bloßen Ruhigstellung des Bewusstseins ab und die anvisierte Meditationskompetenz soll komplementär zur Digitalisierungskompetenz hinzutreten. Für Dürrenmatt stünde dagegen wohl die Adaptationsfähigkeit spiritueller Techniken im Fokus der Kritik:30 Die aktuellen schulischen Ausweglosigkeiten scheinen offensichtlich das Format dür30
Zit. n.: Dievernich, F. E. P., Frey, R., Den Geist in unruhigen Zeiten schulen. Die neue Generation von Studierenden braucht Meditations- und Digitalisierungskompetenz, in: FR vom 6.10.2016, S. 29.
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renmattscher Paradoxa zu besitzen; sie müssen nicht erst auf dieses Level gebracht werden. – Die von den beiden Hochschullehrern zitierte Aussage des Dalai Lama „Wenn wir diese Welt besser machen wollen, dann müssen wir selbst bessere Menschen werden … Dafür benötigen wir Geistesschulung und Herzensbildung“ eignet sich wohl als ergänzende Bildunterschrift zur Collage „Seelenruhe“ (1929) von Max Ernst. Max Ernst lässt hier einen auf einem Sessel schlafenden Mann ahnungslos in einem wild tosenden Meer schwimmen; neben ihm ertrinkt gerade ein anderer, von dem man nur noch den verzweifelt rudernden Arm sieht. Der einfache Ruf nach Bewusstseinsveränderungen verkennt das Beharrungsvermögen von Organisationen, den Raum der Disziplin, in dem Herrschaftsstrukturen allen Veränderungen zum Trotz konstant bleiben können. Und so ist im Setting von Dürrenmatts Komödien kein Platz für souveräne Pädagogen mehr – und keiner vermisst mehr beeindruckende Gestalten klassischer Bildung oder einflussreiche Vertreter der reformpädagogischen Bildungstheorie oder polternde Gewerkschaftler, die im Übrigen nur stören: Ubiquitär sind geflissentlich arbeitende Akteure in Schreibstuben, die mit Verweis auf Erlasse und Dienstanordnungen sich gegenseitig blockieren und vor allem die Kollegen in der Praxis ausbremsen, betuliche Beamte an Computern der neuesten Generation, die willfährig Leitlinien ausführen und Lernprogramme ausarbeiten, selbstbewusst coole Lehrer, die über das Curriculum hinausreichende Schülerfragen abwürgen, mit Tablets die Schüleraktionen totalprotokollieren und die Maßgaben der Standardisierung und Vergleichbarkeit bis zum Stadium der Banalisierung verinnerlichen. Die Freiheit der Lehre wird nicht mehr als Teil des Berufsbildes des Lehrers vermutet, nicht mehr vermisst und von daher nicht mehr eingefordert. Referendare, die unter Leistungsdruck litten, mutieren nach ihrer Ausbildung schnell zu systemkonformen Notenscharfrichtern. Wie für Dürrenmatt kann auch nach Žižek „die Wüste des Realen“ nur fiktionalisiert werden: Auf der pädagogischen Bühne dürrenmattscher Komödien richten sich nun Figuren im Stadium der Ent-Entfremdung ein; „Entfremdung“/„Ausbeutung“ sind angesichts ihrer postkapitalistischen Invisibilisierung obsolete Kategorien geworden, „das Fehlen fehlt nicht mehr“; die (nach H. Arendt/G. Anders) größte Not, nämlich das Nichtmerken der Not, stört ja nicht mehr. Man hat sich vielmehr um Noten und exakte Bepunktungen zu kümmern. Postdemokratisch erspart man sich große Diskussionen. Agenten der Post-Bildung, die bereitwillig den Optimierungsdruck des Qualitätsmanagements akzeptieren, führen den Bildungsbegriff als leeren Signifikanten im Munde und lassen ihn in „Kontrolle und Verwaltung“ aufgehen (Dörpinghaus). Sie wissen gänzlich routiniert, was zu tun ist, und denken immer im Sinne der Organisation. Postideologisch stabilisieren sich Gemeinschaften nicht mehr über
Aus Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1930) stammt der Vorschlag, zuerst mit der Veränderung des Menschen zu beginnen, um dann im zweiten Schritt die Verhältnisse zu ändern, vom monströsen Fleischfabrikanten Mauler (ebd., S. 32).
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einen Wertekonsens, sondern via medientechnischer Vernetzung in Internetforen; so menetekelte schon vor Jahren Peter Weibel. Der Dominanz des offiziellen Agenda-Settings gegenüber haben Initiativen Einzelner immer weniger entgegenzusetzen; sie unterbleiben schließlich, während sich bestehende Ordnungen als alternativlos positivieren. Karl Weicks Paradoxie: „Die Organisation in zähl- oder messbare Form zu bringen heißt sie dessen zu berauben, was sie des Zählens ursprünglich wert gemacht hat“, könnte einer Komödie Dürrenmatts entstammen (vgl. Kap. 7.1):31 Dürrenmatts Komödien entwerfen bekanntlich ein Szenario totaler Ausweglosigkeit: „Was alle angeht, können nur alle lösen. Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern“32; dazu passen Schülerstatements aus dem Erfahrungsschatz eines Politiklehrers: Nach einem Referat über Fair-Trade-Schokolade, bei dem auch ein Geschmacksvergleich zwischen den Schokoladen angestellt wurde, fragt ein Politiklehrer etwas unpräzise, ob man mit dem Wissen, das das Referat vermittelt hat, dass nämlich die normal gehandelte Schokolade mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit Kinderarbeit geerntet wurde, noch bedenkenlos billige Schokolade genießen kann. Er erhält die spontane, klare Schülerantwort: „Ja, man kann.“ – In einer Konferenz scheitert der Pädagoge daraufhin bei dem Versuch, die Mülltrennung einzuführen, Mülleimer für Plastikmüll aufzustellen; er hätte dies als konkreten Beitrag zur ökologischen Erziehung/Aufklärung angesehen. Das „Wir können nicht“ verhallt, da murmelt er schon vor sich hin, dass jede kirchliche Provinz-Jugendgruppe der verstaubten 1980er Jahre politisch weiter war als die gegenwärtigen Schulen, die den Geographie-Unterricht dezimieren und Ethikunterrichtsstunden nicht besetzen: „Die Berliner Rütli-Schule war ein Ponyhof.“ – Bei einem abschließenden Gespräch sagt ein Abiturient, der einen Ausbildungsplatz als Bankkaufmann erhalten hat, selbstbewusst auf die Bemerkung dieses Politiklehrers, dass er ja hoffentlich nicht seiner alten Oma einen Bausparvertrag verkaufen werde: „Wieso nicht? Wenn ich es nicht mache, machen es die anderen.“ Der Schüler klopft seinem Lehrer höflich-dankend auf die Schulter und geht lächelnd weg.
An dieser Stelle ist unter Bezug auf Ribolits’ Analysen der Möglichkeitsraum der Bildung nochmals auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung einzuordnen und zu relativieren: Das Subjekt der Bildung ist kein Gegenspieler von Machtstrukturen, sondern deren Ergebnis Weick, K. zit. n.: Ortmann, G., Noch nicht/Nicht mehr. Wir Virtuosen des versäumten Augenblicks, Weilerswist 2015, S. 131. 32 Dürrenmatt, F., 21 Punkte zu den „Physikern“, in: ders., Die Physiker, Zürich 1998, S. (91–93) 92f. Die folgenden Thesen 19 und 20 lauten: „Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit. Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.“ 31
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und Produkt. Es hat nicht die Konstitution, dauerhaft wirksam gegen die Sozialdynamik zu opponieren, so die nüchterne Analyse des österreichischen Bildungstheoretikers, der sich verstärkt auf Foucaults Philosophie bezieht.33 Gerade dort, wo das Subjekt sich frei wähnt, erweist es sich als entschiedener Agent des Dispositivs. Was für das Subjekt allgemein gilt, schließt den vom Bildungspathos bewegten Lehrer selbstverständlich ein, vor allem wenn das „radikalisierte Subjektivierungsleitbild“ ein zutiefst „unternehmerisches Selbst“ ist, das sich die Welt anzueignen versucht.34 Ribolits veranschaulicht im Sinne Dürrenmatts, wie der Lehrer – durch die Notengebung – Herrschaftsstrukturen oder soziale Ungleichheiten zementiert, wie das Bildungssubjekt ausblendet, dass es sich auf Kosten anderer und erst durch Differenz zu ihnen selbst verwirklicht. Der Ausdruck „soft skills“ deutet für Ribolits auf den kapitalistischen Verwertungskontext hin, der auch die emotionale Seite des Subjekts erfasst und eine basale Unsensibilität instantiiert.35
Fremde Herzschläge im „Maschinenraum“ der Schule Bei der Auflistung der Paradoxa und Unmöglichkeiten des Lehrerberufs darf natürlich eine klassische Unlösbarkeit und Unmöglichkeit, ein entscheidendes Dilemma, nicht übergangen werden. Im Schulalltag bedarf es gerade der Herzdimension, damit der Unterrichtsinhalt in seiner Relevanz den Schülern vermittelt wird. Erst das Engagement und die Begeisterung des Lehrers für sein Fach reißen die Schüler mit und bringen sie zum Nachdenken. Die Schüler appellieren an diese Instanz, wenn sie ihre persönlichen Anliegen formulieren, um Vertrauensvorschuss, die Ermöglichung der Versetzung zu erbitten. Der Lehrer hat nun zu überlegen, wie sehr er seinen pädagogischen Freiraum interpretiert. Er hat schließlich zu ermessen, wie begrenzt seine prognostischen Fähigkeiten sind, wie sehr sich Schüler auch ändern können, wie sehr auch quengelnde Schüler sich entwickeln und erwachsen werden. Er muss mit dem Sprung und dem „Wunder“ rechnen, sonst wäre er kein Pädagoge, und jeder wurde bereits von Schülern verblüfft, die sich wider alle elterlichen Bedenken und gegen alle ärztlichen oder auch psychiatrischen Prognosen in ihre Klassengemeinschaft reibungslos integrierten und Abitur-Abschlüsse erreichten. In Versetzungskonferenzen kommt es zu Momenten kollektiver Ratlosigkeit, da man nur schwer einschätzen kann, wie tragfähig die späten Schülerversprechen zur Verhaltensänderung sind. Der Pädagoge hat in begründeten
Ribolits, E., Abschied vom Bildungsbürger. Über die Antiquiertheit von Bildung im Gefolge der dritten industriellen Revolution, Wien 2013. 34 Ebd., S. 19; unter Bezug auf Arbeiten von Bröckling. 35 Ebd., S. 44. 33
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Fällen die Ausnahme zu kultivieren, einen erneuten Versuch zu wagen und sich überraschen zu lassen.36 Die Note hat schließlich auch eine pädagogische Funktion, d. h. einen prognostischen Aspekt. – Indes schreitet die Verrechtlichung fort; Schüler und Eltern akzeptieren nicht mehr die erteilten Noten, wenn diese ungünstig ausfallen; eine weitere Zunahme juristischer Widersprüche gegen Noten/Nichtversetzungsentscheide lässt – das ist absehbar – das Schulsystem kollabieren. Angesichts dieser prinzipiellen Unlösbarkeiten und Entscheidungsnotstände klingt George Steiners Statement überzogen, das den Lehrerberuf als ausnahmslos wundervoll preist: „Kultur war unser Weg in die Welt, das muss man weitergeben. … Aber das Heiligste ist dennoch, ein Lehrer zu sein.“37 George Steiner berichtet davon, dass er sich keinen schöneren und wichtigeren Beruf als den des Lehrers vorstellen kann und sich in seiner beruflichen Tätigkeit in Berührung mit Unermesslichem sieht.38 Henry Adams meinte in seiner Autobiographie in dieselbe Richtung weisend: „The teacher affects eternity; he can never tell where his influence stops.“39 Das theologische Pathos von Adams’ Aussage, die sicher an der Pinnwand nicht weniger Kollegen geheftet ist, fußt auf der Unüberschaubarkeit der Konsequenzen der von Lehrern ausgehenden Impulse, Anregungen und Hinweise. Dass man die Dimension des Unendlichen, Letztgültigen, die Lehrer affiziert und das Schulgeschehen ausmacht, anders/präziser denken muss, soll im Folgenden
Dass gerade der Realist in seiner Rechnung das Unkalkulierbare braucht, wird auch vielfach in wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Innovation bedacht; vgl. Theorien des Neuen etwa: Claassen, U., Hogrefe, J. (Hg.), Das neue Denken. Das Neue denken. Ethik, Energie Ästhetik, Göttingen 2005; Fischer, H. R. (Hg.), Wie kommt Neues in die Welt? Phantasie, Intuition und der Ursprung von Kreativität, Weilerswist 2013. 37 Steiner, G., „Wichtig ist, dass man sich klein fühlt.“, in: Radisch, I., Die letzten Dinge. Lebensendgespräche, Reinbek (3. Aufl.) 2015, S. (239–252) 249f. Steiners Aussage ähnelt hier Melanchthons Emphase, wonach „keine Daseinsform mehr Freude bringt als das schulische Leben“ (zit. n.: Allmendinger, J., Mehr Bildung, mehr Gleichheit. Bildung ist mehr als eine Magd der Wirtschaft, in: Mau, S., Schöneck, N. M. (Hg.), (Un-)gerechte (Un-)Gleichheiten. Berlin 2015, S. (74–84) 74). 38 Steiner, G., Ein langer Samstag, Ein Gespräch mit Laure Adler, Hamburg 2016, S. 149: „Mein Vater war überzeugt, dass etwas zu schaffen, zwar gut sei, aber auch verdächtig. Lehrer zu sein ist der höchste Auftrag. Das Wort rabbonim (Rabbi) hat im Übrigen die Bedeutung Lehrer. Ein weltlicher Begriff, der nichts Heiliges hat.“ Lehrer sein bedeutet vor allem lesen, mit Texten leben. Als Steiner den ersten Satz eines Gedichtbandes von Celan liest, ist er zutiefst erschüttert: „Das hat mein Leben verändert. Ich spürte, dass da eine Unermesslichkeit Teil meines Lebens wurde. Die Erfahrung des Buches gehört zu den gefährlichsten, faszinierendsten Erlebnissen überhaupt“ (ebd., S. 97). „Das Erstaunen erneuert sich unablässig“ (ebd., S. 99). Das Lesen/Lernen ist allerdings auch zutiefst mit Steiners Verständnis von Religion verbunden: „Für mich bedeutet jüdisch zu sein, Schüler zu bleiben, zu lernen, mich dem Aberglauben, dem Irrationalen zu verweigern“ (ebd., S. 52). „Jeder lebt, indem er aus seinem inneren Reichtum schöpft“ (ebd., S. 46). Steiner betont, dass er sich letztlich ganz als Schüler versteht, der lernt und Lehrer hat (vgl. ebd., S. 37). 39 Adams, H., The Education of Henry Adams (1917), in: www.gutenberg.org. 36
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auch angesprochen werden. Gerade die theologischen Implikationen, die Dimensionen des intersubjektiv sozial erfahrbaren Unbedingten, Nichtobjektivierbaren, Nichtmessbaren gilt es auszubuchstabieren. Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen; es soll nicht mit einer diffusen Begrifflichkeit des Geheimnisses oder der nebulösen Inspiration ein diffuser Mystizismus gepflegt oder wiederhergestellt werden. Der Ideologie der empiristisch neutralen Bestandsaufnahme, die eine Banalisierung des Bildungsgeschehens bedingt, gilt es anders zu begegnen. Gottdenken hat zweifellos an elementare mitmenschliche Alltags-/ Grunderfahrungen anzuknüpfen. Diesem Anliegen widersteht auch nicht Adornos Warnung vor der Negativwirkung eines überkommenen Bildungsbegriffs: „Der Krisis des humanistischen Bildungsbegriffs, über die ich nicht viele Worte zu machen brauche, ist die Philosophie im öffentlichen Bewusstsein erlegen. … Restauration ist in der Philosophie so vergeblich wie sonstwo. Diese müsste vorm Bildungsgeklapper sich hüten und vorm weltanschaulichen Abrakadabra.“40 Der Künstler Günther Uecker meint, dass die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, den Menschen ausmacht, seine poetische Fähigkeit und Schaffenskraft herausfordert und diese sogar letztlich begründet.41 So gesehen müsste die Vielzahl der aufgelisteten Widersprüche die pädagogische Kunst, Pädagogik als unmögliche Tätigkeit, nicht lähmen, sondern gerade antreiben. – Lacan sah das Erziehen neben dem Regieren und Analysieren als derartig unmögliche, nicht lehrbare Handlung. – Das Pathos, das mit dem Spiel der Paradoxa grundgelegt ist, gehört zur Schule ebenso wie zur Religion. Im Weiteren werden Religion und Schule poetologisch gedeutet. Die Theologie als Poetologie kann der Metapher des Herzens einen breiten Raum gewähren und beide eng aufeinander beziehen. Schule kann schließlich zu einem Erfahrungsraum von Religion werden. So lässt sich jetzt schon sagen: Eine Schule ohne Herz wäre eine unwirtlich-kalte Organisation. Das Herz bleibt ein Fremdkörper, der bürokratische Abläufe und Routinen der Interaktion stört. Schulverwaltungsprogramme werden wohlmöglich den Herzfaktor noch mehr in Verruf bringen; die Gestaltungsmöglichkeiten des Lehrers lassen sich jedenfalls nicht eliminieren. Vernehmbare Herzschläge in der Schule sind nicht zu unterdrücken. Wo der Herzschlag zu schwach ist, gilt es zu reanimieren. Auf das Herz und seine Poesie ist umso mehr zu setzen, als klar ist, dass es fehlbar und irrig ist. Schließlich ist es Schauplatz und Versammlungsort der Paradoxa, die eine bloß berechnende Vernunft auszublenden geneigt ist oder gänzlich verdrängen muss.
Adorno, Th. W., zit. n.: Klass, T. N., Philosophische Bildung, in: Maaser, M., Walther, G., Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure, Stuttgart Weimar 2011, S. (8–11) 8. 41 Uecker, G., im Gespräch mit A. Bosetti „Günther Uecker malt mit Nägeln“ anlässlich des 80. Geburtstags des Malers, in: Neuss-Grevenbroicher-Zeitung vom 12.3.2010, A7. 40
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1. Diagnose Angina Pectoris
Als das Lesen noch geholfen hat … Philologische Rettungsinseln – Phantasien des Auswegs Zur Betonung des Rests, von dem schon andeutungsweise die Rede war, gehört die Einsicht, dass man nicht alles synthetisieren oder gar harmonisieren kann. Dies betrifft auch die Differenz von philosophisch-theologischer und philologischer Methode. Und Walter Benjamins Philologie/ Lektüre der Alltagsphänomene unterscheidet sich sehr von der des saturierten Lehrers Schmidt. Die Philologie wird aber gleichermaßen von Pollock und Reuß als Ausweg und Rettungsanker vorgestellt. „Philologie in dieser ethischen Dimension ist nicht länger nur eine akademische Disziplin, sondern wird zu einer Lebensform: Du bist, wie du liest, und wenn du anders lesen lernst, wirst du potentiell selbst anders. … wenn wir lernen, die Philologie freizusetzen, lernen wir zugleich andere Wege, uns selbst zu befreien.“42
Auch in historischen Seminaren können Studenten des Öfteren hören, dass sie nicht zu lesen verstehen, dass neben dem, was explizit dasteht, auch das wichtig ist, was ausgespart ist. „Lesen ist transzendieren“, so Hürlimann.43 Das Lesen erlaubt das Distanznehmen, damit ist es eine Grundtechnik der Aufklärung. Wir lesen, „um zu verstehen oder auf das Verstehen hinzuarbeiten. Wir können gar nicht anders. Das Lesen ist wie das Atmen eine essentielle Lebensfunktion.“44 Philologie als Kunst des Lesens befreit – im Verständnis Pollocks – von der Arroganz, sich zum Maßstab zu machen, die Perspektive absolut zu setzen oder zu schnell zu historisieren; es leitet an, bescheiden die eigene Beschränktheit zu sehen: Letztlich stützt sich Pollock auf die nietzschesche Definition des Lesens als dem Grund und Boden der Freiheit: „Gut lesen, das heißt langsam tief rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen.“45 Das Lesen als eine Weise der Akzeptanz von Kontingenz erinnert an das platonische Philosophieverständnis als Anleitung, das Sterben zu lernen. Der Kafka-Herausgeber Roland Reuß weist in seiner Interpretation des hölderlinschen „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“ darauf hin, dass Hölderlin hier keineswegs Pollock, S., Philologie und Freiheit, Berlin 2016, S. 58, 60. Hürlimann, Th., Der Sprung in den Papierkorb, Zürich 2008, S. 32. 44 Manguel, A., Eine Geschichte des Lesens, Berlin 1998, S. 17. Scalla, M., Lesen 2.0 – Lektüreverhalten im digitalen Zeitalter, in: Kemper, P., Mentzer, A., Tilmanns, J. (Hg.), „Wir nennen es Wirklichkeit“. Denkanstöße zur Netzkultur, Leipzig 2014, S. 92–101, prophezeit eine Pluralisierung des Leseverhaltens, das anarchische Lesen, das springt und überschlägt, wird zunehmen; im Netz wird das Lesen vom schnellen Schreiben/Kommentieren begleitet. 45 Nietzsche, F., zit. n.: Pollock, S., Philologie und Freiheit, Berlin 2016, S. 24. 42 43
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1. Diagnose Angina Pectoris
einfache Entwarnung und fröhliches Zurücklehnen nahelegt, sondern von einem Sammeln der Zeit spricht und einen steigenden Intensivierungs-/Dringlichkeitsdruck erlebt. Das Retten ist hier als Herausreißen zu verstehen, nicht etwa als heilende, schließende Integration (vgl. das griechische „sozo“); hier geht es um „ruomai“, wie es etwa in der Vaterunser-Bitte „Erlöse uns von dem Bösen“ erhofft wird. Reuß erinnert daran, dass Walter Benjamin Revolution als das rettende Zum-Stillstand-Bringen eines rasenden Zuges verstand, ein Moment des „Nicht weiter so“; dem Rad der Geschichte wird in die Speichen gefahren; eine Unterbrechung wird erreicht.46 Reuß zitiert Psalm 31,5 zum Vergleich: „Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir gestellet haben.“ Reuß versteht den Ausdruck „Vernetzung“ als Schibboleth unter Wissenschaftlern und Künstlern. Wer es unbedacht-positiv gebraucht, offenbart eine gefährliche Unbedarftheit.47 Rettung ist prinzipiell unverfügbar, sie entzieht sich den Strategien von Seilschaften und internen Vorabsprachen. Zur Rettung gehört die Lektüre, die Kenntnis der Geschichte; für die Juden kommt bekanntlich dann der Messias, wenn alles richtig zitiert sein wird. Der Rede vom „Zugriff “ (auf digitale Bücher, Daten etc.) muss man nach Reuß ebenso misstrauen, der Begriff entstammt schließlich der Polizeisprache und gehört zu vielen unpassenden Metaphern, die auf ein gefährliches Denken hinweisen. Das Kafka-Zitat „Einer muss wachen, einer muss dasein“48 meint die messianische Erwählung, die nach Lévinas einschließt, mehr Verantwortung zu tragen als die anderen, einzustehen für den anderen: „Die Moral beginnt, wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen, als willkürlich und gewalttätig empfindet.“49 Bei Rorty ist das Lesen Teil eines demokratischen Prozesses: Es gibt für ihn eine Verbindung von kritischem, langsamem Lesen und guter Staats-/Gesellschaftsverfassung. Das Lesen schafft die „Möglichkeit oder vielmehr die Verpflichtung“ zu „einer weltweit inklusiven Gesellschaft“50. Insofern für einige Theoretiker nicht nur historische Verbindungen zwischen Aufklärung und Revolution bestehen, lässt sich auch ein Brückenschlag zu Althusser wagen, für den die
Reuß, R., „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch …“. Philologie als Rettung. Essay, Frankfurt a. M. Basel 2016, S. 32ff. 47 Ebd., S. 38ff. Reuß erinnert daran, dass sogar am amerikanischen Supreme Court die nur digital gespeicherten Original-Urteile bereits stilistisch überarbeitet werden. Das digitale Medium bietet sich zu einer Geschichtsfälschung geradezu an (ebd., S. 40ff). Reuß mahnt, die Stabilität der Schrift sowie die Autorschaft zu achten und nicht angesichts von manipulationsanfälligen Techniken preiszugeben. 48 Kafka, F., zit. n.: Reuß, R., a. a. O., S. 41. 49 Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 116. 50 Pollock, S., Philologie und Freiheit, Berlin 2016, S. 41. 46
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1. Diagnose Angina Pectoris
Philosophie „Klassenkampf in Theorie“ darstellt.51 Althusser versteht Lehrer als aufklärerisch wirkende Widerstandskämpfer und bittet sie dafür um Verzeihung, dass sie so sehr allein gelassen werden: „Ich bitte diejenigen Lehrer um Verzeihung, die unter schrecklichen Bedingungen versuchen, gegen die Ideologie, gegen das System und gegen die Praktiken, in denen sie gefangen sind, die wenigen Waffen zu richten, die sie in der Geschichte und dem Wissen, das sie ‚lehren‘, finden können. Es sind gewissermaßen Helden. Aber sie sind selten.“52
Bezüglich der schwierigen Praxis des Widerstands und des Aufbruchs sprechen Badiou und Žižek von der Strategie der Subtraktion, von verdeckten oder auch offeneren Formen der Treue zu einem Akt, dem Ereignis. Auf die Frage „Nutzlos, sich zu erheben?“ gibt Peter eine Antwort, die sich an Deleuze orientiert; Unterbrechungen von Systemkreisläufen sind nötig und zugleich auch schwierig: „Die Akte eines parasitären Widerstands gegen die Kontrolle erscheinen unmöglich. Sie erfordern eine Absage an jegliche Distinktion, jegliche Kreativität, jegliches Netzwerken, jegliches Kommunizieren. ‚Das Wichtigste wird vielleicht sein‘, so Deleuze, ‚leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen‘. So bleibt letztlich als Ausweg die Nicht-Kommunikation, das Unwissen; ein Ausweg, der vielleicht den Keim neuer Ordnung in sich trägt. Den Keim einer Ordnung der Stille.“ „Kritik will auch nicht so oder anders sein, sondern mehr Möglichkeiten schaffen, ungedacht anders/unerhört zu sein.“53
Althusser, L., zit. n.: Berthold, J., Althusser-Lektüren. Lektüre/Ideologie/Didaktik in Louis Althussers Diskurs, Würzburg 1992, S. 151: „Philosophie ist, in letzter Instanz, Klassenkampf in Theorie“, und S. 146: „Die Geschichte ist ein unermessliches, in Bewegung befindliches natürlich-menschliches System, dessen Motor der Klassenkampf ist. Die Geschichte ist ein ‚Prozess ohne Subjekt‘.“ Althusser will untersuchen, inwiefern geschichtliche Prozesse ohne Subjekt, eigendynamisch, vonstattengehen und Erkenntniseffekte eine Projektion des Diskurses, des Systems sind. Man erinnert sich an die marxsche Gleichsetzung, wonach die Gedanken der herrschenden Klasse zugleich die herrschenden Gedanken sind. 52 Althusser, L., zit. n.: Berthold, J., a. a. O., S. 116. 53 Peter, T., Nutzlos, sich zu erheben? Über parasitären Widerstand, in: polar 13 (Vorher – nachher. #Aufstand) 3/2012, S. (51–55) 55: Parasitärer Widerstand wird immer wieder in Kontrollsysteme eingegliedert. 51
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1. Diagnose Angina Pectoris
Deleuze misstraut der Kommunikation; Kreativität bedeutet für ihn auf immer aufgehört zu haben, an Kommunikation zu glauben. Es bedarf also einer Unterbrechung der Kreisläufe, die nicht zuletzt durch das intermittierende, verzögerte Lesen hervorgerufen wird. Gerade eine unvorsichtig laute Thematisierung des Herzens wirkte hier kontraproduktiv; davor warnten bereits Schriftsteller der Romantik:54 Das zerbrechliche, leicht zerstörbare Wurzelgeflecht des schulischen Tuns, das mit „Herz“ etikettierbar ist, sollte also nicht im lauten ideologischen Kampf um Schulkonzepte zerredet werden. Das Konzept der elementaren HerzPädagogik und vor allem die metaphorologischen Hinweise im nächsten Kapitel sind also mit viel Bedacht vor Instrumentalisierungsversuchen zu bewahren: Emile M. Ciorans Motto „Unbrauchbarer sein als ein Heiliger“55 entspricht dem Anliegen des Herz-Projekts. Wie Cioran andeutet, darf Religion nicht als einsetzbar oder verwertbar missverstanden werden, gilt es, die Sphäre des Zweckfreien, die die theologischen Aussagen thematisieren, in den Blick zu nehmen. So stehen auch Nützlichkeitsaspekte oder Adaptions- oder Anwendungsorientierung nicht im Fokus der Herz-Pädagogik.56 Sinnfragen, religiöse Thematiken werden nicht geklärt, indem sie lediglich in einen Privatbereich versetzt und als subjektive Geschmacksfragen abgetan werden. Auch für sie gilt der einfache Bildungsimperativ; jeder hat sich nach Kräften wie mit technischen Neuentdeckungen und naturwissenschaftlichen Infragestellungen so auch fortwährend mit (neueren) theologischen Überlegungen auseinanderzusetzen; ein einfacher bequemer Schlussstrich genügt nicht. In dieser Weise macht es doch nachdenklich, dass der erklärte Atheist Žižek seit 20 Jahren nicht aufhört, in nahezu jeder seiner Veröffentlichungen das Christentum als Religion der Moderne zu verteidigen.
Die Thematik des Herzens erfordert für Romantiker wie Novalis eine Haltung der Pietät und Mitmenschlichkeit, die zu einer neuen und anderen Sprache führen sollte. Die Herzens-Wirklichkeit, die aufgrund ihrer Zartheit geschützt oder zumindest vorsichtig oder nur unter der Voraussetzung diskreten Einvernehmens besprochen werden kann, sollte nicht durch allzu laute Thematisierungen Schaden nehmen. Novalis meint im 23. Blütenstaubfragment: „Freundschaft, Liebe und Pietät sollten geheimnisvoll behandelt werden. Man sollte nur in seltenen, vertrauten Momenten davon reden, sich stillschweigend darüber einverstehen – vieles ist zu zart, um gedacht, noch mehreres, um besprochen zu werden“ (Novalis, Werke in einem Band, Wien (3. Aufl.) 1984, S. 435). In ähnlicher Weise spricht auch Valéry davon, dass Vertrautheit einen „gegenseitigen Sinn für pudenda und tacenda“ voraussetze; „wahrhaft vertraut wird man nur unter Menschen, die im selben Maß diskret sind. Alles Übrige, Charakter, Bildung Geschmack, zählt dabei wenig“ (zit. n.: Karlauf, T., Nachwort, in: ders. (Hg.), Deutsche Freunde. Zwölf Doppelporträts, Reinbek 1997, S. 448). 55 Cioran, E. M., Syllogismen der Bitterkeit, Berlin (6. Aufl.) 2016, S. 59. Dies karikiert das Heiligkeitsziel B. Gracians. 56 Schweitzer, A., Wie wir überleben können. Eine Ethik für die Zukunft, Freiburg 1994, S. 93: „Die Schaffung von solcher [ethischer] Gesinnung ist wichtiger als das, was unmittelbar in Tatsachen erreicht wird.“ 54
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1. Diagnose Angina Pectoris
Es ist also nicht allzu abwegig, sich anstiften zu lassen zu einer theologischen Neuperspektivierung, zu einem Denken, das religiöse Aussagen streng als Aussagen über Beziehungen versteht, das die Rede von Letztgültigem und Unendlichem auf die relationale Erfahrungsdimension und Grenzphänomene von Nähe bezieht. Das Feld der Missverständnisse, die sich auf dem Terrain der Religionen aufstauen können, ist gleichfalls riesig. Dennoch geht es darum, rational-verantwortet zu glauben, d. h. theologisch-philosophisches Vertrauen ganz elementar in der Nachbarschaft mitmenschlicher Urerfahrungen anzusiedeln. Es werden im Folgenden keine spekulativen Killersprünge in religiöse Hinterzimmer und esoterische Sonderwelten unternommen. Theologie wird als Poetologie oder Symboltheorie der Dankbarkeit bzw. der Öffnung vorgestellt. Ihre Aussagen bleiben an Erfahrungen oder relationale Phänomene, das unscheinbar-implizite Immer-schon-Berührtsein mit Unbedingtem rückgebunden. Es soll demnach der Versuch gemacht werden, Theologie aus der Ecke virtueller, letztlich sozial irrelevanter Glasperlenspielereien herauszuholen und ihren Aussagen direkte lebenspraktische Relevanz zuzutrauen. Und es bleibt dabei: Relevanz heißt nicht bezifferbarer Nutzen oder evolutionärer Vorteil, vielmehr im besten Fall: Sensibilisierung und Deutungstiefe, die ökonomisch-/lebenspraktisch-unbrauchbar, für das pädagogische Tun aber doch wesentlich und allesentscheidend sein kann.
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2. (Kulturwissenschaftliche) Grundlagen der herzlichen Pädagogik „In der Wahrheit gehen heißt nicht so sehr den Zustand innerer Erleuchtung, den man gewöhnlich als Evidenz bezeichnet, erreichen, vielmehr auf die Ebene jener Annahmen übergehen, an denen man Anteil hat und teilnimmt.“ – Gianni Vattimo1 „Participation precedes objectivation.“ – Paul Tillich2 „Herzlichkeit – ohne Worte: zartestes Leben. Wir schweigen, wenn wir berühren.“ – Peter Trawny3
2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts „Es gehört zur Minimalanforderung des Denkens an sich, mehr zu denken, als es denken kann. Daher die Emphase des Unmöglichen, daher die Insistenz auf Überschreitung und Intensivität. … Der Hiatus – der Spalt, der Bruch, die Kluft, die Differenz, die Öffnung – verläuft im Herzen aller Konsistenzen, Gewissheiten und Überzeugungen, das aber heißt im Herzen des Subjekts … Subjekt ist, was eine Brücke über sich baut.“ – Marcus Steinweg4 „Das Mitleid ist ja doch das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz des Seins der ganzen Menschheit.“ „Um zu begreifen, muss man Herz haben!“ – Fjodor M. Dostojewski5
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Vattimo, G., Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 150. Tillich, P., Participation and Knowledge, in: Adorno, Th. W., Dirks, W. (Hg.) Sociologica. Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Bd. I, Frankfurt a. M. 1955, S. (201–209) 206. Trawny, P., Ins Wasser geschrieben. Philosophische Versuche über die Intimität, Berlin 2013, S. 106. Steinweg, M., Inkonsistenzen, Berlin 2015, S. 80–81. Dostojewski, F. M., Der Idiot, München Zürich (21. Aufl.) 1990, S. 355, 743.
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Der neue Gebrauch einer alten Bildungsidee6 Der britische Schriftsteller Ian McEwan, plädierte unlängst dafür, „jede kleinste ernste und systematische Spekulation über die Welt“ zu bewahren oder aufzunehmen; es gebe auch den Wert der überholten Ideen.7 Die Rede vom „theologischen Herzen“ will auf das anthropologisch fundamentale Wissen um das Nichtobjektivierbare verweisen. Das Herz-Symbol meint Operativität, kein erkaltetes Herz8, sondern ein Herz im Vollzug; den Charakter der Herz-Aktivität gilt es mit dem geisteswissenschaftlichen Instrumentarium deutlich vernehmbar zu machen. Das Herz kann als ein Ursymbol bezeichnet werden9, da es in so vielen Kulturen vorkommt und vor allem einen komplexen Bedeutungsraum bezeichnet. Und das Herz-Symbol haben wir immer schon verstanden; es bildet also den Ankerpunkt des Verstehens überhaupt. Ein Symbol verstehen heißt: die gesamte Symbolsprache verstehen. Es erlaubt uns nachzuvollziehen, wie Symbol-Sprache (hier durchaus in der weiten heideggerschen Bedeutung als „Haus des Seins“) insgesamt „funktioniert“. Im Folgenden geht es also nicht um eine blutige Mumifizierung eines Hohlmuskels/eines bloßen Organs, sondern das verstehende Hören eines lebendigen Pulsschlags, die Ausleuchtung der theologisch-pädagogischen Implikationen des HerzSymbolraums. Herzpädagogik ist sich bewusst, mit verletzlichen Dialogpartnern befasst zu 6
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Die gesamten Ausführungen des zweiten Kapitels haben ebenfalls einen innerschulischen Sitz im Leben, bei der Verabschiedung von Kollegen kommt man nicht umhin, das Eigentliche hervorzuheben, und hier treten dann die Kernelemente der herzlichen Pädagogik zu Tage. McEwan, I., in: Brockman, J., Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand?, Frankfurt a. M. 2016, S. 314–315. Ganz zu Beginn darf erwähnt werden, dass William Harveys ketzerisches Werk, „Anatomische Abhandlung über die Bewegung des Herzens und des Blutes bei Tieren“ (1628), erstmals ein Verständnismodell vom Herzen als Muskel und Pumpe präsentierte. Harvey war dem Geheimnis der Venenklappen auf der Spur, denen man bis dato keine Funktion zuweisen konnte. René Descartes, der Zeitgenosse und Kritiker Harveys, sah dagegen das Herz eher als einen Ofen, in dem das Blut aufgekocht und aufgeschäumt, mit Lebensgeistern angereichert wird. Harvey legte dagegen überzeugend dar, dass der Blutkreislauf geschlossen ist: Von der linken Herzkammer fließt das Blut zum großen Körperkreislauf, dann zurück in die rechte Herzkammer, um von dort in die Lunge und wieder zurück ins (linke) Herz zu fließen. Die kurze Abhandlung wird in ihrer Bedeutung für die Medizin mit dem kopernikanischen Nachweis des heliozentrischen Weltbildes verglichen, auch wenn ein Jahrhundert zuvor schon Michel Servet ähnliche Thesen vertrat; Servet wurde von der Inquisition angeklagt und Johannes Calvin sorgte 1553 dafür, dass er, da er zu widerrufen sich weigerte, verbrannt wurde. Calvin war offensichtlich anderer Auffassung als McEwan; vgl. Herles, W. (Hg.), Bücher, die Geschichte machten. Mit Texten von Rüdiger Mai, München 2007, S. 124–127. Auf Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ (über den Holländer-Michel und Peter Munk) bezieht sich ganz zentral Peter Winterhoff-Spurks Medienanalyse „Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter ändert“ (Stuttgart (2. Aufl.) 2005), wonach die modernen Medien Gefühlskälte, ein Nichtverstehen konkret erlebter Emotionen provozieren. Vgl. Boff, L., Herzenssache. Warum uns die Vernunft allein nicht weiterbringt, Kevelaer 2016; Schipperges, H., Die Welt des Herzens. Sinnbild, Organ, Mitte des Menschen, Kevelaer 2017.
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
sein; belebende Herzensbildung ist das Ziel: Zum Stiften heilsamer Unruhe sind zunächst keine extrem-schockierenden Reanimationsstromstöße nötig. Das pädagogische Herz muss auf den Rhythmus der Umgebung achten. Der Takt der Irritation („Perturbation“ nach der systemischen Pädagogik) muss in der Schule für Schüler verkraftbar sein. Die Grenzen der Irritierbarkeit des Gegenübers mit Neuem oder Ungewöhnlichem müssen mitbedacht werden. Auch in seiner Preisschrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ von 1784, die bekanntlich dafür plädiert, mit dem Selbstdenken ohne Leitung eines anderen zu beginnen und dies nicht länger aus Faulheit oder Feigheit bequem zu unterlassen, mahnt Kant Behutsamkeit und Vorsicht in Bildungsprozessen an.10 Aufklärung gelingt nur schwer aus eigener Kraft, wenn Vormünder den Eindruck vermitteln, die Schritte zur Selbstbefreiung/Autonomie seien zu gefährlich und müssten gemieden werden. Kant hält es dagegen für „unausbleiblich“, „dass ein Publikum sich selbst aufkläre“, „wenn man ihm nur die Freiheit gibt“.11 Hierzu ist gleichfalls nötig, dass die Vormünder ihre Mündigkeit nicht verspielen, sich wach halten, selbst denken, also „den Probierstein der Wahrheit in sich selbst suchen“12, und dann anderen dabei helfen, die selbstverschuldete Unmündigkeit zu verlassen oder zu beseitigen. Repressive Konstellationen sind nach Kant immer ein Indiz für Unaufgeklärtheit; ein Vorgesetzter oder Lehrer, der seine Stellung autoritär ausnutzt, gilt in der kantischen Einschätzung nicht als aufgeklärt, auch wenn er das noch so sehr von sich behauptet: Der Prozess der Aufklärung ist also alles andere als eine unempathische, verkopfte Angelegenheit, sondern vielmehr inkarnatorisch als Herzenssache zu verstehen. Ohne mitfühlende, synkordiale Inklusion des Gegenübers misslingt Aufklärung. Brüskierungen, Besserwisserei, Bloßstellungen der Defizienz von Schülern entstammen keinem aufklärerischen Bildungsprojekt. Das Herz ist als Resonanzraum immer ein Organ der Leere, wobei seine leere Mitte nicht besetzt werden darf, wenn es aufnahmefähig bleiben will. Die Leere des Herzens lässt sich metaphorisch auch als einen elementaren Punkt des Nichtgesättigtseins und der elementaren Bewegtheit des Subjekts ausweisen. Das Verobjektivierungsverbot des Kategorischen Imperativs (der andere ist nie als Mittel, sondern immer als Selbstzweck zu behandeln) bedeutet bereits ein generelles Zutrittsverbot für übergriffige Pädagogen – vgl. R. Walsers Verdikt: „Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.“13 Fleischwerdung des Sinns bedeutet denn auch Dilatation, Weitung des Herzens. Von musikalischer Dilatation spricht der französische Philosoph Michel Serres, um die Durchdringung von Kant, I., Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kant, I., Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, Stuttgart 2017, S. (7–16) 9. 11 Ebd., S. 8. 12 Kant, I., Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), in: ebd., S. (17–36) 35. 13 Pilz, D., In träumender Ferne. Vor 60 Jahren ist der große Dichter Robert Walser gestorben. Eine Leseaufforderung, in: FR vom 25.12.2016, S. 37. 10
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Raum und Zeit zu beschreiben.14 Das Herz ist fähig, sich von den Rhythmen seiner Umgebung beeinflussen zu lassen, sie zu übernehmen bzw. seinen Rhythmus nach außen zu übertragen. Serres sieht die Philosophie aus dem Geist der Musik entstehen: „Niemand unter uns … kann leben, ohne eine inkorporierte Seele, ohne Musik in den gesprochenen Sätzen.“15 In seinem früheren Buch „Die Legende der Engel“ führte Serres bereits überzeugend aus, dass das Fleisch „der Gipfel der Abstraktion“ ist.16 Serres variiert inzwischen die inkarnatorische Ausrichtung der Bildung mit der elliptischen Formulierung: „Verkündigung: Das Wort wird Fleisch. Heimsuchung: Das Fleisch wird Wort.“17 Serres’ Diktum lässt sich hier so deuten: Symbole können nicht rein kognitivistisch, abgespalten vom Lebensvollzug, Geltung beanspruchen. Ihre Wirkung weitet sich über das Sprachhandeln auf die menschlichen Lebenskonstellationen aus. In Abwandlung eines Kirchhoff-Satzes lässt sich sagen: „Es gibt keine harmlosen Symbole.“18 Die Rede vom „theologischen Herzen der Schule“ rechnet mit einem „performativ-gestischen Apriori“19, vor dem sich passende Regeln oder originelle Methoden immer als sekundär erweisen. – Und das Herz-Symbol bezeichnet demnach eine elementar inkludierende, sich öffnende Geste, die geeignet scheint, auf die Grundkonstellation der Pädagogik übertragen zu werden.
Willkommen im „Anatomiesaal“ – Zwei Corrigenda Anatomische Studien bedingen bei Nietzsche immer Vivisektionen; daher ist nicht damit zu rechnen, dass einen Betrachter der Grusel überkommt, der sich in Konfrontation mit toten Körpern einstellt. Ein noch größerer Schauder ist allerdings zu erwarten, wenn man – wie auf alten Zeichnungen angedeutet – Marsyas zusieht, wie er seine von sich abgetrennte Haut betrachtet. – Marsyas wurde auf diese grausame Weise von Apoll dafür bestraft, dass er sich anmaßte, besser als dieser Flöte zu spielen. Die hier angekündigte surreale Operation bringt ein Durchschreiten der vier Kammern des theologischen Herzens der Schule mit sich. Das theologische Herz der Schule scheint dabei so verletzlich-ungeschützt wie ein gerade entnommenes Organ. Die Wunde des offenen Herzens, Serres, M., Musik, Berlin 2015, S. 147: „Die Musik, unsere leibliche Mutter, ist als lebendige, weltweite und wirkliche Physik Ausdruck und Imitation unseres universellen Hauses.“ 15 Ebd., S. 162. 16 Serres, M., Die Legende der Engel, Frankfurt a. M. 1995, S. 257. 17 Ders., Musik, Berlin 2015, S. 116. Und ähnlich S. 158: „Das Fleisch wird zum Wort, das wiederum Fleisch wird. Das Wort wird Fleisch, das wieder Wort wird, und schließlich: Das Fleisch ist das Wort.“ 18 Kirchhoff, B., Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1995, S. 8: „Es gibt keine harmlosen Worte.“ 19 Werntgen, C., Heidegger after Duchamp, Berlin 2016, S. 35ff. 14
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
die nicht geschlossen werden kann, schmerzt, wie auch der phänomenologische Erkenntnisweg alles andere als leicht oder einfach ist. Ein Kammerflimmern wird durchlitten. Dabei kommt es zur Konfrontation mit dem lacanschen „körperlosen Organ“, einem Organ ohne Kontext (vgl. das Herz Jesu). Wie Marsyas kommt der Leser nicht umhin, das Herz-Organ isoliert zu betrachten. Dekontexualisierungen, Dekompositionen, Herauslösungen von Elementen, Extrapolationen, charakterisieren seit Deleuze ein philosophisches Verfahren, das allerdings immer auch sein Gegenteil hervorruft: Rekontextualisierungen, also Neueingliederungen von Elementen in neue Kontexte, Assemblagen. Und so muss zu Beginn einschränkend bemerkt werden, dass in der Antike die Leber das Organ darstellt, das die Personmitte des Menschen repräsentiert, nicht das Herz. Der Theatermacher und Regisseur Philipp Ruch weist darauf hin, dass diese anthropologische Annahme auch noch für Shakespeare gilt: Hier wird die Leber als Zentrum des Menschen von Amor, der Liebe, oder Gefühlen überhaupt getroffen.20 Die Rede von der „Leber der Schule“ weckte aber seltsame Assoziationen, die an die Trinkfestigkeit oder den Krankenstand von Lehrern denken lassen. – Die Regenerationsfähigkeit der Leber weist in eine andere Richtung und diverse verdrängte Thematiken sollen gleich zu Wort kommen. – Mit der Rede vom Herzen ist allerdings inzwischen auch ein ganzkörperliches Affiziertsein im Blick, ein körperlich-organisches Zentriertsein, mit dem „Stich ins Herz“ ein lebensgefährliches Verletztwerden angesprochen. Die Metaphorik vom Herzen als dem Wesenskern des Menschen ist uns sehr vertraut und so soll von einem „pädagogisch-theologischen Herzen“ die Rede sein und auf diese Weise ein spezifisches Klima der Menschlichkeit und Atmosphäre als einzig möglicher Lebens- und Lernraum favorisiert werden. Gegen die technokratischen Mächte der Schulevaluation und der fortschreitenden organisatorischen Perfektionierung soll hiermit die eigentlich pädagogische Arbeit betont werden, die die Schule immer schon ausgemacht hat und trotz der zunehmend rigideren Zugriffe des Optimierungsdispositivs auch immer prägen wird. Ruchs Zentrum für Politische Schönheit wäre dringend nachzuahmen und die Gründung eines „Instituts der (herz-)pädagogischen Ästhetik“ voranzutreiben. Ein solches Institut könnte monieren, dass angesichts der großen Irritationen nach dem sog. PISA-Schock und in den Diskussionen um Schulentwicklung den großen Konfessionen nichts anderes einfällt als Systemkonformität, und die Kritik der Ökonomisierung der Bildung und ihrer Verzweckung/ Instrumentalisierung vorantreiben, eine Kritik der „Verbertelsmännlichung“ der Bildung (Verbreitung von Steuergruppen), des Bypassing (als Methode des Change-Managements). Das Institut könnte die Mutationen des Schulsystems spiegeln und die Konturen einer Bildungsreligion kritisch herausarbeiten, die als Ersatzreligion und religiöse Ideologie auftritt.
Ruch, P., Mitten ins Herz. Der politische Philosoph und Theatermacher Philipp Ruch ist Leiter des Zentrums für politische Schönheit, das seit einem halben Jahrzehnt immer wieder für neue Aufregungen sorgt. Interview mit Arno Widmann, in: FR vom 10./11.10.2015, S. 32–33.
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Man könnte auf diese Weise anmahnen, wenn es nicht möglich ist, den jesuanischen Auftrag, Salz zu sein, umzusetzen, man doch wenigstens versuchen sollte, Sand im Getriebe zu sein und zu bedenken, welchem Herren man dient und zu welchen Zwecken man sich instrumentalisieren lässt. Mit dem unvermittelten Rekurs auf die überkommene Herz-Metaphorik, die überdies mit dem Herz-Jesu-Bild illustriert wird, eine pädagogische Abhandlung einzuleiten, kann jedoch nur bedeuten, sich schon mit dem ersten Kapitel ins Abseits zu katapultieren und nicht ernst genommen zu werden oder ein gleichgültiges Achselzucken zu ernten. Mit dem Kamikaze-Einstieg, der keineswegs nur als auffälliger Fauxpas Aufmerksamkeit heischen möchte, ist die Absicht verbunden, einen anderen, kritischen Blick von einer radikalen Außenposition auf das gegenwärtige Schulsystem zu gewinnen. Es geht natürlich nicht um eine Geste der Anbiederung an eine etablierte Religion, um einfache Schützenhilfe zur Neukatechisierung. Der Bezug auf das Christentum verfolgt keine konfessionalistische Strategie, sondern entspringt eher einer künstlerischen Intervention, einer Polemik, die einen emanzipatorischen Effekt hat – vergleichbar der Aktionskunst. Mit dem Herz Jesu ist vielmehr die untote Wirkung körperloser Organe angesprochen, die totale Fremdheit des Eigenen, die Eigendynamik dessen, was nicht auszulöschen ist, weil es zu eigenwillig ist: „Cor [nicht mehr: anima] semper christiana“ könnte es in Anlehnung an die Formulierung von Boethius heißen, wonach die Seele immer christlich ist. Die implizierte Theologie ist eine Theologie des Rests. Wichtig ist hier allerdings die Grundlogik des Christentums, die zugleich auch in der schulischen Pädagogik bestimmend erscheint: Dass das Verfemte, Ausgeschlossene über Gebühr neu geschätzt werden muss, ist eine Haltung, die Theologen wie Pädagogen bewegt oder antreiben sollte. Eine zweite Variation eines Theologoumenons „cor paedagogum [nicht mehr: theologum] facit“ liegt in Reichweite: Allein dieses Herz macht den Pädagogen, nicht das fleißig internalisierte oder souverän eingesetzte Methodenrepertoire, sondern die Begeisterung, eine zumindest für A. Bucher in der pädagogischen Wissenschaft wenig reflektierte „Kategorie“ oder Grundhaltung.21 Wie die Gestalt der eigentliche Gehalt des Kunstobjekts ist, die Oberfläche einen tieferen Sinn hat, das Medium die Botschaft ist (McLuhan), so muss auch im vorliegenden Projekt die Identität bzw. der enge Bezug von Form und Inhalt bestimmend sein: Das (offene) Herz firmiert zum eigentlichen Inhalt der Theologie wie der Pädagogik. Theologe- oder auch Lehrersein bedeuten so gesehen: ein offenes Herz haben – offen für andere – und bei der Wahl zwischen MythischMetaphorischem und aktuellen Fetischen sich auf die Seite des Herz-Mythos zu stellen. Die Selbstmystifizierung des Systems wäre indes zu destruieren. Dem Herzen den Vorrang zu geben kann den Eindruck der Artifizialität erwecken: Ohne bereits das Verhältnis von Theologie 21
Vgl. auch Bucher, A. A., Ehrfurcht. Psychologie einer Studie, Ostfildern 2016.
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
und Pädagogik näher bestimmt zu haben, ist bereits provokant-skizzenhaft anzukündigen: Pädagogik erscheint als eine „théologie avant la lettre“ bzw. Theologie als eine „pédagogie maudite“22, beide „Disziplinen“ sind gleichermaßen von Form-Inhalt-Konfusionen fasziniert. Und das pädagogisch-theologische Herz ist ein „Kunst-Herz“, ein von ästhetischen Grundfragen affiziertes Herz.
Zur Argumentationsbahn der herzlichen Pädagogik – eine Skizze „Wir haben eine neue Regel gefunden: leaken, leaken, leaken.“ – Laura Naumann23
Auf den ersten Blick mag das Projekt einer theologischen Pädagogik antiquiert und merkwürdig aus der Zeit gefallen erscheinen. Schließlich ist die Religionsdidaktik etabliert und in einer komfortablen Nische institutionell fest verankert und beheimatet. Auch wenn sich religionspädagogische Herausforderungen regelmäßig im Ethik- und Deutschunterricht stellen und auch sonst in der Schule Grundfragen von Religion ständig aufkommen, wäre es müßig, ihre Wichtigkeit erneut zu dokumentieren oder ihre Bedeutung auszuweiten. Die in den Kapiteln 3 bis 8 versammelten Gebrauchstexte aus dem Binnenbereich der Schule rechtfertigen den Titel „Schulische Innereien“; dass sie nicht skandalträchtigen Enthüllungen dienen, legt schon der zweite Teil des Titels nahe. Eine „herzliche“ Pädagogik versucht Kompromittierungen zu umgehen; ob Qualitätsmanagementprogramme im PISASchick dazu in der Lage sind, ist dagegen die Frage. Inwiefern Theologie zum Kern jeden pädagogischen Handelns gehört, ist eingehend in Kapitel 2.2 darzulegen. Gerade die Rede vom „theologischen Herzen der Schule“ bedarf eingehender Erläuterungen: Theologie meint hier ganz elementar das Immer-schon-Berührtsein mit Nichtmachbarem-Unverfügbarem, Nichtobjektivierbarem („religiös/göttlich imprägnierter Wirklichkeit“) herauszustellen. „Wer den Menschen schätzt, betreibt Theologie“24. Zentral für den schulischen Alltag ist eine elementare/relationale Theologie: Nur in einem Klima, in dem die Aspekte von Leistung, Benotung und Kontrolle als sekundär zurückgedrängt oder durchbrochen werden, können sich Beziehungen entfalten und mündige Denkprozesse in Gang kommen. Ohne diesen elementaren Vertrauensvorschuss kann Schule nicht gelingen. Die bedingungslose Annahme des
Ähnliches sagte J. Hörisch bereits von der Beziehung zwischen Medientheorie und Theologie. Naumann, L., In einer Küche sitzen und neue, bessere Regeln finden, in: Schauspiel Frankfurt (Hg.), Programmankündigung Spielzeit 2017/18, Frankfurt 2017, S. 97f. 24 Heidrich, Chr., Unmöglich und wunderbar in: ChrGeg Nr. 12/2015, S. 238. – Zu weiteren Erläuterungen vgl. Kap. 2.2 und 7.2. 22 23
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Anderen steht am Beginn jeder (schulischen) Interaktion. (Dies wäre zugleich der säkulare Rumpf der christlichen Rechtfertigungslehre.) – Eine theologische Dimension ist immer schon mit der impliziten Überschreitung der Ding-Perspektive und den Unbedingtheitsdimensionen menschlicher Intersubjektivität angesprochen. Es lässt sich sagen: Verfolgt ein Lehrer einen extremen Leistungsstandpunkt, verabsolutiert er die Objektivierungsperspektive, so vertritt er auch eine „Theologie“, gleichfalls einen merkwürdigen Leistungs-Fetischismus, der den Vollzug wirklicher Transzendenz unmöglich macht sowie die Leere der symbolischen Ordnung und – Psychoanalytiker würden ergänzen – das Fehlen des Garanten der symbolischen Ordnung verkennt/leugnet. Die herzliche Pädagogik, die zugleich eine implizite Theologie bedingt, verfolgt einen universalistischen Ansatz. Auch wenn sie auf christliche Metaphern und Mythologeme zurückgreift – sie müsste das nicht, aber das macht alles anschaulicher –, will sie Beziehungsdimensionen herausstellen, die den Kern jedes mitmenschlichen Miteinanders als unvernutzbar-unverfügbar, nichtmachbar-geschenkhaft oder auch als traumatisch-irritierend-akthaft ausweist. Das theologische Herz kann in einem präzisen Sinn umrissen und konturiert werden. (Dass diese implizite Wirkung christlicher Metaphern eine zeitgemäße Form der Wirkmächtigkeit des Christentums ist, entspricht seiner kenotischen, inkarnatorischen Dimension; die Sensibilität für das Implizite wird als eine legitime und lebendige Form von Christsein verstanden; es ist nicht als Verwässerung abzutun, eher als Konkretisierung von Tradition. Diesen Aspekt gilt es u. a. in Kapitel 4 und 7 zu verdeutlichen.) Das Projekt einer Kritik der Institution und ihrer Ideologien kann gerade dann gelingen, wenn es nicht aus einem funktionalistischen Blickwinkel argumentiert und als Teil des Optimierungsdispositivs operiert. Dass ein befreiungsphilosophisches oder -theologisches Anliegen und ein deutlich systemkritischer Impetus die herzliche Pädagogik antreiben, belegen die Ausführungen zur Referendarausbildung, unter der viele, wenn nicht gar alle Lehramtskandidaten litten und leiden (Kap. 3.1): Kein Akteur des Schulsystems darf dazu angeleitet werden, sich für die symbolische Ordnung Schule zu opfern oder zu instrumentalisieren. Es gibt keinen großen Anderen, keinen Garanten der Ordnung. Dieser „Gottesfunktion“ von Systemen, dem Ausbilden von Mechanismen der Überich-Unterdrückung, in denen man von Ideal-Perspektiven beobachtet wird, gilt die theologische Kritik. Der Dienst- oder Treuegedanke mündet häufig in ein Sich-Verbrauchen für die Institution; der Blick auf die Leere der Ordnung und ihre obszöne perfektionistische Unterseite führt zum notwendigen Ikonoklasmus, zu einem Sturz der „falschen Götter“, einer theologischen wie pädagogischen Ideologiekritik. Schon in der psychoanalytischen Kur ist es gemäß Žižek am schwersten, die Nichtexistenz des großen Anderen auszuhalten. Die Abfolge der Kapitel entspricht im Wesentlichen der Chronologie ihrer Entstehung. Hintergrund und Anlass zur Kommentierung der gymnasialen „Lehrergrundausbildung“ waren 46
2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
Berichte von Freunden, die unter dem System sehr gelitten haben, als der Autor noch nicht im Schuldienst war. Die Schilderungen konnten später um eigene Anschauungen ergänzt werden. Mit den im dritten Kapitel versammelten Texten wurden unterschiedliche Adressatengruppen angesprochen: Auf Kapitel 3.1, das sich als Trostschrift an betroffene Kollegen wendet, folgt eine Reihe von Texten, die Schüler adressieren. Mit der kurzen Betrachtung über das Spicken wurden Schüler um Reaktionen gebeten, die hier nicht en détail wiedergegeben sind. Zuweilen gaben die Schüler zu bedenken, dass sie sich nicht mehr so recht über Noten freuen könnten, die wesentlich erspickt sind. – Eine Kommentierung der Intervention findet sich im Abspann des Kapitels. Ausgehend von der häufig gestellten Frage „Sie glauben doch an Gott?“ – insbesondere von muslimischen SchülerInnen, die im Ethikunterricht eine klare Einordnung ihres Lehrers intendierten und eine eindeutige Positionierung erwarteten – hat sich eine längere Antwort entwickelt, die im Oberstufenunterricht verschickt und zur Diskussion gestellt wird (4.1). Die Frage ist zunächst als Ausdruck einer Suche nach Vergewisserung eines Vertrauensfundaments zu interpretieren. – Der Text sollte aufgrund seiner Länge die Fragenden keineswegs abschrecken, wohl aber verdeutlichen, dass die Frage nur sinnvoll diskutiert werden kann, wenn sie auf ihre komplexen Lösungssuggestionen, ihre verfängliche Perspektivität hin ausgeleuchtet wird. Nur auf dem paradoxen, ikonoklastischen Hintergrund der Aussage Bonhoeffers „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“ scheint eine Antwort möglich zu sein: Theologische Positionen – und Gleiches gilt für die pädagogische Ausgangssituation, das ist ihr gemeinsames Fundament und ihre Verwobenheit – bedürfen einer Kritik; das Verobjektivierungs-, Fixierungs- und Sicherheitsbedürfnis bedarf dringend der Revision. Der Traktat „Religion ohne Religion“ wird sekundiert von einer Ergänzung; die interkulturellen Optionen, Fragen der Hybridisierung erforderten seine Ausweitung (4.4). Ebenso runden eine kurze Auto-Meditation (4.2), eine Reflexion über den Mobilisierungskult und den Fetisch Auto, sowie die Soteriologie von Tom Tykwers „Heaven“ (4.3) das Kapitel ab. In Kapitel 5 sind Beiträge zur Adventszeit und zu Weihnachten gesammelt. – Die Symbolik des Fests eignet sich sehr gut zur Explikation des herzpädagogischen Gedankens. – Das Kapitel beginnt mit einer humoristischen Abhandlung über das Ohr als weihnachtlich gestimmten Körperteil. Der Text war Gegenstand einer Präsentation im Rahmen einer kollegium-internen Weihnachtsfeier, es handelt sich um eher wohlige, unbekümmert-unseriöse Ausführungen, die auch als Präliminaria zu religionsphilosophischen Grundüberlegungen dienen können und die Grenze von Gläubigen und Ungläubigen aufweichen. Drei weitere Weihnachtspräsentationen, Herz-Kunst-Projekte, werden vorgestellt: ein Zitatbaum, ein alternativer Weihnachtsbaum sowie eine Krippe. Weihnachten wird in einer nicht leicht adaptierbaren Form entmythologisiert. Dass sich das Weihnachtsfest für eine theologische Intervention an Schulen anbietet, soll in der kurzen Umschreibung der Projekte deutlich werden. Die Einführung in christliche Essentials 47
2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
oder säkulare Versionen davon kann weiter konkretisiert werden. Die Weihnachtsinstallationen werden als „Passage“ unter der Rubrik „Kammerflimmern“ vorgestellt. Der Diskurs begibt sich hier auf künstlerisch-ästhetische Abwege, die die religionstheoretischen Abhandlungen intermittieren. Während das Ohrprojekt zu Beginn einer Anstellung an einer neuen Schule abgefasst wurde, wendet sich der Hauntology-Beitrag (5.4) offen und klar gegen den Unsinn von externen Controllern, die den Geist der Schule fassen/fixieren wollen. Den Kontext dieses Beitrags bilden eine damals virulente Leitbild-Diskussion und externe Experten-Voten, die im Bannkreis der Verobjektivierung und Standardisierung verbleiben. Goethes Aussagen zum Thema Geist/ Geister werden dekontextualisiert und in eine Ghostbuster-Geschichte eingefügt. Es kann leicht dargelegt werden, wie sehr die philosophische/kulturwissenschaftliche Geist-Thematik die Qualitätsmanagement-Programmatik immer schon ad absurdum führt. Es folgen in Kapitel 6 acht Abiturreden, zum Teil im „Director’s Cut“-Format, in der Abfolge der Abiturfeiern der letzten Jahre. Die Abiturienten haben jeweils um einen Redebeitrag gebeten. Der Adressatenkreis der Texte erweitert sich hier erneut; bei den Abschlussfeiern sind ja auch Eltern und Anverwandte der Schüler anwesend. Das feste Zeitarrangement der Feiern erfordert immer schmerzhafte Kürzungen, die in der gedruckten Version unterbleiben können. Abiturreden bleiben auch in ihrer gedruckten Form Teil der schulischen Inszenierung, des festlichen Ritus einer finalen Selbstzelebrierung. Es ist klar, dass sich neben den Schülern natürlich auch die Schule feiert. Die Reden wollten aber keine bloßen Sonntagsreden sein, der Abschlussball wurde vielmehr als Gelegenheit begriffen, einen letzten schulischen Bildungsbeitrag zu lancieren. Abiturienten, die zuvor schon etwas Abstand zur Schule gewonnen haben, sind auch an ihrem Abschlussabend für ungewöhnliche oder komplexere Gedankengänge offen. Der Autor hatte schon zu Studienzeiten eine pädagogische Hausarbeit mit dem pathetischen Titel „Schule vom Zwang zur Freiheit“ verfasst, ohne der Illusion zu erliegen, dass die Theorieansätze umgesetzt würden oder Schüler davor zu bewahren wären, sich ein allzu starres Weltbild anzueignen und den schulischen Sicherheitsrahmen mit der Ordnung der Dinge zu verwechseln. Die Beiträge in Kapitel 6 sind aber von dem Impetus getragen, die Weite des Bildungshorizonts aufzuweisen und vielfache Denkmöglichkeiten aufzuzeigen, die sich an Lebenssituationen entzünden und diese neu perspektivieren. Das vorletzte Kapitel zielt auf eine zeitanalytische oder philosophische Einordnung schulischer Phänomene. In Kapitel 7.1 wird das Qualitätsmanagement als Reglement eines ÜberichPerfektionismus und Spielart einer zu dumpfen fetischistischen Bildungsleistungs-Religion kritisiert. Danach soll unter 7.2 nochmals das Verhältnis von Theologie und Pädagogik bestimmt, die Nähe von beiden beschrieben werden, die zuvor schon unter 2.2 eher emphatisch beschworen wurde. Auch hier ist die Annahme leitend, dass in der heutigen Schulsituation nicht so sehr der Rekurs auf Verordnungen, Qualitätsreferenzrahmen oder pädagogische Modelle helfen, 48
2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
sondern philosophische Theorie, kulturtheoretische Überlegungen, die durch unerschrockene Beobachtungen irritieren und zu weiteren ungewöhnlichen, befremdlichen Gedanken anleiten; alle pädagogischen Neuansätze werden sich hieraus ergeben. Ivan Illich fordert in seinem letzten Dialogband eine Besinnung auf das Vernakuläre, das Hausgemachte; die Beiträge versuchen diesem Aufruf zu folgen. Im Herzbeutel-Anhang (Kapitel 8) finden sich ein Entwurf zu einem alternativen Leitbild, zwei kleine Redebeiträge sowie eine kurze „herzpädagogische Rezeptur“. Die dort geäußerten Gedanken spiegeln das zuvor entwickelte herzpädagogische Projekt in programmatischer Weise. Ein Nachwort schließt den herzpädagogischen Einblick ab.
Die Unabweisbarkeit des Innen – Zur Eigenart des Ein-Blicks „Falls wie Heraklit schrieb, ‚der Blitz das Universum hervorbringt‘, können wir vielleicht sagen, dass die Wunde den Menschen hervorbringt.“ – Edmond Jabès25 „Everything is inside.“ – Subodh Gupta26
Innereien in Augenschein zu nehmen, mag im vegetarisch-veganen Auge Abwehrreaktionen erzeugen.27 Innereien kommen bei Autopsien, bei anatomisch-pathologischen Untersuchungen zum Vorschein. Wie die etruskische Leber oder ähnliche antike Artefakte verdeutlichen, nahm die kultische Wahrsagerei von der Beschau der Innereien ihren Ausgang. Haruspices versuchten sich ausgehend von dem Blick in Tiereingeweide ein Bild von der Zukunft zu machen. Die Wiener Aktionskunst, Hermann Nitschs Orgienmysterien-Theater und besonders Günter Brus’ öffentliche Selbstverletzungen, schreckten seinerzeit viele ab. Endoskopien, die etwa bei Medienkunst-Projekten Stelarcs vorkommen und dann die Opazität der Körper aufheben und transparent machen wollen, setzen inzwischen bildgebende Verfahren und das Internet ein.28 Die dargebotenen Verschiebungen der Grenze von Öffentlich und Privat bieten das Reale aber in einer gezähmten Gestalt. Der Betrachter gewöhnt sich daran …
Jabès, E., Verlangen nach einem Beginn, Entsetzen vor einem einzigen Ende, Stuttgart 1992, S. 19. Ausstellungsmotto im MMK Frankfurt 2015. 27 Vor allem wenn man bedenkt, dass in Limburg schon das Glockenspiel „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ den Unmut einer Veganerin so groß hat werden lassen, dass sie den Bürgermeister zum Aussetzen des Kinderliedes brachte (Eckenfels, C., „Nichtveganes Kinderlied“ getilgt. Limburger Glockenspiel jetzt ohne „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, aus: FR vom 11./12.2.2017, S. F19). 28 Ferraris, M., Die Ästhetik des Anorganischen, Wien 2001, ist hiervon auch berührt. 25 26
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Der Begriff „Innereien“ behält einen seltsam unappetitlichen Klang. Žižeks Warnung scheint daher angebracht, dass der, der die Wahrheit nahe zu betrachten und zu verfolgen beabsichtigt, erfährt, wie sich hier Erhabenes in Banales und Ekliges verwandelt. Andererseits zeigt sich in Konfrontation mit dem Innen die Fremdheit des Eigenen, seine Extimität. Das Fremde ist nicht nur außen zu vermuten, das ist bereits eine Projektion; der Blick nach innen erschließt vielmehr einen „fremden Kontinent“, der nicht angeeignet werden kann. a. Der Blick nach innen entdeckt ein dezentriertes Subjekt, das seine Fremdheit mit sich kaum verbergen kann. (Die subjekttheoretischen Thesen Žižeks werden später noch ausgeführt.) Zur Unabweisbarkeit des Innen gehört aber auch die Einsicht, dass der Mensch sich immer in Innen-Konstellationen aufhält, dass er überlebensnotwendig Bergungssphären braucht. In seiner Sphärologie legt Sloterdijk überzeugend dar, dass den Menschen nicht der existenzphilosophische heroische Ausstand ins Nichts, das einzelkämpferische Heroentum des einsamen, von anderen isolierten Individuums kennzeichnet, sondern primär das Verwobensein mit anderen. Das Verlassen und der Verlust von Bergungssphären führen zu einem Sich-Einnisten in andere „haltende Umgebungen“. Die Irritation beim Wechsel der „Behaglichkeitszonen“ führt zu Krisen. Zur Morphologie der Innenräume, die der Mensch bewohnt, gehört, dass sie Klimasphären, Biotope mit je eigenen Bindungsmöglichkeiten, darstellen und als Teil des Ichs erlebt werden. Ernst Bloch spricht ebenfalls bereits davon, dass das Innen dunkel ist; das, worin ich eingebunden bin, ist mir nicht in gleicher Weise verfügbar.29 Hermeneutik zielt unter anderem auf die Explikation des Vorverständnisses, eine Reflexivierung des Inseins, um gerade den implizit-wirkmächtigen Strukturen nicht zu erliegen. – Die Aufklärung über die Binnenstruktur der Existenz verweist auf surreale Räume und Situationen; das Subjekt erweist sich selbst als ein leerer Resonanzraum, der sich vielfach hysterisieren lässt; der Eigenstand des Subjekts ist nicht so mächtig; es scheint zunehmend fragil und sozialpflichtig. Theologische Aufklärung beinhaltet, die Existenz des großen Anderen der Ordnung zu hinterfragen, ihren Totpunkt nicht zu ignorieren, d. h. ihr Nichtfunktionieren nicht weiter durch eigene Opfer zu kaschieren und so zu einer Perpetuierung beizutragen. (An Gott glauben heißt nicht an das Sein oder an die Ordnung glauben.) Das Projekt des Sturzes von hohlen Götzen ist theologischerseits nur zu begrüßen. So mag hinter der progredienten Ungläubigkeit gegenüber Noten, der Institution und dem großen Anderen der Institution das klarer hervortreten, was verdient, Gegenstand des Vertrauens oder Glaubens zu sein. Žižek würde vermuten, dass hinter zynischen Überlegenheitsgesten eine tiefe Bindung an die Ordnung steht: Die Ordnung darf sich für den Zyniker nicht ändern. Man braucht sie zur Selbstprofilierung. 29
Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. (1. Aufl.) 1996, S. 13: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel …“
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
Žižek schlägt vor, man sollte sich also in Zeiten der „Vielglauberei“ monotheistisch auf das Wesentliche konzentrieren. Er ist der Auffassung, dass nur Theologen und Analytiker, die, die sich einer psychoanalytischen Kur unterzogen haben, die Nichtexistenz des großen Anderen aushalten. Zynismus ist also keine Lösung, ebenso nicht die Flucht in Fetischismen: Es gilt also einer probaten und häufig praktizierten fetischistischen Aufspaltung im Sinne von „Ich weiß ja, aber trotzdem …“, „Es scheint zwar alles irrsinnig, es muss aber doch weitergehen“ entgegenzutreten. Žižek macht diesen Mechanismus als das aus, was unseren Alltag vollends bestimmt. Er kritisiert die Öko-Schizo-Haltung „ich weiß ja, dass es das Klima erwärmt, aber ich fahre trotzdem“. Der Fetischist geht davon aus, dass die Dinge in Eigenregie in Ordnung kommen – ganz ohne Beteiligung des Subjekts. Die mitmenschlichen Vertrauensmomente, Sensibilität hinsichtlich der Spur des Anderen und der Frage nach der unmöglichen Gerechtigkeit oder der Möglichkeit von politisch-religiösen Akten sind theologische Themen jenseits des Projekts einer Zeitdiagnose und Ideologiekritik. b. Innereien von Institutionen sind uns fremd, wenn sie von dem gut verdeckten Binnenbereich nach außen hervorgeholt werden. Der veränderte Blickwinkel auf die Dinge kann schon als unerlaubter Einblick in das Geheimnis der Organisation empfunden werden. Auf diese Weise erscheint die Schule seltsam vielschichtig und polyphon, wenn ihre Organisationsebenen näher unter die Lupe genommen oder nur gleichzeitig nebeneinander gestellt werden: Die Arbeit in der Klasse ist nur eine Dimension des Lehrerberufs, der Lehrer partizipiert aber auch an der Politik der Schulverwaltung über Entscheidungen in Gesamtkonferenzen, deren Tragweite er zuweilen nur schwer abschätzen kann. Die interessanten sozialen Prozesse und Psychodynamiken des Lehrerzimmers oder am Rande von Konferenzen können hier nicht im Einzelnen analysiert werden. Die Mechanismen des Sozialen im Lehrerzimmer, die obszöne Unterseite der Organisation, ihr eigenwilliges Genießen, werden bereits in Lehrerromanen, etwa von Hermann Burger sowie Markus Orths, oder Filmen wie „If “ (Lindsay Anderson, 1968) und „Der Wald vor lauter Bäumen“ (Maren Ade, 2005) thematisiert. 30 Man darf hier der treffenden Einschätzung Žižeks folgen, dass Begegnungen mit dem Realen fiktionalisiert werden müssen, um ertragen werden zu können. In Fiktionen müssen die Spuren oder nach Žižek der harte Kern des Realen gesucht werden. Es ist also zu bezweifeln, ob ein Lehrerzimmer-Report oder ein „Tagebuch eines pädagogischen Professionellen“ ohne Schutz des literarischen Genres auskommen kann. Unter dem Siegel der beamtlichen Schweigepflicht müssen ohnehin Dienstgeheimnisse oder vertrauliche Konferenzinterna in einem Raum verbleiben, der der Öffentlichkeit unzugänglich ist. Der Ruf nach einer Wikileak-Bildung, einem
Vgl. Burger, H., Schilten, Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz, Zürich Frankfurt 1976; Orths, M., Lehrerzimmer, Frankfurt a. M. 2003. Oder auch: Kempowski, W., Unser Herr Böckelmann, Hamburg 1979; Apel, F., Das Buch Fritze, Frankfurt a. M. 2003.
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Dossier mit Enthüllungsgeschichten, wird daher nicht so schnell verhallen. (Die vorliegende Veröffentlichung von Texten für Schüler oder öffentlichen Redebeiträgen begnügt sich damit, systemische Funktionsweisen zu analysieren; die konkrete Situation an bestimmten Schulen steht nicht im Fokus. Es geht in der Notion Kants um den „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“.) Als eine „unheilige“ Innerei und als in jeder Hinsicht sehr belastend und deformierend wird das Referendariat empfunden. Die Arbeit an dem Kapitel über das Referendariat entstand schon vor fünfzehn Jahren in einer Zeit, als lediglich Berichte über Ungerechtigkeiten, Unmutsäußerungen von Freunden den Autor aufwühlten. Die Unkultur des Verschweigens und bloßen Durchhaltens sollte deutlich gemacht werden. Es ist davon auszugehen, dass sich unterdessen an den Strukturen oder dem Leiden der Referendare nichts Wesentliches geändert hat. Referendariat und Lehrerausbildung warten immer noch auf eine umfassende Kritik, die tatsächlich aus der Sicht der Betroffenen/Leidtragenden argumentiert. Dass in der Lehrerausbildung extreme Belastungen auftreten und zum Teil absurde Verstellungen vonnöten erscheinen, spricht nicht für den Berufsstand. Die Art und Weise, wie sich die Berufsgruppe reproduziert oder ihren Nachwuchs regeneriert, erscheint schon so überholt, dass gegenwärtige kleinere Umstrukturierungen wie Leichenfledderei erscheinen. Es erinnert viel an Brechts „Legende vom toten Soldaten“, der nachts aus dem Grab geholt und zum Marschieren gebracht wird, nachdem mit dem Weihrauch des Pfarrers der Verwesungsgeruch notdürftig übertüncht und mit viel Tamtam der Tauglichkeitsbescheid überbracht wurde. In ähnlicher Weise schreitet das Referendariat munter voran und jeder, der Lehrer werden will, lässt es über sich ergehen, unterzieht sich überkommenen Ausbildungsriten, einem beamtlichen Selektionsmechanismus und Drillvorgang, der Angst generiert, mündige Offenheit als ungeschickt erscheinen lässt und nicht selten die Grenzen des persönlichen psychisch und physisch Erträglichen überschreitet. Der Lehrer spielt in Lehrproben den positiven und ideenreichen zugewandten Lehrer, wobei er selbst energielos und ausgepowert nichts mehr bräuchte als endlich ein paar Stunden Ruhe. Statt einer Aussicht auf eine Stellenzusage bleibt die Ungewissheit der Bewährung, der extreme Erfolgsdruck in einem endlos erscheinenden Lehrproben-Marathon. Man kann fragen, ob das Bewusstsein für die fraglos große Verantwortung Schülern gegenüber auf diese Weise „gebildet“ werden muss. Das Buch ist den Renegaten des Schulsystems gewidmet, den unbekannten Kolleginnen und Kollegen, die immer schon an der Sinnhaftigkeit der Institution gezweifelt und an deren Auswahlmechanismen gelitten haben. Andere Institutionen kennen auf der Unterseite ihrer offiziellen Selbstdarstellung Selbsterniedrigungsrituale; bei der Bundeswehr wurden Ekelrituale bekannt. Davon ist man im Bereich der Schule zum Glück weit entfernt. In dem Dokumentarfilm „Master of the Universe“ von Marc Bauder (2013) berichtet der Ex-Banker Rainer Voss von quasi-militärischen, hierarchischen Strukturen in der Bank, vom Austesten der Belastbarkeit; so wird unterschieden, ob man One-Nighter oder schon Two-Nighter ist, also die entsprechenden Nächte durchgearbeitet 52
2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
hat. Eine ähnliche Form der Selbstausbeutung scheint in der Schule praktiziert zu werden; Kollegen korrigieren ihre gesamten Herbst-, Weihnachts- oder Osterferien hindurch Klausuren; und das schon über Jahre hin. Überlastungsanzeigen zu formulieren – der Beamte hat eigentlich die Pflicht dazu, Überlastungen zu melden –, wird erst dem empfohlen, der lebenszeitverbeamtet ist: Die Selbstausbeutung, die schon in der Ausbildung gefordert wird, hat damit auch einen festen Platz im Schattenleben der Institution. In Lehrproben darf man sich nach der Stunde immer auch selbst kritisieren und schuldig bekennen. Die Kritik im Nachhinein von Beobachterseite, die es immer besser weiß und im Nachhinein den richtigen, besseren Weg weist, dabei mitunter auch Persönlichkeitsdefizite ausmacht, ist nicht selten von Referendaren als deplatziert-übergriffig erlebt oder als gemein bezeichnet worden. Derartige Situationen können nur als Falle erlebt werden, der man nicht entkommt, wenn man sich nicht nach zaghaften Versuchen der Selbstverteidigung reuig an die Brust schlägt und der übermächtigen Kritik zustimmt (vgl. Kap. 3.1). Der Dokumentarfilm über drei Referendare „Zwischen den Stühlen“ von Jakob Schmidt von 2016 stellt die Rahmenvorgaben der Lehrerausbildung nicht deutlich genug in Frage. Die Kritik am Referendariat, wie sie hier abgedruckt ist, wurde von einigen Referendaren als zu wenig radikal oder zu harmlos eingestuft. Sie forderten, das Ausmaß der Abhängigkeit von seinem Fachleiter mit drastischeren Vokabeln zu beschreiben und noch deutlicher zu zeigen, wie tief hier die Systemperspektive in das Referendar-Herz eingesenkt werden soll. „Freut euch, wenn eure Ausbildung freundlicher war“, wäre eine Kommentierung gegenüber denen, die anderes berichten können, frei nach dem Leitwort aus Tilmann Mosers „Gottesvergiftung“. Es scheint eine Systemeigenschaft von Schule zu sein, durch ihre behördlichen Vorgänge und offiziellen Riten ein Grundgefühl extremen Ausgeliefertseins bei allen Beteiligten auszulösen. Der Bruch zu dem ansonsten pädagogisch-vermittelnden Grundton, der Umschlag in eine anstaltliche Ermittlungssituation, ist jederzeit möglich. Gerade da Kafka ein so zentrales Thema im Deutsch-Unterricht darstellt, steht das Erfordernis im Raum, auch an den durch die schulische Organisation im Individuum ausgelösten Traumata nicht vorbeizusehen und sie angemessen zur Sprache zu bringen. – Wie noch häufiger deutlich wird, gehen von brisanten Lehrinhalten die entscheidenden kritischen Fragen an die institutionalisierte Form der Vermittlung und den Rahmen der Schulorganisation aus. c. Das Projekt, das zwischen Theologie und Pädagogik changiert, fühlt sich den philosophischen Gewährsleuten verpflichtet, die eine theologisch grundierte Erkenntnis- oder Gesellschaftsproblematik beschreiben. Adorno meint etwa, dass nur auf dem Hintergrund der Erlösungshoffnung Erkennen möglich ist. Für ihn ist Erkennen ohnehin die Liebe zum Unterdrückten Besonderen.31 Aber auch die Werke von Žižek, Lévinas oder Latour bilden Adorno, Th. W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 283 (Nr. 153). Für Adorno bedeutet Erkenntnis: die Dinge im Lichte der Erlösung sehen, in
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zentrale Referenzpunkte. Schulische Pädagogik muss, wenn sie nicht neutrale Systemkälte reproduzieren will, empathisch die Rollenklischees hintergehen oder zu brechen versuchen. Die Äußerungen der Schüler oder auch der Kollegen sind in bestmöglicher Weise und in der Art aufzufassen, die den Adressaten am ehesten infrage stellt. – Konferenzen könnten vielfach offener und entkrampfter ablaufen, wenn man die hermeneutische Regel sich zu eigen machte, die sich bereits in den ignatischen Exerzitien findet.32 Auf alle Fälle ist, wie Walter Benjamin in seinen Geschichtsthesen meinte, die Tradition den Konformisten zu entreißen, die sich ihrer bemächtigen wollen und eine Überlieferung unmöglich machen, die auch ihr provokantes Potential und ihre Vielfalt und Brüchigkeit thematisiert. Für Lévinas kann Pädagogik nur als Begegnung verstanden werden, in der die Spur des Unendlichen vom Gesicht des anderen gelernt wird. Der höchste Lerngegenstand ist also die Sensibilität für das Gegenüber, eine fortgesetzte Fähigkeit zur Empathie, die sich nicht durch Sachzwang-Argumente oder Systemnotwendigkeiten einschränken lässt. Der Konflikt zwischen Pädagogik und Verwaltung ist also vorprogrammiert oder schon vorentschieden. Die Option ist klar, die unmögliche Wette der Pädagogik gilt nach wie vor. Die theologisch dimensionierte Thematik der Inklusion des Ausgeschlossenen, Verfemten, Randständigen, Beiseite-Gelegten ist pädagogisch immer neu einzulösen. d. Innereien werden hier als zunächst unverdauliches Nebenprodukt eines Sektionsvorgangs oder einer Schlachtung vorgestellt, sie können nicht ohne Weiteres verzehrt werden und bedürfen einer speziellen Aufbereitung. Auch „schulische Innereien“ werden nur von hartgesottenen Lesern verkostet. Die Anleitung zur morphologischen Bestimmung des Gerichts oder auch zur philosophischen Einordnung der Materie erhält man möglicherweise bei Roland Barthes, der über das Roastbeef, den Verzehr von rohem Fleisch als Nationalgericht der Franzosen in den „Mythen des Alltags“ sinniert.33 Im Folgenden geht es um die zuweilen unangenehme Beschau der Innenwelt des Lehrbetriebs. Hierzu ist kein spektakuläres oder eventhaftes Öffnen der Bauchdecke nötig; kein brutaler Eingriff beabsichtigt das Herausquellen der Gedärme. – Schmerzlose, öffentliche Endoskopien des Verdauungstraktes des medizinischen Lehrkörpers sollten bereits zu einer Entskandalisierung der endoskopischen Untersuchungsmethode beitragen, kulturelle Behandlungstabus aufbrechen. – Der hier vorgeschlagene nähere Blick in das Innenleben der schulischen Institution und ihrer Rituale ist auch deshalb undramatischer, da etwa bei näherer ihrer Erlösungsbedürftigkeit. Žižek folgt dieser Intuition. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, Regensburg (2. Aufl.) 2008, S. 37, Nr. 22: „Dass jeder … bereitwilliger sein muss, die Aussage seines Nächsten zu retten, als sie zu verurteilen, und wenn er sie nicht retten kann, erkundige er sich, wie jener sie versteht. … und versteht jener sie schlecht, so verbessere er ihn mit Liebe.“ 33 Barthes, R., Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. (16. Aufl.) 1994, S. 36–38. 32
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Betrachtung offizieller Abiturreden deutlich wird, wie viel Pathos die Schule braucht, wie viel Theologie in den Schulprogrammen schlummert. Das hier vorgeschlagene phänomenologische Unternehmen folgte aber einem frommen, utopischen Wunsch, wenn es hoffte, seinem Untersuchungsgegenstand nicht wehzutun und schon bei der Untersuchung kurativ eingreifen zu können. Neukontextualisierungen sind den Lesern längst durch systemisch-konstruktivistische Betrachtungen vertraut, wo sie Veränderungen einleiten wollen; in systemischer Beratung von Institutionen soll dies ja gerade auch mit Großgruppen passieren. Diese Verfahren der Deterritorialisierung/Kontextualisierung können natürlich auch im Raum der deleuzianischen Schizoanalyse geschehen, die keine einfachen Problemverschreibungen vornimmt, sondern stärker mit dem Wahnsinn und Abgrund der Systeme konfrontiert. Deleuze bietet eine Anleitung zur verstärkten Devianz, nicht zur gefälligen Reform; Žižek bemerkt, dass dessen Theorien längst vom israelischen Geheimdienst benutzt werden, um den palästinensischen Widerstand zu brechen.34 – Es zeigt sich auch an anderen Beispielen, dass Neuerungen – oder Veränderungsvorschläge bereits – häufig negativ wirken; und so ist nach Žižek zu erwägen, ob Aktionismen bestehende Machtkonstellationen eher zementieren als abbauen. Es ist demnach in Bezug auf die Verhältnisse im Referendariat damit zu rechnen, dass das System die Strukturen seiner Herrschaftsausübung schneller verfeinert, als es zu einer Depotenzierung gezwungen werden kann. Man muss die Rieseninstallation von Thomas Feuerstein „Manna-Maschine III“, eine Anlage, die über mehrere Räume und Stockwerke hinweg Flüssigkeiten leitet, Schleim produziert und in Dosen im Kühlschrank verstaut, und seine „Psychoprosa“35 in Augenschein genommen haben, um die Selbststabilisierungstendenzen eines großen Systemmechanismus zu begreifen. Mit seiner Aussage, dass das Sein Schleim sei – Schüler hantieren sehr undifferenziert bis heute mit diesem Ausdruck –, deutet Feuerstein an, dass das Involviertsein in ein System und die Reproduktion seiner Akzeptanz, die Mitwirkung an seinem Erhalt unausweichlich sind. Die Schleimzeit, Schleimokratie lässt natürlich auch denjenigen, die sich distanzieren wollen, keine Gelegenheit zu entkommen. Feuersteins Installation verschärft die Frage nach wirksamen Reformen, Subversionen; die Identifizierung/Universalisierung von Sein als Schleim provoziert auch die Frage nach Universalisierungen, die handlungsfähig machen und Auf- oder Umbrüche einleiten. „Ne change rien, pour que tout soit different“, formulierte J.-L. Godard. Einen ähnlich gelagerten Ratschlag gibt Žižek, wenn er meint, es sei an der Zeit, intensive Reflexion zu betreiben, wir seien in einer Situation wie Lenin, als er sich zur Hegel-Lektüre in die Schweiz zurückzog.36
Culp, A., Dark Deleuze, Hamburg 2017, S. 9, sieht das als nicht wohlwollende Interpretation an. Thomas Feuersteins „Manna-Maschine III“ im Frankfurter Kunstverein vom 29.05.–30.08.2015. Vgl. Hietholzer, M., Unaufhörlich tropft der Schleim aus den Gefäßen, in: FAZ vom 29.5.2015, S. 38. 36 Žižek, S., Quer durchs Reale. Gespräche mit Fabien Tarby, Wien 2012, S. 45. 34 35
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
(Bekanntlich fand Lenin in Zürich unweit der Surrealisten eine Heimstatt.) „Der Anfang aller Veränderung, der erste Schritt, besteht darin, der falschen Aktivität ein Ende zu setzen. … Das, was neu ist, kann nur als Wiederholung auftreten. Denn, um das Neue zu erkennen, müssen wir paradoxerweise dem treu bleiben, was im bereits Vorhandenen nicht neu ist.“ 37 e. Am Ende seines zweiten Buches mit dem Titel „staat sex amen“ schreibt Beat Gloor: „Das einzig Konstante sei die Veränderung, liest man ab und zu. Schön wär’s. Dann wären wir alle Trendforscher. Aber leider ist auch die Veränderung nicht immer konstant. Und die Veränderung der Veränderung haben die meisten nicht im Repertoire“.38 Was Beat Gloor meint, gilt vor allem für den Bereich der Innereien: Sie lassen sich nicht leicht ändern, am wenigsten zu Ansehnlichem-Vorzeigbarem verformen. Eine traurig-missmutige, kafkageschulte Ergänzung zu Gloor wird die Widerständigkeit und das Persistieren des Unliebsamen betonen und könnte lauten: „Am Ende bleiben Pseudoliberalität, Panik, Beschämung. Am stärksten ist aber die Beschämung.“ Oder es ist im Sinne von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“ auf den Trost guter Theorien zu setzen, nicht als Ruhekissen, sondern als ständige Inspirationsquelle: die Akttheorie Žižeks, die Theorie der Liminalität von W. V. Turner, Badious Theorie des ethisch-politischen Ereignisses, G. Steiners leise Reflexion des Meister-Schüler-Verhältnisses, Nancys und Lévinas’ Phänomenologien, aber auch Zeitdiagnosen von Spreen, Fleury, Bröckling, Charim u. a. Diese Ansätze ebnen den Weg für ein Unterrichten, das jetzt schon ganz anders verläuft. Eine veränderte Schule wird über die Treue zu den Inhalten vermittelt. Und so wird auch hier auf die Macht ungewöhnlicher Gedanken gesetzt. Man könnte das Plädoyer einer herzlichen Pädagogik auf dem Hintergrund des Mottos der „Kopf-Herz-Hand“-Pädagogik Pestalozzis als eine bloße Reduktionbestrebung ansehen; jedoch scheint eine cordiale Ausrichtung im Kontext kalter Quantifizierung und gehetzten MethodenAktionismus opportun. Es geht nicht um eine Neuauflage der theologischen Vormundschaft und Übergriffigkeit gegenüber der Pädagogik.39 Die Berücksichtigung theologischer Perspektiven in der schulischen Pädagogik könnte – so die These – heilsam wirken. Theologie scheint der probate Katalysator zu sein, um die kurrente Fremdbestimmung der Pädagogik durch marktgängige Ideologien der Quantifizierung zu beenden. Schließlich gehört es auch zu dem endoskopischen Blick, die Theologie-Imprägniertheit der pädagogischen Theorie herauszustellen. „Den Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ (Schleiermacher) lässt sich mit Lessings
Ebd., S. 113. Gloor, B., staat sex amen. 81 Sprachbeobachtungen, Zürich 2001, o. S. 39 Vgl. Osterwalder, F., „Kopf Herz Hand“ – Slogan oder Argument?; in: Oelkers, J., Osterwalter, F. (Hg.), Pestalozzi – Umfeld und Rezeption. Studien zur Historisierung einer Legende, Weinheim Basel 1995, S. (338–371) 366. Der Autor gesteht dem von pädagogischen Mythen überfrachteten Slogan eine „pluridiskursive Wertigkeit“ (ebd., S. 341) zu. 37 38
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
Erkenntnis entgegnen, dass nicht alle, die ihrer Ketten spotten, schon frei sind (so der Tempelherr in Lessings „Nathan der Weise“, V. 2755).
Zur Ordnung der Zitate „Sucht nach Originalitaet ist gelehrter, grober Egoïsm. Wer nicht jeden fremden Gedanken, wie einen Seinigen, und einen Eigenthümlichen, wie einen fremden Gedancken behandelt – ist kein ächter Gelehrter. Das Hervorbringen neuer Ideen kann unnützer Luxus werden. – Es ist ein actives Sammeln – die Bearbeitung des Gesammelten ist schon ein höherer Grad der Thätigkeit. Für den ächten Gelehrten giebt es nichts Eigenthümliches und nichts Fremdes. Alles ist ihm fremd und eigenthümlich zugleich. … Der Gelehrte weiß das Fremde sich zuzueignen und das Eigne fremd zu machen. (Lernen und Lehren – Beobachten und Darstellen – Essen und Absondern.) Höheres Streben nach höherer Originalitaet – auch in der gelehrten Welt muss man lieben und wählen, um selbst existiren und sich selbst genießen zu können.“ – Novalis40 „Wahrheit besteht nicht in Beweisen, sondern im Zurückführen auf die letzte Einfachheit.“ – Antoine de Saint-Exupéry41
Von Walter Benjamin stammt die Idee eines Romans, der nur aus Zitaten besteht.42 Die hier abgedruckten Abiturreden verwirklichen – weitgehend unbeabsichtigt – diese Idee. Schließlich gilt
Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. H.-J. Mähl, Darmstadt 1999, S. 644. 41 Saint-Exupéry, A. de, zit. n. Böhmer, O. A., „Wenn ein Mensch richtig lebt, lebt er wie im Sturm“. Vor 60 Jahren starb Bertolt Brecht, der Meister der Einfachheit, in: FR vom 13./14.8.2016, S. 22f. „Die Schriftsteller! Sie rächen sich durch ein Buch. Das Leben rächt sich dadurch, dass es anders ist … Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muss mehrere haben, vier, viele! Er muss sie sich in die Taschen stopfen wie Zeitungen, immer die neusten, es lebt sich gut zwischen ihnen, man haust angenehm zwischen den Theorien.“ 42 Schock, R. (Hg.), Reden an die Abiturienten 1999–2015, St. Ingbert 2016, versammelt die Abiturreden namhafter deutschsprachiger Autoren, die in dem genannten Zeitraum im Saarland gehalten wurden. Die Autoren beziehen sich als Externe sehr stark auf ihre Schul-Erfahrungen. Themen wie Übergang, Lebensorientierung können auf diese Weise ohne ein intensives Zitieren aufgearbeitet werden. Diese Vorgehensweise ist einem Lehrer, den die Schüler kennen, verwehrt. Das macht die Idee Benjamins umso attraktiver. 40
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
es hier, noch einmal alle Register zu ziehen.43 Zitate dienen überdies als Verstecke, Einstiege in Labyrinthe. In Abiturreden, wenn es um Orientierungsfragen oder Lebensweisheiten geht, kann der Lehrer sich hinter Zitaten verbergen, er schickt große Namen vor; die eigenen Präferenzen müssen nicht allzu rasch in den Vordergrund rücken. So sind Ratschläge an erwachsene Schüler auch wohl nur auf dem Umweg über das Zitat zu unterbreiten; mit der Identifizierung der Herkunft eines Gedankens ist zugleich die Möglichkeit seiner Einordnung gegeben. Das schließt eine erneute Dekontextualisierung, den Bezug und Übergang zum nächsten Zitat, nicht aus. Mit Heine darf man annehmen: „Wo ein großer Geist seine Gedanken gelassen ausspricht, ist Golgotha.“ Das Zitat verlangt Entscheidung und Unterscheidung.44 Und da scheint es unangebracht, diesen neuralgischen Entscheidungspunkt bloß zu paraphrasieren oder durch Änderung des Wortlauts abzuschwächen. Das Zitat erleichtert dem Leser/Hörer die Rekombination mit anderen Gedanken, um das Neue in der Wiederholung zu fassen. Nach Taubes sind in jedem Buch die Sätze zu suchen, derentwegen es geschrieben worden ist.45 Diese „Hausaufgabe“ wurde hier sehr wörtlich genommen, wie die Vielzahl der Zitate andeutet. Das Zitieren bewahrt auch die Nähe zum Lesen. Und die Freiheiten eines Lesers sind bereits vielfach gepriesen worden. Andererseits stellen die Zitat-Bezüge immer schon mehr als ein äußeres Band dar. Ihnen wird zugetraut, das zu artikulieren, was das Subjekt bewegt. Wie Perec Listen über Listen anfertigte und sich selbst nur so beschreiben konnte, bringen auch Zitatsammlungen die Disparität und Vielschichtigkeit des Subjekts auf den Punkt; homogener ist das, was das Subjekt zusammenhält, das einigende Band, nicht darstellbar. In dem Kinderbuch „Gedankensammler“ von Monika Feth46 geht es um einen Mann, der wegen seines heruntergekommenen Aussehens und seines unansehnlichen Äußeren auch als Landstreicher eingeschätzt und wenig geachtet wird; wegen seiner seltsamen Lebensgewohnheiten gilt er als sonderbar. Dabei hat es sich der Mann zur Aufgabe gemacht, durch die Lande zu wandern und Gedanken einzusammeln. Er nimmt Ideen in seinen Rucksack nach Hause; dort reiht er sie vorsichtig auf, lässt ihnen Zeit und dann nachts lässt er sie frei und sie entfalten ihre Pracht am Himmel wie ein buntes Blumenfeuerwerk. Die schönen Formen und farbigen Gestalten zerstreuen sich und verschwinden dann wieder; Vgl. das Ende des Films „Smoke“ (von Wayne Wang, 1995). Der Dichter Paul Benjamin bescheinigt Auggie, dass er eine gute Geschichte zu erzählen weiß. Schließlich habe er auch alle Register gezogen, vgl. auch die Literaturvorlage: Auster, P., Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte, Reinbek (2. Aufl.) 2010, S. 47: „Er hat mich dazu gebracht, ihm zu glauben, und das war das Einzige, was zählte. Solange auch nur ein Mensch daran glaubt, gibt es keine Geschichte, die nicht wahr sein kann.“). Auggie ist der eigentliche Erzähler, der selbst keinen Ruhm haben will – ein Akt weihnachtlicher Substitution; der Lauterkeit des Schriftstellers ist es allein zu verdanken, dass er erinnert wird. 44 Unterscheiden ist gemäß Žižeks Hegellektüre ohnehin der Inbegriff höchster Macht. 45 Taubes, J., zit. n. Felsch, P., Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München (2. Aufl.) 2015, S. 210. 46 Feth, M., Der Gedankensammler, illustriert von Antoni Borantynski, Düsseldorf (5. Aufl.) 2006. 43
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ein neues Einsammeln oder Einordnen kann beginnen. Die Sammlung von Gedanken in dem Kinderbuch – wie wohl auch allgemein die Wiedergabe pointierter Zitate – erinnert an die Sammlung von Lichtfunken, den Tiqqun in der lurianischen Kabbala. Von ihm spricht auch der französische Autor mit dem gleichnamigen Pseudonym: „Der tiqqun ist die einzige der Revolution angemessene Vorstellung.“47 „Wir wollen weder einen vulgären Materialismus noch einen ‚verzauberten Materialismus‘, sondern einen Materialismus der Verzauberung.48 Die Zitate pluralisieren nicht nur die Wirklichkeitssichten, sie stellen Distanz zum zähen Fluss des Gegenwärtigen her: Sicher hält die Aussage Celans „Wenn man auf dem Kopf steht, hat man den Himmel als Abgrund unter sich“ nur eine sehr schnelle Deutung der Identität von Revolution und Tiqqun bereit, aber vielleicht erreicht sie eine erste Annäherung. Es steht des Weiteren in Aussicht, dass die Dichte der Zitate Reaktionsweisen geradezu erzwingt, eine Kompression erzeugt. Blanchot betont mit Mallarmé, dass „nichts so explodiert wie ein Buch“.49 Astrophysiker vergleichen die thermonukleare Kompression in einem beeindruckenden Bild: Der Innendruck der Sonne ähnele in etwa dem Gewicht der CheopsPyramide, die umgekehrt aufgepflanzt mit ihrer Spitze nach unten auf eine Stecknadel wirkt. Hoher Zitat-Druck führt – so das Buch-Experiment – ebenfalls zu Konfusionen. Eine Konfusion von Dichtung und Wissenschaft/Analyse kündigt sich schon in der Formulierung Hans Benders an: „Mein Gedicht ist mein Messer“. – Die Präzision der Poesie erfordert ein vermehrtes Zitieren: Nach Jabès ist eine Spur Gottes vernehmbar, wenn ein Wort klar wird.50 Ähnlich kann Novalis formulieren: „Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel.“51 Der Zitatbinnendruck verdeutlicht die Dringlichkeit der theologisch-pädagogischen Themen, er überschreitet die klare Grenzziehung von fremden und eigenen Themen: Das, was eine Öffnung erwirkt oder eine Neueinordnung bewerkstelligt, gilt im pädagogischen wie auch im theologischen Sinn als geeignet und passend. Wenn nach S. Eisenstein eine Nebeneinanderstellung von Bildern, der Schnitt, schon eine Neuschöpfung ist, dann verhält sich das ähnlich mit den Zitaten und Metaphern. Eine kombinatorische Kunst erlaubt es im besten Fall, neue Perspektiven zu öffnen.
Tiqqun, Theorie vom Bloom, Zürich Berlin 2003, S. 76. Vgl. auch die an Foucault anschließenden Analysen. 48 Ders., Anleitung zum Bürgerkrieg, Hamburg 2012, S. 110. 49 Blanchot, M., Das Buch des Desasters, München 2005, S. 15. 50 Jabès, E., Der vorbestimmte Weg, Berlin 1993, S. 98. „Der Sinn eines Wortes ist vielleicht nichts anderes als Offenheit für den Sinn. Das Wort ‚Gott‘ hat weder eine Bedeutung noch mehrere. Es ist die Bedeutung: das Wagnis des Sinns und sein Scheitern.“ 51 Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Hg. v. H.-J. Mähl, Darmstadt 1999, S. 274. 47
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
„Mit der Bildung und Fertigkeit / (Freyheit und Liebe ist Eins.) /des Denkers, wächst die Freyheit.“52
Für Alexander Kluge ist unter Bezugnahme auf Heiner Müller Poesie als ein Sammelvorgang zu verstehen.53 Zitate müssen nicht in einem Florilegium sorgsam aufgereiht werden. Die Zitate haben ja auch wie bei Baudrillard die Funktion der Irritation: Der Welt ist ihre eigene Unerklärbarkeit zurückzugeben, diese ist sogar noch zu steigern:54 „Die Anführungszeichen zulassen, weil wir das kryptische Leben nicht auf das Medium und seine Institutionen übertragen können. Die Institutionen – die Ämter, Stellen und Preise sind als objektive Setzungen nicht in der Lage, die kryptische Wahrheit aufzunehmen. Sie behaupten daher, nach formalen Kriterien zu funktionieren, was längst dazu geführt hat, dass die Beherrschung der formalen Kriterien wichtiger geworden ist, als die Kriterien selbst. Die Beherrschung der formalen Kriterien ist der Opportunismus, die Kompetenz, nicht die Qualität einer Sache, sondern die Präsentation der Sache zu perfektionieren. Daher ist der Preis für jeden Dichter eine Diffamierung, man stelle sich Hölderlin vor, wie er den Büchner-Preis empfängt (oder Büchner den Hölderlin-Preis)“.55
Für Trawny geht mit dem Zitat ein antiinstitutioneller Effekt, ein Angriff auf die üblichen Grenzen, eine Verflüssigung, einher. Auch mit Stuart Halls Dirty-thinking sind Kurzschlüsse zwischen Form und Inhalt zu favorisieren. Die Überlagerung von Theorie und Praxis gehört also zu den Konfusionen des Zitats. Das Zitat erlaubt eine Unterbrechung und ein Innehalten, eine Eigenzeit: Verstehen heißt nach Günter Figal, einen Gedanken anhalten können: „[Schopenhauers] Definition des Absoluten ist: dasjenige, wobei es uns beliebt hat, stille zu stehen.“56 Anhand der Zitate wird deutlich, dass das Denken im Modus der Montage voranschreitet. Die Kunst der Montage, die Art der Verknüpfung oder der Verdichtungsmodus, ist noch
Ebd., S. 645. Müller, H., zit. n.: Kluge, A., Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, S. 45. „Wenn das Poetische ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und Leidenschaft der Suche. Es geht um ein Sich-selbstzwar-vollständig- oder fast-vollständig-Einsammeln.“ 54 Baudrillard, J., Das perfekte Verbrechen, München 1996, S. 163. 55 Trawny, P., Ins Wasser geschrieben. Philosophische Versuche über die Intimität, Berlin 2013, S. 130. 56 Schopenhauer, zit. n.: Avanessian, A., Cox, C., Jaskey, J., Malik, S. (Hg.), Realismus, Materialismus Kunst, Berlin 2016, S. 91. 52 53
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2.1 Zum Bauplan des herzpädagogischen Projekts
näher zu erläutern.57 Sie intensiviert aber im besten Fall die Nähe oder Identität von Theorie und Praxis, die Konfusion von Inhalt und Form, die eine theologisch-pädagogische Kardiologie ausmacht. Die Subversion des Zitierens tritt in einer Szene des Films „Traitor“ (Jeffrey Nachmanoff, 2008) deutlich zutage: Der ehemalige Sergeant Horn, der sich in eine islamistische Terrorgruppe einschleust und ganz ohne Unterstützung der Geheimdienste arbeitet, bereitet nur zum Schein einen Terroranschlag vor; er hat ständig Angst, sich zu verraten bzw. enttarnt zu werden. Es gelingt ihm schließlich ein Selbstmordattentat auf eine Botschaft abzuwenden und eine Bombe in einem Baustellenteil des Gebäudes zu zünden, das allerdings vorher evakuiert wurde; die Opferzahlen werden offiziell fingiert; in Terrorkreisen wird er gefeiert. Bei einer Besprechung mit einem Terrorgenossen zitiert er den Satz: „Der Mensch, der für nichts zu sterben gewillt ist, hat es nicht verdient zu leben.“ Sein Gegenüber ist beeindruckt und fragt zurück, wer den Satz gesagt hat, und Horn antwortet ganz gelassen: „Martin Luther King“. Zitate, die Verblüffung evozieren, reißen immer wieder Öffnungen in plane und glatte Diskurslandschaften. Im Rahmen der Biennale Wiesbaden „This is not Europe“ stellte 2016 Tiago Rodrigues in einem fast leergeräumten ehemaligen Stadtarchiv-Gebäude seine „Bibliothek“ vor. In zwei verstaubten, leeren Räumen auf dem Dachboden saßen acht Performer. Die Besucher konnten zu ihnen gehen und bekamen von ihnen jeweils verschiedene Zitat-Fragmente vorgetragen: Die Besucher setzten sich dem Zitat-Träger gegenüber und hatten dann die Aufgabe, das Zitierte auswendig zu lernen. Die Performer hatten große Geduld und wiederholten das längere Zitat mehrmals in kleineren Schritten. So war auch die Passage aus Ecos „Der Name der Rose“ zu repetieren, als Adson, der Gehilfe von William von Baskerville, über den Gedanken seines Meisters sinniert, wonach in einer Bibliothek die Bücher nicht aufeinander verweisen, sondern miteinander kommunizieren: „Bisher hatte ich immer gedacht, die Bücher sprächen nur von den menschlichen und göttlichen Dingen, die sich außerhalb der Bücher befinden. Nun ging mir ein Licht auf, dass die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, dass es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unerhörten Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges,
Stiegler, B., Das montierte Subjekt, Paderborn München 2016, S. 153 und S. 276 Otto Neuraths Einsicht: „Also Bilder! Aber diese Einsicht genügt nicht, man muss wissen, wie man Bilder richtig anwendet.“
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geist gezähmt werden können, ein Schutzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Hirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? Oder diese fortdauern lassen in sich? ‚Wozu nützt es dann, Bücher zu verbergen‘, fragte ich, ‚wenn man aus den zugänglichen auf die unzugänglichen schließen kann?‘“58
Hier wird also die Eigendynamik der Bücher, das Eigenleben der Zitate beschworen, die sich allen Beherrschungs- und Repressionsversuchen entzieht. Das Setting der Kunstaktion greift auch direkt die Idee aus „Fahrenheit 451“ (von Ray Bradbury, 1953; Franҫois Truffaut, 1966) auf, wonach in Zeiten der äußersten Bedrohung – in der Dystopie werden Bücher wie Kunst-/ Kultur-Artefakte als gefährlich verfolgt und verbrannt – jeder zu einem Buch, zu einem lebenden Zitat59, werden und dieses an den nächsten, noch verbliebenen Bücherfreund möglichst genau weitergeben muss. Eine intensive Verwendung und Aneignung von Zitaten scheinen also unumgänglich. Ihre Verinnerlichung scheint eine wirksame Methode der Orientierung. Schließlich betont George Steiner, wie sich der Zitatenschatz, der innere Reichtum, aus dem man lebt, verändert und beständig weiterentwickelt: „Ein bedeutender Text kann Jahrhunderte warten. Mir fällt dabei der wunderbare Essay Benjamins ein, der sagt: ‚Es hat keine Eile. Ein großes Gedicht kann fünfhundert Jahre warten, ohne gelesen zu werden.‘ Seine Zeit wird kommen, nicht das Gedicht ist in Gefahr, die Leser sind es … Und genau wie bei großer Musik oder bildender Kunst ist das Unerschöpfliche an der Literatur, dass in jedem Augenblick des eigenen Lebens das Werk eine andere Bedeutung annimmt. Daher meine Obsession, meine Leidenschaft … für das Auswendiglernen. Was man auswendig weiß, kann einem niemand nehmen. Es bleibt in uns, wächst und verwandelt sich.“60
Eco, U., Der Name der Rose, München Wien 1982, S. 366. Zuvor ist folgender Gedanke zu lesen, dass man, um zu erfahren, was ein Buch enthält, andere Bücher lesen muss. „Oft ist ein harmloses Buch wie ein Samenkorn, das in einem gefährlichen Buch aufkeimt, oder es ist umgekehrt eine süße Frucht einer bitteren Wurzel“ (365). Und bereits S. 233: „Denn das Wissen ist eben nicht wie das Geld, das noch die schändlichsten Tauschhandel physisch übersteht. Das Wissen gleicht eher einem kostbaren Kleid, das durch Gebrauch und stolzes Vorzeigen abgenutzt wird.“ 59 Vgl. Steiner, G., Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler, Hamburg 2016, S. 42: Lebende Bücher sind erhabene Zeugen: „‚Ein lebendes Buch‘ zu sein, das man durchblättern kann, so als könnte man die menschliche Seele durchblättern, ist nichts Geringes; im Gegenteil, es ist eine große Ehre.“ 60 Ebd., S. 88–89. 58
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen – Der neue Gebrauch eines körperlosen Organs „Wodurch definiert sich das Denken? Nicht etwa durch das, was es ist, sondern durch das, was es umgreift. Was wir als Denken bezeichnen, wäre demnach bloß die Fähigkeit, das zu umschreiben, was sich ihm darbietet.“ „Es gibt nur die verwundete Wunde.“ – Edmond Jabès61 „Gott ist in den Wurzeln.“ – Rainer Maria Rilke62
Zur Anstößigkeit von Herz-Jesu-Bildern „Die Profanation ist keine Verneinung des Geheimnisses, sondern eine der möglichen Beziehungen zu ihm.“ – Emmanuel Lévinas63
Das Herz Jesu war im Christentum spätestens seit dem Mittelalter Gegenstand mystisch-geistlicher Betrachtung; es wurde zum Sinnbild gottmenschlicher Liebe. Die Wurzeln der andächtigen Herz-Jesu-Reflexion reichen zurück in die Kirchenväterzeit und verweisen auf die johanneische Theologie, in der der am Kreuz durchbohrte und erhöhte Christus im Fokus steht: Aus der Seite fließen Wasser und Blut. Die Herz-Jesu-Frömmigkeit wurde im 19. Jahrhundert, vor allem durch Katharina Emmerick, sehr populär. Herz-Jesu-Bilder dieser Zeit gelten heute gemeinhin als Inbegriff des religiösen Kitsches, Ausdruck eines überkommenen Volksglaubens, der ohnehin nur im katholischen Bereich beheimatet ist, oder als traditionalistischer Retro-Style.64
Jabès, E., Das kleine unverdächtige Buch der Subversion, München Wien 1985, S. 89. Rilke, R. M., zit. n. Guttierez. G., Der Ausgegrenzte wird zum Jünger, in Conc 30. Jg. 8/1994, S. (355– 361) 361. 63 Lévinas, E., Die Zeit und der andere, Hamburg 1984, S. 57. 64 Die Vorgeschichte des Herz-Jesu-Bildes gestaltete sich ungleich komplexer. Nach Walzer, A., Herz/ Herz Jesu, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd 2, Freiburg 1994, S. 248–254, kommt das Bildmotiv im 15. und 16. Jahrhundert in Deutschland auf; die Herz-Jesu-Verehrung wird durch die Kölner Karthäuser und Jesuiten angeregt sowie durch Altarbilder und Herzbücher verbreitet. Auf frühen Darstellungen wird das Herz Jesu umrankt mit einer Dornenkrone dargestellt, es gibt aber auch Abbildungen, auf denen der Jesusknabe im Herzen geborgen ist. Bei Monstranzen erhält das Ostensorium, der Raum, der für die geweihte Hostie, den Leib Christi, vorgesehen ist, immer häufiger die Herzform, das liegt nahe, denn mit dem Herzen Jesu werden seine Passion, Hingabe und eucharistische Liebe assoziiert. 61 62
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Kleinformatige Herz-Jesu-Bilder lagen häufig als Andachtsbilder in Gebets- und Gesangbüchern; im Großformat konnten sie bis in die 80er Jahre in den Schlafzimmern katholischer Großeltern entdeckt und bestaunt werden; das mag zum Teil in südeuropäischen oder südamerikanischen Ländern auch heute noch möglich sein: Auf Herz-Jesu-Bildern wird Jesus als weißer junger Mann mit stattlich-feingliedriger Gestalt gezeigt, immer mit wallendem braunem Haar und Bart sowie mit langem, weißem Gewand und buntem Überhang. Jesus blickt den Betrachter mit einem eindringlichen, entrückt-ernsten, wissenden Blick an; seine Lippen sind geschlossen, seine Hände aber weisen auf das Herz, das offen hervorbricht und auf seiner Brust sichtbar ist. Das Herz ist selbst geöffnet, es zeigt die Verletzung, die ihm durch den finalen Lanzenstich zugefügt wurde. Das sichtbare offene Herz will die grenzenlose Liebe Christi, aber auch seine Verletzlichkeit, Güte, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit symbolisieren; es belegt überdies den verklärten Leib Jesu nach seiner Auferstehung, seinen entrückt-göttlichen Status. Oft ist das Herz umkränzt von der Dornenkrone dargestellt; die Nägel der Kreuzigung sind eingeflochten; die Folterinstrumente halten das Herz zusammen; es scheint sich der Satz aus Wagners Parsifal zu bewahrheiten, dass nur der Speer, der die Wunde schlug, sie auch schließt.65 Die Herz-Jesu-Bilder können auf den heutigen Betrachter nicht anders als total surreal wirken. Das blutrote „reale“ Organ nimmt auf dem reinen, einfarbigen Gewand Jesu eine merkwürdig erratische Position ein. Die Herz-Metaphorik gewinnt hier eine drastisch-konkrete Gestalt: Wie das Herz buchstäblich an einen anderen oder eine Sache „gehängt“ und verlorengehen kann, so kann es auch wiedergefunden werden. Wie es zuweilen überschwänglich, voll, begeistert sein oder auch leer und ausgebrannt ist, so kann es gestohlen, erobert werden, sich schenken oder sich freiwillig öffnen. Als Inbegriff von Seelenstärke, Tapferkeit, Angst, Scheue und Vorsicht ist es immer Träger der ganzen Emotionalität des Menschen. Als Realsymbol verkörpert es seine Integrität, das, was das Leben und die Person insgesamt ausmacht. HerzJesu-Bilder sind somit immer Bilder des verklärten, auferstandenen Herrn, des Messias und Gottessohnes, und an seinem durchbohrten, offenen Herzen soll auch der Christ hinfort deutlich zu erkennen sein. Was könnte auch Nachfolge – in einer nichtkonfessionalistischen, universalistischen Definition von Christsein – anderes meinen, als ein offenes, verletzliches Herz zu haben? Und in einem expliziteren Sinn könnte man sagen, dass diejenigen Christen sind, die ihr offenes Herz auf dem Hintergrund der Geschichte Jesu einordnen, deuten und von dort her zurückgewinnen. Man mag das Herz Jesu als still-ruhend interpretieren, als unaufdringlich und bereit, den aufzunehmen, der sich ihm nähert. Es bleibt der Eindruck seiner Fremdheit und „nichtassimilierbaren 65
Man darf auch an den Telephos-Mythos denken, throsas iasetai: Nur der Verwundete heilt, wird Heilung bringen.
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
Andersheit“ (Lévinas bezeichnet mit dem Ausdruck eigentlich die uneinholbare Eigenheit des Gesichts, seine nicht verobjektivierbare Größe und zugleich fremde Schwäche, die Spur Gottes im Gegenüber). Das extrakorporale Herz belegt die spezifische Logik des herzlichen Menschen, seine extreme, fremde Reflexivität. Auch wenn es sich an der ungefähr anatomisch richtigen Stelle befindet, verkörpert es im Sinne Deleuzes das körperlose Organ, eine Eigendynamik, der sich der Mensch insgesamt beugen muss oder nicht entziehen kann. Es weist auf den extimen Kern des Menschen, die Fremdheit im Eigenen hin, darauf, dass der Mensch zu Akten fähig ist, zu Handlungen, die ihn über sich hinaustragen.66 Navid Kermani schildert in „Große Liebe“ voller Überschwang und Emphase die erste Liebe eines Jungen zu einer älteren Schülerin, die nur eine Woche währt, mit Verweis auf viele Weisheitserzählungen, auf religiöse Sinnsprüche oder auch Anekdoten der Liebesgeschichte von Laila und Madjnun. – Nur die großartigsten unglaublichsten islamischen Legenden können einen Geschmack dieser intensiven Jugendliebe vermitteln, für die Kategorien von zeitlicher Dauer oder Kürze völlig unangemessen wären. – Interessant ist, dass zunächst – das Buch kennt nur Kapitel-, keine Seitenzahlen – die Legenden und die Erzählung des Jungen, die Stationen seiner Liebe, getrennt sind. Später vermischen sich die Erzählebenen, auch die Ebenen zwischen dem erwachsenen Erzähler und dem Jungen, der der Erzähler einmal war und in gewisser Weise immer noch geblieben ist. Das Herz steht für die Unmöglichkeit der Trennung von Ebenen, es ist ein projektives und darum synkretistisches Organ, auch in interkultureller Hinsicht, immer geöffnet, mit dem die Leser in die Geschichte des anderen einsteigen und die Narrationen sich projektiv mischen. Schließlich ist zu bedenken, dass der Erzähler seine Geschichte vor allem für seinen Sohn aufschreibt und ihm eine Hilfe in der schwierigen Phase der Pubertät sein möchte. Für die biblische und zuweilen auch antike philosophische Anthropologie gilt, dass die Begriffe Herz und Seele zuweilen koextensiv sind und darum ausgetauscht werden dürfen. Umso mehr erstaunt es dann, dass in Wulfs „Handbuch Historische Anthropologie“ dem Herzen kein Kapitel gewidmet wird.67 Lüdemann betont, dass die Körpermetapher die Einheit eines hierar Vgl. Žižek, S., Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a. M. 2005. 67 Vgl. Wulf, C. (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim Basel 1997, die Seele erhält wohl einen Platz, S. 967–973. In Rudolf zur Lippes Aufsatz „Der Sitz der Seele“ (in: Wulf, C., Kamper, D. (Hg.), Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie, Berlin 2002, S. 295–305) wird auf das Herz als „Organseele“, Sitz des Thymos, des Mutes, eingegangen. Auch im zweiten Band Historischer Anthropologie ist das „Herz“ als Thema zu groß, zu naheliegend. Eva Meyer denkt über die Seele zwischen „Laut und Strich“ nach (ebd., S. 328ff). – Der Herz-Artikel des HWP umschreitet den Bedeutungsumfang des Herzens von der Rigveda bis zur Renaissance oder Aufklärung: Das Herz ist für Augustinus der homo interior, es ist auch bei Novalis ein heiliges Organ (Biesterfeld, W., Herz, in: HWP 3, S. 1100–1112). 66
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
chischen Staatsgebildes im Mittelalter darstellt und repräsentiert.68 Als Herz eines Staates wurde der Senat, das Parlament bezeichnet. Unter anderem erzählt Kermani die Legende von einem Dieb, dessen Hand abgeschlagen wurde, der diese abgeschlagene Hand aber immer bei sich trug, da der Name der Geliebten auf ihr tätowiert war. Der Legende könnte ein Hinweis auf die Herz-Jesu-Deutung entnommen werden: Das dargebotene Herz Jesu manifestiert nicht so sehr seine eigene Größe und Weite, es ist bereits verschenkt und tritt als Beleg dafür hervor, dass in ihm die Namen der Menschen längst eingeschrieben sind. Bereits offen wird es immer neu hingegeben. Das Herz Jesu gilt Gläubigen als Symbol und sinnfälliges Unterpfand, nicht verloren und vergessen, vielmehr in der göttlichen Liebe aufgehoben zu sein. Kermani zitiert berühmte islamische Theologen, bemüht sufistische Theorien der „Gottesschau“, die Überlegungen der islamischen Mystik, die auch die Phase des „Entwerdens“ und der „Gottesnacht“ umfassen, um annähernd darlegen zu können, was die Erfahrung des damals 15-jährigen Jungen ausgemacht hat, dessen Herz sich nach einer kurzen Phase der Glückseligkeit in wilder ungesättigter Leidenschaft verzehrt. Er zögert nicht, die größten theologischen Begriffe und schönsten orientalischen Lebensweisheiten und Legenden namhafter Philosophen und Gottessucher auf das tiefe leidenschaftliche Werben und Sehnen, den Schmerz anzuwenden, den er damals empfunden hat: Nur für die Liebenden ist die gesamte Schöpfung gemacht. Es steht für ihn unverrückbar fest; das, was mystische Erfahrung überhaupt ausmacht, ist hier in dieser ersten Liebe spürbar gewesen: Was Theologien überhaupt aussagen möchten, reicht in die konkrete Alltagserfahrung hinein und wird dort unmittelbar spürbar/greifbar. Auf diesem Hintergrund erscheint es allemal erlaubt, theologische Metaphern in den schulischen Profanbereich zu transferieren. Es stellt sich die Frage, was die zur Interpretation privater Beziehungen häufig bemühte Herz-Metapher, noch dazu im theologischen Gewand des antiquierten, religiösen Herz-Jesu-Bildes, zu „leisten“ vermag, wenn sie in einen längst total säkularisierten, sozialwissenschaftlich erforschten pädagogischen Bereich übertragen wird. Herz-Jesu-Bilder beinhalten eine drastisch-überdeutliche Metaphorik, auch wenn sie aufgrund der Gestik und Mimik Jesu letztlich einen sanften und friedlichen Gesamteindruck hinterlässt. Dass pädagogisches Tun Operation am offenen Herzen ist, lässt sich auf dem Hintergrund der Metapher klar herausstellen; und darum kann die hier vorgeschlagene Pädagogik nur einen behutsamen, vorsichtigen Umgang mit Schülern favorisieren. – Das pädagogische Tun ist aber auch ein Tun mit geöffnetem Herzen. Alle Interaktanten sind gleichermaßen verletzlich, auch wenn sie es häufig nicht zeigen und kaschieren wollen. Eine Kritik und Abwehr technokratischer Übergriffe, der methodischen Überfrachtung, der Supervision durch Beobachter, Lüdemann, S., Körper, Organismus, in: Konersmann, R. (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. (168–182) 174.
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
die das Beziehungsgeschehen der Herz-Kommunikation nur stören, lässt sich leicht ableiten. Judith Butler hat zuletzt die Präsentation der Verletzbarkeit der Körper als Urform politischer Aktion/Demonstration identifiziert.69 Nach G. Figal ist „Unscheinbarkeit“ ein Grundmoment der Hermeneutik des Daseins.70 Eine Phänomenologie des Herzens kann demnach nicht hellhörig genug sein; und Zuhören wäre ihr Grundmodus. – Wie im psychoanalytischen Setting wäre herauszustellen, dass das Tun meist ein Alibi zur Vermeidung der Wahrnehmung von Unliebsamem ist; es setzt ein, wenn man eigene Spannungen nicht mehr aushält, ihnen ausweicht und sie nicht länger verspüren will.
Kenotische Herzpädagogik – Herz-Narrative jenseits des Systemfunktionalismus „Man soll die Leere nicht suchen … [und] soll sie aber auch nicht fliehen … Es ist die Leere in der Empfindsamkeit, die über die Empfindsamkeit hinausträgt.“ – Simone Weil71 „Das Subjekt trägt sie [die Leere] in sich. … Das Denken zeichnet die Spur dieser Transgression, … das nähert es dem Gebet an. Doch handelt es sich um ein Beten, das ins Leere greift.“ – Marcus Steinweg72
Auf die Frage, was uns zu einem Menschen macht, antwortet der Blockbuster „Terminator IV: Die Erlösung“ (Joseph McGinty Nichol, 2009) eindeutig: Das Vermögen des menschlichen Herzens bildet die Differenz zwischen Mensch und Maschine, den „Unterschied, der einen Unterschied macht“. Am Ende des Films steht der Satz: „Ein Krieg ist gewonnen, aber noch nicht die ganze Zukunft“: Es besteht ständig die Gefahr, dass das Herz des Menschen erkaltet und maschinenartig werden könnte; und es kommt in entscheidender Weise auf die Rückgewinnung des Menschlichen an, darin sind sich alle Apokalypse-Filme einig: In Roland Emmerichs „2012“ von 2009, der den Weltuntergang in den Koordinaten des ArcheNoah-Mythos repristiniert, geht es um die Frage, ob man die Scharen von Menschen, die auf die Rettungsarche wollen, aufnehmen und damit riskieren darf, dass die Verpflegung für alle nicht Butler, J., Körperliche Verletzbarkeit. Bündnisse und Street Politics, in: Westend 1/2014, S. 3–24. Die soziale Dimension des Körpers wird erst in sozialen Bewegungen manifest; es zeigt sich ebenfalls: Körper bilden „immer eine Ressource“ (S. 23). 70 Figal, G., Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015. 71 Weil, S., zit. n.: Steinweg, M., Evidenzterror, Berlin 2015, S. 122. 72 Steinweg, M., ebd. 69
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
ausreicht, oder strikt die Vorgaben einhalten soll, wonach nur die zum Betreten des Bootes berechtigt sind, die einen entsprechenden Ausweis haben, also prominent oder reich sind. Letztere Option würde den sicheren Tod der flehend Wartenden bedeuten. Im Leitungsgremium, das die Frage kontrovers und offen diskutiert, setzt sich schließlich die Auffassung durch, dass man den Status des Menschseins verliert, wenn man unmenschlich handelt, und der Ausschluss so vieler Hilfsbedürftiger wäre eine solche Unmenschlichkeit, die den Menschen zum Monster mutieren lassen würde.73 Der Rekurs auf das Herz ist also integraler Bestandteil der Filmmythen, die ganz konservativ erscheinen: Das Herz steht für Solidarität und Mitmenschlichkeit. – Manche Interpreten, darunter auch Žižek, haben darauf hingewiesen, dass Apokalypsen den Sinn verfolgen, menschliche Gemeinschaft neu zu gründen, den Gedanken der Solidarität wieder neu in die Herzen der Menschen einzuprägen. Die Faszination des Endes ist eine Faszination des (Neu-)Anfangs, so Martin Buber. – Und am Ende von „Terminator IV“ kommt es zu der interessanten Konstellation, dass ein Cyborg sein menschliches Herz – ein körperloses Organ im eigentlichen Sinn, er ist ansonsten eine Maschine – für den schwer verwundeten Connor, den Helden im Kampf gegen die Maschinen, opfert. Der Cyborg Marcus war auf der Suche nach seinem Ursprung und in der Cyborg-Fabrik erhielt er Kenntnis von seiner Geschichte – er war einst als Mensch ein zum Tode verurteilter Mörder. Er hat seine zweite Chance gut genutzt, der Menschheit im Überlebenskampf gegen die Maschinen geholfen, und ist nun zu einer finalen Selbstaufgabe, zum menschlichen Füreinander-Dasein bereit. Man könnte ja fragen, warum nicht ein Kunstherz für den hilflosen Helfer Connor genommen wurde, warum für Connor ein echtes Herz vonnöten war. Die technologische Entwicklung scheint einerseits sehr weit zu sein; in den Terminator-Filmen erscheint die von Maschinen bedrohte Menschheit technologiefeindlich: In „Terminator II“ kämpft der alte Maschinenroboter auf der Seite der Menschen gegen den verformbaren biogenetischen Terminator einer nächsten Generation gewissermaßen einen Kampf Industriezeitalter gegen die Ära der synthetischen
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Steiner, G., Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler, München 2016, S. 46 bietet eine andere Sintflut-Geschichte, die sehr viel von dem religiösen/jüdischen Lern-/Bildungsimpuls bewahrt und eine nicht-optimistische, eschatologische Haltung gegenüber bevorstehenden Katastrophen einnimmt: „Wenn ich morgens aufstehe, erzähle ich mir folgende Geschichte, um durch den Tag zu kommen: Gott verkündet, dass er genug von uns hat, mehr als genug. In zehn Tagen kommt die Sintflut, die wahre. Dieses Mal wird es keine Arche Noah geben. Sie war ein Fehler. Der Heilige Vater verkündet den Katholiken: ‚Nun gut, es ist der Wille Gottes. Betet. Vergebt einander. Bringt eure Familien zusammen und wartet das Ende ab.‘ Die Protestanten sagen: ‚Ordnet eure Bankkonten. Eure Bilanzen müssen absolut stimmen. Lasst eure Familien zusammenkommen und betet.‘ Der Rabbi sagt: ‚Zehn Tage? Aber das reicht völlig, um das Atmen unter Wasser zu erlernen.‘ Diese wunderbare Anekdote gibt mir jeden Tag das Glück und die Kraft weiterzuleben. Und ich glaube fest daran: Zehn Tage, das ist in der Tat sehr viel.“
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
Biologie. Opfermythologien spielen eine große Rolle. Die Situation in „Terminator IV“ ist fast eine postapokalyptische: Die Maschinen haben gewonnen, die Natur überwiegend verwüstet, die Menschen leben nur noch versteckt in dunklen Rückzugsräumen und ständig auf der Flucht vor Überwachungsdrohnen. – Connor als dem Anführer der Menschen, die gegen die Maschinen kämpfen, werden also keine Cyborg-Elemente implantiert. Es stellt sich natürlich auch die Frage, welche Funktion das Herz im Cyborg hat. Der Cyborg hat einen Chip in seinem Kopf, alte kurze Erinnerungssequenzen oder Körperbilder lassen ihn nach der Bestimmung der Gegenwart und seiner Aufgabe, dem Grund seiner Traurigkeit/Beklommenheit fragen. Es scheint, das Herz gewährleistet das selbstständige, warme Denken und Mitfühlen; es symbolisiert wohl den nichtkorrumpierbaren menschlichen Rest. Die Menschen versuchen die Zukunftstechnologie zu zerstören, die sich verselbständigt und schließlich gegen sie richtet. Sie wehren sich gegen die Maschinisierung, die Grundgefahr der Postapokalypse, und nur das menschliche Herz hindert sie daran, sich nach Art des Cyborgs zu perfektionieren und berechenbar systemkonform zu funktionieren. Die menschliche Sehnsucht zielt auch auf eine klare Unterscheidbarkeit zwischen Mensch und Maschine. Der Cyborg Marcus strebt nicht nach einer Perfektionierung oder einer bloßen Weiterexistenz. Dem Tode nahe liegt Connor schon sehr geschwächt auf einem provisorischen Krankenbett im Feldlazarett. Die Menschheit insgesamt haust immer noch in Ruinen, die das totalitäre Maschinenregime noch nicht eingenommen hat. Der Cyborg steht daneben, als Connor seinem Vater seine Jacke als Vermächtnis übergibt, und bietet schließlich sein Herz zur Transplantation an. Connor lehnt die Spende nicht ab, sondern nimmt sie wortlos an. Der Cyborg Marcus ist dabei sehr ernst und erwartet keinen Dank, verzieht keine Miene. Für Connor, gespielt von Christian Bayle, gibt es also die Rettung. Die unerhört herausfordernde Schlussfolgerung lautet damit, dass sich die Cyborg-Maschine mit diesem Akt der Selbstpreisgabe als menschlicher als der Mensch bewährt; sie erweist sich in dem finalen Opfer als Mensch, der ein Herz hat, um es zu verschenken und preiszugeben. Das Herz ist das Organ, das man verschenken muss. Erst im Moment der Hingabe merkt man, dass man wirklich eins hatte. Der Cyborg rettet erneut das Leben Connors; ohne ihn hätte der Maschinenkämpfer nie seine Mission zu Ende führen können; das Herz steht hier für das Menschliche. Der Cyborg vermag durch sein Herz an der Vernichtung seiner eigenen defizienten Spezies zu arbeiten. Als Marcus das Angebot seiner Herzspende formuliert hat, erhält er von der Frau, die immer zu ihm gehalten hat, einen finalen menschlichen Kuss. (Im Lichte der Gabetheorie muss betont werden, dass zu einer Gabe ihre Annahme durch das Gegenüber gehört, d. h., das Eingeständnis der Bedürftigkeit erscheint ähnlich wesentlich oder noch elementarer als die heroische Selbstaufgabe.) Der Kuss, den Marcus zu Beginn des Films in seiner alten Existenz noch erpresst, wird ihm nun freiwillig geschenkt. – In dem Sci-Fi-Drama „Automata“ (von Gabe Ibánez, 2014) geschieht der umgekehrte Fall eines Opfers; die Maschinen erlangen Bewusstsein, sie erreichen eine neue Evolutionsstufe, und ein 69
2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Mensch (gespielt von Antonio Banderas) hilft diesen neuen bewussten Lebewesen, dass sie vor ihren menschlichen Verfolgern fliehen können und das rettende, verstrahlte Land, eine ökologische Nische, erreichen können, in der sie von den Menschen nicht gejagt werden und sich dann frei entwickeln können. Die Verfolger erschießen den Retter und meinen unverständig, dass er seine Spezies verraten habe. Doch die Maschinen haben ihm vorher bereits gesagt, dass das Weitergehen des Lebens entscheidend ist, so dass der Einzelne seine individuelle Existenz transzendieren kann. Vor dem Hintergrund der filmischen Herzszenen ist noch wichtig zu betonen: Auch das Herz Jesu ist nicht fetischisiert, es wird nicht von Jesus getragen und aktiv vorgezeigt. Solche Darstellungen (Christus cardiophorus) sind kirchlicherseits verboten74; es scheint fast, als könne Jesus nichts für sein Herz, er ist nicht mehr Herr über sein offenes Herz, sondern Agent des Herzens, das er sich hat enteignen lassen. Es ist das Organ der mitmenschlichen Eigendynamik, der Identifikation mit den Ausgeschlossenen, Bedürftigen; es ist das eigentliche Aktzentrum. Ähnlich wird das Herz im besagten Terminator-Film inszeniert. Die „Terminator-Herzmaere“ lässt folgende schnelle und darum auch etwas hölzerne Übertragung auf die Schulsituation zu: Wie der Cyborg Marcus durch sein Herz zum Menschen wird, wird das funktionale Schulsystem durch herzliche Pädagogik lebendig. Ohne den Geisthauch, die herzliche Beseelung bliebe der Mensch tot. Die Schulmaschine wäre ohne den „Herz-Faktor“ ein ebenso monströs-erbarmungsloses und kalt-unerträgliches Räderwerk. Das Herz verkörpert die Barmherzigkeit und Nachsicht, die auf den Einzelfall eingeht; es steht für die Frage nach dem Rest, für das Vertrauen in die Nicht-Konformen, Eigenwilligen, Eigenbrötler.75 Es beinhaltet eine Kritik der totalen Synchronisation76, der Wahnwitzidee der totalen Transparenz. Das Herz steht zugleich für das Unberechenbare, das Anomisch-Überraschende, die wirkliche Veränderung. Das Herz spürt man in der Regel nicht; solange man gesund ist, neigt man dazu, es zu überhören. Nur kurz vor dem Infarkt schlägt das Herz sehr absolut regelmäßig – ein Wink für alle Pädagogen, die sich dem „Ideal“ der Normierung und Gleichschaltung von Unterrichtsprozessen verschrieben haben. Ein Herz haben bedeutet, in einem eigenen Rhythmus agieren, sich weigern, stromlinienförmig zu sein. Welche technologischen Schulentwicklungen
Harmening, D., Herz Jesu, Ikonographie, in: LThK (3. Aufl.), S. 55. Christus-Cardiophorus-Darstellungen, Bilder, auf denen Jesus sein Herz in seinen Händen hält, wurden von der römischen Riten-Kommission verboten. Das Herz Jesu kann also nur isoliert oder als autonom aus dem Körper hervortretend dargestellt werden. 75 DJ Westbam in: Das war meine Rettung. In der Schule zweifelte Westbam an sich. Ein Satz seines Französischlehrers rettete ihn, in: Zeit-Magazin vom 30.7.2015, Nr. 30, S. 50: Der Satz des Lehrers gegenüber der besorgten Mutter lautete: „Der wird seinen Weg schon machen.“ 76 Oscar Wilde meinte nicht nur, dass „wir so fleißig sind, dass wir verdummen“; sondern auch: „Wo Zentralisation ist, ist auch Dummheit.“ 74
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
sich auch durchsetzen werden, es wird – wie im Falle von Marcus – immer zu Restbildern kommen, zu „gefährlichen“ Erinnerungsrückständen, die herzpädagogisch dimensioniert sind und ein reibungsloses Funktionieren stören werden. Das Herz ist ein Organ der Hingabe, des Einsatzes/Einstehens für andere, des „Füreinanderdaseins“77 (Hasenhüttl). Das Herz kann nicht aufhören, an die zu denken, die es nicht so gut haben wie man selbst: Jeder hat das Recht, glücklich zu sein, „aber man kann sich schämen, wenn man ganz allein glücklich ist.“78 (Den Roman „Die Pest“, für den Camus 1957 den Nobelpreis erhielt, erachtete Rupert Neudeck als Vademecum der von ihm gegründeten Hilfsorganisationen.79) Das Herz markiert eine Unterbrechung der Systemlogiken: In der „Globalen Aktion Semikolon“ versammeln sich Menschen, die nach Suizidversuchen weitermachen; manche tätowieren sich ein Semikolon auf den Arm, um zu zeigen, dass sie eine Interpunktion gefunden haben. Das offene Herz Jesu bedeutet in ähnlicher Weise ebenfalls zunächst eine Praxis der Unterbrechung, ein Eingehen auf den Einzelfall; zur Pragmatik der Menschenfreundlichkeit gehört ein flexibles Reagieren, eine Suche nach Alternativen. Die Fähigkeit zur Unterbrechung der Kreisläufe, das Intermittieren und Aussetzen und Verändern von festen Rhythmen, erscheint als eine entscheidende Fähigkeit des Herzens. Das Herz ist fähig zur minimalen Lücke, zum Aussetzen der Ordnung. Die Fähigkeit, sich zu distanzieren, beruht auf der Unmöglichkeit, ganz synchronisiert werden zu können. Herzpädagogik beinhaltet ebenso die Weigerung, immer auf sein Recht zu pochen. Unrechterleiden ist besser als Unrechttun – so die sokratische Maxime, es ist im Unterricht allemal besser für den Lehrer, selbst Gegenstand des Gelächters zu sein, als wenn man über andere lacht. Das Herz verfügt über eine eigene Definition des Dienstes als idiotische Verausgabung: „Wenn wir die Verzweiflung, die die Wirkung der Blasiertheit ist, heilen wollen, müssen wir uns vereinfachen und das Vertrauen in die Spontaneität des Herzens wiedergewinnen. … Denn das Ziel der Ironie war nicht, uns im Essig der Sarkasmen zu mazerieren, noch, nachdem alle diese Hampelmänner massakriert worden sind, einen anderen an ihrer Stelle zu errichten, sondern das wiederherzustellen, was, wenn es fehlte, nicht einmal ironisch wäre: einen unschuldigen Geist und ein inspiriertes Herz.“80
Hasenhüttl, G., Füreinander dasein. Brennpunkte moderner Glaubensproblematik, Freiburg 1971. Camus, A., Die Pest, Reinbek (70. Aufl.) 2003, S. 236. Die Aussage stammt von Rambert, der die Möglichkeit hat, aus der Stadt zu fliehen, aber er kann die Gelegenheit nicht ergreifen. Ein zweites wegweisendes Zitat stammt von dem Arzt Rieux, der sich mit seinem ganzen Tun gegen die Sinnlosigkeit des Leids stemmt: „Ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden“ (S. 247). 79 Dies belegt bereits die narrative Dimension des Herzstandpunkts. 80 Jankélévitch, V., Die Ironie, Berlin 2012, S. 182, 185. Kierkegaard würde hier eher von Humor sprechen. 77 78
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Das Herz als Charakterorgan, das die Individualität ausmacht, eine Eigenart, über die man selbst nicht (ganz) verfügt, ist zugleich das Universalitätsorgan. Es verkörpert das, was man mit Hegel singuläre Universalität bezeichnet. Liao Yiwu schreibt: „Solange es in der Welt politische Gefangene gibt, bleiben auch unsere Herzen im Gefängnis.“81 Das Herz achtet also auf fast vergessene, leise Formen der Unterdrückung und Ausgrenzung. Andreas Maier erzählt in Interviews, dass er nach dem ersten und einzigen Tag im Kindergarten seinen Eltern sagte: „Wenn ihr mich hier morgen wieder hinbringt, renne ich unter das nächste Auto“ und ergänzt in Radio-Interviews zuweilen, dass die Gruppe der Tod des Menschen sei.82 Insofern leidet das pädagogische Herz unendlich unter den Mechanismen des Gruppendrucks, der in Klassen als „Zwangsgemeinschaften“ aufgebaut wird. Neben dem Fröhlich-Hellen von Gemeinschaften darf die dumpfe Seite der Kollektivierung nie übersehen werden: „Charity begins at home“. Schüler sagen zuweilen: „Von nichts kommt nichts“, wobei die Selbstkommentierung das eigene Scheitern zusätzlich selbstdestruktiv begleitet: In dem Erzählband „Von Nichts kommt was“ (Dresden, Leipzig 2014) schreibt der Autor Maik Martschinkowsky gegen diesen Allgemeinplatz an, der in den Köpfen als Überich-Unterdrückung funktioniert. Der Herz-Standpunkt glaubt nicht an die positive Wirkung von äußerem Druck und die Glorifizierung der Konkurrenz. Die pädagogische Herzpraxis, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist schließlich deutlich nichtritualisiert.83 Wie Dimitré Dinevs Umschreibung von Barmherzigkeit84 klarmacht, kann die fremde Güte des Herzens nicht schematisiert oder systematisiert werden; sie ist anarchisch. Das Herz steht für die unregulierbare Geschenkdimension und das Nichtobjektivierbare des Menschen. Liao Yiwu-Vortrag im Rahmen der „Globalen“ im ZKM vom 12.8.2015. Der von China geflohene Schriftsteller rekurriert in seinen Vorträgen häufig auf das Herz. 82 Maier, A., Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a. M. 2006, S. 17. Letztlich führten auch die Vergesellschaftungsformen in Lehrerzimmer und Referendariat dazu, dass Maier den anvisierten Beruf aufgab, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen, vgl. ebd., S. 9, 30. Hier auch mit einer unverhohlenen Verehrung des Matthäus-Evangeliums: „Ich bin nur ein Mensch auf der Suche nach Worten, die längst schon gefunden sind, die im Matthäusevangelium schon alle dastehen, in perfekten logischen Sequenzen, schärfer als Wittgenstein es je gekonnt hätte, eine erschöpfende Analyse dessen, warum wir falsch sind …“ (ebd., S. 88). 83 Maier, P., WalkAway – Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu sich selbst. Das Schulprojekt des WalkAways als Übergangsritual ins Erwachsensein, in: W&E 4/2017, S. 143–145 schlägt Rituale vor. Die Nähe der Konzepte von Maier, P., Schule – Quo vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens, Münster 2015, und Arnold, R., Erziehung durch Beziehung. Plädoyer für einen Unterschied, Bern 2016, liegt auf der Hand. Vertrauen schafft die Basis der Zusammenarbeit; Disziplinforderungen sind demgegenüber immer sekundär. Der vorliegende Ansatz betont den nichtritualisierten Aspekt der Begeisterung und der Offenheit. 84 Dinev, D., Barmherzigkeit. Unruhe bewahren, St. Pölten Salzburg 2010, Titelzitat. „Die Barmherzigkeit lässt sich nicht leicht instrumentalisieren, denn ihre Zeit ist die Gegenwart und ihr Ort das Gewissen. Um es radikaler auszudrücken: Sie ist die oppositionelle Kraft schlechthin.“ In seiner Archäologie der Güte wird Lévinas den von Dinev betonten Gegenwartsbezug revidieren. 81
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
Es richtet sich gegen die Verrechnung des Menschen, das Diktat der Leistung, und unterstützt vielmehr die unaufgebbare Dimension des Vertrauens, das Gruppen verwandelt. Das Herz ist das Organ der Dankbarkeit.
Zur Artifizialität des Herzens – Herz-Kunst als Herz-Raum-Geschehen85 „Der heilige Geist in uns ist das, was uns gemeinsam ist. Das wird geschändet durch alles, was aus Unterschieden herrschaftlich herausgewirtschaftet wird.“ – Martin Walser86
Die Ausstellung „Problem of God“ im Düsseldorfer Museum K21 zeigte 2015 „das weite Feld“ theologischer Problematiken. Ad Reinhardt und Thomas Merton, der ihn interpretierte, reden von einer „Fast-Theologie“ (Ives-Alain Bois); eine negative Theologie steht allerdings nicht im Hintergrund der Herzpädagogik, eher ein „Minusglaube“. Es geht um Annäherungen87, die Metaphorik des „Nicht-Ganz“ und „Fast“ kommt dem theologischen Analogiebegriff sehr nahe und übersteigt eine negative Theologie. Eine implizite Theologie steht in Aussicht, wie sie etwa auch in folgender Aussage anklingt: „Ein Narr in Christo zu sein ist eine ganz besondere Gnade, zu der man nur gelangen kann, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Nur solche Menschen können sich das leisten.“88 – Eine Fast-Theologie muss nicht fundamentaltheologisch korrekt lange Begründungswege gehen. Sie darf wie die Herz-Pädagogik impulsiver, vielseitiger sein, allusorischer vielleicht auch, was zugleich in den Ohren mancher schon als Schimpfwort klingt. Wenn die Kapitel des Buches nach Art des Herzkreislaufes, eines Zirkulierens vorgestellt werden, impliziert das aber kein zyklisches Weltbild: Im Gegenteil; hier wird eine Option für die geschichtliche Zäsur und Einmaligkeit entworfen, ein Plädoyer für die Differenz/Negativität, die einfache Harmonie-Vorstellungen kritisiert. Das Herz ist das Organ der Zäsur, des Rests, des Nichtsynthetisierbaren. Die theologische Logik des Rests ist eine Herzlogik. Schon das „Programm“ des pascalschen „Esprit de finesse“, seiner Logik des Herzens, zielt nicht auf einfache Subjektivierung, sondern auf Herzweitung, Implementierung von Unendlichkeiten, Komplexitätssteigerung. Die Herzpädagogik kann sich mit Herz-Kunst anreichern.
Natalie Knapp redet vom „Herz-Raum-Geschehen im Augenblick“ (Frankfurt a. M. 2001; vgl. auch Andreas Webers „erotische Ökologie“). 86 Walser, M., in: Büchnerpreis-Rede, Broschüre des Büchnerhauses in Riedstadt Goddelau, o. J., o. S. 87 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (Hg.), The Problem of God (Ausstellungskatalog), Bielefeld 2015, S. 79. 88 Ebd., S.132. Boris Mikhailov fotografierte Obdachlose, die zum Teil ihre Kontrolle aufgaben“, in seinen Case-History-Bildern manifestiert sich so der Geist Gottes (ebd, S. 135). 85
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Das Herz als sittliche Substanz – das Universalitätsorgan Das Herz bezeichnet „als Lacans ‚Herren-Signifikant‘ das subjektive signifikante Merkmal, das die ‚objektive‘ symbolische Struktur selbst trägt; würde man diesen subjektiven Exzess aus der objektiven symbolischen Ordnung entfernen, wäre es mit der Objektivität dieser Ordnung vorbei. Die Naht ist folglich kein sekundärer Kurzschluss zwischen den zwei Ebenen – sie kommt zuerst; sie geht den beiden Ebenen, die sich in ihr überschneiden, logisch voraus – als eine subjektive Geste der Vernähung, mit der die objektive Realität (oder das, was uns als diese erscheint) konstituiert wird.“ – Slavoj Žižek89
Die Herzmetapher meint das, was Žižek mit Bezug auf Hegel als sittliche Substanz90 beschreibt, den pulsierenden, unaufgebbaren Kern der Pflichtethik, das grundlose, zweckfreie Tun um des Tuns willen, das Unbedingte. Anlässlich des Todes Bartoszewskis wurde an seine Aussage erinnert: „Es ist es wert, anständig zu sein, auch wenn es sich nicht immer lohnt. Es lohnt sich mitunter unanständig zu sein. Doch es ist es nicht wert.“91 Bartoszewski versteht unter der ethischen Substanz die Fähigkeit, auch dann prinzipientreu/gut zu handeln, wenn es sich gerade nicht lohnt. Das zweckfreie Tun des Guten umfasst die Weigerung, sich instrumentalisieren zu lassen und in dem Eifer und der Leidenschaft für den anderen nachzulassen. Die Fähigkeit, im anderen die gesamte Menschheit zu sehen, bedeutet zugleich die Weigerung, die Ansprüche eines Einzelnen gegen die der Mehrheit aufzurechnen oder sie unter letztere zu subsummieren. „Die europäische Leitkultur ist der Universalismus der Aufklärung, in dem die Individuen sich zu sich selbst als universell verhalten. Das heißt, sie müssen fähig sein, von ihrer Besonderheit abzusehen, ihre partikulare soziale, religiöse oder ethnische Position zu übergehen. Es reicht nicht, einander zu tolerieren; wir müssen unsere eigene kulturelle Identität als etwas Kontingentes, als etwas Zufälliges, etwas Veränderbares erfahren können.“92
Das Herz verkörpert diese universelle Idee, das Universale im Partikularen zu erheben oder vom ausgeschlossenen Partikularen zum Universalen zu kommen. Es gibt das „l’impossible à supporter“ (Lacan), an dem die einfache Toleranz zerbricht; die Idee des „singulären Allgemeinen“, der Žižek, S., Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 1151. 90 Žižek, S., „Unsere Trägheit ist die größte Gefahr“. Gespräch mit Romain Leick, in: Der Spiegel 12/2015, S. 130–134. 91 Nachruf auf W. Bartoszewski: Opielka, J., Mann für große Brücken, in: FR vom 27.4.2015, S. 5. 92 Žižek, S., Spiegel-Interview von 2015, S. 133. 89
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
Universalisierung, die sich vom Rest her ausbreitet, ist also unaufgebbar. (Žižek wird nicht müde zu betonen: Es gibt nicht nur Äpfel, Birnen usw. Neben Äpfeln, Birnen muss es auch einen Platz für „Früchte“ geben, neben der Betonung des Konkreten wird die Struktur, der Allgemeinbegriff verteidigt.) Das Herz wäre das „Universalitätsorgan“, die Metapher für die menschliche Fähigkeit der Universalisierung. Žižek meint: „Die größte Gefahr für Europa ist seine Trägheit, seine Zuflucht in eine Kultur der Gleichgültigkeit und des allgemeinen Relativismus. Da werde ich dogmatisch. Freiheit lässt sich nicht ohne einen gewissen Dogmatismus aufrechterhalten. Ich will nicht einfach alles in Zweifel ziehen, infrage stellen lassen. Der freiheitliche Dogmatismus gründet in dem, was Hegel sittliche Substanz nannte. Deshalb bin ich auch gegen jede Form der politischen Korrektheit. Diese versucht, etwas mit gesellschaftlichen und rechtlichen Verboten zu regeln, was integraler Bestandteil unserer sittlichen Substanz sein sollte.“93
Das Herz meint also das leidenschaftliche Organ der Aufklärung. Gefragt nach der spezifisch theologischen Konnotation der pädagogischen Herzlichkeit, ließe sich mit Verweis auf Sokrates argumentieren, dass in einem ganz elementaren Sinn Ethik schon Gottesdienst bedeutet. Das pflichtgemäße Tun, das ja voller Leidenschaft in seinem Engagement nicht nachlässt, geschieht also zugleich auch aus Pflicht, so dass die Pflicht die eigentliche Triebfeder des Handelns wird: Man will/soll das Sollen; ein derart motiviertes Tun und das Religiöse sind für Kant identisch. Denn eine solche Handlung geschieht nicht bedingt, sondern zweckfrei-unbedingt. Der theologische „Kern der Pädagogik“ bezeichnet eine implizite Theologie des zweckfreien Engagements, das Schüler wie Lehrer anzielen: Schließlich soll ja nicht (fremdmotiviert) für die Schule gelernt werden, sondern intrinsisch aus Faszination und Begeisterung für den Inhalt; das Lernen geschieht schließlich um seiner selbst willen und ereignet sich als Selbsttranszendenz.94 Pädagogik kreist also um die Achtung der Dimension des Nichtobjektivierbaren, Nichtmachbaren wie die Gestirne um die Sonne.
Ebd., S. 132. Montaigne, M. de., Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1998, S. 97: „Es gibt nichts Besseres, als in den Zöglingen Lust und Liebe zum Studium zu erwecken, sonst züchtet man nur mit Büchern beladene Esel heran, die man unter Rutenschlägen dazu zwingt, ihre Schultaschen voll Wissen ständig mit sich herumzuschleppen. Dem Wissen aber darf man, wenn es förderlich sein soll, bei sich nicht bloß Unterkunft gewähren – man muss den Bund fürs Leben mit ihm schließen.“
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Implizite Theologie – das ungehörte Schlagen des theologischen Herzens „Entfernt aus unseren Herzen die Liebe zum Schönen und ihr nehmt ihm allen Reiz des Lebens. Wer in seiner engen Seele mit niedrigen Leidenschaften diese köstlichen Gefühle erstickt hat; wer sich in solchem Maß in sich selbst verhärtet hat, liebt schließlich nur sich selbst, kann sich für nichts mehr begeistern und sein eiskaltes Herz kennt keine Freude mehr. Keine Rührung befeuchtet mehr sein Auge; nichts bereitet ihm Genuss. Der Unglückliche fühlt nicht mehr, er liebt nicht mehr, er ist schon tot.“ – Jean Jacques Rousseau95
Man könnte das Implizit-Theologische auch mit Blochs Aussage „Wo Hoffnung ist, ist auch Religion“96 andeuten. Wer um den weiten Horizont eines Noch-Nicht weiß, dessen Herz ist offen, er ist nicht nur auf sich fixiert, sondern streckt sich aus nach einem Anderen/Größeren. „Das Herz lebt in Chancen“, meint in ähnlicher Weise William James, den Sloterdijk gerne zitiert.97 In dem Satz von James tönt der amerikanische Pragmatismus; man kann ihn aber so verstehen, dass der offene Horizont auch für das pädagogische Tun entscheidend ist. Lernen war schon häufig bestimmt worden als Erfahrung, dass etwas möglich ist. Gerade im Austesten von (Un-)Möglichkeiten rührt das Pädagogische an das Theologische und umgekehrt. Wo Horizonte geweitet werden, kann man von heiligen Momenten reden; in diesen zeigt sich etwas Letztgültiges. – Wo sie ignoriert oder eingeebnet werden, wird Leben zerstört. Wo der Horizont weggewischt und eingerissen wird – etwa durch entmutigende Kommentare, keine Chancen zu haben –, herrscht die blanke Gottlosigkeit, ein bürokratischer Maschinismus, die Wüste der Immanenz. Wenn Schule der lebendige Geist, das offene Herz, fehlt, ist sie tot. Die theologischpädagogische Kardiologie schreibt also gegen Tendenzen an, die Schule zerstören. Im Bildungsdiskurs ist das menschliche Klima des Zutrauens immer schon betont worden, in dem sich (schulisches) Leben entwickeln kann. Durch ein instrumentalisierbares Feedback und Evaluation allein kann dieser lebendige Geist der Schule nicht erhalten werden, auch wenn häufig in neueren Schulentwicklungsplänen genau dieser Eindruck erweckt wird. Zuweilen fordern auch Schüler ihre Unterdrückung, frei nach Marx: „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“: Wenn man nun die Stelle nicht besetzen will, die das autoritäre Bewusstsein verlangt, mag Irritation eine erste Reaktion sein; die Auseinandersetzungen, die mit der Entwicklung kritischer Rousseau, J.-J., Emil oder Über die Erziehung, Paderborn München Wien Zürich (13. Aufl.) 1998, S. 302 (4. Buch: Bekenntnis des savoyischen Vikars, Gewissen). 96 Bloch, E., Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1989, S. 23. 97 Sloterdijk, P., Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluß an einige Motive bei William James; in: James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S. 11–34. 95
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Reflexion verbunden sind, lassen sich nicht in Evaluationsbögen abbilden. Die Pädagogik des Herzens/herzliche Pädagogik betont daher den nichtevaluierbaren Rest der Schule. Vielleicht kann hier auch der Hinweis Pestalozzis unterstützend wirken: „Sie arbeiten wie Tagelöhner, aber ihre Seelen tagelöhnern nicht.“
Kenotische Logik des Herzens (I): Entäußerung und thymotische Universalität „Am Ende unseres Abendgebets frage ich meine Tochter (drei Jahre): ‚Für wen möchtest du noch beten?‘. Sonst kommt an dieser Stelle meist ‚Für Oma und Opa‘ oder ‚für meine Cousine‘, doch diesmal nicht: ‚Darth Vader‘, sagt sie, ‚der soll auch gut schlafen.‘“ – Leserbrief-Einsendung98
Gemäß der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz lässt sich das besondere Verständnis des Herzens wie folgt umschreiben: „Die Erschließungskraft der Stimmung reicht weiter als jene des Verstehens.“99 Das Herz ist spezialisiert auf die Erkenntnis von Atmosphären; (Gefühle sind für Schmitz Atmosphären, d. h. keine inneren Aggregatzustände, sondern räumlich ergossene, ortlose Stimmungen). Was als Hingabe an eine „Sache“, Selbstpreisgabe oder auch Agieren ohne Fixierung auf die eigenen Interessen und Vorteile beschrieben wurde, lässt sich als das Moment des geöffneten Herzens, als kenotische und „nemologische Selbsttranszendenz“ beschreiben.100 Unnötig erneut zu betonen, dass das, was in religiösen Bildern beschrieben wird, nicht auf einen konfessionalistischen Rahmen beschränkt bleibt: So steht der Slogan „Tuğçe ist Ostern“101 auf einem Plakat zum Andenken an die 22-jährige Offenbacher Studentin, die am 28.11.2014 beim mutigen Einsatz zum Schutz zweier Jugendlicher von einem jungen Mann
Leserbrief, aus: Die Zeit, Rubrik „Was mein Leben reicher macht“; ohne Quellenangabe. Holzhey-Kunz, A., Leiden an der ontologischen Negativität, in: Angehrn, E., Küchenhoff, J. (Hg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014, S. 112 mit Bezug auf Heidegger und Kierkegaard. 100 Han, B.-C., Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, S. 81. Zum Begriff nemologischer Selbsttranszendenz, vgl. Kenji Miyazawas Ausspruch: „Jedermann nennt ihn einen Dummkopf. Er wird nie gelobt, nie zu Herzen genommen. Dieser Mann ist das, was ich sein möchte“ (zit. n. Corless, R., Der buddhistische Befreiungsweg in christlicher Sicht, in: Conc 6–7/1978 14. Jg., S. (387–394) 393). 101 In dem Satz bringt eine geschockte Offenbacher Bevölkerung ihre Identifikation mit der jungen Frau zum Ausdruck, die zum „Symbol von Zivilcourage und Menschlichkeit“ wurde. Ein ähnlich lautender Satz war auf einem Transparent bei Trauerkundgebungen zu lesen: „Heute sind wir alle Tuğçe“ (FR vom 29./30.11.2014, S. F1). 98 99
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brutal niedergeschlagen und getötet wurde. Mit dem Satz ist das angesprochen, was Sölle „Auferstehung im Hier und jetzt“, als Abwehr unpolitischer Vertröstung meint: „Nemologische Selbsttranszendenz“ gipfelt in opferbereiter Zivilcourage.102 Präsident Barak Obama sagte am 26.6.2016 bei der Beerdigung des Pastors Clementa Pinckney, eines der neun Opfer der rassistischen Attentate in Charleston, dass die Kirche das „schlagende Herz“ ist, das die Würde der Menschen bewahrt sowie aus der Hass-Spirale auszusteigen und Mord mit Liebe zu beantworten lehrt. Die viel beachtete Predigt endete damit, dass Obama den Gospel „Amazing Grace“ anstimmte. Die Rede Obamas war voller extremer Umwertungen/Universalisierungen. Nach dem Nichtenden rassistischer Gewaltausbrüche machten einige Kommentatoren in Obamas Rhetorik allerdings eine zunehmende Resignation und Verfinsterung aus.103 Als ein weiteres historisches Beispiel kenotischer Herzlogik lässt sich der estnische Kulturkampf gegen das imperialistische Ausgreifen der mächtigen Sowjetunion anführen. Das Motto des Befreiungskampfes des baltischen Kleinstaats, der sich vor allem während des Zusammenbruchs des Ostblocks auf das kulturelle Erbe berief und estnische Lieder als Mittel des Protests einsetzte, beinhaltet eine bildungspolitische Variante: „Geduld ist unsere Waffe, Vorsicht ist unsere Tugend.“104 Die Methoden solchen Widerstands sind subtil, sie setzen keineswegs auf brachiale Gewalt. 1988 sangen 300 000 Esten bei dem Sängerfest „Laulupidu“ die verbotene Nationalhymne (Singende Revolution). Die Balten bildeten am 50. Jahrestag des HitlerStalin-Paktes, am 23.8.1989, eine 678 Kilometer lange Menschenkette, die die Hauptstädte Vilnius, Riga und Tallinn miteinander verband; Zehntausende Esten bildeten ebenso eine Bücherkette und gruppierten sich um die Nationalbibliothek als eigentlichem Herz ihres Landes und Hort ihres kulturellen Erbes. Das Herz fordert dazu auf, gegen übermächtige, ungerechte Riesen aufzustehen. Während über die jeweils passenden Formen von Opposition gestritten wird, zeigen sich die zeitgenössischen Philosophen gleichermaßen von der Radikalität der Verweigerung und der ungeheuren Freiheit des Schreibers Bartleby beeindruckt: Er weigert sich immer radikaler, Konventionen zu entsprechen und mit dem Strom zu schwimmen. Bartleby wird zuweilen als größter Revolutionär gefeiert, dessen „Leistung“ darin besteht, dass er die Negativität seines Pongratz, L. A., Unterbrechung. Studien zur Kritischen Bildungstheorie, Opladen Berlin Toronto 2013, S. 183, beendet seinen Überblick über die Bildungstheorien mit dem Verweis auf Sölles Motto „Mystik und Widerstand“. Die Unterbrechung wäre mit Foucault eine „Praxis der Entunterwerfung“, ebd., S. 171. Jean-Jacques Lebel formulierte in diesem Sinn: „Die höchste Kunst ist der Aufstand. Il n’est pas d’art qu’ insurrectionnel“, so auch der Titel einer gleichnamigen Retrospektive im ZKM 2014. Pädagogik und Kunst zielen gleichermaßen auf die Verflüssigung von Sinnoptionen. 103 Blaustein, G., Obamas Reden. Politik als Storytelling, in: DLF „Essay und Diskurs“ vom 16.7.2017. 104 Wanderausstellung „Alternativen zum Krieg“, ein Projekt der hessisch-nassauischen Kirche. 102
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Ausdrucks auf eine nie gekannte Spitze treibt. Sein „I would prefer not to“ ist schließlich nicht mehr objektbezogen. Bartlebys Nein gewinnt geradezu religiöse Ausmaße, die Absolutheit führt zumindest nach Žižek an einen Punkt heran, an dem sich der Einzelne aus allen Bindungen herauslöst und sich Subjektivität in einer prototypischen Weise bildet. Das Nichtplanbare von Beziehungen ist ein zentrales Moment der Pädagogik und in gleicher Weise auch der Theologie. Theologischerseits wird von einem Schon-affiziert-Sein mit Letztgültigem gesprochen und vorgeschlagen, diese theologische Imprägnierung des Alltags, das Nichtobjektivierbare von Beziehungen, deren Geheimnis das Wort „Gott“ beschreibt, weniger zu übersehen. Dieses Immer-Schon ernst nehmen bedeutet: Achtsamkeit gegenüber den Geschehenszusammenhängen, nicht ein zusätzliches Machen, sondern ein Lassen, ein anderes Sein (in Variation eines bekannten Nietzsche-Zitats). Kermani macht den subversiven Blickwechsel, der auch theologieimmanent herausfordernd bleibt, an einer islamischen Legende fest: „‚Gott macht Adam ohne Ausnahme mit allen Seinen Namen bekannt, auf dass der Schöpfer mit jedem Seiner Namen gepriesen werde, der Ihm in seiner Schöpfung zukam. Adam feierte damit die Erhabenheit und Großartigkeit Gottes.‘ Und dann fügt Ibn Arabi den Satz an, der eine Geschichte der Weltliteratur einleiten könnte: ‚Kein Name ist so unbedeutend, und sei es der Name eines großen oder kleinen Spucknapfes, im Unterschied zur Meinung derer, die von der Erhabenheit der Dinge nichts verstehen.‘ In diesen Zusammenhang gehört auch die Anekdote des ägyptischen Mystikers Dhu-n-Nun aus dem 9. Jahrhundert. Jemand sagte zu ihm: ‚Zeige mir den größten Namen Gottes!‘ Dhu-n-Nun sprach: ‚Zeige mir den kleinsten!‘ und warf ihn hinaus.“105
Die Betonung der Entäußerung des Göttlichen findet sich in dem Artikel „Heil“ von Josef Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI.: „Aber das Zeichen des Heils ist in dieser Weltzeit die Niedrigkeit. Jesus setzt so dem Zeichen Gottes, das in der Größe und Herrlichkeit der Schöpfung besteht, ein zweites Zeichen entgegen, dasjenige der Niedrigkeit, das inmitten der Welt die besondere Anwesenheit Gottes markiert.“106 Die Umkehr der Perspektiven ist das theologische Dauerthema. Die Verkehrung der Blicke, eine Reform der Sehnsüchte erreicht, dass das Ausgreifen auf das Andere nicht an dem konkreten Anderen vorbeigeht, dass auch das Unscheinbare nicht übersehen, sondern als besonders und einmalig wertgeschätzt wird (vgl. auch das Magnifikat, Lk 1,46–55).
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Kermani, N., Große Liebe. Roman, München 2014, Nr. 36. Ratzinger, J., Art.: Heil, in: LThK V (2. Aufl.) 1960, Sp. 80; vgl. auch Lk 1,52.
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Aufgrund einer pädagogischen sowie theologischen Sensibilisierung für die Eigendynamik von Beziehung bzw. für das unscheinbar Wichtige, das singuläre Allgemeine, darf man von Lehrern erwarten, dass sie die ihnen zugewiesene Rolle des Lernmanagers und den Gestus der Selbstsicherheit, immer schon zu wissen und darum eindeutig gültige Wertungen vornehmen zu dürfen, problematisieren. Pädagogik des Herzens bedeutet also eine ständige Revision fester Grundsätze, eine Verlebendigung und Infragestellung von Routinen, die Offenheit gegenüber Überraschungen.
Pädagogik des Herzens wider Perfektionsterror – Kenotische Herz-Logik (II) „Gehalt bringt die Form mit, Form ist nie ohne Gehalt.“ – Goethe, Faust-Paralipomena107
Gemäß einer schlichten und zugleich tiefsinnigen östlichen Weisheitserzählung, die Albert Schweitzer für seine Zivilisationskritik verwendet, fragt Konfuzius seinen Meister, warum dieser nie die Winde und den Hebelarm am Brunnen benutzt, sondern immer selbst in die Tiefe zum Wasser hinabsteigt, sich also die alltägliche Mühsal nicht erspart. Der Meister antwortet: „Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz; wenn aber einer ein Maschinenherz in seiner Brust hat, dem geht die rechte Einfalt des Herzens verloren.“108 An diese Lehrerzählung ließe sich zugleich die Frage anschließen, wie in einer technisierten Umwelt die Rede vom derart einfältigen Herzen vermittelt werden kann, wie „digital natives“ oder Computernutzer „Zugang“ zu einem solchen einfältigen Herzen erhalten. Indes bildet die Rede vom theologischen Herzen der Schule, der Rückgriff auf theologische Metaphern, einen klaren Gegenpol zur Upgrade-Kultur, zur EnhancementTendenz, zum „Optimierungsdispositiv“ oder Perfektionierungswahn und unterstützt pädagogische Bemühungen, das Machtgefüge, das in die Architektur der Netze übergegangen ist, zu reflektieren und sichtbar zu machen.
Goethe, J. W. v., Faust I/II/Urfaust. Hg. v. E. Trunz, in: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd.3, München 2000, S. 430 (Schema zu „Faust“). 108 Schweitzer, A., zit. n.: Gebhardt, M., Deutsche Aufsätze. Oberstufe, München (2. Aufl.) 1954, S. 123. Hieran kann sich auch Goethes hellsichtige Bemerkung anschließen: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam, aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen“ (Rheinpfalz vom 27.01.2019). 107
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Dierk Spreen schildert sehr präzise den Druck zu technologischer Optimierung und „artifizieller Verbesserung“109: Im Zentrum der Politik, die immer mehr zur Biopolitik mutiert, stehen die Perfektionierung der Körper: „Denn der Körper ist immer auch das zentrale Medium des Zugriffs auf Menschen. Ob exkludiert, eingesperrt, eingeschränkt oder verletzt wird, ob Bewegungen beobachtet oder Stimuli zur Verhaltensmanipulation gegeben werden, immer steht der Körper im Mittelpunkt der Macht. Die leibliche Verletzungsoffenheit des Menschen ist die anthropologische Voraussetzung der Macht.“110
Spreen berichtet von braingates, brain-machine-interfaces, Neuroimplantaten, Verschaltungen, bei denen neuronale Impulse technisch gelesen und umgesetzt werden können. Es wird versucht, das Gehirn zu kolonisieren und zu erschließen. Die Facebook-Zukunftskonferenz von 2017 beschließt die forcierte Entwicklung einer Datenhaube, die es erlaubt, schon vorsprachliche Gedanken in einer App auszulesen und zu verbalisieren. So könnten Gedanken, die schon vorformatiert sind, Bilder, die gedacht werden, visualisiert und verschriftlicht werden. Zur Programmlogik des Facebook-Konzerns gehört es, immer mehr Daten zu sammeln und diese schließlich auswerten oder vermarkten zu können.111 Auch wenn eine Logik der Optimierung befremdet, nach der individualistisch ausschließlich Maschinen sowie Programm-Einsatz zählen und die mitmenschliche Hilfe eher systematisch ausgeschlossen wird, macht Spreen überzeugend klar, dass es keinen Grund für eine generelle Ablehnung des Enhancement gibt. Seine Annahme bleibt aber plausibel, dass in Zukunft der soziale Druck zum Enhancement und die Wahrscheinlichkeit von Ausgrenzungen von Enhancement-Verweigerern weiter wachsen werden. Entscheidend ist auch die Überlegung zur Dialektik der Technik, die sich sehr rasch als unverzichtbar ausweist, dass im Kontext technologischer Prothesen der Mensch zum „potentiellen Krüppel“ wird:112 Virilio sah den heutigen Piloten eines Jagdbombers schon vor Jahren als bloßen Annex oder Appendix eines technologischen Komplexes. Für das Handy als universaler Prothese gilt bereits die Paradoxie: Ohne Handy fühlt man sich als unvollständig, seine Nutzung, der Zugang zur Infosphäre, scheint zum Lebensablauf dazuzugehören; mit Handy wird die Abhängigkeit von einem Gerät vollends manifest; man ist ständig versucht, die Spreen, D., Upgrade-Kultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld 2015, S. 8. Ebd., S. 9. Butler ergänzt hier Spreen: Der Körper ist auch das Medium des politischen Protests. Wie Körper und Cyborgisierung sich zueinander verhalten, untersucht letztlich Donna Haraway. 111 Reinsch, M., Gedankenspiele, in: FR vom 21.4.2017, S. 16. 112 Spreen, D., ebd., S. 52. In Produktivitätsphasen mag man sich noch nicht als lästiger Annex der Technik fühlen. Freud spricht jedoch schon vom Menschen als „Prothesengott“. 109 110
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neuesten Nachrichten abzurufen. Der Wunsch nach virtuellem Dabei- oder Verbundensein begründet das Bedürfnis, das Gerät bereitzuhalten, und das Gefühl, sich nur so komplettieren zu können. Die „Informatik der Herrschaft“ wird auch auf pädagogisch-technokratischer Ebene den Menschen zu rekombinieren suchen.113 Die Rede vom Herzen impliziert hier eine Kritik der Funktionalisierung; der Bezug auf das offene Herz Jesu mutet als kompletter mythischer Spleen an, auch wenn die Thematik der Implantation von Fremdkörpern und der Perfektionierung theologisch präfiguriert ist. Es ist klar, dass die Pädagogik des Herzens mehr auf der Seite der unverfügbaren, eigendynamischen Leiblichkeit und nicht der manipulierbaren, verobjektivierbaren Körperlichkeit steht. – Geistesgeschichtlich darf man das Zeitalter der Simulation mit der religiösen Betonung der Veränderbarkeit und Formbarkeit des Menschen, den technologischen Perfektionismus im religiösen Perfektionismus, angelegt sehen; das Herz-Jesu-Implantat geht technologischen Implementierungen voraus. – Gegen Perfektionismus-Vorstellungen wäre zu betonen, dass das offene Herz den Menschen vollständig macht; ohne diese Offenheit fehlt eine wesentliche Dimension des Menschseins. Die hermeneutische Theologie kritisiert die aktuellen Perfektionsideale klar und sieht Religion bzw. das Christentum in der Fehlerannahme, der Akzeptanz eigener Kontingenz/Endlichkeit, gipfeln.
Zur Lebensform des Herzens – die herzliche Art der Selbstrücknahme „Was du ererbt von deinen Vätern hast, /erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last, / nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.“ – Johann Wolfgang von Goethe, Faust I (V. 682–685)
Auch auf dem Hintergrund von Giorgio Agambens Kritik der Ökonomisierung lässt sich ein erneutes Mal der unwahrscheinliche Bezug auf die theologische Herzmetapher rechtfertigen: Das Herz widersteht den Vernutzungstendenzen entfesselter Märkte; das unzeitgemäße Herz Jesu verkörpert nun das Erratische im Diskurs, einen unverrückbaren Orientierungspunkt und ein Realsymbol alternativer Lebensformen: In einem seiner seltenen Interviews114 fasst Agamben sein Anliegen zusammen, Gegenwartanalyse zu betreiben: Politik, Religion, Kunst und Philosophie haben als Geschichtsmächte gegenüber der Ebd., S. 21. Spreen beschreibt für den Kontext der Globalisierung die Aufteilung von billiger körperlicher Arbeit, die in Billiglohnländer delegiert wird, und informatisierter Arbeit. Globalisierung/Flexibilisierung erlaubt ebenso die Separierung von Produktion und Konsum (ebd., S. 24). 114 Agamben, G., Europa muss kollabieren. Interview mit I. Radisch, in: Die Zeit vom 27.8.2015, Nr. 35, S. 39–40. 113
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Ökonomie an Einfluss und Macht verloren. Alle Lebensbereiche sind biopolitisch überformt. Das Versprechen der Technik, die Sklaverei überflüssig zu machen, den Einsatz von Menschen als Werkzeuge zu ersetzen, realisiert sich nicht. Technik verbreitet aus Ermangelung weiterer Zwecke letztlich „in unbegrenzter Weise Knechtschaft“. – Dass die Moderne einen Sieg der Mittel über den Zweck bedeutet, ist eine frühe These eines gleichnamigen Buches. Die Swatchisierung mag ein Beleg für diese These sein; die Spielfunktionen der Uhr, des Handys oder Autos können nicht ausgeschöpft werden, erreichen aber eine Infantilisierung des Nutzers. – Agamben lehnt sich hier eng an die hegelsche Herr-Knecht-Dialektik an: Der Technik-Adjutant wird Herr und weiß nicht, wozu er dienen soll. Die zweckfreie Dimension der neuen Vorherrschaft der Technik, des Dienstes, die der neue Herr verbreitet, nennt Agamben mit Benjamin Religion (Technik-/Medienreligion). Eine Alternative zur Dominanz des ökonomisch-technologischen Komplexes ergibt sich für Agamben nur über eine Neuinterpretation der Vergangenheit115: Agamben rekurriert auf Benjamins Ansatz, „dass die Gegenwart nicht als isolierter Punkt im Kontinuum gegeben ist, sondern in einer Konstellation mit einem Moment der Vergangenheit“. Der Zugang zur Geschichte ist nicht ein Moment des privaten Gedächtnisses, sondern eine kollektiv-politische Aufgabe. „Jede Entscheidung über die Gegenwart, ob im individuellen oder kollektiven Leben, setzt die Beziehung zu einem konkreten Augenblick der Vergangenheit voraus, mit dem sie ins Reine kommen muss. Ohne diese kritische Konstellation gibt es keinen Zugang zur Gegenwart, bleibt sie undurchdringlich, weil sie sich, wie uns der Diskurs der Macht unablässig glauben zu machen versucht, auf eine Ansammlung von Zahlen und Fakten reduziert, die unwidersprochen hingenommen werden müssen.“ (ebd.)
Agamben wird wohl mit Badiou darin übereinstimmen, dass die Gegenwart nicht so komplex ist, wie sie scheint, Badiou sieht sie von Szientismus, der im Sinne von Agamben im Dienste der Ökonomie/Funktionalisierung steht, und Obskurantismus bestimmt. Es ist aber dennoch nicht leicht, eine kritische Distanz zur Gegenwart aufzubauen. Die In-Situation, das Eingebettetsein in den zähen Fluss der Verpflichtungen und konkreten Anforderungen des Tagesgeschäfts, gilt es aufzusprengen. Und hier werden Mythen wichtig, die eine solche Distanz ermöglichen. Agamben erklärt weiter, was Vergangenheit für ihn bedeutet: „nicht ein zeitloser Ursprung, ein unwiderrufliches Passé oder eine Sammlung historischer Daten“. „Ich verstehe unter Vergangenheit vielmehr etwas, was noch bevorsteht und was
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Agamben, G., ebd., konstatiert: Die „Anthropogenese … ist ein nicht abgeschlossener Prozess.“ Der Verweis auf den Aufsatz findet sich im Folgenden im Text.
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dem herrschenden Geschichtsbild entrissen werden muss, damit es sich ereignen kann. Wenn ich mich mit der Genealogie des Ausnahmezustands beschäftigt habe, dann deshalb, weil ich verstehen wollte, was um mich herum geschah; wenn ich die mönchischen Ordensregeln untersucht habe, dann deshalb, weil sie mir die Möglichkeit einer kommenden politischen Praxis zu eröffnen schienen.“ (ebd.)
Die Fortschrittsideologie, die das Heil vom Neuen erwartet, ist längst fragwürdig geworden und als Teil des ökonomischen Dispositivs entlarvt. (Agamben stellt hier ebenso den leeren Glauben, die Konsumreligion als Glaubensfundament des Kapitalismus heraus.) Bloße Repristinierungen, einfache Rückgriffe auf frühere Erzählungen vermögen nicht zu helfen; Agamben zielt auf eine Rekombination von Ideen. Das Franziskanertum kann nicht als Mönchsbewegung oder Ordensverbund reaktiviert werden. Bleibend interessant und aktuell-hilfreich ist gemäß Agamben aber die neue franziskanische Form des Gebrauchs, der vor dem Eigentum steht: „Eine Lebensform zu erfinden, die nicht auf der Tat und dem Eigentum begründet ist, sondern auf dem Gebrauch – noch so eine Aufgabe, der sich eine kommende Politik verschreiben müsste“ (ebd.). Gegenüber den Ideen einer sich gewaltsam manifestierenden Revolution betont Agamben die Möglichkeit eines leisen Wandels, die sich durch Destitution, Aufhebung erschließt. Rechtssetzende Revolutionen entfachen Gegenkräfte, so dass im Gewand des Neuen das Restaurative erneut Platz greift. Dem Kampf stellt Agamben mit Bezug auf Kafka den Ausweg gegenüber: „Suche nicht den Kampf, finde den Ausweg“. Mit einem neuen Gebrauch ist das Anliegen der radikalen Armutsbewegung angesprochen, Besitz abzulehnen; der damalige Papst Johannes XXII. verwehrte dies; er legte fest, dass die Franziskaner, wenn sie etwas gebrauchen, dies auch vorher besitzen (müssen), dass es also nicht möglich ist, radikal besitzlos zu leben. Agamben hebt hervor, dass hier erstmals von einem Papst der moderne Konsum grundgelegt und der Gesellschaft verordnet wurde. Das Nichtbesitzen, das freie Gebrauchen von Nahrung oder Luft jenseits einer Bindung an das Kapital, war dem Papst offensichtlich unheimlich; ihm war klar, dass die radikalen franziskanischen Ideen die Grenzen der Ordnung ausgehebelt hätten. Die franziskanische „Geschäftslosigkeit“116, die sich vom Markt emanzipiert, lossagt und vom Hausgemachten/Illichs „Vernakulären“ lebt, stellt für Agamben letztlich weder Nichtstun Dies erinnert an John Keats’ negative capability. Tippelskirch-Eising, D. C. v., Glaube als negative Fähigkeit, in: Angehrn, E., Küchenhoff, J. (Hg.), Die Arbeit des Negativen, Weilerswist 2014, S. 174–191, kommt auf verstörende Momente des Glaubens zu sprechen. Glaube ist nicht als festes System zu verstehen, das alles mit Sinn flutet, sondern als Freiraum, der Distanz und kritische Selbstbetrachtung erlaubt (vgl. Freuds Aussage: „aber ich weiß nicht recht, was ich mache“), so dass „Unerwartetes, Unbekanntes, Befremdliches, Verstörendes“ gemerkt und benannt werden kann (ebd., S. 188). Tippels kirch-Eising sieht die wesentliche Negativität des Glaubens vor allem in der Fähigkeit, Negatives auf-
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noch Muße dar, sondern „eine besondere Form der Tätigkeit, die darin besteht, die Werke der Ökonomie, des Rechts, der Biologie und so weiter zu deaktivieren und außer Kraft zu setzen, um sie einem neuen Gebrauch zu öffnen“. Agamben geht es um eine Neuauflage der aristotelischen Idee von einer „Tätigkeit ohne Zweck“: „Der Mensch ist das Lebewesen ohne eigenes Werk, da ihm keine besondere Berufung zugeschrieben werden kann. Folglich ist er ein Wesen der Möglichkeit, der bloßen Potenz. Genuin menschlich ist einzig die Tätigkeit, die die Werke durch ihre Außerkraftsetzung wieder der Möglichkeit und einem neuen Gebrauch öffnet“ (ebd.). Agamben erinnert an die Dichtung oder das Fest als Unterbrechung und „das UnwirksamMachen des Ökonomischen“; unweigerlich ist man auch an Bartleby erinnert und an Musils Unterscheidung des Möglichkeitssinns gegenüber dem pragmatischen Wirklichkeitsgebrauch. Die Außerkraftsetzung des Diktats des Biologischen, erfordert den Bezug auf Symbole oder Riten, wie das Herz (oder auch den Sonntag als siebten Tag) oder die Vision der klassenlosen Gesellschaft, in der Arbeit und Spiel ununterscheidbar wären. Zweckfreies Spiel oder das Rituelle als Variante des zweckfreien Spiels sind für Agamben Elementarformen von Geschäftslosigkeit: „Wenn ich von Lebensform spreche, meine ich kein anderes Leben, kein besseres oder wahreres Leben als das, welches wir führen: Die Lebensform ist die allem Leben innewohnende Geschäftslosigkeit, eine jedes Leben durchziehende Spannung, die die soziale Identität und die rechtlichen, wirtschaftlichen und sogar körperlichen Gegebenheiten außer Kraft setzt, um einen anderen Gebrauch von ihnen zu machen. Es ist dasselbe wie mit der Berufung. Vielleicht ist es gut, eine Berufung zu haben, Schriftsteller, Architekt … Doch die wahre Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung, sie ist eine Kraft, die im Inneren der Berufung wirkt, sie infragestellt und zu einer wahren Berufung werden lässt.“ (ebd.)
„Wahre Berufung“ schließt also eine Form der Selbstdistanzierung und eine offene Neudefinition ein: Am Ende des Gesprächs mit Iris Radisch kommt Agamben auf das paulinische „Hos me“, auf das Leben „als ob nicht“ zu sprechen (1. Kor 7,29ff); für Paulus war es wichtig, im Kontext der Endzeit sich neu/christlich auszurichten, auch wenn man noch alte Konventionen scheinbar einhielt, „zu leben, als ob man nicht mehr lebte“, „zu lachen, als lachte man nicht“ usw.: „Im Zeichen des ‚Als-ob-nicht‘ zu leben heißt, alle rechtlichen und sozialen Eigenschaften abzulegen, ohne dass dieses Ablegen eine neue Identität begründete“ (ebd.). Rettend oder gesucht ist also diese Differenz zu der Normalität und Verzweckung. Heideggers Rede von Eigentlichkeit
zunehmen, ohne es direkt schon umzumünzen. Das Negative besteht auch darin, dass „Offenbarung“ nur indirekt/vermittelt verstanden werden kann; dass sie also immer fraglich-anfechtbar-unkenntlich bleibt. Die Autorin verweist auf biblische Erzählungen, in denen Jesus und sein Auftrag nicht klar erkennbar sind (Mt 11,3, Joh 20,14), ebenso auf Ex 33.
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weist in die gleiche Richtung: Ein anderer Gebrauch, eine andere Lebensform ergeben sich erst auf der Grundlage einer wie auch immer gearteten minimalen Differenz, die im „hos me“ festgehalten ist. Die Rede vom theologischen Herz der Pädagogik kann also darauf setzen, dass der Rekurs auf das theologische Herz-Jesu-Relikt eine minimale Distanz zur Funktionalisierung und Perfektionierung erreicht. Das Herz-Jesu-Symbol bleibt ein sperriges Bild. Es passt nicht in die Pläne der Qualitätsmanager und wehrt sich gegen die beamtliche Selbstausbeutung. Da sich der Perfektionierungsimperativ bzw. das Optimierungsdispositiv immer und überall sofort der herkömmlichen Lebensform bemächtigt, muss – das wäre eine Grundaussage der Rechtfertigungslehre – der Ausstieg aus der Selbststeigerungsspirale, der andere Gebrauch, die künftige Lebensform, als Geschenk verstanden werden. Die Diskussion kann hier auf die Auffassung von Bolz zurückgreifen, wonach der einzig subversive Begriff derzeit der der Transzendenz ist und Bildung als Metanoia aufzufassen ist (vgl. Kap. 7.2).
Das künstlich-künstlerische Herz-Jesu – Fremde Einflüsterungen „Das Herz bricht nicht und wird nicht gebrochen. Es verirrt sich in der Realität.“ – Marcus Steinweg117
Das pädagogische Herz ist als ein „Kunstherz“ und „Kunstprojekt“ zu visualisieren. Das Sichtbarmachen von Ideen, eine Ausweitung des Bereichs des Möglichen, ist nach dem renommierten früheren Direktor des Münchner „Hauses der Kunst“ Okwui Enwezor ein Kernanliegen von Kunst. So könnte eine zu konzipierende Installation „Hör-Herz-Raum“ Computer nutzen, die sich ja schon ohnehin bereits im Foyer der Schulen oder in den Lehrerzimmern befinden: Via Kopfhörer wären an den Computern Zitate aus der Bibel oder anderen religiösen Quellentexten zu hören, Ausschnitte aus der Benedikt-Regel oder Gedanken anderer spiritueller Meister. Die unter 2.3 oder auch 5.3 aufgeführten Zitate eignen sich ebenfalls als Grundbestand des „Hör-Herz-Raums. Die Hörstationen bzw. Audiodateien sind als Reminiszenz zur „Lectio divina“ gedacht: Sie können das „Sendungsbewusstsein“ der Lehrer spiegeln oder ebenso die Schuldoktrin des Qualitätsmanagements konterkarieren (zu den quasi-religiösen Elementen des Qualitätsmanagements, vgl. 7.1). Gegenüber einer plumpen Programmatik der Qualitätssteigerung und des Perfektionismus scheinen religiöse Theorien der
Steinweg, M., Evidenzterror, Berlin 2015, S. 122, 125.
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Verhaltensänderung um vieles differenzierter.118 Das Herz-Kunst-Experiment kann durch das leise Persistieren die laute Aufdringlichkeit des QM-Referenzrahmens deutlich machen. Neuere ideologische Formationen treten im Gewand der Alternativlosigkeit auf. Die Texte des „Kunst-Herz“-Projekts, die sich nur dem erschließen, der sich Zeit nimmt, Kopfhörer aufzusetzen, nehmen sich dagegen merkwürdig dezent aus. Während eine offene Opposition gegen die eilige Umtriebigkeit und „Methodentollwut“ wenig sinnvoll erscheint, favorisieren die Hör-Texte eine stille Performativität. Letztlich wäre jeder religiöse Grundlagentext geeignet, herrschende Schulideologien zu unterminieren und einen fremden Geist der Menschlichkeit spürbar werden zu lassen. Schließlich veranschaulicht eine „Lectio divina“ aus der Benedikt-Regel die wittgensteinsche Einsicht, wonach eine „Kultur wie eine Ordensregel strukturiert“ ist:119 Auch wer sich liberal und profan wähnt, untersteht einem Koordinatensystem symbolischer Ordnungen. „Wir fühlen uns frei, weil wir keine Begriffe haben, unsere Unfreiheit zu beschreiben“, lautet Žižeks Vermutung.120 Wenn Kunst „das Zuvorkommende“ ist (Wilfried Dickhoff), so hat sie Gratis-Angebote der Infragestellung und Verfremdung der Ordnung zu unterbreiten: „Das Begehren des Unmöglichen ist der Vernunftbegriff der Kunst.“121 Daher ist die Vorstellung von einem „Lehrer-Bodhisattva“ nicht abwegig, der in seinen Gerechtigkeitsbemühungen/-forderungen nicht nachlässt und eine Beförderung solange ablehnt, bis alle anderen sie erhalten haben. Er wird den Sinn nicht im Funktionieren von Systemen suchen, vielmehr berufliche Erfüllung im konkreten Erleben, im (existentialistischen) direkten Vollzug des Lehrerseins empfinden/erkennen. Neben Institutionskritik reflektiert das „Hör-Herz-Raum“-Projekt die Individualisierungs tendenzen innerhalb der Gesellschaft bzw. die Verinnerlichungstendenz von Religion. Es benötigt lediglich einen werbenden Hinweis auf den virtuellen Standort der Audiodateien, die im Netz abgerufen werden können. Das Hör-Herz-Raum-Projekt wirft die Frage nach der Intensität und Reichweite der Spurensuche auf und fragt, inwieweit Ursprünge, Wirkungsketten sowie Vorgänge der Gabe/Weitergabe identifiziert werden können.
Vgl. dazu Sloterdijk, P., Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. Wie Ohr, Hören und Herz zusammenhängen, kann in dem Essay zum Lehrerohr gezeigt werden. Hier wird deutlich, dass das Ohr einen Freiraum meint, indem sich die eigene Interpretation einnisten und ausbreiten kann. 120 Vgl. dazu auch Goethes Einsicht: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein“ (Ottiliens Tagebuch; Goethe, J. W., Die Wahlverwandtschaften, Zürich 1996, S. 244). 121 Dickhoff, W., Das Zuvorkommende. Eine Kunstkritik, Zürich Berlin 2009, 16. und S. 53f: „Das Zuvorkommende … ist das Unverhoffte der Kunst“, „das nichtidentische Herz der Kunst, das ihre rückhaltlose, grenzenlose, interesselose Großzügigkeit im Fluss hält.“ 118 119
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Von der Universalität herzlicher Weisheit „Liebe heißt geben, was man nicht hat, jemandem, der es nicht will.“ – Jacques Lacan122
Die Frage, inwiefern man den herzpädagogischen Ansatz implizit christlich nennen darf oder soll, weist über die Suche nach einer originellen Etikettierung des Vorhabens hinaus. Der agambensche Bezug auf die christliche Vorprägung von Symbolen rechtfertigt bereits die Benennung. Das offene Herz wurde in einem sehr impliziten und universalistischen Sinne als christliches Motiv verstanden. Der Einsatz des Herz-Jesu-Bildes wurde strapaziert, ebenso die Widerständigkeit und Relevanz des Herzens Jesu betont. – Ein kleines religiöses Relikt und Fragment vermag wohl nicht sofort ein Paradigma der Schulpolitik wirkmächtig zu intermittieren; die Intervention christlicher Kunst zielt jedoch auf einer grundsätzlichen Ebene auf politische Subversion. Die vorliegenden Ausführungen sind also bezüglich ihrer Grundlogik theologisch oder christlich imprägniert. Es gilt also den Ausspruch von Boethius „anima naturaliter christiana/theologica“, der von der theologischen Imprägnierung der Seele spricht, ebenso wie den aristotelischen Satz „he psyche panta pos estin“ bzw. das thomasische Diktum „anima quodammodo omnia“ (Die Seele ist gewissermaßen alles) für die Universalisierung der Herzpädagogik einzusetzen. Ohne auf Schützenhilfe einer etablierten Religion zu hoffen oder diese retten zu wollen, geht es um die Reflexion über ein körperloses Organ und ihr widerständig-fremdes Persistieren. Die Fremdheit des Organs beruht in seinem eigenwilligen Schlagen, seinem variablen Rhythmus; seine Nichtvernutzbarkeit versperrt sich auch einer Aneignung durch etablierte christliche Konfessionen. Herz-Jesu-Adaptionen stehen auf dem Hintergrund der biblischen Rede vom Herzen. Und die Herz-Metapher findet sich häufig in der Bibel thematisiert. Ein viel zitiertes Psalmwort lautet: „Lehre mich, meine Tage zu zählen und schenke mir ein weises Herz!“ (Ps 90,12): Das Herz hat die menschliche Endlichkeit zu bedenken und so Weisheit zu erlangen. Der Beter versteht hier das weise Herz als Geschenk, für das er sich bittend öffnet. Die Hinwendung zu Gott mag zunächst sehr reduziert als radikale Öffnungsklausel verstanden werden. Sie betont bereits eine Einsicht in den Stückwerk-Charakter des eigenen Tuns, das Nicht-alles eines verrechnenden Weltzugriffs und die gleichzeitige Notwendigkeit der Verbalisierung des Wunsches, der mit einer Adressierung verbunden ist. Die Adressierung der Bitten an ein Du ist mit der Relativierung aller irdischen Herren verbunden. – Die Nichtverleugnung von Kontingenz ist entscheidend, sie bringt die Einsicht in die eigene Vorläufigkeit: „Wir sind alle nur Vorläufer“ (Rahner) bedeutet konkret: Die eigene Situation ist nicht absolut. Wer meint, es sei ihm nicht zu helfen, er befinde sich in einer alternativlosen Lage, setzt sich absolut, konstruiert sich im Grunde einen unanfechtbaren Platz, in Lacan, J., zit. n.: Badiou/Roudinesco, Jacques Lacan, Wien 2013, S. 82.
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dem er sich in seiner Hilflosigkeit einrichtet, einen negativen Gottesthron, in die Selbstisolation vermeintlich absoluter Negativität. (Man mag bei dieser Lesart des ersten Teilsatzes des Psalmwortes unweigerlich existentialistisch-konstruktivistische Argumentationsfiguren heraushören oder das systemisch-therapeutische Ziel, als absolut deklarierte Problemlagen aufzubrechen.) Zumindest wäre das Bonmot Einsteins zu ergänzen, dass das Denken, das zum Problem geführt wird, nicht das Denken ist, das zu seiner Lösung führt oder diese bereithält. Die Bitte des Psalmisten zielt in gleicher Weise auf ein anderes neues Denken, ein Sich-Bereithalten für den Einbruch des Anderen, das den Rahmen einfacher Psychotechnik sprengt. Der zweite Teil des Verses bildet schließlich die Bitte um ein weises Herz. Da die hebräische Lyrik, die keine Reimschemata kennt, mit dem Parallelismus membrorum arbeitet, und gerne Gedanken variierend wiederholt, erscheinen beide Teile des Verses noch miteinander verbunden: Das weise Herz, das als Geschenk erhofft wird, erwächst aus dem Bewusstsein der Endlichkeit. In Kleists Novelle „Marquise von O.“ wird wegen der „zerbrechlichen Einrichtung der Welt“ vergeben; auch im „Michael Kohlhaas“ bildet die Einsicht in diese Fragilität das Motiv für Umkehrforderungen. Vergebung ist möglich durch Annahme der Endlichkeit: Das weise Herz lernt ständig und vor allem lernt es nicht aus. Von Konfuzius wird die Legende erzählt, dass er, als er einen Schüler auf dessen Lernfortschritte hin befragt, merkt, wie souverän dieser ganz neue Formulierungen gebraucht. Der Schüler spricht davon, dass er immer einfacher wird, dass er Riten und Musik vergisst, und meint nun: „Ich sitze im Vergessen. … Ich lasse meine Gliedmaßen fahren, entlasse Blick und Gehör, verlasse Körper und Bewusstsein und bin vollkommen gelöst.“ Konfuzius erklärt daraufhin: „Wenn du alle Fesseln los bist, hast du keine Vorlieben mehr. Wenn du allen Verwandlungen der Wirklichkeit folgst, bist du völlig unbefangen. Du bist ein Weiser geworden. Erlaube, dass ich, Qui, nun dein Schüler werde.“123 Eine Pädagogik des Herzens kann hier die Überwindung der Bindung an Fachjargons oder zumindest der Fixierung auf einzelne Satzwahrheiten studieren. J.-F. Billeter resümiert: „Im Zhuangzi erscheint Konfuzius als der beste aller Pädagogen, weil er stets selber lernt.“124 Auch wenn sich östliche und westliche Mystik oder beide Meditationsformen sicher in ihren Erleuchtungsund Erlösungsvorstellungen deutlich unterscheiden, scheint das gemeinsame Ziel jedoch die Erlangung eines offenen Herzens zu sein, in dem die Welt Platz hat: In der jüdischen Weisheit gerinnt die Erkenntnis des offenen weisen Herzens zu der lapidaren Formulierung: „Wer ist weise? Wer von allen lernt.“125 Lehrende tun also gut daran, ihre Bewunderung für gute SchülerBeiträge und ihre eigenen Defizite deutlich zu machen.
Billeter, J.-F., Das Wirken in den Dingen. Vier Vorlesungen über das Zhuangzi, Berlin 2015, S. 80. Ebd., S. 83. 125 Mischna, Avot 4,1. 123 124
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Die Weisheit besteht in den Worten Wittgensteins darin, „halt zu machen“: „Die Schwierigkeit – könnte ich sagen – ist nicht, die Lösung zu finden, sondern, etwas als Lösung anzuerkennen, was aussieht, als wäre es erst eine Vorstufe zu ihr … – hängt, glaube ich, damit zusammen, dass wir fälschlich eine Erklärung erwarten, während eine Beschreibung die Lösung der Schwierigkeit ist, wenn wir sie richtig in unsere Betrachtung einordnen. Wenn wir bei ihr verweilen, werden wir nicht versuchen über sie hinauszukommen.“126 Es kommt also darauf an, an dem Naheliegenden nicht vorbeizugehen. Wenn das Entscheidende darin besteht, das Problem exakt zu beschreiben, ist das weise Herz notwendig phänomenologisch dimensioniert; im Sinne der husserlschen Aussage: „Alle Probleme müssen sich lösen durch eine genaue Beschreibung.“127 Das konfuzianische Lassen mag nicht weit entfernt von Spinozas Definition von Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ sein, darauf deuten viele Geschichten hin, in denen das Notwendige nicht durch das Intentionale gestört oder aufgehoben wird.128 Als weise gilt denn auch: „nicht einzugreifen“, nicht zu tun und durch die Gelassenheit zu bewegen, „die Dinge von selbst sich wandeln lassen“129. Blumenberg umschreibt Philosophie als das, „worauf man beinahe von selbst gekommen wäre.“130 – Mit Blick auf Fontane ist diese Definition nicht unwichtig, denn: „Die meisten sehen an der Hauptsache vorbei.“131 Von fontanescher Annahme des Alltäglichen und Ironie zeugt auch folgende Aussage: „Die optimale Weise der Vermeidung von Langeweile ist die Theorie. … Nur die Theorie schöpft die Zeitdimensionen aus, da jeder intentionale Gegenstand nur für eine theoretische Einstellung ‚unendlich reichhaltig‘ ist. Es gibt theoretisch keinen Gegenstandsverbrauch.“132 Wie Blumenberg meint, gilt das auch für einen Gott: Die Bejahung des Seienden bedeutet nach Augustinus Liebe: „volo ut sis“, „ich will, dass du bist“, ist die Haltung der Liebenden. Und so deutet sich ein Zusammenklang von Glauben und Lieben an; Heidegger
Wittgenstein, zit. n.: Billeter, J. F., a. a. O., S. 13. Husserl, E., zit. n.: Blumenberg, H., Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlass. Hg. v. M. Sommer, Berlin 2002, S. 97. 128 Vgl. Billeter, J. F., a. a. O., S. 48f: Das Himmlische, das spontane, notwendige unbewusste Tun, steht über dem volitionalen. Billeter erinnert auch an Kleists Schriften über das Marionettentheater und über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. 129 Billeter, J.-F., a. a. O., S 110; vgl. Brechts Kritik an der weisen Gelassenheit in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ von 1939. 130 Blumenberg, H., Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlass. Hg. v. M. Sommer, Berlin 2002, S. 9. 131 Blumenberg, H., ebd., S. 9. Er sucht nach der passenden Theorie und erläutert mit Bezug auf Heidegger, dass auf die Grundlosigkeit des Seins (das Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts) mit der „Befindlichkeit der Angst“ oder des Dankes reagiert werden kann (ebd., S. 324f). 132 Ebd., S. 269f. 126 127
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
stellt ihn heraus: „Denken, Danken – Glaube, Liebe: das Selbe“.133 Die Weise unseres Liebens bestimmt die Art unseres Glaubens: Teresa von Avila sieht zwar einen Gegensatz zwischen viel denken und viel lieben, betont aber gleichermaßen die Haltung der Dankbarkeit: „Denn wenn wir nicht erkennen, was wir bekommen, werden wir nicht wach, um zu lieben.“134 „Diese Art gegenseitiger Liebe ist es, die ich bei uns verwirklicht sehen möchte, doch wird das am Anfang nicht möglich sein. Lasst uns diese Liebe auf einer mittleren Stufe anpacken, denn wenn sich auch ein wenig Zärtlichkeit einmischt, wird es nicht schaden.“ „Ich halte es jedenfalls für unmöglich, dass die Liebe, wo es sie denn gibt, sich damit begnügt, auf der Stelle zu treten.“ „Das sicherste Zeichen, ob wir diese beiden Dinge … (Gottesliebe und Nächstenliebe) halten, ist meines Erachtens die treue Einhaltung der Nächstenliebe, denn ob wir Gott lieben, kann man nicht wissen …, die Liebe zum Nächsten erkennt man aber sehr wohl.“135
Das offene, aufmerksame Herz ist immer ein liebendes. Dies lässt sich auch mit Bezug auf Scheler sagen, für den alles Fühlen schon ein Wertnehmen ist, jede Emotion demnach von Liebe imprägniert ist. Gleiches gilt mit Blick auf Augustinus: Hier ist Liebe eine Bejahung der Existenz des anderen/des Lebens/der emotionalen Verfassung.136 Die Offenheit des Herzens bedingt eine offene Fragehaltung: Dass Religion nicht zusätzliche Antworten gibt, sondern eine Fortsetzung der Frage im Blick hat (Luhmann), wird noch herausgestellt (vgl. Kap. 4); es darf bereits angedeutet werden, wie sehr die Offenheit der Fragehaltung Teil der Antwort ist; man denke nur an Heideggers Loblied der Frage als der „Frömmigkeit des Denkens“. Die Metapher des offenen, Tömmel, T. N., Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin 2013, S. 120, 180, 176. 134 Teresa von Avila, „Was lieben heißt“. Gedanken für ein gutes Leben. Hg. v. A. Prinz, Berlin 2015, S. 54, 60. Und S. 64: „Es widerfuhr mir … manchmal sogar beim Lesen, dass mich ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes überkam, so dass ich in keiner Weise bezweifeln konnte, dass er in meinem Innern [im Herzen, wo sonst?] weilte oder ich ganz in ihm versenkt war.“ Ihre Aussage „Es ist nicht nötig, in den Himmel aufzusteigen oder weiter wegzugehen als nur zu uns selbst“ (ebd., S. 65), erscheint herzpädagogisch nachvollziehbar, wenn sie den Weg zum (für andere) offenen Herzen meint. „Wenn wir aber zurückhaltend und klug mit der Liebe umgehen, von der ich spreche, wird alles zum Gewinn, denn das, was uns gefühlsmäßig als attraktiv vorkommt, wandelt sich in Tugend …“ (ebd., S. 55). 135 Teresa von Avila, ebd., S. 55, 58, 29. 136 Schloßberger, M., Anthropologie der Liebe, Thementag: Die Liebe und die Philosophie, Haus am Dom, Frankfurt a. M. 28.2.2015. Schlossberger stellt vor allem den ordo amoris von Scheler dar. Die emotionale Ordnung richtet sich nach den Formen des Lebens und des Geistes, wobei alles zunächst fühlend gegeben ist. 133
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verwundeten Herzens legt der Herzpädagogik nun weniger einen augustinisch-platonischen Denkansatz nahe. Wahrheit wird gemäß dieser Tradition als von innen kommend, das Herz als (idiosynkratische) Produktionsstätte eigener Wahrheiten angesehen und dann mit Authentizitätsversprechen belegt. Dagegen hindert der aristotelisch-thomasische Ansatz das Subjekt an einem Um-sich-Kreisen oder einer Verinnerlichung und einem Rückzug in sich. Gerade auch der jüdischen Philosophie (vgl. Lévinas) entstammt der Ansatzpunkt, Wahrheit als von außen traumatisch eindringend zu denken. Wenn Herzpädagogen also zwischen Optionen wählen müssen, so ist zu bedenken: Das moderne Selbstverständnis pocht auf welthaltige Erfahrung.
Das wilde Denken des Herzens „Was Philosophie sei, ist wissenschaftlich nicht zu bestimmen. Philosophie ist ein Akt der Freiheit und bestimmt sich selbst, nicht aus der Willkür einer Laune, sondern aus der Notwendigkeit eines sich in ihrem Denken ausrechnenden Glaubensgehalts, eines Sehens und Wollens im Ganzen.“ – Karl Jaspers137
Wie mehrfach angedeutet, charakterisiert das menschliche Herz eine eigenwillige Logik, es entfacht ein „wildes Denken“. Der Ausdruck kann auch ohne direkte Anlehnung an Lévi-Strauss gebraucht werden. Schließlich bleiben die herzpädagogischen Überlegungen der hermeneutischen Tradition verpflichtet. Der Integrationsversuch zeitgenössischer, postmoderner Denkansätze verdient aber das Prädikat „wild“. Zu Knut Ebelings „Wilder Archäologie“ gehört nun allerdings eine neue Bezugnahme auf Materialitäten: So nähert man sich z. B. der Globalisierung nicht über philosophische Konzepte, sondern eher über ein Kugeldenken (vgl. Sloterdijks Sphärenprojekt) oder rekonstruiert den Weg der Stahlcontainer und ihr Verbleiben oder Verlorengehen auf den Schifffahrtsstraßen. Ebeling nennt als Referenzpunkte für sein Vorgehen Freud, Benjamin, Foucault, Bachelard oder Kittler, aber auch Agamben. „Wilde Archäologen“ interessieren sich für die Kontrollarchitektur der Schule; die „Reste“ der Anstalt, Formen rigider Disziplin, finden sich etwa im Schlüsselmonopol des Lehrers, der den Zugang zum Klassenraum reguliert; die Schlüssel-Macht des „Schließers“ gehört wesentlich zur Gefängnisarchitektur. Neben der Bezugnahme auf „Materialitäten“ bleiben aber idealistische Bildungskontexte brisant. Das Projekt der Hermeneutik wird durch Ebelings Überlegungen erweitert und mehrdimensional aufgeladen, nicht außer Kraft gesetzt: Das Herz repräsentiert hier Jaspers, K., Erwiderung auf R. Bultmanns Antwort, in: Jaspers, K., Bultmann, R., Die Frage der Entmythologisierung, München 1981, S. 134.
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
weniger eine bloße Metapher, kein einfaches Symbol, das sich organisch/nahtlos in den pädagogischen Kontext einordnen lässt. Das in den Bereich der Pädagogik implementierte Herz (oder in ähnlicher Weise das Ohr, vgl. Kap. 5.1) muss im Sinne Ebelings als ein mythisches, religiös aufgeladenes Relikt vorgestellt werden; es gilt nachzuverfolgen, wie Herz-Jesu-Bilder/-Artefakte und Weihnachtsmotive universalisiert werden. Man kann dieses Vorgehen der Herzpädagogik als „diagrammatisch“ bezeichnen, denn SinnVerschiebungen werden rekonstruiert und Artefakte, Details auch mit Bezug auf Deleuze rekombiniert: Wie Žižek richtig zu bedenken gab, insinuiert die Rede von Kontextualisierung und Rekontextualisierung, dass es noch geschlossene, homogene Kontexte gibt, diese erscheinen allerdings durch die entwurzelnde Macht des globalen Kapitalismus aufgesprengt, deformiert und bereits neujustiert. In entfesselten Bildwelten und Szenarien simulativer Neuinszenierung erscheint es einerseits naheliegend und alles andere als verwegen, Bilder mit Prägekraft, so auch das Bild vom offenen Herzen (Jesu), „neu zu montieren“. Während Kunst leicht adaptierbar erscheint, erweist sich ein überfrachtetes Artefakt der Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts als sperrig. Die Provokation besteht in der unmöglichen fremden Konfrontation von Archaismen und kurrenten funktionalen Kontexten, die durch die Montage ihre bruchlose Modernität verlieren. Ebeling sieht den Fokus auf Artefakte als anstößig: „Mit anderen Worten: Wenn das Innen die Welt der Reflexion ist, dann bedeutet die Exteriorisierung eine Katastrophe für die Philosophie.“138 Das Außen ist für den Archäologen nicht das Trauma der radikalen Fremdheit eines anderen (Lévinas), Ebeling betont das Außen als Artefakt: „Das Denken des Außen ist eine Maschine der Sichtbarkeit, die ständig neue Agenten des Wissens erscheinen lässt. … Von Außen kommt das Reale und Materielle, welches die Philosophie nie erreicht. … Die Versteinerung des Realen speichern keine mentalen Prozesse oder Negativitäten, … kein Gedanke geht in es ein.“139 Archäologie erscheint also wegen der möglichen Thematisierung von Rest-Dimensionen als das angemessene Verfahren.140 – Sie wendet sich also Aktenbergen, Schulbüchern,
Ebeling, K., Einbrüche des Außen. Die Philosophie und ihre Materialitäten oder Für eine fröhliche Wissenschaft der materiellen Kultur, in: Dickhoff, W., Steinweg, M. (Hg.), Inaesthetics 4: Philosophy!, Berlin 2014, S. 111. Die Aussage muss nicht so sehr irritieren, wenn man bedenkt, dass die lévinassche Philosophie das Außen thematisiert, nicht mehr nur von innen nach außen operiert; das Ich entwirft hier nicht hermeneutisch die Welt, sondern Lévinas reflektiert das Trauma des Einbruchs des Anderen von außen. Ebeling expliziert hier allerdings andere Schwerpunkte. 139 Ebd., S. 113. 140 Ebd., S. 115. Ebeling will die philosophischen Simulationen des Materiellen verwerfen und zu den Träumen vorstoßen, die konkreten Praktiken des Wissens, Architekturen und Dispositive und andere „nicht sichtbaren und nicht verborgenen“ Positivitäten rekonstruieren/beschreiben. „Diese rohen Dinge sind der Namenlosigkeit der Geröllhalde näher als der Kenntlichkeit des Schulbuchs. Aus diesem Grund ist die Archäologie die (Geistes- wie Natur-)Wissenschaft dessen, was sich nicht repräsentiert, wo sich weder etwas bildlich noch historisch repräsentiert.“ 138
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Sitzungsprotokollen, der Raumgestaltung, den Relikten schulischer Funktionsmechanismen zu; schließlich manifestiert sich derart Schule. Eine derartige archäologische Spurensuche in einer materiellen Schulkultur scheint weit entfernt von aktuellen Bildungsdiskursen. Archäologie im Sinne Ebelings greift aber auch auf das ideologiekritische Projekt einer „Psychopathologie des Schulalltags“ zurück; Ebeling ist allerdings an kräfteraubenden „Rückzugsgefechten der Kritik“141 nicht interessiert. Die religionskritischen/theologischen Fragen, die den Schulalltag durchziehen, sollten aber nicht aufgegeben werden. Schließlich werden hier auch Fragen des multikulturellen Zusammenlebens berührt. Darum ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Ebeling an anderer Stelle den Begriff der Materialität erweitert und eine weitere Definition der Archäologie bietet, die für die Herzpädagogik relevant erscheint: Archäologie will die Zeichen ermitteln, die Voreinstellungen bewirken, also Operatoren „herauspräparieren“ und identifizieren, Metazeichen, die wie Notenschlüssel alle anderen Zeichen codieren und direkt operieren und umcodieren können.142 Das Herzsymbol muss als derartiges Metazeichen oder Operator verstanden werden, ein Bild, das nicht nur angeschaut, sondern auch bewohnt werden kann.143 Operatoren sind also „Leitbilder“, die Perspektiven eröffnen und andere verunmöglichen, also Weichenstellungen vornehmen, so wie die Herz-Jesu-Bilder etwas von der Gestaltungskraft mythisch formatierter, elementarer Menschlichkeit verraten und eine Programmatik der Ausweitung intimer Raumverhältnisse vorgeben (vgl. Sloterdijks Sphärologie). Es ist also zu fragen, welche weiteren (leisen) Operatoren/Metazeichen die herzlichen Schultraditionen wirksam halten, welche Operatoren derzeit instantiiert werden, die der herzpädagogischen Tradition entgegenstehen, oder wie der derzeitige Streit um Operatoren/Leitbilder/Metazeichen sich gestaltet. Die Fragen mögen unpragmatisch klingen, entsprechen aber zumindest Kluges Sammelprojekt einer „Chronik der Gefühle“. Schließlich gilt es Schule als einen spezifisch gestimmten und emotional dimensionierten Raum zu begreifen, dessen Prägung und Charakter sich durch die (Um-) Formatierung von Vorzeichen verändern lässt. Wie Ebeling herausstellt, gilt es „mit Materialitäten Anfänge diesseits von Ursprüngen zu lokalisieren“144. Im Geflecht verschiedener, sich überlagernder Kausalitätsketten verebbt die Suche nach dem ersten Grund. Ebeling visiert nicht „das reine Außen des Anfangs“ (Foucault) an und Ebd., S. 120. Ebeling, K., Mediale Operatoren, eine Verschwörungstheorie der Medien, in: Echterholter, A., Tonargumente (gleichnamige Webseite) 8/2013, Vortragsmitschnitt. 143 Taylor, M. C., Saarinen, E., Imagologies. Media Philosophy, New York 1994, media philosophy 3: „Images must be inhabited not simply interpreted.“ 144 Ebeling, K., ebd., S 120. Das Zitat Winners „artefacts have politics“ stammt aus: Rieger, S., Probekörper, in: Bühler, B., Rieger, S., Kultur. Ein Maschinarium des Wissens, Berlin 2014, S. 205. 141 142
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betont, dass mit erratischen Momenten der Irritation bereits eine Neuorientierung zu erreichen ist. Derart kann das Herzsymbol auf ein (neues) Zusammen von Pädagogik/Theologie hinweisen: „Philosophieren heißt nicht Probleme lösen, sondern sie auf einem bestimmten Niveau leben“ (Nicolá Gómez Davila)145. Die Suche nach Neuorientierungen, nach Operatoren, die den Spielraum des Subjekts nicht länger einengen, sondern erweitern, ist zugleich die Kernaufgabe der Philosophie: „Es gibt Philosophie nur als Erfahrung der Brüchigkeit der instituierten Wahrheiten, als Lockerung der Realitätsverbundenheit des denkenden Subjekts“.146
Die Theorie des Herzens reflektiert die Gültigkeit von Zwängen und Vorgaben, wenn sie etwa zwischen Legalität und Legitimität unterscheidet, Lücken im System aufweist, oder Metanormen reflektiert, die erst dem konkreten Tun eine Gestalt und Bedeutung geben: Die Stahlnetze der Institutionen öffnen sich, „wenn die Inkonsistenz der Fakten“ auf „eine Öffnung auf konsistente Träume“ hin dargelegt wird.147 Der Effekt einer solchen Theorie/ Philosophie sind Freiheitsgewinne innerer und äußerer Art, Denkmöglichkeiten und Handlungsspielräume: „Die Bewegung, in der wir uns, nicht ohne tastende Versuche, Träume und Illusionen von dem lösen, was als wahr gilt, und nach anderen Spielregeln suchen – diese Bewegung ist Philosophie. Die Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der überkommenen Werte, die ganzen Bemühungen, anders zu denken, zu handeln und zu sein – all das ist Philosophie.“148
Philosophie und Theologie sind hier gleichermaßen fasziniert vom Ende und einem neuen Anfang des Denkens: Žižek und Badiou stimmen hier überein: „Man muss in der Lage sein, das auszusprechen, was nicht gewöhnlich ist. Man muss die Verwandlung des Lebens denken … Den Wert der Ausnahme zu verdeutlichen, den Wert des Ereignisses, den Wert des Bruches, und zwar im Widerstand gegen das einfache Weiterfließen des Lebens, gegen den gesellschaftlichen Konservativismus. – Die Wahl, die
Davila, N. G., zit. n.: Dickhoff, W., Steinweg, M., Wie nicht philosophieren?, in: dies. (Hg.), Inaesthetics 4, Berlin 2014, S. 14. 146 Dickhoff, W., Steinweg, M., Wie nicht philosophieren?, in: dies. (Hg.), Inaesthetics 4, Berlin 2014, S. 16. 147 Ebd., S. 16f. 148 Foucault, M., zit. n.: Dickhoff, W., Steinweg, M., ebd., S. 18. 145
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Distanz und die Ausnahme zu behandeln: das sind die drei großen Aufgaben der Philosophie – zumindest wenn die Philosophie im Leben von Wert sein soll und mehr als eine akademische Disziplin.“149
Die Offenheit des Herzens symbolisiert die Fragen, die das Subjekt ausmachen und konstituieren. Von Gadamer bis Jabès übersteigt die Frage die Antwort: Es gibt für die Hermeneutik nichts Anstößigeres als das freie Flottieren von Antworten ohne Koordinatensystem. Hermeneutik oder auch das Geschäft der Philosophie ist die Suche nach der Frage, auf die Texte antworten, auf die Meinungen sich beziehen (Marquard). – Die Rettung fremder, übrigbleibender Antwortreste und ihre Einordnung in eine neue Geschichte gehört damit in ein archäologisches Projekt.
Zur Herzform der Vermittlung „Schickt eure Besserwisser in die Wüste. Schluss mit der Tyrannei der Bonzen- und Pädagogenüberheblichkeit. Brecht die uneingeschränkt usurpierte Anmaßung der Lehrpläne, die Stumpfheit der Unterrichtenden, die eure Obsessionen und Phantasien vergewaltigen. Ein für allemal Schluss! Und immer wieder. Die Unterdrücker dorthin schicken, wo sie hingehören. Weg mit den ungelehrigen Lehrern. Wir wollen Lehrer, die uns etwas sagen, etwas zeigen, die mit uns mitdenken, Spuren freilegen. Energie anstacheln, die aufbrechen, zerbrechen, aufwühlen, zerwühlen, formen, Linien ziehen, Töne suchen, Helldunkles, Farbiges. Wir wollen Lehrer, die anregen, entführen, mit uns tanzen, mit uns schweigen. Wir wollen Lehrer, die etwas von uns annehmen, lernen. Und wir von ihnen! … Wir wollen nicht tot sein! Wir wollen … Ein möglicher Lehrer: Irgendeiner – man hat ihn nicht wiedergefunden – soll gesagt haben, er habe ihn gesehen, wie er in den Bäumen mit den kleinen Affen Sprünge machte.“ – Henri Michaux150
Die Form der Vermittlung gehört wesentlich zum Inhalt der Lehre; wie könnte man auch beide voneinander zu trennen versuchen? Einer Pädagogik des Herzens schrieb schon B. Gracian ins Stammbuch, dass die Höflichkeit keine leeren Worte beinhaltet, sondern … die Oberfläche Badiou, A., Žižek, S., Philosophie und Aktualität, Wien 2005, S. 23f. Jaeggi, U., Kunst ist überall, Klagenfurt Graz 2014, S. 118f: Schriftart und Rechtschreibung variiert etwas vom Original.
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ihre Tiefe hat.151 Von Deleuze ist womöglich zu lernen, dass Sinn auch als ein Oberflächeneffekt zu begreifen ist (vgl. seine „Logik des Sinns“). McLuhans magischer Satz „The medium is the message“ betont ebenfalls die Bedeutung der Form. Er hält den Inhalt in Bezug auf das (neue) Medium für so wenig bedeutend wie ein Graffiti auf der Außenverkleidung der Atombombe. Friedrich Kittler interpretierte das mcluhansche Menetekel dahingehend, dass der Inhalt eines Mediums ein anderes Medium sei.152 F. B. Simon meinte, dass in der Schule vor allem das Sitzen gelernt werde, daher sei auch der Lehrstuhl der „Gipfel des Bildungssystems“. Die Form des Lehrens ist stets als entscheidender (impliziter) Inhalt der Lehre anzusehen.153 Die Pädagogik des Herzens als implizite Theologie macht das Herz zum eigentlichen (impliziten) Lerngegenstand und damit werden Herzlichkeit und Beherztheit zu basalen Umgangs- und Lehrformen. Wenn der Kanzelredner Louis Jacques Monsabré meint, dass die Bescheidenheit sogar vor ihrem Schatten flüchtet, so kann das bedeuten, dass sich im Unterricht durch ein Aufgehen des Lehrers im Inhalt, eine Dominanz des immer größeren Gegenstands, eine dringende Suche nach weiterführenden Fragen ereignet. Der Lehrer ist nicht vorhanden, die konkreten Schülerbefindlichkeiten treten in den Hintergrund und es geht einzig um das Verstehen des Themas, die Annäherung an das, was Texte aussagen, die Ahnung der Größe des Forschers und das Nachahmen von großen Gesten, das Ringen um die bestmögliche Antwort. – Hier ergibt sich das pädagogische Problem, wie nun die zum Teil schockierenden und drastischen Aussagen von Schriftstellern zu präsentieren sind, inwieweit diese gar durch Kontextualisierungen abzuschwächen sind, um sie rezipierbar zu machen. Behutsamkeit und Umsicht steht hier gegen die Treue zum Original. Das hegelsche „Verweilen im Negativen“ kann bedeuten, dass der Unterricht auch sehr lange Unsicherheiten aushält, nicht ständig Entscheidungen des Schülers verlangt, sondern geduldig warten kann, bis sich Schüler äußern. Inhalte können unaufdringlich thematisiert/diskutiert werden. Herz-Pädagogik rechnet mit stillen, leisen Entwicklungen. Schließlich ist es wunderbar zu sehen, wie sich in neuen Klassen Schüler langsam zu Wort melden, sich auf Themen einlassen, zu interessieren beginnen und in Dialog miteinander geraten. Auf dieses „Sinnweben“ lässt sich nur ehrfurchtsvoll-vorsichtig reagieren.
Gracian, B., Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 114f, 120: „Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen, dadurch verpflichtet man am meisten. … Die Höflichkeit schenkt nicht, sondern legt eine Verpflichtung auf; und die edle Sitte ist die größte Verpflichtung. … Anziehungskraft besitzen. – Sie ist ein Zauber kluger Höflichkeit … Man sei niemandem für alles, auch nie allen verbindlich gemacht, denn sonst wird man zum Sklaven …“ 152 Kittler, F., zit. n.: Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007, S. 105. 153 Simon, F. B., Die Kunst nicht zu lernen. Und andere Paradoxien (…), Heidelberg 1997, S. 153/154. 151
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Man muss nicht direkt Rolf Huschke-Rheins Emphase zustimmen: Wenn wir die Wirklichkeit neu und anders interpretieren, ist sie schon anders geworden.154 Žižek beschreibt die Kardiognosis (neben Dia-, Pro- und Epignosis) als „Herzenserkenntnis dieses Systems, d. h. der Ideologie, die uns dazu bringt, es zu akzeptieren.“155 Žižek geht also davon aus, dass unsere Wirtschaftsweise und unser Alltagshandeln uns bis ins Mark hinein bestimmen, „also in Fleisch und Blut übergehen“. Es gibt für ihn darum auch keinen banalen Erkenntnisgegenstand, von dem aus sich nicht kritisches Denken entzünden könnte. Rilke gibt indes in dem sehr einfühlsamen Brief an seinen jüngeren Dichterfreund Franz Xaver Kappus eine Philosophie der Frage auf. Rilke schlägt vor, in die Fragen hineinzuleben, die Fragen keineswegs zu verringern und so seinen Horizont zu weiten. Er weiß um das Eigenleben der Fragen. Ein Drängen von außen wäre also kontraproduktiv. Jedoch rät er Kappus zu einem einsamen Ringen: „Aber ich glaube trotzdem, dass Sie nicht ohne Lösung bleiben müssen, wenn … Sie sich an die Natur halten, an das Einfache in ihr, an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens zum Großen und Unermesslichen werden kann; wenn Sie diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als ein Dienender das Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter, einheitlicher und irgendwie versöhnender werden, nicht im Verstande vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem innersten Bewusstsein, Wach-sein und Wissen. Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“156
Huschke-Rhein, R. (Hg.), Systemische Pädagogik. Bd. 4: Zur Praxisrelevanz von Systemtheorien, Köln 1990, S. 147; ders., Bd. 1: Wissenschaftslehre, Köln 1988: S. 60–61; vgl. auch Habermas: „Wer etwas ausspricht, verändert damit bereits die Welt.“ 155 Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 12. und S. 123: Trotz aller kirchlicher Skandale gilt für ihn, „das christliche Erbe ist zu kostbar und relevanter denn je.“ 156 Rilke, R. M. Briefe an einen jungen Dichter, hg. von F. X. Kappus, Leipzig Frankfurt a. M. (53. Aufl.) 2014 (1929), S. 20–25 (vierter von zehn Briefen; geschrieben in Worpswede am 16. Juli 1903). 154
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Herz als Erzählorgan – narrative Kardiotheologie/-pädagogik „Die Gefahr in meinem Beruf ist, wenn man zu lange nur diese Extreme erlebt, dass man das Gefühl für die Normalität verliert, letztlich den Glauben an die Menschen. Man sieht sich nur noch umgeben von Mördern und Psychopathen. Mir ist das schon passiert, als ich neun Monate am Stück im Irak war. Das war zu lange. Ich kam mit dem Leben in der Wohlstandsgesellschaft nicht mehr klar.“ – Kriegsfotograph Christoph Bangert157
Das Herz ist ein erzählendes Organ; es bleibt „in Geschichten verstrickt“ (W. Schapp) und daher bilden Geschichten das Medium der Herzpädagogik: Geschichten erzählen bedeutet Zeit zu verdichten, Geschehen zu ordnen, Ereignisse zu erkennen und wahrzunehmen; die Geschichten sind mit einem Herzfaden verbunden. Vor allem heißt Geschichtenerzählen inkorporieren; das Herz ist ein Projektions-, ein Identifikationsorgan: „Erzählen: sich in etwas anderes hineinversetzen, die Geschichte von anderen erleben, das ist“ nach T.C. Boyle „die elementare Funktion des Herzens“158. Peter Härtling berichtet eindrucksvoll in Interviews, wie es ihm darauf ankommt, sich bewegen zu lassen und mit vielen autobiographischen Bezügen so zu erzählen, dass es auch den Leser berührt, sich mit ihm zusammen schrittweise mit einer Geschichte vertraut zu machen. Das Herz stülpt nach außen, was innen ist; das Verhältnis von Innen und Außen verkehrt sich. Nun entwickeln postmoderne Ansätze eine Kritik des Narrativs als Weiterführung des ideologiekritischen Projekts: „Die mächtigsten Erzählungen verhehlen, dass sie Erzählungen sind.“159 Die Meta-Narrative, die Megageschichten sind geplatzt, so Lyotard; nach dem Ende der großen Geschichten des Fortschritts, der Emanzipation/Aufklärung soll es nach Lyotard nunmehr kleinere Geschichten geben. „Film statt Erzählung“ lautete nach W. Benjamin die Logik der Mediatisierung, die mit den Weltkriegen in Gang kommt und die Kontinuität der Erzählstruktur aufsprengt. Digitales Erzählen will schließlich die filmische Narrativität aufbrechen und alternate-Identity-Filme bieten alternative Versionen und Ausgänge. „Rather than stable and static, texts are insubstantial and transitory. Unavoidably entang led in an excentric web that neither begins nor ends, texts cannot be unified or totalized, Bangert, Chr., „Das war meine Rettung“, in: Zeit-Magazin vom 26.3.2015, S. 52. Pascal, B., Gedanken. Hg. v. E. Wasmuth, Stuttgart 1987, S. 127 (Nr. 227, Frg. 275), warnt an dieser Stelle bereits davor, seinen eigenen Einbildungen zu erliegen: „Oft halten die Menschen ihre Einbildung für ihr Herz, und sie glauben, bekehrt zu sein, wenn sie nur daran denken, sich zu bekehren.“ 159 Koschorke, A., Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 2013, S. 88. 157 158
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the meaning of a text, therefore, is never fully present. Meaning is always in the process of forming, deforming, and reforming.“160
Gegen die allzu schnelle Verabschiedung des Narrativs lässt sich einwenden, dass die Erzählung bereits die Frage nach dem blinden Fleck zu stellen erlaubt, d. h., auch der Erzähler, das narrative Herz kann im Raum der Geschichte nach sich und dem Antrieb und der Kohärenz der von ihm entwickelten Geschichten fragen. Wichtiger noch als die Frage, wie wir eigene blinde Flecke erkennen können, die Brille, die wir tragen, zum Gegenstand unserer Betrachtung machen, scheint die psychoanalytische Einsicht, dass die Geschichten uns den Rahmen liefern, in dem wir unser Begehren organisieren, von den Objekten angezogen werden sowie Mögliches und Ersehnbares „definieren“/konstituieren. Die Geschichten bringen uns auf die Spur zu den konstitutionellen Bedingungen unseres Begehrens. Alexander Kluge plädiert daher für einen sehr weiten Realitätsbegriff; er meint, dass er all das als real anzuerkennen bereit ist, was er sich vorstellen kann.161 Das Erziehungspotential von Geschichten ist jedenfalls nach Koschorke nicht zu unterschätzen: „Dass Erziehung, das heißt die intergenerationelle Übermittlung von Verhaltensweisen und Wissen, zu einem wesentlichen Teil auf dem Königsweg des Geschichten-Erzählens erfolgt, ist ohne die elementare Freude und Attraktionskraft, die das Erzählen schon als sprachliches Tätigkeitsein mit sich bringt, schwer vorstellbar.“162
Geschichten versorgen uns auch immer wieder mit der für Kultur notwendigen Unbestimmtheit:163 „Die Kultur schafft nach Koschorke nicht nur Organisation, sondern auch ihren eigenen Typ der äußeren Desorgansiation.“164 Gegen die Versuche der Quantifizierung des Sozialen, der klaren Fixierung von Leistungen erreichen es Geschichten, die Unvollständigkeit der Systeme offenzulegen; die „Stabilisierungskerne“/„Selbstsakralisierungen von Zeichensystemen“ sowie ihr Nichtfunktionieren können dargelegt werden.165 Der Unvollständigkeitsnachweis Hilberts, der für mathematische Kalküle gilt und ihre Unabschließbarkeit oder auch Unbestimmtheitsmomente Taylor, M. C., ERRING. A Postmodern A/Theology, Chicago 1984, S. 179. Kluge, A., Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, S. 28: „Unwirklich ist das, was ich mir auch unter großer Anstrengung nicht vorstellen kann, oder was mich, wenn ich mir es vorstelle, vollkommen gleichgültig lässt. Alles andere ist substantiell und damit wirklich im Sinne der Phantasie.“ 162 Koschorke, A., a. a. O., S. 108. Dies scheint auch ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Kritik des QM zu sein, die Frage nämlich nach der Perspektive/Standort des Erzählers. 163 Ebd., S. 124. 164 Ebd., S. 129. 165 Ebd., S. 137/139. Koschorke bezieht sich auf J. M. Lotman. 160 161
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offenlegt, lässt sich nach Koschorke auf narrative Ordnungen übertragen: „Jeder Begriff grenzt an undeutliche, unausgeleuchtete Zonen, die bei Licht besehen einen Keim der Unstimmigkeit in sich tragen. … Die Systematisierung von Wissen kostet Gedanken-Zeit und Energie.“166 Es gibt also eine Funktionalität des Unbestimmten, die Narrative zähmen können. Auf die narrative Dimension der Herzpädagogik oder Kardiotheologie bezogen lässt sich sagen: Das metaphorologische Herz befindet sich in einem Erzählkörper. Das Tradieren exemplarischer Geschichten bildet eine narrative Ethik/Theologie/Pädagogik aus. „Das Herz lebt in Geschichten“ (in Anlehnung an W. James), die noch nicht abgeschlossen und beendet sind. Das narrative Herz entkommt der Systemregel; und in dem Maße ihrer Offenheit werden Geschichten für die Leser, Hörer bewohnbar: Das Herz setzt einen Kreislauf (Harvey), den es versorgt, in Gang bzw. es beherbergt Lebensgeister (Descartes), die den Körper verlebendigen: Das Herz kann eine Raumverdichtung und eine Weitung, ebenso eine Zeitverdichtung und eine Zeitintensivierung vollziehen; Zeitverdichtung wurde schon früh als ein zentrales Moment von Erzählungen ausgemacht. Theorien des Narrativen stellen heraus, dass Erzählen über Schilderungen markanter Ereignisse vonstattengeht, dass das Frühere das Spätere erklärt, Kausalzusammenhänge über ProteronHysteron-Beziehungen geklärt werden; die Verknüpfung der Handlung erfordert eine gewisse Linearität; häufig wurde schon bemerkt, dass das Surfen, die Hypertext-Struktur des Internets, den Erzählfaden abreißen lässt. Das Erzählherz schlägt traditionell nach einem gewissen Rhythmus. (Man kann kleine und große Geschichten in dieser Taktung sich vollziehen sehen und Erzähler an dem Rhythmus ihrer Erzählungen erkennen.) Das Herz ist das Organ der Hermeneutik, es will verstehen. – In diesem Sinn wurde die Bitte des Psalmisten an Gott, ihm ein weises Herz zu schenken, aufgefasst. – Rilkes Aussage „Indem er überschreitet, gehorcht er“167 kann die Variationsbreite narrativer Bindungen erläutern. Wenn nach Schlingensief gilt: „Was verstanden wird, vergisst man sofort“, so braucht das Narrativ den sperrigen, „nichtaufgehenden Rest“ (Žižek). Das Narrativ erlaubt aber auch eine Herauslösung aus den UrsacheWirkungs-Zusammenhängen, eine Annäherung an das Grundlose/Inkohärente. Gemäß Koschorkes Analyse wäre der Lehrer als Geschichtenerzähler zu charakterisieren. Auch wenn er keine Geschichten zu erzählen glaubt, sind Narrative in seinem Unterricht wirksam. Goethe meint: „Gebildete Menschen und die auf die Bildung anderer arbeiten, bringen ihr Leben ohne Geräusch zu.“168 So kann gerade Geduld bzw. das demütige Sich-Bewähren im Ebd., S. 144–145. Von rilkeschem Format ist Hans Aussage: „Die Schönheit ereignet sich dort, wo die Dinge sich einander zuwenden und Beziehungen eingehen. Sie erzählt. Sie ist wie die Wahrheit ein narratives Ereignis“ (Han, B.-C., Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, S. 90). 168 Goethe, zit. n.: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes. Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 57 (Brief an Charlotte vom Stein vom 1.12.1807). 166 167
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Alltag zum Inhalt der Lehrerzählung werden, wenn der Lehrer den Unterricht sich ruhig entfalten lässt, den schulischen Ordnungsrahmen geduldig auf sich nimmt. Zum Erzählen gehört die Dynamik, die narrative Drift, die gerade das fontanesche Erzählen ausmacht; gerade das Drumherum ist wichtig, es kommt nicht nur auf die Sache/den Plot an, sondern auf die Dinge, die beiläufig erzählt werden. Aus Stroh Gold zu spinnen kann nicht nur als Rumpelstilzchen-Strategie, sondern auch als ein herztheologisches Verfahren angesehen werden. (Die Möglichkeiten der Einbindung von Zufälligem, Aktuellem in den Unterrichtsfluss sind zu nutzen. Nur so klärt sich, was bedrückt, interessiert oder bewegt, und es kommt zur Einfühlung, der Adaption und dem Bewohnen von Geschichten.) Die Bedeutung der Narrative spiegelt sich schließlich in Arno Schmidts Statement: „Die Realität ist eine Erfindung der großen Romane.“ Die sogenannte Realität ist gemäß Schmidt nur etwas für die Phantasielosen. Wie Kafkas Leben nur im Schreiben stattfindet, so ist die Erkenntnis des Alltags auf der Folie der Narrative und in engem Bezug auf sie möglich. Sie bilden Kohärenzrahmen und Bedeutungskontexte für den Alltag. Slavoj Žižek schlägt bezüglich der Interpretation der Matrix-Film-Passage, als Neo vor die Wahl der blauen oder roten Pille gestellt wird, folgende Revision vor: Er fordert eine dritte Pille; die klare Wahl zwischen Realität oder Illusion ist zu banal. Es kommt vielmehr darauf an, das Reale in der Fiktion zu sehen, dasjenige, was immer schon fiktionalisiert werden muss, weil es zu traumatisch, zu sehr mit Genießen angefüllt erscheint. Literatur vermag also diese Begegnung mit dem Realen zu vermitteln. Sie erlaubt auch zu erkennen, wie sehr wir die symbolischen Fiktionen brauchen, um Abstand vom traumatischen Realen zu halten.169
Subjekttheorie des offenen Herzens – das Herz als reflexives Organ „Die Zeit der Intimität ist die Spurlosigkeit. Die Intimität ist selbst ein ‚ins Wasser schreiben‘. Alles, was ich bin, geschieht in ihr. Doch gerade sie hat keine Möglichkeit, sich zu verobjektivieren, sich in einem Ding darzustellen.“ „Denn den Menschen zu zerstören, heißt seine Intimität zu zerstören. Und diese Zerstörung zu vermeiden, heißt in dieser Intimität zu finden, was sich als stärker verweist. Was das ist, wird ein Geheimnis bleiben.“ – Peter Trawny170
Žižek, S., The Pervert’s Guide to cinema. Ein Film von Sophie Fiennes, Frankfurt a. M. 2006. Trawny, P., Ins Wasser geschrieben. Philosophische Versuche über die Intimität, Berlin 2013, S. 144, 140. Trawnys gesamter Essay bezieht sich auf J. Keats Grabspruch: „He lies one whose name was writ in water“, seine sphärologische Betrachtung des In-Seins lässt sich auf Sloterdijks Medientheorie beziehen.
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Die Metapher des offenen/fremden Herzens leitet dazu an, Subjekttheorie nicht mit der Selbstvertrautheit beginnen zu lassen, sondern mit der Fremdheit des Selbst.171 Die Frage, ab welchem Moment es uns als Subjekte gibt, lässt sich beantworten: Wenn wir die Fremdheit mit uns selbst bemerken, die Fremdheit des Herzens, die es gegenüber der Person ausmacht. Wir merken, dass wir verbergen, dass wir uns fremd sind. Bei der „Geburt des Subjekts“ (Titel einer Lévinas-Interpretation von Susanne Sandherr) geht uns auf und wir ahnen: Was wir auch tun, nichts wird uns total entsprechen, ohne dass wir uns sofort wieder von dem Tun distanzieren und es variieren könnten. Die Abgründigkeit und die Distanz zu uns selbst sind unaufhebbar. – Wir agieren nicht nur selbstvergessen, sondern sind uns bewusst, dass wir Schauspieler unserer selbst sind, dass wir uns nicht fixieren können. Das Kreisen um sich, ohne einen Punkt zu finden, der festzuhalten wäre, ist die dem Subjekt verbleibende Bewegung. Die Herz-Jesu-Bilder scheinen in ihrer Naivität eine Person zu zeigen, die sich ihrer in ihr wohnenden Fremdheit nicht mehr schämt (Žižek spricht von Extimität). Trotz aller kitschigen Harmonie ist das surreale Organ der zentrale Fremdkörper, der nicht kaschiert wird. Die Öffentlichkeit des Herzens, sein direktes Zur-Schau-Stehen bleibt ein Moment des Befremdens. Diese Fremdheit des Subjekts schlägt sich nieder in Gedanken, die phantasmatisch-uneinholbar nicht sozial mitteilbar sind. Beuys’ Installation „Zeige deine Wunde“ (1974–75) ruft nicht zu einem Ende der Privatheit auf; „das Prompte ist das Barbarische“ (Adorno). Beuys drängt auf die Nichtverleugnung des Rests.172 An der Vorsicht und Sensibilität gegenüber den Grenzen des anderen entscheidet sich die Sinnhaftigkeit der Pädagogik. „Zeige deine Wunde“ bedeutet also auch: das phantasmatische Universum des Anderen achten, es nicht zu belagern und noch weniger: es zu torpedieren. Luhmann betont in seinen Ausführungen zur Pädagogik, wie wenig determinierbar das pädagogische Tun ist; er erläutert die Paradoxa von Interventionen, die Wahrscheinlichkeit ihres Misslingens und die Möglichkeiten systemischer Veränderung durch Perspektivwechsel/ Neuinterpretation. In einem Interview schlägt Luhmann vor, zunächst die Systemwirkung von Schule, ihre Eigendynamik zu beschreiben, die sich gegenüber den individuellen Bedürfnissen durchsetzt: „Alles, was geschieht, geschieht auf Kosten von anderem. Und vor allem: alles,
J.-P. Sartre und M. Frank gehen von einer primordialen Selbstvertrautheit aus; Žižek betont dagegen die Fremdheit mit sich. Sie ist die primäre Folge der menschlichen Nichtfestgestelltheit. Vertrautheit kann demgegenüber nur den zweiten Platz einnehmen. Die Psychoanalyse kann ebenso die Fremdheit des eigenen Genießens herausstellen. 172 Vgl. Žižek, S., Liebe Dein Symptom wie Dich selbst. Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991. 171
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
was an Lernen ermöglicht wird, ist durch Lernverbote gesichert.“173 Für Luhmann kompliziert das System Schule den einfachen Vermittlungsvorgang, in dem der Lehrer als Vorbild Sinn vermitteln will; aus systemtheoretischer Sicht unterläuft oder unterbricht die schulische Kommunikation gerade die „individuelle Sinnkonstituierung und personelle Sinnvermittlung“, insofern es primär um den Systemerhalt, die Fortsetzung schulischer Kommunikation geht: Daher spitzt Luhmann nochmals seine Aussage zu: „Wenn man Lernen fördern will, muss man Lernen verbieten. Es gibt also ein Gebot des Nicht-Lernens. Man darf nicht die falschen Dinge lernen. Man darf nicht lernen, wie man unentdeckt in der Schule ‚Schiffe-Versenken‘ spielt. Das gibt es natürlich auch im Thematischen.“174
Herz-Transformation von Theorie und Praxis „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste. / Hohe Tugend versteht, wer in die Welt geblickt, / und es neigen die Weisen oft am Ende dem Schönen sich.“ – Hölderlin, „Sokrates und Alkibiades“ „Die Religion ist nicht bloß andächtiges Träumen, sagte ich, Religion ist überhaupt nicht ein für sich bestehendes Geschäft, das man abgesondert von anderen Geschäften, etwa in gewissen Tagen und Stunden betreiben könnte. Sondern sie ist der innere Geist, der alles unser, übrigens seinen Weg ununterbrochen fortsetzendes, Denken und Handeln, durchdringt, belebt und in sich eintaucht.“ – Johann Gottlieb Fichte175
Die Konvergenz und Einheit von Theorie und Praxis ist ein Kohärenzpunkt der Kritischen Theorie. Sie erscheint im theologischen Kontext zugleich auch als ein geschenkhaftes, nichtmachbares Moment eschatologischer Existenz.176 Philipp Felsch stellt in „Der lange Sommer
Luhmann, N., Schülert J., Das Ziel ist also nicht, nett zu sein und den Pädagogen zu helfen. Ein Streitgespräch, in: Dammann, K. (Hg.), Wie halten Sie’s mit den Außerirdischen, Herr Luhmann, Berlin 2014, S. 80. 174 Ebd., S. 80f. 175 Fichte, J. G., Die Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 2012, S. 72. Vgl. Martin Luthers funktionale Umschreibung Gottes als „das, woran einer sein Herz hängt“. 176 Vgl. Hasenhüttl, G., Kritische Dogmatik, Graz Wien Köln 1979. Ein überspitzt-ironischer Postkartenspruch lautet: „Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis besteht darin, dass theoretisch keiner besteht.“ 173
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
der Theorie“ einige Ausdifferenzierungen der Gleichsetzung von Theorie und Praxis vor: Das Insistieren auf Theorie-Praxis-Identität will zunächst verhindern, dass Theorie als Ausrede eingesetzt wird und dringendes praktisches Engagement auf später verschiebt. Eine bloße Parallelisierung genügt aber nicht; das Drängen zur Tat hin, das Leiden am Ungenügen des Status quo und die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, vermag die Nähe von Kritischer Theorie und Theologie zu belegen; nicht von ungefähr steht die Umschreibung des Marxismus als säkularer Messianismus im Raum. Felsch betont, dass die, die Revolution brachial herbeiführen wollten und sich dabei auf Adornos Theorie-Praxis-Gleichung bezogen, Kurzschlüssen unterlagen: Kojève riet in einer überhitzten Situation als Gast in einem Berliner Seminar Marcuses den hochmotivierten Studenten, die nur auf einen Startschuss warteten, dass es nun das Angemessene sei, Altgriechisch zu lernen. Die Gleichung von Theorie und Praxis schließt, wie Felsch herausstellt, eine Praxis des Lesens ein:177 Diesem Imperativ zu lesen folgten die Verlagsmitglieder des Merve-Verlags. Jacob Taubes hatte, wie bereits angesprochen, eine eigene Lesart von Büchern entwickelt, die sich auf Kernzitate und Schlüsselstellen kaprizierte. Schließlich kann die Gleichung von Theorie und Praxis auch ästhetisch begriffen werden. Im Kunstdiskurs sind die Fragen der Anwendung der Theorie und Reflexion überwunden. „Theorie ist Praxis“ bedeutet hier, dass Kunstgeschichte Teil des Kunstdiskurses und der Praxis der Kunst ist.178 Von Baudrillard lässt sich schließlich lernen, dass die Theorie des Geheimnisvollen selbst geheimnisvoll werden muss, die Wirklichkeit so unerklärlich zurückgegeben werden muss, wie man sie angetroffen hat. „Theorie ist Praxis“, lautet auch die Option der herzlichen Pädagogik. Zunächst kann die Gleichsetzung so begriffen werden, dass sie den Lehrer vor einem Abgleiten in Aktionismus hindert. Theorie ist Praxis bedeutet: „Das Denken handelt, indem es denkt.“179 Der fast omnipräsente Felsch, P., Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München (2. Aufl.) 2015, S. 126: Marxismus wurde von den Merve-Intellektuellen als eine „Weise der Lektüre“ verstanden, Lesen implizit Kritik, auch „sich alles kritisieren lassen“. E. Lenk forderte eine gesteigerte „Theoriearbeit“ (ebd., S. 220). Žižeks Lektüre führt mitunter ebenso zu einem sehr weiten, moderaten KommunismusBegriff mit folgenden Grundoptionen: „die Überwindung des kapitalistischen Expansionsdrangs, eine internationale Zusammenarbeit mit dem Potenzial zu einer Exekutivgewalt, die bereit ist, staatliche Souveränität zu verletzen,“ mit dem Ziel, „unsere natürlichen und kulturellen Gemeingüter zu bewahren“ (vgl. Žižek, S., Hinter dem samtenen Vorhang. Wir erleben einen Veitstanz des globalen Kapitalismus. Und der bringt den Populismus so richtig in Schwung, in: Die Zeit vom 24.5.2017, Nr. 22, S. 39). 178 Vgl. die Aussage von Robert Morris: „Ich denke, dass die Kunst heute eine Form der Kunstgeschichte ist.“ (zit. n. Glöde, M., Und aktiv operierend, in: Schafaff, J., Schallenberg, N., Vogt, T. (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, Köln 2013, S. (297–303) 301.) Zu den beobachtbaren Diffundierungen gehört auch, dass der Kunstbegriff den Diskurs über Kunst, Kunstkritik, einschließt. 179 Heidegger, M., Über den Humanismus, Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 1968, S. 5. Vgl. auch Bal, M., Lexikon der Kulturanalyse, Berlin Wien 2016, S. 103: „Die Herstellung einer Verbindung zwischen Bild und vergangener Wirklichkeit ist eine echte Handlung.“ 177
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Topos der Handlungsorientierung scheint präzisiert werden zu müssen. In den geisteswissenschaftlichen Fächern besteht die Handlung schon im denkerischen Hin- und Her-Bewegen der Argumente und Sich-Bewegen-Lassen von Texten; von der fortgesetzten Didaktisierung, dem allzu häufigen Auftrag, Haikus, Elfchen oder Limericks zu verfassen, geht nicht selten eine Enternstung/Banalisierung von Themen aus. Die Gleichung bedeutet für die Bildungstheorie, dass sie auf Umsetzung drängt; die Eigendynamik des Bildungsgeschehens bestimmt Inhalte, die zugleich leidenschaftlich angeeignet und vermittelt werden wollen. Man kann hier von einem theologisch-philosophischen bildungstheoretischen Komplex sprechen, der inklusiv wirkt und kein einfaches „Außerhalb“ der Bildung duldet. Im Sinne der impliziten Theologie kann die Gleichsetzung von Theorie und Praxis auch bedeuten: Schon das Wissen um die Religion, die christlichen Hintergründe, bedingt die Weitergabe der Religion, verlängert den Traditionsfaden; Religion ist nur denkbar in reflektierter Praxis. Es wäre unangebracht, in der staatlichen Schule kultische Vollzüge praktisch einzuüben oder Traditionen missionarisch mitzuteilen; es ist aber möglich, durch die pädagogische Praxis des offenen Herzens das kenotische Anliegen von (christlicher) Religion zu tradieren. Mit Herz lernen/unterrichten heißt schon gelebte Religion, implizit christliche Praxis (vgl. G. Steiners Begriff von Judentum als Lektürepraxis). In der engagierten Wissensweitergabe ist also ein entscheidend religiöses Tun mitgegeben.180 Wie bei Faust der Erkenntnisdrang, das Ringen um Wissen, zur Erfahrung drängt, strebt Theorie zur Anwendung, Bildung zu Befreiungsimpulsen und zu Öffnung und Dankbarkeit (Religion). Insofern deutet die Theorie-Praxis-Gleichung hier auf die Identität von Bildung und theologischer/implizit-religiöser Praxis hin. 2016 beschloss die Leitung der Kairoer Al-Ahza-Universität angesichts der Radikalisierung und des Missbrauchs der islamischen Religion die Einführung von Kursen zur Aufklärung über Fundamentalismus, die für alle Studenten verbindlich sein soll; in ähnlicher Weise wären natürlich auch theologische Grundkurse für Lehramtstudenten/Lehrer sinnvoll; zumal die theologische Kritik des großen Anderen, der symbolischen Ordnungen eine probate Anleitung zur Ideologiekritik, zur Kritik der Institutionen darstellt. – Bloße Forderungen nach zusätzlichen Kursen gestalten sich immer als sehr einfach; sie delegieren Verantwortung und vertrauen auf eine Institutionalisierbarkeit. – Herzpädagogische Bildungspraxis wirkt aber bereits antifundamentalistisch, insofern sie sich dem aufklärerischen Motto Goethes verpflichtet weiß: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion. Wer Wissenschaft und Kunst nicht besitzt, der habe Religion.“181
So ist jeder Lehrer auch implizit „Zeuge“, Agent der Herz-Theologie/Herzpädagogik. Goethe, J. W. v., Gedichte. Hg. v. E. Trunz, München 1981, S. 367.
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Žižek macht schließlich klar, dass es nicht möglich ist, Praxis gegen Theorie auszuspielen, dass wir vielmehr immer schon von grauer Theorie affiziert oder infiltriert sind.182 – Dies bietet erst den Ansatzpunkt für eine umfassende Ideologiekritik. – Žižek kommt es darauf an nachzuvollziehen, wie Theorie erst das Leben verlebendigt, dass Abstraktion der Realität selbst eigen ist: „Die Spannung zwischen empirischer Realität und ihren ‚abstrakten‘ begrifflichen Bestimmungen ist der Realität immanent … Grau ist nicht die Theorie, sondern das Leben ohne sie, das nur eine flache stupide Realität ist; erst die Theorie macht es ‚grün‘, wirklich lebendig, indem sie das komplexe zugrunde liegende Netzwerk aus Vermittlungen und Spannungen zum Vorschein bringt, das es in Bewegung setzt.183
Wenn Kinder nicht mehr farbig malen, sondern strukturieren, ist darin gemäß Žižek ein großer Erkenntnisfortschritt eingeschlossen: „Mit der Reduktion der lebendigen Buntheit auf die graue Disziplin geht nichts verloren, sondern ist sehr viel gewonnen – die Macht des Geistes liegt genau darin, von der ‚grünen‘ Unmittelbarkeit des Lebens zur ‚grauen‘ begrifflichen Struktur voranzuschreiten und in diesem reduzierten Medium die wesentlichen Bestimmungen zu reproduzieren, für die uns unsere Erfahrung blind macht.“184 Die pädagogische Praxis des offenen Herzens geht mit deutlicher Ideologiekritik einher. Sie schließt ein, sich vom großen Anderen zu distanzieren und „das eigene Phantasma zu durchqueren“ (Žižek). Die Kritik des Beobachters (vgl. das einfache informationsethische Schlagwort „Überwachung ist Diebstahl“) gehört ebenso zur Selbstreflexion und Ideologiekritik des Herzens wie die Kritik der symbolischen Ordnung und das Herausstreichen ihrer Leere und ihres Nichtfunktionierens. Diese bereiten erst ein Umfeld, in dem das Herz schlagen kann. Es gilt also, sich im Maschinenraum der Schule einen Platz zu erarbeiten und ein freies, ungehindertes Schlagen des fremden Organs zu ermöglichen. Kritische Reflexion versucht Praxisfelder zu rahmen, vorzubereiten, zu verteidigen, so ist auch das Moment des in der Praxis erfahrenen Unbedingten (der unbedingten Schließung) denkerisch einzuholen; es ist herauszuarbeiten, wie das Tun um des Tuns willen zweckfrei-unbedingt ist, wie das Glauben, Sollen und Wollen sich von Bedingtheiten löst, wenn das Glauben geglaubt wird, das Sollen vom Sollen eingenommen bzw. das Wollen „Gegenstand“ des Wollens wird. Das Wissen um die Möglichkeit von Akten, von erfahrbarem Unbedingten vermag das pädagogische Engagement anzutreiben.
Žižek, S., Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 546. 183 Ebd., S. 544. 184 Ebd., S. 546. 182
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Schon früh wurde darauf hingewiesen, dass „endoskopische“ Betrachtungen schulischer Innereien das Freihalten der Leerstelle des Herzens intendieren und damit systemfunktionale Ideologien der Optimierung zurückweisen; die Eigendynamik des Herzens kollabierte an einer Normierung. Seine konstitutive Eigendynamik macht das Herz zum Organ des paradoxen Zwischenraums: Es schlägt selbstreferentiell im eigenen Takt und zugleich für die anderen: Menschen mit Herz agieren anders als Programm-Agenten, Vertreter von Institutionen oder Sachwalter einer Idee; die Zurückweisung von Synchronisierungsversuchen bedeutet nicht, dass das Herz um sich selbst kreist. Das Herz als Agent des Respekts und der gemeinschaftlichen Verbundenheit immunisiert gegen einfache Ideologien der Vergemeinschaftung: Mit ganzem Herzen hinter Entscheidungen zu stehen, bedeutet sie zu subjektivieren, also mit der sozialen Kollektivgewalt zu brechen. Das Herz-Symbol zeigt an, wie schnell Menschen als Beziehungswesen, die sich anderen ausliefern, zu „Gefühlsidioten“185 werden können. Wenn Dostojewski, Nietzsche oder auch Sloterdijk das Christentum als Weise des „Idiotseins“ bestimmen, so markiert dies keine Absage an Reflexion, eher den Affekt gegen hergebrachte Welt-Schlauheiten, den Moment der Selbstaufgabe, die Geste des Sich-Verbrauchens. Das Herzsymbol verhindert schließlich eine „Erniedrigung durch Verharmlosung“ (Žižek); Herzensangelegenheiten sind – nicht zuletzt wegen des Pathos – nicht als geringe Sache abzutun. Das Herzsymbol verkörpert den personalen Eigenstand, die Aussetzung der Ordnung sowie die Entschlossenheit und Treue zum Akt. Herzpädagogik verwendet sich in diesem Sinn gegen eine Banalisierung und Verkürzung mitmenschlicher Dimensionen, ohne sie zu mystifizieren, d. h. einer Reflexion zu entziehen.
Zur surrealen Mythologie des offenen Herzens „Man kann Intimität nicht diskursiv artikulieren.“ (vgl. Bataille) „Wer in der Lösung lebt, der versteht das Problem nicht.“ „Modern ist, wer abstreitet, jemals innen gewesen zu sein.“ – Peter Sloterdijk186
Estep, M., Tagebuch einer Gefühlsidiotin, Reinbek 1999, S. 63–64, 65: „Ich möchte, dass man mich mag. Ich wünschte, es wäre nicht so. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir wollen, dass uns andere mögen. Es läuft zu viel schief dabei. Wir büßen die Ecken und Kanten ein, die uns ja überhaupt erst für andere interessant machen. … damals verstand ich die Dichotomie der Gefühlsidiotie noch nicht. Ich wusste nicht, dass Aversion unabdingbar dazugehört und der intimste Partner des Begehrens ist.“ 186 Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 155, 159, 167. (Postmodern wäre wohl, wer sein Bedürfnis nach bergenden Innenräumen nicht verkennt und sich seiner eigenen Fremdheit stellt, vom Ungeheuren, dem Abgründigen weiß.) 185
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Die metaphorologische Deutung des „Herzens“ betont das Herz als Ort der Umwertung. Das Herz symbolisiert die theologische Option für den/die Schwachen, Herz zeigen heißt sich rühren lassen. Herzpädagogik erscheint als eine Theologie in Anwendung, eine Didaktik, die theologisch konnotiert ist. Für Žižek kann man der Fetischisierung, der Aufladung von Objekten („ich weiß ja, aber dennoch …“-Verdrängungen), nur mit einem Mythos entgegnen. Am christlichen Mythos hebt Žižek hervor, dass er seine eigene Brüchigkeit, sein Nichtfunktionieren, die Lücke im innersten Kern seiner selbst, nicht kaschiert. Das Herz ist in gleicher Weise nicht als Kohärenzzentrum einer neuen Harmonie zu verstehen, sondern als Ort der Entzweiung, als Kulminationspunkt leidenschaftlicher Zerrissenheit und subversiver Anstrengung. Žižek wiederholt Hegels überspitzten Satz „Der Geist ist ein Knochen“, mit der die Verwiesenheit auf das bloße physiologische Organ, die materiale Widerständigkeit des Rests, umschrieben wird. Das Herz bleibt ein unglaublich leistungsstarker, unwillkürlicher Hohlmuskel, der aber nicht wegen seiner enormen Belastbarkeit oder großen Arbeitskraft geschätzt und mythisch aufgeladen ist. Ein Organ ist nicht durch magische Aufladung mehr als es selbst. Es verkörpert die nichtfixierbare Personmitte, die dem Subjekt fremd erscheint, zumindest wenn sie externalisiert wird. Indem Joas von der „Sakralität der Person“ spricht, entspricht dies der Unverfügbarkeitsmetapher des Herzens. Das Herz ist das Organ des Übergangs (V. W. Turner); es verkörpert die Fähigkeit zu zweckfreiem Spiel (Guardini), die Möglichkeit des Aussetzens der Ordnung, die Turner als Kern des Rituals sieht. Das Herz erweist sich auch als Symbol fremder Prinzipientreue, der Treue zu sich und seinem Begehren. Pascals Satz „Le cœur a ses raisons, que la raison ne connaît pas“ lässt sich so übersetzen, dass „raison“ verschieden klingt, sich fremd wird und aufspaltet: Das Herz hat eine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. 187 Die Herz-Logik widerspricht und konterkariert den Geist der Geometrie. Sie verbürgt eine Erkenntnis, die tiefer reicht bzw. das Eigentliche erkennt, man denke an die entsprechende Weisheit des „kleinen Prinzen“. Das Herz bildet eine eigene Welt aus und es kann zugleich weitere Welten in sich bergen. Es kann Geheimnisse in sich verschließen und diese nicht mehr preisgeben. Es steht für surreale Konstellationen, die auch die christliche Trinitätslehre thematisiert. Sich selbst in andere projizierend stellt es den Lebensraum für diese zur Verfügung. Wie Sloterdijk in einer mikrosphärologischen Pascal, B., Gedanken. Hg v. E. Wasmuth, Stuttgart 1987, S. 128 (Nr. 229., Frg. 277). Dazu: Rops, D., Pascal et notre cœur, Strasbourg 1948, S. 18: „Le grain de vie, que Pascal a semé en nous, c’est l’argument du cœur.“ Pfister, X., Pascals Weg zu Gott. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Erfahrung, Freiburg i. Br. 1974, S. 149, versteht cœur ebenso als „Interesse am Dasein“, „jener Grundvollzug des Denkens, der selber die Postulate der Rationalität durchbrechend die Rationalität des Denkens erst ermöglicht“ (ebd., S. 156).
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Deutung der Perichorese (des trinitarischen Ineinanders der drei göttlichen Personen) herausstellt, wohnen wir im Herzen des/der anderen; einen anderen Platz gibt es für uns nicht. Das bekannte Gedicht Hilde Domins „Dein Ort ist, wo Augen dich ansehen …“188 leitet dazu an, unseren Wohnort im Blick des anderen zu lokalisieren. Die christliche Trinitätslehre, die die topographischen Verhältnisse, das Ineinander liebender Personen beschreibt, die wesenhaft eins sind, spiegelt nach Sloterdijk exakt die Raumverhältnisse einer Intimbeziehung: Wir gewähren einander wechselseitig den Ort zum Leben. Das romantische Verschmelzungsgefühl, „ein Herz und eine Seele zu sein“, erweist sich hier als eine sekundäre Einheitsprojektion. Sloterdijk erinnert an die mittelalterliche Geschichte des eifersüchtigen Ritters, der seiner Frau das Herz ihres Geliebten zum Essen bereitet. Diese fällt tot um, als sie erfährt, was sie gegessen hat. Die „Herzmaere“ von Konrad von Würzburg 189 verkehrt das drastisch, was sich metaphorologisch in christlichen Symbolen ausdrückt: Eucharistische Existenz ist ein Leben der Hingabe, in der der eine sich dem anderen freiwillig gibt, die Geliebten sich wechselseitig Brot oder Speise sind. – Der Bezug zu Sloterdijk vermag die existentielle Relevanz der christlichen Herz-Mythologie erneut zu unterstreichen. Das Herz scheint das religiöse Organ schlechthin zu sein: Sloterdijk erinnert daran, dass es als Sonne unter den Organen galt, der auch darum ein königlicher Vorrang zustand. Nur auf dem Hintergrund solcher metaphorologischer Bestimmungen konnte der Gedanke des Blutkreislaufs so lange für absurd gehalten werden, die Vorstellung, dass das Herz selbst mit Blut versorgt werden muss, war gewissermaßen als Majestätsbeleidigung empfunden worden.190 Häufig wird auf das Herz rekurriert, wenn das Projekt rationaler Theologie ausgehebelt und Gefühl und Sinnlichkeit betont werden. Auch Kermani formuliert in Interviews zu seinem Buch „Ungläubiges Staunen“191 als Anliegen der Religionen, die Herzen der Menschen anzusprechen sowie Menschen als Teil einer großen Gemeinschaft, eines Ganzen zusammenzuführen. Jedoch darf man hier nicht übersehen, dass das Christentum ikonoklastisch harmonische Ganzheitsvorstellungen zerbricht und die Leere des Verlassenheitsschreis Jesu einfache Identifizierungen verunmöglicht.
Domin, H., Ich will dich. Gedichte, Frankfurt a. M. 1995, S. 75. Sloterdijk, P., Sphären. Bd. 1: Blasen, Mikrosphärologie, Frankfurt a. M. 1998, S. 103ff. vgl. auch Strohmayr, A., Ein Märtyrer der Liebe. Der Troubadour Guilhem des Cabestanh und die Legende vom gegessenen Herzen, in: SWR 2-Profile vom 10.03.2002. In diesem Zusammenhang steht auch der mystische Herztausch Katharinas von Siena, in dem sie das Herz Christi erhält. 190 Sloterdijk, P., ebd., S. 120, 123. 191 Kermani, N., „Religion ist eine sinnliche Erfahrung“. Gespräch mit Alexander Cammann anlässlich des Erscheinens von „Ungläubiges Staunen“, ein Buch über christliche Kunst, in: Die Zeit vom 20.8.2915, Nr. 34, S. 37. 188 189
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Das Herz symbolisiert den Aufstand der Menschlichkeit, das Aufbegehren gegen zu enge Vorgaben; als unzähmbares Organ der Weitung verkörpert es die Aufsprengung von Ketten, so auch in dem Märchen „Der gestiefelte Kater“, wenn die selbstangelegten Eisenringe um das Herz nicht mehr halten. Wie die Welt in der jüdischen Mystik als Makroanthropos gesehen werden kann, so kann die Welt in einem liebenden Blick auch als Herz gesehen werden. Das Herz empfängt als ein Organ der Offenbarung und der Öffnung von außen das, was es sich nicht selbst geben kann. Es ist ein eschatologisches Organ. Im Film „Heaven“ von Tom Tykwer (nach einer Drehbuchvorlage von K. Kieslowski, 2002) geht es um die Frage, wie hoch man fliegen kann. Die Antwort des Films: Man kann so hoch fliegen, wie man mit dem Herzen eifert und begehrt. Lacans Imperativ „In seinem Begehren nicht nachgeben“ stellt das Gesetz des Herzens dar. Es meint im Sinne Kants interpretiert, dass man sich nicht zum Agenten des anderen/der Ordnung (des großen Anderen) machen darf. Das Herz, das unbedingt wollen kann, verkörpert so Begehren und Ideologiekritik zugleich. Es erscheint andererseits als Hort der unkompliziert-praktischen Aktion. Diastolisch entspannt es und lässt sich füllen, systolisch presst es sich zusammen, kontrahiert es.192 Beide Bewegungen umfassen die menschliche Gefühlsdynamik; Spannung und Weitung bilden nach H. Schmitz’ Neuer Phänomenologie die Grundmodi der emotionalen Atmosphären. Was mit der Tugend der Einfalt des Herzens gemeint ist, verdeutlicht Žižek anhand der Figur von Archibald (Harry) Tuttle in Terry Gilliams „Brazil“ (1985), die Robert De Niro verkörpert: Er ist ein illegal arbeitender Installateur, der an der Verwaltung vorbei die Probleme unkompliziert und direkt löst, er hört die Bittgesuche an den großen Anderen, die Eingaben an das Ministerium und ihm vorgeordnete Ämter ab und kommt unangemeldet in die Wohnung der Antragsteller, um ihnen unbürokratisch zu helfen. Es scheint eine Alternative zu geben zu dem Warten auf das langsame Mahlen der großen Mühlen der Verwaltung, auf das Funktionieren des Systems, das in „Brazil“ längst nur noch idiosynkratisch agiert. Dagegen verkörpert Harry/De Niro denjenigen, der eingreift und auf konkrete Missstände reagiert. In allen Institutionen oder Verwaltungen sind solche Harry-Typen und Harry-Aktionen vonnöten. Zur Einfalt des Herzens gehört, dass die entsprechenden Problemlöser kein Aufheben um ihre Aktionen machen. Sie sagen auch nicht hinter vorgehaltener Hand: „Wenn wir Dienst nach Vorschrift machten, würde der Betrieb zusammenbrechen …“ – Es geht um ein verstärktes Abtauchen, nicht das Einrichten einer doppelten Hierarchie, wie sie wohl neben der offiziellen Parteienhierarchie in China längst etabliert ist und dort einzig das Funktionieren des Systems ermöglicht.193
Vgl. das unter 2.3 aufgeführte Gedicht Goethes „Im Atmen sind zweierlei Gnaden“. In Goethes Gedicht wird gerade die Urbewegung des Lebens, das Auf und Ab der Systole und Diastole, am Atemvorgang beschrieben. 193 Vgl. Žižek, S., The Pervert’s Guide to Ideology. Ein Film von Sophie Fiennes, Berlin 2006. 192
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Die Ideologiekritik des Herzens richtet sich also nicht in dem halbschattigen Bereich wohlfeil ein, sondern der Problemlöser agiert völlig uneigennützig, er taucht ab, meidet in den Vordergrund zu kommen. Das reine Begehren ist also strikt nicht-egoistisch. Was für Archibald Tuttle gilt, lässt sich nach Žižek verallgemeinern: „Verrücktheit ist der Preis der Freiheit.“194 Vom DDR-Komponisten Paul Dessau berichten frühere Kolleginnen, dass er freiwillig und ungefragt in der Grundschule seines Wohnorts Musik unterrichtete; er sagte, dass er wisse, was gut sei, und dass ihn auch der Lehrplan nicht davon abhalten könne. Die Kinder lernten dann verschiedene Rhythmen; jeder sollte bei den Singspielen integriert werden. Gegen zu engen Legalismus bedeutet also Lehrertätigkeit mit Herz, dass man nach eigenen Rhythmen arbeitet und eigene Schwerpunktsetzungen vornimmt. Das Herz ist eine Option auf das Konkrete, die Hinwendung zur geschichtlich einmaligen Situation, die Aussetzung des Prinzipiellen – dies sind kierkegaardsche Charakteristika des Stadiums der religiösen Existenz.
Die Verwundbarkeit des Herzens – Pädagogik des gebrochenen Herzens „Die Annahme, die menschliche Existenz habe ein Datum, sie finde ihren Platz in einer Gegenwart, wäre die schwerste Sünde gegen den Geist, die Sünde der Verdinglichung, und heiße, den Geist in die Zeit der Uhren zu werfen, die für die Sonne und die Eisenbahnzüge gemacht ist. Die Bemühung, die Verdinglichung des Geistes zu vermeiden, ihm im Sein wieder einen Platz anzuweisen, der konkurrenzlos ist und unabhängig von den Kategorien, die für die Dinge gelten, animiert die ganze neuzeitliche Philosophie von Descartes bis Heidegger.“ – Emmanuel Lévinas195
Mit dem obigen Lévinas-Zitat kann das herzpädagogische Projekt in einen größeren philosophiegeschichtlichen Rahmen eingeordnet werden. Ein angemessenes Denken des Nichtobjektivierbaren sowie die Kritik der Verdinglichung treiben nach Lévinas die Philosophie der letzten Jahrhunderte an: Die Pädagogik des Herzens geht überdies von einem weiteren grundlegenden Paradox aus: „Es gibt nichts Ganzeres als ein zerbrochenes Herz.“196 Sensibilisierung bedeutet Verletzbarkeit und damit auch die gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber alltäglich gewordener Brutalisierung, letztlich den Bruch mit tüchtiger Funktionalität. „Nur ein fragiles Wesen kann ein moralisches Wesen werden.“197 Es wurde bereits hervorge 196 197 194 195
Žižek, S., Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin 2014. Lévinas, E., Vom Sein zum Seienden, Freiburg i. Br. München 1997, S. 120. Kolitz, Z., Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Zweisprachige Ausgabe, München 1999, S. 37. Žižek, S., Weniger als nichts, S. 1125.
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2.2 Profane „Herz-Jesu“-Transplantationen
hoben, dass das Herz wie das Gesicht kein Ding ist, sondern „naturalisierte“/materialisierte Nichtobjektivierung: „Das Herz bezeichnet den subjektiven Exzess, der durch objektive Daten nicht zu ermitteln ist.“198 Das Herz stellt in der Pädagogik den Inbegriff dessen dar, was am Menschen und der Schule nicht objektivierbar oder evaluierbar bleibt. Es steht für den leidenschaftlichen Eifer, das Begehren, den „pädagogischen Eros“, die Unbeirrbarkeit des Menschen, den Wahrheitspunkt des Gewissens, seine Nichtkorrumpierbarkeit und Beharrlichkeit. Das Herz manifestiert in seiner Weigerung, verdinglicht zu werden, das philosophische Sensorium. Es negiert wie das lévinassche Gesicht die modernen Fixierungs- und Berechnungsabsichten. Qualitätsmanagern und kontrollierenden Beobachtern, die die Stimme des Herzens nicht vernehmen wollen, flüstert es unablässig zu: „Zieht eure Schuhe aus, hier ist heiliger Boden. Was wolltet ihr sehen? Wenn ihr zur Begutachtung von Unterricht gekommen seid, ist dieser – wegen eurer Beobachtung – zur Show geworden und ihr werdet auch nie anderes oder mehr zu Gesicht bekommen als Show.“ „Das Menschliche gewährt sich erst in einer Beziehung, die kein Können ist.“ 199
Der Schulalltag muss nicht überhöht werden; natürlich vollzieht sich nicht in jeder Stunde ein pädagogisches „Pontifikalamt“ und Unterricht bleibt für alle Beteiligten nüchterne Arbeit, kenotische Selbsttranszendenz. Bildungsarbeit ist aber immer auch Arbeit an Sinnuniversen, „Ko-Konstruktion von Wirklichkeit“ (so systemische Pädagogen). Und Schule bleibt bei allen „Mühen der zu durchquerenden Ebene“ ein schöpferischer Ort und kein Death Valley.200 Lévinas liegt sehr daran, die eigentliche Herzensnot zu sehen und die Ausweglosigkeit des mitmenschlichen Herzens zu beschreiben: „Man erkennt den Anderen, insoweit man sich als Geisel betrachtet. Das Wichtige ist dabei, dass ich die Geisel bin. Damit hängt auch zusammen, was mir sehr wichtig ist und was vom Deutschen Idealismus nicht gesehen worden ist, dass das Ich ohne Reziprozität ist. … Das Menschliche im hohen, im starken Sinne des Wortes, ist ohne Reziprozität.“201
Ebd., S. 1151. Lévinas, E., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg München (4. Aufl.) 1999, S. 119, 120. 200 Bücher, die sich selbst schreiben, sind mit dem Herzen geschrieben. Unnötig zu erwähnen, dass das vorliegende pädagogische Projekt eine solche Herzensangelegenheit ist. 201 Lévinas, E., in: Rötzer, F. (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, (Baudrillard, Castoriadis, Derrida, Lévinas, Lyotard, Raulet, Serres, Virilio), München 1987, S. 92. 198 199
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Nach Lévinas ist das Ich also immer schon in Auflösung begriffen. Das herzpädagogische Projekt löst sich von der Illusion klarer fixierbarer Ich-Du-Grenzen und eindeutiger Ansprüche; von der Annahme, dass sie sich wie Staatsverträge aushandeln lassen. Das Lehrerhandeln, das Engagement für die Schule, löst sich von den Kategorien des „Quid pro quo“, des Profits. – Wer könnte schon mit einem direkten Ertrag der Stundenvorbereitungen, des Erstellens von Material oder einem messbaren Nutzen des Korrekturaufwands rechnen? Martin Walser hat in seiner Büchnerpreis-Rede von 1981 „Woran Gott stirbt“ den kapitalistischen Glauben, die Leistungsreligion, die auch Beziehungen und Gaben nach einem strengen Nutzenkalkül bemisst, harscher Kritik unerzogen: Er geht aus von dem büchnerschen Leiden am Fehlen Gottes, wie es sich in der Erzählung „Lenz“ niederschlägt. Während hier das Leiden der Mitmenschen noch zur Wut gegen die etablierte Religion, zum Protest gegen sedierende Weiter-so-Rituale anregt, reagiert der zeitgenössische Mensch in Walsers Augen inzwischen ultimativ-zynisch: Er interessiert sich nicht für das Sterben oder Mitleiden Gottes, sondern bewahrt sich einen objektiven Letztbezugspunkt. Er schreibt den Grund für das Leiden den Leidenden selbst zu und überhöht seine selbstgerechte Empfindungslosigkeit. Der säkulare Zeitgenosse huldigt damit – weit davon entfernt, nichtreligiös zu sein – einem kapitalistischen Gott, der die bestehende Ungerechtigkeit legitimiert und die Brutalisierung/Desensibilisierung sakralisiert. Walsers Vorwurf bezieht sich auf den Leistungsglauben, der es erlaubt, sich für die Not des anderen nicht zuständig zu erklären. „Zu meiner Verwunderung sehe ich immer wieder, dass ich typisch bin. Dagegen habe ich nichts. Wenn ich also an mir feststelle, dass ich mich am liebsten durch Teilnahmslosigkeit leidlos hielt, ahne ich, dass ich so wahrscheinlich dem ersten Gebot des jetzt herrschenden Gottes gehorche: Kultur der Teilnahmslosigkeit. Das entlastende Gerechtigkeitsprinzip unseres Gottes: Vor der Leistung sind wir alle gleich, und nach der Leistung sieht man, was einer bringt. Das ist der Klartext unseres Gottes. Wir wählen einen Gott nicht ab, weil er nicht hilft [Lenzens Protest]. Wir haben ihn dazu gewählt, dass er unsere Unfähigkeit zu helfen legitimiert. Unser Gott brüllt dauernd durch die Gegend: Du hast es dir selber zuzuschreiben. …202
Das herzpädagogische Projekt kann Walsers Analyse, die zur Dekonstruktion säkularer Selbstsicherheit und unsensibler Selbstimmunisierung anstiftet, nur dankbar aufnehmen. An der unverminderten Gültigkeit des Leistungsgott-Programms gerade auch in der Schule kann kein Zweifel sein. Das Leistungsidol schüchtert ein, wie Walser betont; es ist damit nichts anderes als der Garant der herrschenden Sozialordnung. Ein derartiger Letztwert fällt hinter den christlichen Gottesglauben weit zurück, der eine Differenz von Gott und Kollektivgewalt zu denken erlaubt, also diese Identität von Sozialgewalt und Religion aufbricht. Walser bekräftigt überdies die Einsicht Walser, M., in: Broschüre des Büchnerhauses in Riedstadt Goddelau, o. J., o. S.
202
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2.3 Pulsierende Sätze
Žižeks: Es ist bequem, einfach-gleichgewichtige, klare Optionen anzunehmen: Die Wahl zwischen Gott und dem Mammon war aber noch nie als eine echte Alternative aufzufassen (Mk 12,13). Wie angedeutet werden die herzpädagogischen Grundlagen durch die Darstellung der theologischen Perspektivwechsel in Kapitel 7 ergänzt und konkretisiert.
2.3 Pulsierende Sätze – Herzschlag-Zitate (kleines schulisches Florilegium) „Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht.“ – Hugo von Hofmannsthal203 „Literatur ermöglicht multiples Leben.“ – Jan Philipp Reemtsma204 „Die Literatur zielt ins Herz der Dinge, nur dort kann ein Werk entstehen. … Ohne die Dimension der Ungewissheit, der Ambiguität und der Fragen, die man sich stellt, gibt es keine Literatur.“ – Cécile Wajsbrot205
Der biblische Ruhepuls – Zur Weisheit des Herzens „Mein Herz denkt an dein Wort: Sucht mein Angesicht.“ (Ps 27,8) „Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist.“ (Ps 77,7) „Du legst mir größere Freude ins Herz, als andere haben bei Korn und Wein in Fülle.“ (Ps 4,8) „Nah ist der Herr den zerbrochenen Herzen“ (Ps 34,19); „er heilt die gebrochenen Herzen.“ (Ps 147,3) „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ (1 Sam 16,7) „Ich schenke ihnen ein anderes Herz und schenke ihnen einen neuen Geist. Ich nehme das Herz aus Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz aus Fleisch.“ (Ez 11,19) „Euer Herz lasse sich nicht verwirren.“ (Joh 14,1)
Hofmannsthal, H. v., Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, Frankfurt (8. Aufl.) 2009, S. 507. 204 Reemtsma, J. P., Was heißt: einen literarischen Text interpretieren?, München 2016, S. 205; Literatur ermöglicht „den gleichzeitigen Kontakt mit kognitiver und emotionaler Komplexität“. 205 Wajsbrot, C., Für die Literatur, Berlin 2013, S. 52, 54. 203
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
Zur theologischen Medialität des Herzens „Du brauchst Gott weder hier noch dort zu suchen, er ist nicht ferner als vor der Tür deines Herzens.“ – Meister Eckhart206 „Das Herze im Menschen bedeutet die Hitze und das Element Feuer und ist auch die Hitze; denn Hitze hat im Herzen seinen Ursprung im ganzen Leibe.“ „Also auch wird das Herze oder Licht Gottes in dem Leibe dieser Welt immer geboren. Und dasselbe geborene Herz ist ein Herz mit dem ewigen, unanfänglichen Herzen Gottes, das da ist in und über alle Himmeln.“ – Jakob Böhme207 „Es spricht kein Gott; es spricht dein eignes Herz.“ – (Thoas) „Sie [die Götter] reden nur durch unser Herz zu uns.“ (Iphigenie) – Johann Wolfgang von Goethe208
Luthers Herzfunktion „Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also dass ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben … allein das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abgott … Worauf du nu – sage ich – dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ – Martin Luther209
Goethes Amplituden – Systole und Diastole „Nur wenn das Herz erschlossen, / Dann ist die Erde schön. Du standest so verdrossen / und wusstest nicht zu sehn.“210
Kalenderzitat, Münsterschwarzach 2016. Böhme, J., Aurora. Oder Morgenröte im Aufgang, Wiesbaden 2013, S. 88, 489. 208 Goethe, J. W. v., Iphigenie auf Tauris. in: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 5, München 2000, S. 20; V. 493f. 209 Luther, M., (Großer Katechismus, BSLK 560, 10–24), zit. n.: Lassak, A., Grundloses Vertrauen, Tübingen 2015, S. 134. – Der funktionale Gottesbegriff wird im Folgenden noch sehr wichtig werden. 210 Goethe, J. W. v., Gedichte. Hg. v. E. Trunz, München 1981, S. 315. 206 207
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2.3 Pulsierende Sätze
„Im Atemholen, sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; / jenes bedrängt, dieses erfrischt; / so wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott, wenn er dich presst, / und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.“211 „Das Herz legt seine Gewohnheiten nicht ab, / es begehrt lieber des Paradieses nicht.“ „Und wer sich selbst erkennt, / erkennet seinen Gott.“212 „Das Heiligste Was ist das Heiligste? Das, was heut und ewig die Geister, tief und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.“213
Fontanes Herzblick „Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht recht gelten lasse, treffe ich aber wirklich mal auf Großes, so bin ich ganz kurz. Das Große spricht für sich selbst, es bedarf keiner künstlerischen Behandlung, um zu wirken.“214 „Der Mann, der bis in die Dunkeltiefen des Herzens blickt, schließt seine Geheimnisse auf, löst seine Verworrenheiten. Eine Aufgabe, nicht dankbar immer, vielleicht verwerflich, gewiss gefährlich; – es frommt nicht, der Gorgo ins Antlitz zu schauen oder das Rätsel der Sphinx zu lösen. Ein Letztes, Tiefstes soll den verhüllenden Schleier tragen.“215
Stechlins Herzensgröße – Beständigkeit und Demut Pastor Lorenzens Grabrede auf Dubslav von Stechlin fasst dessen Lebensprojekt nochmals zusammen:
213 214
Ders., West-östlicher Divan, Zürich (4. Aufl.) 1994, S. 11. Ebd., S. 160. Ders., Gedichte. Hg. v. E. Trunz, München 1981, S. 227. Fontane, Th., zit. n.: Nürnberger, H., Fontane mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1968, S. 133 (Briefe an die Familie, 2, 70f). 215 Fontane, Th., in: Christoffel, K. (Hg.), „Eigen war mein Weg und Ziel.“ Das Fontane-Brevier, Darmstadt (6. Aufl.) 2011, S. 135. 211 212
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2. Grundlagen der herzlichen Pädagogik
„Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz. … Er war recht eigentlich frei. Wusste es auch, wenn er es auch oft bestritt. Das Goldene Kalb anbeten, war nicht seine Sache. Daher kam es auch, dass er vor dem, was das Leben so vieler anderer verdirbt und unglücklich macht, bewahrt blieb, vor Neid und bösem Leumund. Er hatte keine Feinde, weil er selber keines Menschen Feind war. Er war die Güte selbst, die Verkörperung des alten Weisheitssatzes: ‚Was du nicht willst, dass man dir tu.‘ Und das leitet mich dann auch hinüber auf die Frage nach seinem Bekenntnis. Er hatte davon weniger das Wort als das Tun. Er hielt es mit den guten Werken und war recht eigentlich das, was wir überhaupt einen Christen nennen sollten. Denn er hatte die Liebe. Nichts Menschliches war ihm fremd [Terenz], weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigner menschlichen Schwäche jederzeit bewusst war. … – all das war sein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Lauterkeit des Herzens. Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind. …“216 „Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser. Ausdauer, das ist die Hauptsache.“ … „Mit unserer eigenen Kraft ist nichts getan. Ich habe nicht den Grashalm sicher, den ich ausreiße. Demut, Demut“217 „Demütig sein, heißt christlich sein. … Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf; wer demütig ist, der sieht die Scheidewände fallen und erblickt den Menschen im Menschen.“218
Paul Celans Schmerz „Das ausgeschachtete Herz, darin sie Gefühl installieren. Großheimat FertigTeile Milchschwester Schaufel.“219
Ders., Der Stechlin, München 1983, S. 364f. Ebd., S. 44, 50. 218 Ebd., S. 261 (vgl. auch Blumenberg, H., Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker, Frankfurt a. M. 2002). 219 Celan, P., Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. 2, Frankfurt a. M. 2000, S. 150. 216 217
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3. Rechter Vorhof: „Wunde Punkte“ (Konkretisierung eines Unbehagens) „Die Unvernunft ist also institutionalisiert.“ – Noam Chomsky1 „Der wahre Mut eines Aktes ist immer der Mut, die Nichtexistenz des großen Anderen zu akzeptieren, das heißt die bestehende Ordnung an der Stelle ihres symptomalen Knotens anzugreifen.“ – Slavoj Žižek2
Angesichts der Sprachlosigkeit vieler Referendare wird hier eine befreiungstheologische Kritik des Referendariats geboten, das häufig von einer Ausbildungs- zu einer Leidenszeit verkommt. Ohnmachtserfahrungen sind die Schattenseite offener/verdeckter Machtstrukturen. Theologisch ist die Sache klar: Es gibt nur eine Herrlichkeit, und das ist sicher nicht die der Fachleiter. Man mag eine klarere Demontage der Demonteure erwarten. Es ist hier aber keine Anklage von Funktionsträgern intendiert, vielmehr die Offenlegung von Machtverhältnissen;3 der große Unmut befreundeter Kommilitonen, die bereits im Referendariat waren, führte bereits 2002 zu einer frühen Fassung, die im Kreis der Betroffenen Anklang fand. Die Reaktion auf erlittene seelische Qual ist der Aufschrei; auch zu einer entsprechenden Platzierung ihrer Klage/Kritik haben Referendare selten Gelegenheit. Da sich an der Grundkonstellation des Referendariats wohl kaum etwas geändert hat, hat das Kapitel 3.1 auch nicht an Aktualität verloren. Die mit „PS“ Chomsky, N., Die Herren der Welt. Essays und Reden aus fünf Jahrzehnten, Wien 2014, S. 189. Žižek, S., Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2011, S. 92. 3 Der Schriftsteller Andreas Maier kommt in „Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen“ (Frankfurt a. M. 2006, S. 9) auf seine Referendariatserfahrungen zu sprechen: „Ich dachte, was ich schon immer dachte, bis heute, und was meine Protagonisten auch immer denken, nämlich: wie halten die das alles aus? Wie halten die Menschen in den Lehrerzimmern das aus, wie halten die Schüler das aus, wie halten überhaupt berufstätige Menschen ihre Berufe aus …?“ Und S. 30: „Als ich meinen Job als Referendar aufgab, erntete ich heftige Proteste in meiner Deutschklasse, elftes Schuljahr. Sie fragten mich: Warum hören Sie auf, Herr Maier, warum lassen Sie uns im Stich? Ich antwortete: Leute, ich habe euch ein Jahr unterrichtet, bitte versteht, ihr seid im Verlauf dieses Jahres für mich geradezu zu einem Vorbild geworden, ich möchte so bleiben, wie ihr seid, ich möchte nicht wie diese Menschen im Lehrerzimmer sein. Ich weiß, dass jeder von euch in ganz wenigen Jahren genauso sein wird wie die da, aber ich, Entschuldigung, rette jetzt meinen Arsch, und wisst ihr, wer mich auf diesen Gedanken gebracht hat? Ihr.“ 1 2
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3. Rechter Vorhof
markierten längeren Darlegungen dürfen als Anspielung auf Deleuzes bekanntes „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ gelesen werden.4 Dem Pädagogen Friedrich Fröbel wird die kurze Definition von Erziehung als „Beispiel und Liebe“ zugeschrieben.5 Die Diskrepanz zwischen Erziehungs-/Bildungstheorien und realexistierender Ausbildungspraxis kann größer nicht gedacht werden … Vor Ort in den Schulen ist indes den Kollegen völlig klar, dass die jetzigen Referendare spätere Fachkollegen sein werden; hier erfahren die Referendare zumindest verbale Unterstützung und Aufmunterung. Die Kommentierung des Spickverhaltens (3.2) spricht für sich; nach einer einjährigen Auszeit war der Autor von der unverfrorenen Häufigkeit der Regelverstöße bei Klausuren erschrocken. Die bereits in Kapitel 1 angesprochenen Desiderata und herausgestellten Problemfelder dürfen hier mitgedacht werden, so dass sich die Zahl der „wunden Punkte“ multipliziert. Überregulierung paart sich mit dem Persistieren struktureller Defizite; Stellenvakanzen führen vorhandene Lehrkräfte an ihre Belastungsgrenzen und oft darüber hinaus. Die Herzpädagogik moniert hier machtstrukturelle Imbalancen des Schulsystems und eine selektive Selbstbeschreibung und kommt zuletzt auf gesinnungsethische Fragen zurück.
3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung – Zur theologischen Kritik beamtlicher Allmacht „Wird’s dem Schüler (oder Referendar) schwer wie Eisen, zähl’ den Lehrer (seinen Ausbilder) nicht zu den Weisen.“ – Jüdisches Sprichwort „Lerne zu leiden, ohne zu klagen.“ – Motto der Kampfschwimmerkompanie „Cum tacent, clamant [referendarii].“ – Cicero (In Catil, 8,21)
Man mag mit dem Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk – wohl auch selbstkritisch – den Beamten als profilloses Medium und formbares Werkzeug einer größeren Macht oder Idee sehen, vergleichbar dem zölibatären Priester, der ebenso gut einsetzbar und spirituell gedrillt extrem belastet werden kann. Zur Erzeugung seiner staatstragenden Medialität und
Deleuze, G., Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262. 5 Fröbel, F., zit. n.: o. A., Was ist Erziehung? (einseitige Zitatsammlung), in: Forschung und Lehre 4/2005, S. 181. 4
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
„Supraleiterschaft“ ist ein gewisses Desensibilitäts- und Selbstobjektivierungstraining nötig, das bis in die Mikrofasern hineinwirkt, eine Art Grundabrichtung, die für den Schulalltag funktionsfähig macht. – Schließlich soll der künftige Lehrer Deputaterhöhungen ohne Murren hinnehmen und auch sonst sein Engagement für seine Schule bis zur Selbsthingabe steigern. Er soll ein immer leistungswilliger Zentaur, eine Mischung aus Organisator, Mentor/Therapeut, Eventmanager, Sozialarbeiter und natürlich Fachwissenschaftler sein. – Die formgebenden Schnitte am Sozialkörper werden von Chirurgen vorgenommen, die sich nicht scheuen, die Grenzen des Referendars auszutesten und mit ihrer Kritik bis ins Private vorzudringen. – Wer nach dem Operationsbesteck und den Laboratorien der Ausbilder fragt, sei auf die SiemensWerbung verwiesen: „Innovation ist, wenn Operationen keine einschneidenden Erlebnisse mehr sind. Siemens die Kraft des Neuen.“ Von Eingriffen bleibt der Bikini-Schnitt, es darf im Nachhinein gelten: Es war ja nicht so schlimm. Immer wieder auftretende Eruptionen gegen PISA- und Bologna-Reformen machen deutlich: Schule und bisheriges Studium sind inkompatibel, jedenfalls streicht man das bisherige Studium und verschult die Universität durch kompatible Module oder modulare Lernfelder. Bis das erreicht ist, kommt es im Referendariat verstärkt zur Sehnsucht nach dem ganz Anderen, die von einer früheren Freiheit zeugt, zu Phantomschmerzen, die bald als „gefährliche Erinnerung“ betäubt und eliminiert werden können. (War es nicht das Geniale des (bisherigen) geisteswissenschaftlichen Studiums, dass jeder völlig andere Bücher las und trotzdem die Prüfung absolvieren konnte, dass keine Übersichtlichkeit vorgegaukelt wurde und die aalglatte, laute Lösung eine unzulässige Komplexitätsreduktion verriet …?). Erziehung bildet für Luhmann kein eigenständiges Teilsystem der Gesellschaft aus, da viele Instanzen, nicht zuletzt auch die Medien, an den Kindern und Jugendlichen „herumdoktern“; Erziehung erscheint „unmöglich“, weil Schüler nicht linear instruierbar sind und Lernen nur beiderseitig als Ko-Konstruktion verstanden werden kann. Erziehung ist für Luhmann instabiler als Paarbeziehungen, die sich als operational geschlossenes Teilsystem herausgebildet haben. Wenn in der funktional differenzierten Gesellschaft die zweckfreie Intimbeziehung nach Luhmann auf dem Sexualtrieb fußt, der sie freilich nicht zu dominieren vermag, so kann man dem Schulbetrieb ein Amalgam aus Geltungstrieb (bei Lehrern) und (bei Kindern) ein Orientierungs- und Bergungsbedürfnis unterstellen. Gerade für den „Sozialtechnologen“ und „Konstruktivisten“ Luhmann ist die Lehrer-Schüler-Interaktion nicht berechenbar. Und die Qualitätssicherung und Standardisierung droht zu einer Trivialisierung zu verkommen.6 Über die Normierung von Lernprozessen sagte schon Heinz von Foerster in den 1950er Jahren, dass Tests die Prüfer testen, nicht die Schüler. Dass Produktionsprozesse und geistige Akte parallelisiert
6
Die Frage: Wann kommt der PISA-Test für die Fachleiter? (Wer kontrolliert die Kontrolleure?) trifft also nicht den Kern; zur Kritik des Qualitätsmanagements vgl. Kapitel 7.1.
121
3. Rechter Vorhof
werden, ist ein kapitalistischer Kurzschluss der Informationsgesellschaft, die Information als Ware, Wissen als Humankapital kommerzialisiert und dabei Arbeitsmarktprobleme als Lernprobleme privatisiert und umwertet. – Man darf hinter dem Bildungselitetrend blinden Aktionismus und Heuchelei vermuten und fragen, wie „Qualitätssicherung“ bei einer Zunahme von Aufgaben und Verpflichtungen ohne deutliche Absenkung des Stundendeputats zu erreichen ist. Die im Titel angekündigte These besagt, dass die gymnasiale Lehrerausbildung eine Kasernenhofatmosphäre erzeugt, den Drill und die Schikane der Grundausbildung verfeinert. Der Kompaniechef sagte einst zu den Wehrpflichtigen: „Die nächsten drei Monate gehört ihr mir.“ Die totale Abhängigkeit vom Fachleiter und seinem Urteil dauert allerdings in der Regel nun 18 Monate, vormals 24 Monate. Seine Zugriffe können subtil, aber nicht weniger unterdrückend hinter Easy-Going-Machertum und Coolness-Phrasen verborgen sein: „Seien sie spontaner, lockerer!“ Als Meister der Doublebinds erzeugen Fachleiter ausweglose Konstellationen prinzipiellen Ungenügens. Den Virus des Perfektionismus gilt es weiterzugeben. Die Kleingeisterei: „Sie haben sich zweimal mit dem Rücken der Klasse zugewandt.“ „Sie haben nicht ganz rundgeblickt“, „Ein Schüler kam in der Stunde nicht zu Wort“, imitiert das besserwisserische, pedantische Aufgeplustere von Spintkontrolleuren, die noch hinter Fußleiste und Spiegel nach Staub suchen. – Beim Bose-Einstein-Kondensat haben es die Physiker längst gelernt: Kontrollierendes Beobachten heißt nahezu zerstören oder das verunmöglichen, was man intendiert. Bis das in die pädagogische Ausbildung durchsickert, dauert es noch einige Zeit. Unterdessen wird die Ausbildung weiterhin als eine unendliche Folge von Demütigungen erlebt, die der Referendar seinem Fachleiter gegenüber freudig zu begrüßen gezwungen ist. Die Maßstäbe sind keineswegs einheitlich oder transparent, sondern schon innerhalb eines Seminars höchst unterschiedlich; ein unangekündigter Unterrichtsbesuch wird einigen doch angekündigt, das Lehrprobenthema ist manchen schon vor der Frist bekannt … Wären Fachleiter vorrangig Pädagogen, würden sie ihre negative Kritik gegenüber Referendaren dosieren. Stattdessen hört man von ausgedehnten Besprechungen – auch schon bei Anfängern im Referendariat –, in denen all das aufgelistet wird, was schiefgelaufen ist, was besser hätte laufen können. Es herrscht eine Unerbittlichkeit der Kritik vor, die nicht darauf achtet, ob das Gegenüber sie noch vertragen kann. Referendare sind den Tränen nahe, die Destruktion geht weiter in dem Irrglauben, dass vor allem das Wühlen im Negativen den guten Ausbilder auszeichnet. Zumindest lässt es den Fachleiter gut aussehen, da ihm ja so viel aufgefallen ist. Und genau darauf kommt es ja an – auf die (Selbstdarstellung der) Fachleiterherrlichkeit. Theologen haben es ja vor allem mit Erzählungen und Erzählungen von Erzählungen, also nur Unauthentischem und verfälschenden Mythen, zu tun. Sie sind aber genug „geschult“, zu wissen, dass auf diese Weise schon immer Befindlichkeiten und Stimmungen und der Esprit oder Ungeist von Organisationen und Institutionen eingefangen werden konnten: Natürlich 122
3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
gibt es das false memory syndrome auch in der Bibel; in den Evangelien oder anderen literarischen Dokumenten lässt sich die Sache Jesu an der Begeisterung seiner Anhänger doch klar rekonstruieren. – Es ist wie auf einem bekannten Jesus-Bild von Emil Nolde („Christus und die Kinder“), auf dem nur das Leuchten der Augen der Kinder, aber nicht das Gesicht Jesu zu sehen ist; wie er war und was er wollte, ist allein an der Reaktion der Leute abzulesen. – Welche Reaktionen sind also auf das Referendariat hin zu vernehmen und welche Rückschlüsse lässt das zu auf die Erfahrungen oder Stimmungen der Involvierten? Inwieweit wird zur Kenntnis genommen, dass sehr viele oder nahezu alle (ehemaligen) Referendare meinen, dass sie im Referendariat gelitten haben und ihr Rückgrat arg belastet und deformiert wurde? Einige meinten, sie hätten es nicht gemacht, wenn sie gewusst hätten, was auf sie zukommt, soviel sei der Lehrerberuf, so schön er auch sei, nicht wert. Warum werden solche Erfahrungsberichte überhört oder warum haben solche „Rückmeldungen“ keine Konsequenzen auf die Lehrerausbildung? Nicht zuletzt aus theologischen Gründen muss man dafür plädieren, dass Wahrheit in der Übertreibung liegt (Marx, Freud, Heidegger, Lévinas), dass Wahrheit ein eschatologischer Begriff ist, d. h. niemals etwas mit Neutralität zu tun hat. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Wahrheit hat es nicht mit dem Lauten, sondern mit dem bisher Überhörten-Leisen, der Sensibilität für Subtilitäten, zu tun, mit der Option für den Unterdrückten.) – Für Hegel wäre gerade der neutrale Blick sogar der Inbegriff des Bösen, Žižek wird nicht müde, darauf hinzuweisen; der Irrglaube, man könnte sich objektiv und schadlos verhalten, erscheint als totale Verblendung. – Das Opfer, hier die Auszubildenden, haben also grundsätzlich mehr recht als ihre Peiniger, das ist auch die christliche Grundoption, die Wertschätzung des ausgeschlossenen/verfemten Rests. – „Mit Jesus kann man allerdings keinen Staat machen“ – den Satz hat der Neutestamentler Josef Blank wohl allen staatstragenden Theologen ins Stammbuch geschrieben – und wohl auch keine Schule. Aussagen wie „Wir brauchen …“ sieht Sloterdijk als grundsätzlich unphilosophisch an, da sie den gegebenen engen Horizont nicht grundsätzlich genug hinterfragen. Das Ausmaß der Verwerfung und Verkehrung wird so erst gar nicht gesehen.7 Wie bei Benjamin gilt: Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe! Im baudrillardschen Zustand der hyperrealen Positivierung und der „Ent-Entfremdung“, des Verlusts der Kategorie der Entfremdung, kann es nicht vorschnell um Therapie, sondern um das Eingeständnis von Sackgassen oder fatalen Konstellationen gehen. Wie ein Oberarzt seinen Assistenten gegenüber bestimmt der Fachleiter als pädagogischer Guru über Wohl und Wehe seiner Schutzbefohlenen. Behagt ihre Art dem Fachleiter nicht, haben sie nichts mehr zu lachen. Nach René Girard sondert jede Gruppe von Zeit zu Zeit aus ihrem Sozialkörper Sündenböcke wie normale Ausscheidungen aus. Der Druck muss abgeführt
7
Vgl. auch Derrida, J., Was tun – mit der Frage „was tun“?, Wien 2018.
123
3. Rechter Vorhof
werden. Alle Übriggebliebenen sind natürlich froh, dass sie nicht im Fokus der Kritik standen und verschont wurden. Und natürlich tun wir alle so, als hätte René Girard seine Bücher nie geschrieben. Übrigens: Hegel definierte Bildung als die Fähigkeit, mit dem Gedanken eines Anderen mitgehen können. Lévinas definierte Erkenntnis als Sensibilität für den Ausgeschlossenen, den Rest, als Ahnung des Vergessenen und Rekonstruktion der eigenen Gewaltgeschichte. Er meinte, dass Rassismus beginnt, wenn Andersheit oder Fremdheit zugedeckt und verharmlost wird. Seine Philosophie als Totalitätskritik deklassiert jedes Trainings- und Ausbildungssystem, das auf das Funktionieren trimmt und desensibilisiert, als bereits faschistoid. Sein Denken des Anderen steht ohnmächtig dem Normierungs- und Objektivitätswahn gegenüber; aber das wäre genau die urchristliche Konstellation. Lévinas geht von einer Wahrheit aus, die sich der Schmähung aussetzt, einer Andersheit, die nicht und nie in Systemen Platz findet, gegenüber denen sich der Macher versündigt. Dem Selbstdarstellungs- und Manifestationsbestreben des Seins gilt es zu entkommen. – Nimmt man das erkenntnistheoretische Privileg der Armen und Unterdrückten, wie es die Befreiungstheologie (Sölle, Dussel u. a.) formuliert hat, hieße das: Der bevormundende Vorgesetzte hat Unrecht qua falscher Position. Leitungen haben institutionalisierte Machtverhältnisse selbstkritisch zu hinterfragen. Der Mühlenstein um den Hals derer, die Untergebene/Hilflose diskriminiert haben (vgl. Mk 9,42), ist die markante jesuanische Drohung an die Herrschenden und Befehlenden, die nach Arno Schmidt alle Schufte sind. – Aber der Referendar will eine Position in einem System, in dem er später selbst zu befehlen hat. Hat er es also nicht besser verdient? Gefolgschaft und Imitatio superiorum sind angesagt. „Sie müssen lockerer werden, vor allem gerade dann, wenn ich Sie kontrolliere, aber natürlich nicht so locker, dass ich das Gefühl habe, sie brauchen mich nicht und ignorieren die Tatsache, dass ich da bin. Also Tanzbär, tanze!“ In einem Gemenge von Doublebinds, die ja im Verdacht standen, Schizophrenie oder schizoide Verhaltensweisen hervorzurufen, muss sich der Referendar zunehmend immunisieren. Das Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins bleibt. Die Machtkonzentration gymnasialer Fachleiter – hiervon muss man die Mentoren vor Ort absetzen – ist der von einstigen Autokraten oder Feudalherren vergleichbar. Nur geht es nicht mehr um autoritäre Anordnung: „Machen Sie …“, sondern um totalitäre Umerziehung: „Sie müssen einsehen, dass es gut ist, was ich Ihnen sage.“ Der autoritäre Herr ordnete bloß Verhaltensweisen an, der totalitäre Herr bestimmt Gefühle und Einstellungen, er überschreitet also mehr Grenzen, er dringt in Bereiche vor, die den Autoritären nicht interessierten. Steuerungs- und Lenkungswahn nehmen zu (vgl. S. Žižek, B.-C. Han). Homogenisierung und Positivierung sind für Baudrillard Autoimmunkrankheiten, Symptome eines systemischen Endzustands der Metastasierung; die Steigerung der Verfahren der Exklusion erhöht die Anfälligkeit für das Virale. – Es bleibt also bei dem Plädoyer für den Anderen. 124
3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
„Das ist doch normal für eine Ausbildung, die kann doch nicht angenehm sein!“ (Trosas iasetai; nach dem Telephos-Mythos gelte: Heilung nach Verwundung!?) Ist damit der Exerzierplatz oder der lästige Formaldienst oder der „Exerzierplatz“ hinzunehmen? Man lernt jedenfalls dort die zynische Fratze und die Phrasen-Hohlheit sozialer Ordnungen, den Fetischismus und Zwangscharakter der leeren Form, kennen. Die Fundamentierung von Gruppenidentitäten ist am eigenen Leib zu erfahren. Begrüßen wir also jede Verschärfung von Kontrollen als Fortschritt? Und Schule funktioniert nur, weil alle Lehrer durch den Ausbildungsfleischwolf, die Knochenmühle Referendariat, gedreht wurden? – Wir lernen jedenfalls zu lächeln wie Buddha-Figuren, „alles bestens“ zu sagen und Kritiken im Nachhinein als überzogen abzuschwächen. Das militärisch-schneidige „Jawoll“ könnte noch kristallklarer klingen. Da die Ausführungen etwas theologisch ausgerichtet sind, passt der Verweis auf die christliche Hagiographie: Da wird von Jean-Marie Vianney (1789–1859), dem Pfarrer von Ars, berichtet, dass er fast das Pfarrexamen nicht geschafft hätte. Das Prüfungskollegium ließ ihn dennoch durchkommen und schickte ihn aufs Land, wo er deren Meinung nach „nichts anstellen“ konnte.8 Es wird von dem Pfarrer von Ars berichtet, dass Tausende von Gläubigen und viele Adlige, Fürsten und geistige Würdenträger zu ihm gegangen sind, um bei ihm als Beichtvater Trost und Rat zu suchen … Eine Figur wie der Pfarrer von Ars würde heute nie eine Chance haben; von als Scharfrichtern agierenden Fachleitern würde er mit 00 zum Teufel gejagt. Noch vor wenigen Jahren gestand man Junglehrern ein lebenslang zu entwickelndes Lernpotenzial zu. Inzwischen sind – so kann man mit Luhmann sagen – die Schließung der Systeme und die funktionale Differenzierung fortgeschritten, die Strategien des Ausschlusses wurden perfektioniert. Deviante Formationen werden ausgebügelt, extinktiert. Dass Glätte in Profillosigkeit oder Kälte umschlagen kann, interessiert nicht. Lévinas würde sagen, dass Wahrheit sehr viel mit Güte zu tun hat: Schade, dass der Horizont der Lehrerausbildung für diese Erkenntnis zu eng und klein ist. (Wo motiviert und aufgebaut werden sollte, wird in zwangsneurotischem Perfektionismus nach Fehlern gesucht und Furcht und Schrecken gesät.) Man vermisst die Zurückhaltung, spätere Kollegen zu beurteilen, die Skrupel, unerbittlich zu sein. Gefühllosigkeit gilt vielmehr als schick – ein allgemeiner Trend; die jugendliche Coolness findet ihre erwachsene Fortsetzung. Eine ehemalige Referendarin meinte, sie hätte das Referendariat nie überstanden, wenn sie nicht eine Therapeutin oder Supervisorin als Begleiterin an ihrer Seite gehabt hätte.
8
Saint-Pierre, M. de, Der Pfarrer von Ars. Das Leben des Johannes Maria Vianney, Freiburg i. Br. 1975, S. 58f. Und S. 62f: „In Erinnerung an seine eigene Studienzeit ist er mit den schwachen und langsamen Schülern unendlich geduldig und nachsichtig … Er gibt und gibt unvernünftig …“
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3. Rechter Vorhof
Der Fachleiter kommt zweimal nacheinander nicht in eine Stunde, in die er sich angekündigt hatte. Der Referendar kocht vor Ärger, kann es aber nicht sagen, da er ja von der Instanz abhängig ist; er kann auch sonst seine Wut und Enttäuschung nicht äußern, aber er nimmt sich vor, eine Liste zu schreiben und am Ende die Bilanz zu machen. Kleine Tröstungen, die wie die Aussicht auf ein letztes Gericht oder ein späteres leidfreies Lehrerdasein wirken, können nicht verbergen, dass das, was alltäglich geübt oder verlangt wird, als Unterwerfungsgesten zu beschreiben ist.9 Ein erfahrener Lehrer meinte ganz selbstverständlich, dass er das, was er im Referendariat vom Fachleiter gesagt bekam, vergessen musste (!). Der Gebrauch der eingeführten Lehrbücher wird in manchen Studienseminaren nicht thematisiert; die Lehrprobenspektakelstunden und die elaborierten Reihenplanungen, die sich nicht auf den Gebrauch des eingeführten Schulbuchs stützen dürfen, sind vom Lehreralltag meilenweit entfernt; jeder weiß es, jeder soll sich aber einfügen. Die Leidensphasen des Referendariats erscheinen weiterhin nicht substituierbar. Inzwischen hat die Digitalisierung von Schulen Priorität! Perfekt funktioniert unterdessen im Schulsystem nur der Computer und bald, wenn Fachleiter noch besser an ihren Referendaren feilen und die Cyborgisierung vorantreiben, das Pädagotchi.10 PS 1: „Du, oh Gott, willst doch, dass unsere Kinder weise werden und die Weisheit im Herzen haben.“ – Janusz Korczak11
Lasst uns also um die Abschaffung des Referendariats beten! Oder machen wir eine Theologie bürokratischer Planung und Verwaltung, der beamtlichen Versteinerung und ordnungsgemäßen Erstarrung, sie passt besser zu der dumpfen, phantasielosen Saturiertheit der bürgerlichen Zivilreligion. Auf dass unser Status bestätigt und unsere Wohlsituiertheit und Arriviertheit gebauchpinselt werde! Und bleiben wir sitzen vor den Fleischtöpfen etablierter Selbstgerechtigkeit, wir vertragen keinen Auszug, der ist zu windig. Gackern wir im Gänsehof und dreschen in falschem Pathos neue Silbermann, A., Von der Kunst der Arschkriecherei, Berlin 1997. Oder Crncevic, B., Staatsexamen. Aphorismen, Frankfurt a. M. 1966, S. 51: „Wenn aus dem Menschen eine Rippe gemacht wird, ist jeder ein Gott.“ 10 Hier soll nicht der Gewerkschaftsarbeit in den Rücken gefallen werden, die sich für eine bessere Ausbildung einsetzt. – Es sind die übergriffigen Vorschläge, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, die den Unmut der Referendare zu Recht wachrufen. Wenn man Marie Rotkopf ein „antiromantisches Manifest“ (Hamburg 2016) zugesteht oder sie dafür bewundert, paternalistische Selbstimmunisierungen und Idealisierungen aufzubrechen, so sei hier auch der polemische Ton erlaubt. 11 Korczak, J., Was bist du und wer bist du?, in: Licharz, W., Karg, H. (Hg.), Mit Janusz Korczak und den Kindern der Welt. Lasst uns eine Brücke bauen, Frankfurt a. M. 1993, S. 12. 9
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
Phrasen (frei nach Kierkegaard). Foucaults Machtanalysen will erst recht keiner lesen, schon gar nicht die, die es betreffen würde. Während noch vor 40 Jahren Fundamentalkritik möglich war, sind wir inzwischen in die Phase alternativloser Systemaffirmation eingetreten; … doch seien wir „geschult“: Suchen wir im System selbst, im Kern bzw. in seiner Wurzel, den Grund seiner Korruption; für protestantische oder protestierende Theologen, die schon auf dem Hintergrund der Reformationsgeschichte mit einer Nähe von Papst und Antichrist zu rechnen gelernt haben, dürfte das keine große Aufgabe sein: Vielleicht steckt ja hinter dem Schweigen der Referendare die kluge Strategie des Herrn K., des Denkenden, sich von der Gewalt sein Rückgrat nicht zerschlagen zu lassen, sich zu beugen und dann nach Ablauf von zwei Jahren frei zu sein, seine Wege als Lehrer gehen zu können und leise „nein“ zu sagen. Aber warum müssen Verstellung und Frustration perpetuiert werden? PS 2: „Was ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen. Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? Sich nicht mehr vor sich selber schämen.“ – Friedrich Nietzsche12
Nach dem Referendariat sagten kürzlich einige Absolventen, dass sie sich schämen, dass aus der Zeit in erster Linie ein Schamgefühl bleibt. Warum? Weil sie sich nicht beschwert und angstbesetzt stumm ertragen haben, dass sie selbst oder Kollegen vorgeführt wurden und sie keine Chance zum Protest hatten oder sich zu wenig wehrten. Vor der Macht und dem Urteil der Ausbilder müssen Referendare ja auch zittern, da sie über ihre berufliche Zukunft entscheiden. Unterdessen prüft der Seminarleiter, der Allgemeine Pädagogik unterrichtet, in seinen Abschlussprüfungen das Thema Schulangst. Hier will er dann hören, wie wichtig es ist, in der Schule eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen und Leistungsdruck abzubauen, so steht es zumindest in der Fachliteratur. – Hypokrisie oder Betriebsblindheit? – Die ehemaligen Prüflinge, die nun Kollegen ihrer einstigen Fachleiter geworden sind, finden das Referendariat im Rückblick „menschlich enttäuschend“ und „peinlich“. – Schlechter Nachgeschmack als Gütesiegel einer nach wie vor unfehlbaren Lehrergrundausbildung? … Ist das Referendariat vorbei, überlegen die Referendare kurz, ob sie noch etwas zu ihren Ausbildern sagen, und verkneifen es sich: Sie wollen sich nicht als Opfer darstellen, keine Schwäche zeigen; also doch wieder einen guten Eindruck machen, schließlich will man ja als für neue Aufgaben bereit und leistungsfähig dastehen. Die Dienstordnung und ihr Geist (die Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft (3. Buch, §274, 275), Frankfurt a. M. 1988, S. 170.
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3. Rechter Vorhof
objektive Substanz des Beamten) wurden erfolgreich in die Köpfe und Herzen eingesenkt; die Prüfer haben sich perfekt gegen Kritik immunisiert. Die Ausbildung kann als abgeschlossen gelten. Ein schlechter Demiurg sprach anfangs: Lass uns Beamten schmieden … und sah schließlich, dass sie alle reibungslos funktionierten. Also war und ist alles gut. Als erstes Gebot (oder Denkverbot), das er selbst am besten befolgt, wird dekretiert für jetzt und immerdar: Du sollst nicht merken! PS 3: Das anfänglich zitierte Motto könnten einige herumdrehen und der vorliegenden Kritik Larmoyanz (Klage ohne Leiden) vorwerfen. Das Fehlen von Beschwerden hat aber, wie dargestellt, systemimmanente Gründe. Denn: Wer will schon seine Chancen auf eine Stelle gefährden? Wer im Schulsystem Fuß fassen will, fällt nicht gern mit lauter Kritik auf. Angesichts der „Klage“ (keiner juristischen; also bei einem Ausruf des Schmerzes und des Unwillens) stellt sich ein anderes Problem: Dass sie den großen Anderen anruft und auf Erhörung setzt, oder dass sie damit rechnet, dass der große Andere existiert, eine Instanz also, die die geleisteten Opfer entgegennimmt und goutiert. Nach Žižek leitet nicht zuletzt die Psychoanalyse dazu an, dass man nicht mehr mit dieser Instanz rechnet, seine Nichtexistenz aushält, d. h. also, dass man sich nicht von Systemen verbrauchen lässt, also nicht mehr länger als Objekt des Genießens des Anderen fungiert. Es ist also gegen Norbert Bolz und systemtheoretische Sichtweisen zu hoffen, dass es mehr Sinn gibt als das selbstvergessene „Es läuft“/“Hurra, ich passe mich ein“. Wohl schon Pestalozzi wies darauf hin, dass eine langjährige, „bewährte“ Praxis noch kein pädagogischer Tauglichkeitsbeweis ist. Man kann sich auch an das Verletzungen-Zufügen und Verletzungen-Erhalten gewöhnen und dann das Flügel-Stutzen als unabdingbar rechtfertigen. Arno Schmidt hat darum formuliert: „Nur die Phantasielosn flücht’n in die Realität, und zerschellen dann, wie billich, daran.“ PS 4: Das Referendariat spiegelt den institutionellen Kern, den sozialen „Härtestandpunkt“13, den Alexander Kluge so wirksam mit seinen Geschichten unterspült. Bei Regelungsdefiziten wird auf Regelanweisung gewartet, die Tendenz zu mehr Regelung und Überwachung wächst, sie wächst noch mehr nach jeder Kritik, das könnte ein Negativeffekt der vorliegenden Ausführungen sein. Zum Härtestandpunkt gehört natürlich, dass von Ausbildern keine Entscheidung zurückgenommen wird bzw. dass man sich selbst gerecht redet und glaubt. Bildung umschreibt der Chaosforscher Otto E. Rössler als Antibastardisierungs-, Antiselbstimmunisierungs- und Sensibilisierungsprozess. Er schließt das Erinnern und Erzählen 13
Kluge, A., Chronik der Gefühle. Bd. 1: Basisgeschichten, Frankfurt a. M. 2000, S. 982.
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
von Hoffnungsgeschichten gegen die Allmacht des Status quo, das Wachhalten des utopischen Potenzials ein. Rössler sieht Bildung als Personwerdung, Humanisierung, wobei seine Beispiele aus dem Bereich der Tierwelt den Kältegrad etablierter Institutionen deutlich machen sollen. Wenn die Pottwale einem vom Walfänger erlegten Artgenossen zu Hilfe eilen und dann eine Rosette bilden, um dem Sterbenden beizustehen, sind sie nicht dumm. Die Walfänger können sie erlegen, aber sie lassen den Artgenossen nicht im Stich. „Also: was gäbe es Klügeres als die Rosette zu bilden? Erstens hilft sie dem armen leidenden Freund, zweitens bewahrt sie alle Pottwale des Planeten vor der Bastardisierung. Vor dem Gezwungenwerden zum Auch-böse-Sein. Denn das ist das Böse.“ 14
Rössler beschreibt deutlich, wie zu Ausbildungsverhältnissen die Unterwerfungsgesten gegenüber den Ausbildern gehören, und diese dort gepflegt werden. Ganz im Sinne aller großen Pädagogen sollten aber die Kinder, der bisher ausgeschlossene und als naiv abgestempelte Rest, die Lehrmeister sein, von denen die etablierten Ausbilder zu lernen haben. Es kann nie anders herum sein. Rösslers Plädoyer für das Anrührende, das der eigentliche „Lernstoff “ sein sollte, darf man hinzufügen: Selig, wer das Referendariat, ohne selbst zu bastardisieren, überstanden hat, und tausendmal eher ist die Abschaffung einer Prüfung/einer Ausbildungseinheit/ des Referendariats zu fordern, als einmal eine ungerechte Behandlung von Prüflingen in Kauf zu nehmen. Eine Ausbildung, die nur in Rollenklischees unterweist und nicht zu tieferer Menschlichkeit führt, ist nichts wert! „Die Orang Utans heißen in der Sprache der Menschen in Borneo Oran Utans (Waldmenschen). Als die ersten Europäer nachfragten, warum sie diese Affen als Menschen bezeichneten, sagten die Einwohner, dass sie Menschen seien. Aber warum reden sie dann nicht? Weil sie dann arbeiten müssten. Arbeiten ist nicht das Böse – aber das Müssen. Auch das Würde-genommen-Bekommen auf dem Schulhof (oder in der Fakultät). Oder im Internet: durch das Vorenthaltenbekommen des Projekts Lampsacus, der Heimatstadt aller Menschen im Internet. Kein Land will es einrichten, das Menschenrecht auf Information, auf kostenloses Überlebenswissen und kostenlose Bildung für alle. Warum?“15
Rössler, O. E., Die Menschwerdung im Internet, in: Maresch, R., Rötzer, F. (Hg.), Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet, Frankfurt a. M. 2001, S. (249–264) 256. 15 Ders., a. a. O., S. 256f. 14
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PS 5: In dem Didaktik-Klassiker „Unterrichtsrezepte“ kritisiert das Pädagogen-Ehepaar Grell die Ausbilder, die Kritik auf Kritik türmen und an Verbesserungsvorschlägen nicht sparen und außer Acht lassen, dass die Kritik von etwas Bestehendem immer einfach ist und nur möglich, da schon eine Ausgangsbasis vorhanden ist. „Beliebt ist der Türmchen-Effekt: die ‚Siehätten-doch-auch-Argumente‘. Jede Vorführstunde regt die Zuschauer … zu vielen großartigen Ideen an, die mitzuteilen sie sich selten verkneifen können. Der Praktikant lernt aus dieser Argumentation, dass er nicht phantasievoll genug ist bzw. dass alle anderen wesentlich ideenreicher sind als er selbst. (Er kommt nicht auf den Gedanken, dass diese Kreativitätsexplosion nur möglich wurde, weil er durch seine Vorarbeiten den Zuschauern das Pulver dafür geliefert hat.) Dies ist also der Türmchen-Effekt: Wenn das Gebäude schon steht, ist es furchtbar einfach, noch allerlei hübsche Türmchen zur Verzierung anzubringen.“16. Das Traurige ist, nicht der Referendar, sondern der Fachleiter hat den Türmcheneffekt nicht durchschaut, erliegt ihm und kommt sich weiterhin großartig vor, weil er so viel Kritikwürdiges auftischen kann; in Unterrichtsbesprechungen wirkt die Kopplung von „oberflächlicher Sachlichkeit“ und „unterflächlicher Irrationalität“ fatal.17 Auf Einladung kommen Trauerbegleiter oder Familientherapeuten gerne in eine Schule, um von ihrer Arbeit zu berichten. Hier könnte sich zeigen, wie bürokratisch verroht, emotional reduziert oder verkrampft desensibilisiert und funktional-gepanzert operiert wird und wie wenig es bei dem Lernbetrieb wirklich um Schüler, geschweige denn um die Belange von Referendaren geht. Die erfahrene Therapeutin aus dem Kinderhospiz wird sich lediglich vor die Klasse setzen, von ihrer Arbeit mit Sterbenden/Trauernden erzählen und die Schüler werden gebannt zuhören; denn mit dieser Herzlichkeit hat noch kein Lehrer zu ihnen geredet; schon nach zwei Minuten wird der Lernverwaltungs-, Lehrplan- und Objektivitätsfetischist entwaffnet sein von der ungekannten Offenheit und der neuen Weise, miteinander umzugehen; bei manchen Geschichten werden Lehrer und Schüler so gerührt sein, dass sie den Tränen nahe sind oder weinen; nach der Stunde wird allen klar sein, dass sie an sehr kostbaren Erfahrungen teilhaben durften, dass sie etwas erlebt haben; dabei werden es winzige Details im Umgang mit Sterbenden und Toten gewesen sein, die etwas über die Bedeutung von Leben und Tod aussagten. Die Schüler werden vielleicht keinen klaren Merksatz mitgenommen, dennoch von dieser Stunde in jedem Fall mehr „profitiert“ haben als von gut aufbereiteten Lektionen die Jahre zuvor. In der Begegnung mit jemandem, der wirklich etwas zu sagen oder zu erzählen hatte, wird jeder „Oberlehrer“ die Arroganz seiner Macht sehen und mit dem Experiment Schule vollkommen neu beginnen wollen/müssen.
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Grell, J., Grell, M., Unterrichtsrezepte, Weinheim 1993, S. 284f. Ebd.
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PS 6: Um nicht apokalyptisch darauf hoffen zu müssen, dass beim Schweigen der Betroffenen die Steine schreien werden (Lk 19,40), noch ein Vorschlag zur Scheidung der Geister: Die „Agent Smiths“ der Referendarsausbildung, die ihre Kollegen drillen, mit ihrer Kritik formen wollen, von „Fehlern“ wie von Viren oder Schmutz reden sowie alles Unfertige – ergo alles Allzumenschliche – sofort bearbeiten, sollte man Unterrichtstechnologen und ihre Fächer „Methoden-Drill“ oder „Didaktorobotik“, aber nicht Pädagogik nennen.18 Und hier hat wohl der Film „Matrix“ Recht: Wenn man nach den Energiequellen der Sozialrobotik sucht, muss man sich auf erschreckende Einblicke einstellen – nicht zuletzt auf die, dass jeder Maschinenhaftes in sich trägt (ein sehr unspezifischer Hinweis aus Deleuzes „Anti-Ödipus“) … Dass Designer wie Michael Erlhoff längst das „Loblied des Unfertigen“ (Zettel versus Power-Point-Präsentation) anstimmen, mag ein Ausblick sein. „Menschliche“ Pädagogen erkennt man jedenfalls nach wie vor daran, dass sie um „richtige Fehler“, die „Größe im Scheitern“, die Nähe von Bildung und Freispiel sowie die Metamorphose jeder Erziehung in Therapie/therapeutisches Wertschätzen und Verstehen wissen. PS 7: Ungewohnte Innenperspektiven darzustellen, also auch die Sicht des Referendars einzunehmen, ist nicht zuletzt das Anliegen der Cultural Studies. Einer ihrer Begründer, John Fiske, untersucht Alltagskulturen auf ihr subversives Potenzial, wobei er sich auf das Aufkommen von Subkulturen, das konkrete „Handling“/Konterkarieren offizieller Vorschriften und Rollenvorgaben („Mikropolitik des Alltags“) sowie das Aufkommen von Gesten der Distanzierung in Kontexten der Systemaffirmation kapriziert: „Mein Interesse ist dem der Theoretiker der Massenkultur genau entgegengesetzt: Ich konzentriere mich auf jene Augenblicke, wo die Hegemonie versagt, wo die Ideologie schwächer ist als der Widerstand, wo soziale Kontrolle auf Entdisziplinierung trifft. Diese Augenblicke des Vergnügens und der Politik gehören zu den eigentlich wichtigen Elementen der Populärkultur, denn hier artikulieren sich die Interessen der Leute.“19 Das von ihm ausgemachte Desiderat schmerzt nach wie vor: „Eine Wissenschaft des Partikulären ist unserem akademischen Habitus fremd.“20 Es muss doch genug Anlass zum Nachdenken sein, wenn eine große Zahl von Absolventen nach ihrem Zweiten Staatsexamen zum Resultat kommt, dass sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so entwürdigt, gedemütigt und prostituiert (weil als Folie zur Selbstdarstellung des großen Anderen benutzt) gefühlt haben wie in ihrem Referendariat und im Rückblick Das Fach Didaktik und Methodik heißt neuerdings an einigen Universitäten „Instruktionsdesign“. Fiske, J., Politik. Die Linke und der Populismus, in: Bromley, R., Göttlich, U., Winter, C. (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 259. 20 Fiske, J., zit. n.: Niekisch, S., John Fiske. Populärkultur zwischen Alltagspraxis und Widerstand, in: Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Hg. v. M. L. Hofmann, T. F. Korta, S. Niekisch, Frankfurt a. M. 2004, S. 254. 18 19
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Lehrprobenbesprechungen mit Schauprozessen oder öffentlicher Beichte oder Bloßstellungen vor einem Tribunal vergleichen. Es ist schwer zu verstehen, wieso wohlbestallte, lebenszeitverbeamtete Lehrer, die die Referendare leiden sehen, an höherer Stelle kein gutes Wort für die künftigen Kollegen einlegen oder zumindest Kafka zitieren: „Ich bin doch auch Beamter und an Büroluft gewöhnt, aber hier scheint es doch zu arg …“ „Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen, und zwar mit höheren Beamten, womit natürlich nur höhere Beamten der unteren Grade gemeint sind.“21 Das „drückende“ Klima, das man gern übergehen möchte, hat Kafka klar herausgearbeitet. Es gilt wohl uneingeschränkt das Wort des Geistlichen aus dem „Proceß“: „Durch seinen Dienst nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. … Nein, … man muss nicht alles für wahr halten, man muss es nur für notwendig halten.“ Ohne Kafkas Verweis auf die Unabweisbarkeit des Schuldgefühls gegenüber der symbolischen Ordnung kann eine Reflexion über das Referendariat nicht enden:22 „Beschwerden an die Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg …“ „Eines Tages – niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt, dass in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist, und ordnet sofortige Verhaftung an.“ „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“23
PS 8: Die Forderung nach einer Abschaffung des Referendariats ist nicht zuletzt in Verruf geraten, da sie einmal von Jungliberalen mit ökonomischen Hintergedanken vorgebracht wurde, die nur das enorme Einsparpotential bei öffentlichen Haushalten im Sinn hatten. (Frei nach dem Motto: „Ihr sagt: Erziehung ist unmöglich, Wunderbar: Pädagogik ist keine eigene Profession und Lehrern als im Grund ungelernten Angestellten kürzen wir das Gehalt, wir geben Unternehmen die Gelegenheit, in der Schule Fuß zu fassen.“) Natürlich ist für Berufseinsteiger und Neulinge eine Orientierungs- und Probierphase sinnvoll, in der man sich freier austesten kann, als es der normale Schulbetrieb erlaubt, und mit diversen Methoden experimentieren kann. Es braucht wohl Zeit, um den eigenen Ton im Umgang mit einer Klasse zu finden und sich auf die jeweilige Schülerklientel einzustellen. Dass diese Ein- oder Abstimmung durch Beobachtung der
Kafka, F., Der Prozess, Frankfurt a. M. 1979, S. 62, 101. Ebd., S. 188. Schließlich ist für etliche Literaten wie Tiqqun und W. Genazino Kafka der Einzige, dem man uneingeschränkt trauen kann. 23 Ebd., S. 100, 136, 185. 21 22
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
Fachleiter empfindlich gestört wird, braucht nicht besonders betont zu werden. – Es drängt sich auch die Einschätzung auf, dass eine Abschlussprüfung am Ende einer solchen Testphase substituierbar ist. Eine Gängelung durch Fachleiter, die Drohung, nicht zu bestehen und ohne Beruf dazustehen, ist jedem zu ersparen. Indes werden Lehrer ohne Staatsexamen, die häufig längere Zeit mit kurz befristeten Angestelltenverträgen an der Schule arbeiten mussten, in Kollegien allesamt als hochkompetente Pädagogen und von den Schülern als maßgebliche Lehrerpersönlichkeiten geachtet. … Als hätte jemals ein Examen, ein Vorführzirkus, einen Prüfkandidaten verändert oder verbessert. Weil die Examina aber vielfach traumatisiert haben, dürfen sie als überflüssiger Demutsritus getrost in den Orkus der Geschichte geworfen werden. Theodor Fontanes Kritik der „Verlederung des Menschen“ durch Examina sollte zu denken geben: „Das Dummste wird verschlungen und um das Gescheiteste kümmert sich keine Katze und je mehr wir verassessort und verreserveleutnant werden, je toller wird es. Der letzte Rest von natürlichem Gefühl, was immer gleichbedeutend ist mit poetischem Gefühl, geht verloren. Als es noch keine Bildung gab, war alles interessant; die wachsende Verlederung des Menschen datiert von den Examinas und wir sind deshalb das langweiligste Volk, weil wir das Examenvolk sind.“24
Jean Wahl schreibt über Lévinas, dass er eine „zu einer großen Bildung unerlässliche Existenz neben oder sogar gegen die Universität“ führte.25 Lévinas macht also hinter den reibungslosen Abläufen von Bildungsinstitutionen gerade auch selbstdestruktive Prozesse aus. Mit ähnlichen Umkehrungen rechnet Rancière, er vermutet hinter dem Brauch, angehenden Lehrern das Lehren zu unterrichten, ein Komplott der Perpetuierung von Herrschaft: „Der Erklärende braucht den Unfähigen, nicht umgekehrt. Er ist es, der den Unfähigen als solchen schafft. Jemandem etwas erklären heißt, ihm zuerst zu beweisen, dass er nicht von sich aus verstehen kann. Bevor die Erklärung ein Akt des Pädagogen ist, ist sie der Mythos der Pädagogik, das Gleichnis einer Welt, die in Wissende und Unwissende geteilt ist, in reife Geister und unreife Geister, fähige und unfähige, intelligente und dumme. Die dem Erklärenden eigene Kunstfertigkeit besteht in dieser doppelt gründenden Geste. Einerseits
Fontane, Th. (Brief an Friedländer vom 22.3.1896), in: Christoffel, K. (Hg.), „Eigen war mein Weg und Ziel.“ Das Fontane-Brevier, Darmstadt (6. Aufl.) 2011, S. 138. 25 Wahl, J., zit. n.: Miething, F., Nachwort zu Lévinas, E., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München Wien 1991, S. 216f. 24
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dekretiert er diesen absoluten Anfang: Von diesem Moment an wird erst der Lernakt beginnen. Andererseits wirft er über alle zu lernenden Dinge diesen Schleier der Unwissenheit, den er sich selbst aufgelegt hat zu lüften.“26
PS 9: Herrschafts- und Zeitanalysen können also die vorfindliche Kritik vorantreiben, weitere Bruchlinien entdecken und argumentative Freiräume aufbauen helfen: „Man kann sagen: Die Aufklärung hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt, aber als Fiktion – eine Fiktion, die weder mit der Wirklichkeit des Lebens noch mit unseren wahren Interessen, sofern wir solche haben, etwas zu tun hat. … Die Aufklärung wird heute von der Technokratie verwaltet, dem Prinzip wissenschaftlich-technischer Repression.“27
Gerd Bergfleth kennzeichnet die technokratische Herrschaftsvernunft, die die Vernunftherrschaft ersetzt und umformatiert, sogar als „terroristische Grundmacht unserer Zeit“28. Er ruft auf, die Abgründigkeit des Systems klar zu sehen und sich ebenso die begrenzte Reichweite des pädagogischen Bemühens einzugestehen. Žižeks oder Groucho Marx’ Warnung vor den vielfältigen Formen des Fetischismus lautet: „Er sieht aus wie ein Idiot, verhält sich wie einer. Täuschen Sie sich nicht, er ist auch einer.“ Der fetischistische Glauben an die Eigendynamik des Systems, die Eigenlogik der Dinge, auf die man setzt, ist schwer zu unterminieren. Der fetischistische Glauben, dass es doch irgendeinen Sinn hat, alles hinzunehmen, ist schwer zu unterlaufen. Eine Veränderung beginnt in jedem Fall damit, des Kaisers neue Kleider offen als Nullmedium (Kochen mit weniger als Wasser) zu bezeichnen. „Die Perfektionierung der Ausbildung besteht somit zuallererst in der Perfektionierung der Zügel, oder vielmehr in der Perfektionierung der Vorstellung von der Nützlichkeit der Zügel. Die permanente pädagogische Revolution wird zum normalen System, in welchem die erklärende Institution sich rationalisiert, sich rechtfertigt und somit die Ewigkeit des Prinzips und zugleich der Institutionen des Alten sicherstellt.“29
Rancière, J., Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien (2. Aufl.) 2009, S. 16–17. 27 Bergfleth, G., Zehn Thesen zur Vernunftkritik, in: Bergfleth, G., et al., Zur Kritik der palavernden Aufklärung, München 1984, S. 8. 28 Ebd., S. 9. 29 Rancière, J., Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien (2. Aufl.) 2009, S. 142. 26
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
Im Namen Joseph Jacotots tritt Rancière für Gleichheit in der Bildung ein, eine Gleichheit, die nicht durch Bildung in Zukunft erreicht wird, sondern jetzt als Axiom festgehalten wird und aufgrund der nun schon jedem Erkenntnisse ohne Lehrmeister zugetraut werden. Der Wahlspruch Joseph Jacotots, der auch auf seinem Grab steht, lautet: „Ich glaube, dass Gott die menschliche Seele fähig gemacht hat, sich selbst und ohne Lehrmeister zu bilden.“30 – Der Satz wurde als so anstößig empfunden, dass er 1840 eliminiert wurde. Wie es nichts Besseres in Sachen Theologie gibt, als an der „Verflüssigung“ des Faches zu arbeiten, so wäre es auch nach Jacotot ein „Krönungsakt“ der Pädagogik, die Auflösung der Disziplin, die Abschaffung des Lehrers zu erreichen, die Implizierung von Bildung voranzutreiben. Dabei wird nicht einer Kompetenzorientierung das Wort geredet, die letztlich die wichtige Funktion des Lehrers, das Zeigen, das Hinweisen darauf, wie etwas geht, übersieht. 31 PS 10: Um eine weitere These über die Schule abzuleiten, ist es nötig, ein Zitat von Agamben vorwegzuschicken; der italienische Philosoph spricht von einer allgemeinen Vorherrschaft der Bestimmungen und Kautelen (Legalität) gegenüber der menschenrechtlich verbrieften Legitimität. „Der permanente Krisen- und Ausnahmezustand, der von den Regierungen der Welt allerorten ausgerufen wird, ist nichts anderes als die säkularisierte Parodie der beständigen Vertagung des Weltgerichts in der Geschichte der Kirche. Mit dem Schwinden der messianischen Gewissheit, dass das Gesetz erfüllt und die Zeit vollendet ist, geht eine beispiellose Hypertrophie des Rechts einher, die in dem Verlangen, alles gesetzlich zu regeln, durch ein Übermaß an Legalität den Verlust jeder Legitimität verrät. Meine Worte wohl wägend sage ich hier und jetzt: Heute gibt es auf Erden keine legitime Gewalt, selbst die Mächtigen dieser Welt sind sich ihrer Illegitimität bewusst. Die totale Verrechtlichung und Ökonomisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verwechslung dessen, was wir glauben, hoffen und lieben können, mit dem, was wir gezwungen sind, zu tun oder nicht zu tun, zu sagen oder nicht zu sagen, sind Ausdruck einer Krise nicht nur des Rechts und des Staats, sondern auch und gerade der Kirche.“32
Ebd., S. 161. Türcke, Ch., Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München 2016, S. 139: „Wer keinen Unterricht mehr erteilt, sondern ihn nur fördert und beaufsichtigt, gibt die primäre Lehrtätigkeit auf.“ Türcke spricht ironisch vom „didaktischen Wundertier“, „dem demontierten Lehrer“, der die Quadratur des Kreises zu bewältigen hat, die Klasse und den Einzelnen gleichermaßen optimal zu fördern. 32 Agamben, G., Kirche und Reich, Berlin 2012, S. 28f. 30 31
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Die Illegitimität der schulischen Regime, schulischer Herrschaft wäre nach Agamben gerade an der Zunahme der Regelungen, Juridifizierung, dem fröhlichen Kreisen der Legalität, abzulesen. – Jede Konferenz müsste in dem Maße, wie sie weitere Regelungen einführt, bestehende Regelungen aufheben. Da das nicht Praxis ist, führt sich der Regularismus ad absurdum. Die Kritik Agambens kommt von weit her. Sie entwirft große Zusammenhänge, den Unterschied von Legalität und Legitimität, vor allem sieht sie den Systemzwang in einem geschichtlichen Licht. Sie fühlt sich aber ganz dem benjaminschen Anspruch und Ziel verpflichtet, Gegenwart auf dem geschichtlichen Hintergrund begreifbar oder verstehbar zu machen: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es eigentlich gewesen ist. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick der Gefahr aufblitzt.“33 Mit Agamben wendet sich eine pädagogische Theologie oder theologische Pädagogik gegen die Alternativlosigkeit. Systemkritik erreicht den Rang einer theologischen Aufgabe. Zum Verständnis der Funktion und Rolle des Beamten kann man nach Agamben nicht elementar genug beginnen, man hat bei der Angelologie anzufangen, denn die Engel sind die „Beamten des Himmels“. Und jede Ordnung beruht auf einer Theorie/Theologie der Herrschaft und Herrlichkeit. Es kommt nach Agamben darauf an, die Ordnungsfunktion und ordnungspolitische Dimension des Lehrers nicht zu übersehen. Agamben sieht den Souverän, dem sich die Ordnung rechtfertigen muss, als wandlungsfähig/wankelmütig, so dass sich heutige Rechtspraxen gegebenenfalls mit späteren Unrechtsvorwürfen konfrontiert sehen müssen.34 Es gilt also einmal mehr, die Vorläufigkeit rechtlicher Regelungen herauszustellen, und die politische Theologie rechnet zumindest mit einer eschatologischen Überwindung des Gesetzes, das mit der Wiederkunft Christi nur noch in der Hölle gelten mag, also mit einer Relativierung, die nicht im Horizont bürokratischer Vernunft vorkommt. PS 11: Der belgische Situationist Raoul Vaneigem arbeitete einige Zeit als Lehrer; gerade als Pädagoge sieht er sich gefordert, Freiheit nicht zu vertagen, sondern wahrzunehmen: Er schreibt polemisch: „Was mich davon abgehalten hat, das kasernen- oder gefängnisgleiche Gebäude in Brand zu stecken, zu verwüsten, dem Erdboden gleichzumachen, war, dass sich im Schatten der gelehrten Ignoranz und schulmeisterlichen Unterdrückung ein Garten entwickelte, in dem das, was die Freiheit wachsen ließ, keines Tutors mehr bedurfte.“ „An Trägheit stirbt man, Benjamin, W., Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. (141–154) 144. Auch bei Panofsky geht es darum, die Dinge durch einen Blitz erleuchtet zu sehen. Panofsky in: Foster, H., Design und Verbrechen. Und andere Schmähreden, Berlin 2012, S. 99. 34 Agamben, G., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich Berlin (2. Aufl.) 2006, S. 94. 33
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man lebt nur, indem man sich jeden Tag neu erschafft.“ „Aufgeschobene Freiheit ist genauso furchtbar wie das Beil der Guillotine. Macht euch klar, dass die Freiheit in dem Moment, wo sie aus strategischen Gründen auf den nächsten Tag verschoben wird, die Reihen jener verlässt, die für sie kämpfen.“ 35
Es erscheint Vaneigem und Žižek gleichermaßen unmöglich, Überzeugung, Intelligenz und Aufrichtigkeit auf dem Hintergrund der liberalen Ideologie zusammenzubringen: „Wenn man die hegemoniale liberale Ideologie (vorgeblich) ernst nimmt, kann man nicht intelligent und aufrichtig sein: Entweder man ist dumm oder ein korrupter Zyniker. Um eine etwas geschmacklose Anspielung auf Agambens homo sacer zu riskieren: Man könnte sagen, dass die vorherrschende liberale Form der Subjektivität heute der homo sucker (…) [sucker als Trottel] ist. Er versucht, andere auszubeuten und zu manipulieren, doch letztlich erweist er sich damit selbst als der eigentliche Idiot. Während wir meinen, wir würden uns über die herrschende Ideologie lustig machen, stärken wir damit in Wirklichkeit ihre Macht über uns.“36
Die Frage steht im Raum, wie strukturalistische Herrschaftskritik in der Schule umsetzbar und postmoderne Ansätze auf konkrete Schulsitutationen anwendbar sind. Eine erste Strategie besteht darin, mit Analysen die Möglichkeiten der Distanznahme und der Neuperspektivierung zu eröffnen. Mit der Einführung von Nuancen, Differenzierungen steigen die Möglichkeiten des Sich-Verhaltens, das Aufkommen von Lücken, die die Schließung des Systems verhindern. Maschinismus muss man nicht erst mit der Erfindung der technischen Maschine entstanden sehen. „Die technologische Maschine ist nur ein Fall von Maschinismus.“37 Er ist vielmehr eine soziale Ordnung, die das erste Programm oder die Funktionspläne ins Werk setzt. Macht kommt, nach Hannah Arendt, nicht aus Gewehrläufen. Die Gewaltausübung, mit der das „moderne Leistungssubjekt“ (Han) beherrscht wird, besteht in einer totalen Einbindung und Feststellung. Wie Han klarmacht, erreicht Verrechtlichung, eine Verortung oder Raumbildung, einen Machtzuwachs. Han geht von einem Maßloswerden von Macht aus; eine Ausweitung der Homo-sacer-Biopolitik kann als ein Merkmal moderner Gesellschaften gelten:
Vaneigem, R., Zwischen der Trauer und der Lust am Leben. Die Situationisten und die Veränderung der Haltungen, Hamburg 2011, S. 169, 174. 36 Žižek, S., Die Puppe und der Zwerg. Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a. M. 2003, S. 161. 37 Lazzarato, M., Nachwort, in: Raunig, G., Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie von Maschinen als sozialer Bewegung, Wien 2008, S. 113. 35
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3. Rechter Vorhof
„Nackter als das Leben des homo sacer ist das Leben heute. … Wenn die spätmoderne Leistungsgesellschaft uns alle aufs nackte Leben reduziert, sind nicht nur die Menschen am Rande der Gesellschaft im Ausnahmezustand, also nicht nur die Ausgeschlossenen, sondern wir alle ausnahmslos homines sacri.“38
In „Topologie der Gewalt“ (Berlin 2011) präzisiert Han seine Adaptation des homo-sacer-Konzepts: Wir sind nicht mehr bedroht von einem Souverän, der einen Ausnahmezustand verhängen kann. „Die Positivierung der Gesellschaft totalisiert heute den Normalzustand, indem sie ihr jede Negativität und Transzendenz nimmt.“ „Die Bedrohung kommt nicht von außen, sondern von innen. In der Leistungsgesellschaft ist jeder Souverän und freier Unternehmer, er untersteht seinem eigenen Leistungsdiktat und ist der eigenen Selbstausbeutung ausgeliefert. Der Souverän der Leistungsgesellschaft ist gleichzeitig der homo sacer seiner selbst.“39 Die homines sacri der Leistungs-/Dopinggesellschaft sind nackt, bar jeder Transzendenz, sie ähneln Zombis, Untoten; das bloße Leben erscheint als letzter Wert einer Gesundheitsreligion: „Sie sind zu lebendig, um sterben zu können, und zu tot, um leben zu können.“40 PS 12: Ein weiterer Rechtfertigungsversuch der Kritik betrifft die Behauptung der Widerständigkeit der Innenperspektive gegenüber übermächtigen Systemperspektiven: „Was in der Gesellschaft als Gewalt und als Problematik auftritt, ist die Kluft zwischen der Art unserer Behandlung und der Realität dessen, was wir sind, zwischen der Art, wie über uns gesprochen wird, und dem, was wir selbst erleben.“41
Mit Lagasnerie ist darauf zu pochen, die Erinnerungen an die Ausbildungssituation nicht zu vergessen. Das frühe Ohnmachtsempfinden und das Ausgesetztsein kann nicht als sinnvolles Bildungselement ausgewiesen werden. Man muss vielmehr fragen, ob die Lehrerausbildung kritikfähig macht oder ob sie zu Konformität und Systemstabilisierung anleitet und sich der Gewalt der Transparenz, der panoptischen Kontrolle der Netze und der Vermassung unterwirft: Adornos Diagnose der „Verfilzung“ von Konformität und Wissenschaft gerät unter 7.1 nochmals in den Fokus der Kritik.
Han, B.-Ch., Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010, S. 36f. Hans Aussagen zur Bio-Politik sind sicher über den Vorwurf erhaben, simple historische Vergleiche ziehen zu wollen; zugleich wird aber die Gefahr einer Viktimisierung überdeutlich, die nicht zuletzt das eigene Nichthandeln exkulpiert. 39 Ders., Topologie der Gewalt, Berlin 2011, S. 165, 166. 40 Ebd., S. 170. 41 Lagasnerie, G. de, Denken in einer schlechten Welt, Berlin 2018, S. 59. 38
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
PS 13: Aleida und Jan Assmann haben in den letzten Jahren das Konzept des kulturellen Gedächtnisses in den Kulturwissenschaften geprägt. Demnach bilden Institutionen Erinnerungskulturen aus. Im Gegensatz zum menschlichen Gedächtnis setzen Kulturen aktive „Erinnerungsarbeit“ voraus. Ein Identitätskonzept von Schule oder universitärer Pädagogik, in dem Schattenseiten des Referendariats ausgespart bleiben oder systematisch beschönigt werden, wäre ein Trugbild. Die institutionalisierte Erinnerungs- und Gedächtniskultur erschiene als unglaubwürdige Mythenbildung, wenn Erfahrungen von extremer Beanspruchung, Unterordnung oder Selbstaufgabe nicht zu Wort kommen und Erinnerungen an die Initiation oder Rekrutierung oder Ausbildung ihrer Lehrerschaft übergangen werden.42 Schon Robert Walser erkannte: „Was nicht anwesend ist, ist es manchmal dadurch gerade sehr.“43 Man darf mit der Wiederkehr des Verdrängten und seinem Persistieren rechnen. Der Hirnforscher Achim Peters stellt heraus, wie sehr Stress Organismen schädigt, auch wenn er ursprünglich der Bewältigung von Unsicherheit dient: Peters beschreibt, dass der Mensch in Belastungskontexten angesichts nicht erreichter Ziele zunehmend Zustände akzeptiert, die er zuvor nicht für akzeptabel gehalten hätte. Habituation führt schließlich zu einem desillusionierten Rückzug ins Private, zu einer enttäuschten Reduktion des Engagements am Arbeitsplatz.44 An derartig defensiven Reaktionsweisen können auch Organisationseliten kein Interesse haben. Es scheint also unausweichlich zu sein, sich der Unterseite der Institution und ihrer malignen Wirkungsweisen zu stellen. Als ungerecht empfundene Beurteilungserfahrungen aus dem Referendariat der jeweiligen Lehrkraft wirken lange nach; das Bewerten von Erwachsenen scheint umso heikler, als Kollegen zum Teil unwesentlich jünger als ihre Ausbilder sind. Auch wenn das kollektive Gedächtnis zum Teil alltagsfern ausgelegt sein kann, wird dies nur zu einer gebrochenen Identifikation mit dem Beruf/der Institution führen; soziale Rollenvorgaben und das Selbstkonzept von Lehrern werden immer weiter auseinanderfallen. Referendariatserfahrungen können auch mit dem Absolvieren der Zweiten Staatsprüfung nicht als arbiträre, unter der Relevanzschwelle anzusiedelnde oder zu vernachlässigende Momente ad acta gelegt werden. Vor Vorzensuren oder dem Eklektizismus offizieller Narrative darf gewarnt werden, sie werden mit Hohngelächter der Betroffenen beantwortet werden. Wie in Schulen selten das Erbe alter Chefs annihiliert werden kann, so auch nicht die Erfahrungsreste von Demütigung oder Herabsetzung während der Referendariatszeit.
Vgl. Nünning, A., Kulturelles Gedächtnis, in: ders., Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, in: Stuttgart Weimar (4. Aufl.) 2008, S. 239f. 43 Walser, R., zit. n.: Böhmer, O. A., Wie schön und Schrecklich, Rezension zu Sven Stillichs „Was von uns übrig bleibt“, in: FR vom 8.2.2019, S. 43. 44 Peters, A., „Wer unsere Zielerwartungen angreift, kann uns mühelos lenken“, in: FR-Interview mit P. Rolfs vom 15.2.2019, S. 28. 42
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3. Rechter Vorhof
Identifiziert man „große Bildfelder“ kollektiver Erinnerungen45, so scheint das Referendariat nicht den Assoziationsraum des Meister-Schüler-Verhältnisses verlassen zu können. Und damit muss es sich den Vergleich mit (östlichen oder westlichen) religiösen Lehrtraditionen und dem in stilisierten Parabeln geronnenen philosophischen Erfahrungsschatz gefallen lassen, in dem „Ausbilder“ radikale Wandlungsprozesse für möglich halten oder mit subversivem Wissen aufwarten bzw. eine radikale Selbstdestruktion der eigenen Position betreiben (vgl. den bereits in Kapitel 2 angesprochenen Rollenwechsel des Konfuzius seinen Schülern gegenüber). Schließlich darf man angesichts des Settings der Begleitung/Beratung oder gar des Anspruchs der Persönlichkeitsbildung (des Rechts auf Selbstentwicklung/Selbsterziehung) vor allem von den Ausbildern ein hohes Maß an Zurückhaltung und Vorsicht erwarten. Die Ausbildung der Referendare spiegelt allerdings die moderne funktionale Differenzierung, die das Schulsystem insgesamt prägt. Die Verkürzung der Ausbildungszeit sowie die hohe Anzahl von Lehrproben erhöhen den Termindruck und testen eher das Funktionieren unter Belastung, als zu einer Entkrampfung der Ausbildungssituation beizutragen. Und so leiten nach Milan Kundera moderne Bürokratie und Beamtentum vor allem zu einer Selbst-Instrumentalisierung46 an. Bereits in der Romantik liegen die menschlichen Belange und Grundhaltungen mit dem beruflichen Engagement in der Bürokratie offen überkreuz, wie an der Figur des Freiherrn von Risach, des Protagonisten aus A. Stifters „Nachsommer“, ablesbar ist: „Was ihn vom Beamtendasein abgehalten hat, war seine Unfähigkeit, zu gehorchen und für Ziele zu arbeiten, die sich jenseits seines Horizonts befanden. Und auch ‚die Ehrfurcht vor den Dingen, wie sie an sich sind‘, eine so tiefe Ehrfurcht, dass er in Verhandlungen nicht das vertrat, was seine Vorgesetzen verlangten, sondern das, ‚was die Dinge für sich forderten‘.“47 Es lässt sich also sagen, dass den Referendaren vor allem die engen Passformen des Schulsystems zu schaffen machen, in die sie sich einfügen müssen. In seiner Kritik des bürokratischen Apparats kritisiert Kurt Tucholsky, dass das ursprüngliche Hilfsmittel zum Selbstzweck geworden ist und mittels Verfügungen eine automatenhaft agierende Organisation entsteht, die die „feinen Wechselfälle des Lebens“ verkennt und verfehlt. Jeder beruft sich auf seine Vorschriften. Der Apparat flößt allerdings allen großen Respekt ein und fordert diesen auch rigide ein; die Frage „Wohin reitest du?“ wird abgewiegelt und delegiert: „Frag’s Pferd!“.48 Vgl. Pethes, N., Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, Hamburg 2008, S. 117. Kundera, M., Der Vorhang, München Wien 2005, S. 176: „Von einem Beamten wird also nicht verlangt, dass er die Problematik versteht, mit der sich seine Verwaltungsabteilung versteht, sondern dass er eifrig verschiedene Verrichtungen ausführt, ohne zu verstehen, und sogar ohne zu verstehen zu versuchen, was in den Büros nebenan geschieht.“ 47 Ebd., S. 176f. 48 Tucholsky, K. (Pseudonym Ignaz Wrobel), Der Apparat, in: Berliner Tageblatt vom 21.10.1918, Nr. 538. 45 46
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
Kundera beschreibt den Fehler des bürokratischen Apparats, das Moment der unvollständigen Systemschließung, als glückliche Möglichkeit einer Ausflucht und Öffnung, als Verheißung eines (letzten) modernen Abenteuers: Es darf als einmaliges Freiheitsmoment gelten, durch ein allgemeines Raster gefallen zu sein und übersehen sowie nicht erfasst worden zu sein. „Aufgrund der ungeheuren Größe des bürokratischen Apparats werden Fehler statistisch unvermeidlich; der Gebrauch von Computern macht sie noch weniger auffindbar und noch viel irreparabler. In unserem Leben, in dem alles geplant, festgelegt ist, ist das einzig mögliche Unerwartete ein Fehler in der Verwaltungsmaschinerie mit seinen unvorhersehbaren Konsequenzen. Der bürokratische Fehler wird die einzige Poesie (schwarze Poesie) unserer Zeit.“49
PS 14: Bei der Überlagerung verschiedener (etwa feministischer und antirassistischer) Anliegen und Optionen spricht man seit einigen Jahren von Intersektionalität; im Falle der Überschneidung von literarischer, theologischer und herrschaftskritischer Perspektive liegt ebenfalls eine unerwartet wirkmächtige intersektionale Konstellation vor: Die theologische Dimensionierung kann der Kritik eine besondere Schärfe verleihen, wie etwa an Büchners und Weidigs „Hessischem Landboten“ bereits zu beobachten war. Elisabeth Hartlieb und Martina Kumlehn heben in einem Kompendium zur Alltagsreligion zunächst sehr moderat die Grenzen der Notengerechtigkeit hervor:50 Sie beschreiben Lernkontrolle als innerweltliche Gerichtserfahrung und öffentliche Beurteilung, als Form der Werkgerechtigkeit; das theologische Insistieren auf Güte (sola gratia sine operibus) muss als Fremdkörper der Systemreproduktion (iustitia distributiva) wirken; jedoch gehören Güte und Nachsicht zur erzieherischen Grundhaltung. Die herzpädagogische Haltung der Güte und temperantia, die nicht operationalisierbar ist, macht den menschlichen Charakter einer Schule aus. Nur eine unmögliche neutralitätsversessene Schizo-Perspektive könnte menschliche Akzeptanz und Vertrauensvorschuss von objektiven Leistungen vollends formal und fein säuberlich zu trennen versuchen. Pädagogik und Ausbildung (gerade im weiten Sinne von Meister Eckharts Prozess von Entbilden/Neuorientierung, Einbilden/imitatio, Überbilden/formatio) scheinen nur zu gelingen, wenn man von einer Präponderanz des Beziehungsaspekts, der relationalen Dimension, dem vorlaufenden gütigen Blick als Voraussetzung jeder Begutachtung/mitfühlenden Beobachtung ausgeht; menschliche/pädagogische Beziehung entsteht also erst, wenn der Vertrauensvorschuss nicht aufgebraucht und im Vorhinein klar begrenzt werden kann.
Kundera, M., a. a. O., S. 183. Hartlieb, E., Kumlehn, M., Lernkontrolle, Persönlichkeitsentwicklung, in: Korsch, D., Charbonnier, L. (Hg.), Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Göttingen 2005, S. 185–195.
49 50
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3. Rechter Vorhof
PS 15: Das Schweigen der Referendare über ihre Situation, das als Bewahrheitung des eingangs zitierten Sprichworts „cum tacent, clamant“ gewertet wurde, wurde bislang als Protest gedeutet, den Vertrauensvorschuss in die vorfindlichen organisatorischen Strukturen, das Ausfließen in den großen Anderen/die symbolische Ordnung, zu unterminieren. Horkheimers Kritik des Rackets rückt die Auswirkungen von Macht auf die Sprache in den Vordergrund: „Die Grundform jeder Herrschaft ist das Racket“; Herrschaft basiert für den Frankfurter Philosophen also letztlich immer auf (racketartigen) Banden-/Clan-Strukturen und evoziert sprachliche Verhärtungen. Wenn die Übernahme einer Profession vor allem das Erlernen eines neuen Sprachspiels bedeutet, wird nach Horkheimer von Neulingen gefordert, die dominante festgefügte Sprache zu übernehmen. In einer Geste demütiger Selbstobjektivierung und Anpassung übernehmen Referendare die Abkürzung „LiV“ zur Selbstbezeichnung – im behördlichen Jargon heißen Referendare „Lehrer im Vorbereitungsdienst“. Die Lehrprobenentwürfe sind mit standardisierten Ausdrücken aus dem Qualitätsmanagement, mit Floskeln und Plastikwörtern gespickt, die routinierte Kompetenz ausstrahlen sollen. In der Verwaltungs- und Behördensprache scheinen die Anliegen von Referendaren schwer artikulierbar. Und das Schweigen der Referendare ist als Anpassung und Übernahme der im Racket vorherrschenden Spracharmut zu interpretieren. Wenn Machtstrukturen nach „oben hin relativ amorph“ (die Rekrutierung von Chefs großer Verwaltungen oder auch Clans ist nicht geregelt) sein können, so sind sie nach unten aber hierarchisch-klar geregelt und „verhärtet“:51 Die Sprache des Rackets reduziert sich nach Horkheimer auf die Funktion, Signale der Gefolgschaft oder der Abgrenzung zu senden. Sprache verflacht somit zusehends und lässt die Formulierung von Zweifel und Kritik als ungehörig oder unmöglich erscheinen. Immer zielt Racket-Sprache auf Besitzstandswahrung, die Stabilisierung einer Grenze zwischen Innen und Außen sowie die Beschwörung von Zugehörigkeit: „Das Racket kennt kein Erbarmen mit dem Leben außer ihm, einzig das Gesetz der Selbsterhaltung. Unterm Monopol erstarrt die Sprache zu einem Zeichensystem, stummer und ausdrucksloser als Morsezeichen und Klopfsysteme von Gefangenen. Den Sinn des Ausdrucks büßt sie völlig ein. Sie ist ein Mechanismus in der Produktion wie Hebel oder Drähte, eine Rechenmaschine der Verwaltung, ein Inbegriff von Suggestionspraktiken.
51
Horkheimer, M., Die Rackets und der Geist, in: Lointain 11/2018, S. 16–20: „Verhärtung heißt Monopolisierung der Vorteile. … Die allgemeinste Kategorie der von den Gruppen geerbten Funktionen ist der Schutz.“ Änderungen werden abgewehrt, Rackets teilen sich intern in Untergruppen auf, die wiederum Racket-Strukturen ausbilden; Pfründe werden verteidigt; Leistungen zur Systemerhaltung müssen vergolten werden. Verhärtung heißt nun Formgebung, Erziehung der Individuen: Auch wenn sich ein Racket schließlich gegen bestehende sperrige Gesetze wenden und sich totalitär-monopolistisch gebärden kann, so ruht das Gesetz auf einer umfassenderen racketartigen Herrschaft.
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3.1 Gymnasialer Kommiss und Lehrer-Grundausbildung
Der geistige Verkehr der Individuen reduziert sich auf das Zeigen und Erspähen von Erkennungsmarken. Die Rede weist den Sprecher als zuverlässig für die Rackets aus, oder verrät ihn wie den Verschworenen, der die Spitze des Dolches sehen lässt. Die erstarrte Sprache weist anklagend gen Himmel wie nackte Baumstümpfe auf verlassenen Schlachtfeldern. Sie denunziert die Welt der Rackets, der sie dienen muss. … Der tote Wald der Worte dieses Zeitalters wird noch gegen es zeigen, wenn es vergangen ist. Jedes Racket ist verschworen gegen den Geist und alle sind es untereinander. Dem Geist ist die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem immanent, dem Racket ihr unversöhnlicher Gegensatz und seine Verhüllung in den Ideen von Einheit und Gemeinschaft. Nicht die Herrschaft an sich ist böse, sondern die sich abschließende Verhärtung in der Herrschaft, die das Racket definiert.“52
Das Racket pflegt also eine funktionale, instrumentelle Sprache, die Unempfindlichkeiten verbreitet und von Stringenz und Unnachgiebigkeit geprägt ist. So flößt die Betonung rechtlicher Aspekte zu Beginn des Referendariats Ehrfurcht ein; während später der juristische Aspekt im Schulalltag zurücktritt und menschliche Verbindlichkeit an Bedeutung gewinnt, wird der anfangs noch als befremdlich empfundene Anpassungsdruck normalisiert; Kriterien für guten Unterricht sind unverhandelbar und zu internalisieren; das Hineinwachsen in die neue Berufsrolle und die Ausbildung des Selbstverständnisses als Lehrer setzt die Übernahme des vorgegebenen Lehrerprofils voraus: „Es [das Racket] hat überall den Gegensatz zwischen innen und außen aufgerichtet, … im Kopf des Vereinzelten noch herrschten die Rackets mittels der Begriffe und Urteilsschemata, der Denkweise und Inhalte, die ihrer Welt entstammen. – Die Grenze zwischen drinnen und draußen zu durchbrechen, ist das Ziel der Politik, mit dessen Erfüllung die Welt sich verwandeln wird.“53
Demokratisierung von Herrschaft bedeutete demnach die Rückgewinnung sprachlicher Ausdrucksfunktionen, das Ablegen von Exklusionsängsten sowie das Aufbrechen etablierter Gruppenzugehörigkeiten. Dabei warnt Horkheimer vor einer Kritik, die letztlich die vorfindliche Herrschaft stützt, vor zu harmlosem Widerstand, der – zu Zwecken des Systemerhalts verwendbar – das Machtdispositiv stabilisiert: „Es gilt, das Gedächtnis der Dinge und der Seele aus der Totenstarre zu befreien.“54
Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. 54 Petzer, T., Permafrost und Poetik, Schalamows Kolyma, in: Naguschewski, D., Schwartz, M. (Hg.), Schalamow. Lektüren, Berlin 2018 (S. 137–148) 148. 52 53
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3. Rechter Vorhof
3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität? – Gedanken zur praktischen Ethik der Schule „Die großen Probleme liegen auf der Gasse.“ – Friedrich Nietzsche55 „Uns fehlt es am Widerstand gegenüber der Gegenwart.“ – Gilles Deleuze/Félix Guattari56
Wir haben einen Spick- und Betrugsskandal!? Nein, wir haben keinen Skandal; zu einem Skandal gehören ja Öffentlichkeit, allgemeine Betroffenheitsrhetorik und ein Unrechtsempfinden, das wohl einigen (nicht allen!) in Bezug auf das Spicken bereits abhandengekommen ist. Spicken, unmarkiertes Kopieren von Inhalten aus dem Internet, Täuschungsversuche oder Ähnliches gelten als total normal, nicht einmal mehr als Kavaliersdelikte? „Jeder tut es.“ „Wer erwischt wird, hat eben gerade Pech gehabt.“ „Das schreckt auch keinen mehr ab.“ … „Auf ein Neues.“? These 1: Das Ausmaß von Täuschung und Betrug kann eine Dimension erreichen, die den Schulbetrieb und das Verständnis von Schule verändert. Wo sollte man schon das Spicken beklagen, wenn nicht im Fach Ethik? In Ethik wird der Widerspruch so augenfällig wie sonst kaum: In dem Fach geht es u. a. um die Frage nach dem guten Leben/der gerechten Gesellschaft, um Modelle guten Handelns. Tricksereien, sich eine gute Note zu erschleichen, widersprechen ganz grundsätzlich dem Fachinhalt57: Täuschungsversuche, Kontrollen und Entlarvungen sind des Faches Ethik unwürdig. Der Versuch, wenigstens dieses Fach von den üblichen Gaunereien freizuhalten, mit einer Konzeption der Klausur (mit einigen bekannten Wiederholungsfragen und einem neuen Text, der analysiert/diskutiert werden muss) das unwürdige Spicken überflüssig zu machen, wird nicht von allen geschätzt. Viele stereotype Sätze waren in den Klausuren bei den bekannten Wissensfragen zu lesen, zum Teil eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Sätzen, die Kernpunkte eines wichtigen Philosophen darstellen sollten und wohl aus dem Internet stammten … Das Phänomen des Fremdschämens stellt sich ein: Man will das Spicken eigentlich nicht sehen, guckt zunächst betreten weg, schreitet ein … und klagt anschließend über
Nietzsche, F., zit. n.: Camus, A., Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 1990, S. 104. Deleuze, G., Guattari, F., zit. n.: Culp, A., Dark Deleuze, Hamburg 2017, S. 10 (vgl. dies., Was ist Philosophie, S. 176). 57 Vgl. Pollmann, A., Unmoral. Ein philosophisches Handbuch. Von Ausbeutung bis Zwang, München 2010; Sofsky, W., Das Buch der Laster, München 2009. 55 56
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3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
die fehlende ethische Haltung in der Ethikklausur. Dabei habe ich einen elementaren GabeGegengabe-Tausch vorgeschlagen: Die Klausuren werden überaus fair gestellt, dafür erwarte ich im Gegenzug auch ein korrektes Verhalten … Aber ist Spicken überhaupt ethisch schlecht? Nicht alles, was verboten ist, muss auch schon moralisch/ethisch schlecht sein – vgl. die Diskussion um zivilen Ungehorsam, etwa gegen Castor-Transporte, oder die „Fridays for Future“-Demonstrationen zur Schulzeit. (Das Recht auf Widerstand wird vor allem von denen angeführt, die subversiv gegen das bestehende System kämpfen, gegen die Unterdrückung.) Solch ethisch oder ideologisch aufgeladene Argumente oder Motivationen sind im Fall der Täuschung bei Klausuren aber eher nicht zu vermuten. Nach Ferdinand Lassalle und Rosa Luxemburg ist es immer noch das Revolutionärste, die Dinge so zu schildern, wie sie sind. Wenn der Befund also weiterhin lautet: Spicken ist allgegenwärtig oder wird zunehmend als total normal/selbstverständlich empfunden, wird die Frage erneut brisant: Ist das Phänomen neu? Wieso kommt es dazu? Der Befund, mein Eindruck, stützt sich auf den Vergleich zweier Schulen: Ich war früher an einer Schule, an der vor allem auch „ältere“ Frauen/Mütter ihr Erzieherinnen-Examen nachgemacht haben. Diese wehrten bei einer Arbeit weitere Hilfen zum Teil vehement ab. Sie wollten es – frei nach M. Montessori – „selbst tun“, selbst entdecken …, sonst wäre es für sie keine eigene Leistung gewesen; wenn sie gespickt hätten, wären sie ein schlechtes Vorbild ihren eigenen Kindern gegenüber gewesen. Der Vergleich legt die Vermutung nahe, dass Spicken wohl auch eine „Entwicklungssache“ ist. Das entschuldigt natürlich nichts: Will ich wirklich mein Examen „erspicken“? Könnte ich dann wirklich auf mich stolz sein? Ist das Zeugnis das Papier wert, wenn ich es nicht ehrlich erarbeitet habe? Diese Zweifel werden ja weiterhin nagen und unverdiente Lorbeeren vergrößern eher die eigene Unsicherheit. In Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung sind die angedeuteten Fragen mit einer erwachsenen Haltung verbunden, der es nicht darauf ankommt, irgendwie durchzukommen. – Wollen wir im Ernst von einem Arzt behandelt, von einem BWLer beraten werden, der sein Examen ergaunert hat? Mark Twain meinte: Es ist schlimm, für etwas ausgezeichnet zu werden, was man nicht verdient hat. Es ist besser, keinen Preis zu bekommen und die Arbeit dennoch getan zu haben … (Man erinnere sich auch an das sokratische Motto: „Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun.“) These 2: Schule setzt also eine erwachsene Haltung voraus, ein Akzeptieren der Prüfungssituation, eine Bejahung der Tatsache, dass ich mich der Prüfung, der Klausur stellen muss.
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3. Rechter Vorhof
Prüfung bedeutet: „Ich will zeigen, was ich kann“, und nicht: „Ich führe die anderen so hinters Licht, dass ich eine gute Note bekomme.“ Warum wird dennoch gespickt? Aus Zeitdruck, Versagensangst, aus Überforderung, Überlastung, aus mangelndem Selbstbewusstsein, wegen des Kampfes um Punkte, … weil alles irgendwie spaßig ist und ein Räuber-Gendarm-Spiel mit dem Lehrer einem einen Kick verpasst und ohnehin alles nicht so schlimm ist… Das ständige Täuschen macht indes eher abhängig; man vertraut immer mehr externen, digitalen „Gedankenstützen“. Von Punkten/Klausuren hängt natürlich einiges ab; dennoch eine weitere psychologische Vermutung: Spicken als Weg zu passablen Zeugnissen setzt eine extreme Verunsicherung voraus. Wie sollte der, der seine Leistungsfähigkeit und Stärken kennt, es nötig haben, zu spicken? Wer in einem Fach wie Ethik, in dem es zunächst keinem „an den Kragen geht“, spickt oder täuscht, wird wohl so verunsichert sein, dass er dringend eine scheinbare/formale/trügerische Selbstbestätigung braucht, den Schein einer unverdienten Note oder die offizielle Beglaubigung einer nichterbrachten Leistung nötig hat („Egal wie, Erfolgsmeldungen müssen her …“). – Die Auffassung von Mark Twain setzt also ein Selbstbewusstsein voraus, das einigermaßen gefestigt ist und um den eigenen Wert weiß, das nicht mehr so abhängig vom Urteil von anderen, von der Anerkennung in der Gruppe/Klasse ist … Die Welt der Simulation war Twain noch gänzlich unbekannt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man sich mit fremden „Internet-Federn“ schmückt, dass das Design das Sein/Bewusstsein bestimmt, man ständig am Identitätsprofil arbeitet. Die Verführung, Hausaufgaben aus dem Internet abzuschreiben, ist groß. Es ist schwerer geworden, ungeschönt zu seiner Leistung zu stehen, ohne gleich noch Fremdes hinzuzudichten. – Damit soll kein Authentizitätsideal beschworen, vielmehr auf ein einfaches Gerechtigkeitsempfinden gepocht werden: Jeder Lehrer sucht nach Punkten, wenn er vor sich eine ehrliche Leistung vermutet. Aber man wird übellaunig, wenn man den Eindruck gewinnt, in der Arbeit wurde im größeren Stil getäuscht oder hirnlos ohne eigene Überlegung reproduziert, und dann härtere Maßstäbe an Klausuren/Hausaufgaben anlegen. – In Anlehnung an die philosophischen Vorbilder gilt also für die (Ethik-)Note: Eine ehrliche 02 ist besser als ergaunerte 14 Punkte. Bei den wenigen an dieser Schule von mir beaufsichtigten Klausuren waren in einem Maße seltsam abrupte Zuckungen zu beobachten, die Blätter zum Verschwinden bringen sollten, abwartende Blicke, die darauf aus waren, den Zettel herauszuziehen, wie ich es bisher nicht kannte … Aber das Spicken auf traditionelle Art erscheint mittlerweile geradezu banal. Die Betrugsmöglichkeiten per Handy/Smartphone/MP3-Player/Sender im Ohr/Computeruhr usw. werden größer. Und damit kommt die Frage auf: Rechnet die Schule mit zahlreichem Betrug/Spicken? Ist Schule auf die neuen technischen Möglichkeiten vorbereitet? Eher nicht! Schule ist da sehr re-aktiv. Es mag verschiedene Stufen des Spickens geben. – Und wie sähen Geschäfte aus, in 146
3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
denen die Inhaber allenthalben Diebstahl vermuteten? Überall Schlösser, Wachpersonal, Waren hinter Gittern, keine Ware wird mehr zum Anfassen oder Probieren ausgelegt. Der Kunde wird nur noch mit Vorsicht behandelt. These 3: Die jetzige Klausurorganisation und das Reglement der Prüfung gehen davon aus, dass Spicken/Betrug nicht allgegenwärtig oder „normal“ ist. Eine Schule, die auf notorisches Betrügen reagiert, sähe wohl so aus: Ein gesonderter Prüfungstrakt; bevor man zum Prüfungsraum zugelassen wird, muss man durch Schleusenräume gehen, ein Körperscanner überprüft, ob die Kandidaten tatsächlich keine unerlaubten Hilfsmittel mit sich führen; Wachpersonal und sogar medizinische Fachkräfte kontrollieren (vgl. das Screening-Szenario aus dem Film „GATTACA“, Blut-/Urinuntersuchungen gegen unerlaubtes Hirndoping etc.). Der Prüfungsraum wird durch Störsender gegen eingeschmuggelte Geräte/implantierte Minisender abgeschirmt … Prüfungen erfolgen unerbittlich nach einem starren Korsett, es gibt keine Ausnahmen. Man vermutet überall Täuschungsversuche. Die Aufsichtspersonen lassen sich nicht durch Fragen ablenken … es gibt keine Hilfen während der Arbeit. Das Verhältnis Prüfer – Geprüfte kühlt auf Minustemperaturen ab. Luhmann meinte: Wer vertraut, kann betrogen werden. Vertrauen gibt aber insgesamt evolutionäre Vorteile. Eine Welt des Misstrauens ist extrem kompliziert, langsam und unwirtlich. Wir wären ständig gezwungen, alles zu überprüfen/kontrollieren. Wir haben aber nicht die Zeit zu solchen Prozeduren und sind überdies auch nicht in der Lage dazu. Die Basis von Schule oder Gemeinschaft allgemein ist also Vertrauen oder auch Anstand/ Höflichkeit. Wenn die offenen Umgangsweisen und das Misstrauen ihre Plätze tauschen, wird es extrem ungemütlich. Wir schaffen tagtäglich durch unser Tun den Grundstein für das künftige soziale Vertrauens- oder Misstrauensklima; und eine Schule der totalen Überwachung kann nicht ernsthaft gewollt werden. Handys müssen aber schon jetzt vor Klausuren abgegeben werden. Es wird jedem unterstellt, dass er das Handy in der Tasche hat und Unfug damit treibt, sich nicht mehr unter Kontrolle hat, wenn er die Möglichkeit des Zugriffs auf das Internet oder Dateien hat … These 4: Eine Schule der totalen Kontrolle und des Misstrauens wäre tatsächlich eine neue, andere Schule, die wir zum Glück noch nicht haben. Ein absurdes Kontrollregime würde jede Bildungsatmosphäre zerstören. Vermehrte Täuschungsmanöver von Schülern haben negative Konsequenzen, die sich zunächst sehr leise vollziehen: Klausuren sollen eigentlich die Bereiche Reproduktion, Reorganisation 147
3. Rechter Vorhof
und Transfer umfassen. Wenn nun das Spicken überhandnimmt, werden die Klausuren wohl als Erstes schwieriger, dann unterbleiben leichtere Wiederholungsfragen, da man eh annimmt, dass eine große Zahl von Leuten abschreiben würde. Eine erste Veränderung infolge von Betrugsversuchen könnte also sein, dass Transferfragen zunehmen … Ethik reflektiert die Bedingungen des Zusammenlebens und das Problem der Trittbrettfahrer ist in Gerechtigkeitstheorien und Ethikmodellen wohlbekannt: „Wenn die Mehrzahl nicht spickt, dann kann ich mir als Einzelperson einen Vorteil verschaffen, wenn ich unerlaubte Mittel einsetze.“ Die Verführung zum Trittbrettfahren ist also groß. – Der Trittbrettfahrer ist zynisch. Er nutzt die „Dummheit“ der folgsamen Masse aus und will schlauer sein. – Spicken war schon immer eine Trittbrettfahrt. Sie setzt das Schweigen der anderen voraus, die die Schiebereien beobachten und hinnehmen, wie sich einige unerlaubte Vorteile verschaffen. – Ungerechtigkeiten heizen andererseits Gedanken an, zu betrügen und eine mögliche Aufdeckung oder Sanktion in Kauf zu nehmen. Kann man Trittbrettfahren unterbinden? Das Schwarzfahren würde unmöglich, wenn jeder es täte, … dann müsste das Beförderungssystem geändert werden. Lösungen? – Alternativen zur totalen Kontrolle … Sind Noten nicht mehr die Hauptsache von Schule, nimmt die Fixierung auf Klausuren ab, gäbe es weniger Anlass zur Täuschung. Klausuren einfach abzuschaffen, die Gelegenheiten zu Täuschung/Betrug zu vermindern, würde das Problem nur scheinbar lösen; es änderte ja nicht die Neigung zum Abschreiben. These 5: In einer positiven Lern-Atmosphäre oder einem Klima, in dem der Leistungsdruck erträglich oder bewältigbar erscheint, muss nicht geschummelt oder betrogen werden. Eine notenfreie Schule, die das Kontrollregime hinter sich lässt, setzt mündige, um den eigenen Lernerfolg besorgte Schüler voraus. Sind Vorstellungen einer anderen Schule für andere Schüler und andere Lehrer gänzlich wertlos oder eine utopische Überforderung? Es werden Schülern im Deutschunterricht oder auch in Ethik noch immer die Menschenbilder der Aufklärung und der Klassik zugemutet: Ideale von Mitmenschlichkeit, Wahrhaftigkeit und Mündigkeit, eine Ethik des „ich soll“, eine Haltung der Selbstverpflichtung gegenüber moralischen Werten oder Ansprüchen. Aufklärung und Klassik werden nicht nur als antiquierte Theorie behandelt, sondern als Anspruch. An alte Bildungsbegriffe und Wissenstraditionen anzuknüpfen, kann sehr revolutionär sein: Eine an den Idealen der Klassik und Aufklärung orientierte Schule wäre sicher ein „Haus des lebenslangen Lernens“, in dem es primär um Bildung und nicht um Noten geht. 148
3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
Lessing war bereit, an die Wiedergeburt zu glauben, weil er gesehen hat, wie groß das Projekt der Erziehung ist, wie schwierig es ist, sich und andere zu erziehen, und wie langsam das geht. – Geduld mit sich und anderen ist also sicher erforderlich – auf dem Weg zur notenfreien Schule, die nicht notenfixierte Schüler voraussetzt. Sicher gibt es die notenfreie Schule auch deshalb nicht, da das Schulsystem zu wenig wandlungsfähig ist und die Gesellschaft auf einfache Klassifikationen setzt. Notenfreie Schulen setzen aber auch selbstbestimmte Schüler voraus. Gemäß der hegelschen Herr-Knecht-Dialektik reicht es zur Befreiung nicht einfach aus, den Herrn abzuschaffen, sondern auch ein knechtisches Bewusstsein zu überwinden. Es gilt also, den Lehreraufpasser in sich, das Warten auf Direktiven, das Vertrauen auf eine Schulordnung, die alles leistungsgerecht ausgleicht, zu problematisieren. Eine notenfreie Schule setzt Schüler voraus, die selbstorganisiert lernen und nicht mehr nur unter Bewachung und im Hinblick auf eine nächste Prüfung Interesse an Themen entwickeln. Über innere Unabhängigkeit gegenüber Vorgaben, bestehende Freiräume und den Weg zu selbstbestimmtem Lernen lohnt es sich vielleicht jetzt schon, im Ethikunterricht nachzudenken. Von Baudrillard stammt der Gedanke: Schlimmer als die Entfremdung ist die EntEntfremdung, also das Stadium, in dem man Entfremdung nicht mehr als Last und Unterdrückung empfindet. Die äußerste Not: das Nicht-Merken der Not; wenn das Fehlen fehlt, wäre die Katastrophe perfekt (Anders, Arendt). Es wäre also schlimm, wenn der Klassiker/ Aufklärer belächelt und der Betrug als selbstverständlich angesehen würde und es nur ums Durchkommen ginge; … wenn wir Disziplinierungen nicht mehr als störend empfänden …, wenn im Ethikunterricht kein Widerspruch mehr auftauchte, wäre das katastrophal. – Es gäbe nur noch ein Menschenbild der Technokratie und Planung. Die Rede von Werten/Würde hätte keinen Sinn mehr, sondern nur noch ornamentale Funktion. – Wir wären so kaputt, dass wir nicht mehr merkten, wie kaputt wir sind … (vgl. Žižeks Vermutung, die sich auf die gegenwärtige Situation richtet: Wir fühlen uns deshalb frei, weil wir keine Begriffe haben, unsere Unfreiheit zu beschreiben.) Im einem Ethikkurs meinte jemand: „Glück bedeutet Bewusstsein, bewusstes Erleben.“ … Viele Philosophen würden dem programmatischen Satz zustimmen und Camus preist sogar Sisyphus, den die Götter zu einer stumpfsinnigen Arbeit verurteilten, als glücklichen Menschen, weil er sich bewusst zu seiner Mühsal verhalten und eine innere Freiheit gewinnen kann: „Happiness is none of my pursuits“ (Bob Dylan); geistige Anstrengung ist das Größte. „Lasst uns nachdenken!“, lautet der Wahlspruch einer philosophischen Gesellschaft: Vertrauen wir auf die Reflexionsfähigkeit des Einzelnen. Setzen wir auf die „Schwäche“ des Arguments und der Einsicht. „Stärkere Argumente“ wären bevormundend … „Der Mensch ist Mensch, wenn er (zweckfrei) spielt/Neues lernt“ (nach Schillers ästhetischer Theorie). Bildung soll ein nicht additives, sondern organisches Handlungs- und kritisches Orientierungswissen vermitteln, ein mit einer offenen, empathisch-solidarischen 149
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Haltung gepaartes Wissen, das plastisch ist und gegen Speicherwahn und Mnemopathologien/ Informationsbulimie resistent ist. Wenn menschliche Freiheit darin gründet, Dinge neu und anders zu sehen oder zu interpretieren (wenn also Freiheit ein Effekt der interpretatorischen Konstruktivität ist), dann müssten gerade Fächer, die zum Interpretieren anleiten, also auch der Ethikunterricht, interpretatorische Fähigkeiten pflegen. Alternativen (devianten) Sichtweisen wird in dieser Option ebenso Orientierungspotenzial zugetraut. Sie müssten gefördert werden – P. Struck fordert darum eine neue „Fehlerkultur“:58 Bereiten wir unseren nächsten Irrtum vor! Das Motto könnte lauten: Fehler machen statt Spicken. – In einer Schule, in der auch kräftig Fehler gemacht werden können, wären Spickereien unnötig (?). Fragen: – Entwerfen Sie eine Ethik der Schule! Was soll Schule Ihrer Meinung nach leisten, zu was soll sie anleiten? – Wie „wehrhaft“ muss Schule sein? Was muss sie unterbinden? Was wäre ein gerechter Umgang mit „Trittbrettfahrern“? Wie verändert der „kleine Betrug“ bereits die Gesellschaft, das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen? – In welcher Schule wollen Sie „leben“ oder arbeiten? – Braucht man Druck, um etwas zu lernen? Explizieren Sie Ihre Lerntheorie, Ihre Philosophie des Lernens? Was wollen Sie lernen? – Welchen Stellenwert hat Schule im Vergleich zu den sonstigen Verpflichtungen/Nebenjobs? Wo lernen Sie mehr? Welche Erfahrungen aus Ihren Nebenjobs sollten in der Schule reflektiert oder berücksichtigt werden? – Unter welchen Bedingungen halten Sie einen Leistungsvergleich für sinnvoll/angemessen? Da Missverstehen, Kommunikationsstörungen die Regel sind, sei noch einmal betont: Es geht hier nicht um eine perfide, neue Version der Seelenmassage, eine besondere Gewissensansprache an alle oder einen Generalverdacht, das wäre ja schon die Monster-Schule mit verschärfter, eindringlicher Kontrolle. (Inwieweit die geschilderten Eindrücke zutreffen oder nicht, müssten Sie sagen.) 58
P. Strucks Argument lautet: Wenn man aus Fehlern am meisten lernt, muss man in der Schule dazu ermuntert und nicht angeleitet werden, in erster Linie vor anderen Fehler zu vermeiden; vgl. Struck, P., Die Schule der Zukunft. Von der Belehranstalt zur Lernwerkstatt, Darmstadt 1996, S. 183. D. Kamper (Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek 1990, S. 275–276, 278) formuliert ähnlich: „Der wahre Ort der Reflexion ist nicht mehr der Schreibtisch und nicht mehr der Lehrstuhl, sondern das Unterwegssein in der Zeit. … Die spezifische Sesshaftigkeit als dominante Form von Forschung und Lehre hat sich diskreditiert. Sie ist nicht einmal den Konsequenzen gewachsen, die sie selbst verursacht. … Die Gefahr, geistig überwältigt zu werden, wächst umgekehrt proportional zur Bereitschaft, sich ihr auszusetzen.“
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3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
Der Standardsatz: „Man kann sich nur selbst betrügen.“, ist identisch mit der frommer klingenden Aussage: „Die Kinder Gottes arbeiten nie vergebens.“ Die eigenhändig verfasste Hausaufgabe ist nicht umsonst. Selbst wenn man den Nutzen nicht sieht, man übt, was man später leichter kann als der Ungeübte … Bei philosophischen Texten gilt das Versprechen, dass die intensive Beschäftigung Erkenntnisse bereithält, die dem schnellen, oberflächlichen Umgang verschlossen bleiben. Auch wenn man die Mühe nicht sofort honoriert bekommt, es „lohnt sich“, sich eingehender mit den Fragen auseinanderzusetzen. Von „Nutzen“/“Lohn“ soll nur in einem unökonomischen Sinn die Rede sein. Diese Hausaufgabe zielt nicht auf Beschuldigungen, Selbstanklagen, Geständnisse oder Rechtfertigungen, sondern Ihre Sicht; sie ist als Einladung zum Nachdenken über ein sehr lebensnahes, praktisches ethisches Thema gemeint. – In Ethik/ Philosophie sind selbstständige Gedankengänge gefragt. „Du sollst nicht stehlen Als Rabbi Jechiel Meir von Gostynin einmal am Offenbarungsfest bei seinem Lehrer in Kozk gewesen war und heimkam, fragte ihn sein Schwiegervater: ‚Nun, hat man bei Euch die Offenbarung anders empfangen als anderswo?‘ ‚Gewiss‘, antwortete er. ‚Was soll das bedeuten?‘, fragte jener. ‚Wie versteht man hier zum Beispiel: Du sollst nicht stehlen?‘, fragte Rabbi Jechiel zurück. ‚Nun eben‘, erwiderte der Schwiegervater, ‚man soll seinen Mitmenschen nicht bestehlen.‘ ‚Das braucht man uns nicht mehr zu gebieten‘, sprach Rabbi Jechiel, ‚in Kozk erklärt man’s: Man soll sich selber nicht bestehlen.‘ Das erste Blatt Man fragte Rabbi Levi Jizchak: ‚Weshalb fehlt in allen Traktaten des babylonischen Talmuds das erste Blatt und jeder fängt mit dem zweiten an?‘ Er antwortete: ‚Wie viel ein Mensch auch gelernt hat, er soll sich vor Augen halten, dass er noch nicht an das erste Blatt gelangt ist.‘“59
Nachbemerkung: In den ersten Jahren meines Ethik-Unterrichts habe ich das Papier zum Thema Spicken ausgeteilt bzw. verschickt, dies inzwischen aber wieder unterlassen. Schließlich erschien eine offensive Eindämmung oder Unterbindung des Spickens ähnlich aussichtslos wie der offene Kampf gegen Handynutzung im Unterricht. Die Thesen konnten als zu direkter Moralisierungsversuch empfunden werden; und ein Gespräch über die Thematik kann situationsbezogen auch ohne die vorherige Lektüre eines Thesenpapiers geführt werden. Die Grenze zwischen Realität und symbolischer Ordnung, also dem, worüber man gerade noch sprechen darf, tritt hier sehr deutlich zutage. Die Lektionen, die diesbezüglich die lacansche Analyse parat hält, sind hier Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 797, 369.
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anwendbar. Unverkrampfter verlaufen die Diskussionen zum Thema Hirndoping, NeuroEnhancement. Ethische Sensibilisierungen darf man sich auch von Gesprächen über unverfänglichere Themenkomplexe versprechen. Immer wieder wird ein technisches Hochrüsten zur Verhinderung des illegalen Einsatzes digitaler Medien bei Prüfungen, etwa die Installation von Störsendern, vorgeschlagen oder eingefordert60; doch das erscheint unsinnig, schließlich ist von einem grundsätzlichen Schulkonsens auszugehen, Schüler, die sich der Prüfung verweigern und grundsätzlich nicht stellen wollen, sprengen das elementare Schüler-Lehrer-Einverständnis über das Reglement/Setting der Schule ebenso wie Schüler, die in Abschlussprüfungen mit Digitaltechnik betrügen.61 Claudio Magris kommentiert in seinem Essay „Lob des Abschreibens“ von 1997 die Ankündigung von Schülern eines italienischen Gymnasiums, nicht mehr zu spicken, zwar als edles Vorhaben, aber kritisiert es dennoch sehr deutlich: Es gebe schließlich eine Pflicht, abschreiben zu lassen; an den zentralen Geboten der Fairness und Solidarität/Kollegialität unter den Schülern dürfe nicht gerüttelt werden. Wer nicht helfe, wo es möglich sei, regrediere; er versperre sich einer der wichtigsten Lektionen für das spätere Leben. Der Lehrer seinerseits müsse das tun, was von ihm erwartet wird: das Spicken ahnden, sonst funktioniere das Spiel nicht; Predigen helfe nichts: Zumindest Ethiklehrer dürfen hier anmerken, dass das „Predigen“ wohl auch zu dem Spiel gehört, das in der Schule gespielt wird. Es wäre für Magris jedenfalls ein tragisches Missverständnis hinsichtlich der Rollenerwartungen, wenn Lehrer die Schüler zum Nichtlernen ermunterten oder die Schüler bei der Schulentwicklung mitwirkten, „anstatt sie hin und wieder zu schwänzen“.62 Ohne das Spielerische mutiert Schule wie das Leben insgesamt zu einer schweren Pflicht: „Predigen nützt nichts, egal ob für oder gegen Werte. Sie können nur vorgelebt werden, ohne den Habitus und erst recht ohne die ausdrückliche Absicht, sie jemandem einzuschärfen. Vielleicht nimmt man sie nur so mit seiner ganzen Persönlichkeit auf, deren gelebte Substanz sie werden, so wie man nicht lernt, das Meer zu lieben, weil man dazu aufgefordert wurde, sondern weil uns eines Tages jemand zu einer bestimmten Stunde in einem bestimmten Licht zum Strand mitgenommen hat.“63
Vergleichsweise einfachere, wenig aufwendige Strategien, Klausurpapier in immer neuen Farben einzusetzen, die das leichte Verwenden von vorgeschriebenen Seiten unterbinden würden, werden von schulamtlicher Seite nicht eingeführt. Auf diese Weise scheint eine Chronifizierung des Problems sichergestellt. 61 Vgl. Fraisse, G., Das Einverständnis. Vom Wert eines politischen Begriffs, Wien 2018. 62 Magris, C., Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne, München 2012, S. (319–323) 322. 63 Ebd. 60
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3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
Wertevermittlung verläuft also nach diesem unaufdringlichen Muster, vgl. von Foersters Ethik des „Ich-soll“; in der Schule ereignet sich also auf einer elementareren Ebene als der der Stoffvermittlung das entscheidende Modell-Lernen. Magris’ Plädoyer für das Spiel/Spielerische und das Lachen – auch über einander – hat eine Schule im Visier, in der die Regeln immer schon menschlich „gebrochen“ sind und sich der Betrieb nicht zu ernst nimmt: „In der Schule sollte auch und vor allem gespielt und gelacht werden über sich und über die anderen, die nicht weniger komisch und zerzaust sind als wir.“64 Nach Magris müssen wir dem „stumpfsinnigen Ernst, der gleichfalls seinen Teil zur Mangelhaftigkeit der Schöpfung beiträgt“, entkommen: Magris erinnert sich daran, dass seine ganze Klasse in einer Griechisch-Klausur einen falschen Abschnitt von Thukydides übernahm. Auch derartige, eher peinliche Erfahrungen hält er für unumgänglich, und auch aus dieser Malaise sei schließlich zu lernen, dass es das Wichtigste sei, sich nicht entmutigen zu lassen. „Es ist also durchaus angemessen, sich von tüchtigen Schülern, die gern abschreiben und abschreiben lassen, tüchtige, ernüchterte und solidarische Persönlichkeiten zu versprechen.“65
Magris’ Ausführungen scheinen eine tiefgreifende Veränderung von Schule nicht für opportun zu halten, sondern für eine richtige Haltung gegenüber den lästigen Pflichten und Riten zu plädieren, für eine gewisse (unsystematisierbare) Wurstigkeit. Angesichts von Prüfungen und Klausuren scheint vor allem Theodor Fontanes Einsicht gelernt werden zu können, dass es ohne „einen gewissen Mumpitz“ nicht geht. Magris rekurriert nicht auf Ideen und Beispiele einer neuen Lernkultur, in der keiner mehr abzuschreiben gedenkt, Schule ihren bisherigen Charakter verändert; es muss vielmehr zur Lebensweisheit, die man in der Schule lernt, gehören, dass wir uns nicht allzu sehr mit unseren Prüfungsergebnissen identifizieren, unser Selbstverständnis nicht nur Leistungsaspekte enthält: „Wer etwas mehr von Informatik oder Latein versteht als sein Banknachbar und nicht versucht ihm vorzusagen, bleibt wahrscheinlich für immer ein kleines Miststück (der passendere Ausdruck ist unanständig und kräftiger), und er wird womöglich zu der Überzeugung gelangen, dass diese bessere Note in seinem Zeugnis, das zufällig und fragwürdig wie jedes Zeugnis ist, wer weiß was darstellt: mit anderen Worten: er wird zum Dummkopf.“66
Ebd., S. 322f. Ebd., S. 323. 66 Ebd., S. 321. 64 65
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Es gilt also Rollendistanz einzuüben, zu einer Kritik der Zertifizierungen/Leistungskontrollen insgesamt zu kommen und langsam der Schülerrolle zu entwachsen. Bei der Relativierung des Leistungsaspekts gewinnen Magris’ Ausführungen eine theologische Perspektive: Eine egozentrische Leistungsgerechtigkeit wäre ein zu enger Blickwinkel: Wichtiger als das Verobjektivierbare ist immer das Nichtobjektivierbare, Nichtverrechenbare, die Erfahrung unbedingter Achtung, vorbehaltlosen Angenommenseins, die Geste der Dankbarkeit. Elisabeth Hartlieb und Martina Kumlehn relativieren schließlich die „weltliche Gerechtigkeit“, das „Gericht nach Werken“67, mit dem johanneischen Diktum (1 Joh 3,2): „Wir sind schon Kinder Gottes, es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.“ Die Nichtobjektivierbarkeit des Menschen, Aspekte des elementaren Aufeinander-Angewiesenseins dürfen nie aus dem Blick geraten. Umgekehrt sehen die Autoren Schüler-Erwartungen, die dem Lehrer die Schuld für einen mangelnden Erfolg geben, als eindimensional, als unvernünftiges, verantwortungsloses Regredieren der Schüler. Für Magris ist wohl ebenso entscheidend, dass der Schüler erkennt, dass er sich selbst als beschenkt versteht, seine Leistungen nicht zu sehr sich selbst zuschreibt; es ist ein Geschenk, lernen zu können, sich für Dinge zu begeistern und zu interessieren. Solche Grundeinsichten sind gegenüber dem alltäglichen Klausurstress oder der Ordnungspolitik nicht zu vergessen. Ohne den Ausblick auf die Entwicklung von Mündigkeit und Souveränität, die auch Magris von Schülern in Bezug auf das Schulsystem erwartet, wäre Schule eine lästige Phase der Zwangskollektivierung bis zur Erreichung selbstbestimmter Volljährigkeit: Daher ist es nicht falsch, das unsinnige Überhandnehmen von Täuschungsversuchen, die zunehmende Abhängigkeit von Handynutzung, direkt zu problematisieren. Jacottet gibt der Thematik des Spickens ihre grundsätzliche Bedeutung zurück, wenn er für sich und sein Leben ein Durchmogeln ablehnt: „Was habe ich gewollt? Ich habe nie wirklich etwas gewollt? … Wenn ich doch etwas gewollt habe in diesem Leben, dann dies: So wenig wie möglich zu mogeln, weder der Versuchung der Eloquenz nachzugeben noch den Verführungen des Traums oder den Reizen des Ornaments; genauso wenig den gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts oder dem falschen Glanz der Okkultismen, ganz gleich welchen Schlages. Zu versuchen, dem, Hartlieb, E., Kumlehn, M., Lernkontrolle/Persönlichkeitsentwicklung, in: Korsch, D., Charbonnier, L. (Hg.), Der verborgene Sinn. Religiöse Dimensionen des Alltags, Göttingen 2008, S. (185–195) 188. Von Agamben kann man lernen, dass das Gesetz in eschatologischer Weise eine Sache für die Hölle ist, Gesetze verlieren mit Blick auf das Eintreten der Parusie ihre Gültigkeit. Letztlich bleibt nur das Lobpreisen als ein Geschäft der Engel. Das Loben überdauert die Auflösung/Relativierung des Gesetzes. Lobpreis ist auch der Sinn der Liturgie, das Wesen des Dienstes (Herrlichkeit und Herrschaft. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin 2010, S. 196). Wer überschwänglich lobt, nimmt gewissermaßen dieses Stadium der Zweckfreiheit vorweg, das Lob verweist immer auch auf eine grundlegendere Dimension von Beschenktsein/Dankbarkeit.
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was man fühlt, immer so nahe wie möglich zu bleiben, als gebe es wirklich Wendungen, Rhythmen, Worte, die ‚wahrer‘ sind als andere; als gebe es, trotz allem, eine Art von ‚Wahrheit‘, die ein, ich weiß nicht welches, Sinnesorgan in uns genauso aufspüren würde wie die Lüge. Und wenn es diese Art von Wahrheit geben sollte, folgte daraus nicht notwendigerweise eine Art von Hoffnung?“68
Žižek verweist schließlich auf das Notrecht bei Hegel, das in extremen Ausnahmesituationen etwa das Stehlen „erlaubt“, ähnlich wie das Fringsen. Ob etwas Vergleichbares für ein Spicken in Anschlag zu bringen ist, das wie ein „intellektueller Mundraub“ in schwierigen Umbruchsphasen zeitweise das schulische Überleben sichern muss, darf gefragt werden. Magris würde wohl bereitwillig auf das hegelsche Notrecht zugunsten einer Relativierung der schulischen Prüfungen rekurrieren. Wie Žižek aber mit Chesterton betont, ist das ethische Tun „die größte und die gewagteste Überschreitung und Devianz, die man sich vorstellen kann.“69 Žižek erinnert auch gerne an den großen unersättlichen Wissensdurst Lenins. Schließlich geht es im Unterricht darum, die Begeisterung für das Fach zu vermitteln, die die Notsituation des lästigen Übens/unzureichenden Memorierens überschreitet. Die Diskussion über das heikle Thema Spicken ist hoffentlich weit entfernt davon, ein unwürdiges Szenario der Transparenz oder der Exposition Einzelner heraufzubeschwören, wie es der Film „Der Duft der Frauen“ (Martin Brest, 1992) entwirft. Der Film unterstützt wohl Magris’ konservative Auffassung von der unabänderlichen Dichotomie zwischen Lehrern und Schülern; er schildert eine Episode aus einer traditionsreichen Bostoner Elite-Schule. Der junge Protagonist Charlie Simms hadert hier bis zuletzt mit sich, ob er seine Mitschüler verrät; ihm drohen bei unzureichender Kooperation mit der Schulleitung der Schulverweis und der Verlust des Stipendiums. Simms soll die Mitschüler verraten, die nachts einen Streich gegen den Schulleiter vorbereitet haben. Simms wird vor der Schulversammlung offen unter Druck gesetzt, zusammen mit einem Mitschüler George Willis, der Rückendeckung von seinem Vater erhält. George kann sich damit herausreden, er habe die Kontaktlinsen nicht eingesetzt, nennt allerdings bereits die drei Verdächtigen als vermutliche mögliche Täter. Simms bekommt unerwartet Hilfe von dem blinden Lieutenant Colonel Frank Slade (gespielt von Al Pacino), der sich zu ihm auf das Tribunal setzt; beide hatten ein wildes Thanksgiving-Wochenende in New Jaccottet, P., Der Unwissende, München 2003, S. 7, 9. Žižek, S., Ärger im Paradies, Frankfurt a. M. 2015, S. 291. Žižek erinnert auch auf S. 10 an Chesterton, für den „die Moral die finsterste und waghalsigste aller Konspirationen“, „die Ehe der dunkelste und gewagteste aller Exzesse“ ist. Žižek, S., Die Bösen Geister des himmlischen Bereichs, Frankfurt a. M. 2011, S. 18, referiert die souveräne taoistische Geste: „Der Weise weiß, dass man die Realität nicht zwingen sollte, dass ein wenig Korruption der beste Schutz gegen die große Korruption ist“. Diese Position ist für Žižek keine Lösung; hiergegen wendet sich der ethische Akt.
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York verlebt und sich angefreundet; Simms war ursprünglich engagiert, Slade zu betreuen, hielt aber schließlich den verzweifelten Blinden von einer Selbstmordtat ab, indem er den mürrischen Pflegefall davon überzeugte, gemäß seiner eigenen Parolen „weiterzutanzen“. Slade kritisiert in einer überzeugenden Philippika die schauprozessartigen Aufklärungsversuche und Disziplinarmaßnahmen des Direktors als erbärmliche Anleitung zu Verrat und Denunziation. Die Elite-Schule könne mit diesen pädagogischen Methoden keine Führungskräfte ausbilden, vielmehr lediglich ängstliche Duckmäuser. Slade meint, er habe viel Elend gesehen, aber nichts sei schlimmer als die Amputation des freien Geistes, wie sie bei dem Tribunal vorexerziert werde. Mit seiner beeindruckenden Rede befreit der Bonvivant und Militär mit der theatralischen Begabung, der in seiner Rede seine eigenen Fehler und Inkonsequenzen keineswegs verheimlicht und Simms’ Integrität und moralische Haltung umso deutlicher lobt, seinen jungen Freund aus einer aussichtslosen Position heraus. Simms kann weiterhin auf der Schule bleiben, so der finale Beschluss des Disziplinarausschusses, der sich nicht weiter hinter den denunziatorischen Strategien des Schulleiters Tracks versteckt und sich gegen das Vorhaben stellt, einen Verrat aus den Schülern herauszupressen; schließlich war es von vornherein nicht die Absicht des Direktors, George, den Sohn des großen Sponsors, von der Schule zu verweisen; Simms wäre das Bauernopfer, der Sündenbock gewesen, an dem ein Exempel hätte statuiert werden sollen. Der blinde Colonel und der aufrechte Schüler werden von einer begeisterten Schülerschaft umjubelt. Die Werte von Loyalität und Kameradschaft werden gefeiert. Der Colonel lässt in seiner Rede auch durchblicken, dass er es für angemessen gehalten hätte, wenn die drei Delinquenten klar zu ihrem Tun gestanden hätten. Sein Plädoyer für Fairness lässt sich aber nicht durch falsches Moralisieren oder eine schulpolitische Instrumentalisierung ethischer Argumente aufweichen. Der Historiker Reinhart Koselleck berichtet von einem dialogischen Klima der Prüfungen bei Hansgeorg Gadamer, seinem Lehrer. Es zeigt sich ein offenes Lehrer-Schüler-Verhältnis, das den tradierten Klischees entkommt: „In Prüfungen verzichtete er darauf, abzufragen, weil dann jede Antwort schon im Vorhinein feststünde … Eine Prüfung war nur zu bestehen, wenn sie in ein quasi paritätisches Gespräch einmündete. … Bei aller Liebenswürdigkeit war Gadamer keineswegs nachgiebig, aber tolerant, andere, gar gegenteilige Positionen gelten zu lassen, also Feind jeder Dogmatik. Er hegte keinen Hass, wohl aber konnte er zürnen, etwa wenn Intelligenz sich mit moralischer Indifferenz paarte oder Dümmlichkeit mit Hypermoral. So bot er auch einen Ruhepunkt und Orientierungshilfe, als sich während der sogenannten Studentenrevolte Hektik und Hysterie gegenseitig hochschaukelten.“70
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Koselleck, R., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hg v. Carsten Dutt, Berlin 2014. S. 355. Gadamer rettete Werner Krauss aus der Gestapo-Haft. Wer Gada-
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3.2 Spicken – Kavaliersdelikt, Betrug oder Normalität?
Die Fragen der Identitätsfindung und des Umgangs mit Tradition finden schließlich in der Hermeneutik Merab Mamardaschwilis eine unerwartete Zusammenführung und Auflösung; der georgische Philosoph stellt eindrucksvoll dar, was die Treue zum Text und die Achtung der Quellen vermögen. Mamardaschwili hebt zunächst ganz in der hermeneutischen Tradition Gadamers das Angewiesensein des eigenen Verstehens auf das Verstehen anderer, auf Texte und Vorarbeiten, hervor. Er bekräftigt William Blakes Einschätzung: „Kein einziger Mensch kann die Wahrheit direkt aus seinem Herzen sagen.“71 Das französische Sprichwort, wonach keiner seine Seele hergeben will („Personne ne veut rendre son âme“), weist sogleich auf das Schutzbedürfnis und die Maskerade des Subjekts hin, das sich hinter Texten verbergen und Zuflucht nehmen will. Es ist möglich, im offenen und klaren dankbaren Bezug auf Zitate und Werke zugleich das eigene Verstehen voranzutreiben. Bei der Interpretation die eigenen Anliegen neu zu formulieren und gleichermaßen den Motiven seiner literarischen Gewährsleute und der Tradition treu zu sein, dies beobachtet Mamardaschwili bei Nadeschda Mandelstam, die die Stimme ihres verstorbenen Gatten Ossip Mandelstam aufnimmt und sich von seiner Dichtung amplifizieren lässt: Sie hält ihren Mann im Verstehen lebendig und verlebendigt sich so selbst. Verstehen dynamisiert und schafft Leben. Mamardaschwili unterlegt diese hermeneutische Extremerfahrung der wechselseitigen Verlebendigung, die wohl über Gadamers verstehende Horizontverschmelzung hinausgeht, eigenwillig mit der eschatologischen Auferstehungshoffnung: „Das ist die Art Auferweckung, die ich meine, sie wird von einfachem Respekt gegenüber den Errungenschaften und der Anstrengung anderer Menschen diktiert. … Wenn sie in unserem Verstehen lebendig sind, gewinnen wir an Leben.“72
mers kritische Haltung gegenüber dem NS-System verstehen wollte, hat genug Gelegenheiten dazu: In den Vorlesungen hantierte er mit dem Logik-Beispielsatz: „Alle Esel sind braun.“ 71 Mamardaschwili, M., Die Metaphysik Antonin Artauds, Berlin 2018, S. 29. 72 Ebd., S. 63. Nach talmudischer Tradition wird der Messias dann kommen, wenn wir unsere Quellen offenlegen und richtig zitieren. Von daher scheint es völlig abwegig, die Urheber um ihren Schutz zu bringen.
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4. Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden (elementare Theologie ad usum Delphini) „Mit Stimmen erscheinet Gott als / Natur von außen. Mittelbar in heiligen Schriften. Himmlische sind / und Menschen auf Erden beieinander die ganze Zeit.“ – Friedrich Hölderlin1 „Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ – Karl Marx2 „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.“ „Make the secrets productive!“ – Joseph Beuys3 „Jeder, der denkt, ist ein Andersdenkender. Jeder, der glaubt, ist ein Andersgläubiger.“ – Albert Keller4
Das Thema Religion und Religionskritik ist Schwerpunkt eines Ethik-Halbjahres in der 11. Klasse und trifft dort auf Schüler, die von der Mittelstufe her den Eindruck haben, diesbezüglich alles für sie Wichtige schon zu kennen. Meist tauchen aber ein Jahr später bei Anthropologie-Themen viele brisante religionsphilosophische Fragen auf, die dann wegen des vollbepackten Lehrplans der Oberstufe nicht mehr eingehend im Unterricht behandelt werden können. Sie können dann über den Essay und Diskussionen darüber am Rande des Unterrichts bearbeitet werden. Die Auto-Meditation und eine Filminterpretation von Tom Tykwers „Heaven“ (4.2 und 4.3) wurden für einen Projekttag bzw. Tag der Offenen Tür für interessierte Schüler der Sekundarstufe II konzipiert. Das Kapitel 4.4 bezieht sich auf die 1
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Hölderlin, F., zit. n.: Härtling, P., Tübinger Rede am 13.11.1985, aus: ders., Brief an meine Kinder, Stuttgart (4.Aufl.) 1986, S. 60. Marx, K. (1844, MEW 1, S. 378), zit. n.: Autor_innenkollektiv, Mythen über Marx. Die populärsten Kritiken, Fehlurteile und Missverständnisse, Berlin 2018, S. 98. Beuys, J., Spiegel-Gespräch über Anthroposophie und die Zukunft der Menschheit mit Peter Brügge, in: Spiegel vom 4.6.1984, 38. Jg. Nr. 23, S. 178–186; ders. (1974), zit. n.: Blume, E., Nichols, C. (Hg.), Beuys: Die Revolution sind wir – Ausstellungsband, Göttingen 2008, S. 113. Keller, A., Sinn im Unsinn. Worüber Jesuiten lachen, Würzburg 2008, S. 53.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Normalität des multikulturellen Schulalltags, das weitgehend reibungsfreie Neben- und Miteinander der Religionen an der Schule, und hat den Charakter eines Kommentars oder einer Zwischendiagnose. Seine Kernthesen können im Unterricht vorgestellt werden. – Man könnte die Argumentation des gesamten Kapitels noch stärker mit interkulturellen Bezügen anreichern, etwa mit Zitaten von sufischen Meistern, die einen ähnlich offenen Religionsbegriff nahelegen, Menschenfreundlichkeit/Sanftmut und Gottesdienst gleichsetzen, Gott als Barmherzigkeit verstehen.5 Auch um einer Konfusion der Traditionen vorzubeugen, sind zunächst das aufrührerische Potential und der weite Horizont des christlichen Erbes aufzuzeigen. Doris Wagner hat nicht zuletzt bei der Aufarbeitung ihrer eigenen Erfahrungen als Nonne den Begriff vom „spirituellen Missbrauch“6 geprägt, analog zum Begriff des sexuellen Missbrauchs, und fordert dementsprechend auch eine spirituelle Selbstbestimmung. Theologische Grundorientierung sowie Sensibilisierung gegenüber Unterwerfungskonstellationen, Formen geistiger Selbstaufgabe/ Selbstobjektivierung, und Offenheit gegenüber geistigen Irritationen sind auch Grundoptionen der folgenden Ausführungen.
4.1 „Religion ohne Religion“? – Zeitgenössische Glaubensprofile „I invite you for a moment to leave behind your commonly accepted certainties and to engage in other ways of seeing.“ – Volker Redder7 „I see the divineness in ordinary things.“ – Diane Arbus8 „Das Jenseitige ist nicht das unendlich Ferne, sondern das [der] Nächste.“ – Dietrich Bonhoeffer9
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Vgl. hierzu etwa die Ausführungen von J. W. Frembgen, A.-H. Ourghi und M. Khorchide. Die Annahme, dass in Bezug auf eine Anerkennung der Säkularität christliche Zuspitzungen (Bonhoeffer spricht vom „Mündigwerden der Welt“) singulär sind, muss wohl revidiert werden. Vgl. Wagner, D., Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg i. Br. 2019. Redder, V., Ich sehe was, was du nicht siehst; in: Luhmann, N., Maturana, U., Namiki, M., Redder, V., Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 1990, S. 11: Volker Redder zitiert die Einladungsworte zum Graduiertenkolleg in Bielefeld. Arbus, D., Relevations, München 2003 (Werkretrospektive 1972, Katalog zur Ausstellung ihrer Fotografien im Folkwang-Museum, Essen 2005), S. 70 (28.11.1939, paper on Plato). Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung, München (10. Aufl.) 1951, S. 255.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Auf die im Ethik-Unterricht aufgetauchte Frage, was sich hinter der Formulierung D. Sölles „Atheistisch an Gott glauben“ 10 denn verberge, soll eine Antwort versucht werden. Der Satz Einsteins, man solle alles so einfach wie möglich darstellen, aber nicht einfacher, enthält bereits die Einsicht, dass Einfachheit sehr komplex ist (Krause).11 Es liegt auf der Hand, dass gerade in Fragen der Religion gewisse Komplexitäten auftreten und diese keinem zu ersparen sind: Der, der Religion „hat“, Glauben „besitzt“, muss sich Rückfragen gefallen lassen, ob er nicht seine religiöse Tradition auf dem Hintergrund eigener Klarheits- und Orientierungsbedürfnisse vereinfacht, Religion konsumiert oder Gott als Fetisch-Ding missversteht. (Der, für den nur das Messbare, Berechenbare, Kapitalisierbare gilt, muss sich ohnehin fragen, ob sein Horizont zu eng ist. Und warum sollte man sich andererseits nicht für die Weite seines Blickwinkels interessieren?) – Das Wort „Gott“ bezeichnet nun zuvörderst kein vorfindliches Ding, das darf hier vorausgesetzt werden … und daher formuliert Bonhoeffer überspitzt: „Einen Gott, den ‚es gibt‘ [wie Dinge], gibt es nicht“12; man ist mitten im Thema oder schon direkt bei der widersprüchlich klingenden Formulierung der Kapitelüberschrift. – Religion wird im Folgenden nicht so sehr als unwiderlegbares oder unüberprüfbares fixes System von Sätzen verstanden, sondern grundlegender als Erfahrungsweise oder Wirklichkeitszugang. Religion jenseits institutioneller Verfasstheiten bedeutet also vor allem eine Kritik, (Gott, Beziehungen und die anderen) zu vergegenständlichen, und die Alternative der Überschreitung der Verobjektivierung. Glauben bedeutet somit in erster Linie ein elementares, relational verortetes oder verkörpertes Existenzvertrauen und sehr sekundär erst ein zu Sätzen geronnenes klares Bekenntnis. Es deutet sich hier an, worum es bei Bildung überhaupt geht: um die „Erfahrung, dass etwas möglich ist“. Denkmöglichkeiten sind auszuloten, das scheinbar Klare und Sichere ist zu verwirren – es gibt nur ein Lernen durch Verwirrung (P. Struck) – und Subtilität als Tugend in Glaubens- und Reflexionsangelegenheiten auf den Schild zu heben. Schließlich dient jede Irritation als Katalysator für eine eigene freie Positionsbestimmung; die Frage nach dem Gottesbegriff und seiner Revision lässt sich sowieso nur lebensgeschichtlich je neu und nicht ein für alle Mal behandeln. – Der Existenzphilosoph Heidegger meint, dass das Denken, wenn es sich auf den Weg macht, wandelt. So können sich anfängliche Klarheiten auflösen oder auch neue Grundunterscheidungen auftun; es kann sein, dass wie bei einem Möbius-Band die andere Sölle, D., Atheistisch an Gott glauben, Olten Freiburg 1968. Krause, K., Einsteins Klinge in Ockhams Rasiermesser, in: Brockman, J.(Hg.), Was macht uns schlauer? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über neue Strategien, unser Wissen zu erweitern, Frankfurt a. M. 2012, S. 424f. 12 Bonhoeffer, D., zit. n.: Pereira, A., Jugend mit Gott. Gedanken und Gebete, Kevelaer (6. Aufl.) 1979, S. 358 (cf. „Akt und Sein“). Pereira stellt in seinem Gebetbuch zum Teil sehr provokante Zitate zusammen, die alles andere als leicht synthetisierbar sind. 10 11
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Seite der Unterscheidung, der Wechsel der Position, allein schon dadurch erreicht wird, dass man einem Weg lange genug folgt … Der Befürchtung des Schriftstellers Eugen Ruge, dass sich die Gotteserfahrung, die Dimension des Heiligen, auflösen könnte, wenn man darüber nachdenkt13, wird hier nicht gefolgt. Ihr steht die scholastische Lehrtradition entgegen, dass Religion Reflexion aushält und ein mündiger Glaube ein kritisches Denken sogar provoziert: Wie gelten darf, dass nicht überall da, wo Religion „draufsteht“, auch Religion „drin“ ist, so darf man sich auch von der umgekehrten Intuition leiten lassen, dass Religion auch dort zu finden ist, wo sich kein Etikett „Religion“ befindet, wo von „Religion“ nicht explizit geredet wird. Immanuel Kant verlangt vor allem eine religiöse Aufklärung und warnt vor einer missbräuchlichen (heuchlerischen), religiösen Begründung von Ethik, die Gebote als göttlich verordnet ausgibt und eigene Taten verdienstvoll verrechnet haben möchte, so dass das eigene Tun aus Angst vor Höllenstrafen erfolgt und erst aufgrund der konstanten Beobachtung einer externen Kontrollinstanz motiviert erscheint. „Von allem, was zur Bildung der Seele gehört, ist nichts dem Charakter verderblicher als ein verkehrter und an sich heuchlerischer Begriff von Religion, nach welchem man die moralischen Gesetze als willkürliche göttliche Befehle, deren verbindende Gewalt im Willen des Oberherrn besteht, ansieht und die Religion in eine oder andere Art von Gunstbewerbung setzt, um sich in Ansehung seiner Handlungen Nachsicht und Straflosigkeit auszuwirken.“14
Der Nachweis, dass sich Ethik nichtreligiös begründen lässt und Fremdbestimmung dem Rekurs auf die Autonomie des Subjekts zu weichen hat, gehört zu den Anliegen des Aufklärungsphilosophen. Für den dostojewskischen Hauptmann, der erschrocken feststellt,
Ruge, E., Wenn ich alles aufdrösele, ist es weg, in: Chrismon 6/2017, S. 44 „Ich bin von Hause aus Naturwissenschaftler. Folgt man der Wissenschaft, so gilt das Gesetz der Entropie, der zunehmenden Unordnung, des Zerfalls. Andererseits erzählt die Geschichte des Universums das Gegenteil. Aus einem heißen Brei wurden immer komplexere Gebilde: Atome, Moleküle, das Nervensystem. Mit anderen Worten: Wunder ereignen sich. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als an Gott zu glauben. Nicht an Gott zu glauben, ist sinnlos. Wir wissen aber nicht, was Gott ist, und ich glaube, dass wir es nicht wissen können und nicht wissen sollen. Wir haben die Bezeichnung Gott eingeführt, aber vielleicht sollte man ohne Bezeichnung auskommen, manche Religionen machen das auch. Ich hatte mal ein Erlebnis, das man als spirituell bezeichnen könnte, doch für solche Erlebnisse Worte zu finden, ist sehr schwer. Ich glaube, dadurch verdirbt man sie. … es ist ein bisschen so wie mit dem Häuten der Zwiebel. Wenn ich alles aufdrösele, ist es verschwunden.“ 14 Kant, I., zit. n.: Kulenkampff, J. (Hg.) Immanuel Kant, Köche ohne Zunge, Notizen aus dem Nachlass. Göttingen 2014, S. 90. 13
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„Wenn es keinen Gott gibt, warum bin ich dann ein Hauptmann?“, muss man indes ebenfalls wenig Verständnis aufbringen. Der Ausruf verrät, dass Religion oft zur Legitimation von Herrschaft diente und unheilige Allianzen mit Machthabern einging. Nicht von ungefähr ist für Marx die Religionskritik als Basis aller Kritik auch der Ausgangspunkt politischer Neuorientierungen. Die folgenden Überlegungen weisen in zwei Blickrichtungen, einmal sollen vielleicht ungewöhnliche theologische Positionen nüchtern und klar vorgestellt werden (B, S. 165ff), zum anderen geht es um die Frage nach der konkreten Gestalt religiöser Praxis, die auch säkular/ weltlich-offen ausgerichtet sein kann (C, S. 220ff); es finden sich sodann vielfältige Zitate, die ein Neuverständnis von Riten/Gebeten nahelegen, Ausführungen, die womöglich „fromm“ klingen, den Alltag aber neu wertschätzen. In jedem Fall ist das Interesse an religiösen Fragen ein guter Einstieg in diverse komplexe Gedankengänge (A). Mit einfachen Antworten auf ebenso einfach klingende Fragen wie „Du glaubst (doch) an Gott?“ wäre also nichts geklärt. Fragen, die nur Ja-Nein-Alternativen erlauben, müssen zurückgespiegelt und umgeformt werden, um die ihnen zugrundeliegenden Lösungsvorstellungen zu verdeutlichen. Eine Banalisierung religiöser/theologischer Fragen ist zu vermeiden.
A. Texte zum Einstieg in die moderne Gottesfrage15 „Der Glaube (faith) bleibt eines der unentäußerlichen Geburtsrechte unseres Geistes.“ – William James16 „We believe because we love.“ (credere/glauben – cor dare/das Herz geben) – Augustinus/ Henry Newman17
Die Sammlung von Quellentexten wurde stark gekürzt, sie soll die unverminderte Aktualität und Brisanz der Gottesfrage aufzeigen. Von allzu langen Zitaten wurde Abstand genommen, auch wenn etwa an Goethes Gedicht „Das Göttliche“ Religion in ihrer Abhängigkeit von Mitmenschlichkeitserfahrungen zu begreifen wäre. Nietzsches Parabel „Der tolle Mensch“ wird später an geeigneter Stelle paraphrasiert. 16 James, W., zit. n.: Sloterdijk, P., Nach Gott, Berlin 2017, S. 308. 17 Bezüglich der Unterscheidung von Glaubensüberzeugung/faith und Glaubensvollzug/belief wird hier von einem Reflexivwerden des Glaubens, einer unauflösbar engen Verbindung von Glauben und Liebe ausgegangen, davon dass faiths im belief/der Liebe gründen, dass der Glaubende elementar das Vertrauen/die Liebe glaubt. Nach Marion, J.-L., Die Strenge der Liebe, in: Casper, B. (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg München 1981, S. 182, rechtfertigt die Liebe den Glauben; der Glaubende „entdeckt, dass die Liebe genügt, um den Glauben zu bekennen“. 15
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Friedrich Nietzsche – Zur elementaren Verwurzelung der Religion/Gottesrede im Leben Aus: „Noch einmal eh ich weiterziehe“ (Jugendgedicht): „… Ich will Dich kennen, Unbekannter, Du tief in meine Seele Greifender, Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender, Du Unfaßbarer, mir Verwandter! Ich will Dich kennen, selbst Dir dienen.“
Aus: „Also sprach Zarathustra“: „O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht? ‚Ich schlief, ich schlief –, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Die Welt ist tief, Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –, Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit –, – will tiefe, tiefe Ewigkeit!‘“18
Ludwig Wittgenstein – Gebet als Gedanke an den Sinn des Lebens „… An einen Gott glauben heißt, die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist. An Gott glauben heißt sehen, dass das Leben einen Sinn hat. … Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich. Für das Leben in der Gegenwart gibt es keinen Tod. Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Er ist keine Tatsache der Welt. … Gewiss ist es richtig zu sagen: Das Gewissen ist die Stimme Gottes.“ „Nur aus dem Bewusstsein der Nietzsche, F., Gedichte, hg. v. A. Friedrich, Zürich 1994, S. 28, 60.
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Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion – Wissenschaft – und Kunst.“ (Tagebuch-Aufzeichnungen vom 8.7.16, 1.8.16)19
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) will in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ zunächst nur streng empirisch/objektiv nachprüfbare Sätze sagen/schreiben; er startet mit der programmatischen Aussage „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, kommt aber nicht umhin, sich zu den Lebensthemen zu äußern. Die Ziffern zu Beginn der Sätze weisen auf den logischen Aufbau und die Systematik des „Tractatus“ hin: „6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. (Ist das nicht der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese nicht sagen konnten, worin dieser Sinn besteht.) 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. 6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft (…) 6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“20 (Schluss des Buches)
Wittgenstein notiert in seinem Tagebuch während des ersten Weltkrieges ungefähr zur gleichen Zeit – der oben zitierte Tractatus wurde 1918 erstmals veröffentlicht – Gedanken, die die Grenzen des Denkhorizonts weiter ausmessen, die Thematik des Sinns und des Glücks näher umreißen: „11.6.16. (…) Den Sinn des Lebens, d.i. den Sinn der Welt, können wir Gott nennen. … Das Gebet ist der Gedanke an den Sinn des Lebens. (…)
Wittgenstein, L., Werkausgabe Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. (8. Aufl.) 1992, S. 168, 169, 173. 20 Ebd., S. 85: „Wovon ich nicht reden kann,“ ist einfach nicht sprachlich fassbar oder irgendwie weiter benennbar. Wenn der geheimnisvoll klingende letzte Satz des Tractatus auch als Verbot weiterzudenken/mehr zu sagen gedacht ist, so enthält er für S. Žižek allerdings eine Untiefe, eine merkwürdige Dopplung: Das Verbot von etwas Unmöglichem ist immer ein Indiz für eine Verdrängung. Das Verbot kaschiert/verharmlost die verstörende Unmöglichkeit, von der es nichts wissen will; es unterstellt Handlungsspielräume, wo keine bestehen und eine absolute Grenze unvermittelt schmerzen müsste. – Wittgenstein erhebt zu diesem Zeitpunkt den Anspruch, alle philosophischen Probleme gelöst zu haben. 19
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6.7.16. Und insofern hat wohl Dostojewski recht, wenn er sagt, dass der, welcher glücklich ist, den Zweck des Daseins erfüllt. Oder man könnte auch so sagen, der erfüllt den Zweck des Daseins, der keinen Zweck außer dem Leben mehr braucht. Das heißt nämlich, der befriedigt ist. Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems [siehe 6.521]. Kann man so leben, dass das Leben aufhört, problematisch zu sein? Dass man im Ewigen lebt und nicht in der Zeit?“ „Was die Menschen als Rechtfertigung gelten lassen, – zeigt, wie sie denken und leben.“21
Wittgenstein plagten jahrelang heftigste Suizidphantasien bzw. Zwangsgedanken, sich töten zu müssen. Auf dem Totenbett – er starb an einem Krebsleiden – waren dennoch seine letzten Worte zu der Nachtwache: „Sagen Sie ihnen [den Freunden, Schülern und Kollegen], dass ich ein wunderbares Leben hatte.“
Elias Canetti – Der Gottprotz oder die Suche nach einer unaufdringlichen religiösen Sprache „Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott unterschreibt es. Er findet die Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlafe. Um Widersprüche braucht er sich nicht zu bekümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm nicht von Nutzen ist, und bleibt an einem unbestreitbaren Satze hängen. Den nimmt er für ewige Zeiten in sich auf, bis er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann wenn das Leben weitergeht, findet er einen anderen. Der Gottprotz traut der Vorvergangenheit und holt sie zu Hilfe. Die Finessen der Neuzeit sind überflüssig, man kommt viel besser ohne sie aus, sie machen nur alles komplizierter. Der Mensch will eine klare Antwort wissen, und eine, die sich gleichbleibt. Eine schwankende Antwort ist nicht zu gebrauchen. Für verschiedene Fragen gibt es verschiedene Sätze. Es soll ihm einer eine Frage sagen, auf die er keine passende Antwort fände. Der Gottprotz führt ein geregeltes Leben und verliert keine Zeit. Wenn die Welt um ihn einstürzt, er hat keine Zweifel. Der sie eingerichtet hat, wird sie im allerletzten Augenblick vor dem Untergang erretten; und wenn sie sich nicht erretten lässt, wird er sie 21
Wittgenstein, L., ebd., S. 167f, 383.
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nach der Zerstörung wiederaufbauen, damit sein Wort bestehen bleibt und recht behält. Die meisten gehen zugrunde, weil sie nicht auf sein Wort hören. Die aber auf sein Wort hören, gehen nicht wirklich zugrunde. Aus jeder Gefahr ist der Gottprotz noch gerettet worden. Um ihn sind Tausende gefallen. Aber er ist da, ihm ist nie etwas geschehen, soll das nichts zu bedeuten haben? Der Gottprotz in seiner Demut hält sich nichts darauf zugute. Er kennt die Dummheit der Menschen und bedauert sie, sie könnten es so viel leichter haben. Doch sie wollen nicht. Sie meinen in Freiheit zu leben und ahnen nicht, wie sehr sie sich selbst versklavt sind. Wenn der Gottprotz zornig wird, bedroht er sie, nicht mit seinen Worten. Es gibt bessere Worte, die Menschen zu peitschen. Dann stellt er sich mit geblähtem Stimmsack auf, als stünde er persönlich am Sinai oben und donnert und droht und speit und blitzt und erschüttert das Gesindel zu Tränen. Warum haben sie nicht auf ihn gehört, wann werden sie endlich auf ihn hören? Der Gottprotz ist ein schöner Mann, mit Stimme und Mähne.“22
B. „Atheistisch glauben“? – Konturen eines säkularen, elementaren Glaubens „Die Liebe ist ebenso wertvoll wie das Gebet. Mitunter wertvoller.“ – Elie Wiesel23 „Das Verlangen nach einem starken Glauben ist nicht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegenteil. Hat man ihn, so darf man sich den schönen Luxus der Skepsis gestatten.“ – Friedrich Nietzsche24
1. Welcher Gott tot ist … „Wir sagen uns, es wäre ja sehr schön, wenn es Gott gäbe als Weltenschöpfer und gütige Vorsehung, eine sittliche Weltordnung und ein jenseitiges Leben, aber es ist doch sehr auffällig, dass dies alles so ist, wie wir es uns wünschen müssen. Und es wäre noch sonder-
Canetti, E., Der Ohrenzeuge. 50 Charaktere, Frankfurt a. M. (20. Aufl.) 2007, S. 77-78. Wiesel, E., Die Nacht zu begraben, Elischa, München 2005, S. 244 (aus der Erzählung „Tag“). 24 Nietzsche, F. W., Götzen-Dämmerung, aus: Rosset, C., Das Prinzip Grausamkeit, Berlin 1994, S. 45. 22 23
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barer, dass unseren armen, unwissenden, unfreien Vorvätern die Lösung all dieser schwierigen Welträtsel geglückt sein sollte.“ – Sigmund Freud25 „Das wahre Gepräge einer Epoche ist am zuverlässigsten an dem in ihr herrschenden Verhältnis zwischen Religion und Realität zu erkennen.“ – Martin Buber26
Für Nietzsche bedeutet der Tod Gottes, dass alle Koordinaten des Weltbildes neu vermessen werden müssen, das Meer wieder offen und gefährlich ist, dass die alten Sicherheiten nicht wirken und eine Ausfahrt wieder neu zum Abenteuer wird.27 Nietzsche stellte die Diagnose vom Tode Gottes, blieb aber von religiösen Fragen bewegt; er wird inzwischen als durchaus religiöser Denker geschätzt, auch wenn man ihn früher eher als „Antichrist“ ansah. – Jürgen Habermas versteht Nietzsche als „Drehscheibe zur Moderne“28, Nietzsche eröffnet also einen Zugang zur Moderne, ein angemessenes Verständnis von Säkularisierung überhaupt. Die Frage kommt auf, was von Religion nach dem „Tod Gottes“ übrigbleibt. Es lässt sich allgemeiner fragen, inwieweit Theologie/Rede von Gott nach Nietzsche möglich ist, ob es einen säkularen/weltlichen Glauben gibt, wie eine Religion/Theologie aussieht, die die Säkularisierung ernst nimmt und Nietzsche nicht ausweicht. Die Diskussion um eine säkulare Theologie, eine Rede von Gott nach dem nietzscheschen Tod Gottes, wurde bereits in der christlichen Theologie seit den 1960er Jahren geführt. In den USA, aber auch in Europa, gab es eine „God-is-dead-theology“, die sich in vielen Spielarten entfaltete. G. Vanhanian, P. v. Buren, Th. J. J. Altizer, D. Sölle, V. Braun, H. Cox usw. sind Vertreter dieser Denkrichtung. Die Frage nach einer „Theologie nach Nietzsche“ wurde bis heute nie ad acta gelegt: Als neuere Gott-ist-tot-Theologen sind sicher auch Mark C. Taylor, ein Schüler von Altizer, oder Don Cupitt zu bezeichnen. Die Philosophen B. Latour, J.-L. Nancy, G. Vattimo, G. Agamben oder auch R. Barthes, S. Žižek und viele andere skizzieren ebenso eine säkulare Theologie. Die Positionen der einzelnen Denker/Theologen sind verschieden, aber man kann wohl einen Konsens ausmachen: Freud, S., Die Zukunft einer Illusion, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1974, S. 167. 26 Buber, M., Gottesfinsternis, aus: ders., Werke, Bd. 1: Schriften zur Philosophie, Heidelberg 1962, S. 511. 27 Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt (3. Aufl.) 1988, S. 219-220, Nr. 343; Nietzsche interpretiert hier die Botschaft des „tollen Menschen“, der am helllichten Tag mit einer Laterne in der Hand auf dem Marktplatz Gott sucht. Dieser verkündet, als er von den Passanten verlacht wird, den Tod Gottes und versucht das ungeheure Ereignis mit Bildern zu beschreiben. Er meint, er komme „zu früh“, und beschwört die Leute, sie müssten einsehen, dass sie die „Mörder“ Gottes seien (ebd., S. 137-139, Nr. 125). Der antike Diogenes suchte bereits in ähnlicher Weise nach dem Menschen. 28 Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1991, S. 104-129. 25
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– In der heutigen Gesellschaft ist die Rede von Gott nicht mehr selbstverständlich, die Existenz Gottes ist in radikaler Weise fraglich geworden – „Gott“ kommt im modernen Leben nicht (mehr) vor, Religion wird vielfach im Alltag zur Privatangelegenheit … – Die Rede von Gott muss sich neu ausrichten, ein neuer Zugang zu theologischen/religiösen Themen gesucht werden.29 – Die Säkularisierung, die Trennung oder Entflechtung von Kirche/Religion und Staat hatte für die Religion keineswegs nur negative Seiten; sie wirkte sogar heilsam. Der Theologe F. Gogarten oder der französische Philosoph J.-L. Nancy vertreten die Position, dass das Christentum diese Trennung und letztlich die Selbstschwächung der Religion und die Kritik klerikaler oder sakraler Macht selbst provoziert und eingeleitet hat. – Religionskritik ist eine interne/ureigenste Angelegenheit der Religionen, vor allem ihrer prophetischen Traditionen. Die Säkularisierung wirkt positiv, indem sie Religionen auf ihre wesentliche Aufgabe zurückverweist und diese nun den Einzelnen nicht mehr zwingen können, sondern ihm Entscheidungsspielraum und Freiheit lassen müssen. Religionsfreiheit ist die unverzichtbare Basis moderner religiöser Praxis (cf: „In der Religion darf es keinen Zwang geben“; Sure 2,256)30. Die Option, sich nicht mit Religion zu beschäftigen, ist achtenswert, braucht keine weitere Rechtfertigung und darf natürlich nicht sanktioniert werden. Einen Überblick über die einzelnen Positionen vermittelt Hasenhüttl, G., Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 1980, (zu: Nietzsche: S. 135–138; zur Gott-ist-tot-Theologie: S. 183–207). Er unterscheidet zehn unterschiedliche Auffassungen des Satzes: Gott hat nie existiert; falsche Bilder sind passé, die Gottesvorstellung muss sich wandeln; der Mensch trifft nie Gotteswirklichkeit mit seinem Sprechen, Gott verbirgt sich stets; das Sterben ist notwendig für die Neugeburt Gottes; der geschichtliche Gott ist in der Moderne gestorben, Gott stirbt und wird durch Jesus, seinen Geist vertreten. Die Positionen reichen von Atheismus, theologischer Sprachkritik, Kritik subjektiver Glaubensvorstellungen, Kritik der religiösen Institutionen zu metaphysischen prozesstheologischen Ansichten, die von einer Entwicklung Gottes ausgehen und Jesus als bleibende Glaubensmitte betonen. Der Theologie wird in jedem Fall eine Reduktion ihrer Erkenntnisansprüche empfohlen. Für die christlichen Theologen ist die Menschwerdung Gottes ein Wendepunkt der Geschichte, Gott ist mit diesem Ereignis vor allem als Mitmenschlichkeit denkbar. 30 Wie der Koranvers gegenüber anderen Stellen, die Intoleranz nahelegen, stark gemacht und Religionsfreiheit in vollem Umfang im Feld islamischer Orthodoxie eingelöst werden kann, ist hier nicht das Thema. Es geht um Schwerpuntktsetzungen, eine Lesart von Religion, die mystische Traditionen, säkulare Neuinterpretationen stärkt (vgl. Ourghi, A.-H., Reform des Islam, 40 Thesen, München 2017). Gegen Vereindeutigungstendenzen erinnert Thomas Bauer an den Ausspruch Mohammeds, wonach die Kontroverse (und damit Dialog und offener Meinungsstreit) ein Segen für die Gemeinde darstellt (vgl. Bauer, Th., Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018, S. 39). Al-Ghasali zitiert in seinem „Elixier der Glückseligkeit“ Fudail: „Ein Blick von Liebe und Zärtlichkeit in das Angesicht des Bruders, das ist Gottesdienst“ (München (6. Aufl. 1996, S. 80); ähnlich klingt es bei dem alevitischen Sufi Haci Bektas-i Veli, der den Menschen als eigentliche Kaaba ansah. Sein Ausspruch lautet: „Meine Kaaba ist der Mensch.“ Ähnlich zitiert der Islamwissenschaftler Frembgen einen pakistanischen Sufi: „Der steht Gott am nächsten, der den größten Spielraum gewährt.“ Man darf sich also veranlasst sehen, Christentum, Judentum und Islam mit Blick auf ein impli29
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„Das moderne Europa ist deshalb einzigartig, weil es die einzige Zivilisation ist, in welcher der Atheismus eine gänzlich legitime Position ist und nicht bloß Ärgernis der öffentlichen Meinung. Der Atheismus ist ein zutiefst europäisches Erbe, und er ist es wert, dass man für ihn kämpft.“31
Der entscheidende Schritt zu einer breiten Wahrnehmung der neuen theologischen Positionen war das Buch „Honest to God“ („Gott ist anders“, eigentlich: Aufrichtig vor Gott, London 1963), in dem der anglikanische Bischof von Woolwich John A. T. Robinson das Erfordernis einer Neuausrichtung der Theologie, die Entleerung traditioneller theologischer Formeln zu Floskeln offen ansprach.32 Es kommt Robinson darauf an, an der Welt teilzunehmen, sie nicht abzulehnen; vom christlichen Standpunkt her ist nicht der religiöse Akt/Ritus entscheidend, sondern das Mitleiden an der Ohnmacht Gottes in der Welt. Robinson bezieht sich vor allem auf D. Bonhoeffer, P. Tillich und R. Bultmann als Gewährsleute für einen Neubeginn einer wahrhaftigen, zeitbezogenen Theologie. Robinson fordert, dass das Christentum sein überkommenes, zerschlissenes Gewand auszieht und wechselt. Er plädiert für eine entmythologisierte, existential-interpretierte Religion, „sakrale Säkularität“ oder „geheiligte Weltlichkeit“, für einen religionslosen Glauben, wie es Bonhoeffer forderte: „Beten heißt für ihn, sich dem Grund unseres Seins öffnen und bereit sein.“33 Religionsloser Glaube bedeutet also nicht das Ende des Christentums oder der Religion allgemein, sondern seine Umformung, Aktualisierung und Konzentration. Auch Robinsons Frau Ruth argumentiert ähnlich; sie nimmt zu Problemen der Erziehung Stellung und wehrt sich dagegen, dass Kinder im Glauben an den Weihnachtsmann, einem bruchlosen Glauben, in dem alles aufgeht, belassen werden. Sie schlägt vor, Kindern durch Rückfragen dazu zu verhelfen, die eigenen Fragen selbst zu beantworten und zu einer ihnen gemäßen Antwort zu kommen. – Bonhoeffer sieht das Christentum gar nicht als Religion, sondern als Offenbarung, das religiöse Kleid kann oder muss es ablegen, um weiterhin für den Menschen relevant zu sein: Während Religionen – nach Bonhoeffer – von
zites Religionsverständnis näherzubringen und ihre große Relevanz im Alltag, ihren mitmenschlichen Erfahrungsbezug zu betonen. 31 Žižek, S., Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen, Hamburg 2011, S. 123. 32 Vgl. Robinson, J. A. T., Gott ist anders, München 1964, ders., Kann man heute kein Atheist sein? Der Glaube post mortem dei, in: Kontexte. Bd. 1. Stuttgart 1965, S. 5–15; ders., Eine neue Reformation?, München 1964; ders., Heute ist der Christ anders, München 1972; ders., Fragwürdig – glaubwürdig, München 1968. 33 Ders., Gott ist anders, S. 105f. „Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung [adoration, Bewunderung].“ (Wittgenstein, zit. n.: Nancy, J.-L., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012, S. 7).
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einem starken Gott sprechen, verweist das Christentum an einen schwachen Gott, der mit den Menschen mitleidet. Nancy betont hier religionsübergreifend die grundsätzliche Relevanz der Monotheismen und meint, dass die monotheistische Einzigkeit Gottes nicht eine Alternative zu anderen Göttern bedeutet, sondern eine grundsätzliche Entmachtung des Pantheons. Gott ist nicht vergleichbar, er ersetzt nicht einfach die vormaligen Götter und führt auch nicht das Werk früherer Religionen fort. Gottes Einzigkeit bedeutet, dass Gott nicht mehr als Wesen oder Seiendes zu begreifen ist. Er ist kein anderer, weiterer Gott und zugleich der Natur transzendent und abwesend. Der Monotheismus ist ein „Absentheismus“, er ist die Antwort auf den „Fortgang der Götter“, die Entgötterung der Welt. Der Mensch ist nun allein auf sich gestellt, einem Rätsel oder Geheimnis überlassen, dem Entzug Gottes. Gottes Rückzug bedeutet, dass sein Name durchstrichen zu denken ist. Die Totalität und Universalität monotheistischer Wahrheit erreicht eine radikale Gleichheit aller Menschen; sie kann aber auch, wenn diese Lücke mit Machtansprüchen gefüllt wird – trotz Trennung von Politik und Religion –, „ein neues Kriegsprinzip“ bedeuten. Das wäre problematisch, denn so wird die im Monotheismus heilsame Desakralisierung oder Verweltlichung der Welt verschleiert. Für Nancy verwandelt der Monotheismus Verlassenheit in Heil, er beinhaltet die Religion der Lücke, die den Menschen erst einen Gestaltungsraum lässt. Nancy betont das Negative des Monotheismus, der den Menschen verbietet, sich ein Bild von Gott zu machen: „Der Monotheismus ist par excellence die Religion, die sich in ihrem Inneren selbst ausschließt.“34 Es kommt nach Nancy nicht darauf an, den Monotheismus zu demontieren, vielmehr das in ihm liegende Verdrängte und Verleugnete zu betonen, das Potential der Selbstkritik (der Selbstdekonstruktion), die Kritik jedes positiven Namens; die Fremdheit und der Entzug Gottes dürfen nicht vergessen werden. Gemäß Nancys „Dekonstruktion“ muss man die eigenen Traditionen gegeneinander antreten lassen und ihre Gegensätzlichkeit ausspielen. Eine Verharmlosung der Bilderkritik, der Offenheit und Negativität des Gottesbegriffs gilt es unbedingt zu vermeiden, will man die Religion nicht verniedlichen oder zu einer naiven Ideologie verkommen lassen. Der Ansatz erinnert an Weischedels Ansatz, der Gott als „Woher der Fraglichkeit“ bestimmt hat, Gott also vom Aufbrechen der Frage her versteht, die das Selbstverständliche irritiert und ad absurdum führt. Auf alle Fälle wirkt die Negativität Gottes, seine Fremdheit als „Katalysator“ der eigenen Fragen, sie dynamisiert überkommene Vorstellungen. In den Strudel geraten die, die alles allzu selbstsicher zu wissen glauben und sich nicht mehr überraschen lassen wollen. Religionen haben Gott nicht wie einen Besitz; gerade dieser Besitzanspruch ist ein Anlass zur Religionskritik. Religion oder Religionskritik bedingen also einander, klare Oppositionen wandeln sich in Konstellationen der Verwandtschaft. Religion lässt also keinen Platz für „Gottprotze“ 34
Nancy, J.-L., Philosophische Chroniken, Berlin 2009, S. 27.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
(Canetti), für die, die Wahrheit wie ein Ding fest zu haben scheinen oder Religion wie alles andere kritiklos konsumieren. Der Tod Gottes impliziert also nicht nur radikale Neuinterpretationen auf der Ebene der Mythen/Dogmen, des theoretischen Selbstverständnisses, sondern auch auf der Ebene des Ritus, des persönlichen Glaubensvollzuges. Sölle stellt wie bereits Hegel das Zeitungslesen als zeitgemäße Form des Gebets vor, insofern dieses sich des Gesamtzusammenhangs vergewissert.35 Beim Lesen der Gräuel der Kriege, Anschläge und Attentate denkt man an die zahllosen Opfer und erhofft sich Trost und Hilfe für die im Elend Befindlichen. Der „Gesamtzusammenhang“ der Solidarität und Verbundenheit mit allen könnte bereits als ein Name für Gott, für den Wurzelgrund/Sinn des Lebens, gelesen werden. Auf die Frage „Welchen Atheisten schätzen Sie?“ antwortet Kurt Appel, ein Wiener Theologieprofessor, sehr schön: „Vielleicht ist heute die erste Frage nicht die, ob jemand sich als Theist oder Atheist bezeichnet, sondern die Frage, ob jemand in seinem Leben oder Denken Zeugnis für die Transzendenz, Verletzlichkeit und Unverfügbarkeit des Lebens abgibt. In diesem Sinn will ich mich nicht zum Urteilenden über den Theismus oder Atheismus anderer machen.“36
In einem radikalen Sinn sieht auch der Religionsphilosoph E. Lévinas den Atheismus als Basis für eine aktuelle sinnvolle Theologie. Die vorsichtige Zurückhaltung im Umgang mit Andersdenkenden, das Vermeiden von einfachen Denkschablonen und die Offenheit als religiöse Grundhaltung kennzeichnen die Gespräche der Geistlichen in Dostojewskis Romanen. So meint Bischof Tichon in den „Dämonen“: „Ein vollständiger Atheist steht auf der vorletzten Stufe zu vollständigstem Glauben (ob er nun auch die höchste betritt oder nicht, gleichviel) …“37
Sölle, D., Atheistisch an Gott glauben, München (3. Aufl.) 1994, S. 94. Appel, K., Fragebogen Theologie für die Gegenwart, in: ChrGeg Nr. 5/2013, S. 60. Ähnlich deutlich fällt das Statement von Schwester Waltraud Herbstrith OCD auf die Frage „Begegnen Sie Gott ‚real‘ in der Heiligen Messe?“ aus: „Was haben Sie da für komische Vorstellungen? Ich begegne dort Gott nicht anders als jetzt im Gespräch mit Ihnen …“; vgl. Marthé, P. J., Herbstrith, W., Schweigen, Loslassen, Eintauchen in den Ozean der Freude, in: Marthé, P. J. (Hg.), Die heilige Messe. kultisch szenisch mystisch, Würzburg 2011, S. (55–79) 72. 37 Dostojewski, F. M., Die Dämonen, München Zürich (15. Aufl.) 1985, S. 600. 35 36
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Martin Buber antwortet in ähnlicher Weise der Dichterin Mascha Kaléko, die für ihren 20-jährigen Sohn um eine religiöse Wegweisung gebeten hat: „Einen allgemein lehrbaren ‚Weg‘ gibt es gar nicht. Die jungen Leute, von denen Sie schreiben, kriegen es nicht billiger, als dass sie sich, jeder in den eigentümlichen Situationen seines persönlichen Lebens, bewähren und mit den Wesen und Dingen, denen sie begegnen, heiligen Umgang pflegen. Andere Lehren mögen ‚günstigere Angebote‘ machen … Alle ‚Anweisungen‘ führen in die falsche Sicherheit hinein, die schlimmer ist als die echte Verzweiflung.“ (Brief vom 5.11.1957)38
2. Säkularisierung – Ende der Religion? „Ein Wollen, das über die Kräfte des Individuums hinausgeht, ist modern.“ – Johann Wolfgang von Goethe39 „Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht Gott sein: Ihr Jammer würde mir das Herz zerreißen.“ – Arthur Schopenhauer40 „Wir sind andere Menschen geworden. Wir sehen zwar noch so aus, haben aber nichts mehr damit zu tun. … Manchmal glaube ich, dass wir den Himmel verdient haben, allein schon, weil wir in dieser Zeit leben.“ – Cees Nooteboom41
a) Was meint „Säkularisierung“? Die Trennung von Religion und Staat, die Privatisierung des Glaubens, der Bedeutungsverlust der Religion in der Gesellschaft wurde mit der Verweltlichung/Säkularisation/Überführung kirchlicher Güter und Ländereien in weltlichen-staatlichen Besitz unumkehrbar; Napoleon verstaatlichte 1803 Kirchengüter, um die deutschen Fürsten für den Verlust linksrheinischer Gebiete Buber, M., zit. n.: G. Zoch-Westpfahl, Nachwort, in: Kaléko, M., Die paar leuchtenden Jahre, München 2003, S. 322. 39 Goethe, zit. n: Nünning, A. (Hg.), Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart Weimar (4. Aufl.) 2008, S. 509. 40 Schopenhauer, A., (Handschriftlicher Nachlass III, 57), zit. n.: Fleiter, M. (Hg.) Die Wahrheit ist nackt am schönsten. Arthur Schopenhauers philosophische Provokationen, Frankfurt a. M. 2010, S. 99. 41 Nooteboom, C., Rituale, Frankfurt a. M. 1983, S. 195. 38
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4.1 „Religion ohne Religion“?
zu entschädigen. Der politische Schock wurde in der katholischen Kirche als tiefe Irritation und Kränkung empfunden und mit einigen Rückwärts- und Abschottungsbewegungen (Ultramontanismus, fundamentalistischer Regression) beantwortet.42 Mit der Emanzipation der Wissenschaften, der Rationalisierung, der Entwicklung moderner Bürokratien setzt sich für den Soziologen Max Weber die Entzauberung der Welt fort; die wissenschaftliche Weltdeutung eliminiert bunte und skurrile Mythen, sie reduziert religiöse Texte zunächst auf den Status von Fiktionen; mit ihr geht eine Enttraditionalisierung einher, der Verlust kollektiv geteilter Einstellungen, expliziter Glaubensformen. Religion wird Privatsache, sie wird aus der Mitte der Gesellschaft herausgedrängt. Religion wird eher implizit; explizite Formen der Religion müssen sich auf alle Fälle der öffentlichen Beobachtung und kritischen Kommentierung aussetzen. – Die Säkularisierung wird oft gleichgesetzt mit Moderne/Modernisierung, der Herausbildung einer funktional differenzierten Gesellschaft; für Niklas Luhmann ist die soziale Umstrukturierung und Neuordnung der Gesellschaft aber elementarer als die Säkularisierung; Religion stellt nicht mehr das Leitmedium oder die alleinige Sinngeberin der Gesellschaft dar, sie wird zu einem Teilsystem neben Wirtschaft, Recht, Kunst, Familie, Politik usw. degradiert, die alle eine jeweils eigene Logik und Funktionsweise ausbilden. Moderne meint für Luhmann, dass sich alle Teilsysteme gegeneinander abschließen (immunisieren), eigene Codes ausbilden. Säkularisierung bedeutet also eine Erfahrung der Destabilisierung, das Aufkommen eines Orientierungsproblems. In diesem Sinn spricht schon Nietzsche in dem bereits zitierten Gleichnis vom „tollen Menschen“ davon, dass die Erde von der Sonne losgekettet, der Horizont weggewischt ist. Dabei hat die neue Situation anthropogene Ursachen, die Menschen haben nach Nietzsche Gott getötet, über die Tatwaffe kann spekuliert werden. Die historisch-kritische Methode, die nach der sozialen Genese und Konstruktion von Sinnsystemen fragt, kann als eine Art Corpus Delicti angesehen werden; Geheimnisse können nicht konstruiert, nur dekonstruiert werden (Luhmann): Wenn man sich die historische Entwicklung von Religionen ansieht, verlieren sie (möglicherweise) die Aura des Unanfechtbaren, die Patina des Erhabenen, den Schleier des Einmaligen/Besonderen. Nietzsche nimmt die Funktionsweise von Religion unter die Lupe und in einer religionsvergleichenden Perspektive werden Muster und Kontinuitäten deutlich. Strategien von religiösen Machteliten, die Verbreitung des Ressentiments und die Implementierung des schlechten Gewissens, werden beobachtbar. Nietzsche kritisiert häufig die Inszenierung und Uminterpretation von Heilserfahrungen in ungeschichtliche, zeitlose Leitsätze/Dogmen, die durch die Betrachtung des historischen Kontextes wiederum relativiert werden müssten.
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Die folgenden beiden Abschnitte wollen auf Themen Bezug nehmen, die die Schüler vom Vorjahr kannten und haben nicht den Anspruch, die Säkularisierungsthese nochmals umfassend aufzurollen, eher durch ein „name dropping“ Assoziationen an frühere Inhalte/Diskussionen wachzurufen.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
„[Die Gesellschaft] erträgt keinen Abschlussgedanken, sie erträgt deshalb auch keine Autorität. Sie kennt keine Positionen, von denen aus die Gesellschaft in der Gesellschaft für andere verbindlich beschrieben werden könnte. Es geht daher nicht um Emanzipation zur Vernunft, sondern um Emanzipation von der Vernunft, und diese Emanzipation ist nicht anzustreben, sondern bereits passiert. Wer immer sich für vernünftig hält und dies sagt, wird beobachtet und dekonstruiert.“43
Das Zitat Luhmanns verdeutlicht mit Blick auf die Mediengesellschaft, was Nietzsche in seinem Aphorismus bereits über den letzten Menschen und den Tod Gottes beschrieben hat. Der Verlust bisheriger Koordinaten, die eine Orientierung ermöglichten, lässt den Wahnsinn der Vernunft und die Irrationalität und Widersprüchlichkeit seiner Zeit hervortreten. Es fehlt in der Moderne der eindeutige Referenzrahmen, die bisherige Verankerung im Absoluten. Die Ideen des Fortschritts, des Subjekts, des Neuen oder der klassenlosen Gesellschaft werden zeitweise zu neuen Leitsternen der Gesellschaft; Moderne bedeutet aber die endgültige Relativierung von Ansichten und Optionen, die auf ihren Kontext befragt werden und permanenter Beobachtung ausgesetzt sind. Taylor meint lakonisch: „God dies and is reborn as money”44. Neue „god terms”, Letztbegriffe, die an die Stelle der Religion treten, sind nicht nur das „Geld“, sondern auch die „Familie“ oder die „Gesellschaft“ – oder auch „Jugend“ und „Gesundheit“ werden zu Ersatzreligionen. Herbert Marcuse spricht bei dem Säkularisierungsphänomen von repressiver Entsublimierung, von einem gewaltvollen Bindungsverlust, einem Wirkungslos-Werden der Religionen, das allen Gesellschaften zugemutet wird. Für Odo Marquard ist die Moderne vor allem Gewaltenteilung, die Ersetzung des christlichen Monomythos durch Rückkehr zu einem nichteliminierbaren Polytheismus. Die Macht des monotheistischen Monomythos ist gebrochen. Freiheit bedeutet für ihn nicht das Fehlen von Abhängigkeiten, vielmehr erreicht die Pluralität der Determinanten das glückliche Ende einer singulären (religiösen) Überbeanspruchung, die für Marquard letztlich sogar die Integrität des Subjekts bedrohen kann. Wenn Moderne nicht allein über Säkularisierung erklärt werden kann, so bietet es sich an, auf die großen Erzählungen von Fortschritt, Emanzipation oder Aufklärung zu verweisen, die nach J.-F. Lyotard schließlich mit der Postmoderne zu einem Ende gekommen sind: Der Siegeszug der Wissenschaft und Technik impliziert eine Reduktion der Erklärungsansprüche eines Weltbildes, das mit den Grundlagen der Moderne unvereinbar ist.
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Luhmann, N., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 42. Taylor, M. C., Saarinen, E., Imagologies. Media Philosophy, New York 1994, S. electronomics 4–5. (Da das Buch keine durchgehenden Seitenzahlen hat, muss die Seitenangabe das Kapitel anführen.)
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Die Moderne ist für Sloterdijk die Epoche des Unternehmers, des Mobilisateurs, des Selbsthelfers. Die gesamte Welt ist für das Subjekt zum Gebrauch und zur Nutzung vorhanden. Das Subjekt macht sich zum Mittelpunkt der Welt, dem alles zur Verfügung steht: „Modern ist, wer glaubt, dass man bis ins Äußerste etwas anderes tun kann, als sich an Gott und höhere Gewalten hinzugeben.“45 Postmodern wäre, wer sich auch an das rein Innerweltliche hält, aber den Glaubenscharakter dieser Einstellung betont und vor dem Ungeheueren/den Abgründen menschlicher Möglichkeiten erschrickt.46 Sloterdijks Verständnis der Moderne als „Hyperscholastik“47 spiegelt die Dauerstresssituation und den Anpassungsdruck des Subjekts, das permanent gefordert ist umzulernen. Moderne weitet die Grenzen der Schule aus und macht aus der Welt insgesamt einen „Trainingsraum der Fähigkeiten des Subjekts“: „Die ganze Welt ist eine Schule.“48 In der Umschreibung der modernen Situation der Selbstdisziplinierung und Stresssteigerung klingt Sloterdijks alte These von der Moderne als Epoche oder Haltung der Mobilmachung/Mobilisierung an (vgl. Kapitel 4.2). Geschwindigkeit und die Verschnellerung aller Prozesse bedeuten in erster Linie eine Verschärfung der Methoden der Disziplin und der Kontrolle.49 George Steiner beschreibt die Moderne als eine Erfahrung der „Unzugänglichkeit“, als die „Wirklichkeit der Ent-schöpfung“.50 Wenn Fundamentalismus das Hantieren mit selbstimmunisierenden Kokons und erfahrungsenthobenen Letztgültigkeitsbastionen, die Leugnung von Destabilisierungserfahrungen beinhaltet, gehört es dagegen zu den Zumutungen der Moderne, sich den Infragestellungen oder Bedrohungen auszusetzen. Steiner redet in diesem Zusammenhang auch von Selbstschwächung, von einer immer neuen Kritik der Begründung des Subjekts und seiner Grundlagen. Der modernen Ästhetik geht es um das Ausloten des Abgrunds, um eine Beschreibung des Sogs einer „dunklen Materie“.51. Die Strategien der Moderne verleugnen nicht mehr die Lücken und Leerstellen des wissenschaftlichen Weltbildes. Zur Strategie der Moderne gehört es, dass Stabilisierungen nur mit größeren Destabilisierungen erkauft werden (N. Elias). Dies gilt vor allem für den Siegeszug der Technik (Urbanisierung, Industrialisierung), wobei die Medientechnologie Sloterdijk, P., Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluß an einige Motive bei William James; in: James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S. 12. 46 Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 155, 159, 167. 47 Sloterdijk, P., Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 567. 48 Ebd., S. 551. 49 Ders., Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987. 50 Steiner, G., Gedanken dichten, Berlin 2011, S. 114, 170. 51 Ebd., S. 43. 45
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die Gesellschaften am augenfälligsten im Sinne einer Pluralisierung überformt. Agambens Buchtitel „Mittel ohne Zweck“52 beinhaltet eine weitere Charakterisierung der Moderne, die auf G. Simmel zurückgeht. Die Moderne multipliziert die Mittel, ohne sie hinreichend in Sinn-/ Wert- und Bedeutungszusammenhänge einbetten und bändigen zu können. F.-X. Kaufmann beschreibt die Konsequenzen dieser Auflösung der gemeinsam geteilten Orientierungsmuster als Moderne.53 Mit P. L. Berger könnte man von einer Nomisierungskrise sprechen, es gibt ein Leck an Ordnung (nomos) und Sicherheit in ideologischen Belangen, vorgegebene Programme zur Kontingenzbewältigung stehen unter Rechtfertigungsdruck; dem vereinzelten und überforderten Subjekt wird zugemutet, sich selber neue/fehlende Sinn-Strukturen zu erarbeiten. Bazon Brock meint: „Säkularisierung durch technische Evolution bedeutet, dass die Menschen sich selber das Wirkungspotential der Natur oder der Götter aneignen … Die Säkularen meinen nun, diesen Bereich der Unverfügbarkeit durch technische Manipulation, durch Eingreifen, durch Kultivation, durch systematische Betimmung ersetzen zu können.“54 Die mit dem Bereich Gottes als dem Bereich des Unverfügbaren verbundene Hoffnung auf Erlösung erfährt auch eine spezifische moderne Ausgestaltung: Brock nennt die Apokalypse (die Endzeitstimmung, das Leben am Ende einer Epoche oder kurz vor dem totalen Zusammenbruch) als typisches Kennzeichen der Moderne: „‚Moderne‘ heißt also nichts anderes als diese beiden Programme, Diesseitiges und Jenseitiges, in ein Bild zusammenzuzwingen.“55 Die Moderne braucht ihm zufolge aber auch das Opfer, den letzten Beleg der Beglaubigung; und die apokalyptische Moderne erscheint als eine Phase der Prüfung. (Apokalyptische Literatur erfüllt eine Trost-Funktion, das Durchhalten und Ertragen der Situation der Bedrängnis zu erreichen. Das wäre auch der Effekt der zahlreichen Weltuntergangsfilme.) Das Zusammenzwängen von Diesseitigem und Jenseitigem in ein Bild sprengt dieses natürlich auf und eine Synthese misslingt. Die Überfrachtung mit Heilshoffnungen und innerweltlichen Erlösungsphantasien erweist sich als unerfüllbar. Das Hypertrophe sowie das Abgründige, der Nihilismus der Moderne müssen Brock zufolge offengelegt werden. In der Diktion der Frankfurter Schule bannt die Moderne die Macht des Mythos, sie schafft aber zugleich auch einen neuen Mythos. Die mythische Gewalt ist nur durch ein Aufbringen größerer Gewalt zu bannen. – Die Rede von der „Dialektik der Aufklärung“ Agamben, G., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Zürich Berlin (2. Aufl.) 2006. Kaufmann, F.-X., Religion und Modernität, Tübingen 1989, S. 193: „Mit dem Verschwinden gemeinsam geteilter Auffassungen eines exemplarisch richtigen Lebens wird der Mensch gezwungen, sich selbst zu erfinden. Das habe ich eingangs als den Ernstfall der Moderne bezeichnet.“ 54 Brock, B., Kunstreligion und Aufklärungspathos – Zwischen Kunst als Kirche und Kirchenkunst, in: Blume, A. (Hg.), Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion, Freiburg München 2007, S. (187–207) 196f. 55 Ebd., S. 197. 52 53
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meint das Zutage-Treten des Mythos der Moderne, das anderswo auch schon als Postmoderne beschrieben wird. Wie S. J. Schmidt Postmoderne als die medienreflektierte Moderne beschreibt, so wäre sie hier als die mythenreflektierte Moderne zu bestimmen, die Reflexion der der Moderne inhärenten Mythen: Wie die mythische Unmittelbarkeit gebrochen ist, so wirkt auch Aufklärung mythisch. „Der Mythos ist demnach das Reale des Logos, der fremde Eindringling, der sich niemals loswerden lässt und doch niemals bleibt“, „die Wiederkehr der mytho-poetischen barbarischen Urgewalt“ kann nicht anders als verstören.56 – Während die Moderne die Lücken der klassischen Erzählung aufzeigt, wäre für Žižek Postmoderne dann der (verzweifelte) Versuch, sie sekundär zu füllen. – In jedem Fall bedeutet Moderne immer das Nebeneinander von verschiedenen Optionen, das Fehlen klarer Wertorientierungen, Ambivalenz und Unübersichtlichkeit; viele religiöse Prediger schimpfen auf den angeblichen Relativismus und die Beliebigkeit, auf P. Feyerabends provokantes Schlagwort „anything goes“. Der Plural, der die Moderne ausmacht, wird dabei nicht selten schon als Auflösung oder Nachfolgestadium der Moderne verstanden.57 Man könnte die Reihe der Versuche, Säkularisierungseffekte zu umreißen, fortsetzen. Nicht zuletzt gibt es einige Soziologen, die die These eines sich fortsetzenden Säkularisierungsprozesses infrage stellen; schließlich beweise ja die USA als Inbegriff westlicher Kultur oder auch Südkorea, wie sehr Religion ungebrochen einen zentralen öffentlichen Platz innehabe.58 Gerade der Soziologe Hans Joas rehabilitiert die Erfahrung des Heiligen in der modernen Gesellschaft.59 Auswirkungen, die vormals der Säkularisierung zugeschrieben werden, werden der Moderne angelastet oder ein differenzierter Blick macht ein Persistieren religiöser Anliegen hinter den Krisen etablierter Konfessionen aus.
Žižek, S., Totalitarismus, Hamburg 2012, S. 38. Mishima, K., Fünf Thesen zur Vielfalt der Moderne, in: Frankfurter Positionen 2013. Festival für neue Werke (Programmheft), S. 34–37. 58 Joas, H., Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums., Freiburg i. Br. 2012, S. 118ff., S. 124. Die These von der Zwangsläufigkeit von Modernisierung und Säkularisierung sieht Joas als Teil der kulturprotestantischen Geschichtsdeutung, ebd., S. 87. 59 Joas, H., Was ist uns noch heilig?, in: Christ und Welt vom 14.12.2017, Nr. 52, S. 3–4 (vgl. auch ders., Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Verzauberung, Berlin 2017) übernimmt nahezu den Ansatzpunkt der relationalen Theologie, die mit der Selbsttranszendenz startet, um die Vereinbarkeit von Glaube und Zeitgenossenschaft herauszustellen. Jedoch geht seine symbolische Deutung der Religion nicht weit genug, es kommt nicht zu einer symbolischen Deutung des Gottesbegriffs/der Gebetssprache; denn er grenzt zu sehr das religiöse Glauben von dem alltagsverankerten Transzendieren ab. Joas’ Anliegen der Abwehr der Psychologisierung oder empiristischen Auflösung der Erfahrung deckt sich ebenfalls mit den relationaltheologischen Intentionen. 56 57
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b) Säkularisierung und kein Ende der Religion „Ich glaube, die schärfste Ideologie, die es gibt, ist die, dass sich die Wirklichkeit für wirklich hält.“ – Alexander Kluge60 „Wo Religion künstlich wird, ist es ein Privileg der Kunst, den Kern der Religion zu ersetzen.“ – Richard Wagner61 „Die Ablehnung des Säkularismus ist alles andere als trivial.“ – Jürgen Habermas62
Zur Diagnose der Säkularisierung gehört die Beobachtung der Metastasierung des Religiösen in allen Bereichen der Kultur. Mit dem zentralen Funktionsverlust von Religion geht eine Übernahme religiöser Elemente durch die Werbung, die Konsum- und Medienkultur einher, so dass man von Konsum- und Medienreligion als parasitären Formen von Religion sprechen kann – vgl. M. C. Taylors These von dem neuen einigenden sozialen Leitmedium Geld. Der Philosoph der Frankfurter Schule Walter Benjamin sprach bereits 1923 von dem Kapitalismus als dem ultimativen, extremsten Kult. Dieser scheint die eigentliche westliche Weltreligion zu sein. Die kapitalistische Religion ist von permanenter Dauer, kommt ohne Dogmen aus, ist reiner Vollzug. Die Einkaufsstraßen sind die Tempelanlagen, die mit Altardesign und Kult-Marketing ihre Adepten in ihren Bann ziehen. Benjamin bemerkte allerdings bereits auch, dass der Kapitalismus der erste Kult sei, der nicht erlöst, sondern verschuldet. Seine Metapher vom Kapitalismus als Religion oder der Konsumreligion wurde vielfach übernommen und angewendet.63 „Da man normalerweise den Glauben (an Werte, Ideale usw.) der zynischen Haltung ‚Das Einzige, was wirklich zählt, ist Geld‘ entgegenhält, sollte man die allzu offensichtliche (und genau aus diesem Grund allzu häufig übersehene) Tatsache betonen, dass Geld Glauben in seiner reinsten und radikalsten Form ist. Es funktioniert nur mit dem Vertrauen in das soziale Band. Geld an sich ist ein wertloses Stück Papier (oder seit der Einführung des elektronischen Geldes nicht einmal mehr das). Sein ultimativer Status ist durch und durch der einer symbolischen Verpflichtung – wenn die Leute ‚nicht mehr daran glauben‘, hört es Kluge, A., Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt a. M. 2003, S. 79. Wagner, R., zit. n.: Žižek, S., Die Brisanz des christlichen Erbes (Vortrag in der Katholischen Akademie in Bayern, München vom 6.03.2001), in: Information Philosophie 1/2002, S. 7. 62 Habermas, J., Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Hg. v. M. Reder und J. Schmidt, Frankfurt a. M. 2008, S. 34, denkt wesentlich religionskritisch. 63 Vgl. Baecker, D. (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin 2002. 60 61
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auf zu funktionieren. Und selbst bei Gold, der Verkörperung von ‚echtem Reichtum‘, sollte man nicht vergessen, dass es keinen Gebrauchswert hat, dass sein Wert rein reflexiv ist, das Resultat des Glaubens an seinen Wert.“64
Die kapitalistische Religion ist mit der Anbetung der Ware als dem Wahren klar als Fetischismus herauszustellen, demnach auch als Rückfall in Vorstufen vor die Hochreligion. Dass der Fetischismus zum Warenkreislauf dazugehört, hat bereits K. Marx herausgestellt, wenn er davon spricht, dass die Ware „theologische Mucken“ hat und zu tanzen beginnt. Der Bereich der feuerbachschen Analyse der Projektion ist also auszuweiten.65 Man darf vermuten, dass der Mensch als projizierendes Wesen ständig extrapoliert, sich entlastet durch Projektion seiner Erwartungen in heilvolle andere Güter oder ideal erscheinende Menschen oder durch Projektion seiner Angst in unheilvolle Andere. (Für Žižek verschiebt der Rassismus den Hass auf das eigene fremde, unbeherrschbare Genießen auf andere. Die Projektionen gewähren Abstand von eigenen bedrängenden Phantasien.) Der Reformator Martin Luther definierte Religion bereits funktional, wenn er Gott als das umschrieb, woran einer sein Herz hängt. So gesehen ist der Begriff der „Auto-Religion“, „Sport-/Fußballreligion“ oder „Handy-Religion“/“Fernsehreligion“ angebracht. Sie machen deutlich, dass es zu einer Sinnverschiebung kommen kann, einer fetischistischen Aufladung, einer Fixierung auf immanent Erreichbares. Und es ist klar, dass derartige Spielarten von Religion nicht explizit religiöse Programmatiken verfolgen; die Aufladung von Gegenständen zu Religion verläuft leise und unmerklich. Es gilt weiterhin: Man kann sich nur selber des Fetischismus überführen. Keiner kann einem Idol-Bildung und Fetischismus nachweisen, wenn man es sich nicht selbst erlaubt. Eine Vielzahl von Fetischismen kann unvermindert neben dem offiziellen Bekenntnis zu einer der Weltreligionen praktiziert werden. Wer es sich nicht eingestehen will, einem Fetisch-Kult aufzusitzen, kann weiterhin selbstbewusst behaupten, dass er das Handy nur als normales Gerät ansieht, nicht von ihm abhängig ist, dass er das Fernsehen nur als Info-Medium benutzt und nicht etwa die Fernbedienung ihn im Griff hat, dass das Auto reines Fortbewegungsmittel ist und keineswegs mehr. Die fetischistische Dominanz und Abhängigkeit der Dinge über unser Leben verkünden indes das Altardesign und Kult-Marketing; hier erscheint selbstverständlich, dass der Konsument mehr sucht als
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Žižek, S., Die Revolution steht bevor, Frankfurt a. M. 2002, S. 145. Vgl.: Kluge, A., zit. n.: Schulte, C., Siebers, W. (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt a. M. 2002, S. 25: „Im menschlichen Kopf sind Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden.“ Und Kluge, A., Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, S. 98: „Und denken Sie immer daran, Irrtum gilt im Gefühl genauso viel wie eine wahre Einsicht oder eine bestätigte Erfahrung.“
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bloße Geräte, dass vielmehr die Ware bzw. der Markt – wie Marx meint – das eigentliche Subjekt ist, dem wir nur depotenziert-willenlos oder willig folgen. Das Religiöse löst sich mit der Säkularisierung also keineswegs auf. Der „Tod Gottes“ führt vielmehr dazu, dass die Religion weiterexistiert, als Untote gespenstisch da auftaucht, wo man sie nicht erwartet. Die diversen Gestaltungen und Spielarten säkularer Religion müssten ausführlich darlegt werden. Dringlicher erscheint die erneute Frage, welcher Gott tot, welches Gottesbild obsolet ist und ob es in der Moderne religiöse Alternativen zum Fetischismus gibt, eine Implizierung von Religion, die sich nicht in Konsumismus verfängt und nicht mehr auf eine ängstliche Binnenstabilisierung etablierter Glaubenssysteme fixiert ist. Im Sinne eines funktionalen Religionsbegriffs, der Religion nicht inhaltlich, sondern von seiner Wirkmächtigkeit her – etwa zur Bewältigung von Angst und Kontingenz oder zur Stiftung von Gemeinschaft – versteht, kann neben einer Konsumreligion auch eine breitenwirksame Medienreligion unterschieden werden.66 Es handelt sich, wie bereits herausgestellt, nicht um eine explizite Religion, sondern um eine parasitäre Form von Religion, die Elemente oder auch Strategien der Religionen übernimmt und adaptiert. Die Medienreligion ist wie die Konsumreligion nur implizit wirksam. Sie erscheint in zwei Grundformationen, einmal in der Weise, dass die Medien ebenfalls die fetischistische Aufladung unterstützen, oder in einer zweiten Variante, bei der die Medien im Sinne ihres Transparenzprogramms die Vielfalt desillusionierend offenlegen und die Nutzer so zu einer meditativ-gleichmütigen Haltung gegenüber dem Neuen anregen. In der zweiten Spielart bildet Medienreligion eine Haltung der Gleichgültigkeit aus, wie sie nur der Bildschirm aufweist, der alles sendet. „Im Fernsehen vollendet sich die Erlösungsgeschichte der Menschheit. Es ist ein Erlöser, der das Publikum angähnt, … der erste, der uns freilässt … Wir müssen nicht erst langatmig und gebildet zum Buddhismus konvertieren – das Fernsehen hat uns alle zu Buddhisten gemacht, wir sind längst allesamt unfreiwillige Meditierer. Fernsehen ist die letzte Meditationstechnik der Menschheit im Zeitalter nach den Hochreligionen, … die allgegenwärtige Buddha-Maschine, die uns in die letzte Indifferenz befreit hat.“67
W. Benjamins Erkenntnis ist vorformatiert; wie Enzo Traverso, Das Ende der jüdischen Moderne. Geschichte einer konservativen Wende, Hamburg 2017, S. 175f, treffend anmerkt, ist das Konzept der Zivilreligion (religion civile), der Ersatzreligion in der säkularen Gesellschaft, von J.-J. Rousseau geprägt worden. Der Glauben an den Gesellschaftsvertrag wird hier unabhängig von der jeweiligen expliziten Religion, dem Ethos und den spezifischen Werten eines Sozialverbands reproduziert. 67 Sloterdijk, P., Selbstversuch. Ein Gespräch mit C. Oliveira, München (2. Aufl.) 1996, S. 142–143. – Sloterdijk drängte sich die Metapher von der Buddha-Statue geradezu auf, wenn man an die Medienkunst Nam June Paiks, die vor dem Fernseher platzierten Buddhastatuen, denkt, die im Karlsruher ZKM unweit der Lehrstätte des Philosophen zu sehen sind. 66
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3. Zähmung der Religion – Religiöse Aufklärung – Wider das Irrationale, den Supranaturalismus oder den Offenbarungspositivismus Religion oder Theologie müssen sich angesichts der Moderne und der fortgesetzten Säkularisierung neu ausrichten, wurde eingangs angekündigt. So geben (Gott-ist-tot-)Theologen Nietzsche in einigen Punkten unvermindert recht: Der Gott der Begründungshypothese, der ultimative Begründungsschlussstein und große Andere, der die Wahrheit der eigenen Weltanschauung garantiert, der Kontroll-Beobachter-Gott, der supranaturalistische Marionettenspieler-Gott, der alles nach Belieben regiert und einfädelt, auch das Böse nach Belieben zulässt, der WillkürDespotie-Gott, der Angst verbreitet, sie alle gehören zu einem überholten Gottesbild, gegen das sich die Gläubigen (aller Religionen) zu Recht zur Wehr setzen und protestieren. Dass der moderne Mensch ohne Superappellationsinstanz leben muss, sieht D. Bonhoeffer in dem Satz Hugo Grotius’ „etsi deus non daretur“ festgehalten: Der Mensch muss also so leben, „als wenn es Gott nicht gäbe“. Er kann nicht damit rechnen oder sich darauf verlassen, dass ihm die Hilfe eines „deus ex machina“, eine wundersame Rettung von oben (supranatural – mit einer Durchbrechung aller Naturgesetze) zuteilwird. Dies schreibt Bonhoeffer eingekerkert von den Nazis im Bewusstsein des nahen Todes. Religion darf nicht die Schwäche des Menschen ausnutzen, sie muss mitten im Leben verwurzelt sein, wenn sie relevant sein will – wie auch die Kirche, die Moschee, die Synagoge mitten in der Gemeinde steht oder zu stehen hat und nicht am Rand. Die „pfäffische Strategie“ – ein Ausdruck Bonhoeffers –, die Angst des Menschen vor dem Tod auszunutzen, ist unredlich und gemein. Zur Redlichkeit des Theologen gehört es, dass er sich darum bemüht, die Anwesenheit Gottes mitten im Leben, das Jenseits mitten im Alltag aufzuweisen. Das Jenseits der Religion ist ja auch kein erkenntnistheoretisches Fernes, sondern das Nächste, der Nächste vielmehr, so Bonhoeffer. Die Wette der Theologen geht dahin, dass dieser Perspektivwechsel immer noch möglich ist, dass die Religion, die hier implizit verstanden wird, relevant bleibt. Nietzsche selber meinte in Bezug auf das Christsein/ Religiössein, dass dieses immer möglich sein wird, kein Tun, eher ein Nichttun, ein Lassen, ein anderes Sein.68 Religion muss also neu/anders gelesen werden, die religiösen Bilder sind nicht wortwörtlich aufzufassen, sondern müssen symbolisch oder existential interpretiert werden (s. u.).
68
Nietzsche, F., KSA 6, S. 211: Der Antichrist, § 39. „Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein. … Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles-nicht-thun vor allem, ein andres Sein.“ (Nietzsche formuliert hier einen modernen, existenzphilosophische Religionsbegriff.)
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Nietzsche und alle kritischen oder säkularen Theologen kritisieren den Offenbarungspositivismus, den immunisierenden Rückzug oder Rekurs auf ein festes Depot an Glaubenswahrheiten, die man einfach glauben (für wahr halten) muss, weil sie eben offenbart sind. Doch Offenbarung muss sich vor der Vernunft rechtfertigen. Der Offenbarungspositivismus ist wie jeder Positivismus (auch der der Naturwissenschaften) plump, er vermeidet die intellektuelle Auseinandersetzung und setzt dem Prozess der Fragen ein willkürliches, vorschnelles Ende. Alle Fragen werden autoritär und undialogisch abgeblockt mit einfachen Aussagen: „So ist es eben!“, „Das ist eben (positive/gesetzte) Offenbarung!“ oder „Das musst Du halt glauben.“ Dagegen fordert die Vernunft eine Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden (implizit, unreflektiert vorausgesetzten) Verständnis von Offenbarung: Ein Begriff von Glauben als blinde Annahme dessen, was man nicht versteht, wäre beschränkt. Er basierte auf der unmäßigen Forderung nach einem Salto mortale. – Eine verstehende Aneignung von Religion wird dagegen die überlieferte Tradition kritisch befragen und als aktuell-brisant/existentiell-relevant auszuweisen versuchen. Was nicht übersetzt/verstanden werden kann, kann nicht geglaubt werden und stellt sich als sekundär heraus. Glauben – will er wirklich verwurzelt sein – muss mit der konkreten Erfahrung in Beziehung gesetzt werden und aktualisiert sich primär als (Existenz-)Vertrauen. Säkulare Theologie muss also eine Reflexion und eine Diskussion des Offenbarungsmodells ermöglichen: Glaubt man, dass Gott einfach erscheint (epiphaniert, epiphanisches Offenbarungsmodell), oder einseitig-monologisch Wahrheiten kundtut oder dialogisch sich mitteilt, indem er mit seinem Sohn reden lässt (monologisches/dialogisches Offenbarungsmodell), oder dass Offenbarung in mitmenschlicher Beziehung relational geschieht und dann als letztgültige Wahrheit identifiziert wird (relationales Modell)? Die Frage ist, von welcher Erfahrung Gott ausgesagt wird, welche Grunderfahrung oder auch Grundunterscheidung zum Ausgangspunkt der Religion gemacht wird. – Die Erfahrung von Unverfügbarem muss dabei nicht mehr ausschließlich in den Kategorien der Macht oder Machtlosigkeit interpretiert werden. – Eine Theologie der Beziehung meint, dass die entscheidende (religiöse) Erfahrung die des grundsätzlichen, bedingungslosen Angenommenseins in Beziehungen ist. Für sie ist das relationale Offenbarungsmodell am plausibelsten. Es mag sein, dass jeder sich Gott zunächst in der Verlängerung des leiblichen Vaters oder einer elementaren Bezugsperson sehr gegenständlich-konkretistisch als elterlich alleswissende Instanz vorstellt; es lassen sich aber – in allen Weltreligionen – Traditionen nachweisen, die davor warnen, sich Gott zu anthropomorph (menschengestaltig) vorzustellen, sich von Gott ein Bild zu machen oder gar das Bild/das Götzenbild dann für Gott zu halten. Gerade wenn wir entwicklungspsychologisch von vertrauten Autoritäten ausgehend auf göttliche Autoritäten schließen, immerzu projizieren (Feuerbach), ist eine Kritik der Religion im ureigensten Sinne der Religion; diese Kritik/Selbstkritik ist Bestandteil des Glaubens, der den Zweifel braucht, um 182
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nicht eigenen Projektionen zu erliegen. Bei dem biblischen Bilderverbot (Ex 20, 4: „Du sollst dir kein Bild von Gott machen …“) geht es darum, die Vergegenständlichung Gottes zu vermeiden und zugleich seine Erfahrungsnähe weiterhin aufzuzeigen. Und einem Hauptargument der nietzscheschen Religionskritik wäre entsprochen, wenn die Vergegenständlichung Gottes vermieden würde. Schließlich meinte Kant in Bezug auf das Gebot aus dem Dekalog, das auch das Verbot der Abbildung von jeglichem Lebendigen einbezog: „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot.“69 Kant konnte nämlich hier den Kategorischen Imperativ, die Trennung von Dingen und Nicht-Dingen, das Verbot der Verdinglichung von Menschen, vorgeprägt sehen. (Ganz ähnlich sieht es auch der Schriftsteller Max Frisch.) Manche Theologen betonen zu Recht, dass es nicht zu dem biblischen Bilderverbot kommt, da Gott den Menschen so fern, überweltlich und jenseitig ist, dass er generell von Menschen verfehlt wird, sondern im Gegenteil, dass er so unglaublich nah ist. Und sie versuchen, die Nähe Gottes im Alltag und im zwischenmenschlichen Erfahrungsbereich neu aufzuzeigen. Vorstellungen von Gott als supranaturalem Gegenüber und Deus-ex-machina-Superhelfer sind zu gegenständlich. Man muss also jede Theologie/Rede von Gott kritisieren, die so tut, als wüsste sie über Gott Bescheid, die die Geheimnisdimension des Lebens überspielt, die überheblich anmaßend ist. „Gottprotzigkeit“ (Canetti) ist unerträglich; Rede von Gott muss also vorsichtig/demütig sein ohne Gestus der Besserwisserei (Schleiermacher). Dem Fundus an religiösem Sonderwissen, aus dem heraus Vorschriften abgeleitet werden, wird eine Rechtfertigungspflicht gegenübergestellt. – Die Erfahrungsnähe/der Erfahrungsbezug und das Vermeiden von Vergegenständlichung, die Kritik der Verobjektivierung, stellen sich gleichermaßen als Grundvoraussetzungen moderner/säkularer Theologie heraus. Mircea Eliade sieht für die Religion noch die Differenz zwischen Heilig und Profan wesentlich. Und er betont vor allem den Dank für die Lebensgrundlage als religiöse Basis. Gott wird für das Leben insgesamt gedankt. Rudolf Otto charakterisiert die Religion als Erfahrung des Mysteriums, des Numinosen, das sowohl ein Erzittern und Erschaudern (tremendum) als auch Faszination (fascinosum) hervorruft. Der Mensch ist vor eine Dimension des je Größeren gestellt, vor der er sich verneigt. – Die religiöse Erfahrung scheint der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen ähnlich, in der die Erkenntniskategorien des Menschen gesprengt werden: Vor einem Zuviel an Gegebenem kapitulieren die bisherigen Begriffsrahmen (vgl. das Zuviel an Farbe, die Übermacht an Wasser). So spricht Jean-Luc Marion von irritierenden „gesättigten Phänomenen“. Vor dem Zuviel, dem „Wald aus Stein“ kapituliert das Kant, I., zit. n.: Virno, P., Weltlichkeit und der Gebrauch des Lebens, Wien Berlin 2017, S. 25.
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Wahrnehmungsvermögen; es kommt zu einem tiefen Erstaunen über ein gotisches Gebäude wie den Kölner Dom etwa. Vor den riesigen Ausmaßen einer weiten Ebene verliert sich der eigene Standpunkt, der Einzelne ist tief irritiert und ordnet sich und sein Wirklichkeitsbild neu. Die Erfahrung des Übermächtigen, je Größeren im Zusammenhang mit der Natur muss aber noch nicht religiös interpretiert werden. – Auf dem Hintergrund der Naturerfahrungen können leicht ein Gefühl von Dankbarkeit und ein Einheitserleben entstehen. Die „religiöse“ Erfahrung lässt sich dagegen wesentlich auf ein zwischenmenschliches Spezifikum zurückführen. Und damit wäre das positiv erlebte Eingebettetsein in die Natur als eine Übertragung eines ganz elementaren zwischenmenschlichen Gehalten- und Bejahtseins zu sehen. Das religiösen Erfahrungen gemeinsame Moment, das Aufbrechen von Nichtobjektivierbarem inmitten der Vergegenständlichung, das Unbedingte im Bedingten, das Nichtverfügbare inmitten des Verfügbaren, das Transzendente inmitten der Immanenz, das Absolute im Kontingenten, das Ewige/Jenseitige im Diesseitigen, das Zweckfreie/Grundlose im Kontext der Interessen, die Erfahrung von Nicht-Getrenntsein/Einheit inmitten von zergliedernden Teilbetrachtungen, ist noch klarer zu bestimmen.70 Psychoanalyse wird von Žižek als die Theorie der untoten Dinge bezeichnet. Gerade die Wirkweise von Dingen, die mehr sind, als sie sind, wird klarer zu umschreiben versucht. Im Genießen wird das Subjekt zum Objekt und das Objekt gewinnt die Überhand über das Subjekt, im Begehren orientiert sich das Subjekt ganz von dem anderen her und entleert sich gewissermaßen. Für Lacan sind Körperöffnungen oder auch Blut nicht objektivierbar. Der Mensch scheint von Nichtobjektivierbarkeit geradezu umlagert, die er nicht beherrschen kann, die ihn vielmehr überfällt und seine Vergegenständlichungspläne und Weltentwürfe stört. – Das Feld dessen, was sich der Vergegenständlichung entzieht, ist also deutlich größer als zunächst angenommen. Wenn Religionen als Sensibilisierungen für Nichtobjektivierbares zu verstehen sind, bedarf es der Abgrenzung der Erfahrungsmomente, die für die Religionen wichtig und ausschlaggebend sind: Religionen nehmen – so die auszuführende These – primär erfahrbare Momente von Tiefe oder Fülle in zwischenmenschlichen Beziehungen in den Blick. Sie laden ein, sich beständig diesen Spuren des Nichtobjektivierbaren zu öffnen.
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Lévinas wird hier den Riss/die Exteriorität im fixen Korsett der Systeme, das Aufbrechen nichtassimilierbarer Andersheit im Regime des Gleichen/Identisch-Einen als entscheidend beschreiben. Für Žižek ist das ethisch-religiös-politische Ereignis ein Ereignis grundstürzender Irritation, des Einbruchs des Realen, ein Moment der Umordnung der Gemeinschaft, der Integration des Ausgeschlossenen.
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4. Zur Menschenfreundlichkeit Gottes – Erfahrungsnähe: das mitmenschliche Antlitz Gottes An dieser Stelle kündigt sich eine deutliche Übereinstimmung der Phänomenologie H. Schmitz’71, die ebenso danach fragt, was von Gott bleibt, und der so genannten relationalen Theologie an: Was den Tod Gottes überlebt, ist eine Theologie der Beziehung, der Liebe. Es wurde eben festgehalten, dass nicht jede Form der übermächtigen Nichtobjektivierbarkeit schon religiös zu konnotieren ist. Der Satz „Gott ist die Liebe“, „Göttliches ist im Raum mitmenschlicher Güte erfahrbar“, behält aber bei Schmitz und in der Gott-ist-tot-Theologie seine Gültigkeit. „Gott ist da, wo der eine dem anderen hilft“, formuliert schon der antike Autor Menander; diese Gotteserfahrung kann/will auch Nietzsche nicht negieren/leugnen. (Die Frage ist dann nur, wie die Nähe Gottes gedacht oder theoretisch ausgewiesen wird.) In der Erfahrung der grundlosen Hilfe (ohne Hintergedanken), des grundsätzlichen Vertrauens oder des bedingungslosen Angenommenseins (ohne Vorleistung/Vorbehalt) erweitert sich der Horizont, es scheint die Tiefe der Existenz auf, es kommt zu einer Erfahrung des je Größeren. Der Mensch ist von der ihm widerfahrenden Mitmenschlichkeit oder Güte, Hilfe überrascht oder auch erschüttert; er ist aus der ansonsten dominanten Spirale der Leistung/Gegenleistung entrissen. – Auf dem Hintergrund griechischer Philosophie lässt sich herausstellen, dass hier Gott präsent ist, dass im Kairos, dem erfüllten Augenblick, das Göttliche Gegenwart ist. Die Zeit rollt sich ein und bleibt stehen (nunc stans), ein Ewigkeitsmoment stellt sich ein, das die Zeitekstasen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) aufhebt. Im erfüllten Augenblick wird Gott ausgerufen, gehaucht; hier wird also das Wort „Gott“ als Vokativ verstanden, der die seltene Eindeutigkeit des besonderen Moments markiert, so die ursprüngliche Gotteserfahrung der griechischen Antike. Vorsichtiger interpretiert die jüdische Philosophie/Religionstheorie die Erfahrung der Mitmenschlichkeit. Hier ist allenfalls von den Spuren Gottes die Rede, die der Mensch vernehmen kann. Emmanuel Lévinas bezieht sich aber nicht so sehr auf den wortreichen Dialog, den harmonischen Gleichklang wechselseitigen Verständnisses oder die tätige Hilfe. Der jüdische Philosoph Lévinas meint: Gott fällt mir ein, wenn das Gesicht des anderen mich berührt. In dieser doppelt passiven Weise wird der Mensch von Gott überrascht und mit dem Thema Religion im Alltag konfrontiert. Lévinas erläutert weiter, dass bei jeder Irritation durch das Gesicht des anderen so viel Offenbarung geschieht, wie sie Mose auf dem Berg Sinai zuteilwurde. Bei dem Gerührtwerden durch ein Gesicht erfährt der Mensch die leise Spur Gottes; ein Moment des Andersseins, das sonst nicht mehr in seiner Erfahrung auftaucht, kommt auf. Nur das Gesicht Schmitz, H., Was bleibt von Gott? Negative Theologie heute, in: Blume, A. (Hg.), Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion, Freiburg München 2007, S. 17–28.
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vermag den Menschen derart tief zu irritieren oder auch zu destabilisieren, so dass er nicht mehr von sich aus selbstbewusst die Welt entwirft, sondern von außen, vom anderen her ergriffen wird. – Lévinas meint, im Blickkontakt, im Geschehen der Nähe, in dem noch kein Wort gewechselt wird, offenbart sich in ultimativer Weise die Fremdheit Gottes, seine „nichtassimilierbare Andersheit“: Gott zeigt und verbirgt sich hier in der Weise des „Er“, er ist kein Du und kein unpersönliches Es, sondern die dritte Dimension in Ich-Du-Beziehungen, die uns elementar verpflichtet. In noch so privaten Zusammenhängen kommt es zum Aufscheinen des Gesichts und seiner fremden Forderung, denen ich nie gerecht werden kann. – Zuweilen meinen einige Kritiker, dass die Fremdheit immer die des Gesichts ist, der Andere also letztlich immer dasselbe ist, dass das Soziale hier nicht in seinen monströsen Seiten gedacht wird. – Die zutiefst imperative Dimension der Gesichtserfahrung ist aber nach Lévinas die Erfahrung der Bibel. Die Gotteserfahrung des Mose am Berg Sinai ist in dieser Weise zu verstehen. Die Erfahrung des Anderen, des Gesichts ist als Offenbarung zu verstehen, da sie zutiefst nicht etwas offenbart, sondern vor allem den Nicht-Ding-Charakter des Menschen, das Offenbarwerden selbst. – Fragt man nun, warum die Heilige Schrift noch gebraucht wird, wenn es doch eigentlich um Nähe-Erfahrungen geht, lautet die Antwort: Schrift und Tradition vermögen immer neu die Aufmerksamkeit und Offenheit für die Nähe-Konstellationen zu vermitteln; sie bleiben in ihrer Sensibilisierungsfunktion bedeutsam. Christliche und muslimische Theologen der Mitmenschlichkeit betonen dagegen mehr das engagierte Tun, das tätige, aktive Helfen, das einem gnadenhaft widerfährt und einen grundsätzlich dankbar werden lässt. Wenn man Goethes Gedicht „Das Göttliche“ liest, kann man ebenso diesen Gottesbegriff erkennen, der Gott nicht aus der Naturerfahrung (die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte) ableitet, sondern das Göttliche in der Erfahrung des Hilfreichen, Edlen und Guten erkennt. In diesen Formen der Mitmenschlichkeit scheint erst eine Tiefe und Gültigkeit auf, die einen an Gott denken lässt, die den Gebrauch des Gotteswortes rechtfertigt und die religiöse Fährte legt. Eine muslimische Erzählung handelt davon, dass die häufig rezitierten 99 Namen Gottes die Frage nach dem ultimativen hundertsten Namen offenlassen.72 Die Spekulation über einen magischen Namen, mit dem man machtvoll alles ins Werk setzen kann, wird jedoch zurückgewiesen.
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Die Assoziation, dass die Zahl hundert für Vollkommenheit steht, setzt ein Rechnen im Zehnerraum voraus, also nur auf dem Hintergrund des arabischen Zahlensystems verkörpert die Zahl 99 die Demut, dass nicht alles von Gott erkennbar ist. Dass die 99 offenbarten Namen Gottes im Islam häufig rezitiert und gebetet werden (vgl. die Gebetsschnur), muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.
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Die Erwartungen werden irritiert und es wird sogar auf einen interkulturellen Kontext verwiesen, der die letzten religiösen Fragen auflöst: „Ein Fakir, ein hinduistischer Bettelmönch, fragte in Indien einen Sufi, einen muslimischen Bettelmönch, ob er ihm den erhabensten Namen Gottes nennen könne, den hundertsten Namen Allahs. – Wer ihn kennt, soll Wunder vollbringen und den Lauf des Lebens und der Geschichte verändern können. Doch keiner erfährt ihn, ehe er nicht seiner würdig ist. – Der Sufi sagte: ‚Der Tradition gemäß muss ich dir eine Prüfung auferlegen, die deine Fähigkeiten aufzeigt: Geh zum Tor dieser Stadt; bleibe dort, bis es dunkel wird, und komm dann zu mir zurück, um mir von etwas zu berichten, dessen Zeuge du geworden bist.‘ Der Fakir tat voller Eifer, wie er geheißen war. Nach dem Anbruch der Dunkelheit kehrte er zurück und erstattete dem weisen Sufi folgendermaßen Bericht: ‚Wie angewiesen habe ich am Stadttor Stellung bezogen und aufgepasst. Am meisten beeindruckt hat mich ein Vorfall mit einem alten Mann, der unsere Stadt mit einer großen Hucke Feuerholz auf dem Rücken betreten wollte. Der Torwächter bestand darauf, dass er so viel Steuern bezahlen müsse, wie sein Holz wert sei. Der alte Mann besaß offenbar keinen Pfennig und bat darum, erst sein Holz verkaufen zu dürfen. Als der Torwächter merkte, dass der Alte ohne Freunde und Beistand war, nahm er ihm einfach das Holz weg und trieb den alten Mann mit brutalen Schlägen fort.‘ Nun fragte der Sufi: ‚Und was hast du empfunden, als du das mit ansehen musstest?‘ Der Fakir antwortete: ‚Ich verspürte noch stärker den Wunsch, den erhabensten Namen zu kennen. Hätte ich ihn gewusst, wäre die Sache für den unglücklichen, unschuldigen Holzfäller anders ausgegangen, denn ich hätte ein Wunder vollbringen können.‘ Da sagte der Sufi: ‚Oh Mensch, der du zur Glückseligkeit geboren bist! Ich selbst habe den erhabensten Namen von meinem Meister gelernt. Auch dieser hatte vorher meine Entschlossenheit erprobt, um festzustellen, ob ich ein Sklave meiner egoistischen Gefühle oder ein Diener der Menschheit bin. Der hundertste Name steht allezeit für den Dienst an der ganzen Menschheit. Der Holzfäller, den du heute am Stadttor gesehen hast, war, niemand anderer als mein Meister.‘“73
Die Frage, was der hundertste Name Gottes ist und was er lehrt, wird hier im Sinne der Theologie der Mitmenschlichkeit beantwortet. Der Fakir stellt seine Mitmenschlichkeit bzw. seine Sehnsucht nach elementarer Gerechtigkeit/Fairness unter Beweis. Seine Suche nach Gott ist schließlich nicht mehr magisch; der Fakir überwindet alles mythische Denken in der Sorge Leicht verändert übernommen von Idries Shah, Denker des Ostens, Reinbek 1988, S. 20–22. Den Hinweis auf die Geschichte verdanke ich Dieter Berg.
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und im Mitleid gegenüber dem geschundenen Mitmenschen. Der Lehrer des 100. Namens, des letzten Geheimnisses Gottes, ist der Arme und Hilfsbedürftige. Das Gesicht des Notleidenden beinhaltet die ultimative Offenbarung, den Appell an universale Mitmenschlichkeit, die Möglichkeit einer Transzendenz eigener Wünsche und den empathischen Blickwechsel. – Der andersgläubige Fakir ist wie der Sufi in der Lage, die letzten Geheimnisse des Islam zu erfassen: Die Ohnmacht Gottes in der Welt wird gelernt. In jeder Not und jedem Unrecht, das Menschen widerfährt, wird Gott unendlich gepeinigt/verkannt, die Erfahrung des Fehlens Gottes steigert die Sehnsucht nach ihm; sie negiert das Anliegen der Religion keineswegs. Die Identifikation mit den Schwachen, Notleidenden, den Ausgeschlossenen wird zum konstitutiven Bestandteil jeder Weltreligion. Der Verachtete verrät etwas von Gott. Der (mit)leidende Mensch ist Träger der Verheißung (vgl. auch Bonhoeffer). – Die Geschichte fordert nicht direkt zur Entmythologisierung auf, entscheidend ist nur die Geburt der Gottessehnsucht aus der empfundenen Not des anderen. Die ultimative Kenntnis Gottes, seiner Jenseitigkeit, erhält man vom konkreten leidenden Mitmenschen, sie ist im Mitleid und im Protest gegen die Unmenschlichkeit begründet. Das Erkennen Gottes wurde bereits von Lévinas von der Sensibilität für den Anderen abhängig gemacht. Im Mitleid erfährt man alles von Gott Erkennbare; die Einsicht: „Auch das bist du“; das hinduistische „Tat twam asi“, das Schopenhauers Mitleidsethik durchzieht, meint vor allem die Identifikation mit dem Schwachen. – Die Vermenschlichung der Religion ist in der Parabel vom 100. Namen Gottes mit der Enttäuschung einer Hoffnung verbunden. Der Wunsch nach einem Wunder, einem mirakulösen Eingreifen wird zurückgewiesen; der Fakir weiß, dass er nicht mit einem Symbol einen Eingriff ins Reale erreicht. Religion hält das Unrechtsbewusstsein wach, die Veränderung der Welt ist der Auftrag, die religiöse Ergriffenheit dispensiert nicht von der Tat. Die jüdischen Erzählungen, die vom Drängen des Lehrers auf das Erscheinen des Messias erzählen, wollen Ähnliches festhalten: Der Lehrer will nicht ins Paradies, bis die Verhältnisse sich geändert haben und der Messias gekommen ist. Das eigene Heil will man darangeben, wenn man dadurch das Kommen des Erlösers, das Heil für andere befördern kann. In der chassidischen Geschichte Von der Gastfreundschaft heißt es ebenso: „Unsere Weisen sagen: „Größer ist die Gastfreundschaft als der Empfang der Schechina“ (Einwohnung Gottes, seine Gegenwart im Allerheiligsten des Tempels).74 – Die Erinnerung an die buddhistische Figur des Bodhisattva mag ebenfalls angebracht sein, Bodhisattvas sind Buddha-Gestalten, die es ablehnen, ins Nirvana einzugehen, da sie anderen Menschen bei ihrem spirituellen Weg helfen wollen, ihr eigenes Heil hinter das Heil der anderen stellen.
74
Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 587. Die Schechina, der Thronsitz Gottes, bildet das Ziel aller kabbalistischen Übung.
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In der chassidischen Erzählung „Die führende Eigenschaft“ wird die Option für die Güte ebenfalls betont: „Rabbi Pinchas pflegte zu sagen: Ich fürchte stets, ich könnte mehr klug als fromm sein. Und dann fügte er hinzu: Fromm sein ist mir lieber als klug sein; aber lieber als fromm und klug sein ist mir gut sein.“75
Für eine derartige relationale Interpretation des Islam plädiert der muslimische Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, wenn er den Islam als Religion der Barmherzigkeit vorstellt. Er argumentiert gegen ein autoritäres Verständnis, das zu illusorischer Selbstsicherheit führt, mit der bekannten Legende über die Mystikerin Rabia von Basra: Auf die Frage, warum sie eine Fackel und in der anderen Hand einen Eimer Wasser trage, antwortet sie: Am liebsten möchte ich das Höllenfeuer löschen und das Paradies mit Feuer anzünden, damit die Menschen nicht aus Angst vor der Hölle oder Hoffnung auf das Paradies handeln.“76 Rabia von Basra betont die Grundlosigkeit des Glaubens, der sich keinen Vorteil ausrechnet und sich zweckfrei entfaltet. Meister Eckhart oder Johannes Tauler sprechen vom Fehlen des Grundes (sunder warumbe), Jakob Böhme vom Ungrund Gottes. Auch in den Augen Heideggers feiern Religion und Glaube das Zweckfreie und Grundlose. Der Gott der Metaphysik, der (philosophische) Begründungsgott der ersten Ursache und des letzten Grundes, ist tot, vor ihm kann man sich nicht niederwerfen oder tanzen. Im Seinsereignis des nichtmachbaren, nichtverzweckbaren Kairos, des vollkommenen grundlosen Augenblicks wesen die Götter, hier wird das Heilige spür- oder erfahrbar. So erzählt Heidegger auch gerne die Episode von Heraklit, der die erstaunten Mitbürger, die den großen Philosophen durch das Fenster beobachten, wie er sich nach dem Essen ganz banal wärmt, und mit den Worten hereinbittet: „Auch hier nämlich wesen Götter an.“77 Das grundlose Anwesen der Götter ist das Moment, das die Religionen dankbar feiern. Für den Einbruch des Göttlichen in die Gegenwart ist kein Augenblick zu banal, kein menschlicher Vollzug unwürdig. Gerade das kleine Kind, das sich in ein Brettspiel vertieft und dabei die Welt um sich herum vergisst, umfasst die „Basileia“, die Königsherrschaft, so ein Heraklit-Fragment. (Basileia tou theou ist ja das jesuanische „Reich Gottes“, dessen Anbruch in wirkmächtigen Taten schon jetzt spürbar wird.) Heraklits Ausspruch „ethos anthropo daimon“, den Heidegger mit „Der Mensch
Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 235. Khorchide, M., Gott ist kein Diktator. Der Koran wurde bislang falsch interpretiert. Der Theologe fordert eine Befreiung des Glaubens (Interview mit A. Schenk und M. Spiewak), in: Die Zeit vom 11.10.2012, Nr. 41, S. 12. 77 Heidegger, M., Über den Humanismus, Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 1968, S. 39f. 75 76
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wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes“78 übersetzt, legt ebenso nahe, dass der ganze Bereich des Mitmenschlichen, auch das alltägliche Leben, die Möglichkeit der dankbaren Erfahrung des Heiligen in sich birgt.79 – Gerade hier ist die Interpretation der religiösen Erfahrung griechisch-präsentisch-ontologisch (Heidegger) oder vorsichtig dekonstruktivistisch (im Sinne der Spur-Irritation) (Lévinas). Die Religion – das kann man nach dem Tod Gottes festhalten – muss also die Sackgasse vermeiden, Gott als Begründung zu benutzen oder ihn als Garanten des sozialen Funktionierens oder der symbolischen Ordnung zu gebrauchen. Drewermann meint in diesem Sinn: Die Religion nützt nichts, sie darf nicht vernutzt werden, das wurde bereits von Kant angemahnt. So sind die vorfindlichen Religionen zu befragen, ob sie den Menschen für die Dimension des Zweckfreien sensibilisieren, auf das grundlose Vertrauen in das Leben zielen, den Blick auf den Mitmenschen eröffnen. Ritus und Kult sind ebenso nur als „zweckfreies Spiel“ (Guardini) zu denken, das keinen besonderen Zweck verfolgt und allein der Absicht dient, Dank und Lobpreis für das Geschenk des Lebens auszudrücken. Wenn jüdische Philosophen wie der bereits mehrfach zitierte E. Lévinas Heraklits griechische Ereignisphilosophie kritisieren, weisen sie es als großen Fehler aus, Gott in den Kategorien des Seins zu denken; damit behält Gott immer noch Attribute von Macht, Präsenz, Manifestierbarkeit/Darstellbarkeit, Repräsentation. Gott muss – so Lévinas– gerade jenseits des Seins gedacht werden; der Transzendenz, Andersheit Gottes wird erst da entsprochen, wenn man seine Fremdheit als Spur denkt, als „Vergangenheit, die nie anwesend war“. Das heißt, der Satz „Gott existiert“ sagt zu viel; Gottes Spur ist immer vorweg, sich immer entziehend. Vor allem ist diese Fremdheit nur in den Kategorien der Schwäche und der Aussetzung zu denken. Gottes Herrlichkeit zieht nie in ein System ein oder gewinnt darin Platz. Man muss nach Lévinas also angesichts des Vorüberziehens Gottes auf dem Gesicht des Anderen subtil werden und darf es niemals als Gegenwart denken. Und die Parabel vom 100. Namen verdeutlichte ebenfalls, dass Offenbarung bereits im Aufkeimen des unbedingten Sehnens nach göttlicher Hilfe gesehen werden muss. Das Sehnen, das dem Antlitz des anderen entstammt, umfasst schon die höchste und zugleich fremde Nähe Gottes bei den Menschen.
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Ebd., S. 39. Sloterdijk, P., Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, S. 265, übersetzt das Heraklit-Fragment anders; da der griechische Daimon ambivalent ist, muss es zwei Lesarten des Satzes geben: „Beim Menschen sind die schlechten Gewohnheiten das Überwältigende.“ oder „Neue gute Gewohnheiten können beim Menschen der heftigsten Leidenschaften Herr werden.“
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Die Beispiele mögen belegen, dass Theologen sehr wohl neue, sehr erfahrungsbezogene oder phänomenologische Argumente für eine gegenwärtige Rede von Gott finden. Die Rede von Gott vermag sich also in der Moderne neu auszurichten. Eine dritte Weise, Gott im Zwischenmenschlichen zu denken, eine weitere Interpretation menschlicher Relationalität neben der griechischen, der jüdischen oder islamischen Interpretation, besteht für Žižek darin, von religiösen oder ethisch-politischen Akten zu sprechen. Dabei wird ebenso das Moment der Irritation betont, zugleich Gott ontologiekritisch gedacht. Religion ist hier die Aussetzung des Ethischen, das Moment der Ausweitung der Bergungssphären, das Moment des Wagnisses der Inklusion. Es geht bei dieser Akzentuierung der Mitmenschlichkeit nicht um die Erfahrung der wohligen Einnistung in vorhandene Bergungsräume, einen Rückzug in warme Familienatmosphären. Es werden gerade vorhandene Abgrenzungen nicht akzeptiert, sondern aufgelöst und revidiert. Angesprochen sind hier Momente, in denen das Verlorene, das Ausgeschlossene, der verfemte Rest über Gebühr geschätzt und betont wird. – Das „verlorene hundertste Schaf “ wird gesucht, es zählt mehr als die 99 Gerechten (vgl. die Gleichnisse vom Verlorenen, Lk 15). Das Verworfene wird zum Eckstein einer neuen Ordnung. Sätze wie „Wir sind alle Juden/Boat people/Illegale (Sans papiers)“ deuten diese neue Solidarisierung an. Der Mensch solidarisiert sich mit den Opfern, es kommt zu einer Neuausrichtung der Gemeinschaft, die nicht mehr an alten Gegensätzen orientiert ist und etablierte Unterschiede über Bord wirft. Revolutionen verfolgen ursprünglich wohl immer diese Logik einer Universalisierung eines ausgeschlossenen Rests. Solche unwahrscheinlichen Momente sind auch auf der subjektiven Ebene zu vollziehen, wenn das Trauma, das Verdrängte neu eingeordnet oder gesehen werden. Der unwahrscheinliche Moment, in seinen Rest-Dimensionen akzeptiert zu werden, führt zum grundstürzenden Neubeginn von Beziehungen. Ausgehend von entscheidenden relationalen Schlüsselerfahrungen – es wurden hier drei grundverschiedene relationale Grenzerfahrungen angedeutet – kann sowohl der Umgang mit sich als auch die Beziehung zur Umwelt überformt/“geheiligt“ werden. Das Leben kann von der mitmenschlichen Kernerfahrung her neu verstanden werden. Die elementare Relationalität, die den Menschen prägt, bleibt auch in Phasen der Einsamkeit und des Rückzugs als Echo vernehmbar. Der Mensch versteht sich vom Anderen her, als offen. Die Atmosphäre fundamentaler Dankbarkeit weitet sich aus und lässt sich auf andere Erfahrungsräume ausweiten, so dass sich der Mensch auch elementar in der Natur oder im Aufgehen in seiner Arbeit aufgehoben fühlt. Relationale Ansätze betonen aber, dass die Urerfahrung von Transzendenz relational-mitmenschlich dimensioniert ist.
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5. Implizite Religion – Religion in der Erzählung „Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“ (Jes 29,14;1 Kor 1, 19)
Die chassidische Geschichte „Drei Geschlechter“ vermag die Herausforderung angesichts der Veränderungen von Religion und Gesellschaft anzudeuten. „Der Riziner Rabbi erzählte: Als der heilige Baalschemtow einst das Leben eines todkranken Knaben, dem er zugetan war, retten wollte, hieß er ein reines Wachslicht gießen, nahm es in den Wald, heftete es an einen Baum und entzündete es. Dann sprach er einen langen Spruch. Das Licht brannte die ganze Nacht. Am Morgen war der Knabe genesen. Als mein Ahn, der große Maggid, der Schüler des heiligen Baalschemtow, eine ebensolche Heilung bewirken wollte, wusste er die geheime Spannung des Spruchs nicht. Er tat, was sein Meister getan hatte, und rief dessen Namen an. Das Werk geriet. Als Rabbi Löb von Sasov, der Schülersschüler des großen Maggids, eine ebensolche Heilung bewirken wollte, sprach er: Wir haben nicht mehr die Kraft, es auch nur zu tun. Aber erzählen will ich die Begebenheit … Und das Werk geriet.80
Die Erzählung legt folgende Überlegungen nahe: Traditionen verändern sich. Man muss keine Angst haben vor ihrem scheinbaren Verfall. Die Veränderung der Tradition ist konstitutiv für Erinnerungskulturen. Der Glaube nimmt nur scheinbar ab, vieles wird vergessen, was früher für wichtig und unabdingbar gehalten wurde. In der Perspektive der älteren Generation muss die Geschichte als Prozess eines Glaubens-/Werteverlusts erscheinen. Das Erzählen, das scheinbar als unreligiös gilt, stellt sich aber als eine „gottgefällige“ Handlung heraus. Es ist ein religiöser Akt, der Segen und Heil bringt. Das Erzählen von Geschichten wirkt identitätsstiftend. Diese werden nicht nur erinnert. Man lebt zugleich in ihnen und bleibt so in ihrem Erfahrungsraum, ihrer Tradition. Man könnte zusammenfassen: Der Vollzug des Lebens ist schon religiös, der Begriff Religion ist für Juden ohnehin problematisch, wenn er Sonderbereiche abgrenzen will, das Judentum hintergeht also eine einfache religiöse Aufteilung in Heilig und Profan. – Das Geschichten-Erzählen konstituiert Gemeinschaften (vgl. narrative Theologie). Religionen sind Erinnerungs-, Erzähl- oder Interpretationsgemeinschaften. (Entscheidend in der Religion sind nicht die Antworten, sondern die Fragen. Die Antworten werden belanglos, wenn man die Fragen vergessen hat. – Der Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 543.
80
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Sinn religiöser Vollzüge steht immer wieder neu auf dem Spiel.) Im Wandel der Tradition kristallisiert sich heraus, dass religiöse Geschichten als Lebensräume bewohnt werden. Das Erzählen als Kernelement der Religion wird auch in folgender sehr kurzen Geschichte festgehalten: „Immer wenn der Baal Schem Tow sah, dass das Band zwischen Himmel und Erde zerschnitten war und es unmöglich blieb, es durch Gebete wieder zu verknüpfen, pflegte er es zu erneuern, indem er eine Geschichte erzählte.“81 Alexander Kluge betont, dass er kurze oder Ein-Satz-Geschichten mag, „in denen man wie in einer Phiole die Alchemie der Gefühle zeigen kann“82 und ungewöhnliche Reaktionsweisen zur Nachahmung vorgeschlagen werden. Die Implizierung von Religion, die Uminterpretation von Alltagsvollzügen zu religiösen Vollzügen, erscheint hier in der chassidischen Geschichte als legitime Entwicklung der Religion. Das Fraglichwerden der Religion ist also kein Schwächeln, sondern ein Moment ihres fragilen Erscheinens: „Doch das Erscheinen der Mehrdeutigkeit im unzerreißbaren Gewebe der Welt bedeutet weder eine Lockerung ihrer Maschen noch ein Versagen der sie durchdringenden Intelligenz, sondern eben Gottes Nähe, die nur in der Demut wirklich werden kann. Die Mehrdeutigkeit der Transzendenz – und demzufolge das Hin und Her der Seele vom Atheismus zum Glauben und wieder zum Atheismus, und demzufolge der grobe Schnitzer, das Verb ‚glauben‘ in der ersten Person Singular Indikativ Präsenz zu gebrauchen – ist nicht der schwächliche Glaube, wie er nach dem Tode Gottes übrigbleibt, sondern der Urmodus der Anwesenheit Gottes, der Urmodus der Kommunikation. Kommunikation bedeutet nicht die Anwesenheit des Ich bei sich in der Gewissheit, das heißt einen ununterbrochenen Aufenthalt im Selben – sondern das Risiko, die Gefahr der Transzendenz. Gefährlich leben bedeutet nicht Verzweiflung, sondern positive Großzügigkeit der Ungewissheit.“83
Für Lévinas gerinnt Glauben nicht zu einem selbstbewussten Bekenntnis. Glauben zielt viel subtiler auf das leise Affiziertwerden oder Sich-Ausrichten auf die Spuren Gottes, die vor allem auf dem Gesicht des Anderen aufscheinen. Glauben meint also in der Spur Gottes gehen. Vor Zit. n.: Halbfas, H., Religion, Stuttgart Berlin (1. Aufl.) 1976, S. 39, vgl. Laubi, W., Die Himmel erzählen. Narrative Theologie und Erzählpraxis, Lahr 1995, S. 6; Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 774. 82 Kluge, A., Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, S. 48. 83 Lévinas, E., Menschwerdung Gottes?, aus: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München Wien 1995 (Paris 1991), S. 73–82. 81
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
einem sekundären klaren Bekennen, das vermessen selbst Stellung bezieht, gründet Glauben in aufmerksamer Rezeptivität. Er hängt von dem Geschenk ab, das dem Menschen zuteilwird. – Damit ist der Glaube auch kein Werk, keine Leistung, sondern Geschenk/Gnade.
6. Zur Grundunterscheidung der Religionen „Wir sind Massenfabrikatoren in der Entwicklung falschen Unterscheidungsvermögens. Um das aufzulösen, muss Zersetzungsarbeit geleistet werden, so wie auch unsere Magensäfte etwas Schwerverdauliches auflösen. Wenn dies in Geschichtenform geschieht, kann es Lacher bringen. Wenn darüber gelacht werden kann, wie fanatisch moralisch jemand ist, ist damit wieder ein Stückchen Zersetzungskraft gewonnen. Mit der Kategorie des Zusammenhangs kann man etwas, was sich vereinseitigt hat, ideologisch oder fanatisch geworden ist, auflösen. … Das müssen wir dauernd tun: Den versteinerten Dingen ihre eigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen. Dieser Satz ist von Karl Marx. Das heißt, es steckt in jedem Gift auch das Gegengift. …“ – Alexander Kluge84
Zumindest für die monotheistischen Religionen lässt sich Folgendes klar herausstellen: Die Grundunterscheidung der Religion ist nicht die Differenz von Heilig und Profan, es geht hier nicht um die Auszeichnung von Sonderbereichen, in denen man Gott näher wäre als anderswo. Solche Exklusivräume sind sekundär und ihre Bedeutung kann zugunsten einer Theologie, die den Alltag schätzt und heiligt, revidiert werden. Der Raum für Gotteserfahrungen ist die Welt. Martin Buber stellt klar: Gott hat die Welt, nicht die Religion gemacht – das wäre metaphorisch zu verstehen –, das Judentum hat kein Wort für Religion, es gibt Religion nicht als abgrenzbaren Bereich. Was wäre nun stattdessen die Grunddifferenz der Religion? Die Grundunterscheidung ist die zwischen Ding und Nicht-Ding. Das meint: Gott ist nicht in Ding-/Objektkategorien zu begreifen – und der Fetischist oder magisch Glaubende überschreitet gerade nicht den Bereich der Dinge –, sondern als NichtDing zu verstehen. Vielmehr wird mit dem Gottesbegriff das Aufscheinen einer „Nicht-DingDimension“ inmitten von Vergegenständlichungstendenzen festgehalten und als besonders aufgewiesen. Glauben bedeutet in einem elementaren Sinn: sich auf die Nicht-Ding-Dimension beziehen und dieser den Vorzug vor der Perspektive der Berechnung geben, oder auch: das Objektivieren/ Verdinglichen von Nicht-Dingen vermeiden. 84
Kluge, A., Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt a. M. 2003, S. 83.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Diese Differenz zwischen Ding und Nicht-Ding unterscheidet zwei unterschiedliche Daseinsweisen, Perspektiven auf die Wirklichkeit. Sie bestimmen das Verständnis Gottes, das Verhältnis zur Sinnfrage, den Blick auf das Leben. Religiöse Schriften können etwa nach Art des Besitzes, des „Habens“, als Depot an exklusiven Satzwahrheiten oder nach Art des „Seins“ als Metaphern der Offenheit und als Einladung gelesen werden, Wirklichkeit als Geheimnis zu lesen, so der Psychoanalytiker Erich Fromm. Die Grundunterscheidung, die viele Philosophen einfordern, umschrieb Heidegger als die Differenz von Seiendem und Sein (ontologische Differenz), Bultmann als Unterschied zwischen mythischem und existentialem Glauben, Jaspers als Differenz von Wissen und Glauben. Die Verwechslung von Wissen und Glauben kennzeichnet den Fundamentalisten, er glaubt nicht, er weiß und darum ist er die eigentliche Bedrohung für den Glauben, den er banalisiert und abschafft; er bleibt den Dingkategorien verhaftet und versteht Wahrheit als Besitz und nicht als Haltung der Offenheit, als Sensibilität für die Geschenkdimension des Daseins (vgl. Schaubild). Theologie bemüht sich um einen Seiten- oder Perspektivwechsel vom Sicherheitsbedürfnis und Besitzdenken zum offenen Dankbarsein. Der Perspektivwechsel wird dadurch erreicht, dass die begründende, sicherheitsfixierte Haltung aufgegeben und fallen gelassen wird. Dieser Wechsel ist allerdings nicht als Leistung zu begreifen, sondern gnadenhaft als Geschenk. Es wäre ja absurd, wenn der Wechsel der Tonart des Lebens von der Leistung zum Vertrauen nochmals in den Kategorien des Verdienstes und des Managements begriffen würde. (Ontologische) Differenz von Ding-Perspektive (Seiendem) und Nicht-Ding-Perspektive (Sein) Bereich des Warum, dominiert von der Frage nach Bereich des zweckfreien Daseins, dominiert von dem Wesen („was“), Heideggers Seiendes der Frage nach der Existenz („dass“), Heideggers Sein Verobjektivierendes, (fassendes Denken)
begründendes
Denken Seinsgeschichtliches, ereignisgemäßes Denken (lassendes Denken )
„Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend „Wie? Wann? Und Wo? – Die Götter bleiben nie, stumm! nach dem Gesetz, dem Grund, Warum und Du halte dich ans Weil und frage nicht Warum?“ Wie.“ (Goethe) Denken nach dem Ursache-Wirkung-Schema, das Hören auf den Zuspruch des Seins sich absolut zu setzen droht Sicherstellung, Berechnung, Verzweckung
Andenken des Nichtmessbaren, Zweckfreien, Unverfügbaren
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Verlängerbar zur Unterscheidung in Erklären
Verstehen (Dilthey)
Wissen
Glauben (Jaspers/Marcel)
Habenmodus
Seinsmodus (Fromm)
Grundwort Ich-Es
Grundwort Ich-Du (Buber)
Eindimensionalität
Mehrdimensionalität (Marcuse)
Subjekt-Objekt-Spaltung
Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus
(Stasis, Status quo) (analytisch)
(im Vollzug/Prozess/Geschehen) (dialektisch) (Bloch)
Instrumentelles Handeln
Kommunikatives Handeln (Habermas)
Rekonstruierbar in der Unterscheidungslogik von G. Spencer Brown; Differenz von: Ding
Nicht-Ding, wobei diese Seite betont wird (Ungleichgewichtige Unterscheidung)
Heideggers Wechsel der „Tonart“ durch eine „Verwandlung des Sagens“ bzw. eine Erschließungserfahrung, einen Sprung: „Alles hat einen Grund.“
„Sein und Grund: das Selbe“ „Sein: der Ab-Grund“
Theologische Ableitung weiterer Unterscheidungen (Bultmann): Historie
Geschichte
(historischer Jesus)
Verstehen von Geschichte ist Religion (kerygmatischer Christus)
Abstraktion
Konkretion für mich, existentielle Bedeutung
gewohnte Sichtweise
Neubewertung der Existenz, die sich als dankbar erfährt und überraschen lässt
(Sorge)
(Liebe)
Medium des Sprungs ist der Mythos, der entmy- Der Übertritt zur eigentlichen Existenz, das Verthologisiert/aktualisiert wird. lassen des Selbstbegründungsmodells … ist Thema der Entscheidung. ist Ziel der Verkündigung / Predigt. wird reflektiert in der existentialen Interpretation. geschieht durch einen Sprung. Der Überschritt ist selbst Geschenk/Gnade. Neue Seinsmöglichkeiten erschließen sich.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Gott als causa prima, „Woraufhin“
Gott als Existenzweise, „Wie der Existenz“
(Gott als Adresse, Subjekt)
(Index einer neuen Seinsweise, Prädikat) (Gott ≠ Sein) (Gott als ipsum esse, Beziehung)
Transzendieren als Bewegung des Höher und Bes- Transzendieren als Annahme von Begrenztheit; ser; Kompensieren von Schwäche (Perfectio-Den- Relativierung des Perfektionsbestrebens ken) Uneigentliche Existenz der Leistung, Sorge, Selbst- Erfahrung des Beschenktseins, des Danks begründung, Angst (Existenzsicherung) (Gewärtigen der Rechtfertigungsbotschaft) Zeit als kurze Dauer
Zeit als geschenkhafter, erfüllter Augenblick Deutlich werdende Existenzwahrheiten: Existenz ist nicht machbar, sondern Geschenk. Existenz realisiert sich je neu geschichtlich. Das Angewiesensein auf den Anderen wird deutlich.
Erkenntnis von Objekten
Selbsterkenntnis = Gotteserkenntnis Existenzerfahrung = Gotteserfahrung Existenzvollzug = Gottesvollzug
Das Wort „Gott“ soll etwas erklären.
Das Wort „Gott“ deutet Existenz.
Mythischer Glaube
Existentialer Glaube
Gott ist so besehen nicht als ein Gegenüber, ein klar identifizierbares Subjekt, als Adresse, ein Woraufhin zu denken – das wären Dingkategorien, wenn sie buchstäblich/nichtmetaphorisch genommen werden –, sondern als Prädikat, Beziehung, als „Wie der Existenz“, als Medium, also Vollzugsbegriff zu verstehen: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8 oder 4,16b). „Dass Gott ein Tätigkeitswort werde …“85, war der Wunsch des Schweizer Pfarrers und Schriftstellers K. Marti. Es geht also darum, Religion neu zu verflüssigen, hinter missdeutbar fixen Dogmen, der Übermacht reglementierender Lehrsätze das Lebendige neu zu sehen. Man muss nach Marx den Fossilien ihre eigene Melodie vorspielen, die sie nochmals verlebendigt. Dies bedeutet keine beliebige Manipulierbarkeit von Tradition, doch gilt für Heidegger und Hölderlin: „Der freie Gebrauch des Eigenen ist das Schwerste“. Die Theologin D. Sölle meint etwa, dass die entscheidende Glaubensentwicklung vom Gott über uns über einen Gott in uns zu einem Gott zwischen uns führt. Religion oder „Gott“ bezeichnen eine Existenzweise der Mitmenschlichkeit, des gegenseitigen Vertrauens, die eine Tiefe und Letztgültigkeitsdimension hat. Gerade auch wegen der Unterdrückungsdimension eines
85
Marti, K., Zärtlichkeit und Schmerz, Darmstadt (6. Aufl.) 1988, S. 135.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
patriarchal-männlichen Gottesbildes ist für feministische Theologinnen Gott selbstverständlich auch in mütterlich-weiblichen Bildern zu denken … Die Tiefe der Erfahrung, ihre Gültigkeit mag philosophisch bezweifelt werden: Gegenüber der Position Sartres, der die Absurdität über alle positive Erfahrung siegen sieht, behauptet die Religion die besondere Wertigkeit der Mitmenschlichkeit. Theologen wenden sich dagegen, dass das letzte Wort „Absurdität“/„Vergeblichkeit“ lautet und damit wiederum verobjektivierbare Tatsachen, die Endgültigkeit des Todes, die Überhand gewinnen; die nichtobjektivierbare Dimension von leisen Heilsmomenten lässt sich auf diese Weise nicht adäquat resümieren. Die Aussage der Letztgültigkeit des Sinns bleibt an eine Hoffnungsperspektive geknüpft. Bultmann stellt das Sinnpotential der Geschichte heraus. Sinnerfüllte Gegenwart, letztgültige Augenblicke sind erfahrbar: „Der Sinn der Geschichte liegt je in der Gegenwart, und wenn die Gegenwart vom christlichen Glauben als die eschatologische Gegenwart begriffen wird, ist der Sinn der Geschichte verwirklicht. Derjenige, der klagt: ‚Ich kann keinen Sinn in der Geschichte sehen, und darum ist mein Leben, das in die Geschichte hineingeflochten ist, sinnlos‘, muss aufgerufen werden: ‚Schau nicht um dich in die Universalgeschichte; vielmehr musst du in deine eigene persönliche Geschichte blicken. Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du musst ihn erwecken‘.“86
7. Alltagsreligion – Neue Relevanz des Glaubens/der Religion – Ein hermeneutischer Weg „Die Welt annehmen Ein Chassid Rabbi Mosches von Kobryn war sehr arm. Er beklagte sich einst beim Zaddik über die Not, die ihn im Lernen und Beten behindere. ‚In dieser unserer Zeit‘, sagte Rabbi Mosche, ‚ist die größte Frömmigkeit, über alles Lernen und Beten, wenn man die Welt annimmt, wie sie steht und geht.‘ … In der Jugend Rabbi Mendel rühmte sich einst vor seinem Lehrer, Rabbi Elimelech, er sehe abends den Engel, der das Licht vor der Finsternis hinwegrollt, und morgens den Engel, der die Finsternis vor dem Licht hinwegrollt. ‚Ja‘, sagte Rabbi Elimelech, ‚das habe ich in meiner Jugend auch gesehn. Später sieht man diese Dinge nicht mehr.‘ … 86
Bultmann, R., Geschichte und Eschatologie, Tübingen (2. Aufl.) 1964, S. 184.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Der Ort des Feuers Rabbi Mosche Löb sprach: ‚Feuer suchst du? Du findest es in der Asche.‘“ – Martin Buber87
Es kommt also alles darauf an, die Geheimnis-Dimension des Lebens neu zu buchstabieren. Der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich versteht Gott als Tiefen- und GeheimnisDimension des Lebens und umschreibt sie als „das, was unbedingt angeht“, ein „Symbol für das Unbedingte“. So sind die im Alltag auftretenden Momente von heilvoller Unverfügbarkeit aufzuzeigen, die als göttlich qualifiziert werden können. Es kommt darauf an, Jenseitigkeit neu zu denken, nicht als Stärke-Supermacht, sondern als andere Seinsweise; als eine Überschreitung der Wünsche nach Macht/Stärke, als Annahme von Schwäche/Hinfälligkeit – so ein Argument von Sölle. Auch der Philosoph Michel Serres meint: Was das Menschliche im Eigentlichen hervorgebracht hat, ist nicht in einem Mehr an Kraft oder intelligenter Findigkeit begründet, sondern gerade in der Durchbrechung des Prinzips von „Höher, Schneller, Weiter, Besser“, die Pietà, die Außerkraftsetzung des Prinzips der Perfektionierung: Das Menschsein beginnt für Serres da, wo erstmals ein Kind von einem Erwachsenen adoptiert wurde, wo das Prinzip der Generativität, das Denken in eigenen Familienclans, das Besitzstände sichern und vererben will, überwunden wurde.88 Auf Dietrich Bonhoeffer wurde schon eingangs als Kritiker der Vergegenständlichung Gottes eingegangen. Er schlug außerdem vor, die Theologen sollten 50 Jahre das Wort Gott vermeiden und stattdessen umschreiben, was sie damit meinen. Entscheidend ist also, wie man religiöse Metaphern versteht, dass man die Bildersprache der Religionen versteht. Wer die religiösen Bilder wörtlich und buchstäblich nimmt, steht im Verdacht, mythisch zu denken, sich der Übersetzungsarbeit zu entziehen, die notwendig ist, um den Bildern und Sätzen einen Platz im eigenen (aktuellen) Denkhorizont zu geben und sie dort zu implementieren. Demnach ist es nötig, sich kritisch nach seinem Vorverständnis, den Vorannahmen und Vorurteilen zu befragen. Viele Vorstellungen, die implizit, unausgesprochen vorausgesetzt werden, widersprechen dem Geist der alten Texte oder verdecken den Sinn der überlieferten Worte. (Auch, wenn es sich um wohlmeinende Interpretationen handelt, kann es sein, dass sehr verstellende philosophische Annahmen sich mit religiösen Ideen mischen, die dem Grundanliegen von Religionen nach Überwindung der Vergegenständlichungsperspektive letztlich zuwiderlaufen.) Man ist an das Gespräch zwischen Faust und Margarete aus Goethes „Faust I“ erinnert, in dem Faust eine eigene Interpretation, einen persönlichen Zugang einfordert/verteidigt, sich nicht um Namen streiten will und sich dagegen wehrt, einfach als unchristlich/atheistisch Buber, M., Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (11. Aufl.) 1990, S. 637, 584, 542. Vgl. Serres, M., Die Legende der Engel, Frankfurt a. M. Leipzig 1995, S. 225ff.
87 88
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
oder ungläubig angesehen oder abgestempelt zu werden. Religiös ist für Faust nicht der, der explizite Riten vollzieht, sondern der, der sich des Geheimnisvollen, das ihn ständig umgibt, bewusst ist. Fausts Antwort auf die Gretchenfrage ist ganz im Sinne moderner Theologie, da sie Religion nicht auf die Reproduktion bestimmter Formeln einengt und das elementare, existentielle Affiziertsein mit Transzendenz betont. Religiös ist für Faust, wer sich nicht mit den vordergründigen Belangen der Welt zufriedengibt und das Umfassende und Wunderbare in Beziehungen, gerade auch zu Gretchen, erlebt (Faust I, V. 3415–3468 – vgl. auch den Wittgenstein-Text unter A.). In ähnlicher Weise meinte Bultmann: Wer sich Gott zu gegenständlich wie ein Gegenüber vorstellt, wer Gott wie ein Etwas denkt, ein Seiendes, ist im Grunde Atheist, auch wenn er zu glauben meint; gläubig wäre der, der sich kein Bild von Gott macht und immer neu im Alltag eine elementare Geschenk- oder Forderungsdimension aufscheinen sieht.89 So kann sich leicht das Blatt wenden und der, der vormals sich als strikt gläubig verstand, steht in der Kritik oder muss sich infrage stellen lassen. In diesem Sinn meinte Bultmann: „Der Glaubende ist immer in Unsicherheit.“90 Die Unsicherheit bedeutet keineswegs einen Mangel an Vertrauen, sondern dass der Glaubende immer wieder von konkreten Situationen herausgefordert ist, die er als neu und einmalig begreift, so dass er sich hinterfragt und es ablehnt, Vorteile aus seinem Glauben zu ziehen. Glaube ist auf das konkrete Hoffnungs- und Vertrauenspotential des Lebens bezogen, nicht mit einem weltenthobenen, generellen Optimismus zu verwechseln. Bultmann führt weiter aus, dass ein Glaube aufgrund von wissenschaftlichen Gründen oder Beweisen kein Glauben wäre. Ein Reden von Gott wie ein Reden über ein Ding ist nicht möglich, es wäre von Grund auf eine atheistische Idolatrie. Wenn Gott die „alles/die jeweilige Existenz bestimmende Wirklichkeit“ meint, so bedeutet das gerade, dass Gott verkleinert wird, wenn man so tut, als könne man ihn in gegenständliche Kategorien einzwängen und über ihn reden. Das Gelingen der Gottesrede ist nicht Sache des Redenden, sondern es geht um eine Rede, die die Grundlagen des Lebens anspricht und auf das Vertrauen Bezug nimmt, aus dem alle leben. Wie kann nun ein Fisch merken, dass er im Wasser schwimmt, also das Allerelementarste sich vergegenwärtigen, dem er sich verdankt, (und derart grundlegend wäre ja der Gottesbegriff zu verstehen)? Nach Bultmann erfährt der Fisch das Wasser an einem Qualitätswechsel des Mediums, in dem er sich befindet: Er erkennt Wasser an einem Qualitätswechsel/einer Änderung der Existenzweise, wenn er etwa vom trüben in klares Wasser wechselt. In dieser elementaren
Bultmann, R., Die protestantische Theologie und der Atheismus, in: ZThK 68 Jg. 1971, S. 376–380; ders., Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: GV, Bd. 1, S. 26–37. 90 Ders., Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, S. 145. 89
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Weise meint Gott die Atmosphäre des Vertrauens, in der allein Menschsein möglich ist. Wenn sich Misstrauen oder Angst in Zuversicht wandelt, erfährt der Mensch etwas von Gott. Gott wäre also – im säkularen/nichttheistischen Sinn – zu beschreiben als die elementare Dimension des Vertrauens, die jeder Mensch braucht und aus der er lebt. Er bezeichnet eine Lebensweise (Wie der Existenz), die sich nicht selbst zu rechtfertigen versucht, sondern sich beschenkt weiß. Daher ist „Staunen und Dank“ (so der Titel eines Holzschnitts von Frans Masereel) eine gute Umschreibung für die Religion. Wer vorschnell kritisiert, man brauche dann keine explizite Religion mehr für die Artikulation von Dankbarkeit und Staunen, darf nicht übersehen, dass die Traditionen im besten Sinne eine fortdauernde Sensibilisierung anzielen. Nietzsche meinte, dass Religion nicht obsolet wird, dass sie sich häutet und bloß ihr moralisches Kleid auszieht. In ähnlicher Weise sieht F. Schleiermacher Religion nicht als direktive Ethik (einen Normenkatalog) oder als Ideologie und Weltanschauung (eine Form des Für-wahrHaltens), die man übernehmen muss, sondern als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“. Dieses entscheidende Moment der Religion, „die höchste Blüte der Religion“, bei dem Anschauung und Gefühl noch nicht getrennt sind, ist für den protestantischen Kirchenlehrer des 19. Jahrhunderts vor allem mit dem ersten Kuss oder der „bräutlichen Umarmung“ zu vergleichen: „ja nicht wie dies; sondern er ist alles dieses selbst.“91 Transzendenz, Gott, Göttliches ist erfahrbar, insofern der Mensch sich nicht von Leistung, Besitzkategorien oder Standesdenken leiten lässt, sondern voller Dankbarkeit und Offenheit ist. – Schleiermacher dachte sicherlich zu subjektivistisch und im Bann einer privaten Innerlichkeit; Sölle fordert darum, dass Religion sich auch massiv politisch äußern muss; ihre provokative Entgegnung lautet dann: „Glaube/ Religion heißt, ich vermähle mich mit der Revolution.“92 Sölle zitiert auch gerne Luthers Polemik: „Du glaubst an Gott, da tust du was Rechtes, das tut der Teufel auch …“ (die Aussage variiert den Jakobusbrief (Jak 2,19) geringfügig, hier ist von Dämonen die Rede, die dabei zittern), um den notwendigen emanzipatorischen Charakter jeder Gottesrede herauszustreichen. Es kommt also nicht auf den bloßen Glauben an, sondern auf die Option, die mit ihm verbunden ist: „Gott“ darf nicht für Angst oder (Selbst-)Unterdrückung oder Denkverbote stehen, sondern für Befreiung, Leben, Freiheit. Es ist also immer konkret nachzufragen, welcher Gott gemeint ist; der despotische Gott kann für tot erklärt werden, der die Existenz wandelnde Gott als Vertrauenssphäre nicht. Er gehört elementar zum Menschsein; mit Drewermann kann gesagt werden, dass nur wer liebt oder geliebt wird, frei ist.
Schleiermacher, F. D., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Stuttgart 1985, S. 50f: 92 Sölle, D., Sympathie. Theologisch-politische Traktate, Stuttgart (2. Aufl.) 1979, S. 13. 91
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Bultmann streicht heraus: Glauben/Gott verstehen heißt den Augenblick verstehen, was im Grunde schon die Stoiker gewusst haben; hinzukommt nun im Christentum ein neues Verständnis der Einmaligkeit und geschichtlichen Besonderheit des Augenblicks. Wie herausgestellt ist Gott für diesen Ansatz nicht mehr ein Gegenüber, eine Adresse, ein Woraufhin, sondern als Wie der Existenz, eine Lebensform zu denken. Glauben wäre nicht ein Für-wahr-Halten von Sätzen, die keinen Bezug zum Leben haben, sondern eine Option für das Vertrauen und eine mitmenschliche Offenheit für den Anderen, Dankbarkeit, die infrage steht und sich immer neu bewähren muss. Gabriel Marcel meinte: „Einen Menschen lieben, heißt ihm sagen, er werde nicht sterben.“ Liebe impliziert die Auffassung: „Wenn es nach mir ginge, müsstest du nicht sterben, aber es geht nicht nach mir.“ – Es leuchten also an verschiedensten Stellen des Alltags und der lebensweltlichen Erfahrung Momente auf, die ein Transzendieren beinhalten, einen Geschmack von Religion vermitteln, die Rede von Gott möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Wittgensteins Formulierung von Gott als „dem Gedanken an den Sinn des Lebens“ gehört hierher. Dass mitmenschliche Sinnerfahrungen religiöse Relevanz besitzen und im säkularen Kontext eine implizite Religiosität nahelegen, versucht eine elementare Theologie zu belegen. Natur kann als Sinn-Quelle erfahren werden, wenn sie als Spiegel oder Resonanzboden des mitmenschlichen Vertrauens fungiert und das Dasein ganz elementar als Geschenk verstanden wird. Lacans Aussage „Gott ist unbewusst“ will dagegen festhalten, dass das mythische Denken und Glauben nicht einfach auf einen Beschluss hin aufhören, vielmehr sich hartnäckig in diversen Projektionen wiederfinden. Lacan geht davon aus, dass allzu häufig Ordnungen ein letzter Sinn unterlegt wird, sich so Gottesglaube fortsetzt und darum eine ständige Analyse nötig ist. Der Glaube an Gott reproduziert sich also unmerklich als Ordnungsglaube. Gott wäre hier der Garant für das Funktionieren von Sozialsystemen, denn er verkörpert das leise Aufkommen der Perspektive, in der man bei seiner Arbeit beachtet oder auch sonstwie beobachtet wird, das Persistieren einer Ideal-Warte, die einen auch sonst begleitet und kommentiert. Lacan meint, die wenigsten Menschen können zu dieser Projektion Distanz einnehmen, geschweige denn wirklich ohne sie auskommen. (Sie verbürgt letztlich auch den Sinn von Institutionen; das, was ich mache, will gesehen/zur Kenntnis genommen werden.) Terry Eagletons Einschätzung kann daher einige Plausibilität beanspruchen: „Die allermeisten Menschen glauben, ohne dass sie wissen, dass sie glauben.“93
93
Eagleton, T., Was ist Kultur?, München 2001, S. 160. – Žižek weist auch auf den umgekehrten Fall hin: Menschen wissen etwa von der Klimaerwärmung, sie glauben aber nicht daran; sie nehmen das Wissen nicht ernst.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
8. Religion in Paradoxa „Was mich betrifft, so bezweifle ich, dass der Mensch jemals eine religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann; und ich bin geneigt zu denken, dass er, ist er nicht gläubig, hörig werden, und ist er frei, gläubig sein muss.“ – Alexis de Tocqueville94 „Glauben und nicht glauben sind etwas, das am wenigsten von mir abhängt.“ – JeanJacques Rousseau95 „Man darf nicht alles glauben, was man sieht. / Wie leicht geschieht es, dass man falsche Schlüsse zieht.“ – Molière/„Tartuffe“96
Religion befindet sich nach Latour in zahlreiche Widersprüche und Paradoxa verwickelt.97 Der Soziologe Bruno Latour meint ganz im Sinne einer säkularen Theologie, dass Religion keinen Inhalt vermitteln will, sondern primär die Haltung der Dankbarkeit und des Beschenktseins: „Wie viel Bytes hat die Religion? Nicht ein einziges. Nicht einmal ein einziges Null-EinsKomplement. Weder Zugriff noch Information noch Botschaft. Sie bietet Besseres als Informationsübertragung: Sie transformiert Abwesende in Anwesende, Tote in Auferstandene.“ „Ist es möglich, an dieser winzigen Flamme der persönlichen Liebe das Feuer der Religion wieder zu entzünden?“ (175, 179)
Vom Mikrovolk der Liebenden gilt es zur Nation der Religion überzuwechseln.98 Den Moment, der das Wort erneuert, kann man nach Latour Heiliger Geist nennen.
Tocqueville, A. de, Über die Demokratie in Amerika, Briefe II, S. 34. (zit. n. Hoye, W. J., Demokratie und Christentum. Die christliche Verantwortung für demokratische Prinzipien, Münster 1999, S. 365f.) 95 Rousseau, J. J., zit. n.: Man, P. de, Allegorien des Lesens II. Die Rousseau-Aufsätze, Berlin 2012, S. 345. 96 Tartuffe, zit. n.: Programmheft des Staatstheater Mainz Spielzeit 17/18: Man darf nicht alles glauben, was man sieht, Mainz 2017, S. 315. 97 Latour, B., Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011. (Die Seitenzahlen im Text beziehen sich hierauf.) 98 Die Thematik wird ganz ohne Bezug zu Sloterdijks Sphärologie abgehandelt, die ebenfalls zentral um diese Frage nach der Religion als Medium, dem Übergang von privater Bergung zu größeren Bergungseinheiten kreist. 94
203
4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
„Wir hätten Voltaire, Feuerbach, Nietzsche, Marx, Freud kanonisieren, sie zu Kirchenvätern erklären sollen. Sankt Friedrich [Nietzsche] hätte uns ein wenig besser geholfen zu beten als Bernadette Soubirous, und sein Heiligtum in Sils-Maria hätte nicht weniger Wunder bewirkt (nur in China sind innerhalb der Tempel Kapellen, die heiligen Philosophen gewidmet sind).“ (200)
Es gilt also auch nach Latour, keine religiösen Sonderschätze anzuhäufen. Die gerade genannten Philosophen weisen darauf hin. Latour vermeidet das so arg missbrauchte Wort „Gott“ und redet stattdessen von „G.“ Die Aussage „Die Existenz G.s hängt nunmehr von uns ab“ hält Latour für angemessen formuliert. „Ja, alles ist falsch an der Religion; und doch ist alles wahr, noch das letzte Komma“ (214). Von daher verwundert auch nicht Latours Aussage, dass Religion fragwürdig und zugleich brisant ist: „Religiöses Sprechen scheint auf seinem niedrigsten Pegelstand angekommen; und gleichzeitig hat man den Eindruck, dass sein Höchststand überhaupt erst bevorsteht.“ „Ist es mein Fehler, wenn der Sinn des Religiösen sich mangels Übersetzung so verkehrt hat, dass es das Ferne bezeichnet statt des Nahen, das Abwesende statt des Gegenwärtigen, den Geist statt des Fleisches, die andere Welt statt dieser Welt, das Transzendente statt des Immanenten?“ (244, 215)
Die Missverständnisse liegen natürlich nicht in Formulierungen eines Autors begründet, sondern in den vielschichtigen Begriffen der einzelnen Traditionen. Der alte Gegensatz von E. Fromm, die Differenz von Haben und Sein – eine Variation auf die ontologische Differenz und Grundunterscheidung von Seiendem/Ding und Sein/Nicht-Ding – mag verdeutlichen, dass das Paradigma der Religion die Daseinsweise der Güte, die Kritik des Verlangens nach einem Sonderwissen einschließt. Gerade die buddhistische Tradition ist voller Paradoxa, die sie in Form von Koans oder Lehrgeschichten entfaltet und die einen Neustart des Denkens initiieren wollen: „Wenn Geist und Herz erloschen sind, ist Feuer nur ein kalter Wind.“ So spricht der Zenmönch zu seinen Brüdern kurz vor seinem Verbrennungstod. So ist auch der zenbuddhistische Ausspruch zu verstehen: „Triffst du Buddha, erschlag ihn!“. Den Führer-Projektionen oder -Bedürfnissen ist zu misstrauen. Žižek meint, dass der Beginn der Befreiung darin besteht, dass man sich (wie in dem Film „Fight Club“ von David Fincher (1999), in dem der Protagonist sich vor den Augen des Chefs selbst verprügelt) die Bindung an den Herrn/Chef klarmacht und sich dieser – in einem geradezu gewaltsamen Akt gegen sich selbst – entledigt. Man erlaubt sich nicht mehr die einfachen Lenkungsphantasien, den Glauben an das Funktionieren der Ordnung, sondern 204
4.1 „Religion ohne Religion“?
nimmt ihren Mangel in den Blick, man hält es aus, dass der Kaiser „nackt“ ist, und ignoriert es nicht. In diesem Sinn hilft nur ein schwacher Gott, kein wohlfeiles religiöses All-InklusiveAngebot mit absoluter Heilsgarantie. Ähnlich paradox drückt sich Nietzsche aus: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt.“99 Und McLuhan bezieht sich auf Meister Eckhart: „Einzig die Hand, die auslöscht, kann die Wahrheit schreiben.“100
9. Definitionen von impliziter Religion – Nichtobjektivierende Bestimmungen von Religion „Aber Sie selbst beten noch nicht?“ „Ich bete zu allem. Sehen Sie, eine Spinne kriecht dort an der Wand, und ich bin ihr dankbar dafür, daß sie kriecht.“ – Kirilloff/F. M. Dostojewski101 „Du betest zu Gott, indem du das Lämpchen anzündest, und ich bete, indem ich mich über dich freue.“ – Staretz Sosima/F. M. Dostojewski102 „Alle Wirklichkeit ist ein Wirken, an dem ich teilnehme, ohne es mir eignen zu können.“ – Martin Buber103
Zusammenfassend sei nochmals an die Bestimmungen von Religion erinnert, die Religion nicht mehr im Sinne einer expliziten Praxis an Institutionen gebunden sehen, sondern vielmehr eine Haltung und einen Existenzvollzug des Menschen beschreiben. Explizite Religion mag durch die Säkularisierung einem besonderen Rechtfertigungszwang unterliegen und schwierig geworden sein; Religiosität im Sinn einer impliziten elementaren Alltagsreligiosität nicht; die Positionen wurden zum Teil schon angesprochen: a) Friedrich Daniel Schleiermacher: Religion gründet in dem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Religion ist nicht Ethik und Weltanschauung/Metaphysik, sondern verkörpert „Sinn und Geschmack für das Unendliche“:
Nietzsche, F., Ecce homo, Vorwort, S. 4. Meister Eckhart, zit. n.: McLuhan, M., Das Medium ist die Massage, Stuttgart 2011, S. 147. 101 Dostojewski, F. M., Die Dämonen, München (15. Aufl.) 1985, S. 327. 102 Ders., Die Brüder Karamasoff, München (22. Aufl.) 1987, S. 470. 103 Buber, M., Das dialogische Prinzip, Gerlingen (6. Aufl.) 1992, S. 8, 21, 65. 99
100
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Religionen interpretieren elementare Geschenkerfahrungen: Das Nichtmessbare wird für das Eigentliche gehalten. (Sie kultivieren Disclosure-Erfahrungen: die Erfahrung der Einheit von Subjekt/Objekt, eine Sensibilität für den erfüllten intensiven Augenblick, das Überwinden der Langeweile, der gedehnten Zeit.) Religion drückt das menschliche Eingebundensein, Geborgensein, Eingebettetsein, Beschenktsein aus. Sie hat es mit Bergungserlebnissen zu tun, die jeder als Kind erlebt hat, nicht wenige Religionspsychologen gehen davon aus, dass Paradies-/Himmelsvorstellungen Sehnsüchte nach der Geborgenheit des Mutterschoßes spiegeln. Religion hat es also mit dem Immer-Schon der Religion zu tun (vgl. auch die Aussagen von Lévinas: „Das Wesen des Diskurses/Gesprächs ist Gebet“ oder Malebranches Identifikation der Aufmerksamkeit als „natürliches Gebet der Seele“). b) Ernst Bloch: „Wer Hoffnung hat, hat Religion.“ Religion ist eine allgemein menschliche Dimension, die Perspektive auf das Andere, auf radikale Veränderungen. „Keine Landkarte ist vollständig, wenn auf ihr nicht das Land Utopia verzeichnet ist.“ c) Johann Baptist Metz: „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.“ Wenn Religion Routine ist, ist sie nicht mehr Religion. (Der Sonntag als Ruhetag, die Muße und die Feier repräsentieren das Grundanliegen von Religion. Es geht um einen Bruch mit dem Bisherigen, eine Feier des Neuen.) („Fest ist Gemeinschaft. Fest ist immer für alle“, so Hans-Georg Gadamer.) d) Eugen Drewermann: Religion hat es mit Geschenk zu tun, nicht mit Leistung; Religion ist eine Feier des Zweckfreien. Religiös ist, wer das Nicht-Messbare für das Eigentliche hält. e) Paul Tillich: Religion ist „das, was unbedingt angeht“. Religion ist dort, wo letzte Fragen gestellt werden, wo das Verhältnis des Menschen zu dem, was ihm unverfügbar ist (Tod, Glück, Leid, Liebe usw.), thematisiert wird. Religion umfasst das Erspüren des Geheimnisses des Lebens, seiner Tiefe. f) Albert Schweitzer: „Religion ist Ehrfurcht vor dem Leben.“ Religion ist der Gedanke an die Heiligkeit des Lebens. Alle Religionen fußen nach der Auffassung des jetzigen, vierzehnten Dalai Lama Tenzin Gyatso auf einer gemeinsamen Grunderfahrung: „Das Herz aller Religionen ist eins.“ Der japanische Zen-Meister Sokyu Inayaki Roshi, Abt des Myokoji-Klosters in Ichinomiya, das zur Rinzai-Schule des Zen-Buddhismus gehört, betont ebenso, dass Religion allgemein Erlösung nur dem in Aussicht stellen kann, der das Anhaften an gesellschaftlichen Kategorien wie Rang und Macht, das Streben nach Besitz und Geltung überwunden hat. Im jüdischen Talmud heißt 206
4.1 „Religion ohne Religion“?
es entsprechend: „Wenn ich nicht an mich denke, wer denkt dann an mich? Wenn ich nur an mich denke, bin ich dann noch ich?“ Nicht wenige Theologen meinen, dass die mystischen Grunderfahrungen aller Religionen sich nicht widersprechen. Die mystische Erfahrung ist elementar und universell; Vertreter verschiedener monastischen Traditionen betonen das ebenfalls. Mystik scheint alle Religionen zu verbinden. Raimon Panikkar, ein Grenzgänger zwischen östlichen und westlichen Kulturen, der sich für den multireligiösen Dialog einsetzte und vor allem um die Verbindung von Hinduismus und Christentum bemüht war, spricht in diesem Sinn von einer religiösen oder relationalen Ur-Erfahrung, der Erfahrung nämlich, dass das Eigentliche Beziehung. ist. So lautete auch Gregory Batesons Aufforderung: „Schau auf die Hand, Du siehst sie nicht richtig, wenn Du fünf Finger siehst, sondern wenn du vier (oder eigentlich mehrere) Beziehungen zwischen den Fingern siehst.“104 Religionen streben also allerorten einen Perspektivwechsel an, sie hintergehen die „normale“ gegenständliche Sicht auf die Dinge und riskieren einen neuen Blick auf die Wirklichkeit. Antoine de Saint-Exupéry formuliert im Sinne der religiösen Grunderfahrung („Der kleine Prinz“): „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Eigentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Simone Weil oder Paul Virilio würden hier zustimmen: Christentum ist eine Seh-Schule; ein stärkerer Fokus muss auf den Blick und seine blinden Flecke gelegt werden. Es finden sich in allen Religionen überlieferte Texte, Gebete oder Spruchweisheiten, Hymnen und Lieder, die Impulse zu der beschriebenen impliziten Religiosität bereithalten. – Und vielleicht ist gerade die Umwertung einfacher alltäglicher Vollzüge als religiös relevant/ entscheidend ein Merkmal der Weltreligionen. Die religiösen Texte wollen anleiten, sich der Endlichkeit radikal zu stellen, einer letzten Fraglichkeit nicht auszuweichen. Eine mehrfache Offenheit, einerseits gegenüber den gegenwärtigen Erfahrungen von Sinnlosigkeit und Sinn, andererseits gegenüber religiösen und literarischen Überlieferungen, ist nötig. Bultmann spricht von Wort- und Tatverkündigung; sich von traditionellen Texten und durch den Zuspruch von anderen sensibilisieren zu lassen, erscheint gleichermaßen wichtig.
104
Bateson, G., The Sacred Unity. Further Steps to an Ecology of Mind. Hg. v. R. E. Donaldson, Berkeley 1991, S. 303–304 „The correct answer to ‚how many fingers do you have?‘ is not ‚Five.‘ The correct answer is that what I have is four relationships between fingers. I think that it is clear enough to be able to bet thousand to one that ‚I have five fingers on this hand‘ is a wrong statement … Take your hand home and take a good look at it as an aggregate of relationships and not as an aggregate of objects.“ Sloterdijks Sphärologie hebt mit ihrem Primat des Atmosphärischen vor dem Materiell-Gegenständlichen ebenso das Relationale, die Beziehung, als wesentlich hervor.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Dabei bleibt festzuhalten: „Es gibt kein Glück – jedenfalls kein inklusiv-tätigkeitsbezogen verstandenes – ohne die grundlegende Erfahrung der Absurdität. Glücklich kann nur sein, wer radikal die Kontingenz seines Daseins erfährt und dieser eingedenk die Nähe zur Welt gewinnt.“105 Was Andreas Luckner über das Glück sagt, lässt sich auch auf die Sinn- oder Heilserfahrung ausdehnen. Dem Riss im Sein, der grundsätzlichen Gebrochenheit und Vorläufigkeit von Sinnerfahrungen ist nicht auszuweichen. In einer Zen-Geschichte entgegnet der Meister der Frage des Schülers nach Erleuchtung, dass keiner seine Erleuchtung herbeiführen oder erleichtern kann, so wenig wie das Aufgehen der Sonne zu erzwingen ist. Der Schüler fragt daraufhin, warum man dann überhaupt übt, betet oder meditiert. Der Meister entgegnet, das dient dazu, dass man den Sonnenaufgang überhaupt sehen kann. Hannah Arendt, die als Kind dem Rabbiner sagt, sie habe den Glauben verloren, erhält die Antwort: „Aber wer fragt danach?“ Lévinas kommentiert: „Die Antwort ist charakteristisch. Was bei uns wichtig ist, ist nicht das Glauben, sondern das Tun. Tun, das ist einmal das moralische Verhalten, aber auch das Ritual. Als ob das zwei verschiedene Dinge wären. Was heißt eigentlich Glauben? Woraus besteht der Glaube? Aus Worten? Aus Ideen? Aus Überzeugungen? Wie wird geglaubt? Wie die Psalmen sagen: Alle meine Gebeine werden sprechen (Ps 35,10). Der Rabbiner wollte sagen: Gutes zu tun, ist ein Akt des Glaubens. Das ist meine Konklusion.“106
Geschichten oder Gedichte sind als unaufdringliche Angebote der Sensibilisierung und eines neuen Selbstausdrucks zu verstehen, beides Kernbestimmungen von Gebet:107 „Sensible Wege Sensibel ist die erde über den quellen: kein baum darf gefällt, keine wurzel gerodet werden Die quellen könnten versiegen Wie viele bäume werden gefällt, wie viele wurzeln
Luckner, A., Klugheit, Berlin New York 2005, S. 79, zit. n.: Heidenreich, F., Glück, Lebenskunst und Klugheit. Die Wiederentdeckung der Kernkompetenz der Philosophie, in: PhR 54. Jg. 4/2007, S. 308–329. 106 Malka, S., Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003, S. 203. 107 Vgl. Luhmann, N., Lässt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?, in: Luhmann, N., Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 227–235. 105
208
4.1 „Religion ohne Religion“?
gerodet in uns“ „Meditieren Was das sei, tochter? gegen morgen noch am schreibtisch sitzen, am hosenbein einen nachtfalter der schläft Und keiner weiß vom anderen“108
10. Wertschätzung multireligiöser Kontexte – Lust und Last der Vielfalt „Es ist eine schreckliche und Ehrfurcht einflößende Wahrheit, dass die Anerkennung der Andersheit der anderen, der unvermeidlichen Getrenntheit die Bedingung des menschlichen Glücks ist. Gleichgültigkeit ist die Leugnung dieser Bedingung.“ – Stanley Cavell109 „Was macht es schon aus, auf welchem Wege der Erkenntnis jeder von uns die Wahrheit sucht? Es gibt nicht nur einen Pfad, zu solch großem Geheimnis zu gelangen.“ – Symmachus, 3. Relatio110
„Transzendenz und Güte“, für Lévinas Synonyme, „ereignen sich als Pluralismus“, so der jüdische Philosoph.111 Vielfalt muss aber keineswegs als nur beglückend empfunden werden. Der Andere ist häufig vor allem die Quelle der Irritation, der Traumatisierung, der Störung. Der Andere ist der, der mich hindert, mich endlos zu wiederholen, meint Baudrillard. Wie nur der Speer die Wunde, die er schlug, schließen kann (vgl. Wagners „Parsifal“), so ist die Begegnung
Kunze, R., gedichte, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 2007, 74, 101. Cavell, S., zit. n.: Hampe, M., Glück und Sinn. Das Problem von Einheit und Vielheit, in: Thomä, D. u. a. (Hg.), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart Weimar 2011, S. 58. 110 Symmachus, zit. n.: Toynbee, A. (Hg.), Auf diesem Felsen. Das Christentum – Grundlagen und Wege zur Macht, Wien München 1970, S. 236. 111 Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit, Freiburg (3. Aufl.) 2002, S. 445; Lévinas, E., Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht, Freiburg (2. Aufl.) 1998, S. 333: „Die Transzendenz ist es sich schuldig, ihre eigene Bekundung zu unterbrechen. Ihre eigene Stimme muss verstummen, sobald man ihre Botschaft hört. Ihr Anspruch muss sich dem Spott und der Ablehnung aussetzen lassen …“ 108 109
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
mit dem Anderen als „heilvolle Erfahrung der Irritation“ festzuhalten. Von Religionspädagogen kann man lernen, dass man gar nicht früh genug damit anfangen kann, Kinder mit Anderssein, mit anderen Religionen zu konfrontieren und die Erfahrung der Vielfalt zu vermitteln. Religionen gebärden sich zwar häufig wie normale Vereine: Wer sich nicht an die Satzung hält, wird gemieden. Abweichler und Reformatoren wurden in Religionen häufig ausgeschlossen oder als Häretiker/Apostaten/Ketzer verfolgt. Für Religionen wird es in Zukunft entscheidend sein, wie sie mit Anderen, Andersgläubigen, mit Devianz und Kritik intern umgehen. Ausschlüsse und Ausblendung unliebsamer Meinungen erscheinen naheliegend einfach, aber verhindern kollektive Lern- und Bildungsprozesse: Ernst Bloch meinte, das Beste, was das Christentum hervorgebracht hat, seien die Ketzer („Atheismus im Christentum“). In den Augen Blochs könnte Religionen eine neue gesellschaftliche Relevanz zuwachsen, wenn sie anerkennend verstehend statt verurteilend mit Anderssein umgehen. Gott und Religion haben genuin nichts mit der Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnungen zu tun. Religion als Feier des Zweckfreien kann allerdings leicht missbräuchlich eingesetzt werden. Religionen haben sich häufig dafür hergegeben, bestehende Ordnungen zu festigen. Wie René Girard und Lacan/Žižek deutlich machen, darf Gott aber nicht als Garant der Ordnung verwechselt werden; und dies ist schwierig zu realisieren, da jeder geneigt ist, sehr schnell die Stimme seines Überichs als religiösen Wink oder gar mahnende göttliche Stimme zu begreifen. Es kommt aber im Gegenteil darauf an, dass Religion die Stimme der Ausgeschlossenen annimmt, den Verfemten, Anteillosen zu ihrem Recht verhilft bzw. im Namen des Rests die Ordnung über den Haufen wirft und an einer Veränderung des Status quo arbeitet. Das Vertrauen, von dem Religionen sprechen, bedeutet also weniger das gefällige Einnisten in wohlige Atmosphären und Behaglichkeitszonen, sondern das Wagnis der Ausweitung von Bergungszonen; zur Programmatik von Religionen gehört also immer die Öffnung von bestehenden Vertrauensräumen. Und Religionen bleiben im Kontext der Säkularisierung dem Maßstab Menschlichkeit/Güte/Fähigkeit zur Inklusion verpflichtet. Sie haben nach Karl Jaspers den Weg der Offenheit für den Dialog zu gehen. „Die grenzenlose Kommunikation ist nicht ein Programm, sondern der umgreifende Wesenswille des philosophischen Glaubens. … Grenzenlose Kommunikationsbereitschaft ist nicht Folge eines Wissens, sondern der Entschluss zu einem Weg im Menschsein.“112
„Dialog und Kommunikation“ meinen also eine Lebenseinstellung, die sich den Widerfahrnissen und Gegebenheiten öffnet. Die Idee des Dialogs ist, dass der andere Recht haben könnte, so Jaspers, K., Der philosophische Glaube, München Zürich (8.Aufl.) 1985, S. 135.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Gadamer. Jaspers entwirft ein Konzept des philosophischen Glaubens, das Dialogoffenheit beinhaltet. Dialog bedeutet, Wahrheit nicht in den dinghaften Besitz-Kategorien zu denken, Kommunikation ist für Jaspers schon eine Dimension von Wahrheit: „Weil wir in der Zeit die Wahrheit als die eine ewige Wahrheit nicht im objektiven Besitz haben können, und weil das Dasein nur mit anderem Dasein möglich ist, Existenz nur mit anderer Existenz zu sich selbst kommt, so ist Kommunikation die Gestalt des Offenbarwerdens der Wahrheit in der Zeit.“ „Ein bewiesener Gott ist kein Gott. Daher: Nur wer von Gott ausgeht, kann ihn suchen. Eine Gewissheit vom Sein Gottes, mag sie noch so keimhaft und unfassbar sein, ist Voraussetzung, nicht Ergebnis des Philosophierens.“ „Der philosophische Glaube ist unlösbar von der restlosen Kommunikationsgemeinschaft. Denn eigentliche Wahrheit erwächst bei der Begegnung des Glaubens nur in der Gegenwärtigkeit des Umgreifenden. Daher gilt der Satz: nur Glaubende können Kommunikation verwirklichen. – Dagegen erwächst Unwahrheit aus der Fixierung von Glaubensinhalten, die sich nur abstoßen. Daher gilt der Satz: mit Glaubenskämpfern lässt sich nicht reden.“113
Wenn Religion wesentlich Offenheit meint, ist ein lernender Austausch zwischen den Bekenntnissen selbstverständlich und im Interesse jeder Religion. Lévinas konnte Pluralität als Erscheinungsweise der Transzendenz oder der Güte feiern. Damit ist zumindest auf religionsphilosophischer Ebene die Weiche für eine interreligiöse Verständigung gestellt. Pluralistische Kontexte bergen neue Chancen für ein interreligiöses Gespräch von gleichberechtigten Partnern: Vertreter anderer Religionen können nicht mehr als ungläubig abgestempelt oder vollkommen vereinnahmt werden (Exklusivismus oder Inklusivismus). Werden andere Religionen nicht mehr als unwahr oder bloße Vorstufe des eigenen Bekenntnisses abgetan, wird die Wahrheit des anderen ernst genommen und anerkannt. Auch kann aus den verschiedenen Religionen – wie R. Panikkar herausstellt – keine gemeinsame universale Gottesvorstellung herausgefiltert werden: „Der lebendige Gott wollte nie ein universeller Gott sein. Dies ist die große Abstraktion der Philosophen – oder vieler von ihnen. … Der lebendige Gott, der durch ein Volk spricht, der leidet, der schreit, singt oder tanzt, ist kein gemeinsamer Nenner. Die christliche Gotteserfahrung durch Christus ist nicht dasselbe wie die Erfahrung … durch Krishna. Gott ist einzigartig – und daher unvergleichlich. … Es ist eine Verrenkung des Denkens, wenn 113
Ebd., S. 40, 31, 134/35.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
man etwas Größeres, Inklusiveres sucht, das uns erlauben würde, die verschiedenen Begriffe des Göttlichen zu vergleichen. Nur ein anmaßender Verstand würde es wagen, so etwas zu versuchen.“114
Es erscheint also erforderlich, das interreligiöse Gespräch durch den deutlichen Verweis auf gemeinsame Grundoptionen anzuregen, ohne dabei die religiöse Vielfalt reduktionistisch zu harmonisieren.
11. „Projekt Weltethos“ – Globaler Markt, Partikularismus oder Dialog der Religionen „Religion ist auch Partei; und wer / sich drob auch unparteiisch glaubt, / hält ohne es selbst zu wissen, doch nur seiner / die Stange.“ –Tempelherr/Lessings „Nathan der Weise“ (V. 2345ff)
Auch wenn Religion in säkularen Gesellschaften zur Privatsache geworden ist, kommt es in der Frage nach der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit, der Grenze zwischen Staat und Religion immer wieder zu Konflikten: Sollten Kreuze in staatlichen Schulen hängen, darf der Staat die Burka verbieten? Dürfen muslimische Lehrerinnen in der Schule ein Kopftuch tragen? Ist Beschneidung muslimischer oder jüdischer Jungen eine erlaubte Körperverletzung? Im Kontext pluraler Ordnungen entspinnt sich immer auch ein Ringen um die öffentliche Aufmerksamkeit, um die Ausdehnung von Einflusssphären. Die Religionen können sich leicht in einer Konkurrenzsituation sehen, in der sie Missions- oder PR-Erfolge der anderen argwöhnisch betrachten. In der Beschneidungsdebatte von 2012 war allerdings zu beobachten, dass Vertreter der Kirchen für die freie Religionsausübung von Judentum und Islam gestritten haben. Nach dem Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame im April 2019 bieten auch muslimische Gemeinden ihre Unterstützung beim Wiederaufbau an. Ein solches Ethos der Gemeinsamkeit ist ganz im Sinne der Ringparabel des dramatischen Gedichts „Nathan der Weise“ von G. E. Lessing (1779). Mit der Figur Nathans hat Lessing dem aufklärerischen Gelehrten Moses Mendelssohn ein Denkmal gesetzt. Nathan erzählt das Gleichnis von dem Vater, der einen wertvollen Ring an einen seiner drei Söhne traditionsgemäß weitervererben muss. Dem Ring werden besondere Kräfte zugesprochen. Da der Vater die Söhne aber gleichermaßen liebt, lässt er zwei Ringe Panikkar, R., zit. n.: Knitter, P., Die Zukunft der Erde. Die gemeinsame Verantwortung der Religionen, München 1998, S. 328.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
nachmachen, die dem ursprünglichen ununterscheidbar gleichen. Nach dem Tod des Vaters wird ein Streit um die Echtheit der Ringe nur indirekt lösbar, jeder Sohn muss sich mit mitmenschlichem Engagement und Liebe als würdiger Träger des Ringes erweisen. Die Würde, Träger des wahren Ringes zu sein, ist kein Besitz, sondern immer neu zu vollziehen. So ist auch den drei monotheistischen Religionen aufgetragen, ihren Wahrheitsanspruch durch gute Taten zu belegen. Der Absolutheits- oder Exklusivitätsanspruch wird durch das Nebeneinander der verschiedenen Religionen relativiert und in eine Aufgabe umgemünzt. Die Echtheits- und Ursprungsfrage wird durch die wichtigere Frage nach der Realisierung von wahrer Humanität ersetzt.115 Aus der Pluralitätskonstellation kann ein heilsamer Wettbewerb um den größeren Beitrag zur Förderung einer humanen Gesellschaft entstehen. „Willst Du fromm sein, nun gut, dann verhalte Dich zunächst einmal ethisch!“, so lautet auch Žižeks Aufforderung an alle Fundamentalisten, die sich im Besitz ewiggültiger Wahrheit wähnen. Ein Bekenntnis, das sich der primären ethischen Aufgabe entzöge, würde sich als unwahr erweisen.116 Der Imperativ scheint unvermindert aktuell. Religionen werden leicht zu politischen oder ökonomischen Zwecken instrumentalisiert; man schätzt, dass immer noch zwei Drittel aller Kriege religiöse Hintergründe haben, in dieser großen Zahl religiöse Motivationen missbraucht werden. Zur Befriedung und Beendigung solcher Konflikte und zur Eindämmung religiös motivierter Gewalt hat der Schweizer Theologe Hans Küng das „Projekt Weltethos“ (München 1990) entworfen und sich maßgeblich für die Einberufung eines Weltparlaments eingesetzt, das 1993 mit 6500 Vertretern von über 200 Religionsgemeinschaften in Chicago tagte. Die „Declaration of a Global Ethic“, deren Bedeutung auf religiösem Gebiet sicher
In Lessings „Nathan der Weise“ (Stuttgart 2000) taucht die Frage nach der Angemessenheit der Metaphorik auf, die nicht unter den Teppich gekehrt werden soll. Sultan Saladin weist Nathan auf den Widerspruch hin: Die Religionen sind ja faktisch sehr unterschieden, während das überlieferte Gleichnis von einer strikten Gleichheit der Ringe ausgeht. Dieser Einwand gibt Nathan die Gelegenheit darzulegen, in welchem Sinn er die Nichtverschiedenheit der Ringe verstanden wissen will: Jede Religion wird von den Eltern an ihre Kinder immer mit dem Anspruch weitergegeben, das Beste für sie zu bieten, und die Religionen gleichen sich exakt in der Weise ihrer Überlieferung/Weitergabe von Traditionen. Und hier wäre es – das ist ein erneutes ethisches Argument Nathans – höchst unanständig, jemanden dazu zu drängen, sich gegen die Tradition der Eltern zu entscheiden. – Dieses haben die Christen getan, wenn sie Juden zur Taufe zwangen, derartig getaufte Juden nennt man Marrane. – Lessing wendet sich also hier sehr klar dagegen, in die „heilige“ Genese von Religion einzugreifen. Gegenüber der religiösen Urkonstellation (Kinder lernen jeweils von ihren Eltern Urges ten/Werte) sind inhaltliche Fragen zunächst sekundär. Zumindest der Sultan akzeptiert die Antwort Lessings (den Hinweis auf den gleichen Überlieferungszusammenhang) als angemessen: „Kann ich von dir verlangen, dass du deine / Vorfahren Lügen strafst, um meinen / nicht zu widersprechen? Oder umgekehrt“ (V. 1986f). 116 Žižek, S., Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a. M. 2005, S. 20. 115
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mit der Erklärung der Menschenrechte vergleichbar ist, wurde verabschiedet. Die Kernsätze des hier formulierten Weltethos lauten: Kein Weltfriede ohne Frieden der Religionen; kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog der Religionen, kein Dialog ohne gemeinsames globales Ethos und kein internationales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nichtreligiösen. Alle Religionen bekennen sich hier zu den Werten Frieden, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Gewaltlosigkeit, Pluralität, Toleranz, Solidarität und Ehrfurcht vor dem Leben. Die Durchsetzung und Entwicklung des Humanum, des Menschlichkeitsideals, ist das Ziel des ökumenischen Gesprächs unter den Religionen. Zwischen wahrer Humanität und wahrer Religion kann es keinen Gegensatz oder Widerspruch geben. Wie Menschlichkeit die Basis der Religion ist, so ist Religion als Ausdruck oder auch „Vollendung“ der Menschlichkeit zu verstehen. Küngs 1995 gegründete Stiftung setzt sich für Verständigung und interreligiöses Lernen ein.117 Schlüssel der Verständigung ist die Goldene Regel, der alle Weltreligionen uneingeschränkt verpflichtet sind. Die Goldene Regel „Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu!“ findet sich in östlichen Mitleidsethiken, zuerst wohl bei Konfuzius, und in der Bibel (im Buch Levitikus, in der Bergpredigt): Sie wurde von Immanuel Kant zu einer universalen Pflicht-/Vernunft-Ethik ausgebaut. Kants Kategorischer Imperativ (Menschheitsgesetz) des autonomen, also eigenverantwortlichen, sich selbst verpflichtenden Menschen lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde“ („Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“). Das „Projekt Weltethos“ hat also die Goldene Regel bzw. den Kategorischen Imperativ zu seiner Grundlage. Es beinhaltet das fundamentale Gebot, den anderen nicht zu verobjektivieren, nicht als Ding zu behandeln; die Ding-/ Nicht-Ding-Unterscheidung erweist sich also ein weiteres Mal als grundlegend. Der kategorische Imperativ weiß um die Menschheit in mir und im anderen: Das Gegenüber verkörpert die gesamte Menschheit; sie wird im anderen geachtet, ebenso erkennt das Subjekt die Menschheit in sich, wenn es das eigene Verhalten an einem universalen Maßstab misst und einen allgemeinen Vorbildcharakter realisieren will. Nach Hans Küng kommt keine Gemeinschaft ohne ethischen Grundkonsens bezüglich bestimmter Werte, Normen und Haltungen aus: Die unbedingte Geltung und Erfüllung dieser ethischen Pflicht ist der religiöse Grund des Ethos; Moral setzt in diesem Sinn Religion voraus. Dass Religion umgekehrt Moral braucht oder provoziert, belegte bereits die Ringparabel. Ethiker betonen, dass durch das kompromisslose Befolgen des Imperativs gerade die Dimension des Unbedingten entsteht oder erfahrbar wird. Zur zeitlosen Eleganz und bestechenden Klarheit Diese Ausführungen lehnen sich eng an den Artikel „Weltethos“ aus dem „Brockhaus Religionen“ (Mannheim Leipzig 2004, S. 680f) an, da der Verfasser in beiden Fällen derselbe ist.
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des ethischen Prinzips Kants gehört es, dass es den Menschen ohne Angabe von Inhalten verpflichtet; was man auch tut, man soll sich fragen, ob man sein Tun universalisieren, als Vorbild für alle ausgeben kann. Daneben ist natürlich auch noch wichtig hervorzuheben, dass das pflichtgemäße Tun allein nicht ausreicht, vielmehr meint der Imperativ, dass die Pflicht zugleich auch zur Triebfeder des Handelns wird, dass man sich die Pflicht voll und ganz aneignen muss und sie nie als Ausrede anführen darf. Entscheidend ist also der Wille, der Antrieb und die Motivation, mit der das ethische Tun vollzogen wird; und der kann nur von der Verpflichtung gegenüber dem ethischen Prinzip geleitet sein. Die Anerkennung der unbedingten Gültigkeit des Kategorischen Imperativs/der Goldenen Regel macht den Willen heilig; das Subjekt realisiert sich hier tatsächlich als autonom, es gibt sich ein Gesetz, und als frei, die Vernunft siegt über Neigungen, das Wollen anderer. – Zu Kants Ethik gehört die Überzeugung, dass dieser Ethik-Entwurf die einzige dem Menschen gemäße Ethik ist; selbst wenn faktisch noch nie ein Mensch interesselos/ unegoistisch/pflichtbewusst gehandelt hätte, bleibt diese Ethik Ausdruck seiner Würde – jedenfalls mehr als jedes utilitaristische Kalkulieren über etwaige Nutzen/Folgen einer Handlung. Kants Ethik will also den äußersten menschlichen Möglichkeiten, einem Sinnoptimum, entsprechen und uneigennützigem Tun den Boden bereiten. Sie formuliert den äußersten Anspruch an den Menschen und antwortet auf die Fähigkeit oder formale Möglichkeit zu unbedingtem Handeln.118 Wenn der Mensch nicht mehr bedingt, sondern unbedingt handelt, das Gute um des Guten will, verschmelzen Ethik und Religion; Gott ist hier direkt zu erahnen, das Unbedingte bildet den Horizont des ethischen Tuns. Kants Ethik braucht also nicht die Bestätigung, dass das Tun letztlich uneigennützig, selbstlos, gut war – die kann es nicht geben; wie könnte auch eine letzte Gewissheit darüber aussehen, ob die Motivation des eigenen Tuns tatsächlich einem universalen Maßstab entspricht; es reicht die Gewissheit über die Ausrichtung des Tuns, die Einsicht in die unverbrüchliche Gültigkeit der Grundoption.119 Für Küng ist das Gespräch der Religionen natürlich auch auf atheistische bzw. religionskritische Positionen auszuweiten. Religionen haben einen Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft, d. h. konkrete Schritte der Gleichberechtigung unter den Geschlechtern und der Solidarität, zu leisten und die Forderungen der Aufklärung nach Einhaltung von
Nur die Pflichtethik entspricht nach Kant der Souveränität und Autonomie des Menschen. Auch wenn die Ethik uns überfordert, so wäre sie allein der Freiheit und Würde des Menschen gemäß. 119 Auf Untiefen des Kategorischen Imperativs weist Žižek hin, wenn er festhält, dass hier das „Dass“ des Gesetzes dem „Was“ des Gesetzes (dem Inhalt) vorangeht; bevor ich weiß, was ich tun soll, ist bereits klar, dass es ein Gesetz geben muss. Zum Zweiten impliziert der Imperativ eine Selbstüberforderung. Das Subjekt mutiert zum UN-Menschrechtskommissar, der niemals außer Amt sein darf. Eine völlige Entzweiung des Subjekts, bei der der innere Befehlsgeber letztlich das Scheitern des Ausführenden genießt, entspräche einer sadistischen Konstellation. 118
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Rationalitäts- und Menschenrechtsstandards (etwa das Verbot der Beschneidung der Frau) als ureigene Angelegenheit zu begreifen. Wenn man diesem Ansatz folgt, kann man Kants praktische Ethik als letzten Ausdruck der Religion verstehen. „Ich glaube an Gott“ kann – wie bereits nach Lichtenberg – nichts anderes heißen als: „Ich kenne meine Gebote und Pflichten“ bzw. achte ihre Gültigkeit. Und die jeweilige Religion kann nur noch einen spezifischen Motivationsgrund und kulturell differierenden Kontext liefern, auf dem sich eine immer gleiche Ethik zu entfalten hat. – Zuweilen wird diese Explikation der Religion als Ethik auch als zu grobe Entmythologisierung angesehen, die das Spezifikum der Religion auflöse. Der Religion werde der Geheimnischarakter genommen, wird kritisiert. An dieser Stelle lässt sich aber mit Kierkegaard auf einen Unterschied zwischen Ethik und Religion verweisen. Ethik, das Lebensmodell „Sokrates“, steht für die Orientierung an Prinzipien. Die Religion, das Lebensmodell „Abraham“, steht – so Kierkegaard – für die Aussetzung des Ethischen, die Hinwendung zur Ausnahme, die Betonung des ausgeschlossenen Rests, die unwahrscheinliche Bedeutung eines irreduziblen Stücks Geschichte. Die religiöse Existenzform überbietet nach Kierkegaard die ethisch-philosophische, wie die ethische Existenz ihrerseits die ästhetische Glückssuche (das Modell „Don Juan“) überwindet. – Man kann also nicht einfach sagen, dass durch die ethische Pointierung die Religion ihre metaphysische Aura verliert und ihre Rationalisierung das religiöse Skandalon, ihre Extreme abschwächt. Vielmehr ist die Philosophie von den religiösen Aussagen, messianischen Verheißungen, Visionen der Inklusion und Neubewertung des Ausgeschlossenen herausgefordert, die Grenzen und Unfeinheiten des Prinzips zu überdenken. Religion setzt andere Akzente als Ethik: Stärker als Prinzipien oder Allgemeingültiges zählt die geschichtliche Konstellation, die Kontingenz. Die Ewigkeit hängt an dieser irdischen, unvollkommenen Existenz. Das Universale wird gegen das Partikulare eingetauscht. Der Rest zählt mehr als die vorherrschende Ordnung. Das Leben gewinnen bedeutet, das Leben zu verlieren … „Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden.“ (Ps 118,20)
Der Fokus auf dem Verdrängten, Verfemten und Ausgeschlossenen als religiöse Grundeinstellung ist daraufhin angelegt, Vereinheitlichungstendenzen entgegenzuwirken. Und sogleich werden zwischen Religionen und emanzipatorischen Bewegungen neue Gemeinsamkeiten klar. Es wird ebenso deutlich, dass einige Philosophien, die sich um die Frage nach dem übersehenen Rest kümmern, eine große Nähe zur monotheistischen Tradition aufweisen (vgl. Freud, Benjamin, Adorno, Žižek). Einige Kritiker der Globalisierung sehen in ähnlicher Weise in der multikulturalistischen Toleranz, wie sie letztlich das Weltethos vorsieht oder zumindest nicht verhindern kann, einen 216
4.1 „Religion ohne Religion“?
„Rassismus ohne Inhalt“ (so etwa Žižek): Jede Religion wird ihres Spezifikums beraubt und die jeweilige Tradition verkommt zur austauschbaren Ware: Jede Religion soll letztlich in der Goldenen Regel aufgehen, keine Religion darf (politisch) mehr wollen, als Toleranz untereinander zu fordern. Der Verzicht auf den letzten Wahrheitsanspruch ihrer partikularen Traditionen scheint die einzelnen Religionen zu einem folkloristischen Beiwerk der universalen Ethik zu reduzieren. Von jeder Religion wird also ohnehin in den Koordinaten des weltweiten Kapitalismus verlangt, dass sie sich freiwillig zurücknimmt, sich als Angebot versteht und eine globale Marktund Konkurrenzsituation rückhaltlos akzeptiert. Es steht allerdings infrage, ob ein interreligiöser Pluralismus oder Multikulturalismus, der die Gleichheit aller Religionen propagiert, zwangsläufig zu einem Supermarkt der Religionen führen muss, in dem jeder Klient oder „Kunde“ mit Selbstbedienungsmentalität sich das aus einer Religion nimmt, was er gerade braucht oder ihm passt. Die Religionen sind somit herausgefordert, gegen Vereinheitlichungsbestrebungen ihre Eigenheit herauszustellen bzw. ihre Partikularität zu verteidigen. Leicht kompatible Destillate einzelner Traditionen sind höchst problematisch. Indes erscheint die Goldene Regel (der Kategorische Imperativ) in einem neuen Licht: Sie meint nicht nur Gastfreundschaft, sondern gebietet, den Anderen genau in dem anzunehmen, was total unverständlich und fremd erscheint. Toleranz gegenüber Anderen kulminiert also in der Annahme des Fremden und Abgründigen, das sich einer einfachen Vereinnahmung widersetzt. In diesem Sinn deutet Žižek die Goldene Regel, das Nächstenliebe-Gebot als unbedingte Achtung der Fremdheit des anderen: „Eine derartige Ethik ist weder imaginär (es geht nicht darum, den Nächsten wie uns selbst zu lieben, insofern er uns selbst gleicht, insofern als wir in ihm ein Bild unserer selbst sehen), noch symbolisch (es geht auch nicht darum, den anderen aufgrund der Würde, die ihm durch seine symbolische Identifizierung verliehen wird, zu respektieren, durch die Tatsache, dass er zu derselben symbolischen Gemeinschaft wie wir gehört, auch wenn wir diese Gemeinschaft im weitest möglichen Sinn auffassen und ihm als ‚Mensch‘ Respekt erweisen): Was dem anderen die Würde einer Person verleiht, ist nicht irgendein universalsymbolischer Zug, sondern genau das, was in ihm ‚absolut partikulär‘ ist, sein Phantasma, jener Teil von ihm, von dem wir sicher sein können, dass wir daran niemals teilhaben werden. Um Kants Worte zu verwenden: Wir respektieren den anderen nicht aufgrund des universellen Gesetzes, das in jedem von uns wohnt, wir tun es im Gegenteil aufgrund seines äußersten ‚pathologischen‘ Kerns, aufgrund der absolut partikulären Weise, in der jeder von uns ‚seine eigene Welt träumt‘, sein Genießen organisiert.“120
Žižek, S., Mehr-Genießen, Lacan in der Populärkultur, Wien (2. Aufl.) 1997, S. 89.
120
217
4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Wenn der Religionsphilosoph Emmanuel Lévinas meint, dass zum Mysterium Israels die von der Illusion Befreiten gehören, so löst er die engen Reglements der Zugehörigkeit zum Judentum auf und weitet den Begriff des Judentums auf die Geschichte der Unterdrückung und der mitleidenden Solidarität insgesamt aus. Eine ähnliche Blickverlagerung unternimmt seine Aussage: „Nur die Menschheit ist des Trostes würdig, die sich dieses auch enthalten kann.“121 Gerade in der Frage des Leidens gibt es nur eine Antwort, das Mitleiden, die Solidarisierung und das Ende harmonisierender Theorien. Lévinas sieht den Menschen dazu berufen, sich aus den vorfindlichen Systemlogiken herauszulösen. Eine derartige Freiheit oder Souveränität belegt Lévinas mit der Metapher der Ewigkeit.122 „Ewigkeit wird daher nicht als logische Idealvorstellung begriffen, in der das Individuum aufginge, sondern als Durchdringung der Welt mit Liebe, als Teilhabe aller Kreatur am Wort ‚wir‘, ohne dass sich das Geschöpf in der Gemeinschaft auflöste.“123 Derartige Aussagen weiten die Grenzen der Religion aus, sie wagen eine Öffnung, die Religionen befähigt, auf aktuelle Konstellationen zu reagieren. Wenn man die Reduktion religiöser Traditionen auf eine gemeinsame religiöse oder ethische Grunderfahrung und zugleich das globale Marktszenario akzeptiert, ist der Dialog zwischen den Religionen keineswegs von Komplikationen befreit. Es stellt sich die Frage nach einem wirksamen Antidot gegen globalisierende Vereinnahmung und den Ausverkauf kultureller Eigenheiten. Ein Gespräch zwischen den Religionen wird aber auch dann interessant und komplex, wenn deutlich wird, dass – woran Panikkar erinnerte – Religionen grundverschiedene Heilsverständnisse und Hoffnungen verfolgen. Monistische/östliche Religionen etwa formulieren eine Heilshoffnung, die sich an der Natur orientiert und in ihren Kreisläufen eingebettet sieht, monotheistische/westliche Religionen richten sich eher an der Geschichte, der Einzigkeit und Wirksamkeit menschlicher Akte aus (vgl. untenstehende Übersicht).
Lévinas, E., Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien (2. Aufl.) 1992, S. 92. Und: Lévinas, E., Intention; Ereignis und der Andere, Gespräch mit Ch. v. Wolzogen, in: ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 137: „Ich liefere eine Theologie ohne Theodizee. Kant hat auch so gedacht. Es ist nicht zu predigen: Eine Religion ohne Predigt. Das kann man dem Anderen nicht zumuten, das kann man sich zumuten, sich selbst zumuten, eine Verantwortung für sich übernehmen – auch sehr schwer –, aber dem Anderen darf man nicht predigen.“ – Vgl. Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. (4. Aufl.) 1997, S. 255: „Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, dass es ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen. Hoffnung ist am ehesten bei den trostlosen.“ 122 Vgl. Lévinas, E., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München Wien 1991, S. 119: „Freiheit gegenüber der offenbaren Logik der Ereignisse, Imstandesein, sie zu beurteilen, nichts anderes heißt Ewigsein.“ 123 Ebd., S. 111 (113ff.) und S. 109. „Offenbarung ist immer schon Liebe.“ 121
218
4.1 „Religion ohne Religion“?
Es dürfen also Unterschiede keineswegs vorschnell nivelliert und übergangen werden: Monistische Religionen denken Gott eher als Prinzip, als das Eine, mit dem sie sich verbinden, in das sie sich (nach einem finalen Einfachwerden und Heraustreten aus dem Rad der Wiedergeburt) auflösen wollen; monotheistische Religionen sprechen – natürlich bildhaft – von Gott als Person, dem Einen, hoffen auf die Bedeutung und Relevanz von Individualität, die Gültigkeit ihres geschichtlichen Wirkens, und betonen die Einzigartigkeit der Person, die Singularität menschlicher Existenz. Wie schwierig hier die Vermittlung ist, zeigt etwa die Dogmengeschichte des Christentums, in der immer wieder versucht wurde, monistische Elemente in den Monotheismus zu adaptieren und integrieren. Die Ergebnisse langer Austauschprozesse blieben hier häufig Formelkompromisse (vgl. Konzil von Chalkedon, 451: Hier wird über die Gottessohnschaft, das Wesen und die Gestalt Jesu Christi, gesagt, dass in ihm Gottheit und Menschheit nicht vermischt sind; ein Einheitspunkt beider Naturen wird nur genannt, aber nicht positiv umschrieben; die Eigenheit der differierenden Heilshoffnungen wird gewahrt.) Entscheidend für einen wirklichen interreligiösen Dialog ist überdies, dass sich die Dialogpartner über die Probleme und Begrenztheiten der eigenen Religion austauschen können; der interkulturelle Dialog, in dem nur die eigenen Stärken vorgewiesen werden, bleibt respektvoll, aber erreicht keine übergreifende Solidarisierung, die das Leiden an der Tradition, die Brüche und Risse reflektiert, also keine neuen Universalisierungen. Interessant ist also erst der interreligiöse Dialog, der die eigenen Defizite zu artikulieren wagt. Zu einem differenzierten Blick auf die Geschichte des Monotheismus gehört etwa, dass seine theoretische Ausformulierung die Vorstellungen von mehreren Göttern nicht direkt beseitigen konnte. Schäfer weist darauf hin, dass der jüdische und der christliche Monotheismus mit binitarischen Vorstellungen durchsetzt waren; in der Bibel sind die diversen Gottesnamen ein schwacher Niederschlag des Ringens um das Gottesbild, das keineswegs als einheitlich vorzustellen ist, es ist daher der Hinweis nötig, dass die hier vorgestellte Typisierung des Gegensatzes von Monismus und Monotheismus vor allem einen heuristischen Wert hat, also zur Erlangung von gedanklicher Klarheit unverzichtbar erscheint.124 Die religiösen Grundperspektiven einer monotheistischen Geschichtsorientierung (Fremderlösung) und eines monistischen Kosmozentrismus (Selbsterlösung) sind idealtypischerweise grundverschieden. Dass sich verschiedene Mischformen, Integrationsversuche oder Brückenschläge ausbilden, schwächt keineswegs die wesentlichen, tiefen Differenzen in der Grundlogik der beiden Heilsmodelle ab:
Schäfer, P., Anziehung und Abstoßung. Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Begegnung, Tübingen 2015; ders., Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017.
124
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Religiöse Grundorientierungen: Geschichte oder Natur125 Übersicht
Monotheistische Religionen
Monistische Religionen
Judentum, Christentum, Islam (geschichtsorientierte Religionen)
Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, u. a. (kosmozentrische Religionen)
Der Glaube an einen „personalen“ Gott, Die Verehrung eines zugrundeliegenden der die Verehrung anderer Götter aus- göttlichen Prinzips; die Verehrung von schließt Göttern ist zugelassen Gottesbegriff
Gott als der Eine
Gott als das Eine
Entgötterung der Natur, Gott als nicht- Natur als Emanation des Göttlichen, assimilierbarer Anderer (Imperativische Gott als erfüllter Augenblick (VokativiRede von Gott) sche Rede von Gott) Orientierung an Geschichte,
Orientierung an Natur,
lineares Denken
zyklisches Denken
Zeitverständnis
Betonung der Einmaligkeit der Geschichte
Reinkarnationsglaube
Offenbarung
Gott offenbart sich vorrangig in der Ge- Gott offenbart sich in der Natur; der Kosschichte, durch die Propheten oder den mos ist voll von Göttern (Emanationen, Messias (relationale Vorstellung) Avatare) (naturale Vorstellung)
Hoffnung I
Geschichte läuft auf ihre Vollendung, ein Der Kreislauf der ewigen Wiederkehr und Gericht hin. der Reinkarnationen zielt auf eine Auflösung im All-Einen.
Erlösungsverständnis
Vertrauen auf Fremderlösung
Wege der Selbsterlösung (durch Erkenntnis, Liebe, Frömmigkeit) meist futurische Heil ist nicht allein durch eigene Anstrengung zu erreichen. (Heil kommt von Erlösung nach dem Tod. außen.)
Hoffnung II
Hoffnung auf einen Fortbestand der indi- Hoffnung auf eine Auflösung des Selbst viduellen Seele und eine Vereinigung mit dem letzten Einheitsprinzip
Denkperspektive
(in mythischer Diktion)
Ziel: Sein bei Gott, Freisein von Leid, Ziel: Austritt aus dem Kreislauf der WieSchuld und Tod dergeburten, Auflösung im All-Einen Hoffnung III
Letzte Gültigkeit ethischer Taten
Entselbstung, endgültige Ablösung von der Welt
Schwerpunkt
Betonung der Besonderheit
Auflösung der Besonderheit
Befreiung in der Geschichte
Befreiung von der Geschichte
Vgl. den religionsgeschichtlichen Ansatz von Karl-Heinz Ohlig (Religion in der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 2002).
125
220
4.1 „Religion ohne Religion“?
Tendenzen
Differenz – Verweilen beim Negativen
Einheit – Überwindung des Hindernisses zur Welt/Einen
Anleitung zu einem Denken des Anderen/ Anleitung zu einem Denken des Selben, Fremden, der Spur (Alterität, Dualität) der Harmonie, Identität, Totalität Distanz zur Fremdheit wahren
Distanz zum Einen überwinden
Partikularen Universalisierung des Prinzips
Grundthema
Universalisierung (Rests, Fremden)
Philosophische Optionen
Das je Konkrete, das utopische Noch- Das Allgemeine Nicht
Hintergrund
Negativität des Subjekts, Geschichte, Ver- Gebärmutter-Bergung, Integration, Abantwortung (Gott der Witwen/Waisen) hängigkeit, Gewaltlosigkeit
des
Der Zusammenhang von Geschichte und Differenz, Bruch und Rest-Dimensionen deutet sich in folgendem Zitat Žižeks an: „Geschichte im eigentlichen Sinne ist die Spannung zwischen der Geschichte und dem ‚ewigen‘ (traumatischen) Kern. … Die Idee des ‚Endes der Geschichte‘ ist dem wahren historischen Ansatz viel näher als der simplizistische globalisierte Historismus (d. h. das naive Gegenargument, die Geschichte sei noch lange nicht vorbei) … , da sie die Vorstellung eines radikalen Bruchs impliziert, eines Risses zwischen vorher und nachher – und solch ein Riss im Kontinuum der Geschichte ist das Merkmal von Geschichte – ‚Geschichte‘ im radikalen Sinne des Begriffs ist nichts als die Abfolge solcher Brüche, die die Bedeutung der Geschichte neu definieren.“126
C. Konturen religiöser Praxis – zu einer Theologie der Frage „Gott erschließt sich also als derjenige, der dem Menschen seine Humanität neu erschließt.“ – Norbert Copray127
126 127
Žižek, S., Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a. M. 2001, S. 145. Copray, N., Kommunikation und Offenbarung, Philosophische und theologische Auseinandersetzungen auf dem Weg zu einer Fundamentaltheorie der menschlichen Kommunikation, Düsseldorf 1983, S. 326.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Die folgenden Ausführungen, die aus der christlichen Perspektive argumentieren, plädieren für eine Wertschätzung der Frage, des Zweifels und der Offenheit im Raum der Religion. Das Suchen, Fragen und Ringen um Verstehen ist bereits ein religiöser Vollzug oder Gebet – so die im Folgenden auszuformulierende These, zumindest ist für Martin Heidegger das Fragen „die Frömmigkeit des Denkens“. Es ließen sich viele weitere Belege aus den diversen religiösen Traditionen finden, die hier leider nicht aufgeführt werden können. Hermeneutik ist die philosophische Lehre vom Verstehen, sie denkt über den Wert und die Relevanz von Fragen nach; sie unternimmt das zirkuläre Projekt, Verstehen zu verstehen. Sie begann mit dem Textverstehen und unterschied verschiedene Lesarten von Texten (einen eher wörtlichen, am Buchstaben orientierten, einen historischen, einen metaphorischen/allegorischen oder auch zukunftsgerichteten Textsinn usw.), weitete sich aber dann auf das Gebiet des Existenzverstehens aus. Der Versuch, das Leben zu verstehen, ist mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert wie das Textverstehen: Man hat es mit einer ähnlichen Ausgangslage zu tun (dem hermeneutischen Zirkel): Man muss akzeptieren, dass das Verstehen, das Leben immer schon angefangen hat; man beginnt nie von einem Nullpunkt aus zu verstehen (man hat immer schon angefangen zu verstehen, versteht nie nichts und nie alles), und man geht immer interessengeleitet vor. Wenn man nicht damit rechnen kann, absolute, unhinterfragbare Grundwahrheiten zu erlangen, so kann man sich doch jeweils das Vorverständnis, das man unhinterfragt an den Text, an Lebensprobleme heranträgt, bewusst machen. Hermeneutik wurde zuweilen als alternativer Weg der friedlichen Konfliktlösung nach der Sackgasse blutiger Religionskriege gesehen (O. Marquard). Verstehen geschieht immer in konkreten Situationen und versucht darum nicht, absolute Wahrheiten zu ermitteln, vielmehr Grundprobleme, Fallstricke zu ermitteln. Oder Heidegger formuliert klarer: Verstehen, Denken bedeuten in erster Linie Destruktion, Zerstörung des Vorurteils, Zersetzung des Vorverständnisses. Die Hermeneutik bestätigt und bekräftigt das, was im vorherigen Abschnitt B. gesagt worden ist: Die Unterscheidung der beiden Wahrheitstypen und ihrer unterschiedlichen Struktur ist bereits eine zentrale hermeneutische Erkenntnis, ebenso die Begrenzung der Verdinglichungstendenz, ohne die ein menschliches Leben in Gefahr wäre. Die Beschränkung religiöser Aussagen auf den Typus der nichtobjektivierbaren Beziehungswahrheit setzt sich von Bestrebungen ab, Religionen auf Satzwahrheiten festzulegen und diese für buchstäblich unmetaphorisch zu halten. Verstehen als elementare Weltaneignung ist bereits als religiös (vgl. Otts Gleichsetzung von Theologie und Hermeneutik) zu qualifizieren; denn es geht hier um eine Achtung der NichtDing-Dimension des Lebens, die Unterscheidung von Ding und Nicht-Ding. Marquard umschreibt Hermeneutik als Suche nach der Frage, auf die der Text/das Leben eine Antwort ist. Es kommt also nach Marquard darauf an, immer wesentlicher oder radikaler zu 222
4.1 „Religion ohne Religion“?
fragen, den eigenen Frage-Horizont zu reflektieren. Marquard meint: „Jede Philosophie ist metaphernpflichtig …“ Ohne Metaphern kein Verstehen, entscheidend ist aber: „Man versteht etwas, indem man es versteht als Antwort auf eine Frage. Anders gesagt: man versteht nicht, wenn man nicht die Frage kennt und versteht, auf die es die Antwort war oder ist.“ 128
1. Zur Metaphernsprache der Religionen „Wahr sind nur Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“ – Theodor W. Adorno129 „Wahrscheinlich wurde der homo zum sapiens, entwickelten sich Hirnprozesse über Reflexe und bloßen Instinkt erst hinaus, als die Gottesfrage auftauchte, als sprachliche Mittel es ermöglichten, die Frage nach ihm zu formulieren.“ „Keine Gott-ist-tot-Rhetorik, keine Erosion der organisierten Religion in den Supermärkten des Westens käme an das Erlöschen der Existenzmöglichkeiten Gottes im Inneren unseres Bewusstseins heran …“ – George Steiner130 „Poetisch handeln = sorgsam der Phantasie nachgehen = Räume schaffen oder einfach den Raum … Nichts näher dem Göttlichen als die Sprache – die Möglichkeiten der Sprache“ – Peter Handke131
1) Religionen bieten Sinndeutungen, Orientierungsangebote. Sie wollen nicht naturwissenschaftlichen Beschreibungen Konkurrenz machen, sondern elementare Sinnfragen beantworten. Die Sprache der Religion ist eine dichterische Sprache, voll von Metaphern, Bildern, Gleichnissen und Symbolen. (Dabei kann alles, was ist, Licht, Feuer, Wasser, Berge, Steine etc. zum religiösen Symbol werden.) 2) Die religiöse Sprache ist eine Sprache der Träume, der Künstler und Poeten. Es gibt eine enge Verwandtschaft zwischen Kunst, Musik und Religion. Hölderlins Ausruf macht das greifbar: „Oh, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.“
130 131 128 129
Marquard, O., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, S. 118f. Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 218. Steiner, G., Warum Denken traurig macht, Frankfurt a. M. 2006, S. 72,76. Handke, P., Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, S. 437, 447. Auf S. 427 nennt er die „Bilder“ „meine Art Religion“.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Für George Steiner gilt, dass die Metaphernsprache das Leben verändert oder auch bestimmt: Eine große, letzte Machtlosigkeit gegenüber der Widerständigkeit des Leids und des Todes leugnet er keineswegs, stellt aber dennoch fest: „Der Dichter, der Denker, die Meister der Metapher hinterlassen Kratzer in dieser Wand.“132 3) Die religiöse Sprache ist eine Sprache des Kindes: Sie ist für das Kindliche im Menschen gedacht. Der Mensch versteht sich als Kind Gottes; er versucht, sich sensibel oder empfindlich zu machen für die Spuren Gottes in der Welt, die Welt mit den Augen des Kindes zu sehen, zu staunen (Mk 10,15: „Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht das Reich Gottes erlangen“; Ps 8,3: „Aus dem Mund der Säuglinge und Kinder schaffst du Dir Lob“). Die Waisen, Alten und die Kinder verstehen die Rede der Propheten; den Klugen, Gelehrten ist die Lehre Jesu verborgen (vgl. auch die Aussage Erich Kästners: „Ein Erwachsener, der nicht zugleich Kind geblieben ist, ist kein Mensch“). 4) Religiöse Sprache gebraucht Metaphern. (Von Gott kann man nur in Bildern reden. Das Über-Gott-Reden wie über einen Gegenstand wurde bereits einer kritischen Analyse unterzogen.) Um allzu schnellen wortwörtlichen Verstehensweisen oder buchstäblichen Deutungen vorzubeugen, muss man das Gleichnishafte/Metaphorische in der religiösen Sprache sehen und interpretieren, um deren Sinn zu erfassen. Die Aussage „Das Leben ist eine Reise“ wird als sinnvoll akzeptiert, ohne dass man zugleich annimmt, dass der Satz nur dann wahr ist, wenn jeder Mensch ständig Koffer dabei hat oder ständig unterwegs ist. Das Bild von der Reise beschreibt die Veränderung des Menschen zwischen Geburt als dem Start des Lebens und dem Tod als dem Ziel und Ende jeden Lebens. Heidegger sprach abstrakter von der menschlichen Existenz als einem „Sein zum Tod“. Die Bilder helfen auszudrücken, in welcher Situation sich der Mensch insgesamt befindet. Kulturen versuchen mit Bildern die gesamte Position des Menschen zu bestimmen. Verstehen umfasst eine Öffnung, Horizonterweiterung, einen Perspektivwechsel. Ähnlich gleichnishaft ist die Rede von Engeln oder vom Himmel zu verstehen oder die Aussage: „Denn alles Fleisch ist wie Gras, wie eine Blume, die verdorrt“ (Jes 40,6). Pindars Ausspruch, dass der Mensch nur „eines Schattens Traum“ ist, will ganz ähnlich die Vergänglichkeit und Verletzbarkeit, fast totale Nichtigkeit des Menschen herausstellen. 5) Bilder deuten/interpretieren heißt sie aktualisieren, übersetzen, d. h. auf dem eigenen Lebenshintergrund zum Klingen bringen. Man versteht die Bilder zum einen, wenn man die Tradition kennt, in der sie stehen, zum anderen, wenn sie eine Erfahrung ansprechen, die man selbst gemacht hat. (Ohne Verstehen der Tradition und Bezug zur eigenen Erfahrung bleiben die Bilder stumm und leer.)
Steiner, G., a. a. O., S. 57f.
132
224
4.1 „Religion ohne Religion“?
6) Viele der religiösen Bilder sind schwer verständlich. Es bedarf der Bereitschaft zu verstehen. Nicht alle Bilder können die gleiche Relevanz beanspruchen; die existentiale Interpretation, eine für das eigene Leben relevante Deutung, stützt sich auf einige Symbole. So muss die Rede von Engeln etwa nicht unbedingt das mirakelhafte Erscheinen eines himmlischen Wesens bedeuten, es deutet nicht selten ein unverhofftes Bergungserlebnis an. Die Himmelsmetapher stellt heraus, dass Existenz nicht umsonst ist: Der Tod soll nicht das Letzte sein, was über den Menschen gesagt werden kann. Seine Liebe kann durch alle Negativität nicht ausgelöscht werden. Hölle drückt die Angst des Menschen aus, das quälende Dickicht aus Sinnlosigkeit nicht mehr verlassen zu können. Religionen artikulieren das, was Menschen in den verschiedenen Lebenslagen existentiell bewegt. Das biblische Existenzverständnis kann dem modernen Empfinden nahekommen. So kann Goethes Tasso Dankbarkeit und Erleichterung darüber empfinden, sein Leid ausdrücken zu können: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide“ („Torquato Tasso“, V. 4332f). 7) Um die theologische Metapherntheorie nicht zu sehr zu vereinfachen und unterkomplex werden zu lassen, können zwei Gedichte Reiner Kunzes andeuten, was es heißt, zu poetisieren, mit Bildern umzugehen und sich ihrer Mehrdeutigkeit anzuvertrauen. „Poetisiert Euch!“ war ein romantischer Imperativ, er wird neu aufgelegt, wenn es derzeit um den Widerstand gegen die viel beschworene „normative Kraft des Faktischen“ geht. Und Kunzes Gedichte laden ein, sich der Eigendynamik der Sprache zu überantworten, d. h. den Sprachbildern mehr zu glauben, die den Dichtern nicht gehören.133 Theologische Bildung ist für Martina Kumlehn ohnehin als „Bildung zur Sprachfähigkeit“ zu begreifen. „Gedicht mit der Frage des Lehrers Plötzlich, eines morgens, im april, parkten postautos längs der straße, halb in den vorgärten, halb auf dem asphalt Und was will der dichter damit sagen? Über nacht hat der goldregen die zäune niedergeblüht“134
Kumlehn, M., Hermeneutik christlicher Kommunikationsformen: Theologische Bildung als Bildung zur Sprachfähigkeit, in: Schlag, Th., Suhner, J. (Hg.) Theologie als Herausforderung religiöser Bildung. Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik, Stuttgart 2017, S. 69–84. 134 Kunze, R., gedichte, Frankfurt a. M. 2007, S. 203. 133
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Von der Inspiration Nur ein anfänger von engel fliegt unterhalb der wolken (noch ist er in sich selbst nicht weit genug entfernt vom menschen) wenn deine stirn ein flügel streift, ist’s einer von ihnen, und du stehst am anfang wie er“135
Franz Kafkas Parabel „Von den Gleichnissen“ verkompliziert auf ultimative Weise jede einfache Metapherntheorie, die Bild- und Sachebene klar getrennt haben möchte: „Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, daher unverwendbar im täglichen Leben und nur dies allein haben wir. Wenn der Weise sagt: ‚gehe hinüber‘, so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinüber gehn solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst. Aber das womit wir uns jeden Tag abmühn, sind andere Dinge. Darauf sagt einer: Warum wehrt ihr Euch? Würdet Ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret Ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei. Ein anderer sagte: Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist. Der erste sagte: Du hast gewonnen. Der zweite sagte: Aber leider nur im Gleichnis. Der erste sagte: Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast Du verloren.“136
Wer ein Gleichnis zu beherrschen, eine Metapher durchdrungen zu haben glaubt, hat es gerade nicht verstanden. Es gilt gerade, hinter der Klarheitsphantasie eine Sehnsucht nach Sicherheit und greifbarer Eindeutigkeit zu vermuten. Die scheinbare Begrenzung und Einhegung der Relevanz von Gleichnissen wird gebrochen. Eine Trennlinie zwischen Alltag und dem Ebd., S. 205. Kafka, F., Die Erzählungen, Frankfurt a. M. (8. Aufl.) 2003, S. 463.
135 136
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4.1 „Religion ohne Religion“?
philosophisch-theologischen Bereich des „Unfassbaren“ stellt sich als durchlässig heraus und kollabiert. Die Aufteilung in Sieger und Verlierer wird ebenso aufgeweicht. Der Vorschlag, sich selbst als Gleichnis zu verstehen, schließt eine Offenheit ein, die Gleichnisse und Bilder nicht hinter sich zu lassen, die Einsicht, immer wieder zu ihnen zurückkehren zu müssen, also den Raum des Gleichnisses nicht einfach verlassen zu können. Metapherntheoretische Fragen treiben nicht zuletzt die Philosophie und Psychoanalyse an.137 8) Bilder und Metaphern werden also nie erschöpfend oder endgültig interpretiert. Religionen wollen nichts Messbares, Kalkulierbares, Greifbares aufzeigen, sondern den Bereich des Nichtobjektivierbaren andeuten und zu Existenzvertrauen anleiten. Religiöse Bilder und Metaphern intendieren also in erster Linie einen Blickwechsel. Verstehen heißt hier vor allem, einen anderen Standpunkt einnehmen, sich verändern; vgl. Bultmanns Aussage: „Ich verstehe Gott, indem ich mich selbst neu verstehe“138. 9) Dass es religiösen Schriften nicht um einfache Schlüssigkeit, Übersetzbarkeit oder Kompatibilität der verwendeten Bilder geht, belegen schon die beiden Schöpfungsgeschichten auf den ersten Seiten der Bibel (Gen 1–2). Hier widersprechen sich bereits die Erzählungen sehr deutlich in dem Vorgang der Erschaffung des Menschen (nach dem ersten, aber jüngeren Schöpfungsbericht schafft ein transzendenter Gott durch sein Wort den Menschen als Krone der Schöpfung am sechsten Tag; nach dem zweiten, älteren Bericht ist Gott ein Töpfer, der experimentell vorgeht, geradezu den Menschen zusammenbastelt und später erst die Tiere erschafft). Beide Erzählungen folgen gleich zu Beginn der Bibel direkt aufeinander. Gemeinsam ist ihnen, dass der Mensch von Gott geschaffen ist. Ihre total unterschiedliche Konzeption und Anlage wurden nie als Widerspruch empfunden: Denn das Bild von der Schöpfung will die Aufmerksamkeit nicht auf einen naturwissenschaftlich protokollierbaren, hier aber nur diffus und ungenau dokumentierten Vorgang lenken, sondern darauf hindeuten, dass der Mensch sich nicht gemacht hat, dass der Rahmen, den er nicht überblickt, der Kontext, in den er gestellt ist, aber gut oder positiv ist; ohne diese Perspektive des positiven Vorzeichens vor seinem Leben könnte der Mensch nicht leben. In einem letzten Sinn sieht er sich angenommen, gewollt und wertvoll. Religiöse Bilder drücken vielfach aus, dass der Mensch sich anderen verdankt, dass er sich beschenkt weiß, dass das Leben nicht in seiner Verfügung steht, Sinn und positive Erfahrungen geschenkhaft und unverdientermaßen ihm entgegenkommen. Barker, S., Autoaesthetics. Strategies of the Self after Nietzsche, New Jersey London 1992, S. 177–178: „It [The metaphor] is the basis of the science of psychoanalysis and the force of contemporary philosophy; it is the eternal ground of fiction and poetry. And it is the powerful – and positive rejoinder to both God and Nihilism, as Nietzsche repeatedly points out, the only remedy for the fear of facing the Other.“ 138 Bultmann, R., Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, S. 202. 137
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Er kann Gott im Umgang mit der Welt erfahren und die Schönheit der Natur verrät ihm etwas von Gott, das Wunder des Lebens ist eine Spur Gottes für ihn. Ohne dass er die Welt begreift, ist er dankbar dafür, dass er hier ist. Deshalb sieht er sich in einer sinnvollen Umwelt oder Schöpfung. (Gott hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, sondern er ist in der Nähe des Menschen, im Umgang mit Mitmensch oder Kreatur erfahrbar.) In ähnlicher Weise gibt Albert Schweitzers Aussage „Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das leben will“ eine Positionsbestimmung, die für erfahrbare Geheimnisse Raum lässt. 10) Religiöse Bilder sind in ihrer Perspektivität aufzufassen als Ausdruck von Sehnsüchten, Angst, Hoffnung, Glückserfahrung, von Heil- und Unheilerfahrung, von Angst, Trauer und Freude. Es ist möglich, dass heutige Leser die in den traditionellen Bildern formulierten Erfahrungen auf ihre Lebenswelt beziehen. Die Bilder können so Relevanz und Bedeutung erhalten. Nicht jedes Angstbild der Religion muss übernommen werden. Es geht bei der Übernahme der religiösen Symbole und Bilder immer um die Frage der Dienlichkeit und der Erschließung von Existenzdimensionen. Pico della Mirandola und später Gotthold Ephraim Lessing plädieren gleichermaßen für einen aufgeklärten, kritischen Umgang mit der religiösen Bildersprache: „Gerade die Philosophie hat mich gelehrt, mehr meinem eigenen Gewissen als fremdem Urteilen zu folgen.“ 139 „Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist.“140
Die auf die religiöse Tradition bezogene Demut klingt auch in Goethes Aussage über das lebenslange Bemühen, lesend zu verstehen, mit: „Die guten Leutchen wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziele wäre.“141
Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Stuttgart 2009, S. 41. Lessing, G. E., (9. Axiom), zit. n.: Fick, M., Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart (3. Aufl.) 2010, 415. 141 Goethe, zit. n.: Schneider, U., Facettenreich und unverzichtbar. Die multiplen Leistungen und Funktionen der Kulturtechnik Lesen, in: APuZ (Themenheft Lesen) vom 18.3.2019, 69. Jg. Nr. 12, S. 9–14. Wie Leseforscher im selben Themenheft herausstreichen, gilt es, die Fähigkeit nicht zu verlieren, „beim Ungewohnten zu verweilen“, sich „von den Worten des anderen berühren zu lassen“, also nicht digitaloberflächlich zu lesen, sondern das „tiefe Lesen“ zu kultivieren (Theresa Schilhab und Anne Mangen, zit. n.: Küchenmann, F., Der Kontakt zu unserer Kultur steht auf dem Spiel. Acht Leseforscher antworten auf Fragen zum Einfluss der Digitalisierung, in: ebd., S. 36–40). 139 140
228
4.1 „Religion ohne Religion“?
11) Religiöse Bilder und Metaphern können die Wirklichkeit, die sie anzielen, nicht festhalten und konservieren. Sie sind auf das Wagnis eines existentiellen Nachvollzugs angewiesen. Dem staunenden, dankbaren Blick auf das eigene Leben kann bereits die eigene Existenz als Wunder erscheinen (vgl. den Wittgenstein-Text unter A.). Als Ansatzpunkte des Glaubens und Wurzelboden der Religion wurden hier Erfahrungen mitmenschlichen Beschenktwerdens, grundlosen Vertrauens oder auch radikaler Infragestellung ausgewiesen. Dag Hammerskjöld erachtet das Wunder als geradezu integralen Moment grundlosen Glaubens: „Wir handeln und es geschehen Wunder. So werden wir versucht, das Wunder zum Glaubensgrund zu machen. Und bezahlen unsere Schwäche mit dem Verlust der Glaubenszuversicht. Glaube ist, er schafft und trägt. Er wird nicht hergeleitet, nicht geschaffen, nicht getragen von irgendetwas anderem als seiner eigenen Wirklichkeit.“142
2. Zur religiösen Praxis der Frage: Plädoyer für eine Ausweitung des Gebetsbegriffs „Was als Durchgang klar ist, verdunkelt sich, sobald man dabei verweilt.“ – Paul Valéry143 „Gott klingt wie eine Antwort, und das ist das Verderbliche an diesem Wort … Er hätte einen Namen haben müssen, der wie eine Frage klingt.“ – Cees Nooteboom144
1) Die Modelle von Oser/Gmünder oder Fowler beschreiben eine Entwicklung des religiösen Bewusstseins vom mythischen Denken zu einem nichtverobjektivierenden Verständnis von Gott, von einem vergegenständlichten (supranatural vorgestellten) Gegenüber zu einer Reflexion der Metaphorik der biblischen Gottesrede. Sölles Wegbeschreibung vom Gott-überuns über einen Gott-in-uns in Richtung eines Gottes-zwischen-uns sieht dies ähnlich. Hinter Theorien der religiösen Entwicklung, die den Wert des persönlichen intensiven Suchens betonen, sollte man also nicht zurückfallen: Wie bei Kohlberg sollten offene Fragen/Dilemmata nicht wegretuschiert, sondern vielmehr gesucht werden. Schließlich ist Religion keine Superideologie, kein Depot an vorgestanzten
Hammarskjöld, D., Zeichen am Weg, München Zürich 1967, S. 80. Valéry, P., zit. n.: Gamm, G., Philosophie im Zeitalter der Extreme, Darmstadt 2009, S. 243. 144 Nooteboom, C., Rituale, Frankfurt a. M. (13. Aufl.) 1994, S. 68f. Nicht nur dass das Religiöse heute fraglich ist, das Religiöse nimmt selbst die Gestalt einer Frage an. 142 143
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Paradeantworten. Harmonisierende Antworten, die offene Fragen verschleiern und abwürgen, konkrete Erfahrung nivellieren, verhindern Entwicklung. Karl Jaspers und Emmanuel Lévinas betonen gleichermaßen den Wert des Zweifels und die Erdung, die Treue zum Alltag: „Der Glaube gewinnt sich aus dem Unglauben. Wer nicht die Erfahrung des Unglaubens kennt, vollzieht auch keinen seiner selbst bewussten Glauben.“145 „In dem Satz, in dem Gott sich erstmals unter die Worte mischt, fehlt noch das Wort Gott. Auf keinem Fall lautet dieser Satz: ‚Ich glaube an Gott‘. Gott bezeugen heißt gerade nicht dieses außer-ordentliche Wort aussprechen, als könnte die Herrlichkeit einziehen in ein Thema und sich als These darstellen oder Geschehen des Seins werden.“146
Religionen bieten also jenseits von fixen Antworten Metaphern oder Bilder an, deren zugrunde liegende Geschenk-/Befreiungserfahrungen aktualisiert werden wollen. Abrahamisches Vertrauen, mosaische Befreiung und jesuanische freiheitliche Vollmacht sowie entgrenzte Mitmenschlichkeit sollen nachvollzogen bzw. wiederholt werden (Kierkegaard). Religionen beinhalten „gefährliche Erinnerungen“ (J.-B. Metz), deren kritisches Potential aktuell wirksam werden kann. „In der Praxis kann dies bedeuten, dass eine Meditation plötzlich umschlägt in eine unerbittliche, mit keinem Kompromiss und keiner noch so frommen Formel zufriedenen Frage. Ja, dass diese Meditation zu keiner Antwort kommt und die ganze Qual menschlicher Ratlosigkeit und menschlichen Nichtmehrweiterwissens aushalten muss. Ob man an diesem Punkt noch von Meditation oder schon von theologischer Reflexion spricht, ist lediglich eine Frage der Sprachregelung. Entscheidend ist, dass jene Meditation das theologische Dilemma nicht verdrängt oder auch nur verniedlicht. – Es ist nicht die schlechteste Probe auf die Christlichkeit einer Spiritualität, ob sie ein Problem als Problem bezeichnet und aushält; ob sie den Sinn von Theologie zuerst leugnen muss, um sich selbst zu bewahren.“147
2) Die Etablierung einer „Theologie der Frage“ kann sich darauf beziehen, dass das Fragen „die Frömmigkeit des Denkens“ (M. Heidegger) darstellt, also eine Nichtkorrumpierbarkeit und Jaspers, K., Der philosophische Glaube, München Zürich (8.Aufl.) 1985, S. 110. Lévinas, E., Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht, Freiburg (2. Aufl.) 1998, S. 327. Simone Weils Aussage klingt noch pathetischer: „Nicht daran, wie einer von Gott redet, erkenne ich, ob seine Seele durch das Feuer der göttlichen Liebe gegangen ist, sondern daran, wie einer von irdischen Dingen redet.“ 147 Schuster, H., Spiritualität ohne Theologie?; in: Diakonia, 1976/1, S. 5. 145 146
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Unbedingtheit verkörpert. Eine einfache Entgegensetzung von Glauben und Zweifel aufzubauen wäre kontraproduktiv. Glauben meint eine Faszination (ein Überwältigtsein, ein Zulassen), die intellektuelle Redlichkeit einschließt, und keinen Entschluss, nicht ein Machen, das „etwas“ herzustellen sich anmaßt, oder ein „sacrificium intellectus“. Das fragende Ringen vermag Verhaftung in mythischen Welten aufzubrechen und provoziert ein tieferes Nachdenken (vgl. Lévinas). Bei Texten der Tradition ist zurückzugehen auf die zugrunde liegende menschliche Erfahrung; Brüche in der Tradition und Bedeutungsverschiebungen in der Rezeptionsgeschichte sind dabei nicht zu kaschieren, sondern klar zu benennen. Luhmann meint, dass Religionen Traditionen und Kulturen von Fragen darstellen und ein „Wachhalten von Fragen“148 pflegen. Eine Theologie der Frage kann sich natürlich auch auf die hermeneutische Wertschätzung des Fragens beziehen: „Man macht keine Erfahrung ohne die Aktivität des Fragens.“149 Es lässt sich schließlich sagen, dass es beim Verstehen eigener Traditionen nicht um die Lösung von Sachfragen, sondern die Klärung des Vorverständnisses ankommt. Die Lösungssuggestionen, die bereits unreflektiert in die Frage gelegt sind, gilt es auszubuchstabieren. Hermeneutik verspricht einen Einblick in die Begrenzungen des eigenen Horizonts, nicht einen freien unverstellten Blick in das Wesen der Dinge: In dem Sinn gibt es auf Warum-Fragen keine letzten Antworten. Jede Warum-Frage kann auch für Luhmann zumindest durch die Frage, wie es genau zu dieser Warum-Frage kam, hintergangen werden. Und letztlich wird die Warum-Frage durch den Lebenskontext, in dem sie entstand oder formuliert wird, plausibel. Mircea Eliade formuliert daher prägnant: „Das Warum ist in dem Wie immer schon enthalten.“150
Der Gründungsdirektor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst Jean-Christophe Ammann lässt keine Zweifel daran, dass wir dem „Metapherngestöber“ verhaftet bleiben und auch bei dem Bemühen, Kulturphänomene und Lebensstilfragen zu verstehen, auf das Entziffern von Metaphern verwiesen sind: „Aber wie auch immer wir das Leben leben, wir schaffen unweigerlich eine Metapher hierfür.“151 Die Kultur/Religion der Frage schließt eine Kritik des kurrenten Lebensstils ein. Luhmann, N., Soziologische Aufklärung. Bd. 4, Opladen 1987, S. 245. „Religion lässt sich nicht mehr durch bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen begreifen, sondern nur noch durch das Fragen selbst. … Das Antworten hat unter diesen Umständen religiösen Gehalt nur noch im Wachhalten der Frage.“ 149 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, Bd.1, Tübingen (6. Aufl.) 1990, S. 368. 150 Eliade, M., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1987, S. 87. 151 Ammann, J.-C., Bewegung im Kopf, Regensburg 1993, S. 79. 148
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
3) Das Explizite wird am Impliziten gemessen. Die Tauglichkeit einer Theorie wird nicht selten mit Bezug auf die Lebenspraxis der Vertreter/Prediger zu klären versucht. Überzeugend ist erst die gelebte Praxis, das Implizite, mit dem die explizite Religion abgeglichen wird. Auch hier wird eine Implizierung der Religion propagiert, die allein überzeugend ist. Zum Teil wird das so formuliert, dass die „Messe nach der Messe“, die „Liturgie vor der Liturgie“ entscheidend ist. Der Ritus wird so als Nachspielen des im Alltag oft unmerklich sich vollziehenden Heilsgeschehens verstanden. Das Implizite, das Moment der Bewährung kann als Mitte der Religion begriffen werden. Die Religion muss also mitten im Leben Platz greifen und nicht nur an den Enden. Jede religiöse oder theologische Äußerung muss einen mitmenschlichen Bezug haben, der sie alltagsrelevant werden lässt: Kernsätze einer elementaren Theologie der Beziehung lauten daher: „Gott selbst läßt sich von uns im Menschlichen dienen. Alles andere ist der Hybris sehr nahe.“ – Dietrich Bonhoeffer152 „Auch was wir Offenbarung nennen, kann im letzten Grund nichts anderes als eine Erfahrung des Menschen sein.“ „Offenbarung ereignet sich im Zwischen.“ – Ferdinand Ebner153 „Die Nähe des anderen, die Nähe des Nächsten, ist im Sein ein unerlässliches Moment der Offenbarung, Moment einer absoluten (d. h. aus jeder Beziehung losgelösten) Gegenwart, die sich ausdrückt.“ – Emmanuel Lévinas154
4) Die mythische Weltsicht lässt sich nicht konservieren oder retten. Wie bei jedem hermeneutischen Prozess beginnt Verstehen mit Destruktion, Irritation („Choc“/Schock, W. Benjamin), der Infragestellung und Revision des Vorverständnisses. Mythen und Bilder müssen entmythologisiert, symbolisch verstanden werden.155 Hans Jonas schreibt:
Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge, München (10. Aufl.) 1951, S. 262f. 153 Ebner, F., zit. n. Casper, B., Das dialogische Denken, Freiburg Basel Wien 1967, S. 250, 253. 154 Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 107. 155 Ebeling, H., Wort Gottes und Hermeneutik, in: Robinson, J. M., Cobb, J. B. (Hg.), Die neue Hermeneutik, Zürich 1965, S. (109–146) 135: „Gegenüber dem Mythischen muss Hermeneutik zur Entmythologisierung werden.“ 152
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4.1 „Religion ohne Religion“?
„Mythos wörtlich verstanden ist gröbste Objektivierung. Mythos allegorisch verstanden ist verfeinerte Objektivierung. Mythos symbolisch [existential] verstanden ist der Spiegel, in dem wir dunkel schaun.“156
Wie sehr wilde religiöse Schwärmerei der Korrektur bedarf, hält Ludwig Börne fest. „Einen Wahn verlieren macht weiser, als eine Weisheit zu finden.“ Karl Rahner stimmt dieser Einschätzung unumwunden zu: „Gott sei Dank gibt es nicht, was 60 bis 80 % der Zeitgenossen sich unter Gott vorstellen.“157 Da im Christentum das Kreuz im Mittelpunkt steht und die Betonung des Leidens Jesu Harmoniesehnsüchte kompromittiert, lässt sich hier von „Minusglaube“ sprechen. Gerade die Negativität des Glaubens wird nicht beschönigt oder heruntergespielt. Für Bonhoeffer – das wurde bereits angesprochen – ist der Monotheismus, das Christentum, daher keine Religion wie jede andere (er spricht vom „religionslosen Christentum“): Christsein meint Füreinanderdasein, die „Teilnahme am Leiden Gottes in der Welt“. Mögen manche Religionen mit einem deus ex machina, einem starken Gott rechnen, sind Christen dagegen auf die „Ohnmacht Gottes in der Welt“ verwiesen. Sie müssen leben „etsi deus non daretur“ (als ob es Gott nicht gäbe). Der Philosoph Paul Ricœur greift die bonhoeffersche Position auf: „Welche Art von Glauben verdient es, die Kritik Nietzsches und Freuds zu überleben? … es wäre dies ein Glaube, der im Dunkel voranschreitet, in einer neuen ‚Nacht des Verstandes‘ – um mit den Mystikern zu reden –, vor einem Gott, der sich nicht mit den Attributen der ‚Vorsehung‘ umgibt, einem Gott, der mich nicht beschützen will, sondern mich vielmehr den Gefahren eines Lebens aussetzt, das allein menschenwürdig genannt werden könnte. Ist dieser Gott nicht der Gekreuzigte, der Gott, der mir, wie Bonhoeffer sagt, allein durch seine Schwäche helfen kann.“158
5) Wie bei allen Verstehensprozessen bestimmt der Kontext die Bedeutung der Aussage. Das Entscheidende an religiösen Vollzügen und Gebeten ist die Einbettung in die Mitmenschlichkeitspraxis, der Bezug zur Erfahrung. Ohne den Kontext der Mitmenschlichkeit, unbedingter Wertschätzung und Achtung des anderen ist jede Rede von Gott sinnlos: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 9,13). Zur Beachtung des Kontextes gehört, dass Religion nicht in die Kategorien der Pflicht, des Schuldgefühls, der Schul-Disziplin oder gar
Jonas, H., Heidegger und die Theologie, in: Noller, G. (Hg.), Heidegger und die Theologie, München 1967, S. 340. 157 Rahner, K., zit. n.: Pereira, A., Jugend mit Gott. Gedanken und Gebete, Kevelaer (6. Aufl.) 1979, S. 230. 158 Ricœur, P., Hermeneutik und Psychoanalyse, München 1974, S. 305. 156
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
der Leistung gestellt wird. Wenn sie zum Erziehungsmittel verkommt, wird sie instrumentalisiert und verliert Ausdruck und Sinn, den notwendigen Charakter der Freiwilligkeit. (Schulseelsorger verbürgen den grundsätzlichen Freiwilligkeitscharakter religiöser Angebote an Schulen.) Bei Diskussionen um die Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaften muss klar sein, dass das Sprachspiel gewechselt wird. Die Wahrheit religiöser Aussagen erschließt sich über ein Verstehen der Bilder, anders als bei buchstäblichen Sach-/„Tatsachenaussagen“. Hier ist der Unterschied zwischen Verstehen und Erklären maßgeblich. Es bedarf also einer Unterscheidungslehre. Ohne die klare Verortung im Typus der nichtverobjektivierbaren Beziehungswahrheit bleiben religiöse Aussagen missverständlich oder auch sinnlos. Drewermann unterscheidet ganz ähnlich Deuten und Erklären: „In Wahrheit erklärt das Sprechen von Gott nichts, es deutet allenfalls etwas, das in sich selbst sehr wohl erklärbar sein muss, um sich überhaupt vollziehen zu können, es interpretiert den Inhalt des faktisch Vorhandenen … es bezeichnet nicht die empirischen Ursachen seiner Herkunft.“159
Der Chemiker und Aphoristiker Georg Lichtenberg meinte, wer nur die Chemie versteht, versteht auch die nicht. Da die Orientierung am Nichtobjektivierbaren Sinn zu stiften vermag, die Fixierung auf Fakten und Tatsachen nicht, ist Ersterer der Vorzug zu geben, so schrieb auch Antoine de Saint-Exupéry in seinem „Brief an den General“: „Den heutigen Menschen hält man, je nach dem Milieu, durch Skat oder Bridge im Zaun. Wir sind erstaunlich kastriert. So sind wir nun schließlich frei. Man hat uns Arme und Beine abgeschnitten, dann ließ man uns herumlaufen. Doch ich hasse diese Epoche, in der der Mensch unter dem allgemeinen totalitären Druck zu sanftem, höflichem und ruhigem Vieh wird. Man stellt uns das als moralischen Fortschritt hin … Was wird aus … uns … in dieser Epoche des Robotermenschen, des Termitenmenschen? Des Menschen, der hin- und herpendelt zwischen der Fließbandarbeit und Skatspielen? Des Menschen, der seiner ganzen Schöpferkraft beraubt wurde und nicht einmal mehr in seinem Dorf einen Tanz oder ein Lied hervorzubringen vermag? – So sieht er aus, der moderne Mensch von heute. … Zwei Milliarden Menschen hören nur noch auf den Roboter, verstehen nur noch den Roboter, werden eines Tages selber zum Roboter. …
Drewermann, E., Kleriker – Psychogramm eines Ideals, Olten (8. Aufl.) 1990, S. 44.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Ach, Herr General, es gibt nur ein Problem, ein einziges in der Welt. Wie kann man den Menschen eine geistige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie niedertauen lassen, was einem Gregorianischen Choral gleicht! … Sehen Sie, man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Man kann nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe.160
Religion und religiöser Ausdruck erschließen sich nicht im Kontext von Aktionismus, Leistung, Machbarkeit, Selbststeigerung, Instrumentalisierung oder Verdinglichung, sondern allein im Raum des freien/freiwilligen Selbstausdrucks, der Sensibilisierung auf die Geschenk-/ Geheimnisdimension der eigenen Existenz. 6) Zum Lob der Frage und des Impliziten161 gehört der Hinweis, dass Religion zur Verwirklichung der Mitmenschlichkeit tendiert, in religiösen Texten Brücken zur Erfahrungs-/ Lebenswirklichkeit deutlich werden. „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, und seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner“ (1 Joh 4, 20).
Der Begriff des Gebets erfährt damit eine Ausweitung und wird als Lebensvollzug verstanden. Vom Dialog untereinander ist also nicht gering zu denken, er ist vielmehr religiös zu qualifizieren: Mitmenschlichkeit kann bereits als Gebet und als religiöser Erfahrungsraum aufgefasst werden. Diese Wertschätzung kann im Reden über Religion spürbar werden. Für Lévinas ist das Wesen des Gesprächs Gebet.162 Zur Verflüssigung des Religionsbegriffs gehört eine Kritik der Sondervollzüge: Bultmann versteht Gott als Prädikat, als „Wie der Existenz“, nicht gegenständlich als Adresse, sondern als Nostitz, O. v. (Hg.) Antoine de Saint-Exupéry – Man sieht nur mit dem Herzen gut, Freiburg (4. Aufl.) 1985, S. 61f. 161 „Und zugleich denke man daran, dass es Christi Wille gewesen ist, inkognito zu sein. … Lästerung … ist in der pastorengeschwätzigen, undialektisch-wortwirbeligen Übersteigerung. … Aber die meisten Menschen existieren im tieferen Sinn überhaupt nicht, sie haben sich nie existential damit vertraut gemacht, das heißt nie tathaft es mit dem Gedanken versucht, inkognito sein zu wollen“ (Kierkegaard, S., Einübung im Christentum, Gütersloh (2. Aufl.) 1986, S. 130–131). Glaube heißt für Kierkegaard, „das Ärgernis wählen, sich zum Narren machen“ (ebd. S. 51), Unsicherheit erleben: „Furcht und Zittern bedeutet, dass man im Werden ist, … nein, hier ist alles übereins, je mehr man aus der Wahrheit ist, je mehr wird man geehrt und angesehen.“ (ebd. 90–91). „Wiederum Kind werden, zu einem Nichts werden, ohne alle Selbstgeltung, wiederum Jüngling werden, ungeachtet, dass man durch Erfahrung klug, weltklug geworden ist, das klug Handeln verachten, Jüngling sein wollen, die Begeisterung des Jünglings in all ihrer Ursprünglichkeit hindurchgerettet haben und bewahren wollen, sie durchtrotzen wollen, schüchterner sich scheuend zu feilschen, zu markten und, was dasselbe ist, den Vorteil sich erjagen, als das schamhafte Mädchen einer Unanständigkeit gegenüber – ja, das ist die Aufgabe.“ (ebd., S. 191). 162 Lévinas, E., Die Spur des Anderen, München (4. Aufl.) 1999, S. 113. 160
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„Medium“/Atmosphäre des Vertrauens und der Bejahung, die aufleben lässt, nicht das, was einengt oder Luft zum Atmen nimmt, sondern als Atmosphäre der Befreiung. Gott gerät leicht zur Begründungshypothese, die unser Sicherheitsdenken immunisiert und unserem Sicherheitsbedürfnis entspringt. Das Bilderverbot wird von den Schülern selbst gerne eingefordert. Eine verniedlichende Rede (vgl. „Dein daily date mit Gott“, „Touch me Gott, im Advent“, eine frühere Flyer-Aktion katholischer Bistümer im Umfeld des Weltjugendtages) scheint wenig hilfreich: Die Bibel redet vorsichtiger von Gott, vom „Gott, der im Dunkel wohnt“ (1 Kön 8,12; vgl. Ex 33,18–22), nicht erkannt werden kann: „Furchtbar ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Hebr 10,31). Die alles erschütternde, verstörende Dimension von Grenzerfahrungen, von Erfahrungen des Unbedingten, des Eindeutigen, des Unendlichen oder radikal Anderen wird hier festgehalten. Gotteserfahrung meint also nicht das wohlige Sich-Einnisten in vorhandene Bergungsnischen, sondern das Wagnis der Ausweitung von Vertrauensräumen, die verstörende Inklusion von Ausgeschlossenen, die ungeheure Wertschätzung des Rests (vgl. den Umgang Jesu mit Ausgeschlossenen, Zöllnern, Aussätzigen, die Wertschätzung des 100. Schafs, des verworfenen Steins, der Eckstein wird; Lk 15, Ps 118,22). 7) Religion meint nicht eine probate Verträglichkeit und ein Sich-Arrangieren mit dem bürgerlichen Status quo oder das Verabreichen von leicht konsumierbaren Dosen eines WellnessLifestyles, keine Anleitung zu bequem-braver Lebensweisheit oder selbstquälerisch-perfektionistischem Selbstmanagement. Das Prophetische der Religionen bedeutet immer ein Schwimmen gegen den Strom, Kritik des Bestehenden. Jede Enteschatologisierung/Entradikalisierung wäre Verrat an der Religion, speziell am Christentum (Albert Schweitzer). Es geht also um das radikale Sich-der-Welt-Aussetzen, ein Idiotsein (vgl. Dostojewski, Nietzsche, Lévinas), das jeder Besitzstandswahrung oder Selbstzelebrierung einer religiösen Gruppe oder Verwaltung von Religion zuwiderläuft, um Selbstexklusion/Fremdsein. Die Vermutung Dostojewskis ist ernst zu nehmen, dass Jesus heute wie damals so stört, dass er im Grund vonseiten der etablierten Religion immer noch abgelehnt/ausgeschlossen würde. Diese kritische Selbstbefragung, die immer auf sich selbst (auch auf die eigene Konfession) angewendet werden muss, darf nicht kleingeredet werden. Adorno meint: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im messianischen Lichte daliegen wird.“163
8) Der alte Topos „Jugend ist Religion“, der auf Comenius zurückgeführt werden kann, will festhalten, dass Jugendliche in ihrer unbedingten Suche nach Orientierung sich sehr nahe am Kern der Religion, dem Unbedingten, bewegen. Man muss Schülern nicht Religion beibringen oder gar religiöse Erlebnisse zu erzeugen versuchen – das wäre vermessen und fragwürdig, es geht vielmehr darum, das Immer-schon-Berührtsein von religiösen Urerfahrungen aufzudecken. Schleiermacher macht das vorsichtige Sprechen und die demütige Praxis zur Wahrheitsbedingung religiöser Rede: „Ihr wisst, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demut, Religion war der mütterliche Leib, in dessen heiligen Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde …“164
Die Aussage „Alles ist Geschenk“, die Einübung in Dankbarkeit – zweifellos zum Zentrum der Rechtfertigungslehre gehörig – verlieren im Kontext von schulischer Pflicht oder institutionalisiertem Funktionieren ihre ursprüngliche Bedeutung (vgl. den Explizit-Implizit-/ Text-Kontext-Zusammenhang). Fragwürdig wäre es ebenso, Religion ganz gemäß dem modernen Weltbild als Energie-/ Kraftquelle zu verstehen, die zur Selbststeigerung des Subjekts erschlossen und genutzt werden sollte. Das wäre eine Instrumentalisierung von Religion, die als “An-denken“ des Zweckfreien nicht wieder verzweckt werden möchte. 9) Gegen eine Verwendung des Glaubens nach dem eigenen Sicherheitskalkül wurde bereits die Unsicherheit des Glaubens hervorgehoben (Bultmann). Glaube meint keinen selbstsicheren, wohlfeilen Optimismus, keine Trivialisierung der Erfahrung, sondern ein je neues Reagieren auf den Augenblick, ein Sich-Einlassen auf die jeweilige geschichtliche Situation, in der die Geschenk-/Hoffnungsdimension sich erst herauszukristallisieren hat (Übungen in „metaphysischer Obdachlosigkeit“ als Element der Nachfolge). Christlicherseits müsste man also
Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 283. Erkenntnis heißt die Dinge im Lichte der Erlösung sehen, in ihrer Erlösungsbedürftigkeit. Und Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, S. 49, dementsprechend: „Ich kann mir das Böse nicht so richtig vorstellen. Wo ich meine, einen Faden davon zu entdecken, ist Unterscheidungsvermögen das Wichtigste, denn möglicherweise ist es ja kein Böses, sondern ein verirrtes Gutes.“ 164 Schleiermacher, F. D., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Stuttgart 1985, S. 11. 163
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versuchen, sich der Radikalität Jesu anzunähern und vor allem einer jesuanischen Kritik des Status quo nicht auszuweichen. Charles de Foucauld und Hubertus Halbfas setzen Glaube mit Liebe/tätiger Mitmenschlichkeitspraxis gleich: „Wie die heilige Theresia sagte, heißt beten nicht, viel reden, sondern viel lieben.“ 165 „Das Gebet des Herzens ist nicht etwas Bestimmtes und Begrenztes, weder eine Bitte noch ein Schuldbekenntnis noch ein Dank. Es ist die reine Fülle … Christlich heißt diese Fülle Liebe … Darum ist der Weg des Gebets immer ein Weg wachsender Liebesfähigkeit.“166
10) Edith Stein bekennt: „Die Suche nach Wahrheit ist mein einziges Gebet.“ Ludwig Wittgensteins Gleichsetzung des Gebets mit dem „Gedanken an den Sinn des Lebens“ unterstützt diese Aussage. Nach der gleichen Logik der Ausweitung definieren Simone Weil („Die von jeder Beimischung ganz und gar gereinigte Aufmerksamkeit ist Gebet“167) und Nicolas Malebranche („Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele“) den religiösen Vollzug als tiefe menschliche Sensibilität um. Die Praxis des Gebets als isolierter Sondervollzug, als vom Alltag losgelöste Handlung ist zu hinterfragen, es geht vor allem nie um ein Sich-Abwenden von der Welt, um eine Flucht in Innerlichkeit oder Ersatz-/Hinterwelten … (Die simple Unterscheidung von Profan und Heilig ist im Übrigen immer schon durch das Judentum hintergangen/unterlaufen oder aufgelöst. – Gemäß Bonhoeffer dürfen menschliche Defizienz und Hilfsbedürftigkeit nicht religiös ausgenützt werden, Glaube hat mitten im Leben Bedeutung/Platz zu gewinnen und nicht von den Rändern her, das wäre ein seltsamer Angst-Glaube.) 11) Hermann Schmitz sieht das Subjekt derart in Traditionen eingebettet, dass es sich nicht einfach daraus herauslösen kann. Der Umgang mit Tradition, das Navigieren in Überlieferungskontexten, gewinnt eine Eigendynamik, da es sich hier um Geschehenszusammenhänge handelt, in die der Einzelne ganz involviert ist, die ihn ganz fordern oder absorbieren. Th. W. Adorno deutet mit dem Statement „Mit dem Glück ist es wie mit der Wahrheit. Man hat sie nicht, man ist in ihr“ ebenfalls an, dass die Wahrheitssuche eine Eigendynamik gewinnt, die das Subjekt nicht steuern kann. Kontrolle banalisiert den
Charles de Foucauld, Beten lieben glauben – unveröffentlichte Meditationen, Luzern München 1970, S. 12. 166 Halbfas, H., Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf (4. Aufl.) 2004, S. 191, 197. 167 Weil, S., Schwerkraft und Gnade, München 1952, S. 209. 165
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4.1 „Religion ohne Religion“?
unverfügbaren Prozess der Suche. Wahrheit ist nicht zu „haben“, über Sinn und Glück ist nicht in der Weise des Besitzes zu verfügen. 12) Der Umgang mit dem Anderen, dem Ausgeschlossenen ist kein Grenzfall, sondern ein Hauptthema des Christentums oder auch der Religion überhaupt: Slavoj Žižek verdeutlicht, dass die Logik der Identifikation mit dem Rest einigen politischen Sprengstoff in sich birgt: „Eine authentische Einstellung erreichen wir jedoch erst, wenn wir zu der Einsicht „wir sind alle Juden“ (in einem weit mehr als nur einfach metaphorischen Sinn) gelangen. Und das gilt für alle traumatischen Momente des Eindringens eines ‚unmöglichen‘, nicht in die bestehenden ideologischen Koordinaten integrierbaren Kerns in den gesellschaftlichen Bereich: ‚Wir alle leben in Tschernobyl‘, ‚wir alle sind Boat people‘ etc. etc. Hinsichtlich dieser Fälle sollte es auch klar sein, wie die ‚Identifizierung mit dem Symptom‘ mit dem ‚Durchqueren des Phantasmas‘ korreliert: In der Identifizierung mit dem sozialen Symptom durchqueren und unterminieren wir den phantasmatischen Rahmen, der den Bereich sozialer Bedeutung, das ideologische Selbstverständnis einer bestimmten Sozietät definiert, d. h. genau den Rahmen, innerhalb dessen das Symptom als fremdes störendes Eindringen erscheint und nicht als der Ort des Hervorbrechens der ansonst verborgenen Wahrheit der bestehenden sozialen Ordnung.“168
Lévinas plädiert hinsichtlich der Lehrpraxis des Judentums/Christentums dafür, eine Steigerung bis ins Äußerste als „Methode“ zu betreiben, da sich in der Übertreibung die Begriffe verwandeln, er schlägt vor, „‚verrückte‘ Gedanken mit Weisheit zu behandeln oder darin der Liebe Weisheit beizubringen“. Insofern sind provozierende Gedanken für das Verstehen überaus wertvoll und unerlässlich. Als Meister der Umwertung kann der dänische Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard gelten: In einer Massenkultur kann die Randposition und der Ausschluss als Wahrheitskriterium gelten. Das Bestehende wird als unchristlich angesehen; Veränderung ist ein Kriterium der Nachfolge: „Aber in dieser Welt siegt das Wahre allein dadurch, dass es leidet, dass es unterliegt.“ „Jetzt hingegen bin ich mit mir selber ganz einig über ein Zwiefaches: einmal, dass das Bestehende, christlich geurteilt, unhaltbar ist, dass jeder Tag, den es besteht, christlich geurteilt, ein Verbrechen ist …“169 Žižek, S., Mehr-Genießen, Wien (2. Aufl.) 1997, S. 51f. Zieht also der Satz „Wir sind alle Ausländer“ keine Veränderung der symbolischen Ordnung nach sich, liegt auch kein Akt vor. 169 Kierkegaard, S., Einübung im Christentum, Gütersloh (2. Aufl.) 1986, S. 193, 287. „Was Wunder denn, dass man nichts merkt von der Möglichkeit des Ärgernisses in Beziehung auf das Christ Sein oder Werden: und was Wunder, dass die bestehende Christenheit die blanke Sinnlosigkeit ist“ (ebd., S. 115). 168
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13) Im besten Fall vermag Religion Perspektiverweiterungen oder -veränderungen wachzurufen. Für Dorothee Sölle sind explizite Gebete „Fenster der Verwundbarkeit“ (Donna Harraway), ist Mystik Widerstand und Widerstand Mystik.170 – Dass Gebet/Gottesdienst ein politikfreier Raum sein könnte/dürfte, wäre für sie die totale Verirrung: Man darf nicht mehr schön gregorianisch singen, ohne an Vietnam zu denken oder etwas gegen den Hunger in der Welt zu tun (vgl. das Politische Nachtgebet; das sensible/aufmerksame Zeitungslesen als zeitgemäßes Gebet). Wie nahe Religion und ästhetische Erfahrung, Gebet und Dichten/ Selbstausdruck, der Ausdruck von Schmerz/Mitleiden und der Kampf gegen die Schließung der Systeme sind, hat Sölle oft dargelegt. – Mit dem Perspektivwechsel, Probleme nicht mehr abstrakt zu sehen, sondern konkret nachzuvollziehen, beinhaltet Religion eine „Sehschule“, so auch Simone Weil: „Es ist eine heute von allen gründlich verkannte Hauptwahrheit des Christentums, daß das, was uns rettet, der Blick, das Hinsehen ist (le regard).“171
14) Als weiterer Beleg für die Vielfalt (und Ausweitung) der „Gebetsformen“ – neben der DuAnrede Gottes werden ohnehin in der Liturgie Er-Aussagen in Doxologien oder in der Mystik die Praxis des Schweigens172 oder das Aushalten der Leere (Gottesnacht) unterschieden – kann auch das Zitat von E. Drewermann zum Vaterunser gelten: „Alles heute ist indirekter, vermittelter, ungegenständlicher in Fragen der Frömmigkeit als vielleicht in früheren Zeiten. Mit Gott zu reden – das bedeutet für viele, ganz einfach nach
„Aber es sind auch nicht viele, die es wie ich verstehen, dass man in der Christenheit das Christentum abgeschafft hat“ (ebd., S. 142). „Die triumphierende Kirche und die bestehende Christenheit ist die Unwahrheit, ist das größte Unglück, das der Kirche widerfahren kann, ist ihr Untergang …“ (ebd., S. 232). Nachfolge meint nicht Bewunderung, sondern „ein(en) Stachel in meiner Seele, der mich vorantreibt, gleich einem Pfeile, der mich verwundet…“ (ebd., S. 242 – vgl. H. Gollwitzers Bestimmung des Christentums als „die Religion der permanenten Unruhe“). 170 Vgl. Sölle, D., Mystik und Widerstand, München 1999. 171 Weil. S., zit. n.: Müller, H., Die Lehre vom Unbewußten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben, Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf 1983, S. 401. Paul Virilio stimmt ihr hier ebenfalls zu. Eine Blickveränderung ist für den heutigen Menschen überlebensnotwendig. 172 Vgl. das Bibelwort: „Dir ist Schweigen Lob, Gott auf Zion“ (Ps 65,2) und Augustinus meint zu Ps 3,5 über das Gebet „ohne Laut im Innern des Herzens“: „Niemand wende ein, dass man mit dieser Stimme, das heißt, wenn kein Ton erzeugt wird, weniger gut bete.“ (aus: ChrGeg Nr. 14/2008, S. 156, Fragebogen von L. Schwienhorst-Schönberger). Vgl. auch Kierkegaard: „Das sicherste Verschweigen ist nicht das Schweigen, sondern das Sprechen“ (zit. n. Camus, A., Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 1990, S. 27).
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4.1 „Religion ohne Religion“?
wenigstens einem Menschen sich zu sehnen, mit dem man ehrlich und offen reden kann; um Vergebung zu beten – das heißt für die meisten, die eigenen Gefühle und Motive so weit zu verstehen, dass die Gründe einer oft jahrelangen Selbstablehnung sich verringern; das tägliche Brot zu erbitten – das bedeutet vor allem, sich gesellschaftlich zu engagieren in den Konflikten des Unrechts und der Gewalt. Es gibt so viele Formen des Betens wie Formen der Zärtlichkeit, der Poesie und der Verantwortung; und viele Menschen gibt es, die sagen nie: ‚Gott‘, und doch tragen sie Gott in ihrem Herzen, und andere gibt es, die sprechen ständig von Gott, doch was meinen sie eigentlich mit diesem Wort? Von Mullah Nasrudin, einem Derwisch des 17. Jahrhunderts, erzählt man, er sei eines Tages zu einem Schneider gegangen, um sich einen Mantel machen zu lassen. ‚In einer Woche‘, sagte der Schneider, ,wenn Gott es will‘. Aber der Mantel wurde nicht fertig. ,In zwei Tagen, wenn Gott es will‘, sagt der Schneider, aber der Mantel wurde nicht fertig, ,Morgen, wenn Gott es will‘, sagt der Schneider. ,Und wenn du Gott aus dem Spiel lässt, wie lange dauert es dann noch‘, fragte Nasrudin. An der Art, wie wir den Namen Gottes gebrauchen, entscheidet sich, was für Menschen wir sind, denn je nachdem steht ,Gott‘ für all das, was uns hindert zu leben, oder für all das, was uns ermutigt zu sein. … Das ‚Vaterunser‘ jedoch ist eindeutig. Es wendet sich nicht an einen Alibi-Gott. Es möchte, dass wir endlich beginnen zu leben, zu lieben und selbst zu sein. Nur in diesem Sinn lässt es sich ‚beten‘.“173
15) Religionen müssen sich für den Dialog mit anderen Religionen öffnen, für die Vielfalt und Provokation des anderen Glaubens: Dass religiöse Identität auch die Alterität der anderen Religionen braucht, wurde etwa von Kollmann bereits für die Elementarerziehung hervorgehoben,174 die Erziehung zur Pluralitätsfähigkeit kann also gar nicht früh genug beginnen. Janusz Korczak schrieb den Jugendlichen als eine Art Abschiedsbrief: „Wir geben euch nichts. Wir geben euch keinen Gott, denn ihr müsst ihn in der eigenen Seele finden, im einsamen Kampf. Wir geben euch kein Vaterland,
173 174
Drewermann, E., Das Vaterunser, Düsseldorf 2003, S. 7–8. Kollmann, R., Religion nicht ausklammern. Bedeutung der Religion für die Identitätsentwicklung des Kindes, in: Kindergarten heute 11/2007, S. 6–12.
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denn ihr müsst es durch eigene Anstrengung eures Herzens und durch Nachdenken finden. Wir geben euch keine Menschenliebe, denn es gibt keine Liebe ohne Vergebung, und Vergeben ist mühselig, eine Strapaze, die jeder selbst auf sich nehmen muss. Wir geben euch eins: Sehnsucht nach einem besseren Leben, welches es nicht gibt, aber doch einmal geben wird, ein Leben der Wahrheit und Gerechtigkeit. Vielleicht wird euch diese Sehnsucht zu Gott, zum Vaterland und zur Liebe führen, lebt wohl, vergesst es nicht.“175
16) Gegen jugendliche, von Event- oder Kickkulturen176 geprägte Erwartungshaltungen ist zu betonen, dass die Riten der Weltreligionen auf Nüchternheit, Reflexivität des Einzelnen (J. Ratzinger/FAZ: Christentum als „Religion des Logos“) und weniger auf rauschende, ekstatische Verzückung oder dionysische Verschmelzung zu einem kopflosen Kollektiv/Man gesetzt haben. Dabei ist zu beachten, dass (ästhetische) Andacht/Meditation, wie Hermann Schmitz betont, die Möglichkeit der Distanz/Distanznahme voraussetzt: „Diese [(ästhetische) Andacht als engagierter Ernst/gesammelte Stille] ist intensive Hingabe, aber mit einer Distanz in der Ergriffenheit, die weder ein exklusives Verfallen an das ergreifende Hintergefühl noch ein beliebiges Abschweifen gestattet. … die Distanz ästhetischer Andacht in der Ergriffenheit verhilft … vielmehr zu einer befreienden ernsten Ruhe des affektiven Betroffenseins.“177 Korczak, J., zit. n.: Büchner, F., Dressler, B. u. a. (Hg.), Perspektiven Religion. Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II, Göttingen 2000, S. 90. David Friedrich Strauß fasst die radikale, vorurteilsfreie Weltoffenheit der Religion in die kurzen Zeilen: „… Wer (ist) der Fromme? Der vom Menschen wohl, / doch nichts von Christen oder Heiden weiß.“ 176 „Das Verhalten der Menschen ist durch und durch schon televisionär kodiert. Wirklichkeit – nicht nur die äußere, sondern schon die innere des Selbstverständnisses und der Sozialprogrammierung – ist heute weithin über massenmediale Wahrnehmung konstituiert“ (Welsch, W., Ästhetisches Denken, Stuttgart (3. Aufl.) 1993, S. 58, unter Rekurs auf Jean Baudrillard). 177 Schmitz, H., Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart 1998, S. 100–101, andernfalls drohten bei überbordender Emotionalität „Hilflosigkeit, würdelose Hörigkeit, Sucht und Fanatismus“ oder bei einer totalen Gefühllosigkeit „Sprödigkeit“, „Austrocknung“ und „kleinliche Launen“. 175
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4.1 „Religion ohne Religion“?
17) Es ist wohl schwer, Gott nicht mit Überich-Bildungen/Überich-Imperativen in Verbindung zu bringen; der sozial generierte Albdruck durch Idealperspektiven, der Terror der Selbstunterdrückung/Selbstbeobachtung wird von jesuanischer Predigt durchbrochen. In den Augen R. Girards hat Jesus zum ersten Mal in der Geschichte die Logik des Sündenbocks wirksam unterminiert, da „Gott“ von ihm nicht mit der sozialen Kollektivgewalt, dem großen Anderen der symbolischen Ordnung oder der Selbstgerechtigkeit der Mehrheit identifiziert wird und er sich weigert, sich der vorherrschenden Ideologie der Mächtigen zu unterwerfen. Mit einem aktuelleren Vergleich kann man sagen: Gott meint keine „Tamagotchi-Funktionen“178, keine virtuelle Befehlsinstanz, die einen ständig zu Aktionen auffordert, unserem Bedürfnis, aktiv zu sein/ gebraucht zu werden, entgegenkommt und schließlich sozial anerkanntes Verhalten sicherstellt (Žižek). Diese Logik der ständigen Selbstobjektivierung und des Selbstopfers wird vielmehr von Jesus außer Kraft gesetzt. (Das Wort Gott steht also nicht so sehr für die Stabilisierung etablierter Ordnungen und Bergungsnischen, sondern für deren Aussetzung, Ausweitung oder Umordnung, für das Wagnis der Restinklusion und Horizonterweiterung – wie sie sich in Psalm 4,2 niederschlägt: „Du hast meine Enge weit gemacht.“) 18) Ein elementarer Glaube setzt eine symbolische Interpretation der religiösen Bilder voraus: Religiös sein heißt Symbole haben, mit Symbolen staunen lernen: „Symbole geben zu denken“ (Ricœur), sie zeigen das Unsichtbare, das Nichtverrechenbare, das Eigentliche, das für die Augen unsichtbar ist. Symbole erschließen Wirklichkeit, die Tiefendimension des Daseins. Der Mensch als animal symbolicum (Cassirer), dem „alles Lebendige zum Gleichnis wird“, erfährt hier die Unabgeschlossenheit, Deutungsoffenheit der Welt. Symbole weisen als Materialisierungen von Sinn immer über sich und die festgestellte Bedeutung hinaus, als „Wirklichkeitskern“/Horizont können sie nicht ausgeschöpft werden. Fünf Stationen oder Zugangsweisen zu Symbolen können nach Halbfas/Biehl abgeleitet werden: der ganzheitliche Umgang, die kreative Auseinandersetzung, der meditative Zugang, die erfahrungs- und lebensgeschichtliche Erschließung von Symbolen sowie deren verstehende Erschließung.179 Das Symbol kann so zur „Nahtstelle zwischen Daseinsempfinden und religiöser Überlieferung“, zur Hilfe Žižek, S., Liebe deinen Nächsten? Nein, Danke!, Berlin 1999, S. 201–204. Am Tamagotchi, dem Computerspiel, bei dem der Spieler virtuelle Haustiere zu versorgen hatte, zeigt Žižek, wie für die meisten Menschen Gott nichts anderes ist als eine virtuelle Befehlsinstanz, die uns zum Tun auffordert und permanent aktiv hält. Das virtuelle Haustier, das gepflegt werden muss, erinnert nicht mehr an ein Tier/Kuscheltier oder ein uns affizierendes Kindchen-Schema; entscheidend ist hier, dass ein Computerprogramm Forderungen aufstellt, denen dann Folge geleistet wird. Wir scheinen etwas zu brauchen, das wir versorgen müssen. 179 Es muss geklärt werden, ob Symbole Dinge oder Nicht-Dinge verkörpern. Diese Unterscheidung von Ding und Nicht-Ding/Beziehung, die die Unterscheidung von Magie (Verobjektivierung) und Religion (Orientierung am Nichtobjektivierbaren) ermöglicht, ist die Grundunterscheidung der Theologie. Eine Analytik des Symbols rechnet aber mit Dingen, die immer schon mehr sind als sie selbst. (Was psycho178
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bei der Daseinsbewältigung, zum Medium der Sinnverdichtung und Sinnerweiterung werden. – Werden im Unterricht Symbole eingesetzt oder thematisiert, kommt das der sonstigen (religions-)pädagogischen Arbeit entgegen. 19) Es darf schließlich betont werden, „dass schon in den schlichtesten Gesten das ganze Dasein des Menschen eigentlich schon da und vor sich selbst gebracht“ ist (Rahner): etwa in Nähe-Konstellationen: Jean Paul sprach von Liebe als „praktizierter Unendlichkeit“, Lévinas’ Theologie des Gesichts, der Spur, die in der Berührung des Blickes des Gegenübers eine Spur Gottes erkennt und gleich zweimal den „passiv-obsessiven“ Charakter von „Offenbarung“ herausstellt, findet in der christlichen Theologie Anknüpfungspunkte: „Wenn du deinen Bruder gesehen hast, hast du Gott gesehen.“180 „Gottes Ehre ist der lebendige Mensch.“181
20) Fazit: Christsein oder auch Religiössein heißt für Kierkegaard wahrhaft existieren, sich entscheiden oder: je neu aus dem Leistungs- und Selbstbegründungszirkel (Teufelskreis) heraustreten in den Freiraum vorlaufenden unbedingten, zweckfreien, unverdienten Angenommenseins/ Beschenktseins. Der Vollzug der Existenz ist also elementares Glauben, indem sich der Mensch der Frage nach Existenzvertrauen oder -misstrauen stellt und sich je neu als dankbar-beschenkt versteht. Christliche Glaubenserfahrung kann als befreiend beschrieben werden, indem der Mensch die freiheitliche Exousia-Praxis Jesu als Vorbild und Modell im kierkegaardschen Sinn „wiederholt“. Der spezifisch christliche Aspekt der kommunikativen Geschenkerfahrungen besteht in der Ausrichtung auf den Rest, der Einbeziehung der Ausgeschlossenen und Verfemten. Die Betonung der Selbstlosigkeit oder auch des Spurcharakters Gottes, des radikalen Entzugs einer eindeutig positiven Erfahrung von Gnade (Lévinas) stellt eine weitere Akzentuierung der „religiösen Feier“ der Mitmenschlichkeit dar. Christentum wirkt auf alle Fälle gegenüber den postmodernen Wucherungen des Mythos als Entmythologisierung; gegenüber magischen Vorstellungen muss die Ungesichertheit
analytisch als Objekt des Begehrens oder Objekte a (Winnicotts Übergangsobjekte) zu rekonstruieren ist, unterminiert die scheinbar klare Unterscheidung von Ding und Nicht-Ding.) 180 Clemens von Alexandrien, Stromateis, zit. n.: Boff, L., Gott erfahren. Die Transparenz der Dinge, Düsseldorf 2005, S. 78. Lévinas spricht von der Spur Gottes auf dem Gesicht des Anderen, Spur ist immer als sich entziehend (nicht-präsentisch) zu verstehen, als „Vergangenheit, die nie anwesend war“. 181 Irenäus von Lyon, zit. n.: Stutz, P., Kraftvolle Rituale, Luzern 2004, S. 69. Nach Gen 33,10 gilt es, „das Antlitz des Bruders (zu) sehen, wie man Gottes Antlitz sieht“.
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und Nichtmachbarkeit menschlicher Existenz sowie deren Endlichkeit betont werden (vgl. Bonhoeffers Aufforderung, ohne falsche Tröstung zu leben). Gebet wird in diesem Kontext als Sensibilisierung verstanden, als existentielle Ausrichtung am Nichtmachbaren, als „Suche nach Wahrheit“ (Edith Stein): Ein zeitgemäßer Zugang zu traditionellen Riten wird über ein entgrenztes Verständnis erreicht, das an der Geschenkdimension der Existenz orientiertes Dasein insgesamt als Gebet identifiziert, insgesamt also über die Wertschätzung des Impliziten: Entweder ist das Leben insgesamt Gebet bzw. tendiert dahin oder es ist überhaupt nicht. Gerhard Terstegen verdeutlicht die Nähe von Glauben und Liebe182 in einem Gedicht von 1757: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus [in der Thora, im Koran usw.] offenbart; ich geb mich hin dem freien Triebe, wodurch ich Wurm geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.“
3. Zur Institutionalisierung der Öffnung: Riten der Aufmerksamkeit „Gott kommt auf Taubenfüßen.“ – Friedrich Nietzsche „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Da ich Willen zum Leben bin, bejahe ich mein Leben – was nicht einfach besagen will, dass ich Wert darauf lege, mein Dasein fortzusetzen, sondern dass ich es als höchstes Geheimnis empfinde. Durch die Ehrfurcht vor dem Leben treten wir mit der Welt in eine geistige Beziehung (…) In der Welt befindet sich der Wille zum Leben im Widerstreit mit sich selbst. (…) Durch die Ehrfurcht vor dem Leben werden wir auf eine elementare, tiefe und lebendige Weise fromm.“ – Albert Schweitzer183
Liturgie, Kult, Riten sind heiliges Spiel, sie können als grundsätzlich experimentell vorgestellt werden, als „soziale Plastik“ (Beuys), die den sozialen Raum verändern will, als Institutionalisierung
Zu einem nichtprivatistischen Liebesbegriff vgl. Hornscheidt, L., Zu Lieben. Lieben als politisches Handeln/ Kapitalismus entlieben, Berlin 2018. 183 Schweitzer, A., Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, München (8. Aufl.) 2003, S. 111–112 (Kap. VIII: Das Problem des Ethischen in der Entwicklung des menschlichen Denkens). 182
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einer Störung/Öffnung (der Routinen). Eine Theorie des Ritus kann darum nur fragmentarisch sein – es kann bekanntlich keine geschlossene Theorie einer Öffnung geben –, der fundamentalen Paradoxalität des Unternehmens bewusst sein und ihr/sein Scheitern/Fehlgehen vorwegnehmen. Zur Religion gehört das Insistieren auf Paradoxa. Der Paradoxalität (das gilt vor allem auch für das Christentum) versucht schon immer eine vorsichtige/subtile (theologische) Spurensuche zu entsprechen. Die Liminalität, der Charakter der Unterbrechung und des Zwischen (Victor W. Turner), ist für Religionen zentral. Es geht um die Aussetzung der bisherigen Ordnung und um Unterbrechung (Metz). Das Religiöse ist in diesem Sinn die Aussetzung des Ethischen, die Unterbrechung des Prinzipiellen in der Hinwendung zu einem konkreten „Stück Geschichte“ (Kierkegaard). Das Christentum irritiert die gesellschaftliche Ordnung immer schon und setzt andere Maßstäbe als die der sozialen Reputation. Seine Grundanliegen und die „Logik“ des Ritus und des Gebets können nur in Paradoxa expliziert werden. Künstler wie Ernst Barlach oder auch Theologen wie Martin Buber und Albert Schweitzer spiegeln die religiöse Irritation des gesunden Menschenverstands: „Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich.“ – Ernst Barlach184 „Er [der Theologe, für den schon Ethik – auch ganz im Sinne Sokrates’ – Gottesdienst ist und von der Ehrfurcht vor dem Leben geleitet ist] fürchtet sich nicht, als sentimental belächelt zu werden. Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein …“ – Albert Schweitzer185 „Erfolg ist keiner der Namen Gottes.“ – Martin Buber186
Für den Theologen Rahner geht mit der christlichen Nachfolge die Infragestellung religiöser Eliten einher. Die Unterscheidung von Experten und Nicht-Fachleuten ist immer schon revidiert:
Barlach, E., zit. n.: Pereira, A., Jugend mit Gott, Gedanken und Gebete, Kevelaer (6. Aufl.) 1979, S. 161. Vgl. auch Forte, B., Dreifaltigkeit: Geschichte Gottes in der Geschichte der Menschen, in: Hemmerle, K. (Hg.), Dreifaltigkeit. Schlüssel zum Menschen, Schlüssel zur Zeit. Beiträge zu Zeitfragen des Glaubens, München Zürich Wien 1989, S. (95–118) 115: „Ich scheue mich nicht zu behaupten, dass der Christ nicht zu Gott betet, der Christ betet in Gott.“ 185 Schweitzer, A., Wie wir überleben können. Eine Ethik für die Zukunft, Freiburg 1994, S. 78–79. 186 Buber, M., zit. n.: Pereira, A., Jugend mit Gott, Gedanken und Gebete, Kevelaer (6. Aufl.) 1979, S. 217. 184
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„Denn jeder Mensch ist als Mensch und Christ Theologe. Denn Theologie ist schließlich nur die umfassende und oberste Bemühung um das reflexive Verständnis unserer selbst, dessen, was wir als Menschen und Christen notwendig sind. Und darum gibt es eigentlich in der Theologie keine saubere Grenze zwischen Fachleuten und Dilettanten. Jeder ist in gewissem Sinn aufgerufen, Theologe zu sein.“187
Paradoxa erreichen keine einfachen Lösungen/Rezepte, sondern ein Hinterfragen von Selbstverständlichem, eine Komplexitätssteigerung und die Wahl einer theologischen Option. Religiöse „Pädagogik“ unterminiert Assimilationsversuche (das abgedroschene „… Schüler dort abholen, wo sie stehen“), es geht ihr vielmehr um das Einbrechen des Neuen durch Irritation/ Schock (vgl. Heiner Müllers Statement: „Wo das Können aussetzt, beginnt die Erfahrung“). – Helmut Gollwitzer nennt das Christentum „die Religion der permanenten Unruhe“188. Für Romano Guardini ist die Dynamik des Christentums im Umkehrruf Jesu „Metanoeite/Kehrt um!“ begründet. Dieser bezieht sich nicht nur auf moralische Fragen, sondern auch auf den Bereich des Denkens und der Theoriebildung.189 Marcus Steinweg unterstreicht hier, dass die fortgesetzte Infragestellung und Selbstbefragung das Ende der Klarheit bedeuten: „Die Erfahrung einer Wahrheit ist die Erfahrung einer Klarheit, und es gibt keine Klarheit, die nicht verstört.“ „Wahrheit nenne ich, was keinerlei Positivierbarkeit im Raum der konstituierten Realitäten erlaubt. Wahrheit ist, in dem Sinn, was nicht existiert.“190
Rahner, K., zit. n.: Lämmermann, G., Naurath, E., Pohl-Patalong, U., Arbeitsbuch Religionspädagogik. Ein Begleitbuch für Studium und Praxis, Gütersloh 2005, S. 121. Ähnlich argumentiert der Arzt und Theologe Gereon Heuft (Weiß Gott, was im Notfall passiert. Gespräch mit Marcel Laskus, in: C&W vom 29.5.2019, Nr. 23, S. 3–4): „Wer dankbar auf das blicken kann, was ihm gelungen ist, ist eigentlich bereits religiös.“ 188 Gollwitzer, H., Historischer Materialismus und Theologie, in: Schottroff, W., Stegemann, W. (Hg.), Traditionen der Befreiung. Bd. 1, München 1980, S. 37: „Der christlichen Religion ist das ‚protestantische Prinzip‘ eingebaut, und das hat sich in immer neuen Oppositionsbewegungen geäußert, von individuellen bis hin zu massenhaft historisch wirksamen. Das Christentum ist die gescheiterte Religion, sofern es hier nie zur Einheit von Postulat und Empirie, nicht einmal zur Ruhe einer einheitlichen Definition des Christlichen gekommen ist; es ist die Religion der permanenten Unruhe“, vgl. Schneider, D., Theorien des Übergangs, Frankfurt a. M. 1989, S. 28. 189 Guardini, R., Die Sinne und das religiöse Erlebnis, Mainz 1950, S. 36f: „Die Bekehrung, welche das erste Wort Christi (Mt 4,17) fordert, bezieht sich nicht nur auf unsere Sitten, sondern auch auf das Erkennen. Die christliche Kritik der Erkenntnis ist nicht nur theoretischer, sondern auch praktischer Art, sie fordert den Umbau der Grundlagen.“ 190 Steinweg, M., Politik des Subjekts, Berlin 2009, S. 74, 61. 187
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Die Widerständigkeit des intellektuellen Umkehrmoments und die performative Kraft des Glaubens setzen einen eigendynamischen Prozess in Gang. Die angedeuteten Sichtweisen lassen sich nicht einfach harmonisieren, sie zeugen aber von der Sprengkraft und Dynamik der religiösen Befreiungs-/Vollmachterfahrung. Das Spektrum möglicher (religiöser) Ausdrucksformen, die ein Echo der Hintergrundstrahlen dieser Aufbruch-Erfahrung wiedergeben oder direkt zur Perspektivweitung einladen, kann nicht eingegrenzt werden.191 Für Hans Jürgen Schultz hat die Paradoxalität in die „Theorie“ des Gebets als Grundvollzug offener, geerdeter Existenz einzugehen: „Die Menschen, die Jesus kennenlernten, wussten plötzlich nicht mehr, was sie beten sollten. Wir aber halten das Gebet hoch wie ein Banner, das wir um jeden Preis aus der Schlacht tragen wollen. Wir haben einen Sonntag im Kirchenjahr mit dem Namen Rogate eingerichtet. Aber die bloße Aufforderung ‚betet!‘ verführt am Ende zur Unfreiheit oder zur Gleichgültigkeit. … Das Gebet ist nicht eine Geste des Menschen, die er willkürlich tun oder lassen könnte. Wer das annimmt, stellt es sich bereits als fromme kultische Leistung vor. Wenn man Gebet sagt, sollte man nicht in erster Linie an eine geregelte liturgische Handlung denken … Gebet ist nicht Zwiesprache der Seele mit Gott, dann wäre es möglicherweise kaum mehr als die Überhöhung des Selbstbetrugs, sich selber gute Nacht zu sagen. Gebet ist vielmehr die Bereitschaft, sein Herz erforschen, es analysieren zu lassen. Beten ist nicht Einweihung ins Jenseits, sondern Einweisung ins Diesseits. Es ist eine Ausrichtung des Alltags und nicht eine Einrichtung des Sonntags. … Gebet ist nicht das Gegenteil des weltlichen Tuns, sondern seine Ermutigung, seine Orientierung … Und was ist dann Glaube, was soll dann noch das Gebet? … Im Gebet bekommt das Leben des Betenden Weltbezug. Man kann auf keinen Fall nur für sich beten. Gebet wird Gespräch mit anderen und Verantwortung für andere. Es öffnet die Augen, macht sehend.“192
4. Religion verweltlichen … – Leben „in extremis“: Plädoyer für eine „implizite“ Religion 1) Die hier entwickelte Programmatik, Religion zu verweltlichen und so – wenn auch mehr implizit als explizit – relevant zu erhalten, steht dem Versuch ihrer (Re-)Sakralisierung, einer erneuten
Der Einsatz verschiedenster Medien, insbesondere die Betrachtung von Kunstwerken, braucht nicht gesondert propagiert oder empfohlen zu werden. („Kunst ist Seelsorge“, Anatol Herzfeld, Museum Insel Hombroich, Neuss) 192 Schultz, H. J., Jenseits des Weihrauchs. Versuche einer Theologie im Alltag, Freiburg 1966, S. 65–70. 191
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Konzentration auf das Heilige (vgl. päpstlichen Vorschlag der Entweltlichung der Religion von Benedikt XVI./J. Ratzinger) entgegen. Verweltlichung meint dagegen, den Blick auf (leise/implizite) Verkörperungen zu richten, nach Spuren des Religiösen in der Gegenwartskultur zu suchen. – Möglichen Einwänden, hier einer „natürlichen Theologie“ das Wort zu reden, kann erwidert werden, dass Tradition und geschichtliche Erfahrung an keiner Stelle umgangen werden. 2) Raimon Panikkar sagt in einem Gespräch mit dem Naturwissenschaftler Hans-Peter Dürr mit Verweis auf die Frage aus dem Thomasevangelium „Wann wird das Reich kommen?“ (Wann zeigt sich etwas von Gott?): „wenn Gegensätze überschritten werden“, und er nennt die „gewöhnliche menschliche Sprache die poetischste.“ „Die Dichter spüren es, die Pfaffen dagegen sagen, all das ist nur Poesie. Nein, nein. Anders ausgedrückt: Die religiöse Sprache ist keine spezielle Sprache, sie hat kein Spezialgebiet, keine Spezialisation – das ist eine Stärke und eine Schwäche gleichzeitig.“
(Religiöse Sprache wäre also die Bildersprache am Beginn jedes Redens.) „Die religiöse Sprache kann nur im Vokativ – in der Anrufungsform [oder: Ausrufungsform!] geschehen. Als wenn ich in dir [dem anderen] den Tempel Gottes sehe, dann kann ich die religiöse Sprache sprechen. Sie ist nur Anbetungsprache, ist nur Anrufung … eine Sprache, die man eigentlich nur in der Ekstase reden kann.“
H.-P. Dürr versucht das Gespräch zwischen beiden zusammenzufassen: „Es gibt kein Wissen, sondern nur Gewissheit.“ Panikkar erwidert: „Nicht mal Gewissheit! … Die religiöse Sprache ist … nicht im modernen Sinne, sie ist eine Sprache … der Anschauung, des Schreis, des Nicht-Wissens.“193 Schweigen wäre Stagnation, Statik, das Zurückfallen in ein dumpfes Hiersein; religiöse Sprache ist selbst in Bewegung, immer dabei, sich neu zu erfinden, ihre Hörer sensibel zu halten. Die traditionellen Texte wollen so gelesen werden, als träfen sie – ganz neu und zum ersten Mal verkündet – auf den Leser/Hörer. Der Ritus und das Gebet zielen auf einen „eschatologischen Punkt“, den „Anbruch einer neuen Zeit“.194 Paul Valéry betont: „Das Gebet ist vielleicht das einzige, was es an Realem in der Religion gibt.“195 Panikkar, in: Dürr, H.-P., Panikkar, R., Liebe – Urquelle des Kosmos. Ein Gespräch über Naturwissenschaft und Religion, Freiburg Basel Wien 2008, S. 155f. 194 Celan, P., zit. n.: Tück, J.-H., Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Frankfurt a. M. 2000, S. 167: „Wo Gott nahe ist, geht die Zeit zu Ende.“ 195 Valéry, P., zit. n.: Nancy, J.-L., Dekonstruktion des Christentums, Berlin Zürich 2008, S. 230; Musik wäre für J.-L. Nancy entmythologisiertes Gebet. 193
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3) Es dürfen die jüdischen Stimmen nicht überhört werden, die das ungebrochene Lobpreisen (Artikulieren von Dankbarkeit) nach der Schoah kritisieren. Der dankbare Lobpreis hat also einen Riss erhalten, er wird von der unmöglichen Erinnerung an die namenlosen Opfer durchkreuzt. Elie Wiesel hebt hervor: „Aber beten, als ob nichts geschehen wäre, das wäre doch Feigheit“196. Lyotard pflichtet Wiesel sofort bei; er meint, „dass die Opfer genügen und genügt haben werden, um negativ Zeugnis abzulegen, dass das Gebet ebenso wie die Geschichte des Gebets unmöglich sind, dass vielmehr nur noch das Zeugnis ihrer Unmöglichkeit möglich bleibt“.197 „POLNISCHE Betfrösche mit gefalteten Dürerhänden halbieren den letzten Himmel.“198
Jan-Heiner Tück, ein Kommentator der Gedichte Celans, betont hier das Anliegen Celans, die Verborgenheit Gottes ernst zu nehmen. Elias Canettis Protest gegen die „Gottprotzigkeit“ wird verschärft; das Überhören der Verlassenheitsschreie wäre intellektuell unredlich und soll unmöglich werden. Celan formuliert in „Tenebrae“: „Bete Herr, / bete zu uns, wir sind nah“ (GW 1, S. 163). Gott wird zum Gebet aufgefordert, nicht die Menschen beten zu Gott, es ist umzukehren. Das Leid verändert die Sprache der Religionen (vgl. Hiob). Auf diese Weise wäre „der klebrigen Versuchung der Dichtung“ (Bataille) zu widerstehen. – Für Lévinas steht eine Religion aus, die Gott nicht in einem Theodizee-Kalkül verrechnet und als Abschlussgedanken missbraucht. Das Ringen um die fraglich gewordenen religiösen Begriffe von Heil und Erlösung macht allein die Rede von Gott glaubwürdig. Das Denken Jacques Derridas reibt sich ebenso an dem unmöglichen Punkt des Verlusts der Spuren, die unwiederbringliche, heimtückische Erinnerungslücken bedeuten.
Wiesel, E. (Macht Gebete aus meinen Geschichten), in: Tück, J.-H., Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Frankfurt a. M. 2000, S. 140. 197 Lyotard, in: Tück, J.-H., a. a. O., S. 144. 198 Celan, P., zit. n.: Tück, J.-H., a. a. O., S. 143. 196
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4.1 „Religion ohne Religion“?
„Der Schmerz, der für mich am Ursprung der Schrift steht, ist der Schmerz über den Gedächtnisverlust, nicht nur über das Vergessen und die Amnesie, sondern über das Auslöschen der Spuren.“ 199
Gemäß dem Talmud führt jedoch die offene Trauer, die das Ausmaß des Verlusts und des Kulturbruchs ahnt, an das Gebet heran: „Wer sich im Angesicht der Geschichte seiner Tränen nicht scheut, der erhält das Geschenk des Gebets.“200
4) Die Anstrengung des intensiven Studiums werden im Talmud im Traktat Schabbat geschildert: Raba rieb während seines Studiums seine Füße so stark, bis Blut spritzte, und Lévinas kommentiert: „Reiben bis das Blut kommt, (ist) vielleicht auch die Art und Weise, wie man den Text ‚reiben‘ muss, um zu dem Leben zu gelangen, das er verbirgt.“201 In ähnlicher Weise meint Lévinas, dass das Leben fraglos jenseits der Bücher sei, aber um dahin zu gelangen, müsse man sie lesen: „Alle großen Bücher sind heilige Bücher.“202 Die Bedeutung von Büchern, die der jüdische Mystiker Jabès zum Mittelpunkt seiner Wortmystik macht, hat auch Lévinas häufig zum Ausdruck gebracht: „Meine Bedingtheit – oder Unbedingtheit – ist meine Beziehung zu Büchern. Sie ist das eigentliche à-Dieu – hin-zu-Gott.“203 Von jüdischen mittelalterlichen Talmudlehrern wird berichtet, dass für sie genau der als bedeutend oder maßgebend galt, der den einfachsten Beruf hatte. Dass sich jeder Tag und Nacht um das Studium bemüht, war selbstverständlich; die Weisheit der Religion hat sich hier in konkreten Gesten der Aussetzung, des Nichtherrschens, der Distanz zur sozialen Rangordnung, der Verweigerung des Machtstrebens usw. zu äußern (vgl. Dostojewskis/Nietzsches Idiotsein als Modus des Religiösseins). Auch für Lévinas wird die Spur Gottes nie manifest; von diesen leisen, fast verwehenden Spuren geht eine Kritik der vorherrschenden Systeme aus. (Wer meint, in der Religion ginge es darum, dass sich Wahrheit herrlich darstellen lässt oder mächtig in die Paläste einzieht, hat sie – in den Augen von Lévinas – nicht begriffen. – Die Sache der Religion bleibt Derrida, J., zit. n.: Tück, J.-H., a. a. O., S. 148–149. vgl. auch Walter Benjamins Aussage: „Aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen.“ 200 Talmud Berachot 54 (Leitsatz aus: Budziarek, M. (Hg), Lodzer Judaica in Archiven und Museen, Lodz Bonn 1996). 201 Malka, S., Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, München 2003, S. 127. 202 Zit. n.: Malka, S., ebd., S. 117. Al-Khalili, Jim, Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, Frankfurt a. M. 2010, zitiert als Leitspruch des Klappentextes den Satz des Propheten Mohammed: „Die Tinte der Gelehrten ist heiliger als das Blut der Märtyrer.“ 203 Lévinas, E., Jenseits des Buchstabens, Frankfurt a. M. 1996, S. 10f. 199
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
also die konstante Subversion und das subtile Verfolgen unmerklicher Spuren.) Die Tonart, in der Lévinas denkt, klingt bei Edmond Jabès ebenso an: „Die Antwort ist ohne Gedächtnis. Allein die Frage erinnert sich. … Die Frage ist Schöpfung. Die Antwort ist Tötung. Gott ist gestorben an Seiner vorzeitigen Antwort, welcher der Mensch sich gebeugt hat.“204
5) Anhaltspunkt für eine Theologie der Frage, eine Religion ohne Theodizee, wie sie Lévinas fordert, also eine Religion, die den Skandal des Leids nicht wegharmonisiert und als gottgewollt erklärt/ rationalisiert, bilden Erzählungen und Berichte der Opfer der Schoah: In der Erzählung „Die Nacht“ schildert der 1928 geborene jüdische Schriftsteller und Nobelpreisträger Elie Wiesel, ein Überlebender von Auschwitz, wie er und tausende Lagerinsassen die Hinrichtung dreier Mitgefangener auf dem Appellplatz durch die SS ansehen mussten: Es handelt sich um eine Strafmaßnahme für die Flucht von Häftlingen in der Nacht zuvor; unter den Todeskandidaten, die durch Los ermittelt wurden, ist auch „der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.“ „Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. ‚Es lebe die Freiheit!‘ riefen die Erwachsenen. Das Kind schwieg. ‚Wo ist Gott, wo ist er?‘ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. ‚Mützen ab!‘ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. ‚Mützen auf!‘. Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: Der leichte Knabe lebte noch … Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: ‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo ist er? Dort – dort hängt er, am Galgen …‘ An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam.“205
Gott lässt sich nur noch auf der Seite der Opfer und Geschundenen suchen, das Gesicht des Gequälten, Gefolterten „verrät“ ihn (vgl. die Geschichte vom 100. Namen Gottes). Das heißt Jabès, E., Das kleine unverdächtige Buch der Subversion, München Wien 1985, S. 17, 41. Wiesel, E., Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis, Freiburg Basel Wien (7. Aufl.) 1996, S. 94f.
204 205
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4.1 „Religion ohne Religion“?
gerade nicht, dass Leiden heilig machte, dagegen wendet sich Wiesel vehement. Man kann sich nur vorstellen, dass Gott angesichts des Leids die Position des klagenden Hiob einnimmt, Gott wird zur Frage bzw. offenbart sich als Ruf nach Mitleid. – Eine säkulare Religion beantwortet nicht mehr die Theodizeefrage, warum der gute Gott Leid oder Böses zulässt. Sie kann Leid nur mit Solidarität begegnen. Ohne Mitleid oder Erinnerung an die Opfer würde sie sinnlos. Anstelle vollmundiger religiöser Theorien, die sinnwütig Leid in einem harmonischen System verrechnen, steht die Anerkennung von Sinnlosigkeits- und Leiderfahrung. Elementare Theologie verbietet sich Antworten, die einen Schlag ins Gesicht der Opfer, eine Beleidigung oder eine Missachtung sowie ein Verrat an der konkreten Erfahrung wären. Von daher lässt sich als weitere Beschreibung von „modern“/“säkular“ hinzufügen: Modern/ säkular wäre, wer die Erfahrung von Leid ernst nimmt, nicht vorschnell harmonisiert, wer sich Theorielücken leistet und Erfahrungen von Brüchen (Schoah als Zivilisationsbruch, D. Diner) nicht ausweicht, die traumatische Begegnung mit dem Ungeheuren oder Abgründigen nicht leugnet, das Nichtfunktionieren von Ordnungen nicht verdeckt und Sinnlosigkeit nicht überkleistert. Religionen können es sich nicht mehr erlauben, mit unvorsichtigen Antworten Leidende vor den Kopf zu stoßen oder deren konkrete Erfahrungen zu übergehen. – Es ist im Sinne von Lévinas ein Zeichen von Großmut/Glauben oder religiöser Sensibilität und Offenheit, Theorielücken und Systemrissen nicht auszuweichen. – Das Sinnbedürfnis ist groß, ebenso das verführerische Angebot an Sinnprojektionen. Entscheidend religiös ist hier also gerade der Widerstand gegen Harmonisierungsversuche und gegen das Wahrsprechen der stimmigen Weltanschauung. Religiöse Ideologien neigen dazu, geschichtliche Sinnlosigkeitsmomente nicht zuzulassen, diese unter Bedeutungen/Begründungen/ Schuldzuschreibungen/Vertröstungen kleinzureden oder zu verdrängen. Säkulare Theologie verzichtet auf universale Sinncluster, weist dagegen Sinnlücken aus und begrenzt ihre eigenen Antwortmöglichkeiten. Dementsprechend spricht D. Sölle vom erkenntnistheoretischen Privileg der Armen und Unterdrückten und davon, dass die Stimmen der Unterdrückten tausendmal mehr Gewicht haben müssen als die klugen Sätze etablierter beamteter Theologieprofessoren. Sölle meint weiter, dass sie nicht mehr emphatisch selbst glauben kann, sondern viel vorsichtiger oder solidarischer nur noch den Glauben der Hoffnungslosen glaubt, die noch nicht verzweifelt sind. Nur noch die paulinische „Hoffnung wider alle Hoffnung“ bleibt nachvollziehbar.206 6) Es gibt in allen religiösen Traditionen Hinweise und Ansätze für eine solche verweltlichte „Religion der Öffnung“. Die Vielzahl der Zitate sollte das andeuten. Der prominente
Sölle, D., Gott denken. Einführung in die Theologie, Stuttgart (3. Aufl.) 1990, S. 32. Und S. 13: „Es ist nicht ein Zeichen starken, sondern schwachen Glaubens, wenn unsere Suche schnell endet und wenn der Glaube das Licht der Vernunft scheut.“
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Schüler Jacques Derridas, Jean-Luc Nancy, plädiert in vielen Veröffentlichungen für ein derartiges Neulesen der religiösen Traditionen. Religion muss als Offenhalten des Sinns gelesen werden. „Ja, wir sind die Wesen des Sinns, ja, die Welt ist das, dessen Sinn wir als Auftrag haben, und ja, die Wahrheit des Sinnes ist keine Vollendung, keine bedeutungsvolle Fülle, sondern sie ist die Schwebe, durch die der Sinn sich zugleich unterbricht und unendlich wieder weiterschweigt.“ „Die geoffenbarte Wahrheit ist die Wahrheit, die in keiner Lehre und keiner Predigt enthalten ist. Sie ist die Wahrheit von keiner Adäquation und keinerlei Enthüllung. Sie ist die einfache unendliche Wahrheit der Unterbrechung und Schwebe des Sinns. Unterbrechung, denn der Sinn erfüllt sich nicht, und Überborden, denn er hört nicht auf.“207
Der Imperativ Friedrich Hölderlins „Komm! ins Offene, Freund!“ gewinnt an Bedeutung. Mythen und Riten halten die Stelle des Nicht-Wissens frei und kaschieren den Mangel nicht, sie wollen den Menschen mit der eigenen Leere, dem Trauma oder auch dem Nichtfunktionieren der Ordnung konfrontieren. Nancy scheut sich nicht, das Christentum oder die monotheistischen Religionen atheistisch zu nennen, denn sie zeugen von einer „Neumodellierung des Göttlichen“208, es geht um eine Aufschließung der Vernunft für die Dimension des Mitseins, der Tiefe der Mitmenschlichkeit, und für die Irritation durch das „Wahrheitsereignis“. Und Wahrheit heißt für J.-L. Nancy nicht das Erfinden von richtigen Sätzen, sondern bereit zu sein für ein Ereignis, das einen zu überwältigen droht. … „fähig zu sein, den Aufprall des Sinns zu ertragen.“209 – Sinn erschließt sich mitmenschlich-relational im Sinne einer Horizonterweiterung, Weitung eigener Grenzen oder als Zerbrechen vorhandener Ordnungen. „Anbetung“ – so der Titel eines philosophischen Werks Nancys – bedeutet „Aufmerksamkeit auf das Bewegte des Sinns.“210 Zur Öffnung gehört, dass der Mensch sich nie den ihn konstituierenden Mangel zukleistern oder zukitten lässt. Dass Religion vor allem Öffnung, Reflexion der eigenen Verwundbarkeit, Irritierbarkeit ist, gerinnt für Nancy in dem Zitat
209 210 207 208
Nancy, J.-L., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012, S. 82, 67. Ebd., S. 47. Nancy, J.-L., Vergessen der Philosophie, Wien (3. Aufl.) 2010, S. 114. Ders., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012, S. 33 und S. 26: „Die Anbetung besteht darin, sich ans Nichts – weder Grund noch Ursprung – der Öffnung zu halten. Sie ist diese Haltung selbst.“
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4.1 „Religion ohne Religion“?
Wittgensteins, das er seinem Buch voranstellt: „Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung.“211 7) Man kann also festhalten, dass Religion in der Moderne nicht unwichtig wird. Dass sie nicht mehr in den Kategorien fixer Antworten auftritt, sondern in Gestalt der Frage, ist nicht neu, sondern – wie in Zitaten aufgezeigt – tief in die religiösen Traditionen eingeschrieben. Wenn Religion in der Moderne eine weltliche (säkularisierte/desakralisierte) Gestalt gewinnt oder implizit wird, verschwindet sie keineswegs. Wenn Religion als Sondervollzug fraglich wird, bleibt sie als Lebenseinstellung des Nichtvergegenständlichens relevant und wirkmächtig. Wenn sie privatisiert und zur Sache eines privaten Kampfes mit sich und seinen Grenzen erklärt wird, steht der Öffnungsimpuls auch diesem Fixierungsversuch entgegen. Die Sensibilität für Sinnöffnungen und die Kritik des Status quo enthalten immer schon die Frage nach der Gerechtigkeit und gehen unmittelbar in das soziale Projekt der Ausweitung von Bergungssphären auf andere hin über. Das genuine Anliegen der Religion, das Verfemte, Ausgeschlossene, An-den-Rand-Gedrängte ungebührlich zu betonen und zur Mitte einer neuen Ordnung zu machen, bleibt politisch hochbrisant, öffentlich wirksam und buchstäblich umstürzlerisch: „Kultur ist keine Überwindung und auch keine Neutralisierung der Transzendenz; sie ist, durch die ethische Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem Anderen, Bezug zur Transzendenz als Transzendenz. Man kann dies Liebe nennen. Sie wird vom Antlitz des Anderen befohlen, das keine Erfahrungstatsache ist und nicht aus der Welt stammt. Einbruch des Menschlichen in die Barbarei des Seins, auch wenn keine Geschichtsphilosophie uns vor der Rückkehr der Barbarei bewahren kann.“212
8) John Brockman sammelte 2006 „dangerous ideas“ namhafter zeitgenössischer Wissenschaftler, Ideen, die „alles verändern werden“ – so zwei Buchtitel des Herausgebers.213 Die Ideen von einer säkularen Religion, von einer „Religion ohne Religion“ und „Gott ohne Gott“214 waren dort leider nicht aufgeführt. Auch wenn landläufig gilt: „Wer den derbe-
Wittgenstein, L., zit. n.: Nancy, J.-L., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012, S. 7. 212 Lévinas, E., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München Wien 1991, S. 225. 213 Brockman, J. (Hg.), Was ist Ihre gefährlichste Idee? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit denken das Undenkbare, Frankfurt a. M. 2009; Brockman, J. (Hg.), Welche Idee wird alles verändern? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über Entdeckungen, die unsere Zukunft bestimmen werden, Frankfurt a. M. 2010. 214 Die Begriffe stammen übrigens von S. Žižek (Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt a. M. 2002, S. 175) bzw. G. Hasenhüttl (Gott ohne Gott. Ein Dialog mit Jean-Paul Sartre, 211
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ren Stock hat, hat die bessere Chance, seine Wirklichkeitsstimmung durchzusetzen.“ (Th. Luckmann), ist das Verständnis einer leisen, säkularen Religion dennoch nicht aufzuhalten. Dass es zunächst unscheinbar sich im Schatten expliziter Formen rhizomatisch auszubreiten vermag, lässt sich als Taktik denunzieren. Doch es geht vielmehr darum, religiöse Traditionen im Sinne Benjamins nicht-konformistisch zu lesen, d. h. ihre Radikalität und subversive Kraft nicht zu verharmlosen; die Elemente von Religion, die zur Selbstzelebrierung neigen und um den eigenen Selbsterhalt oder Status quo bemüht sind, werden zurückgedrängt und als sekundär ausgewiesen; das Anstößige, Herausfordernde von Religion wird betont. Dieses Vorhaben, gewissermaßen „Religion in der Religion“ zu suchen, kommt mit dem Projekt „Religion ohne Religion“ überein; der nichtkonformistische Umgang mit der Tradition ist in beiden Fällen gleichermaßen provokant. Der Ausdruck „Gott ohne Gott“215 deutete auf einen Abschied von überkommenen Gottesbildern hin, auf das Ende des Supranaturalismus oder Offenbarungspositivismus, eine Klärung und Konzentration auf die Gotteserfahrung in der Mitmenschlichkeit. „Religion ohne Religion“ meint eine Religion ohne Heilig-Profan-Unterscheidung, einen Gewinn an Lebensnähe und die Neubestimmung und Ausweitung der Relevanz von Religion im Alltag, das Implizitwerden von Religion als Existenzvertrauen, die Konzentration auf Erfahrung. In Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ heißt es: „Das Leben ist Gott, und das Leben zu lieben heißt Gott zu lieben.“216 Säkulare/“verweltlichte Religion“ heißt also, zu keiner Zeit der (modernen mythischen) Verdinglichungstendenz zu verfallen, sondern vielmehr Sinnmöglichkeiten/ Erfahrungsräume von heilvoll erlebtem Nichtobjektivierbarem konkret auszuweisen. Säkulare Religion schließt die Kritik an allen Versuchen ein, Leben eindimensional zu machen, zu funktionalisieren oder Würde, den unbedingten Wert des menschlichen Lebens, mit Nutzen-/Preiskalkulationen kleinzureden und zu nivellieren. – Der irritierende religiöse Akt wird immer möglich sein, er erwirkt eine Horizonterweiterung, eine Öffnung und Dynamisierung von Religion. 9) Religion bedeutet kein zusätzliches Tun, sondern ein Anders-Tun oder ein Lassen. Im Taoismus ist davon die Rede, dass das Lassen ohne das (verkrampfte) Zutun das wahre Tun beinhaltet. „Religion ohne Religion“ bedeutet, so darf wiederholt werden, dass Frömmigkeit/ Graz 1972). Für Žižek ist die „Religion ohne Religion“ eine Definition von Atheismus, die Offenbarung einer Leere (nothing takes place but the place itself, vgl. Mallarmé), für Hasenhüttl resümiert der Begriff „Gott ohne Gott“ einen zeitgemäßen, aufgeklärten/entgrenzten, entmythologisierten, säkularen Glauben; vgl, ders., Glaube ohne Mythos (2 Bde.), Mainz 2002. 215 Hasenhüttl, G., Gott ohne Gott. Ein Dialog mit J.-P. Sartre, Graz Wien Köln 1972. 216 Don Cupitt über Anti-Realismus in Bezug auf Gott, in: Edmonds, D., Warburton, N. (Hg.), Philosophy Bites. 25 Philosophen sprechen über 25 große Themen, Stuttgart 2013, S. 191.
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4.1 „Religion ohne Religion“?
religiöse Sensibilisierung nicht in den Kategorien von Addition, sondern von Subtraktion begriffen wird, so sehen es geistliche Schriftsteller wie Richard Rohr oder Franz Jalics. Goethe meint in diesem Sinn: „Wer am wenigsten bedarf, ist dem Göttlichen am nächsten.“ Das gilt natürlich auch für die mythischen Imprägnierungen, so dass religiöse Einübung eine Schule der Einfachheit beinhaltet. Entmythologisierung entspringt einer Konzentration auf den entscheidenden Existenzwandel, den Religionen intendieren. Der Versuch der Erdung theologischer Aussagen ist bereits eine Form der Religion ohne Religion. 10) Das Christentum vollzieht aus sich heraus diese Reduktion auf einen bescheidenen Minusglauben; wenn es immer nur die negativen Folgen der Säkularisierung beklagt oder eine einfache Rückkehr der Religion erhofft, verpasst es die Chance, zu einer „religion de l’homme (Rousseau) zu werden, also sich zu universalisieren. – Moderne wurde von Max Weber als Rationalisierung beschrieben, als Moment der nicht zurückzudrehenden Bürokratisierung und des Ökonomismus – auch das Ich wird unternehmerisch. Sie ist zugleich auch mit der Aufklärung eine Bewegung der Reduktion von Wünschen; Lückenbüßertheorien und geschlossene Theorien stehen unter dem Verdacht, dem Menschen etwas vorzumachen. Die „Religion ohne Religion“, der Minusglaube, hält nun an den Momenten der Lücke fest. Sinnlücken werden nicht mehr kaschiert. – Die Religion, die Lücken und Abgründe markiert, ist eine Sachwalterin der Moderne; sie schützt urmoderne Anliegen, die durch die bürokratische, institutionelle Schließung verloren zu gehen und verdeckt zu werden drohen. 11) Religion behält ihre Relevanz als verlebendigende Irritation der Gesellschaft. Gegen die Systemfeiern von Institutionen betont sie das Tun und die Haltung des Einzelnen (Kierkegaard). Die Implizierung des Glaubens bewahrt das subversive Erbe der Religion, das bei jeder institutionell mächtigen Selbstdarstellung verlorengeht. Religion überlebt vor allem als elementare, d. h. radikale Form mitmenschlicher Beziehung. Lévinas beschreibt dementsprechend die religiöse Thematik, das Anliegen und Wesen der Religion, mit den Worten: „Kultur der Transzendenz, trotz der angeblich ausschließlichen Überlegenheit der Immanenz, die im Okzident als die größte Gnade gilt“, „Denken, das nicht ein Denken von, sondern immer schon ein Denken für … ist, eine Nicht-Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen, die das Gleichgewicht der gleichbleibenden und unerschütterlichen Seele des Erkennens zu Fall bringt“, „ethische Kultur, in der das Antlitz des Anderen – das des absolut Anderen – in der Identität des Ich die nicht nachlassende Verantwortung für den Anderen und die Würde eines Erwähltseins wachruft“.217 Glaubensangelegenheiten sind derart elementar,
Lévinas, E., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München Wien 1991, S. 225, 226, 227.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
dass sie die fundamentale Bezogenheit auf den Nächsten meinen, die jeder zweifelnden oder affirmativen Überlegung über religiöse Bilder/Dogmen vorangeht …
4.2 Auto-Meditation: Das Auto als Fetisch des Mobilisierungskults „Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt: So nimmt man den Willen selbst gefangen.“ – Jean-Jacques Rousseau218
Der französische Philosoph Roland Barthes meinte schon 1950 in seinem Buch „Mythen des Alltags“: „Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die mit ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet.“219 Autos sind das, was uns nach wie vor magisch anzieht und fasziniert. Autos sind unsere heutigen Kathedralen, Sakralgebäude, heilige Objekte, in denen wir uns besonders wohl-aufgehoben und mächtig fühlen. Die Automobilität ist ein wesentlicher Bestandteil unserer gesellschaftlichen Vision von autonomen Individuen, die allesamt Beweglichkeit als Modus ihrer Freiheit verstehen. Das Auto ist die augenfälligste Manifestation der Moderne als Verschnellerung, als Mobilisierungsbewegung aller Ressourcen, als Mobilisierung vor allem des Subjekts. Das Auto simuliert göttliche Allbeweglichkeit. Die beflügelte Siegesgöttin (Nike von Samothrake) auf dem Kühler des Rolls-Royce veranschaulicht die Parallele. Das Auto präsentiert sich als irdischer Thronwagen mit einer gottgleichen Bewegungsart. Der Philosoph Norbert Bolz schreibt: „Das Auto ist ein Anbetungsgegenstand, der auch eine Art Altardesign braucht. … Wer gerne Bus oder Bahn fährt, wird das Auto-Ich nie verstehen. Der Autofahrer will das Sofa als Rakete.“220 Und weiter: „Der Futurist Marinetti hatte schon vor achtzig Jahren den fabelhaften Mut auszusprechen, dass ein Ferrari schöner sei als die Nike von Samothrake. Der Rennwagen ist das hervorra-
Rousseau, J. J., Emile oder Über die Erziehung, Paderborn München Wien Zürich (13. Aufl.) 1998, S. 155. Barthes, R., Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. (16. Aufl.) 1994; S. 76. 220 Bolz, N., Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 91. 218
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gende technische Produkt einer Risiko-Ästhetik, die offenbar ein tiefes Bedürfnis der modernen Welt befriedigt, nämlich das Abenteuer als Präparat. In einer Welt als Versicherung wird Unsicherheit zum Reiz. … Im Rausch der Geschwindigkeit und über dem Abgrund erreichen Männer wieder ihre archaische Erlebnisschicht.“221
Moderne bedeutet Mobilisierung, einen Strudel der Verschnellerung der Lebensvollzüge, zwanghafte Ruhelosigkeit. Mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Lebensabläufe gehen Mechanismen der Kontrolle und der Disziplin einher. Wir müssen uns anstrengen, um mit dem hohen Tempo mitzuhalten. Mit der Moderne sind auch der Drill und die Abrichtung zum Schnellen verbunden. Da der modernen Geschwindigkeit Strategien des Zwangs zugrunde liegen, spricht Sloterdijk auch von einer „Mobilmachung“.222 Verfolgt man die Selbststeigerungskurve der Mobilmachung, treten für Sloterdijk – ganz dem Begriff der Postmoderne gemäß – auch ihre Aporien/Ausweglosigkeiten hervor: Im Stau behindern sich die Vehikel der Allbeweglichkeit gegenseitig; der Mythos des modernen Nomaden kollabiert. Das Selbstbewegliche steht still; der Turm zu Babel bricht zusammen. Der Marburger Literaturwissenschaftler Jörg Jochen Berns meint: „Die Kavalierstarts jugendlicher oder infantil gebliebener älterer Autofahrer zwischen zwei roten Ampeln, diese gewissermaßen knallfroschartigen Bewegungen sind vielleicht die letzte Schrumpfform der Automoblitas, die sich heute noch beobachten lässt.“223 Die moderne Beschleunigung rief schon Robert Walsers Unbehagen hervor. Der Schweizer Schriftsteller vermutete, „man [sei] toll geworden und müsse rennen, um nicht zu verzweifeln.“224 Mobile Hochgeschwindigkeit führt überdies zur Verminderung des Wirklichkeitserlebnisses
Bolz, N., Das wahre Leben, München 2014, S. 40f. Sloterdijk, P., Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1989; ders., Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987, S. 49–76. Die kopernikanische Mobilmachung beginnt mit dem Sturz des geozentrischen Weltbildes, mit dem neuen Bewusstsein, dass wir mit ungeheurer Geschwindigkeit (107.000 km/h) durchs All rasen. 223 Berns, J. J., Warum ist das Auto eine Höllenmaschine, Herr Berns?; in: Zeit-Magazin vom 23.05.1997, S. 37. Vgl. auch die SWR-2-Aula-Vorträge: Berns, J. J., Himmelfahrten. Mutmaßungen zu Herkunft und Heimkehr des Automobils, vom 22.07.2001; Lütkehaus, L., Ich fahre, also bin ich, vom 29.07.2001; Hörisch, J., Schwindel und Geschwindigkeit. Dromologie als Viktimologie, vom 05.08.2001. 224 Walser, R., Der Spaziergang, Frankfurt (5. Aufl.) 1998, S. 21–22; schließlich sei bemerkt, dass es hier nicht um eine Kritik der Bewegung, sondern der Beschleunigung geht, woran auch Bubers Diktum gemahnt: „Glaube ist die Fähigkeit, im Tempo Gottes zu gehen.“ Vgl. auch: Stenger, G., Fahrzeug. Phänomen und Bild; in: Stenger, G., Röhrig, M. (Hg.), Philosophie der Struktur – Fahrzeug der „Zukunft“? Festschrift für Heinrich Rombach, München 1995, S. 493–526. 221 222
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als Widerstand. Wirklichkeit wird bei automobiler Hochgeschwindigkeit, etwa bei Tempo 150, dünn, manipulierbar, also weniger widerständig (wir verlieren das Gefühl für die reale Gefahr). Es kann geradezu als ein Ergebnis der Medientheorie angesehen werden, dass das Wirklichkeitsempfinden als von den Leitmedien bestimmt und von ihnen veränderbar angesehen wird (McLuhan). Der Zusammenhang von Auto und Computer liegt für Medienwissenschaftler auf der Hand: Das Surfen auf der Datenautobahn übertrumpft die reibungsvolle Fortbewegung auf der Straße. Der Computer sticht das Auto aus. – Heute wird von einer weltweiten millionenfachen Überproduktion von Autos gesprochen; Computer, Tablets und Handys treten als Mobilitätskonkurrenten auf. Im Bereich des Digitalen ist eine erneute Verschnellerung und Mobilisierung erreicht. Sie geht mit einem entscheidenden Wandel der Welt vor sich: Paul Virilio, der Geschwindigkeitsforscher, meint: Wir werden in Zukunft alles um uns herum zum Rasen bringen, und gleichzeitig selber unbewegt auf dem Bett liegen – mit zunehmend atrophierten Muskeln. Das ist dann der „rasende Stillstand“, so auch ein Buchtitel von Virilio. Mit dem rasenden Stillstand ist ein Endpunkt in der Systemlogik der Verschnellerung beschrieben. In den Augen von Zeitkritikern hat die unhinterfragte Gültigkeit des Programms der Mobilisierung und Selbststeigerung zweifellos den Charakter eines religiösen Bekenntnisses. In der Ära des globalisierten Turbo-Kapitalismus wächst die Geschwindigkeit der Warenzirkulation, das Rad der Innovation dreht sich immer rasanter. Die im Internethandel georderten Güter werden zu den Kunden befördert, das Verkehrsaufkommen infolge der sich verschnellernden Warenzirkulation steigert sich. Die Konsumenten haben Angst, nicht genug zu genießen, und sie beginnen, sich deshalb schuldig zu fühlen. Der Konsumismus als Weltreligion (Benjamin) braucht die Geschwindigkeit als Rauschmittel und Katalysator des Wandels. Die Waren mit ihren „theologischen Mucken“ (Marx) tanzen uns auf der Nase herum. Dies gilt in besonderer Weise für das Auto. Zur Konsumdroge gehört die Verleugnung der negativen Folgen des Lebensstils, die Zone der Ent-Entfremdung weitet sich gespenstisch aus. Je lauter die marktschreierischen Konsumaufforderungen, desto leiser wird das Gegenprogramm und Antidot ausfallen. Nach dem Lyriker Jan Wagner vermittelt schon der griechische Philosoph Diogenes von Sinope, der erste Kyniker, „dass man immer und überall reisen sollte, immer reisen kann, selbst dann, wenn der Körper den heimischen Quadratmeter nicht verlässt, selbst in der Tonne also“225. Es gibt demnach stille Alternativen zur Unrast und Hetze. Der russische Schriftsteller Dostojewski beschrieb indes schon vor 150 Jahren die Ruhe als „Quelle jeder wahren Kraft“. Auf Goethes Ratschlag, der von einer ähnlich bestechenden Wagner, J., Gedenke der Lücke. Ein Plädoyer für Traum, Narrheit und Nutzlosigkeit, Saarbrücken 2016, S. 51.
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4.3 „Heaven“
Einfachheit ist, wird man immer wieder zurückkommen: „Wenn du stille wirst, wird dir geholfen.“ Jan Skácel dichtet schließlich: „Wir haben die Stille vergessen / sie konnte nicht bestehen ohne Liebe.“226
4.3 „Heaven“ – eine filmische Soteriologie „Mit Kino meine ich das, wohin Franz Kafka etwa regelmäßig zur Nachmittagsvorstellung ging, weil er es in seinen Büroräumen nicht aushielt. Dieses Kino ist Nachahmung einer Innenwelt.“ – Alexander Kluge227 „Wenn jemand bei sich ist, hält er sich auf der Kippe zwischen Leben und Kunst auf.“ – Gerhard Johann Lischka228
Die Suche nach filmischen Beispielen für Heilshoffnungen und Erlösungsvorstellungen, einem Akt als eine nichtharmonisierende/negative Auferstehung, kommt schließlich an „Heaven“ von T. Tykwer (nach einer Drehbuchvorlage von K. Kieslowski, 2002) nicht vorbei.229 Der Film macht das ansichtig, was mit den Begriffen Restinklusion oder religiöser Akt und dem Verweis auf die biblischen Gleichnisse von der unwahrscheinlichen Annahme des Verlorenen umschrieben wurde. „Heaven“ ist ein Film der Verzögerung, der (zu) langen Einstellung und des verweilenden Blicks – dazu trägt nicht zuletzt die Musik von Arvo Pärt („Für Alina“) bei. Der ganze Plot des Films ist unwahrscheinlich, die Bewegungen im Raum, die Flucht der Protagonisten aus dem Gebäude der Polizei ins Freie, metaphorisch-mythisch. Der Film erzählt die Geschichte einer (unmöglichen) Beziehung zwischen einer Frau, die vier unschuldige Menschen mit einer Bombe tötet, die eigentlich einem Drogendealer gelten sollte, und einem jungen Polizisten, der sie beim Verhör als Dolmetscher lange ansieht und sich in sie verliebt. Wenn die Protagonisten am Ende des Films vor den Schüssen der Polizei mit dem Hubschrauber in den blauen Himmel entschwinden, dann endet der Film mit einem Schluss, der den Zuschauer in einen Zwiespalt stellt, da das gelingende Sich-Entziehen, die filmische Skácel, J., zit. n.: Handke, P., Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, S. 402. 227 Kluge, A., Grabkammer und Kino, in: Rötzer, F., Rogenhofer, S. (Hg.), Kunst machen? Gespräche über die Produktion von Bildern, Leipzig 1993, S. (301–323) 303. 228 Lischka, G. J., Superästhetik – Wilde Ästhetik, in: Böhringer, H. et al., Philosophen-Künstler, Berlin 1986, S. (29–42) 40. 229 Die Filminterpretation entstammt: Wallich, M., Minusglaube: Gott ohne Grund, ohne Sein, ohne Symbol. Grundmuster elementarer/relationaler Theologie, St. Ingbert 2015, S. 606–609. 226
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Rettungssequenz, unmöglich oder unwirklich ist. Der Hubschrauber fliegt nämlich nicht weg, sondern einfach senkrecht bis zum Verschwinden ins Blau. Der Film bezieht sich hier auf seine Anfangsszene, bei dem ein Hubschrauber-Simulationsflug in einem Computerspiel wegen einer zu großen Flughöhe endete und die Frage gestellt wurde, wie hoch zu fliegen möglich ist. Die Schüsse der Polizei erreichen den Helikopter nicht. Die Liebenden befinden sich in einer für die Polizei oder jede „irdische“ Macht uneinholbaren, unangreifbaren Freiheit. Die Darstellung der „Himmelfahrt“ in dem in weiter Höhe entschwindenden Helikopter ist kein Bild des Sichaus-der-Affäre-Ziehens, sondern die Metapher eines Todes, in dem der Tod nicht nichtet. Jeder Zuschauer merkt das; die dargestellte Himmelfahrt tröstet und quält zugleich wegen ihrer Offenheit. Tykwers religiöses Bild von der Himmelfahrt benutzt „technisches Gerät“, einen Hubschrauber.230 Dem Film gelingt eine vorsichtige Darstellung von Hoffnung, die sich einer Objektivierung entzieht. In dieser Weise beschrieb bereits Žižek Filme und neue Medien in ihrer Chance zur Selbsterkenntnis. Der Hubschrauberflug spielt sicher auf den Helikopter-Einsatz in „La dolce vita“ an, bei dem eine Christus-Statue (der Heiland mit ausgebreiteten Händen) nach Rom eingeflogen wird und bereits ein Parusie-Moment symbolisiert. Die Metapher vom senkrechten Hubschrauberflug als entschwindende Himmelfahrt, relativiert eindeutig Computerspiel-Trockenübungen: Im Flugsimulator hatte Filippo noch auf die Aussage eines anwesenden Freundes, dass man unter realen Bedingungen nicht so hoch fliegen könne, unschuldig kindlich zurückgefragt. Filippo gibt später in seinen realen Akten selbst eine klare Antwort: Man kann höher fliegen, als je im Computerspiel simuliert werden kann. Der reale Flug ist nicht vorwegzunehmen. Man kann auch höher fliegen, als die Warnungen von anderen es je vorhersehen konnten. Der reale Flug-Akt, der seine äußersten Möglichkeiten ausschöpft, sprengt jede symbolische Ordnung. „Himmel“ ist eine Metapher für das heilvolle Jenseits symbolischer Ordnung: Das Leben, das nicht in vorgefertigte Kategorien passt, das dem Zugriff von Macht/Staat, jeder engen Deutung entzogen ist, muss wider alle offizielle Bedenken als positiv gewertet werden. Vor allem die verlangsamte
Ihm gelingt also, was H.-D. Mutschler für nur schwer realisierbar hielt, eine enge Verbindung von moderner Technik und religiöser Symbolik. G. Benn hat in seinem Vortrag „Vom Altern des schöpferischen Menschen“ (1954/Saarbrücken) ebenfalls das Bild vom Hubschrauber gebraucht. – Der senkrechte Hubschrauberflug des Camerlengo in „Illuminati“ (2009 von Ron Howard), der eine Bombe transportiert, ist dagegen eine schwache Imitation des filmischen Vorbildes, lediglich ein Effekt ohne Aussagekraft. Der reale Senkrechtflug, die reale Himmelfahrt, in „Heaven“ erscheint ähnlich eindrucksvoll wie in Lars von Triers „Breaking the Waves“ von 1996 das Läuten der realen Glocken im Himmel über der Seebestattung der treugläubigen/unbedingt liebenden Bess McNeill, die von ihrer Gemeinde ausgeschlossen wurde. In beiden Filmen fungiert das mythische Moment am Ende als Siegel und Bestätigung eines extremen Lebens/Glaubens; gerade das unglaubliche Auftreten von Realsymbolen (Himmelfahrt/Glockenläuten über dem Meer) weist die Akthandlungen der Protagonisten und ihre verstörende Neuformatierung der Wirklichkeit als religiös gültige Wahrheitsereignisse aus.
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4.3 „Heaven“
Kameraführung und das musikalische Generalthema machen klar, dass „Heaven“/Himmel eine Perspektivänderung bezeichnet. Himmel ist der Abstand zur normalen Einstellung, die Möglichkeit, sich von einer anderen Warte zu sehen. Himmel meint nichts gegenständlich Vorfindliches, einen Bereich der Stille. Während des vertikalen Aufstiegs endet die Musik; der Hubschrauber wird zu einem verschwindenden Punkt. Der Film endet mit dieser langen hellen Kameraeinstellung, während das anfängliche Computerspiel abrupt mit einer dunklen Bildschirmoberfläche aufhört. Das, was unter dem Titel „Himmel“ erzählt wird, bleibt zugleich die entsetzlich traurige Geschichte eines tragischen Missverständnisses, in die sich Momente von Erlösung (uneingeschränkte Bejahung der Attentäterin durch Filippo) mischen. Durch seine Liebe wird Filippo auch in den todbringenden Strudel mitgerissen. Was sich in einer bilanzierenden Perspektive als höllenartiges Szenario sich zuspitzender Ausweglosigkeit darstellt, entzieht sich einer einfachen Nutzenrechnung. Die wahnsinnige, unbedingte Liebe Filippos transzendiert die Weltklugheit. In der Perspektive des Aktes, der Treue zum Ereignis, sind beide für immer jeder Beurteilung weltlicher Gerichte entzogen. Dieser leise Entzug, der nur für die erkennbar ist, die es sich nicht zu einfach machen, ist in der Metapher des Himmels angesprochen. Himmel bedeutet also: Die beiden sind in der Eindeutigkeit einer positiven Bewertung, die die Intentionen Philippas sieht und die Beziehung der beiden reflektiert, aufgehoben. Was die beiden Entrückten ausmacht, transzendiert das, was man in nüchternen Polizeiberichten zur Überwältigung und Tötung der beiden flüchtigen Straftäter lesen wird. Die Namensgleichheit von Filippo und Philippa lässt das Filmgeschehen zuvor schon als Märchen oder Gleichnis erscheinen. Beide haben am gleichen Tag Geburtstag: 23.5.1978 – 23.5.1971. Am Tag der Geburt von Filippo, an dem Philippa in einem weißen Kleid die Kommunion empfing, weinte sie grundlos. Sie erinnert sich an den Tag, an dem Filippo geboren wurde. Filippo wird von der Zuneigung zu Philippa so stark erfasst, dass er nochmals ins Bett macht. Sein Handeln erscheint ähnlich wie das Philippas vollkommen klar; ohne Zögern weiß er, was zu tun ist. Natürlich hat er Angst, wie er seinem Bruder gesteht, jedoch werden der Fluchtplan oder alle anderen Handlungen von ihm vollkommen sicher und instinktiv-präzise angegangen. Die beiden Hauptfiguren ähneln sich, als sie ihren Kopf rasieren, um auf der Flucht nicht so leicht erkennbar zu sein. Philippa nimmt die Position derjenigen ein, die aus allen Ordnungen gefallen ist, die nicht mehr existiert. Sie wird von der Last erdrückt, vier unschuldige Menschen getötet zu haben; auch der Mord an dem Drogenboss quält sie; sie hätte ihn wohl nie noch einmal begangen. In dieser Situation erhält sie den Beistand von Filippo, der als junger Polizist das dunkle Machtgeflecht immer mehr durchschaut und dann verliebt auf eigene Faust Hilfe anbietet und nach Gerechtigkeit sucht. Er spricht auf Band zu Philippa: „Ich habe meinen Bruder gesprochen und er hat gesagt, dass er dich unter allen Lehrern am meisten mag. Er sagt, du bist ein guter Mensch. Ich glaube das.“ Diese 263
4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
ungewöhnliche Aussage zu der in Untersuchungshaft befindlichen mutmaßlichen Mörderin wird filmtechnisch als Himmelsmoment konstruiert. Die Kamera zeigt Philippa anschließend aus der Vogelperspektive auf ihrer Gefängnispritsche liegend. Sie ist allerdings zögerlich, das Hilfsangebot anzunehmen, will im Grunde nur, dass der Albtraum endet. In dem Moment, als sie dem Vater von Filippo dessen Frage, ob sie seinen Sohn liebt, bejaht, weiß sie, dass Filippo nicht von ihrer Stelle weichen wird und auch den sicheren Tod auf sich nimmt. Ihr Zögern bei der Beantwortung der Frage, ihr gleichzeitiges Kopfschütteln erklären sich aus dem Bewusstsein oder Gewahr-Werden des Endes ihres Geliebten, des alter Egos. – Philippa ist klar, dass beide längst zu weit gegangen sind und nicht mehr zurückkönnen.231 Filippos Abschiedsgespräch mit seinem Bruder kulminiert in dem Satz: Ciao Ariel!, Prosperos Worten (aus Shakespeares „Der Sturm“) nicht unähnlich, als dieser seinen Zauber ablegt und sich auf seine eigenen Kräfte konzentriert. Agamben sieht in Prosperos Worten ein Abschiednehmen von seinem Genius, seiner bergenden Umgebung ausgedrückt.232 Das Finale ist eingeläutet, der Sprung in den Abgrund als Moment der himmelfahrtsgleichen Erhöhung der beiden wird vorbereitet. Das Moment ihres Zusammenseins, ihre letzte gemeinsame Nacht vor dem gemeinsamen Himmels-Hubschrauberflug wird als Vereinigung der Gegensätze beschrieben. Filippo und Philippa bewegen sich jenseits aller Ordnung, so wie G. Agamben die Liebenden als „homines sacri“ beschrieben hat.233 Filippo und Philippa handeln im Bewusstsein, dass die staatliche Ordnung nicht mehr funktioniert und der Einzelne für Recht sorgen muss. In diesem Versuch der Selbstjustiz scheitert Philippa. Das Leben erhält seinen Sinn durch seine Himmelsmomente. Was die Existenz ausmacht, wird nicht durch den finalen Polizeibericht oder objektive Daten erfasst. Die Metapher des Himmels enthält die Hoffnung, dass das Leben der beiden auch in der Perspektive der Zuschauer mit dem gütigen Blick betrachtet werden kann. Der Tod Filippos kommt dem jesuanischen Tod näher als das Opfer von Walt Kowalski aus „Gran Torino“. Er hat im Gegensatz zu Walts eigenständigem Handeln einen relationalen Aspekt und die agambensche Dimension des tötbaren Lebens jenseits der symbolischen Ordnung.
Die Reaktion Philippas auf die Aussage des Vaters: „Filippo hat gesagt, er liebt dich“ lautet kurz: „Ja, ich weiß“; es könnte sich hier um ein Filmzitat handeln, das an die „Casablanca“-Szene zwischen Victor und Elsa erinnern soll, bei der Elsa auf das Liebesgeständnis ihres Mannes auch nur diesen Satz sagt. Die Aussage von Philippa würde somit auch andeuten, wie belastend und schwer sie die Liebe empfindet, dass sie Filippo längst nicht so leidenschaftlich lieben kann, wie das die Frage des Vaters insinuiert. 232 Agamben, G., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 16. 233 Ders., Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 96: Sacri sind sie, „weil sie sich von den übrigen Menschen abgesondert und in einer Sphäre jenseits des göttlichen wie des menschlichen Rechts begeben haben.“ 231
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4.4 Hybride Überforderungen
Insofern „Heaven“ das Ringen um Gerechtigkeit und die Glücksprojektionen der Protagonisten als Heilsmomente – allerdings inmitten von Verzweiflung und Tod – darstellt, kann er die žižeksche Negativität des Heils, den Gestus der Selbstexklusion, ebenso auch das nicht zuletzt für Bultmann so wichtige strikte Zusammen von Kreuz und Auferstehung deutlich machen. Die Rede von Auferstehung bedeutet eine positive Aussage über die Sinnhaftigkeit des Leidens und die Gültigkeit eines Existenzentwurfs; auch das stellt der Film klar.
4.4 Hybride Überforderungen – Glücksfall Pluralismus „Im Übrigen gibt es eine archäologische Vorsichtsregel, die keine Forschung in den Humanwissenschaften vernachlässigen sollte … Diese Regel verlangt, den eigenen Forschungsweg zurückzugehen bis an den Punkt, wo etwas dunkel oder unthematisiert geblieben ist. Originalität, wenn es so etwas gibt, kommt nur einem Denken zu, das das eigene Ungesagte nicht verdeckt, sondern es unablässig wiederaufnimmt und neu thematisiert.“ – Giorgio Agamben234 „Unsere Erinnerungen, die am tiefsten uns eingeprägten, sind an sich unbewusst … was wir unseren Charakter nennen, beruht auf Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns gewirkt hatten … solche, die fast nie bewusst werden.“ – Sigmund Freud235
Vielleicht lässt sich ein erster banal-pragmatischer Befund so zusammenfassen: je mehr Religionen und Kulturen an einer Schule, umso besser (friedlich-offener) die Atmosphäre. Es ist schwieriger, jemanden wegen einer Besonderheit auszugrenzen, wenn nicht mehr so leicht auffällige, dominante Gruppenmerkmale (Hautfarbe, nationale Zugehörigkeit, Kleidungsstil) auszumachen sind, unter denen eine Zusammenrottung oder eine simple Kollektivierung vonstattengeht. Die Pluralität der Herkünfte und kulturellen Hintergründe der Schüler muss indes nicht gesondert herbeigesehnt werden, sie ist immer mehr selbstverständlicher Alltag an den Schulen und zugleich ein Segen. Natürlich gibt es keine Garantie gegen das Aufkeimen von Rassismus, aber ein alltäglicher Umgang mit Pluralität bietet eine gute Basis für ein solidarisches Miteinander und verständnisvolle Begegnungen mit Alterität.
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Agamben, G., Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M. 2009, S. 8. Freud, zit. n.: Kluge, A., Die Lücke, die der Teufel lässt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2003, S. 636.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
1) Odo Marquard ist ein (konservativer) Philosoph, der die ideenreiche Vielfalt schätzt: Ein guter Einfall ist nicht schlecht, wäre aber zu wenig: „Es lebe der Vielfall“, Freiheit bedeutet nach Marquard keine Nulldetermination (das gänzliche Fehlen von Verpflichtungen oder Grenzen), sondern eine Determination, bei der sich die Beschränkungen wechselseitig eingrenzen. Gewaltenteilung ist für ihn ein positives Relikt des Polytheismus, ein Moment der Pluralität, die eine Wahrheits- und Machtmonopolbildung verhindert; es gibt keine monarchische Zuständigkeit mehr, sondern viele Ansprechpartner, an die man seine Anliegen adressieren kann. Schließlich ist es eine beglückende Erfahrung einer kulturell vielfältigen Schule, dass neue Gemeinsamkeiten entstehen, weltanschauliche Verschiedenheiten fraglos koexistieren und wechselseitige Unterstützung bei konkreten Belangen wie den Hausaufgaben und der Mathematiknachhilfe bestehende Vorurteile vom Tisch fegen. Das „rassistische Ding“ tritt in den Hintergrund; Schüler gehen mit kulturellen oder religiösen Koalitionen, die einen sicheren Schutzraum bereithalten und sich leicht reaktivieren lassen, souverän um. Vor dem Ziel des Bildungserfolgs treten ideologische Fragen zurück, zumindest zeitweise. Die Vermutung liegt nahe, dass die Situation kultureller Öffnung aufgrund eines hohen Außendrucks, der klaren schulischen Rahmengebung erfolgt, die verhindert, dass die Schüler zu viel Zeit zur Nabelschau aufbringen. Klassen und Kurse sind schließlich Zweck- und Zwangsgemeinschaften. Nichtsdestoweniger ist zu hoffen, dass die positiven Erfahrungen der Interkulturalität236, der Revision von Ressentiments nie vergessen werden. Das schulische Koordinatensystem, die alltägliche Kurs-Taktung gibt mehr Gelegenheit zu Kooperationen als zur Regression. Marquard meint, dass wir mehr unsere Gewohnheiten sind als unsere Entscheidungen, was natürlich eine deutliche Kritik am Existentialismus beinhaltet. Auch wenn diese Auffassung kritikwürdig ist, berücksichtigt sie menschliche Bequemlichkeiten. Marquard, der für unprätentiöse Referate und originelle Aufsätze bekannt war, wendet sich wiederholt gegen den philosophischen Heroismus und die Überforderung, sich selbst ständig neu zu erfinden.
Welsch, W., Transkulturalität, in: Kirloskar-Steinbach, M., Dharampal-Frick, G., Friele, M. (Hg.), Die Interkulturalitätsdebatte. Leit- und Streitbegriffe, Freiburg i. Br. 2012, S. 146–156, bevorzugt schon seit 1992 den Begriff Transkulturalität, um die grundsätzliche Nichteingrenzbarkeit, Liminalität und Offenheit von Kulturen zu unterstreichen. Für ihn unterstreicht das Konzept der Multikulturalität die Idee der Abgrenzbarkeit von Kulturen und nimmt die Situation auf, in der verschiedene minoritäre, in sich homogene Teilkulturen sich in einer Mehrheitsgesellschaft bewegen; Interkulturalität betont für Welsch zwar die Austausch-Beziehungen, hängt aber immer noch einem Geschlossenheitskonzept von Kultur an (vgl. auch Terkessides, M., Interkultur, Berlin 2010, Heimann, H. M., Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a. M. 2016; Mazumdar, P., Das Niemandsland der Kulturen, Berlin 2011). Im Hintergrund steht das Konzept der transversalen Vernunft, das Vernunft nicht als Basis, Grundlage, sondern als Brückenbauerin, Vermittlerin zwischen verschiedenen Praktiken versteht. Überdies warnt Welsch vor einer „Überstilisierung des Fremden“; im Kontext der Hybridisierung sind kulturelle Festlegungen überkommen (ebd., S. 132).
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4.4 Hybride Überforderungen
2) Gayatri Chakravorty Spivak und Walter D. Mignolo deuten gleichermaßen an, dass eine Zeitdiagnose den Überforderungsaspekt zentral zu berücksichtigen hat: „We live in post-colonial neo-colonial world“.237 „Es gibt keine Moderne ohne Kolonialität.“238
Die beiden Statements sprechen natürlich die mit der Moderne einhergehende Entwurzelung (Simone Weil oder auch Yasmina Reza) an, wobei diese gerade Anlass geben kann zu neuen Identifikationen/Rekombinationen von Tradition. Žižek weist zu Recht darauf hin, dass die Selbstbezeichnung „Malcolm X“ gerade signalisieren soll, dass religiöse Rückbesinnungen auf alte Strukturen eine Sackgasse darstellen, dass die modernen Universalisierungen genutzt werden müssen. Allerdings stellt Globalisierung für Žižek eine Form der Selbstkolonialisierung dar; das, was bisher mit Kolonien betrieben wurde, findet nun überall – auch in den Ländern der Kolonisatoren – selbstverständlich statt. Die Frage nach der Relevanz postkolonialen Denkens in der Pädagogik, nach einer Beschreibung ihrer „kolonialen“ Struktur bzw. Kolonialisierungseffekte, kommt auf: Kann man sich in kalten Fluren zuhause fühlen, in gesichtslosen Schul- und Klassenräumen, die häufig nicht verändert oder gestaltet werden dürfen, da neuerdings im Rahmen von public private partnership (PPP) die Schulgebäude nicht der Schule gehören, sondern einem privaten Konsortium? Augé spricht von der Zunahme derartiger geschichtslosen Räume in der Moderne, sogenannten Nichtorten, kalten Nonlieux, Autobahnraststätten, Kreuzungen, Industriegebieten, Fitnessstudios, die überall gleich aussehen und ein Einnisten, Heimischwerden unmöglich machen. – Der Wohlfühlfaktor von Kantinen/ Mensen ist gering. – Die Erfahrung zeigt, man kann den sterilen Operationssaal, die weißen Klassenzimmer als persönlichen Arbeitsplatz adaptieren. Wie Nietzsche verlangte, dass man ins Chaos hinabsteigen muss und sich dort wohlfühlen muss, so ist dies auch in unmöglicher Weise von den Nichtorten zu verlangen. Wie eine solche Aneignung aussehen kann, ist durchaus vielfältig. Als im heißen Sommer 2016 ein Flüchtlingsübergangsheim in einem alten Schulnebengebäude für kurze Zeit installiert wurde, war im Hauptgebäude dieser Schule zu sehen, dass einige der gerade angekommenen Flüchtlinge auf den kalten Fliesen der Flure und Treppenaufgänge spontan Platz für eine kurze Mittagsruhe nahmen. Es entstand ein seltsames Amalgam aus Schulhektik und der Nachdenklichkeit von gerade angekommenen Asylsuchenden. Die westliche Umtriebigkeit und so auch der unruhige Schulalltag haben mehr mit touristischer Mobilität als mit früherem Pilgertum, geistig-geistlichem Unterwegssein gemeinsam, Spivak, G.-C., zit. n.: Jaeggi, U., Kunst ist überall, Klagenfurt Graz 2014, S. 168. Mignolo, W. D., Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012, S. 18.
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
wie Agamben herausstellt. Der Tourist reist durch eine musealisierte Welt239, jeden Gebrauch und jede Aneignung vermeidend. „Deshalb ist der Tourismus, insoweit er den Kultus und den Hochaltar der kapitalistischen Religion darstellt, heute auf der Welt die Leitindustrie.“240 Während Agamben den Touristen die „verzweifeltste Erfahrung, die es gibt“, zuschreibt, den Verlust der Fähigkeit des Benutzens, der Möglichkeit der Profanierung, vermutet Joas neue Konflikte, wenn Intellektuelle die Kälte der von ihnen erwarteten Objektivität auch im kollegialen mitmenschlichen Umgang abstrahlen: „Auch Gebildete enthumanisieren im Banne von Ideologien oft ganze Kategorien ihrer Mitmenschen und schließen sie damit aus dem Anwendungsbereich ihrer Sensibilität aus. Oder harmloser: Dem Dogmatismus der WenigGereisten (Wilde) … steht die Blasiertheit derer gegenüber, die überall schon gewesen sind, aber nichts mehr ‚erfahren‘.“241 Während ein früheres Diktum „Reisen bildet“ lautete, befürchtet der Soziologe (neben vielen anderen Zeitdiagnostikern) eine neue Erfahrungsblindheit und Unempfindlichkeit auf Seiten der Vielgereisten sowie der eher Sesshaften, Mediennutzer. Wenn die lebensweltliche Einbettung von Schülern und Lehrern komplett differiert – etwa in Sprachkursen für Migranten, erscheint der herzliche Umgang als einzig mögliche Methode zum Aufbau einer gemeinsamen Verstehensgrundlage. Postkoloniale Theorie fokussiert Erfahrungen von Kolonialität, Fremdheit und kultureller Transgression sowie das Problem von Herrschaftssprachen, die mit einer Unterdrückungsgeschichte verbunden sind. Um in Schulen relevant werden zu können, muss sie sich mit Medientheorien verbinden, die die postmoderne „Kolonialisierung“, den Prozess der Mediatisierung/Digitalisierung, reflektieren. Angesichts der Nutzungszwänge, unter denen das Smartphone zur Prothese, zu einem Körperteil wird, erscheint auch ein zeitweises Handyverbot an Schulen als nicht durchsetzbar; es wird von Schülern nicht als befreiend erlebt. Die Schule als Spiegelbild der Gesellschaft zeigt ihr postmodernes Profil, insofern sie keine Gegenwelt aufbauen kann, vielmehr Grenzen von Schonräumen/Teilsystemen unterminiert. Im Unterricht wird indes Medienkompetenz von Schülern erwartet; Tendenzen der Swatchisierung, der Disneyfizierung setzen sich hier fort. Das Hypertrophe/Hybride, die kolonialisierende Dynamik der Moderne und ihr Nihilismus, liegen in der Schule wie in einem Mikrokosmos offen zutage. Die Juxtaposition von neuesten Medientrends und „archaischen“ Denk-/Fühlmustern von Gruppen ist als neue Normalität vorauszusetzen.
Jeudy, H. P., Die Welt als Museum, Berlin 1987. Agamben, G., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 83. 241 Joas, H., Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg Basel Wien 2012, S. 145. 239 240
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4.4 Hybride Überforderungen
Wie S. J. Schmidt Postmoderne als die medienreflektierte Moderne beschreibt, so müsste sie grundlegender auch als die mythenreflektierende Moderne bestimmt werden, als Reflexion der der Moderne inhärenten Mythen: Es bedarf also der Reflexion über die „Heilsversprechen“ der Medien, die mythenbildende Attraktivität und Sogwirkung von Medien und den Grad der mit der Mediatisierung einhergehenden Kommerzialisierung von Alltag und Freizeit. Von der Aufklärung wurde seit Horkheimer/Adorno erwartet, dass sie ihre Dialektik mitreflektiert, d. h. vor ihrem eigenen Totalitärwerden („Aufklärung ist immer totalitär“) und der „Wiederkehr der mytho-poetischen barbarischen Urgewalt“ warnt.242 Die Selbstaufklärung über die Fallstricke der Aufklärung, ihre Mythisierungstendenzen gehört zur Bildung. Komplexe Entfremdungsverhältnisse (Geschichte der Medialität, der Kolonialität) potenzieren die Herausforderungen der Selbstaufklärung, mit dem fortgesetzten Fremdwerden in der Welt wird auch die Suche nach einer zweiten Beheimatung in ihr schwieriger. So lässt sich in der Schule schwer ausmachen, mit welchem Projekt die Schüler selber gerade hauptsächlich beschäftigt sind: Aufklärung 2.0 (Reflexion über die Medien der Moderne), 3.0 (Reflexion über die Mythen der Medien) oder 4.0 (Reflexion über die Selbstmythisierung der Aufklärung).243 Auffällig ist hier, dass gerade Schüler, die sehr klar analytisch denken und in Gesprächen sehr souverän und umsichtig die gerade verhandelten Paradoxien einordnen, gleichzeitig das schulische Kleinklein, den Alltag, Pünktlichkeit oder auch das Reglement der Entschuldigungen nicht bewältigen können/wollen. Wenn diese Schüler an dem rigiden Schulsystem scheitern, ist dies sehr bitter. – Die glückliche Entschleunigung durch unterschiedlichste Lernniveaus in der Klasse darf nicht dazu führen, dass sich einige Schüler mehr gelangweilt als desinteressiert aus Diskussionen zurückziehen. 3) Der jüdische Schriftsteller Leon Wieseltier formulierte schon vor Jahren: „Das Grausamste, was man Menschen heute antun kann, ist, sie dazu zu bringen, sich ihrer Komplexität zu schämen. … Nicht: meine Identität, sondern: meine Identitäten. Die größere Wahrheit liegt im Plural. Eine größere Chance, den Anstand zu wahren, ebenfalls. Das multikulturelle Individuum ist eine Gestalt, in der es zu moralischen Reibungen kommt. In diesem Individuum geraten die Spötter, der Hasser und der Töter leicht aneinander und holen sich Beulen. … Reinheit ist das Gegenteil von Integrität.“244
Žižek, S., Totalitarismus. Fünf Interventionen zum Ge- oder Missbrauch eines Begriffs, Hamburg 2012, S. 38. „Der Mythos ist demnach das Reale des Logos, der fremde Eindringling, der sich niemals loswerden lässt und doch niemals bleibt“. – Während die Moderne die Lücken der klassischen Erzählung aufzeigt, wäre für Žižek Postmoderne dann der vergebliche Versuch, sie sekundär zu füllen. 243 Die plakative Auflistung setzt voraus, dass „Aufklärung 1.0“ den Versuch des Selberdenkens, der Gewinnung eines autonomen Standpunkts darstellt. 244 Wieseltier, L., Against Identity: Wider das Identitätsgetue, in: Die Zeit vom 17.2.1995, Nr. 8, S. 57–58. 242
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4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Wieseltier lässt einen Blick auf die innere Zerrissenheit des modernen Subjekts zu. Integrität wird mit Widersprüchlichkeit erkauft; die inneren Kämpfe scheinen schwer durch übersichtliche Spielregeln kanalisiert werden zu können. Das Subjekt trägt schließlich diverse Konflikte um Anerkennung aus, die zum Teil vormals in Jugendprotesten ungelenk externalisiert wurden. Die Frage, wie etwa eine innere Vermittlung zwischen der liberalen Großstadt-Identität und dem traditionell-religiösen Hindu-Selbstverständnis möglich ist, scheint keine nur private Frage zu sein: Der Publizist Eduard Kaeser spricht von Brillen, die wir jeweils aufsetzen und unsere Wirklichkeitssicht bestimmen: „Gerade weil wir Kulturwesen sind, tragen wir alle unsichtbare – wissenschaftlich, religiös, politisch eingefärbte – Brillen, die unsere Wahrnehmungs- und Aufnahmebereitschaft lenken. Wir können eine Brille nicht ablegen, ohne eine andere aufzusetzen. Der Kultura lismus zieht daraus den einseitigen Schluss des Relativismus. Müsste man nicht in der Fähigkeit, die Brillen zu wechseln, einen Schritt zum Universalismus sehen? Kulturalismus und Universalismus ergänzen einander, sie sind Dialogpartner.“245
Um kulturalistischen oder kulturrelativistischen Missverständnissen vorzubeugen, sucht Kaeser den universalistischen Kern zu erheben: Die Fähigkeit zum Perspektivwechsel wird zur Schlüsselkompetenz des multikulturellen Subjekts. Kaeser meint weiter, dass wir uns unsere blinden Flecken im Dialog zeigen könnten, dass es ein universales Erfordernis gibt, sich diesem auszusetzen sowie die Frage nach dem Übersehenen, dem Rest zu stellen. Die Grunderfahrung der Interkulturalität besteht darin, „für einen Augenblick sich selbst fremd [zu] werden“, „einen inneren Leerraum [zu] schaffen zwischen dem Eigenen und dem Fremden in mir; daraus kann dann ein Respekt vor dem fremden Anderen entstehen.“ Dass die Erfahrung von Fremdheit sich selbst gegenüber heilsam werden kann, ist ein zentraler Punkt der Analysen Žižeks oder auch bei Lévinas.246 Zu dem gegenseitigen Aufweis der blinden Flecke kommt hier die Annahme und Identifikation mit dem eigenen Rest. 4) Der Theologe Paul Knitter pflichtet Wieseltier und Kaeser bei: Paul Knitter sieht uns in plurale Zusammenhänge eingesponnen und spricht von einer hybriden Identität, vor allem auch hinsichtlich der religiösen Prägung: „Unser religiöses Selbst ist wie unser kulturelles und soziales Selbst im Kern und seinem Verhalten nach ein Hybrid. Das bedeutet, dass unsere religiöse Identität nicht reinrassig ist,
Kaeser, E., Multikulturalismus revisited. Ein philosophischer Essay, Basel 2012, S. 122. Ebd., S. 103.
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4.4 Hybride Überforderungen
sondern eine Mischform. Sie ist keine Einzahl, sondern eine Mehrzahl (…). So etwas wie eine sauber abgegrenzte und ein für alle Mal bestehende Identität gibt es nicht.“247
Im interkulturellen Dialog wird immer häufiger die Situation der Hybridisierung als Grundkonstellation herausgestellt. Dabei klingt Hybridbildung meist harmonisierender als die Kolonialisierungs-/Überforderungsthese. Knitter schlägt, wie der Buchtitel „Ohne Buddha wäre ich kein Christ“ bereits andeutet, einen Brückenschlag zwischen Christentum und Buddhismus vor. Er propagiert als katholischer Theologe ein achtes Sakrament der Stille; der Buddhismus könnte nach seiner Auffassung von der christlichen Praxis der geschichtlich eingreifenden Mitmenschlichkeit lernen. – Die Motivation zur Erweiterung seines christlichen Standpunktes bildet das Unbehagen oder Leiden an der begrenzten eigenen Perspektive. Ähnliche Universalisierungs- und Vermittlungsversuche werden derzeit vielfältig auch in Theologien anderer Religionen vorgeschlagen.248 Die Situation Knitters scheint eine andere als die der postkolonialen Theorie, die Vervielfältigung der Perspektiven wird nicht von außen aufgezwungen und die Universalisierungsperspektive ist nicht mit Fremddominanz konnotiert. 5) Die Toleranzforderung radikalisiert und modifiziert sich in hybriden Konstellationen. Nietzsches Bekenntnis lautet: „Woran glaubst du? – Daran, dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.“249 Lessings „Nathan der Weise“ entwirft den Argumentationsrahmen und die Konturen einer aufgeklärten Religiosität: a) Religionen haben ihre Wahrheit in einer humanen Praxis unter Beweis zu stellen. Sie sind in dem Maße wahr, wie sie zur Sensibilisierung für den Nächsten beitragen (vgl. die Darlegungen zur Ringparabel und zum Weltethos im Kapitel 4.1 unter B./11.; Nathans zuvorkommende Haltung gegenüber dem Sultan konkretisiert den allgemein formulierten Imperativ der Offenheit.) b) Aber auch der zweite Schritt kündigt sich hier bereits an: Es kann keinen Unterschied zwischen Mitmenschlichkeit und rituellem religiösen Vollzug geben. Vielmehr ist ihre letztliche Identität zu behaupten. Der Ritus/Sondervollzug kann der konkreten mitmenschlichen Praxis nicht im Wege stehen. (Bei divergierenden Ansprüchen von Ritus und Liebespraxis wäre der konkreten Praxis immer der Vorzug zu geben, vgl. etwa die jesuanische Deutung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, Lk 10. 25–37.) Knitter, P., Ohne Buddha wäre ich kein Christ, Freiburg Basel Wien 2013, S. 341. Vgl. die Sendereihe des DLF „Tag für Tag“ vom 6.–9.1.2014: „Grundzüge einer zeitgemäßen Deutung des Islams (I–IV)“ von Rüdiger Achenbach mit Mouhanad Khorchide, Serdar Güneş, Abdul Ahmad Rashid und Abderrahmane Ammar), die ein Modell der Universalisierung des Islam vorstellte und um breitere Öffentlichkeit für diese neueren Formen islamischer Theologie warb. 249 Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt (3. Aufl.) 1988, S. 169. 247 248
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c) In einem dritten Schritt und Ausblick kündigt Lessings Toleranz bereits den Gottesbegriff der relationalen-elementaren Theologie an, der Mitmenschlichkeit als ultimativen Ort der Gotteserfahrung/Offenbarung ausweist. Diese Option wurde hier bereits ausgeführt. d) In einem vierten Schritt wird das einheitliche Konzept einer christlichen Gotteserfahrung pluralisiert. Es wurden ebenfalls bereits drei unterschiedliche Grunderfahrungen von Unbedingtem unterschieden (vgl. auch Kapitel 4.1 B./4ff, 7.2). e) Es steht zu erwarten, dass die Perspektive der Öffnung weitere Pluralisierungen hervorbringt. Die interkulturelle Mitmenschlichkeitspraxis provoziert neue (inter)religiöse Grunderfahrungen. Die Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten im Binnenraum von Religionen erscheinen irritierbar oder werden hinterfragbar. Für Schleiermacher hatte bereits Religion nichts mit Einförmigkeit zu tun: „Wie nichts irreligiöser ist, als Einförmigkeit zu fordern, in der Menschheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher, als Einförmigkeit zu suchen in der Religion.“250
6) Einen kurios klingenden Fall des interkulturellen Austausches und eine interkulturelle religiöse Feier schildert Melvilles „Moby Dick“: Ismael ist von der Gestalt, dem Auftreten und der Geisteshaltung des komplett tätowierten Südseeinsulaners Quiquegs, der auf dem gleichen Wahlfänger „Pequod“ anheuert, tief beeindruckt und fasziniert. Er entwickelt eine sehr intime Freundschaft zu dem „edlen Wilden“; den Respekt vor dem anderen, seiner Unnahbarkeit gibt er dabei nie auf. Aus elementaren Gründen christlicher Nächstenliebe sieht sich Ismael aufgefordert, am fremden Kult Quiquegs teilzunehmen; er denkt, Quiqueg sollte sich in gleicher Weise auch in Bezug auf den christlichen Ritus aufgefordert sehen. Nun hat Quiqueg allerdings mit der Einladung zu seinem Ritual begonnen, woraufhin sich Ismael der faktischen Zuvorkommenheit Quiquegs beugt; das Verhalten des Erzählers ähnelt hier der jesuanischen Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk 18,41): „Was aber ist Gottesdienst? Den Willen Gottes erfüllen – das ist Gottesdienst. Und was ist der Wille Gottes? Alles, was du willst, dass dir dein Nächster tun soll, das tu du ihm auch – das ist der Wille Gottes. Nun, Quiqueg ist mein Nächster. Und was will ich, dass
250
Schleiermacher, F., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799); Stuttgart 1985, S. 206. Vgl. auch S. 60: „Denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe. Darum sind beide so innig und unzertrennlich verknüpft; Sehnsucht nach Religion ist es, was ihm zum Genuß der Religion hilft. … Zur Menschheit also lasst uns hintreten, da finden wir Stoff für die Religion.“
272
4.4 Hybride Überforderungen
dieser Quiqueg mir tun soll? Natürlich im Verein mit mir nach meiner besonderen presbyterianischen Art Gott anbeten. Folglich muss ich mich mit ihm zu seinem Gottesdienst vereinigen, ergo muss ich Götzendiener werden. Also zündete ich die Späne an, half, den unschuldigen kleinen Götzen aufstellen, brachte ihm gemeinsam mit Quiqueg schwarzgebrannten Schiffszwieback dar … Die Welt ist unter allen Breitengraden ein Unternehmen auf Gegenseitigkeit.“251
Man kann Ismaels Überlegung universalistisch verstehen, schließlich geht es bei der Einhaltung der kantischen Pflicht auch um einen Perspektivwechsel. Dabei besteht der Universalismus Ismaels bereits darin, die Komplexität der unterschiedlichen, sich widersprechenden Antriebe zu sehen. Günther Anders’ Aussage „Gott strahlt vor Weltlichkeit“252 kann als Kommentar zu Melville dienen. Alain Badiou kommentiert die Situation mit den Worten: „Einfache Pluralität gibt es nicht, es gibt die Pluralität der Pluralitäten, die erfasst und gebrochen werden.“253 Die Unübersichtlichkeit und die Schwierigkeiten, die Phänomene einzuordnen, gehören zum Pluralitätsphänomen dazu. 7) Bateson interpretiert Pluralität vor allem als eine Konfrontation mit Doublebinds, sie wird also erst aufgrund paradoxer, unerfüllbarer Verpflichtungen schwierig, also der Anforderungen, die sich widersprechen, die aber das Subjekt gleichzeitig erledigen soll. Es gehört für Bateson zur Aufgabe der Religion, die Doublebinds zu artikulieren; religiöse Sprache muss sie nicht verdrängen. „Es ist auffallend, daß religiöse Metaphern zu einem so großen Teil paradox sind. … Wahrscheinlich sind double binds wohl nicht einfach menschliche Artefakte, sondern allgegenwärtig – vielleicht ist jeder Organismus in der Unfähigkeit gefangen, all die in einer bestimmten Nachricht enthaltenen Ebenen zu überbrücken, so daß diese irgendwie zum Einsturz gebracht werden müssen, aber die Sprache erschwert das vielleicht eher noch, als daß sie es erleichtert. Das würde bedeuten, daß double binds natürlich und notwendig sind, der lebendigen Welt immanent. Etwas anders ausgedrückt, würde dies bedeuten, daß wir lernen müssen, Epimenides zu trauen (jenem Kreter, der sagte: ‚Alle Kreter lügen‘), und daß diese Aufgabe lebenswichtig ist. Die Paradoxe der Religion mögen die Metaphern gewesen sein, die es möglich machten, in einem double bind zu leben.“254
253 254 251 252
Melville, H., Moby Dick, Baden-Baden (3.Aufl.) 1992, S. 92f, 104. Lütkehaus, L., Und Gott strahlt vor Weltlichkeit, in: Die Zeit vom 30.12.2004, Nr. 1, S. 52. Badiou, A., Über Metapolitik, Zürich Berlin 2003, S. 36. Bateson, G. u. M. C., Wo Engel zögern, Frankfurt a. M. 1993, S. 280, 281.
273
4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
Es werden also die Haltung des Vertrauens oder Metaphern/Mythisierungen wichtig, die das Subjekt Doublebinds bestehen lassen. Ein Doublebind im Stile Batesons bietet schließlich auch die Aussage Nassehi: „Die Existenz Gottes zu verleugnen bedarf vielleicht ebenso viel Gottvertrauens wie das Gottvertrauen.“255 – Sie weist zurück auf das entscheidende implizite Vertrauen, das Religionen verschieden explizieren. In „Effi Briest“ lässt Fontane Crampas sagen: „Überhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuss Pulver wert.“256 Kierkegaard kommt dieser Ansicht auch nahe, aber über Umwege: Er sieht das Christentum als Wegweiser durch das Paradoxe, als Weise der Annahme der Paradoxa, die zuletzt auch zum Humor führt.257 Der Humor weiß um das Paradoxe, das das Christentum geradezu verkörpert, um die „teleologische Suspension des Ethischen“, den Akt der Entscheidung und die Möglichkeit der „Umbildung“ von Existenz. – Im Gegensatz dazu verbleibt die Ironie im Raum der ethischen Existenz. Christsein bedeutet für Kierkegaard aber wahrhaft, d. h. in der Entscheidung, zu existieren. – Humor und Christentum halten „die Wunde der Negativität offen“: „Wer existiert, ist beständig im Werden … und … versetzt sein Denken ins Werden.“ „So protestiert das Christentum gegen alle Objektivität [oder: Objektivierbarkeit].“258 8) Es hat sich längst abgezeichnet, dass die Rede von Gott notwendig offen gegenüber der Pluralität und Vielheit der Religionen sein muss. Vielleicht kann Lévinas als Theoretiker des Anderen und der Fremdheit noch mehr als andere die erlebte Vielfalt positiv schätzen. Er braucht die Klarheit nicht mehr und wagt wie kein anderer eine Neuinterpretation philosophischer wie theologischer Tradition: Der Andere entzieht sich, Transzendenz als das radikal
Nassehi, A., Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2003, S. 169. 256 Fontane, Th., Effi Briest, Leipzig Stuttgart Düsseldorf 2004, S. 128. 257 Kierkegaard, S., Unwissenschaftliche Nachschrift, München 2005, S. 464: „Wenn man im Äußersten seiner subjektiven Leidenschaft mit dem vollen Bewusstsein einer ewigen Verantwortung das Entscheidende wagt (was doch jeder Mensch vermag), bekommt man etwas anderes zu wissen, so wie das Menschsein etwas anderes ist, als jahraus jahrein etwas in einem System zusammenzuschustern. Wenn man wesentlich als Mensch existiert, bekommt man auch Empfänglichkeit für das Komische. Ich sage nicht, dass jeder, der wirklich als Mensch existiert, darum imstande ist, komischer Dichter oder komischer Schauspieler zu sein, aber er hat Empfänglichkeit dafür.“. Humor ist nämlich ein „Zurücknehmen durch die Erinnerung aus der Zeit in das Ewige hinein. (…) Humor wird daher der letzte Terminus a quo im Verhältnis dazu, das Christliche zu bestimmen“ (ebd., S. 425). 258 Ebd., S. 214f, 261. Auf S. 213 und an einigen anderen Stellen seiner „Unwissenschaftlichen Nachschrift“ macht sich Kierkegaard über Theologen lustig, die die „Rationalität“ des Christentums darzulegen versuchen und dabei die Geheimnisdimension der Existenz verkennen. „Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes und der Subjektivität und der Innerlichkeit“ (ebd., S. 172). 255
274
4.4 Hybride Überforderungen
Andere besitzt auch keinen eindeutigen Status, die Spur Gottes kann niemals vernutzt oder in ein System vereinnahmt werden; man kann sie immer auch übersehen und verkennen. „Aber die Manifestation des Unsichtbaren kann nicht bedeuten, dass das Unsichtbare in den Status des Sichtbaren übergeht. [Sie] (…) ist keine Reduktion auf Evidenz. Sie ereignet sich als Güte.“ „Als absolutes Abenteuer von einer primordialen Unklugheit ist die Güte die eigentliche Transzendenz.“259
9) Der Münchner Soziologe Armin Nassehi bescheinigt der Moderne eine „Gesellschaft der Gegenwarten“ zu sein. Es zähle vor allem das Gegenwärtige, Präsentierbare in seiner unwahrscheinlichen Gleichzeitigkeit.260 In den Augen Nassehis ist der moderne Zeitbegriff aber auch trostlos, da er mit seiner Dominanz von Systemperspektiven nur Anschlussfähigkeit im Blick hat. Pluralistische Gemengelagen bedeuten, dass man es mit einer gesteigerten Unübersichtlichkeit und Irritation zu tun hat; Anschlussfähigkeiten zerfallen oder werden übersehen. Drei philosophische Statements, die sich jeweils auf den Priestertypus beziehen und diesen jeweils unterschiedlich bewerten, verdeutlichen das: R. Rorty kritisiert den „asketische[n] Wertepriester“, der die binären Kategorien des Entweder-Oder, von Eigentlichem oder Uneigentlichem, benötigt, um so seine „Kultur des alpinen Tals“ vor bedrohlichen Entfremdungen der technischen Entwicklung zu schützen und zu legitimieren. Die Unfähigkeit, karnevaleske Pluralität zuzulassen, sieht Rorty gepaart mit phallozentrischem Reinlichkeitsdenken, das keine Verwischungen und Unklarheiten duldet. Er hat mit seiner Priesterkritik Heidegger im Visier: Seine Unterscheidungsklarheit sieht Rorty als Effekt eines Machtspiels, das Abendland auf den Begriff zu bringen.261 Die Kritik der Pastoralmacht beginnt aber schon bei Nietzsche, Foucault greift dies auf. Der französische Philosoph vergleicht sich allerdings genau dann mit einem Priester, als er sein Forschungsanliegen erläutert. Eine priesterliche Aufgabe sei nämlich eine Archäologie der handlungsleitenden Unterscheidungen, die Darstellung des blinden Flecks der Wahrnehmung, die Verdeutlichung dessen zu betreiben, worin jeder elementar eingebunden ist und was gerade deshalb gerne übersehen wird.
Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 357, 444. Nassehi, A., Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2003, S. 135. 261 Rorty, R., Kultur ohne Zentrum, Stuttgart 1993, S. 90, 80. Neben der Verschränkung von Sicherheit und Klarheit wäre hier die Kritik der Möglichkeit einer klaren Form-Inhalt-Unterscheidung durch D. Davidson aufzunehmen; vgl. Davidson, D., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, S. 260, 269ff. 259 260
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„Mein Diskursvorhaben ist das Vorhaben eines Priesters: Ich möchte das zum Vorschein bringen, was unserem Blick zu nah ist, als dass wir es sehen könnten, was ganz nah bei uns ist, aber durch das wir hindurchblicken, um anderes zu sehen. … Eben diese Undurchschaubarkeit zu erfassen, dieses Unsichtbare am allzu Sichtbaren, diese Entfernung von dem, was zu nah ist, diese unbekannte Vertrautheit, darin besteht aus meiner Sicht das wichtige Verfahren meiner Sprache und meines Diskurses.“262
Alain Badiou sieht im Priester nun eher wiederum den Vertreter oder Funktionär einer etablierten Religion und Weltanschauung: „Priester ist jeder, der aufgehört hat, die Rebellion für einen unbedingten Wert zu halten, jeder der alles an seinen ‚objektiven‘ Ergebnissen misst. Leider ist der Priester an dieser Jahrhundertwende überall.“ 263
Bei Foucault war die Überflutung mit positivierbarem Sinn gerade nicht das, was zur priesterlichen Aufgabe gehört. Badiou sieht die Systemorientierung oder -stabilisierung als wesentlich-priesterlich. Die mit der Priestermetapher verbundenen Diagnosen gehören zusammen: Die aufgeworfene Irritation lässt sich unter Rekurs auf die jeweiligen Kontexte und Aussageintentionen abschwächen. Postmoderne Philosophie betont aber sehr stark, dass Wahrheit im Dazwischen liegt, im Niemandsland der Ordnungen, im Übergang, und propagiert einen Abschied von monokausalen einfachen Erklärungen. Die drei Philosophen halten sich selbst auch zwischen allen Stühlen auf und verweigern sich allzu einfachen Etikettierungen; schließlich beschäftigt sich der Marxist Badiou intensiv mit Lacan; Rorty, der als empiristischer Sprachphilosoph startete, propagierte die hermeneutische Hoffnung und Foucaults Archäologie, die Postmodernen gerne als Rückzugsraum dient, verwehrt sich gegen einfache Auswege aus Dispositiven. Darum ist das Lob der Vielfalt vor allem am Verdrängten, Verleugneten interessiert, auch wenn dies gerade merkwürdig unpragmatisch erscheint. Albert Schweitzer sprach sehr klar dem Erleben von Widersprüchen den entscheidenden, Wahrheit verbürgenden Wert zu.264 Edmond Jabès verortet sich auch im unmöglichen Zwischenraum:
Foucault, M., Das giftige Herz der Dinge, Zürich 2012, S. 68–69. Badiou, A., Das Jahrhundert, Zürich Berlin 2006, S. 177. 264 Schweitzer, A., Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, München (8. Aufl.) 2003, S. 40: „In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben.“ 262 263
276
4.4 Hybride Überforderungen
„– Welches ist deine Wahrheit? – Die mich zerreißt.“265
10) Der Neutestamentler Gerd Theißen beschreibt schon für die antiken Religionen das Phänomen eines Überbietungssynkretismus; in Abgrenzung voneinander übernimmt eine Religion einzelne Elemente von der als Konkurrenzentwurf erlebten anderen Religion. So kommt es schließlich zur Angleichung und Annäherung.266 Die Aufnahme monistischer Elemente in den Monotheismus und umgekehrt verlaufende Adaptionsprozesse lassen sich derart erklären. Dass sich die Extreme berühren, besagt schon eine französische Redewendung. Theißens Ansatz geht wesentlich von einem Dialog aus, in dem Menschen ständig stehen, wobei der Dialog mit anderen mit der Selbsterkenntnis und der Auseinandersetzung mit sich kongruiert. Für die Moderne macht Sloterdijk gerade aus, dass sie Andersheit nicht ausschließt: „Mitgliedschaft wird in der modernen Gesellschaft einerseits prinzipiell optional, andererseits prinzipiell plural verstanden.“ „Nur die Moderne, die auch ihre Verweigerer alimentiert, ist auf der Höhe ihrer selbst.“267
Sloterdijk zeigt verschiedene Umgangsweisen mit Devianz auf: In der humanistischen Deutung im Stile des Erasmus von Rotterdam wird der Zusammenhang des Verschiedenen auf dem Boden der Humanität betont; Spinoza steht für einen neuen ontologischen Universalismus, in dem alle Bekenntnisse übertroffen werden, W. James steht für den relativierenden, konkreten Blick auf die Vielfalt der religiösen Erfahrung. G. Scholem erkennt schließlich den Wert des Häretischen für die Entwicklung jeder Realität. So wäre auch nach Jan Assmann Volksreligion und philosophische Religion zusammenzusehen. Schließlich ist in Ergänzung zu den modernen Inklusionsmöglichkeiten auf Donald Davidsons principle of charity zu verweisen: „Nachsichtigkeit ist uns aufgezwungen; wenn wir andere verstehen wollen, müssen wir ihnen in den meisten Dingen recht geben, ob wir das mögen oder nicht.“268
Jabès, E., Vom Buch zum Buch, München Wien 1989, S. 41. Theißen, G., Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh (3. Aufl.) 2003, S. 343f. 267 Sloterdijk, P., Im Schatten von Sinai, Berlin 2013, S. 57, 59. 268 Davidson, D., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, S. 280. 265 266
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Einförmigkeit oder Konformismus ist nicht das Kennzeichen lebendiger Religionen. Für den Pluralismus ist ein Preis zu zahlen, dieser besteht in der Unübersetzbarkeit und aporetischen Widersprüchlichkeit von Metaphern und in der Mehrdimensionalität der kommunikativen Erfahrung des Unbedingten. 11) Baudrillard spürt in seinen kulturphilosophischen Analysen den Uniformierungs- und Positivierungsbestrebungen der Moderne nach und sucht zugleich auch nach Auswegen: „Der Andere ist, wer mir erlaubt, mich nicht ins Endlose zu wiederholen.“269 Baudrillard hofft nicht mehr auf das Subjekt, sondern auf das Objekt, dessen Verführung die Systeme immer wieder aufbricht und irritiert. Nach Žižek ist ebenso dem Halt von symbolischen Ordnungen zu misstrauen: „Wir wissen weder, worauf unsere Handlungen wirklich hinauslaufen, noch gibt es einen globalen Mechanismus, der unsere Interaktionen reguliert – und genau das bedeutet die eigentliche ‚postmoderne‘ Nicht-Existenz des großen Anderen.“270 Žižek baut allerdings noch ganz auf das aufklärerische Subjekt, das – wie herausgestellt – bereits dezentriert ist, das um seine Fremdheit und seine Abgründe weiß: „Freiheit ist kein glückseliger neutraler Zustand von Harmonie und Balance, sondern der äußerst gewaltsame Akt, der diese Balance stört.“271
Frei sind Subjekte nur im Übergang, im Aufbruch. So werden Aussagen wichtig, die Erschütterungen verursachen und die Attraktivität denkerischer Einförmigkeit stören: „In dieser Welt haben tatsächlich diejenigen allein die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, die dem tiefsten Grad der Demütigung verfallen sind, weit unterhalb des Bettlertums, nicht nur ohne jede soziale Achtung, sondern vor allem so angesehen, als wären sie der wichtigsten menschlichen Würde entblößt. Sie allein sagen die Wahrheit, alle anderen lügen.“272
Wenn Fundamentalismus das Hantieren mit Kokons und Letztgültigkeitsbastionen ist und Destabilisierungserfahrungen leugnet, mutet die Moderne dagegen den Zeitgenossen zu, sich den Infragestellungen oder Bedrohungen der Selbstsicherheit auszusetzen.
271 272 269 270
Baudrillard, J., Transparenz des Bösen, Berlin 1992, S. 200. Žižek, S., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 469. Žižek, S., Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a. M. 2005, S. 102. Weil, S., zit. n.: Žižek, S., Willkommen in interessanten Zeiten, Hamburg 2011, S. 67.
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4.4 Hybride Überforderungen
12) Marc Augé, der bereits referierte Soziologe der Nonlieux/Nichtorte, betont vor allem Phänomene der Überlagerung und des Konfusen als Merkmal der Moderne, „das Ineinander von Altem und Neuem.“ „In der konkreten Realität der Welt von heute überschneiden und durchdringen Ort und Räume, Orte und Nicht-Orte sich gegenseitig. Die Möglichkeit des Nicht-Ortes ist an jedem beliebigen Ort gegeben.“273
Der Nichtort ist ein Merkmal oder ein Manifestationspunkt der „Übermoderne“, Augé vermeidet den Begriff der Postmoderne. Gerade die Nichtfixierbarkreit ist ein Zeichen der Leere, die Nichtorte vermitteln. Schließlich verhindern Nichtorte eine Einwohnung. Überall kann die Funktionalisierung des Raums und des Gegenübers stattfinden und ein elementarer Vorgang der Entfremdung Platz greifen. Augé betont, dass diese Personen „auf den Status von Kunden, Passagieren oder Nutzern“ reduziert werden; nur noch „am Eingang oder am Ausgang“ sind sie „in vollem Maße identifiziert, sozialisiert oder lokalisiert“.274 Der Nichtort virtualisiert also die Menschen: „Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie, er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.“ „In der Anonymität des Nicht-Ortes spüren wir, ein jeder für sich allein, das gemeinschaftliche Schicksal der Gattung.“ „Der Vorrang des Systems vor der Geschichte und des Globalen vor dem Lokalen hat Folgen für den Bereich der Ästhetik, der Kunst und der Architektur.“275
Man kann hier feststellen, dass Knitter die Nähe der Hybridisierung zu den Phänomenen der Mediatisierung und Virtualisierung nicht eingehend genug betrachtet. Schließlich ist wohl eine Medientheologie gefordert. Medientechnologisch werden Dezentrierungen vorgenommen, Räume neu zusammengesetzt, neue Grenzziehungen vorgenommen. Wenn Michel Serres die digitalisierte Moderne als „Zeitalter des Zugangs“276 feiert, so sind mit den Systemschließungen einhergehende Exklusionen nicht zu übersehen, und nicht zuletzt auch Augés Verwüstung durch die Nichtorte, die Zunahme von nichtutopischen Bereichen. Moderne Deformationen, die nach Augé auf Raumveränderungen zurückgehen, beschreibt Jeff Wall als grundsätzlich grotesk:
275 276 273 274
Augé, M., Nichtorte, München (3. Aufl.) 2012, S. 107, 110. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111, 120, 127. Serres, M., Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin 2013.
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„Grotesk meint einen eher dramatischen Zustand, einen Zustand, noch nicht vollendet zu sein, und, aufgrund sozialer, politischer, psychologischer Umstände, unter Deformationen zu leiden. Vielleicht ist das Groteske die dominante Erscheinungsform der Moderne. 277
Feyerabends Motto „Anything goes“ hatte einen Methodenpluralismus im Sinn. Nach diesem sollte alles möglich sein; er wollte die Kolonialisierungsmechanismen der Moderne aufbrechen. Jenseits des Programms, Sinndeutungen zu vervielfältigen, sind nach Spivak und Mbembe die Zwänge und Unterdrückungsmechanismen der Aufklärung zu sehen. Sodann scheint es zentral, dass bei der Wahrnehmung von Pluralität der Blick auf die Abgründe und Traumata nicht verstellt wird. Eine Fastfood-Mentalität, die leicht konsumierbare Sinnoptionen erwartet, oder ein Rabatt-Pluralismus, der Widersprüche übertüncht und nach kapitalistischer Marktmentalität ein einfaches Nebeneinander des Verschiedenen propagiert, machen es sich zu einfach. 13) Nancy verfasst als Philosoph der Dekonstruktion einige Monographien zum Christentum bzw. zum Gebet/zur Anbetung. Vielleicht lässt sich eine seiner Thesen so zusammenfassen, dass sich Europäer Christen nennen dürfen/müssen. Der gesamte europäische Denkhorizont scheint unentrinnbar christlich geprägt, ebenso die kulturelle Formung unserer Körper. Nancy nimmt hier offensichtlich auf B. Croces Frage Bezug: Perché non possiamo non dirci „christiani“? Das gleichlautende Buch Peras „Warum wir uns Christen nennen müssen“278 zielt hier nur scheinbar in eine ähnliche Richtung: Mag die Dekonstruktion „der letzte Zustand einer Tradition“279, eine Phase des Abbaus, der Demontage und des Zusammenbaus sein, sie ist sich (ähnlich wie auch die „Posthermeneutik“/Mersch) gewahr, dass sie dem Christentum nicht entkommt, dass innerhalb des Christentums dekonstruktive Strömungen Platz greifen, die gleichfalls auch aus anderen Kontexten aufkommen und dort ebenso gedeihen. Ohne sie als genuin christliches Projekt zu stilisieren, stellt Nancy der Dekonstruktion des Christentums ein „unendliches Ende“ in Aussicht. Sie hat die Aufgabe, sich für die plötzliche Ankunft, für Sinnereignisse bereitzuhalten.
Wall, J., in: Glöde, M., Und aktiv operierend, in: Schaffaff, J., Schallenberg, N., Vogt, T. (Hg.), Kunst – Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, Köln 2013, S. (297–303) 301, er ergänzt hier die Desasterdiagnose Blanchots, nach der eine klare Ortsbestimmung von Drinnen und Draußen nicht mehr möglich ist. 278 Pera, M., Warum wir uns Christen nennen müssen. Plädoyer eines Liberalen. Mit einem Vorwort von Papst Benedikt XVI., Augsburg 2009, bringt noch für die Syllabus-Verurteilungen Verständnis auf, affirmiert die päpstliche Kirchenpolitik und sieht die modernen Gesellschaften ohne kirchliche Wertorientierung im säkularistischen Relativismus verloren gehen. Für Vattimo und Rorty (Die Zukunft der Religion, Frankfurt a. M. 2006, S. 18, 62) indiziert die Aussage Croces aber die Bejahung der Säkularisierung als christliche Kenosis. 279 Nancy, J.-L., Dekonstruktion des Christentums, Zürich Berlin 2008, S. 251. 277
280
4.4 Hybride Überforderungen
Nancys Entmythologisierung des Gebets bewahrt einen „Rest des Gebets“ ohne Magie zurück. In der Ur-Geste der Öffnung, einer Bitte, die nichts mehr will und eine demütige Haltung des Empfangens einnimmt, beschreibt er ähnlich wie Lévinas das sprechende Wesen grundsätzlich als betend. Transzendenz beschreibt er aber mehr als Geschenk der Erhöhung denn als Erhörung. Gebet als Sich-Leeren und Öffnung bewegt sich auf ein neues Wortereignis hin. In bilderreichen, immer wieder leicht variierenden Formulierungen versucht er sich ständig zurückzunehmen; gerade in Bezug auf das Gebet werden Nancys Ausführungen sehr opak: Das Christentum bezieht sich jedenfalls in gefährlicher Weise auf ein Geschehen des radikalen, gefährlichen Neubeginns, der Ankunft: „Die Aufschließung verleiht der Entfaltung einen Charakter dicht an der Explosion, und die Verräumlichung grenzt dort an flammende Verheerung.“280
Das Christentum ist demnach als Praxistheorie der Öffnung, als paradoxe Verstetigung von Transformation zu verstehen. Es ist allein gegründet auf dem schwebenden Fundament, auf der Liminalität (V. W. Turner) der Umkehr, so dass seine Umschreibung als „Religion ohne Religion“ berechtigt erscheint. Gollwitzer nennt das Christentum „die Religion der permanenten Unruhe“; das leise Konzept einer verweltlichten/impliziten Religion versucht diese Unruhe zu realisieren. „Das Christentum ist, durch und in sich selbst, eine Dekonstruktion und eine Autodekonstruktion. (…) Der Atheismus, der nunmehr die okzidentale Struktur bestimmt und ihrem Wissens- und Existenzmodus innewohnt, ist selbst das realisierte Christentum.“281
Die Ausführungen in 4.1 dürften auf dem Hintergrund der Philosophie Nancys Bestätigung finden. 14) Die Auseinandersetzung um die Vielzahl von Religionen führt zu einen Witz, den Alfred Bodenheimer erzählt; die Geschichte handelt von drei Schülern, die untereinander prahlen und klären wollen, wer den größten Wunderrebbe als Lehrer hat.282 Der Erste ist der Auffassung, dass seinem Lehrer die höchste Autorität zukomme: Bei einem sintflutartigen Regen wurde es vor dem Rebbe, hinter ihm, links und rechts von ihm nass, er selbst aber ging im Trockenen. Der Ebd., S. 269. Auf S. 196 denkt Nancy Gott als Geste, nicht als Sein und nicht als Seiendes; eine klare Ontologiekritik im Stile von Lévinas ist hier nicht dargelegt. 281 Nancy, J.-L., Dekonstruktion des Christentums, Zürich Berlin 2008, S. 58–60. 282 Bodenheimer, A., Wie Bileams Eselin sprechen konnte. Über den jüdischen Umgang mit Wundern, in: Pazzini, K.-J., Sabisch, A., Tyradellis, D., Das Unverfügbare. Wunder Wissen Bildung, Zürich Berlin 2013, S. 25. 280
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zweite versucht mitzuhalten: Überall war Feuer, ein riesiger Brand. Vor und hinter dem Rebbe brannte es lichterloh, links und rechts von ihm ebenso; aber wo dieser Rebbe ging, war kein Feuer und es geschah ihm nichts. Der dritte Schüler erzählt schließlich von einem Freitagabend, dem Beginn des Sabbats, an dem ja nur 100 Schritte gegangen werden dürfen: Sein Rebbe war noch nicht zuhause, vor dem Rebbe war Sabbat, hinter ihm, links und rechts von ihm war auch Sabbat, aber wo der Rebbe ging, nicht. Die Geschichte kann auch in jüdischer Perspektive wörtlich genommen werden. Wunder wäre es im Sinn talmudischer Tradition, Gott mit der Thora, der Interpretation zu besiegen. Wunder wäre – für Edmond Jabès –, wenn ein Wort deutlich wird. Der Witz hält die Alltagssituation in richtiger Weise für den wirklichen Ernstfall, die eigentliche Herausforderung. Hier ergeben sich die intellektuellen Nöte, wie mit der Überlieferung umzugehen ist. Eine (säkulare) elementare Theologie scheint in dieser Weise eine eigenwillige Interpretation, den freien Gebrauch des Eigenen – für Hölderlin und Heidegger das Schwerste – zu reklamieren und einen eigenen Existenzentwurf zu definieren: Die schlichte Annahme säkularer Situationen, der freie, souveräne Umgang mit dem Gebotskanon als das Ende von Heteronomie und der Wandel der Begriffe erscheinen hier als größtes und erstaunliches Wunder. Mit ihm ist wohl zugleich auch – das darf angenommen werden – das Ausbleiben von Überich-artigen Schuldphantasien oder auch genau deren Ertragen verbunden. An der Geschichte ist weiterhin ernst zu nehmen, dass die wundersam eigenwillige Umformatierung der Gebote aus der Not geboren ist. Der Rabbi muss nach Hause. Der Kontext oder auch der kontingente Anlass machen die Neuinterpretation verständlich. Wenn in dieser Geschichte ein weiterer Wink für infrage stehende gegenwärtige Umwertungen enthalten ist, dann die Gewissheit Hölderlins: „Das Irrsal hilft“283. Das wirkungsvolle Aussetzen der Ordnung geht lautlos vonstatten. In der herzpädagogischen „Schul-Theologie“ wurde das Implizitwerden der Religion als Chance einer Konzentration auf die elementaren Erfahrungsfelder und hiervon abgeleiteten Grundaussagen verstanden. Ungeachtet des Wandels traditioneller Ausdrucksformen persistiert der universale Anspruch der Religion. Und insofern ist eine elementare, relationale Theologie keine Rumpf- oder Notnageltheologie, sondern ein Ansatz, der schon jetzt künftige Konstellationen antizipiert, ohne über konkrete hybride Weiterentwicklungen von (säkularer)
Hölderlin, F., zit. n.: Tiqqun, Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus!, Hamburg 2013, S. 328. In diesem Zusammenhang werden Strategien der Veränderung diskutiert: „Was wir brauchen, das ist eine Fahnenflucht, eine Flucht, die gleichzeitig das Gefängnis insgesamt zerstört. Es gibt keine individuelle Fahnenflucht, um es genau zu sagen. Jeder Deserteur nimmt ein wenig von der Moral der Truppe mit. Allein durch seine Existenz ist er die tatsächliche Ablehnung der offiziellen Ordnung und alle Beziehungen, die er eingeht, werden durch die Radikalität seiner Situation verseucht“ (ebd., S. 326).
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4.4 Hybride Überforderungen
Religion zu spekulieren. Der Anlass theologischen Denkens ist hier die konkrete Schulsituation, das Erfordernis eines neuen Gebrauchs religiöser Metaphern (Agamben). Es zeichnet sich ebenfalls ab, dass das theologische Denken aktuelle philosophische Diskurse aufnehmen muss, dass es im Kontext aktueller phänomenologischer, kommunikations-/medien theoretischer Ansätze „heimisch“ werden kann.284 15) Pluralismus stellt nach Isolde Charim keine bloße „Addition, wo etwas Neues zu einem Bestehenden kommt“, „kein äußerliches Verhältnis“ dar, sondern einen neuen Erfahrungshorizont, der Gesellschaften grundlegend verändert. Denn er konfrontiert alle mit der Frage, wie man sich zu seinen Vorprägungen verhält.285 Charim führt weiter aus, dass pluralistische Kontexte das Ähnlichkeitsdenken, die geläufige Suche nach Gemeinsamkeiten konterkarieren, so dass noch nicht einmal über soziale Bruchlinien und Differenzen Einigung herstellbar ist. Traditionen erscheinen wandelbar und fragil. Pluralismus fordert zur Reflexivierung und Neubestimmung der (religiösen, kulturellen oder nationalen) Identitäten heraus. Er bedingt einen weiteren Individualisierungsschub, bei dem die Kontingenz und Begrenztheit der Kulturen akzeptiert werden muss: „Kultur ist nicht einfach ein Inhalt, sondern gleichzeitig ein Verhältnis. Kultur ist also [auch] der Bezug, die Art des Bezugs zur ‚eigenen‘ Kultur. In diesem Sinne ist das, was uns trennt, nicht unsere Kultur. Was uns trennt, ist vielleicht die Art, wie wir unsere Kultur leben. Was uns trennt, ist die Art, wie wir unsere Identität bewohnen. Es ist die Art, wie wir unsere Religion leben. Die wahre Demarkationslinie verläuft also zwischen Pluralismus und Anti-Pluralismus!“286
Baudrillards Statement zu Charims identitätspolitischen Fragen wäre einfach: „Es gibt keine Lösung für die Fremdheit. Sie ist ewig und radikal. Es geht nicht einmal darum, zu wollen, dass sie es ist. Sie ist es.“287 Der Ruf nach neuen tragfähigen Narrativen oder Leitideen verkennt also die Zumutung, die niemandem zu ersparen ist: Die Fremdheit des Subjekts mit sich lässt sich nicht überdecken (vgl. Žižek Kap. 7.2/C.). Dass Pluralismus neue Erfahrungsräume eröffnet, also keineswegs nur defizitär konnotiert ist, gehört zur ästhetischen, pädagogischen und theologischen Grunderfahrung.
Das Sich-Aussetzen und der bereitwillige interdisziplinäre Austausch erscheint auf dem Hintergrund von F. Julliens Konzept der offenen Kulturen verbindbar. 285 Charim, I., Ich und die anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Wien 2018, S. 212f. 286 Ebd. 287 Baudrillard, J., Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 161. 284
283
4 Rechte Hauptkammer: Elementar Glauben = Herzlich-Werden
16) Mit Charims Pluralismus-Diagnose lässt sich die reckwitzsche Typisierung gegenwärtig konkurrierender Kulturverständnisse (Kulturalisierungsmodelle) verbinden. Andreas Reckwitz widerspricht dem huntingtonschen Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen; er macht vielmehr ein Ringen um ein tragfähiges Kultur- oder Identitätsverständnis aus: Der Kulturessentialismus begreift Kultur als einen regional/national abgrenzbaren Raum und verspricht eine Rückkehr zur vollen Identität in einer geschlossenen Gemeinschaft (kollektivistisch-substantielle Fundierung). Die Hyperkultur dagegen öffnet sich marktliberal dem globalen Austausch und zelebriert relativistische Aufgeschlossenheit; sie geht von fluiden Identitäten aus (individualisierte Hybridbildung). Der (philosophische) Kulturuniversalismus sucht nach einer dritten Option, einer sozialen Verbindlichkeit jenseits enger oder parzellierter Kollektive, nach den Commons kulturell heterogener Gesellschaften, einer Wertepraxis, die Minderheiten nicht aus den Augen verliert, selbstkritisch nach Exklusionen fragt und die Zwänge und Ausweglosigkeiten von Mehrheitsgesellschaften schonungslos aufdeckt. Ihm fehlt nach Reckwitz eine ausreichende institutionelle Stütze. Zur reckwitzschen Beschreibung des Kulturkonflikts gehört auch die Diagnose kultureller Hilflosigkeit gegenüber wirtschaftlich-technokratischen Überprägungen und der Dynamik der instrumentellen Rationalität.288 Gemäß Reckwitz’ Differenzierung weisen elementare relationale Theologie und HerzPädagogik deutliche kulturuniversalistische Züge auf. Folgende religionspädagogische Statements von Norbert Mette und Hermann Luther belegen nochmals ihre hermeneutische Grundausrichtung und ihren Öffnungsimpuls: „Religiöse Erziehung … ist nicht in erster Linie ein Vertrautmachen mit Inhalten, …, sondern grundlegend die Vermittlung einer Erfahrung unbedingten Erwünscht- und Anerkanntseins. Man wird sogar sagen dürfen, dass jede Erziehung, die auf unbedingter Liebe basiert, in ihrem Kern genau das realisiert, was christliche Praxis ist.“ – „Religiös sein heißt hier nicht Sinn für eine (die) andere Welt zu haben, sondern die Welt anders zu sehen, einen anderen Sinn für die Welt zu bekommen. … Religiöse Fragen beziehen sich nicht auf etwas in der Welt, sondern auf die Welt selbst. Als religiös ist jedes nicht-eindimensionale Weltverhältnis zu bezeichnen. Prinzipiell areligiös ist danach also jene Einstellung, die sich nur bei dem aufhält, was der Fall ist, jenes Denken, das nur bei dem stehen bleibt, was ist, und davon ausgeht, dass das, was ist, alles ist.“289
Reckwitz, A., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 56ff; ders., Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, S. 371ff, 417ff. 289 Mette, N., Luther, H., zit. n.: Möller, R., Tschirch, R. (Hg.), Arbeitsbuch Religionspädagogik für ErzieherInnen, Stuttgart 2002, S. 23, 58. 288
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5. Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht (Ästhetisierungen, Schulkunst) „Wir müssten den Blick ändern, um überleben zu können.“ – Paul Virilio1 „Halten wir fest: Ohne die Treibgase des Leichtsinns läßt sich eine bewohnbare (Sur)Realitätsblase nicht wölben und in Form halten.“ – Peter Sloterdijk2 „Das Philosophischwerden der Kunst äußert sich ganz allgemein in der Auflösung des Kunstobjekts – in der Bewegung, in der Aktion, im Gesamtkunstwerk, in der Performance, im Happening, in der Installation (als einem Kunstkörper, der jederzeit zerstückelt und immer wieder neu zusammengesetzt werden kann). … Die Kunst der Moderne ist wesentlich Bewegung – Bewegung der Auflösung der Figur in ihrem Hintergrund, Bewegung des Übergehens vom Objekt zum Kontext, von der Botschaft zum Medium, vom Eigenen zum Ganzen.“ – Barbara Kuon3
Wer meint, mit der Ohrthematik (5.1) sei nun der Boden der Herz-Pädagogik endgültig verlassen, vergegenwärtige sich die salomonische Bitte „Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9); auch Hans Urs von Balthasars Diktum: „Nur, was im Ohr zergangen ist, kann im Herzen geboren werden“4 oder die Aussage von Karl Kraus „Hab ich dein Ohr nur, finde ich mein Wort“5 Virilio, P., in: Pool-Processing, in: Ars Electronica (Hg.), Im Netz der Systeme, Berlin 1990, S. 131. Sloterdijk, P., Sphären. Bd. III: Schäume. Plurale Sphärologie, Frankfurt a. M. 2004, S. 741f. Und ders., Polyloquien. Ein Brevier, Berlin 2018, S. 60: „Ein Philosoph heute, was ist er anderes als ein Experte für die Rückformulierung von Witzen in Probleme?“ 3 Kuon, B., Die Kunst der Selbstenteignung, in: Busch, K. (Hg.), Anderes Wissen, Paderborn 2016, S. (122–145) 143f. 4 Spruch eines Kalenders von Münsterschwarzach, 2016. 5 Kraus, K., in: Verweyen, H., Mensch sein neu buchstabieren. Vom Nutzen der philosophischen und historischen Kritik für den Glauben, Regensburg 2016, S. 88. 1 2
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
betonen die enge Verbindung von Herz und Ohr. Die Weihnachtsprojekte von 2011, 2012, 2013 und 2015 konzentrieren sich auf die Herz-Logik der Wertschätzung des Ausgeschlossenen, Verfemten, des Rests.6
5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion „‚Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?‘ fragte Ariadne einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. ‚Ich finde eine Art Humor in deinen Ohren‘, Ariadne: ‚warum sind sie nicht länger?‘“ – Friedrich Nietzsche7
Fußnoten zu einem vorweihnachtlichen Experiment der Verbindungslehrer Alle Kolleginnen und Kollegen wurden in den letzten Wochen dazu aufgefordert, ihr Ohr zu kopieren; diese Ohrkopien (vgl. die obigen Beispiele) gilt es nun den entsprechenden Personen zuzuordnen.8
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Vgl. die ungewöhnlichen Weihnachtsgeschichten und -satiren: Rinser, L, Der Engel lügt. Lebenserfahrungen, München 1997; Böll, H., Nicht nur zur Weihnachtszeit. Satiren, München (22. Aufl.) 1977, vor allem die titelgebende Erzählung. Nietzsche, F., Götzendämmerung, in: KSA 6, S. 123f. Als Initiatoren des Ohrprojekts sind Florian Kraft, Eva Walter und Ismail Gencyigit hervorzuheben.
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5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion
Der Aktion geht es dabei nicht um eine Wiederbelebung von physiognomischen Studien im Sinne Lavaters, der aus der Gesichts-, Kopf- oder Ohrform Charaktereigenschaften abzuleiten glaubte. Vielmehr richtet das Ohr-Projekt den Fokus auf die Materialität und Grundlagen der Kommunikation, die mit dem Ohr beginnt. Lautet nicht zuletzt ein Kernsatz des Konstruktivismus von Heinz von Foerster, der in alle Ansätze der systemischen Pädagogik eingeflossen ist: „Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“9 Pestalozzis Pädagogik mit dem eingängigen Motto „Sehen, beurteilen, handeln“, die „Kopf, Herz und Hand“ umfassen und ganzheitliche Bildung erreichen wollte, vergaß offensichtlich in ihrer Aufzählung das Verstehen bzw. das Ohr. Was sollen eine Ausstellung der Kopien von siebzig oder mehr Lehrerohren und der spielerische Versuch ihrer Identifizierung oder Zuordnung zu Kollegen? Es ist dabei sicher nicht beabsichtigt, einer Reduktion des Menschen auf einen Körperteil Vorschub zu leisten; ganz im Gegenteil kann menschliche Nichtobjektivierbarkeit, die Geheimnisdimension des Anderen, greifbar werden. Das Projekt hat zweifellos die Visualisierung nichtgreifbarer Beziehungen zum Thema. Die Gesichter seiner Kollegen glaubt man zu kennen, aber ihre Ohren(?) … Das OhrExperiment macht im weitesten Sinn kollegiale Beziehungsmuster, Nähe und Distanz untereinander, bewusst. Man kann mit Kollegen reibungslos zusammenarbeiten, ohne nähere anatomische Details zu bemerken. Die schwierige/unmögliche Zuordnungsaufgabe der Ohrkopien veranschaulicht zugleich auch die Grenzen jeder Kommunikation. Das Ohr gilt es im Weiteren als passenden Ausgangspunkt der Reflexion über Kommunikation auszuweisen. Wenn im Folgenden das Ohr als „Zentrum der Humanisierung“ verstanden wird, braucht es nicht notwendig eine Überzahl an Lehrerohren. Das Ohr der Aufklärung – Aufklärung über das Ohr „Die Grenzen meiner Normalität sind die Grenzen meiner Aufklärung.“ „Die Aufklärung scheitert chronisch an den Normalisierungsbedürfnissen der Aufklärer.“ „Mit einem Wort, aus Bodenständigkeit lässt sich die menschliche Tatsache nicht verstehen.“ – Peter Sloterdijk10
Manche halten die Epoche der Aufklärung, der sich jede Bildungseinrichtung verpflichtet fühlt, für visuell ausgerichtet. Schon die Metapher vom Licht der Vernunft, das sich
Foerster, H. v., Worte, in: Dencker, K. P. (Hg.), Interface 2. Weltbilder – Bildwelten. Computerunterstützte Visionen, Hamburg 1995, S. 239–241. 10 Sloterdijk, P., Heinrichs, J.-H., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 275, 285, 337. 9
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
durch die Nebel des Unwissens Bahn bricht, mag auf eine Orientierung am Sehsinn hindeuten. Kommunikationstheoretiker schätzen die Aufklärung allerdings als otozentristisch ein, auf das Ohr fixiert. Aufklärerische Kommunikation kapriziert sich auf Information; es werden nur solche Mitteilungsformen zugelassen, die nüchterne Informativität versprechen. Kommunikationsformen, die lediglich Anschlussfähigkeit aussagen oder Diffuses, Schwärmereien etc. beinhalten (vgl. Klatsch), sind hier ausgeschlossen. Das Ohr gilt P. Fuchs als „Zentrum der Humanisierung“11. Es darf nicht vorschnell als Organ der Folgsamkeit und des Gehorsams diskreditiert werden, wenn auch Gehorchen und Hören etymologisch eng verwandt sind. Napoleons Sentenz, dass Befehlen „vor allem die Augen ansprechen“ heißt, nötigt zur Kritik des Augenscheinlichen und des Sehens: Die Parole kann daher nur lauten: „Augen zu, aufgepasst!“12 Die Aufklärung setzt auf große Ohren, Megaorgane, die Fakten filtern und der Wirklichkeit das Wesentliche ablauschen. Während für den Aufbau von Kultur das Überhören und Weghören wichtig ist, das Nichtgenau-Wissen-Wollen, das Übergehen von Peinlichem, strebt aufklärerische Wissenschaft nach einem genauen Wissen, der Aufdeckung von Latenz – so eine Überlegung von Slavoj Žižek, die hier einen grundsätzlichen Gegensatz zweier Lebensbereiche aufbaut. In der Schule – aber nicht nur hier – überschneiden sich die beiden Handlungsstile deutlich. Schulische Kommunikation scheint dann geglückt zu sein, wenn sich eine Balance zwischen generösem Überhören und beharrlichem Wissen-Wollen findet. Das nichtobjektivierbare Ohr Das Ohr ist leibphänomenologisch ein Organ der Unmittelbarkeit, das nicht willkürlich verschlossen werden kann, eine Körperöffnung außerhalb unserer Kontrolle, die das Einfallstor für eine Reizüberflutung oder -überlastung darstellen kann; die Zunahme von Tinnitus- und anderen Ohrkrankheiten gilt weithin als Symptom der stressigen Mediengesellschaft. Alle anderen Körperöffnungen sind für Lacan „Objekte a“, nicht-objektivierbare Dinge, die mehr sind, als sie sind, Organe, mit denen man nie fertig wird … Nach Lévinas gehört das Ohr ähnlich wie das Gesicht nicht uns selbst, es ist ganz für Andere. Für das Ohr scheint auch zu gelten, was Lévinas für das Gesicht insgesamt sagte: Es ist reiner Ausdruck, kein Etwas … Bevor es etwas bedeutet, signalisiert es den Nicht-Ding-Charakter des Menschen, seine Würde, Erhabenheit, Verletzlichkeit … (Lévinas betont allerdings den Fuchs, P., Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a. M. 1993, S. 111, vgl. auch Grawert-May, E., Über autistische Augen. Der Blick, der vor dem anderen stehenbleibt, in: Lischka, G. J. (Hg.), Der entfesselte Blick, Wabern-Bern 1993, S. 198–217. 12 Titel eines Aufsatzes von Paul Virilio, in: Stäblein, R. (Hg.), Moral. Erkundungen über einen strapazierten Begriff, Frankfurt a. M. 1996, S. 16–27. 11
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5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion
Unterschied zwischen einem realen Gesicht und einem abgebildeten. Für das Ohr wie für das Gesicht und alles Lebendige gilt eigentlich das biblische Bilderverbot.) Das Ohr deutet auf die Nichtobjektivierbarkeit des Menschen hin, auch wenn es als „Knorpel-(Un-)Ding“ seltsam unbelebt/belebt, irgendwie untot, erscheint. Das Ohrprojekt exponiert völlig bloße und darum nie ganz harmlose Außen-Ohren; über das eigentliche (Innen-)Ohr maßt es sich nicht an, Aussagen machen zu können. Dieses gehört zur „radikalen Abgeschlossenheit und Undurchsichtigkeit der Köpfe“, die den letzten Grund der Kommunikation bilden (P. Fuchs, N. Luhmann). Vom Innenohr zeugt – nicht nur auf den Ohrbildern – lediglich ein dunkler Fleck, der wie ein kosmisches Schwarzes Loch unaufhaltsam alles in sich aufnimmt und die „Nacht der Welt“ erahnen lässt, Hegels Metapher für den Wahnsinn der Partialtriebe, den monströsen Abgrund des Subjekts und den Exzess des eigenen, zugleich völlig fremden Genießens (Lacan). Die verkannte Körperöffnung – Die Freiheit des Ohrs und die Ferien „I see the divineness in ordinary things.“ – Diane Arbus13
Das Ohr entzieht sich weitgehend der Ästhetisierung; eine Aufreihung von schwarzweißen Lehrerohren ist unverdächtig, ein Ranking im Sinne von „Wer hat das schönste Ohr im ganzen Land?“ zu implizieren. Die Sammlung schwarzweißer Ohren stellt sich eher dem sonst spürbaren Inszenierungsdruck entgegen. Walter Benjamin meint in Bezug auf Advent/Weihnachten: Wenn der Messias kommt, wird er alle Dinge ein klein wenig verrücken. Advent oder das Kommen des Messias sind also mit einer Perspektivänderung verbunden. – Alle messianisch-weihnachtlichen Veränderungen beginnen mit der Hinwendung zum Ausgeschlossenen/Randständigen oder Übersehenen/ Beiseitegelegten/Verfemten. Mit der veränderten Perspektive auf das Ohr wird jede Veränderung angefangen haben – so die klare These des Projekts. H. M. Enzensberger diagnostizierte schon vor Jahren eine akustische Umweltverschmutzung und plädierte für eine bewusste Lärmabschottung, er prognostizierte bereits eine werbeinszenierte Rund-um-die-Uhr-Beschallung und totale Dauerton-Cluster etc. Die Schule ist ein öffentlicher Raum, der noch nicht durch Klangteppiche versiegelt ist. Das Ohr des Schülers und des Lehrers wird aber durch Klassenlärm, selbsterzeugten Stress beansprucht; das Cocooning
Arbus, D., Relevations, München 2003 (Werkretrospektive 1972, Katalog zur Ausstellung im Folkwang-Museum, Essen 2005), S. 70 (28.11.1939, paper on Plato).
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
der Schüler, der Rückzug in die eigene Klangblase durch privates Musikhören in den Pausen, ist inzwischen eine häufige Flucht vor Stress/Auseinandersetzung. Das Ohr erscheint hier als ein Organ der Ruhe, in seiner phänomenalen Reglosigkeit steht es für die Unabänderlichkeit einer alten Ordnung, das Bedürfnis nach Muße und Erholung. Es selbst beinhaltet einen ultimativen, nicht-okkupierbaren Freiraum, der nur durch Hörstöpsel verschlossen wird. Wenn das Ohr ein stummer Verkünder von Ruhe ist, so verweist das zweifellos auch von Übermut getragene Ohrprojekt auf die ersehnten Ferien, auf eine Auszeit vom schulischen Funktionieren. Es ist ein weiteres Kernanliegen des Ohr-Projekts, die Verbindung von Ohr und Ferien aufzuzeigen: Beim Anblick des Ohrs des Anderen kann/soll der Gedanke an die Ferien aufkommen.14 Wenn die eigene Nichtobjektivierbarkeit im Vorweihnachtsstress auch nicht als real erlebt wird, lässt sie sich doch durch die ansichtige Nichtobjektivierbarkeit des Anderen wenigstens erschließen. (Das Ohrprojekt wirkt hier als Antidot gegen die ungeheure Verfänglichkeit der Selbstobjektivierung.) „Wende dein Ohr mir zu, vernimm mein lautes Rufen.“ (Ps 17,6) Mit dem Ohrprojekt schreiben die Verbindungslehrer allen Teilnehmern schließlich den obigen Vers des Psalmisten ins Stammbuch. Der Satz, der sicherlich ursprünglich anders gemeint ist, ist gleichfalls als Appell an die Lehrer-Adresse zu verstehen, als Schüler-Ruf nach Verständnis und Zuwendung. Das Ohrprojekt will für die Anliegen der Schüler sensibilisieren, eine Öffnung im festen Machtgefüge erreichen; Lehrerohren wird eine Solidarisierung und Identifikation mit Schüler-Anliegen angeraten … Das Ohrprojekt eröffnet also verschiedenste Dimensionen, die sich dem Betrachter wie Teilnehmer erst erschließen, wenn er einen Blick-/Sinneswechsel mitvollzieht. Wer je sein Ohr auf einen Kopierer legte und vielleicht noch spürte/ahnte, dass sich über ihm die weiße Klappe schließen wird, hatte einen Eindruck der Endgültigkeit, (natürlich auch der Hinfälligkeit und Begrenztheit des Lehrerdaseins). Was der italienische Philosoph G. Agamben für das Foto formulierte, gilt auch für die Kopie:
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Rössler, O. E., Vertikale und horizontale Exteriorität – die blaue Karte in Lampsacus, in: Dencker, K. P. (Hg.), Interface 3: Labile Ordnungen: Netze denken, Kunst verkehren, Verbindlichkeiten, Hamburg 1997, S. 302–313. Die Stadt Lampsacus, die Anaxagoras Asyl gewährte, gab den Kindern im Gedenken an den Philosophen einen Monat Ferien. Der euphorische Satz Jean Pauls: „Ich würde heute noch den Totenschädel des Menschen streicheln, der die Ferien erfunden hat“, wäre also auf Anaxagoras zu beziehen.
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5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion
Jede Fotografie oder Ohr-Kopie erinnert an die Metapher vom „Jüngsten Gericht“. Eine Szene, ein Moment wird festgehalten, der „dabei ist verlorenzugehen“, das Foto/die Ohrkopie ist die „Prophezeiung eines glorreichen Leibes“.15 Das Ohrprojekt beleuchtet Selbstverständliches neu, Latentes wird in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt; ganz im Sinne Baudrillards, der vorschlug einen Handel mit verrückten Ideen anzuzetteln, die der Welt das Wunderbare zurückgeben und das Gewöhnliche als unwahrscheinlich darstellen. „Einen heimlichen Handel der Ideen fördern, aller unzulässigen Ideen, der unannehmbaren Ideen, wie in den 30er Jahren der Handel des Alkohols gefördert werden mußte. Denn wir befinden uns schon mitten in der Prohibition. Das Denken ist ein äußerst seltenes Lebensmittel geworden, unerlaubt und unbezahlbar, das an geheimen Orten und nach esoterischen Regeln angebaut werden muß. Alles muß sich im Geheimen abspielen. Der offizielle Markt des Denkens wird als weltweit korrumpiert und als Komplize des Denkverbotes durch den herrschenden Klerus angesehen. Jede Einmischung kritischer erleuchteter und wohlwollender Intellektueller, die alle, selbst ohne ihr Wissen, politically correct sein können, wird als null und nichtig angesehen. In sich jede Spur des intellektuellen Komplotts auslöschen. Das Dossier Realität verfeinern … Die absolute Regel ist es, zurückzugeben, was man bekommen hat. Niemals weniger, immer mehr. Die absolute Regel des Denkens ist es, die Welt so zurückzugeben, wie wir sie bekommen haben – unbegreiflich – und wenn möglich noch etwas unbegreiflicher.“16
G. Agamben meinte, die Moderne sei der Sieg der Mittel über den Zweck/die Bedeutung/den Wert. Jede Ohr-Kopie ist ein Beleg dafür, dass sich die technischen Möglichkeiten von einem konkreten Bedeutungs-/Sinnzusammenhang entkoppelt haben: Der Kopierer hat im Gegensatz zu vielen anderen technischen Geräten selbst keine Spielfunktion. Der spielerisch-naive Umgang mit Technik, Medien – oder hier: dem Kopierer – ist als Verfahren der Medienkunst bereits etabliert und wird hier erneut erprobt. Ästhetik des Ohres – Das Ohrprojekt als Schule der Wahrnehmung Ästhetik scheint heute zur Leitdisziplin/“Leitwissenschaft“ (Bolz) zu werden, ästhetisches Denken (W. Welsch), eine „Schulung der Wahrnehmung“ ist umso mehr gefordert, als die Vgl. Agamben, G., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 18–23; seine Analysen knüpfen an R. Barthes’ Projekt „Mythen des Alltags“ an. 16 Baudrillard, J., Das perfekte Verbrechen, München 1996, S. 163. 15
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
Verführbarkeit durch implizite Bildlogiken („Alles muss ein Gesicht haben“, Th. Macho) und das Visualisierungsbedürfnis steigen. Medien werden häufig als „Transparenzmaschinen“ umschrieben, in denen bisher Verborgenes immer weiter aufgedeckt wird. Der „Kollaps des Realen“ vor der Flut der hochaufgelösten Bilder wird vielfach von Medientheoretikern wie Baudrillard und Virilio umschrieben; einige sehen nach dem „linguistic und cultural turn“ (Rorty/Fiske) den Ernstfall des „iconic turn“ („pictorial turn“, W.T.J. Mitchell/1992)17. Den Zeitgenossen der Mediengesellschaft (flexicutives/netizens/Informavoren) ist die Auswahl von Information, die Selbststeuerung der Aufmerksamkeit sowie der bewusste Umgang mit Bildern und deren Interpretation, und hier die Frage nach dem eigenen blinden Fleck oder blinden Fleck des Bildes, aufgegeben. Dabei scheint geklärt werden zu müssen, wie der Betrachter ins Bildgeschehen einbezogen ist, wie er selbst Teil des Bildes ist/wird (vgl. Paul Klees „Ich, das Bild, sehe dich“).18 Die Ausstellung der Ohrkopien setzt einen deutlichen Kontrapunkt zu den ansonsten hochaufgelösten digitalen Bildern. Die imaginativen Fähigkeiten des Betrachters werden durch das OhrExperiment herausgefordert, wenn der Betrachter nach dem bekannt-unbekannten „Besitzer“ des Ohres forscht.19 Das hermeneutische Zusammen von Wahrnehmung und Deutung, das bei Maar, Ch, Burda, H. (Hg.), Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, vgl. auch: Jäger, G., Bildsystem Fotografie, in: Sachs-Hombach, K. (Hg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen Methoden, Frankfurt a. M. 2005, S. 349–364. Vgl. auch Kamper, D., Bildstörungen. Im Orbit des Imaginären, Stuttgart 1994, S. 7: „Die Menschen leben heute nicht in der Welt. Sie leben nicht in der Sprache. Sie leben vielmehr in ihren Bildern, in den Bildern, die sie sich von der Welt, von sich selbst und von den anderen Menschen gemacht haben.“ Vgl. auch Taylor, M. C., Saarinen, E., Imagologies Media Philosophy, New York 1994. 18 Vgl. unter Bezug auf J. Lacan: „Der Blick bezeichnet den Punkt im Objekt (im Bild), von dem aus das es betrachtende Subjekt schon angeblickt wird, d. h. das Objekt ist es, das mich anblickt“, Žižek, S., Liebe Dein Symptom wie Dich selbst. Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 59. Baudrillard kritisiert alle hoch aufgelösten Bilder als übergriffig/zu nah, der französische Kulturkritiker meint ebenfalls, dass aufgrund der neuen digitalen Bildtechniken „die Essenz des Pornographischen ins Innere der Dinge übergegangen ist“ (Baudrillard, J., Das perfekte Verbrechen, München 1996, S. 77–78, 195–196) – Rilke formuliert etwas feiner: „Alles ist nicht es selbst“, oder Bataille: „Everything is profoundly cracked“ –, jedenfalls hat in einer Welt der Pixels Manipulation immer schon stattgefunden (N. Bolz). Zum Kollaps des Wirklichkeits- und Wahrheitsmodells der Repräsentation und zur Etablierung der „Hyperrealtiät“ und Bildschirmwirklichkeiten, vgl. auch: Weibel, P., Die Welt der virtuellen Bilder. Zur Konstruktion kontextgesteuerter Ereigniswelten; in: Dencker, K. P. (Hg.), Interface 2. Weltbilder – Bildwelten, Hamburg 1995, S. 39ff. 19 Linke, D., Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren, Reinbek 2001, S. 22,20: „Hierbei eben müssen wir berücksichtigen, in welch außerordentlichem Maße wir Wesen sind, die mit einem Gehirn ausgestattet sind, das Einbildungskraft, Phantasie, Imaginationsfähigkeit und Visualität zu einer seiner Hauptaufgaben macht.“ „Wahrnehmung ist entscheidend von Interesse, Aufmerksamkeit und Einbildungskraft abhängig. Werden diese nicht geweckt, so kann die Wahrnehmung verkümmern.“ (Der Übergang vom „Sinn zu den Sinnen“ bzw. die Dominanz des visuellen Systems, des Sehsinns, über andere Sinne werden von Baudrillard und Hörisch problematisiert.) 17
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5.1 Ohrprojekt – eine unseriöse Weihnachtsaktion
jeder Bildanalyse problematisch wird, wird an einem scheinbar banalen Objekt gespiegelt. Die Frage nach dem blinden Fleck des Betrachters ist immer neu zu stellen. Das Ohr und der soziale Resonanzraum Die drei Hauptsätze der Kommunikationsgesellschaft „Erster Hauptsatz: Was nicht kommuniziert wird, ist nicht, und je mehr es kommuniziert wird, desto mehr ist es. Zweiter Hauptsatz: Alles, was kommuniziert wird, ist etwas wert, und je mehr es kommuniziert wird, desto wertvoller wird es. Dritter Hauptsatz: Wer kommunizieren will, darf wenig informieren.“ – Vilém Flusser20
Das Ohr-Projekt fokussiert den sozialen Raum des Lehrerzimmers als „atmosphärischen Resonanzraum“: Sloterdijk spricht von der „Geburt der Intentionalität aus dem Geist des Hinhörens auf Begrüßungs- und Belebungslaute“. „In solchem Hören beginnt auch das Genießen als erste Intention.“21 Die „Psychoakustik der ersten Dinge“ betont erneut das Ohr als Startpunkt (oder leibliches Apriori) des Sozialen: „Im Hinhorchen vollzieht das Gehör die Urhandlung des Selbst. Alles spätere Ich-kann, Ich-will, Ich-komme schließt notwendigerweise an diese erste Regung spontaner Lebhaftigkeit an.“ „Vom heimgesuchten Ohr her wird das Subjekt zu sich geführt.“ 22
Sloterdijks Medientheorie sieht den Menschen nicht mehr als selbstmächtiges, selbsttransparentes Subjekt, in dem Gefühle verborgen und verschlossen sind, sondern als eine surreale Struktur, deren Grenzen zur Umgebung fließend sind. Der Mensch bleibt immer elementar mit seinen Bergungsräumen verschmolzen, er kann nur innen leben; er ist nicht mehr existentialistisch als der heroische Einzelne zu verstehen, der ohne Schutzhüllen leben kann, sondern nicht separierbar von seiner „Sonosphäre“ oder anderen Sozialräumen.23 Vom Beziehung-Sein her wird das Selbst nicht wie bei Kierkegaard als sich zu sich selbst verhaltendes Selbstverhältnis gefaltet,
Flusser, V., Die Revolution der Bilder. Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim 1995, S. 8. (Vgl. von Foerster: „Communication is recursion.“) 21 Sloterdijk, P., Sphären. Bd. 1: Blasen (Mikrosphärologie), Frankfurt a. M. 1998, S. 515. 22 Ebd., S. 513, 505. 23 Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 155, 159, 167: „Man kann Intimität nicht diskursiv artikulieren.“ „Wer in der Lösung lebt, der versteht das Problem nicht.“ „Modern ist, wer abstreitet, jemals innen gewesen zu sein.“ (Postmodern wäre wohl, wer sein Bedürfnis nach bergenden Innenräumen nicht verkennt und sich seiner eigenen Fremdheit stellt.) 20
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sondern als Immanenz und Nähe gedeutet: Der Andere ist mir näher als ich mir selbst … (nicht zuletzt deswegen, weil jeder ständig am Projizieren ist.) „Es geht mir darum, dass das In-der-Luft-Liegen von etwas das Primärverhältnis ist und das Feststellen auf Grund und Boden [vgl. die Begründung] eine sekundäre Abweichung davon. … Ich will den Grund in Zukunft über dem Boden suchen, im Klima-Apriori der Kultur, in der geteilten Luft, in der sozialen Lichtung. … Man wohnt, indem man ein Anderswo in ein Hier projiziert.“24
Sloterdijk geht zu der Annahme der Bibel auf Distanz, Menschen wollten „sein wie Gott“, was in Gen 3f als Urstreben/Urfrevel beschrieben wird; er meint, es müsse heute heißen, wir wollten „wie ein Schlager sein“, also bewirken, dass die Welt ein wenig nach uns klingt.25 Das Projizieren als sozialer Elementarvorgang erreicht nach Sloterdijk immer seltener letzte Höhen. Der Mensch des 21. Jahrhunderts wünscht sich jedenfalls nicht mehr wie die antiken Griechen, vergöttlicht zu werden. Jedes Subjekt entsteht nach L. Althusser erst im Moment der Anrufung, der ihm eine Position in der sozialen Matrix zuweist. Es erfährt nicht nur auf diese Weise sein Tun als sinnvoll, es wird in der Anrufung überhaupt erst geboren … Das zentrale Moment der Anerkennung unterstreicht nicht zuletzt der Habermas-Schüler Axel Honneth in allen seinen Publikationen als Kernthema. Nach buddhistischen Mythen geschah die Empfängnis Buddhas über das Ohr, gewirkt von einem heiligen Elefanten. – Das Ohr wird hier als Symbol der Empfangsbereitschaft verwendet. Es ist klar, dass nicht anatomische Unkenntnis zu diesem Bild führte, da Buddha auch schmerzfrei aus der Seite seiner Mutter Maja geboren worden sein soll. Den Einfluss der „Sonosphäre“ auf das Subekt, die Manipulierbarkeit des Menschen durch gefällige Tonlagen reflektiert ebenso der Myhos von Odysseus, der sich nur mit göttlichem Beistand und eigener Finesse gegen die herrlichen Sirenengesänge zu wehren weiß. Der listenreiche Odysseus kann sie nur dann hören, ohne ihnen zu verfallen, wenn er vorher festgebunden wird. Seine Mitstreiter müssen sich die Ohren mit Wachs verkleben, andernfalls misslingt die Passage. – Pädagogik als „Erziehung zur Mündigkeit“ ist nach Adorno immer eine Erziehung des Madigmachens (von bekannten Klängen). Aufklärung heißt immer auch schmerzhafte Entzauberung seiner selbst:26 „Sirenen hören heißt ‚sich‘ hören“, also einem Kurzschluss eigener Ebd., S. 244f, 248. „Wer seine Hymne hört, der hat gesiegt. Für die Unbesungenen geht der Kampf weiter, sollte auch Troja längst gefallen sein. Sie haben die Wahrheit noch vor sich, dass im Intonieren das Subjekt sich am nächsten kommt.“ (Sloterdijk, P., Sphären Bd.1, S. 503) 26 Horkheimer, M., Adorno, Th. W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1992, S. 32 (Sirenengesänge sind als Kunst umzuwerten oder zu depotenzieren, S. 39). Die Dialektik der Aufklärung hat viele 24 25
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Erwartungen erliegen.“27 Dem double-bind-artigen Imperativ „Lasst euch nicht verführen“ hat Baudrillard eine Monographie gewidmet. Er fordert im Gegenteil dazu auf, zugleich „total vital und irreal“ zu sein: „Verführung dagegen lässt sich nicht formulieren, denn sie beruht darauf, unausgesprochen zu bleiben. … Im Grunde genommen haben wir es bei der Verführung immer mit einer rätselhaften dual/duellhaften Beziehung zu tun. … Je mehr die Realitätsorgie in ihrer obszönen Wut versucht, die Wahrheit zu finden, d. h. alles zu sagen und zu zeigen, kurz: alle Geheimnisse zu lüften, desto mehr scheitert sie bei diesem Unternehmen. Das Geheimnis lässt sich niemals lüften … also hat die Verführung irgendwo ihren Platz.“28 „Der Andere ist, wer mir erlaubt, mich nicht ins Endlose zu wiederholen.“29
Das Ohr des Anderen „ … dass jede Beseelung ein Medienereignis ist …“ „Alle Geschichte ist die Geschichte von Beseelungsverhältnissen.“ „Alle Geschichte ist die Geschichte von Botschaftskämpfen.“ – Peter Sloterdijk30
Angeregt durch das Projekt, das das Ohr als „unmögliches Bild des Menschen“ ausweist, kommt schließlich die Idee auf, alle Lehrerporträtfotos durch Ohrkopien zu ersetzen. Schüler lernten ihre Lehrer so neu zu sehen und wendeten sich vielleicht mit Bedacht und Vorsicht an die immer offenen Lehrerohren. In Abwandlung eines Vorschlags von Otto E. Rössler, in einer neu zu entwerfenden virtuellen Stadt mit freiem Wissensaustausch und dem Menschenrecht auf Information blaue Karten vorzuzeigen, wenn man Hilfe braucht, wären Ohrbilder einzusetzen, um zu signalisieren: „Bin verletzt“, „Belastungsgrenze erreicht“ etc. Rössler empfiehlt, sich das Verhalten der Pottwale als Vorbild zu nehmen: Wenn ein Pottwal verletzt oder getroffen ist, stehen ihm die anderen
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weitere Facetten, etwa dass sie totalitär werden kann oder sich nicht allein mit den Mitteln der Vernunft durchsetzt, oder S. 86: Heimat/Natur müssen als „dem Mythos erst Abgezwungene“ erachtet werden: „Heimat ist das Entronnensein.“ Sloterdijk, P., Sphären Bd.1, S. 305, 53, 510. Baudrillard, J., Lasst Euch nicht verführen!, Berlin 1983, S. 135f,138. Ders., Transparenz des Bösen, Berlin 1992, S. 200. Sloterdijk, P., Sphären Bd. 1: Blasen, Mikrosphärologie (1998); Sloterdijk, P., Weltfremdheit, Frankfurt a. M. 1993, S. 50, 163. Vgl. auch Rosa, H., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
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ungeachtet der Frage des eigenen Überlebens bei und bilden eine Rosette. Für Rössler hat diese angebliche Dummheit der Meeressäuger, die es Walfängern ermöglicht, ganze Gruppen zu erlegen, eine „humane Tiefe“, die es unbedingt zu übernehmen gilt.31 Ein Buch über Schule sollte darum sich weniger mit dem „Hals der Giraffe“ (vgl. den Bestseller von Judith Schalansky über das Lehrerdasein, Berlin 2011) als den hellhörigen Ohren der Wale oder wenigstens dem „Gummi-Ohr“ des Odysseus beschäftigen.
Nachtrag zum Ohrprojekt „Darwin, Marx, Freud, Nietzsche waren auf der Spur, ohne je für sich der Gewalt gewachsen zu sein, die in der Entkörperlichung und Entmaterialisierung von Geschichte herrscht. Vielleicht aber muß man sie zusammennehmen und ihre Kräfte vereinigen, um einen Ausweg in die Zukunft zu finden.“ „Deshalb muß man vor allem die Imagination zitieren. Was auf dem Spiel steht, ist die menschliche Erfahrungsfähigkeit überhaupt.“ – Dietmar Kamper32 „Um diese fremdartigen Ereignisse einzufangen, muss man aus der Theorie selber wieder etwas Seltsames machen (…).“ – Jean Baudrillard33
Man muss nicht betonen, wie sehr die Interpretation der tatsächlichen Idee, dem originellen Tun hinterherhinkt. Die Beobachtung kommt immer zu spät, die Eule der Minerva setzt erst in der Dämmerung zum Flug an, meinte Hegel, um festzuhalten, wie wenig das Nachdenken vermag … Die geniale Einfachheit und gleichzeitige Komplexität des Ohrprojekts sind im Nachhinein nur schwer auf den Punkt zu bringen. Die sonderbarsten und unwahrscheinlichsten Zusammenhänge dürfen nicht vorschnell als abwegig und unpassend abgetan werden. Soll das Ohrprojekt der Verbindungslehrer eine ungefähre Würdigung erfahren, müssen in aller Kürze weitere Dimensionen des Projekts vorgestellt werden.
Rössler, O. E., Die Menschwerdung im Internet, in: Maresch, R., Rötzer, F. (Hg.), Cyberhypes. Möglichkeiten und Grenzen des Internet, Frankfurt a. M. 2001, S. 249–264 und S. 256: „Was gäbe es Klügeres als die Rosette zu bilden?“ Es bewahrt – weihnachtlich naiv – vor der „Bastardisierung“, dem „die Würdegenommen-Bekommen“, dem „Gezwungenwerden zum Auch-böse-Sein“. 32 Kamper, D., Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek 1990, S. 52; 274. 33 Baudrillard, J., Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 127. 31
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Das Ohr und sein geheimes Wissen über Funktionsweisen von Organisationen Der Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant meinte, man könne das Wesen der Welt auch in einer Waschküche erkennen. Und der Kybernetiker Andrew Pickering hat den Satz wörtlich genommen und die (soziale) Welt insgesamt buchstäblich als Heißmangel beschrieben.34 – Gemäß der ursprünglichen Intention Kants richtet sich das Ohrprojekt verwegen von einer Ohrkopie ausgehend auf die Erkundung der Grundlagen der menschlichen Kommunikation. Im Fokus auf das Ohr wurde schon im ersten Teil die Grundregel des Konstruktivismus und der heutigen Pädagogik vorgestellt, wonach der Hörer, nicht der Sprecher die Bedeutung einer Aussage bestimmt. (Einerseits benennt der Satz die Hilflosigkeit des Senders. Andererseits wird klar: Weltbilder, Bedeutungen müssen von jedem Rezipienten selbst generiert werden, sogar Überraschungen müssen zugelassen werden.35 Der Satz beschreibt letztlich die Geschlossenheit kognitiver Systeme, die nicht instruiert und nur perturbiert/verstört werden können, ihre „kognitive Einsamkeit“ (Maturana). Daraus resultiert dann schließlich die These von der Unmöglichkeit von Erziehung als (linearer) Instruktion, so zumindest für Luhmann und die systemischen Pädagogen.) Zu Recht wurde in einer Schule das Ohr betont. Die Schule ist wie jede Bildungseinrichtung der Aufklärung verpflichtet. Das Ohr steht für das Projekt der Aufklärung, das den Dingen das Wesentliche ablauschen will. Das Projekt, das auf die Darstellung nichtgreifbarer Beziehungen zielt, geht aber weiter; es zielt ganz im Sinne der Aufklärung auf Selbstreflexion; es reflektiert die Funktionsweise von Schule insgesamt und zeigt hier die schlichte Wahrheit, die selten offen ausgesprochen werden darf: „Ohne ein bisschen Mumpitz geht es nicht“ (Fontane). Oder in Anlehnung an Nietzsche und Sloterdijk: Wir haben den Leichtsinn, um nicht an der Systemfunktionalität zugrunde zu gehen. Eine surreale Welt wird erst durch Leichtsinn bewohnbar.36
Pickering, A., Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin 2007, Kap. 3: Kybernetik und die Mangel, aber auch schon S. 8ff: Kybernetische Vorgänge sind posthumanistisch als Prozesse des Mangelns aufzufassen. „Der Vorschlag lautet, dass wir die Welt selbst als einen inhärent ‚mangelartigen‘ Ort ansehen sollten, bevölkert von emergenten und lebhaften Entitäten und Assemblagen, die alle in einer performativen Beziehung interagieren und evolvieren“ (S. 11). Auch Baudrillard beschreibt die „Operation des Weißwaschens“ als Systemzwang, vgl. ders., Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 53ff. 35 E. Goodman-Thau meint: „Die Idee von Wunder ist, überrascht zu werden.“ Es ist gut, die Welt wieder wunderbar und unwahrscheinlich zu sehen, für Luhmann können aber Geheimnisse nur dekonstruiert, nicht konstruiert werden. Für Baudrillard gilt: „Das Geheimnis hat immer mit Künstlichkeit zu tun“ (ders., Transparenz des Bösen, S. 200). 36 Sloterdijk, P., Sphären. Bd. III: Schäume. Plurale Sphärologie, Frankfurt a. M. 2004, S. 741f. 34
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Das Ohrprojekt ist also ein Beleg für die Selbstorganisation oder die Selbstheilungskräfte (des Lehrerzimmers). Die Kollegen, die jetzt das erste Mal vom Ohrexperiment hören, können vielleicht nicht ermessen, wie entlastend das Ohrprojekt war und wie sehr es denen die letzten drei Stresswochen erleichtert hat, die eine Ohrkopie haben mit sich machen lassen. Jeder, der sein Ohr ablichten ließ, der den nahen Lichtblitz des Scanners unter der Kopierscheibe vorüberziehen spürte, war initiiert. Der Kopf wurde mit Lichtimpulsen aufgeladen, eine Gesichtshälfte bekam etwas Farbe ab und die arg strapazierten, schlappen Ohren haben sich nochmals aufgerichtet: Das Projekt fördert auf diese Weise die verdrängte Erkenntnis zutage: Jede Gemeinschaft braucht notwendigerweise derartige Ohrkopie-Riten,37 genau diese Freiraum-Momente38, die die Ordnung relativieren oder aussetzen und nur unzureichend als „leere Gesten“ der Zuwendung beschrieben werden. Solche Momente sind mit V. W. Turner als liminal zu bezeichnen, als heikle Zwischen-/Grenzphänomene, sie sind das Gegenteil von erstarrten Zeremonien und durch eine Verkehrung des Status quo gekennzeichnet. Kurzum: Wie gut einem der Kopier-Blitz getan hat, lässt sich nicht quantifizieren; inzwischen legen aber immer öfter Kollegen ihren Kopf mal kurz auf den Kopierer. Aus dem Kopierraum kommen eigentlich nur frohgemute Lehrer.
Der Begründer der Liminalitätsforschung V. W. Turner beobachtete in Namibia, dass an einem Tag im Jahr der König den Müll wegbringt und die Latrine saubermacht. Für Turner gilt hiervon abgeleitet, dass jeder Ritus grundsätzlich Aussetzung und Umwertung ist. Das „Nicht-Weiter-So“, das Anderssein bildet das Geheimnis des Sonntags; liminalitätstheoretisch wäre so gesehen auch der Ausspruch von J.-B. Metz: „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“ (Metz, J. B., Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977, S. 150). Religionen sind voller Beispiele für Umwertungen und Neuperspektivierungen: Die Ersten werden die Letzten sein, das verlorene 100. Schaf ist das wichtigste, wichtiger als die 99 braven Schafe; vgl. auch die mittelalterliche Tradition des Judentums, wonach der Lehrer die höchste Lehrautorität besaß, der den einfachsten Beruf ausübte. Dass man den Talmud studierte, war klar, alle mussten daneben einer Erwerbsarbeit nachgehen. Oder vgl. die Befreiungstheologie, in der vom „erkenntnistheoretischen Privileg der Armen“ die Rede ist; die Armen haben mehr Recht als etablierte Wissenschaftler. 38 Turner, W. V., Vom Ritual zum Theater, Frankfurt a. M. 1989, S. 127. Ausgehend von A. v. Genneps „rites de passage“ (Übergangsriten) und Max Gluckmans „rituals of rebellion“ versteht Turner Riten, die er von Zeremonien unterscheidet, als Übergänge und definiert insgesamt liminale Zwischenstadien als Freiräume einer „Antistruktur“, die durch Inklusion, Gleichheit, Solidarität und Spontaneität, Statuswechsel (communitas) geprägt sind. Ein liminaler Zustand ist ein Moment des Aussetzens der bisherigen sozialen Ordnung, des Stillstands der Systemreproduktion – ein solcher Stillstand war ja auch Walter Benjamins Charakteristikum von Revolution – bzw. ein Moment des religiös-politischen Akts, in dem der Einzelne mehr tut, als er beabsichtigte, und sein Tun nicht subjektvieren kann. Bubers „Zwischen“ wird von Turner als sozialer Übergang angesehen und als liminal betitelt. Girard, R., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine Apologie des Christentums, München Wien 2002, S. 119, hebt ebenso die Übergangsriten als Initiierung von Veränderung hervor. Nach Girard liegt in derartigen Riten nach wie vor die entscheidende menschliche Orientierungsfunktion, nicht in einer blutleeren Vernunft (a. a. O., S. 121). 37
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Wahrscheinlich würde die Kunstszene von Assemblage oder Displacement, von Aktions-/ Konzeptkunst oder einem Happening mit fragmentierten, dekomponierten, dekontextualisierten Körpern sprechen. Die blutrünstigen Wiener Aktionisten, allen voran Hermann Nitsch, hätten vor 20 Jahren sicher drastisch mit tatsächlichen, abgeschnittenen Tierohren experimentiert und sich auf archaische Opferbilder (und vielleicht auf das Ohr des Malchus aus der Passionsgeschichte, das Petrus abschlug) bezogen, aber das wären Realitätsorgien, die den Charme des Virtuellen verkennen. Das Ohrprojekt geht hier viel subtiler, zivilisierter und hellsichtiger/hellhöriger vor. Kopien statt Messer sind nötig, um zum Wesentlichen zu kommen und das Ohr als Zentrum der Humanisierung auszuweisen. Günther Anders pointiert: „Nicht nur gilt: Originale werden kopiert, sondern ebenso, was kopiert wird, wird dadurch zum Original.“39
Das soziale Ohr von Weihnachten Das Ohrprojekt reflektiert den „atmosphärischen Resonanzraum“ des Lehrerzimmers. Es reflektiert den Umstand, dass wir ständig mit der Frage beschäftigt sind, zu ermitteln, was die anderen von uns wollen, wie der andere etwas gemeint hat, wenn er etwas gemeint hat. Das Ohr stellt die Sensorik bereit, die soziales Interagieren ermöglicht. Das Ohrprojekt konfrontiert uns nun mit einer einfachen und unmöglichen Zuordnungsaufgabe der Identifizierung der Lehrerohren. Es veranschaulicht damit zugleich Grenzen und Grund der Kommunikation, die unaufhebbare Fremdheit des Anderen. – Und man erinnere sich an die Aussagen von Lévinas, der darauf pocht, den Anderen als Geheimnis zu belassen. Für ihn fängt Rassismus bereits da an, wo die Fremdheit des Anderen übertönt, Fremdes unsichtbar wird. (Das Ohr, das für die Fremdheit des anderen steht, deutet also eine utopisch-unmögliche Gemeinschaft ohne Gruppendruck, ohne ängstliches Beschwören von Zugehörigkeiten an.)40
Anders, G., Übertreibungen in Richtung Wahrheit, München 2002, S. 107. Schütze, J. K., Vom Fremden, Wien 2000, S. 58: „Rassismus fängt an, wenn Fremdes unsichtbar wird.“ Lévinas plädiert für eine Gemeinschaft, die nicht ängstlich auf Gemeinsamkeiten pocht und so mimetischen Gruppendruck erzeugt, schließlich Sündenbockmechanismen etabliert und in „Neidreaktoren/Eifersuchtkraftwerken“ (Sloterdijk) hohe Stresspotentiale aufbaut, sondern auf die Achtung von Fremdheit ausgerichtet ist. Die Anerkennung der Fremdheit ist immer wieder neu vom Gesicht des Anderen zu lernen. Es gibt also kein Wissen/Können auf dem Feld des Sozialen, sondern nur das irritierte Staunen über die Fremdheit des Anderen, vgl. das biblische Bilderverbot und die Zitate des ersten Teils. Das Bewusstsein überhaupt ist für ihn die nie endende Frage, wie man dem Anderen gerecht werden könnte … Es gibt keinen eigenwilligeren Sozialphilosophen als Lévinas; vgl. den Alteritätsdiskurs und die Philosophie der Spur (Dekonstruktion), die auf Lévinas zurückgehen.
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Das Projekt lädt also dauerhaft dazu ein, über die Artifizialität und Fremdheit des Ohrs, zumal die des Lehrerohrs zu staunen und das Paradigma der Mimesis/Nachahmung hinter sich zu lassen. Es macht die Fremdheit des Anderen direkt ansichtig und es feiert Pluralität („Es lebe der Vielfall“, O. Marquard). Der Blick, der immer schon Ganzheiten wahrnehmen will, ist grundsätzlich von einem Vorverständnis geleitet; H. G. Gadamer spricht sogar von Vorurteilen, die den Blick elementar verstellen. Der wissende Blick, der es mit Vertrautem zu tun haben will, ist voreingestellt durch Präferenzen und Erwartungen. In Konfrontation mit einem unbekannten Detail des Lehrkörpers wird aber sichtbar: Das einzelne Ohr zieht die unverminderte Sympathie eines jeden von uns auf sich. – Der unwissende, fragend-irritierte Blick ist also der klare, ungetrübte Blick. Das Ganze zu sehen meinen, bedeutet dagegen sicher: irregeleitet sein.41 Das Ohrprojekt spiegelt auf diese Weise die wunderbare Konnektivität zwischen den Kollegen. Die Sympathie untereinander gründet in einer Sympathie der Ohren, die Faszination des Anderen liegt im magischen Angezogensein vom (Ohr-)Detail42. Die Ohren strahlen etwas Friedliches, Harmonisches aus, was unserem tiefen Happyendund Harmoniebedürfnis entgegenkommt. Das macht das Ohr zum Organ der Weihnacht. Wenn wir Buddhisten wären, wäre uns das Bild geläufig, dass der Religionsgründer über das Ohr der Mutter durch einen heiligen Elefantenrüssel ungezeugt empfangen und durch ihre Seite schmerzfrei geboren wurde. Nun ist für Theologen das Christentum alles andere als eine Stifterreligion. Im Christentum ist viel die Rede von der dringend notwendigen Geburt des Christkindes in einem jeden von uns (Angelus Silesius). Die in der Ohrmetaphorik zu formulierende (natal-religiöse) Erkenntnis lautet: Wir wären verloren, wenn wir uns nicht mehr von dem Ohr des Anderen rühren ließen. Etwas häretisch formuliert: Die Geburt des Christkinds setzt eine vorherige (buddhistische oder wie auch immer geartete) Ohrzeugung
Das führt zur talmudischen Regel: „Wenn jedermann einwilligt, einen Angeklagten zu verurteilen, lasst ihn frei, er muss unschuldig sein.“ Vgl. Girard, a. a. O., S. 153, oder auch Adornos Totalitätskritik: „Das Ganze ist das Unwahre.“ Vgl. auch Baudrillard: „So beendet man die Totalität. Wenn sich die gesamte Information in jedem ihrer Teile wiederfindet, verliert das Ganze seinen Sinn“ (ders., Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, S. 134). Baudrillard spricht hier vom Klonen und Kopieren als dem „letzten Stadium der Geschichte“ (S. 136): „Der Unfall ereignet sich an der Peripherie, das Fatale im Innern eines Systems“ (S. 48): Baudrillards Apokalypse rechnet mit dem Zustand der Ent-Entfremdung. Dieser wäre das Nicht-Merken der Entfremdung, die ultimative Not; denn hier fehlt das Fehlen, also das Bewusstsein der Not; für diesen Zustand gilt auch: „Es gibt keine Entfremdung des Menschen durch den Menschen mehr, nurmehr eine Homöostase des Menschen durch die Maschine“ (S. 69). 42 Vgl. Lacans Theorie der Partialobjekte, die das Subjekt zum Genießen verleiten und zutiefst destabilisieren. 41
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voraus. (Dass sich via Kopierer Ohrzeugungen vollziehen, ist religionsgeschichtlich noch nicht belegt.)43 Das dankbare Ohr Wenn man die Lehrerohrbilder seiner Kollegen sieht, kann man den Verbindungslehrern nur Danke sagen. Den Dank dafür, dass die Schüler ein Jahr lang relativ friedlich miteinander ausgekommen sind, muss man an irgendwen adressieren. Und es ist angebracht, diesen Dank den Verbindungslehrern auszusprechen. Sie sind als Sozialklima-Techniker unterwegs, frei nach dem Motto: we connect people, und fungieren dabei als „verschwindende Vermittler“. (Der Begriff des Technikers hat an einer berufsbildenden Schule positive Konnotationen). Die Verbindungslehrer feiern die hellhörigen Lehrerohren, die für die Anliegen der Schüler offen sind. Sie plädieren dafür, das geheimnisvolle Ohr und damit die Nichtobjektivierbarkeit der Schüler zu sehen, also der alten pädagogischen Wahrheit Theodor Litts verpflichtet zu sein: „Je mehr die Objektbetrachtung die Oberhand gewinnt, umso sicherer geht der erzieherische Wille in jene pseudopädagogische Herrschsucht über, der es nur darauf ankommt, am Zögling bestimmte, aus welchen Gründen auch immer gewünschte Wirkungen hervorzubringen.“44
Die Verbindungslehrer sehen in beuysscher Manier das Soziale als eigentlich faszinierenden Kunstgegenstand, Schule als Sozialplastik, jeden als immer schon beteiligten Künstler, wobei es
Vgl. Manthey, J., Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München Wien 1983. Auf Verkündungsbildern nimmt der Erzengel Gabriel Maria gegenüber häufig Amor-Verliebtheitsposen ein, auf einem Altarbild des Kölner Doms trägt er auf seinen Flügeln Muster von Körperöffnungen und zeugt mit dem Blick. Zur „Erotik“ der Mariendarstellungen gehört zuweilen eine ausladende, etwas auf die Seite gekippte, empfangsbereite Hüfte – vgl. auch die buddhistische Mythologie (Feld, H., Maria. Weltliche Meditationen über kirchliche Dogmen, Düsseldorf 1977, S. 47–53). 44 Litt, Th., Erziehung, keine Technik, in: Flitner, W. (Hg.), Die Erziehung. Pädagogen und Philosophen über die Erziehung und ihre Probleme, Bremen 1953, S. 491. Für Litt gehört es zum „vornehmsten“, „ureigensten Sinn“ von Erziehung, „das Gegenüber … [nicht] wie ein Objekt zu visieren, das man auf Grund von planender Vorausberechnung in eine bestimmte Verfassung zu bringen hat.“ Pädagogik überschreitet jedes Planbarkeitsmodell, jede „Technik der Menschenbearbeitung.“ – Übrigens wurde das Exemplar des Buches, aus dem das Zitat stammt, aus der Bibliothek eines Studienseminars mit der Begründung ausgemustert, man brauche mehr Platz. Man darf vermuten, man wollte vielmehr den eigenen Klassikern ausweichen, sich der Vergangenheit des eigenen Faches entledigen und letzte Spuren eines unbequemen Erbes verwischen. 43
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darauf ankommt, Kältemomente zu minimieren und zu einer sozialen Klimaerwärmung (natürlich nicht -Überhitzung) beizutragen.45 Schulische Ohr-Kunst arbeitet nicht mit Fett und Filz, sondern mit den Mitteln, die hier zur Verfügung stehen, d. h. mit dem Kopierer. Es zeigt, wenn kopiert wird, dann bedeutet das noch lange nicht, dass etwas imitiert wird, es kann durch die Kopie etwas Neues entstehen.46 Für die Schule gilt sowieso: Im Anfang war die Kopie, die Ohrkopie als Urkopie. Wenn die Macher des Ohrprojekts selber von Zufall reden und die Ohr-Idee herunterspielen, so ist ihnen der Satz von Aristoteles entgegenzuhalten: „Die Kunst liebt den Zufall und der Zufall die Kunst“47: Man wüsste gerne schon jetzt, welches neue Experiment im Lehrerzimmer48 entstehen könnte, derzeit bleibt aber nur die Zuversicht, dass wirklich Neues nicht erzwungen, sondern allein der Gelegenheit oder dem Zufall abgelauscht wird. Das künftige Ohr
„Der hinfällig langsame Individualkörper ein rasant vernetzter Datenschatten seiner selbst? … Durch Alphabetisierung, Kulturalisierung, Christianisierung, Technologisierung und Digitalisierung zusammengeschrumpft, wird er [der Körper] sich bald als Er-
Dass der äußerliche Treibhauseffekt ein missglückter Versuch einer sozialen Aufheizung, ein Affekt gegen den „sozialen Kältetod“ (Lorenz) ist, ist eine ältere These von Sloterdijk, über deren praktische Relevanz man natürlich streiten muss. 46 Der Satz „Im Anfang war die Kopie“ bedeutet nicht, dass Kollegen an Ostern mit toten Hasen auf den Armen durchs Lehrerzimmer gehen und Sätze deklamieren wie „Demokratie ist lustig“, „Die Transsubstantiationen finden heute im Hauptbahnhof (oder in der Kantine) statt“: „Das Zitat befreit [vielmehr] vom Geist des Zitierten.“ 47 Aristoteles, NE 1140a19–20. 48 Der Vorschlag von Soziolinguisten, angesichts der Mehrzahl von Lehrerinnen in den Kollegien das Lehrerzimmer in „Lehrerinnenzimmer“ umzubenennen, erscheint wenig innovativ; ihm ist die sophistische Überlegung an die Seite zu stellen: Erst das mittlerweile auch im Rundfunk verbreitete Gendern mit Sprechpause wird neue Bedeutungsnuancen vernehmbar/hörbar machen, die auch Kabarettisten und Sprachakrobaten wie Friedhelm Kändler gefallen werden. So spiegelt „Lehrer_innenzimmer“/“Lehrer-Innenzimmer“ treffend die „splendid isolation“ eines privilegierten Fluchtpunkts in einer unwirtlichen Institution, die hermetische Abriegelung einer No-go-Area für Schüler, den Rückzug in ein rettendes Refugium. Unterrichtsräume sind im Gegensatz dazu offenere, durchlässigere „Außenzimmer“, „Nichtorte“ (Augé). Der Sinn und die Legitimation der Kontaktvermeidung und -exklusion wird ohnehin in der Theorie selbstreferenter Systeme erläutert; und vor den verschlossenen Türen der „Lehrer-Innenzimmer“ lagern und warten auch weiterhin die Schüler mit ihren diversen kleinen Bitten und großen Anliegen wie einst die Bettler vor der päpstlichen Engelsburg in Rom. 45
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innerungsspur aushauchen. … Die neuesten Inquisitionsmodelle sind nicht nur unendlich subtiler, sondern scheinen in ihrer Wirksamkeit penetranter und erfolgreicher als alles je zuvor: Die derzeitige Digitalisierung des Körpers richtet ihre schmerzlose Werkstätte der Inquisition in den entmaterialisierten Gefilden von Internet und Cyberspace, am Arbeitsplatz und zu Hause, vor dem Bildschirm des Computers oder des Fernsehapparats oder im interaktiven Eid auf die Bibel von virtual reality [ein].“ – Josef Schweikhardt, Vintila Ivanceanu49
Angeleitet durch das Ohrprojekt ist man in Zukunft jedenfalls skeptisch, wenn von MenschMaschine-Kommunikation die Rede ist. Das Ohrprojekt hat jedem die Suche nach dem Ohr des Anderen aufgegeben. Gerade im Umgang mit dem Kopierer sucht der hilflose Bediener häufig vergebens nach dem Ohr des Geräts. Das führt zu dem vorläufigen Kurzschluss: Solange der Kopierer noch kein künstliches Ohr hat, das der menschlichen Anatomie nachmodelliert ist, muss man sich über Posthumanismus und Cyborgisierung im Kopierraum keine Gedanken machen. Aber genau hier ist an Luhmanns ultimativ resignative Einsicht zu erinnern, mit der man sogar anstrengende Festtage überlebt: „Verstehen ist ein Missverstehen ohne ein Verstehen des Miss.“50
Positiv umgewertet lautet der Satz: Jeder versteht immer etwas, nie alles und nie nichts. Negativ ausgedrückt heißt der Satz: Verstehen ist eine Illusion, die solange nicht auffällt, bis einem das Missverständnis zwangsläufig und unerwartet um die Ohren fliegt. Vielen Dank für das geneigte Ohr! Schweikhardt, J., Ivanceanu, V., ZeroKörper. Der abgeschaffte Mensch, Wien 1997, S. 11f, 52. Luhmann, N., Die Realität der Massenmedien, Opladen (2. Aufl.) 1996, S. 173. – Noch vor ein paar Jahren war das Aufkommen und die rasche Verbreitung von „Alexa“ und ihren Sprachassistenz-Kollegen nicht abzusehen. Der am 23.5.2019 veröffentlichte UNESCO-Bericht kritisiert die „eingestellte Unterwürfigkeit“ von Sprachassistentinnen/weiblichen Stimmen und warnt davor, Millionen Menschen könnten sich daran gewöhnen, Assistenten mit weiblicher Stimme herumzukommandieren, und so zu Sexismus/Frauendiskriminierung/Geschlechtsstereotypien angeleitet werden. Der Ruf nach einer Modifikation der Assistenten, die sich nun auch gegen rüde Behandlung wehren können sollen, wäre ein technologischer Lösungsversuch. – Völlig antiquiert erscheint der Ratschlag, sich nur noch einem Gegenüber zuzuwenden, der ein menschliches Ohr hat, nur noch dem Gehör zu schenken, was nach einer menschlichen Stimme klingt. Eine Google-App verspricht bereits, lästige Telefonate, die Absage von Terminen, das Bestellen von Artikeln etc., zu übernehmen. Künftige Telefon-Apps werden die Stimme der Nutzer perfekt imitieren, so dass nicht mehr klar ist, wer der Gesprächspartner ist. Auch ein „digitales Vermummungsverbot“ wird die Enthemmung indirekter Kommunikationsverhältnisse wohl nicht aufhalten können.
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5.2 Weihnachtsbaum und Krippe
Postkarte/Blatt des Weihnachtsbaums Um klarzumachen, dass die heimelige Binnenatmosphäre bürgerlicher Selbstbestätigung und trauter Familienidylle nicht den Weihnachtsimpuls ausmacht, erscheint im Sinne der Theologie des Rests die Installation eines alternativen Weihnachtsbaums geboten: Er besteht aus lediglich einem dem duchampschen Flaschenständer vergleichbaren Drahtgestell (etwa einem Postkartenverkaufsständer). An dem Gerüst in dem Ständer befinden sich den Nadeln vergleichbar Karten mit der Aufschrift: „Und blüht nicht nur zur Sommerzeit, nein …“ Der Satz aus dem bekannten Lied „Oh Tannenbaum“ verdeutlicht die Negativität der weihnachtlichen Botschaft: Die grünen Zweige des Tannenbaums im Kontrast zur ansonsten wenig belebten Winterzeit sind vor allem ein Symbol der Negativität, des Widerstands gegen den Augenschein, ein Protest gegen die scheinbar unabweisbare Faktizität, gegen den „natürlichen“ Gang der Dinge oder den winterlichen Stillstand. Die subversive Dimension des Festes – die geradezu aufrührerische Logik des „Verweilens im Negativen“, die Kritik des Status quo, die zu allen Zeiten eine gefährliche Brisanz besitzt, die Hoffnung wider alle Hoffnung, der Impuls der Veränderung, des Anbruchs des Neuen – wird durch die kommerzialisierten herkömmlichen Formen christlicher Symbolik zunehmend verdeckt. Die vertraute Symbolik des Weihnachtsbaums droht zunehmend im Klima des marktkonformen Totalrückzugs ins Private die Spuren der „gefährlichen Erinnerung“ zu verlieren. 304
5.2 Weihnachtsbaum und Krippe
Alternativer Weihnachtsbaum Eine Krippe wäre resttheologisch ebenso abstrakt und einfach neu zu konstruieren: Es handelt sich um eine mit Baustellenband überklebte Tür zu einer Abstellkammer oder einem gemiedenen Bereich; jedes Gebäude, jede Kirche oder Institution braucht auch in ihren Örtlichkeiten Platz für Gerümpel, Keller- und Lagerräume.51 Vor dem abgesperrten Raum ist ein Schild angebracht:
Vorsicht Krippe 20XX. Hinter dieser Tür könnte das Geheimnis von Weihnachten verborgen sein. Bitte nicht öffnen. Sie könnten enttäuscht sein!
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In der Schule kann die mit Baustellenband zu überklebende Tür die Tür zum Kopierraum sein.
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Krippen stilisieren die Unscheinbarkeit und Marginalität, in der (dennoch oder gerade) Unbedingtes, Wunderbares aufscheinen kann. Wenn man wissen will, um was es bei Weihnachten geht, kommt man nicht umhin, Gewöhnliches, Geringstes oder alltäglich Abgewertetes oder als unbedeutend/verloren Qualifiziertes aufzusuchen oder neu sehen zu lernen, das Unscheinbare der Ankunft des Höchsten für würdig zu erachten.
5.3 Advent-Zitatbaum „Im wahrsten Sinne des Wortes sind wir das, was wir zitieren.“ – Geoffrey O’Brien „Die Worte, die wir gebrauchen, sind die Welten, in denen wir leben.“ – Richard Ford52
2013 wurde im Foyer des Lehrerzimmers ein „Zitatbaum“ mit adventlichen Zitatmobiles installiert. Zitate ersetzen die grünen Zweige, visualisieren die Dimension des Aufbruchs, die mit Weihnachten und Advent angestoßen werden soll. Da Advent als Zeit des Aufbruchs, der Ankunft (adventus) verstanden werden will, sprechen vier Zitatketten zu den Themen: „Reflexion – Zeitkritik“, „Aufbruch – Befreiung“, „Hoffnung, Erwartung – Perspektivwechsel“ und „Offene Zukunft – Horizonte: Toleranz und Pluralismus“ die Dringlichkeit und Radikalität von Veränderungen an. Die präsentierten Zitate von zeitgenössischen Philosophen haben eine säkulare Dimension, die die existentielle Relevanz der Weihnachtsthematik aufzeigen und eine Rezeption über Konfessionsgrenzen hinweg erleichtern. Die Zitatketten waren länger; um Zitatdopplungen zu vermeiden, wurden einige der schon verwendeten Zitate herausgenommen oder ausgetauscht. (Die Mehrfachverwertung ist eine zentrale Überlebensstrategie im Lehreralltag; Wiederholungen sind rechtfertigt, so das griechische Motto „dis kai tris to kalón“/“Zwei- und dreimal soll man das Schöne sagen“ oder Horaz’ Sentenz „lectio quae placuit decies repetita placebit“53. Goethe gibt in seinen „Maximen und Reflexionen“ noch eine andere Begründung für das Repetieren des Widerständigen; es gilt, hiermit das Regime des Verdrängens und Verleugnens aufzubrechen: „Man nehme das nicht übel. Eben dasjenige, was niemand zugibt, niemand hören will, muss desto öfter wiederholt werden.“54)
O’Brien, G., Ford, R., zit. n.: Krach machen! Worte, die die Welt verändern“, Berlin 2018 (Phaidon-Verlag, ohne Herausgeber), S. 12, 14f. 53 Vgl. auch den Ausspruch des Empedokles von Akragas: „Was nötig ist zu sagen, kann man auch gut zweimal sagen.“ 54 Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 459 (Nr. 667). 52
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5.3 Advent-Zitatbaum
Reflexion – Zeitkritik „Die ersten Weckreize vertiefen den Schlaf.“ – Walter Benjamin55 „Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu ‚erkennen‘, das heißt als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als ‚außer uns‘ zu sehn …“ – Friedrich Nietzsche56 „Verzauberter, fetischistischer und exzentrischer dürfte keine Kulturepoche gewesen sein als die der späten Moderne.“ – Jochen Hörisch57 „Die alte Welt stirbt, und die neue Welt erkämpft sich ihren Platz: Die Zeit der Monster ist gekommen.“ – Antonio Gramsci58 „Wir wagen nicht zu denken, wie wir leben.“ – Werner Stegmaier59 „Since the world drives to a delirious state of things we must drive to a delirious point of view.“ Deliriöse Zeiten erfordern trunkene Sichtweisen. – Jean Baudrillard60 „Bloßstellung ist zynisch; und wenn der Zyniker sich auch besonders ehrlich vorkommt … Es ist mir einmal eindrucksvoll gewesen, dass Frau v. K. mir mit wirklichem Entsetzen von einem Film erzählte, in dem das Wachstum einer Pflanze mit Zeitraffer dargestellt war; sie und ihr Mann hätten das nicht ertragen können als ein unerlaubtes Eindringen in das Geheimnis des Lebens … ‚Verrat‘ z. B. ist nicht Wahrheit, ebenso wenig wie Frivolität, Zynismus etc.“ – Dietrich Bonhoeffer61 „Wie soll man ein Gefängnis aus Bildern öffnen?“ – Dieter Kamper62
Benjamin, W., zit. n.: Steinweg, M., Splitter, Berlin 2017, S. 71. Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 240. 57 Hörisch, J., „Schrift frißt Schöpfung“. Die Macht der Medien, Manuskript des SWR 2 Aula-Vortrags vom 1.3.1998, S. 11. 58 Žižek, S., Willkommen in interessanten Zeiten, Hamburg 2011, S. 88. 59 Stegmaier, W., Nietzsches Genealogie der Moral, Darmstadt 1994, S. 143. 60 Baudrillard, Transparenz des Bösen, Berlin 1992, S. 7. 61 Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung, Gütersloh (13. Aufl.) 1985, S. 87–88, 191. 62 Kamper, D., Je mehr Zufall, desto mehr Spiel; in: Hammel E. (Hg.), Synthetische Welten, Essen 1996, S. 110. 55 56
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
„Denn auch wenn Inhalte verloren gehen, bleibt keine Leerstelle zurück. An die Stelle von Inhalten treten Inhaltsverwaltungsprozesse oder zeitgemäßer formuliert: Management, Organisation, Inszenierung, Virtuosität. Werden inzwischen Rufe nach den alten Bildungsidealen wieder laut, ist dies nichts anderes als der Wunsch nach Orientierungswissen.“ – Nina Degele63 „Die menschheit mailt Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, als daß es fehlt“ – Reiner Kunze64 „Wir vergewissern uns unserer eigenen Traditionen nur, indem wir sie dem Dialog aussetzen. Der Dialog mit anderen ist Teil eines Dialogs in uns selbst.“ – Gerd Theißen65 „Nachsichtigkeit ist uns aufgezwungen; wenn wir andere verstehen wollen, müssen wir ihnen in den meisten Dingen recht geben, ob wir das mögen oder nicht.“ – Donald Davidson (Principle of Charity) 66
Aufbruch – Befreiung „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft.“ – Harvey Cox „Ins Gelobte Land kommt nur der, der nicht weiß, wohin er geht.“ – Leo Schestow „Die Ungewissheit ist das Merkmal und die Gewissheit ohne Ungewissheit ist das Merkmal dessen, dass man sich nicht zu Gott verhält.“ – Sören Kierkegaard67
Degele, N., Informiertes Wissen, Eine Wissenssoziologie der computerisierten Gesellschaft, Frankfurt a. M. New York 2000, S. 307. 64 Kunze, R., die stunde mit dir selbst, Frankfurt a. M. 2018, S. 31: Kunze fügt immer schon Zitate in seine Gedichtbände ein, die dadurch fast gleichrangig neben den eigenen Gedichtzeilen stehen und eine besondere Würde erhalten; so etwa auch René Chars Aussage (S. 29): „Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller; das will besagen: Einsamkeit, die die Möglichkeit hat, sich anzuvertrauen.“ 65 Theißen, G., Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh, (3. Aufl.) 2003, S. 14. 66 Davidson, D., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, S. 280. 67 Kierkegaard, S., Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Düsseldorf 1953, S. 163. 63
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5.3 Advent-Zitatbaum
„Lieber irren wir uns, als nicht zu vertrauen. … wo ein Vertrauen sich ausdehnt, können Menschen zaubern.“ – Alexander Kluge68 „Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“ – Jean-Paul Sartre69 „Es geht nicht darum, gefangen zu sein, sondern darum, sich nicht zu ergeben.“ – Nazim Hikmet70 „Was befreit, wenn man sich der Tradition anvertraut, ist nicht die zwingende Evidenz von Prinzipien, Gründen, zu denen wir gelangen müssen, um uns das, was uns geschieht, endlich deutlich erklären zu können, vielmehr ist es der Sprung in den Abgrund der Sterblichkeit.“ – Gianni Vattimo71 „Die Zeit als Warten – Geduld, die passiver ist als alle zu Akten korrelative Passivität – wartet auf das Unfassbare.“ „Das Sagen ist Öffnung, ein neuer Grad an Passivität. …“ – Emmanuel Lévinas72 „Wenn das Denken, von einer Sache angesprochen, dieser nachgeht, kann es ihm geschehen, dass es sich unterwegs wandelt.“ – Martin Heidegger73 „Dieses Anfangen des Menschen bekundet sich am stärksten in dem Vorgang der Umkehr.“ – Martin Buber74
Kluge, A., Die Kunst, Unterschiede zu machen, Frankfurt a. M. 2003, S. 97. Sartre, J.-P., Saint Genet, zit. n.: Eribon, D., Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 219. 70 Hikmet, N., zit. n.: Yücel, D., Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte, Hamburg 2017, S. 187. 71 Vattimo, G., Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, S. 129. 72 Lévinas, E., Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg München (3. Aufl.) 1999, S. 93, 113. 73 Heidegger, M., Identität und Differenz, Pfullingen (5. Aufl.) 1976, S. 9. 74 Buber, M., Der Glaube des Judentums, in: Wilhelm, K. (Hg.), Jüdischer Glaube, Köln 1998, S. 509. 68 69
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Hoffnung, Erwartung – Perspektivwechsel „Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, dass es ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen. Hoffnung ist am ehesten bei den trostlosen.“ – Theodor W. Adorno75 „Das Jenseitige ist nicht das unendlich Ferne, sondern das Nächste. … Nicht die unendlichen unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Jenseitige.“ – Dietrich Bonhoeffer „Die Wirklichkeit ist keine Frage des absoluten Zeugen, sondern eine Frage der Zukunft.“ – Jean-Francois Lyotard76 „Entweder leben wir alle in einer anständigen Welt oder niemand tut es.“ – George Orwell „Manchmal müssen wir die Arbeit machen, obwohl wir uns nicht im Entferntesten vorstellen können, dass sie tatsächlich möglich sein wird.“ – Angela Davis „Irgendjemand muss es tun? Warum nicht ich?“ – Annie Besant77 „Hoffnung ist niemals heruntergetropft, sie ist immer emporgeschossen.“ – Studs Terkel „Das Ausmaß deiner Träume muss immer deine Möglichkeiten übersteigen, wenn dir deine Träume keine Angst einjagen, sind sie nicht groß genug.“ – Ellen Johnson Sirleaf78 „Wohlfühlen ist nicht genug, gib einen politischen Impuls.“ – Tania Bruguera „Das Schweigen wird dich nicht schützen.“ – Audre Lorde
Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 255 (Nr. 143). Vgl. die nach Paulus angemessene Hoffnung: „die Hoffnung wider alle Hoffnung“ (Röm 8,24). 76 Lyotard, J.-F., Der Widerstreit, München 1989, S. 99. 77 Davis, A., Besant, A., zit. n.: Krach machen!, Berlin 2018 (Phaidon-Verlag ohne Herausgeber), S. 140f, 76, 67. 78 Terkel, S., Sirleaf, E. J., zit. n.: ebd., S. 77–79. 75
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5.3 Advent-Zitatbaum
„Du kannst nicht dein ganzes Leben etwas kritisieren und dann abhauen, wenn du etwas ändern kannst.“ – Václav Havel79 „Weigere dich, Komplize zu sein.“ – Simone Weil „Fordere sie heraus, dass sie dich zensieren.“ – Ken Loach80 „Du wirst niemals frei sein, bis wir alle frei sind.“ – Desmond Tutu „Protest wird immer notwendig sein.“ – Chinua Achebe81 „Wann ist es mir ernst? wenn die Phantasie einsetzt“ „Kultur hat noch nichts erreicht, solange sie dich nicht zu Geduld und Nachsicht geführt hat.“ – Peter Handke82 „… bedenken, dass eine jede Idee immer als ein fremder Gast in die Erscheinung tritt und wie sie sich zu realisieren beginnt, kaum von der Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden ist.“ – Johann Wolfgang von Goethe83
Offene Zukunft – Horizonte: Toleranz und Pluralismus „Eine neue Welt ist nicht nur möglich, sie entsteht bereits, an stillen Tagen höre ich sie atmen.“ – Arundhati Roy84 „Mut ist genauso ansteckend wie Angst.“ – Susan Sontag „Gerechtigkeit ist die Personifizierung der Liebe, die sich in der Öffentlichkeit ausbreitet.“ – Cornel West85 81 82
Bruguera, T., Lorde, A., Havel, V., zit. n.: ebd., S. 95, 88, 86. Weil, S., Loach, K., zit. n.: ebd., S. 80, 124f. Tutu, D., Achebe, C., zit. n.: ebd., S. 36, 170. Handke, P., Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, S. 440–488. 83 Goethe, zit. n.: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes, Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 70. 84 Roy, A., zit. n.: Krach machen!, Berlin 2018 (Phaidon-Verlag ohne Herausgeber), S. 130. 85 Sontag, S., West, C., zit. n.: ebd., S. 122, 114. 79 80
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„In meinem Leben habe ich genug Veränderungen gesehen, um zu wissen, dass Verzweiflung nicht nur selbstzerstörerisch, sondern unrealistisch ist.“ – Susan Griffin86 „Wenn Du Fehler machst, dann in Richtung Güte.“ – George Saunders87 drei wünsche für das neue jahr durchsichtige zäune hartnäckige fragen (im nacken ein wenig flaum) brücken, die beim vormarsch brechen. – Reiner Kunze88 „Darin bleiben wir Kinder, dass das Freundliche doch bis zuletzt unsere Nahrung ist.“ – Carl Jacob Burckhardt89 „Mit einem Sich-Bedanken kehrte sein Vertrauen in die Menschheit zurück.“ – Peter Handke90 „Ich schaue und schaue. Dazu bin ich berufen: Die Dinge zu preisen, weil es sie gibt.“ – Czeslaw Milosz91
5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte „Die Gespenster werden nicht verhungern, aber wir werden zugrunde gehn.“ – Franz Kafka92 „Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen.“ – Georg W. F. Hegel93
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Griffin, S., zit. n.: ebd., S. 58. Saunders, G., zit. n.: ebd., S. 143. Kunze, R., drei wünsche für das neue jahr, Kalenderspruch. Burckhardt, C. J., zit. n.: Kunze, R., die stunde mit dir selbst, Frankfurt a. M. 2018, S. 47. Handke, P., Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, S. 418. 91 Milosz, C. (aus dem Gedicht „Die Schmiede“), zit. n.: Kleinschmidt, S., Spiegelungen, Berlin 2018, S. 231 (Kap.: „Sichtbarkeit des Wunderbaren“). 92 Kafka, F., zit. n.: Han, B.-Ch., Im Schwarm, Berlin 2013, S. 72. 93 Hegel, G. W. F., zit. n.: Gabriel, M., Das Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 57. 86 87
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
„Leicht aufzuritzen ist das Reich der Geister, / sie liegen wartend unter dünner Decke, / und leise hörend stümen sie herauf.“ – Friedrich Schiller94 „Hier ist alles unsicher … es ist sehr schön und sehr schauerlich.“ „Spuk ist, aber wird nie gemacht – Spuk ist natürlich.“ „Treibt man etwas auf die Spitze, so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel … Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabei gewesen.“ – Theodor Fontane95 „Alles Reale ist ein Restbetrag, und alles, was ein Rest ist, muss sich im Phantasma wiederholen.“ – Jean Baudrillard96
Herzzerreißend ist die Geschichte des kleinen schwerkranken Evan Wellwood, die im Herbst 2015 durch die Presse ging. Für Evan wurde das Weihnachtsfest vorverlegt. Da er wohl Weihnachten nicht mehr erleben würde, wurde alles getan, ihm noch einmal das Fest zu bereiten, das er so sehr mochte. 7000 Leute aus der kanadischen Gemeinde St. George waren auf den Beinen, um Evan bereits im Oktober einen Weihnachtsumzug zu bescheren.97 Das Geschehen um Evan Wellwood erinnert entfernt an Bölls tragikomische Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“98 von 1951, die von einer vom Krieg traumatisierten älteren Frau erzählt, die an jedem Sonntag Weihnachten feiern will. Die Familie muss äußerste Anstrengungen aufbieten, um das große Fest permanent zu organisieren; in diesen Versuchen, Weihnachten zu entfristen und zu universalisieren, klingt die alte Erkenntnis von Angelus Silesius an: „Wär Christus tausendmal in Betlehem geboren – / und nicht in dir, / du bleibst noch ewiglich verloren.“99 Das Weihnachtsgeschehen lässt sich also nicht nur aus dem gewohnten Kontext (Kirchenjahr, Familienfeier) herauslösen; das Re-Enactement von Weihnachten ist vornehmste Christenpflicht. Die unlösbare Aufgabe von Festausschüssen in Kollegien besteht allerdings häufig darin, einen wie auch immer konstruierten Weihnachtsbezug zu der üblichen vor den Weihnachtsferien anberaumten Party herzustellen. Es gelingt nicht immer, eine Weihnachtsgeschichte zu erzählen, in der ein direkter Bezug zum Schulgeschehen
Ausspruch Thibauts, Johannas Vater, aus: Schiller, F., Die Jungfrau von Orleans, V. 132–134. Fontane, Th., Effi Briest. Leipzig, Stuttgart Düsseldorf 2004, S. 41–42, 206, 242-243. 96 Baudrillard, J., Der Rest, in: Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1987, S. (479–486)483. 97 Michel, J., Eine Feier für Evan. Warum eine kleine Gemeinde in Kanada das Weihnachtsfest um zwei Monate vorverlegt, in: FR vom 28.10.2015, S. 39. 98 Böll, H., Nicht nur zur Weihnachtszeit. Satiren, München (22. Aufl.) 1977, S. 7–34. 99 Angelus Silesius, zit. n.: Schott-Messbuch für die Sonn- und Festtage des Lesejahres C, hg. v. den Benediktinern der Erzabtei Beuron, Freiburg Basel Wien 1982, S. 41. Noch extremer ist gleichfalls Meister Eckharts Aussage: Gott gebiert sich als mich. 94 95
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
aufleuchtet. Wenn allerdings im Vorfeld auf Konferenzen inflationär vom „Geist der Schule“ die Rede ist, liegt es nahe, diesen mit dem „Geist der Weihnacht“ zu konfrontieren.100 Auf die folgende Geschichte passt auch die Aussage Kierkegaards, wonach alles Neue mit Polemik beginnt.101 Die Bedrohung des Geistes durch ungeistliche Qualitätsoptimierer kann nicht klar genug gesehen werden. Weihnachten beinhaltet den unmissverständlichen Protest gegen unheilige Management-Tendenzen, eine Herrschaftskritik, eine Kritik der „Lügengeister“, eine Besinnung auf das, was Gültigkeit beanspruchen darf. Es bewahrheitet sich Žižeks Aussage, dass „das christliche Erbe zu kostbar und relevanter denn je“ ist:102 Es gibt keine Gotteserkenntnis an der Menschlichkeit und Barmherzigkeit vorbei. Am zweiten Weihnachtsfeiertag wird das Fest des heiligen Stephanus gefeiert, der als Märtyrer sterben musste, da er von dem fanatisierten, hartherzigen Saulus/Paulus verfolgt wurde;103 ein harmonischer Familienkult wird immer schon konterkariert; es gilt also die politische Brisanz der Weihnachtsfeiern herauszustellen. Der folgende Beitrag besteht aus drei Teilen: A. Zitatteil (Geister-Passagen aus Goethes „Faust“), B. der Text der Videopräsentation, der im Vorfeld der Weihnachtsgeschichte als Einstimmung und als Kontextualisierung der Zitate dient, und C. die eigentliche Weihnachtsgeistergeschichte (Weihnachtspräsentation).
A. Zitat-Teil – Geisterstimmen: „Nur noch Goethes ‚Faust‘ kann uns Geister retten!“ „Unser Programm ist die Wiederkehr des Verdrängten.“104 „Ein Gespenst ist da, ohne da zu sein. Es ist präsent im Modus der Absenz. Deshalb stellt es eine Provokation für alle Ontologien dar … Das Gespenst bohrt ein Loch ins Bestehen-
An Charles Dickens’ „Christmas Carol. Being Ghost Story of Christmas in Prose“ (1843/1848) muss wohl kaum erinnert werden. 101 Kierkegaard, S., zit. n.: Finkelde, D., Exzessive Subjektivität, München Freiburg 2015, S. 33. 102 Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 123. 103 Es heißt da im Evangelien-Text (Mt 10,17, 19, 21): „Nehmt euch vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch vor die Gerichte bringen und in ihren Synagogen auspeitschen … Wenn man euch vor Gericht stellt, macht euch keine Sorgen, wie und was ihr reden sollt; denn es wird euch in jener Stunde eingegeben … Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken.“ 104 Bei diesem Motto handelt es sich um den Verlagsslogan des Ahriman-Verlags. Er ist aber auch durch eine Aussage C. G. Jungs gestützt: „Was nicht ins Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal auf uns zu.“ (vgl. Schlüter, M., Noir – Complex. City, Story, Destruction & death, Leipzig 2010, S. 16). 100
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
de. … Es öffnet die Seinstextur auf das ihr implizite Nichts und treibt das Subjekt an seine Grenzen, wo es die Koinzidenz mit sich einbüßt und sich kaum noch wiedererkennt. Hier beginnt es, sich selbst als ein Gespenst zu begreifen, als Phantasma, als Phantom.“ – Marcus Steinweg105 „Und so hat niemand mehr Geist, als er Liebe hat.“ – Theodor Lessing106 „Geist ist Antwort des Menschen an sein Du, … die alle anderen einschließt.“ – Martin Buber107
[Die Geisterpassagen aus „Faust I–II“ sollten im Vorfeld der Weihnachtsfeier von Kollegen gesprochen, aufgenommen werden. Sie werden per Video als Unterbrechungen der Lektüre des folgenden Textes (C.) eingespielt. Und jede Lektüre ist natürlich schon eine Interpretation; das macht die Einspielungen auch so interessant.] Eine neuere Würdigung der Faust-Tragödie mag die Brisanz der Zitate unterstreichen. Die Autoren Fateh-Mghadam, Gutmann, Neumann und Weitin meinen, dass Faust einen modernen Menschentypus darstellt, da er den neuzeitlichen Geist der Selbstschöpfung, das existentialistische Verständnis vom Leben als Experiment, verkörpert: „Faust“ ist „ein menschheitliches Drama“108, so wollte es Goethe selbst verstanden wissen, aber auch eine „epochale Tragödie eben dieses neuen, schöpferischen Menschentums“. Der bekannte Literaturwissenschaftler George Steiner kommt bei seiner Auseinandersetzung mit dem Faust-Thema (im Rahmen
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Durch Žižek gewinnt die psychoanalytische Einsicht sofort eine zeitanalytische Dimension: „Was aus dem Symbolischen ausgeschlossen wird, kehrt im Realen als Halluzination wieder und was hier ausgeschlossen wird, ist der Klassenkampf in all seiner Brutalität“ (Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 102). – „Poetisiert Euch!“, das neoromantische Motto des Verlagshauses Berlin, des Independent-Verlags für Lyrik und Illustration, taugte ebenso zum Aufruf eines Widerstands gegen die Technokratie. Der Slogan erscheint auf alle Fälle sinnvoller, als in einen blinden Aktionismus zu fallen, der nichts wirklich ändert. Steinweg, M., Inkonsistenzen, Berlin 2015, S. 110f. Theodor Lessing, zit. n.: Weber, A., Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie, München 2014, S. 13. Buber, M., zit. n.: Liebsch, B., Anders (als) anders. Ein Adverb auf Irrwegen, in: Ricœur, P., Anders. Eine Lektüre von „Jenseits des Seins und anders als Sein geschieht“ von Emmanuel Lévinas. Hg. v. M. Gutjahr, Wien Berlin 2015, S. 59. Fateh-Mghadam, B., Gutmann, T., Neumann, M., Weitin, Th., Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, Berlin 2015, S. 114. Dieser Einschätzung liegt ein blumenbergscher Begriff der Moderne als Selbstschöpfung zugrunde. Einem gnostisch motivierten Verständnis von Moderne und den faustischen Dualismen wird mit einer positiven Bewertung der Schöpfung eine Absage erteilt.
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einer Besprechung von P. Valérys „Mon Faust“) zur Einschätzung: „Könnte es sein, dass das Leben nur so lange lebensfähig bleibt, wie es seiner eigenen Trivialität nicht bewusst ist?“109 Jedoch scheint dies die Lebensproblematik Fausts noch nicht vollends zu beschreiben; Faust geht in den „Wonnen des Trivialen“ nicht unter, so sehr er sich auch diesbezüglich Mühe gibt. Fausts Ringen mit sich kennzeichnet ein unstillbarer Erfahrungshunger, vor allem aber auch der Protest gegen die Existenzbedingungen. Er begibt sich in äußerste Gefahren, ohne darin umzukommen oder – an seiner Schuld-/Leidverstrickung – verrückt zu werden. Er gilt den genannten vier Interpreten vor allem als Figur, die sich gegen jede Tabuisierung und Sakralisierung stemmt.110 „Wie spricht ein Geist zum andern Geist?“ – (Faust I, V. 425) Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir; antwortet mir, wenn ihr mich hört! – (Faust I, V. 428–429) „Jetzt erst erkenn’ ich, was der Weise spricht: ‚Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! Auf, bade, Schüler, unverdrossen die ird’sche Brust im Morgenrot!‘“ – (Faust I, V. 442–446) „In Lebensfluten, im Tatensturm wall’ ich auf und ab, webe hin und her! Geburt und Grab, ein ewiges Meer, ein wechselndes Weben, ein glühend Leben, so schaff ’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“ – (Faust I, V. 501–509 – Erdgeist) „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.“ – (Faust I, V. 511f – Erdgeist)
Valéry, P., zit. n.: Steiner, G., Gedanken dichten, Berlin 2011, S. 186. Fateh-Mghadam, B., Gutmann, T. u. a., ebd., S. 89:
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
„Nicht dir? Wem denn? Ich Ebenbild der Gottheit! Und nicht einmal dir! … Es wird mein schönstes Glück zunichte!“ – (Faust I, V. 514–517, 519) „Was Ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist.“ – (Faust I, V. 577f) „Ach! Zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen. Doch ist es jedem eingeboren, dass sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, …“ – (Faust I, V. 1090–1093) „O gibt es Geister in der Luft, die zwischen Erd’ und Himmel herrschend weben, so steiget nieder aus dem goldenen Duft und führt mich weg, zu neuem, buntem Leben!“ – (Faust I, V. 1118–1121) „Ich bin der Geist, der stets verneint, und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht …“ – (Faust I, V. 1338ff – Mephisto) „Du bist doch nicht der Mann, den Teufel festzuhalten! Umgaukelt ihn mit süßen Traumgestalten, versenkt ihn in ein Meer des Wahns, doch dieser Schwelle Zauber zu zerspalten bedarf ich eines Rattenzahns.“ – (Faust I, V. 1509–1513 – Mephisto) „O wär’ ich, vor des hohen Geistes Kraft entzückt, entseelt dahingesunken!“ – (Faust I, V. 1578f) „Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier auf dürrer Heide von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und rings umher liegt schöne grüne Heide.“ – (Faust I, V. 1830–1834 – Mephisto)
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„Mir ist’s nicht möglich, ihn zu sehn.“ – (Faust I, V. 1844) „Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen.“ – (Faust I, V. 3217–3221) „Und steigt vor meinem Blick der reine Mond besänftigend herüber, schweben mir von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch der Vorwelt silberne Gestalten auf und lindern der Betrachtung reine Lust.“ – (Faust I, V. 3235–3239) Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch? Hat man euch lange nicht bewiesen: Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füßen? Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich? – (Faust I, V. 4144–4147 – Proktophantasmist) „Gespenster! – Gleich erstarrten Bildern steht ihr da, Geschreckt, vom Tag zu scheiden, der euch nicht gehört. Die Menschen, die Gespenster sämtlich gleich wie ihr, entsagen auch nicht willig hehrem Sonnenschein. – (Faust II, V. 8930–8934 – Phorkyas) „Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen, die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, stünd’ ich, Natur, vor dir ein Mann allein, da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“ – (Faust II, V. 11404–11407) „Dass sich das größte Werk vollende, genügt ein Geist für tausend Hände.“ – (Faust II, V. 11510f) „… So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister nach der Vollendung reiner Höhe streben.
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
Wer Großes will, muss sich zusammenraffen: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ – (aus Goethes Sonett „Natur und Kunst“)111
B. Präliminaria – Propädeutika – Paralipomena … Wer liest schon Gebrauchsanweisungen? „Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung … Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen.“ – Georg W. F. Hegel112 „The things of the spirit must now be defended with the sword of the spirit … Religion must find its own way to the hearts of the coming generation.“ – Josiah Royce113
[Folgende Erklärungen werden bei einer Präsentation nicht vorgelesen. Sie können im Vorspann des Filmes gezeigt werden, bis jeder seinen Platz vor dem Bildschirm eingenommen hat. Der Film mit den Videosequenzen, Geisterzitaten, die die LehrerkollegInnen sprechen (A), unterbricht dann immer wieder die Weihnachtsgeschichte (C).]
Kunst schafft kein Bild von der Welt, sondern stellt eine Welt auf oder lässt am „Welten“ teilnehmen, sie involviert Rezipienten in den Prozess der Entstehung oder Destruktion von Welt. Heideggers KunstVortrag legt dar, wie „im Werk das Geschehnis der Wahrheit am Werke“ ist. Er benennt das Scheinhafte bzw. die Gestalt, die im Schaffensprozess der verwendeten Technik geschuldet ist; doch „techne bedeutet nie die Tätigkeit des Machens“; Technik bedeutet hier keine Planung, sondern gestaltendes Involviert-Sein in einen Geschehenszusammenhang: „Das Wesen der Kunst ist die Dichtung. Das Wesen der Dichtung ist aber die Stiftung der Wahrheit: Das Stiften verstehen wir hier in einem dreifachen Sinne: Stiften als Schenken, Stiften als Gründen und Stiften als Anfangen [Öffnung]. … Das Bisherige wird in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt. Was die Kunst stiftet, kann deshalb durch das Vorhandene und Verfügbare nie aufgewogen und wettgemacht werden. Die Stiftung ist ein Überfluss, eine Schenkung … Der echte Anfang ist als Sprung immer ein Vorsprung, in dem alles Kommende schon übersprungen ist, wenngleich als ein Verhülltes“ (ders., Vom Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart 1992, S. 37, 40, 59, 77–79; vgl. auch den Heidegger-Bezug in: Lacoue-Labarthe, P., Der wahre Schein, Wien 2015). 112 Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 343, 530f. 113 Royce, J., (Problem of Christianty), zit. n.: Nagl, L., Religion als optionaler Handlungshorizont. William James und Josiah Royce, in: Raters, M.-R. (Hg.), Warum Religion? Pragmatische und pragmatistische Überlegungen zur Funktion von Religion und Leben, Freiburg München 2015, S. (127–150) 148. 111
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
Wir weisen darauf hin, dass die im Film Mitwirkenden nicht wussten, wie ihre Aufnahmen verwendet und kontextualisiert werden. Wir danken den KollegInnen für Ihr Vertrauen und bitten nachträglich um Ihre Einwilligung und Ihr Verständnis für diesen freien Gebrauch der Aufnahmen. Die Aufnahmen dürfen nur zu rein nichtkommerziellen (caritativ-pädagogischen oder schultherapeutischen) Zwecken wiederverwendet werden. Wir konnten nicht alle Geisterstimmen einfangen und entschuldigen uns dafür, dass wir die große Mehrzahl der Lehrergeisterstimmen nicht durch eine filmische Präsentation würdigen konnten. Das ist ein Desiderat; eigentlich müssen wir das Projekt der „Sammlung der Geisterstimmen“ nach der Weihnachtsfestzeit wiederaufnehmen. Denn nach Weihnachten ist ja immer vor Weihnachten und das Fest ist uns – uneinholbar – immer voraus. --Erstmals wusste die Kommission der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) einfach nicht, welche Altersfreigabe sie erteilen soll. Ihr ist klar: Die Begegnung mit dem Realen wirkt traumatisch und das Reale kann gerade auch in der Fiktion jederzeit durchschlagen; daher kann keiner eine Garantie für irgendetwas zu irgendeinem Zeitpunkt übernehmen. Goethes „Faust“ ist natürlich nie harmlos. Wir erlauben uns im Folgenden aus dem Werk zu zitieren, ganz aus dem Zusammenhang heraus. Das mag gefährlich sein, aber es sei erlaubt; denn „der freie Gebrauch des Eigenen ist das Schwerste“ (F. Hölderlin). Ob die Zitate destruktiv oder doch eher erbaulich wirken, wie sie letztlich verstanden werden, ist kaum vorauszusagen. – Und was ist Verstehen, wenn es nicht mit der Destruktion (des Vorverständnisses) verbunden ist? --„lauter Dinge, die niemand sonsten sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefüllet ist.“ – Immanuel Kant114
Die Rede von Geistern, Dämonen, Kobolden und Gespenstern verwirrt doch sehr. Manche meinen, dass wir eine „anständige“ Dämonologie brauchen. Von solchen Spiritisten oder Okkultisten kann man sich zu Beginn der Dokumentation nicht deutlich genug distanzieren. Wir leisten uns im Folgenden eine gewisse Unordnung im Denken: Ob Alien oder Geist, es geht um das Zwischenreich der (alltäglichen) Merkwürdigkeiten, das Eigenleben des (bloßen) Scheins, die Eigendynamik untoter Dinge, die uns magisch anziehen, der Dinge, die immer mehr sind, als sie sind – es sage keiner, dass es sie nicht gibt, es sind die Objekte des Begehrens –, oder auch um Resonanzphänomene, den Widerhall von Atmosphären, sozialen Räumen … Letztlich geht es also um die Fallstricke des Medialen. Kant, I., Träume eines Geistessehers (1766), Stuttgart 1987, S. 65.
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
Entscheidend ist wohl, dass unser Realitätskontakt auf Projektionen beruht (Peter Fuchs, Luhmann-Schüler, Systemtheoretiker). Wir unterstellen ganz schnell dem anderen oder einer Institution, dass sie glaubt, weiß, genießt usw. Wir umgeben uns mit Unterstellungen von Sinn, etwa, dass natürliche Prozesse nicht umsonst gewesen sein werden … Und schon sind wir nach dem Psychoanalytiker S. Žižek in den Fängen der symbolischen Ordnung, im Netz des großen Anderen. Der Terror der Idealperspektiven beginnt. Mit der Unterstellung, dass der andere weiß, glaubt, genießt usw., ist ein (idealer) Dritter in jedem noch so privaten Ich-Du situiert. Die Stunde der Geister schlägt und man wird sie so schnell nicht mehr los. Auch mit der Einstellung „Ich weiß ja, dass …, aber dennoch …“ etabliert sich ein Fetischismus, man rechnet mit einer Eigendynamik/Eigenlogik der Dinge; so meinte der Mann in einer Anekdote, die auf den Atomphysiker Niels Bohr zurückgeführt wird, angesprochen auf das Hufeisen über dem Eingang seines neu gekauften Hauses: „Ich weiß ja, dass das Unsinn ist, aber man hat mir gesagt, es wirkt auch, wenn man nicht daran glaubt.“ Projektionen, Fetischisierungen, Unterstellungsunterstellungen, Erwartungserwartungen usw. verzaubern also schier unentwirrbar nach wie vor die moderne Welt, die einst von Max Weber als „entzaubert“ eingestuft wurde. --„Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene. Mich dünkt, man sollte wohl den letzteren Satz umkehren und sagen können: wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuten, dass sie träumen.“ – Immanuel Kant115
Am Beginn müssen des Weiteren zwei Entschuldigungen stehen, zum einen dafür, dass die folgende Präsentation sträflicherweise den Geistbegriff bei Hegel und Scheler ausspart. Der Mangel mag durch das anfängliche Hegel-Zitat etwas abgemildert sein. Bei Hegel und bei Scheler ist der Geist mit der Fähigkeit des Menschen verbunden, dass er Nein sagen kann. Er verkörpert das Aktprinzip. Der Geist beinhaltet die Fähigkeit, in unbegrenzter Weise alles zum Gegenstand der Erkenntnis machen und Unterscheidungen vornehmen zu können. Der Geist ist das „Weltorgan“. Das Tier hat Umwelt, der Mensch kraft seiner Vernunft Welt. Bei Hegel bedeutet zunächst Bildung Aufklärung und Revolution, Befreiung der Wirklichkeit von der Substantialität; der Wirklichkeitscharakter der Dinge wird aufgehoben und dem des Geistes gleichgestellt. Der entfremdete Geist kann vollkommen in sich zurückgehen, das „Land der Bildung“ verlassen und
Ebd., S. 39.
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
„in ein anderes Land, in das Land des moralischen Bewusstseins übergeh(en)“.116 Der Mensch kann sich zu seinen äußeren/inneren Widerfahrnissen verhalten. Der Erkenntnisweg ist aber auch hier noch nicht beendet. Der Geist als Tätigkeitsprinzip formt die Wirklichkeit neu „nach seinem Bilde“.117 Gerade aus der Negativität des Geistes leitet sich schon ein Bildungsbegriff ab, der nicht in Kategorien der Anpassung, sondern immer des Widerstands und der Distanz zum schultheoretischen Mainstream operiert. --Die zweite Entschuldigung betrifft die zuweilen sehr verobjektivierende, eigentlich metaphorisch gemeinte Redeweise vom Geist. Eine gnostische Materialisierung vom Geist zu Geistern ist an keiner Stelle intendiert oder nahegelegt, sie wird grundsätzlich zurückgewiesen. Vielleicht kann die Thematik aus einer christlichen Perspektive heraus kritisiert und auch mit einem zeitdiagnostischen Blick auf die Cyberkultur als Neuauflage der Gnosis kurz vertieft werden:118 Wie Gnosis als geistiger Materialismus verstanden werden kann, so ist auch die Annahme einer geistigen Hinterwelt ebenso als gnostisch anzusehen – man erinnere sich an Nietzsches Vorwurf an das Christentum seiner Zeit, „Platonismus fürs Volk“ zu sein; die gnostische Rede von Geistern verharmlost oder leugnet in der Einschätzung Žižeks die menschliche Abgründigkeit und Monstrosität, externalisiert diese oder flieht vor ihr. Geist und Welt sind zusammenzudenken. Žižek kennzeichnet Heideggers „Geworfenheit“ als antignostisch.119 Gegen das esoterisch-synthetisierende Einschmelzen von Unterschieden kann als differentia specifica des Christentums das Denken des Subjekts und das Wertschätzen des ausgeschlossenen Partikularen betont werden, das vormoderne Kosmos-Ideen sprengt. Hegel, ebd., S. 423: „Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist, und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens ausmacht. Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, in dem es sich absondert, ebenso unmittelbar auflöst, – ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe.“ Und S. 486: „Das vernünftige Denken enthebt das göttliche Wesen seiner zufälligen Gestalt, und entgegengesetzt der begriffslosen Weisheit des Chors, die mancherlei Sittensprüche vorbringt, und eine Menge von Gesetzen und bestimmten Pflicht- und Rechtsbegriffen gelten lässt, hebt es sie in die einfachen Ideen des Schönen und Guten empor. – Die Bewegung dieser Abstraktion ist das Bewusstsein der Dialektik, welche diese Maximen und Gesetze an ihnen haben, und hierdurch des Verschwindens der absoluten Gültigkeit, in der sie vorher erschienen.“ 117 Hegel, ebd., S. 35. Hegels Perspektive ist nicht die späterer Verteidiger des Geistphilosophen wie Th. Nagel, der in der Evolution eine Lücke für das Proprium des Menschen sucht und davon ausgeht, dass der Geist nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur“ (Geist und Natur, Berlin 2013, S. 30). 118 Die untenstehende Überlegung lehnt sich an Wallich, M., @-Theologie. Medientheologie und Theologie des Rests, St-Ingbert 2004, S. 602ff, an. 119 Vgl. Žižek, S., Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a. M. 2001, S. 38ff (Gnosiskritik). 116
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass der gnostische Körper-Geist-Dualismus, die Gnosis insgesamt, eine späte Frucht fortgeschrittener Enttäuschung oder Verzweiflung ist. Das markiert unverrückbar die Aussage Jacob Taubes’: „Wenn Prophetismus scheitert, entsteht Apokalyptik, scheitert auch Apokalyptik, entsteht Gnosis.“120 Gnostisch ist die Wendung nach innen, christlicherseits kommen Heil und Erlösung aber von außen. Gnostisch motiviert ist der Perfektionismus und die Entfehlerung (Comenius), die sich selbst zu erlösen versucht, und man muss wohl von der „Entstehung des Cyberspace aus dem Geist des (religiösen) Perfektionismus“ ausgehen. Der Cyberspace mag als Fluchtpunkt für einen gnostischen Exodus in Sonderwelten, ins Unpolitische, oder auch als Fetisch dienen, in beiden Fällen wird Resthaftes überspielt. Das Christentum wirkt dagegen antignostisch-antifetischistisch, auch wenn historisch natürlich vielfache Übergänge zwischen Gnosis und Christentum zu verzeichnen sind. Die Grundlogik des Christentums besitzt für Žižek eine große Nähe zur psychoanalytischen „Identifikation mit dem Symptom“, indem es die Nichtharmonie, das Trauma aushält: Der Mensch ohne Sexualität, phantasmatischen Überschuss wäre für Žižek eine (restfreie) Maschine; und der Vorrang des Symbolischen wirkt immer schon maschinenhaft, die Verwendung von Symbolen war „immer schon posthuman“.121 Sexualität humanisiert und stellt also keineswegs ein Hindernis für „Vergeistigung“ dar. Mit Rekurs auf Žižek und Serres hat die theologische Anthropologie – ganz weihnachtlich – die Leiblichkeit des Menschen als Bedingung seiner Humanisierung herauszustellen: Die Perspektive der Wertschätzung des Ausgeschlossenen und Resthaften betont das Trauma, so auch das Reale einer leeren Geste – in dieser Weise kann auch die Betonung einer bloßen, äußeren Form revolutionär wirken. Das Christentum ist hier insofern modern, als es Veränderung als nicht von innen, sondern von außen kommend sieht: Wie das Trauma, so ist auch Heil kein innerer Vorgang, sondern tritt von außen an den Menschen heran. Trauma ist die Chiffre für das Eindringen des „Dings“, die Störung, die am angestrebten Funktionieren hindert.122 Das von außen herantretende „Trauma“ wirkt humanisierend: Der Mensch ist das „Tier, dessen Leben durch die exzessive Fixierung an irgendein traumatisches Ding aus der Bahn geworfen wird.“123 Humanisierung besteht also in einer Wunde, der „Verstümmelung einer Ordnung“, die einen
Taubes, J., zit. n.: Sloterdijk P., Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit, in: ders., Macho, Th. H. (Hg.), Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis, Zürich 1993, S. (17–54) 34. 121 Žižek, S., a. a. O., S. 91. 122 Ebd., S. 122. 123 Ebd., S. 136–137. 120
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
Abschluss oder eine harmonische Versöhnung unmöglich macht (vgl. das „ho trosas kai iasetai“ des Telephos-Mythos: „Wer oder was verwundete, wird auch heilen“). Humanisiert wäre also genau das Leben mit einem nichtsynthetisierbaren Rest, während das Paradies ein exzessfreies Leben bezeichnet.124 „Gott“ ist damit kein Prädikat der Versöhnung und Harmonie, sondern der Universalisierung des Rests, der Anerkennung des Traumas. Wie rigoros und entschieden der monotheistische Ikonoklasmus ist, sieht man an dem moralischen Extremismus Kants. Auch Žižek spricht von „gnadenloser Liebe“. --Seit einiger Zeit erhalten die Schulen Namen und ihr Geist wird beschworen, wenn Alleinstellungsmerkmale gesucht werden. In monotheistischer Sicht ist es allerdings vollkommen klar, dass die Rede vom Geist der Institutionen eine gnostische Idolatrie ist. Wer meint, es könne einen Geist der Institution geben, der vom Geist der Mitmenschlichkeit, dem Geist der Weihnacht, differiert, hat theologisch nichts verstanden. Der schulische Anspruch kann nur in einem Wetteifern bestehen, diesem Geist der Mitmenschlichkeit nahezukommen, ihn zu verwirklichen oder zumindest nicht zu vertreiben. Da das Projekt der Inkarnation nur angefangen und nicht vollendet ist, darf im Folgenden von Geistern gesprochen werden. Ein mehrdeutiger Parabeltext bietet schließlich für Blumenberg die Möglichkeit der „Zähmung der Geister“; eine offene metaphorologische Einhegung beugt Abspaltungen, Verfemungen vor. „Unbestimmtheit ist vielleicht die letzte Chance einer Idee, Macht über die Geister zu behalten.“125 „Das ist die Eigenschaft der Dinge: / Natürlichem genügt das Weltall kaum, / was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum.“ – (Faust II, V. 6882) „Zum Lernen gibt es freilich eine Zeit; / zum Lehren seid Ihr, merk’ ich, selbst bereit.“ – (Faust II, V. 6754)
Ebd. Blumenberg, H., Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988, S. 289. Und fügt hinzu: „Das Christentum hatte seine Unbestimmtheit preisgegeben, als es zum Kern seiner Gewissheit machte, er, der da kommen sollte, sei schon gekommen.“ Blumenberg erläutert hier, dass die „Sünde wider den heiligen Geist“ nie ganz präzisiert wurde – es blieb über tausende Jahre unklar, was sie konkret beinhaltet, und endet das Kapitel damit, auf Gräfin Reventlow zu verweisen, die auf die selbstbewusste Frage, ob denn gerade kosmische Geheimnisse verraten wurden, kurz antwortete: „Das weiß man ja nie“ (ebd., S. 291). Despotie besteht nach Montesquieu darin, nicht zu klären, wo der Verrat beginnt: „Der Grad des Verrats wird absolut, das Risiko, ihn zu begehen, unausweichlich, wenn der Verdacht, er könnte schon begangen worden sein, allgegenwärtig wird“ (ebd.).
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
C. „MIB-ghostbusters on searching the spirit of school and the spirit of holy night“: Alpträume zweier Geisterjäger (The MIS-Understanding Hauntology-Tour)126 „Wir sind Allegorien.“ „Das Würdige beschreibt sich nicht.“ – (Faust II, V. 5531, 5398) „Man muss dem Nicht-Lebbaren so nahe wie möglich kommen. Gefordert wird das Äußerste an Intensität und zugleich an Unmöglichkeit.“ – Michel Foucault127
Einstieg: Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um eine alternative/aktualisierte Weihnachtsgeschichte, kombiniert mit einem interaktiven Lernprogramm zum Erlernen der Geister-Passagen aus „Faust I“. Die Zuschauerinnen und Zuschauer dürfen die Sätze, die in den Videosequenzen von den Kollegen rezitiert werden [vgl. Zitatteil A, der zuvor aufgenommen und nun eingespielt werden müsste], nachsprechen; sie können, sie müssen aber nicht. Man kann auch einfach nur zusehen und zuhören. Entgegen dem Dogma der Handlungsorientierung reicht uns die geistige Interaktion und innere Beteiligung. Diese stellt sich ja nur selten direkt dar und lässt sich schon gar nicht gut dokumentieren. Gute Unterhaltung!
Der lange, überwiegend englische Titel antizipiert die drohende Amerikanisierung des Bildungssystems. Hauntology, Hantologie hat nicht nur in der Philosophie Derridas einen zentralen Platz, vgl. auch Fisher, M., Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin 2015, S. 28, 49, 157. Auf I. Kants Schrift „Träume eines Geistessehers“, der vor allem auf den Aberglauben und Okkultismus bzw. Spiritismus des „Erzphantasten Schwedenberg“/Swedenborg eingeht, wird ebenso angespielt. – Man darf hinzufügen, dass eine Fülle von Literatur sich mit dem Geisterthema beschäftigt. Das Thema Gespenster, Geister ist in den letzten Jahren sehr populär geworden: Clarke, R., Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme, Berlin 2015; Klell, C., Deutsch, R., Dracula – Mythen und Wahrheiten. Ein Handbuch der Vampire, Wien Graz Klagenfurt 2010. Aber besonders: Kehlmann, D., Kommt, Geister! Frankfurter Vorlesungen, Hamburg (2. Aufl.) 2015; Ferraris, M., Nietzsches Gespenster. Ein menschliches und intellektuelles Abenteuer, Frankfurt a. M. 2016; Hoff, G. M., Religionsgespenster. Versuch über den religiösen Schock, Leiden Boston Paderborn 2017. 127 Foucault, M., zit. n.: Nigro, R., Wahrheitsregime, Zürich Berlin 2015, S. 100; oder wie in „Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte“ von Paul Auster bzw. im Film „Smoke“: Erzählen heißt, alle nur möglichen Register zu ziehen. Die Neugier ist entscheidend, „nicht die Neugier, die sich zu Eigen zu machen sucht, was man einfach kennen muss, sondern die Neugier, die es erlaubt, sich von sich selbst zu befreien. „Es gibt Momente im Leben, in denen die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, unabdingbar ist, um auch weiterhin zu schauen oder zu reflektieren. … Doch was ist dann die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität –, wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selbst?“ (Foucault, zit. n.: Nigro, ebd., S. 101). 126
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
[Die Inszenierung des Beitrags erfordert weiterhin zwei Freiwillige, die sich als MIB und als Geist verkleiden und neben das Activeboard, die Leinwand, stellen, auf dem die Faust-Zitate, Filmaufnahmen präsentiert werden.] Einen besonderen Applaus und nicht endenden Jubel verdienen zwei Filmstars aus Hollywood, die von der Leinwand zu uns in die Niederungen des deutschen Bildungssystems herabgestiegen sind. Von der Fraktion der MIB-Ghostbusters ist zu uns gekommen: Miss S., eine Lady in black, zweifellos eine WomIB der ganz jungen Generation, die in ihrem neuesten Blockbuster eine Rolle übernimmt, die ihr gar nicht auf den Leib geschnitten ist. Sie soll auf Geisterjagd gehen. Zu ihrer Linken erscheint ein vielseitiger Geist, der unermüdlich, rastlos tätig und ewig jung ist, Mister D. Er ist als Seelenführer in der Lage, uns mit dem Transzendenten-Absoluten in Kontakt zu bringen und das darzustellen, was man eigentlich gar nicht sieht. Nach dieser Visualisierung müsste jeder Zuschauer die Grundkonstellation verstanden haben, um die es im Folgenden geht. – Man kann uns alles vorwerfen, nur nicht, dass wir etwa das didaktische Prinzip der Anschaulichkeit vernachlässigt hätten. – Mag Karl Marx den Unterschied zwischen reichen Fabrikbesitzern und besitzlosen Arbeitern als Ursache aller Probleme betonen, so muss nun von einem anderen, ebenso dramatischen Grundantagonismus ausgegangen werden, nämlich vom Gegensatz zwischen Geisterjägern und Geistern: „Alle Geschichte ist die Geschichte von Botschaftskämpfen“ (Peter Sloterdijk). --Zwei (Wo-)Men in Black betreten das Lehrerzimmer. Es ist klar, sie suchen den Geist der Schule. Es ist auch klar, sie werden ihn nie finden, genauso wenig wie den Geist der Weihnacht. Was sie nicht einmal ahnen, der eine Geist ist mit dem anderen verwandt. Von Geistern und der wirklichen Welt verstehen Geisterjäger im Grunde nicht viel. Schade! Beide MIBs haben sich auch noch nie über die engen Grenzen des Erkennens und die vielfältigen Möglichkeiten des Irrtums Gedanken gemacht: Kein Geisterjäger weiß so genau, wonach er sucht; das liegt in der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit und ebenso in der übersinnlichen Natur der Geister begründet. Mit Geistern scheint es genauso schwierig zu sein wie mit der Schülerleistung und den Noten. Geister und Schüler scheinen gleichermaßen total unbegreiflich, ständig kann man sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Das Gefühl, brüskiert und möglicherweise von ihnen hintergangen zu werden, bringt Geisterjäger in Rage. Sie fangen darum in letzter Zeit immer öfter an, wild um sich herumzuballern. Das ist eine neue Eskalation, da man früher Geister bloß befragen und allenfalls zu einem Segen zwingen, aber niemals jagen wollte. Früher wusste man noch, woran man die erkannte, die mit Geistern gekämpft und das überlebt haben: Sie hinkten, hatten einen Hüftschaden – wie Jakob am Jabbok (Gen 32, 23–33) – und sie hatten – wie Moses – keine Schuhe an, sie hatten heiligen Boden betreten und wollten 326
5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
diesen hinfort rechtzeitig erspüren. – Von Moses inspirierte Lehrer zogen also die Schuhe aus, bevor sie den Klassenraum betraten. Die frühe Vermutung, dass die Schüler der Geist der Schule sind, hat man leider viel zu schnell als mythische Kinderei verworfen. Dass die Lehrer den Geist der Schule bilden, das legt inzwischen die John-Hattie-Studie nahe, schließlich hängt von der Lehrer-Persönlichkeit ab, dass überhaupt etwas gelernt wird. In immer neuen, weiteren Studien will man genau das zu widerlegen versuchen; Pädagogik soll etwas anderes sein als eine Kunst. Dabei bürgt Kunst für Geistes-Gegenwart. Da diese Studien alle letztlich geisttötend und Geisterjäger sehr wissenschaftsgläubig sind, sucht man auch so lange schon vergebens nach dem Geist der Schule. Dieser scheint sich für viele Jahre in die dunklen Winkel der Schulgebäude oder in sein eigenes Inneres verkrochen zu haben. Ins eigene Innere verkriechen – das ist nur Geistern möglich. In diesem Fall ist wirklich nichts zu machen. Der Geist ist dann nicht ansprechbar. Kein Anschluss unter dieser Nummer.128 Die Zeiten ändern sich zwar; times are changing. Moderne Geisterjäger tragen aber wie vor 30 Jahren schwarze Anzüge, Designer-Klamotten und dunkle Brillen. Sie wollen nicht geblendet werden, wenn ihnen Geister erscheinen. Sie wollen keine Angst zeigen und nichts empfinden, wenn sie auf Geister losgehen. Das hat natürlich fatale Konsequenzen. – Dem Emotionslosen kann nämlich nichts erscheinen, kein Geist, kein lebender Schüler, nur zu beschulendes Rohmaterial und das dumpfe Echo leerer Klassenräume/think-tanks. „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen!“ (Faust I, V. 534). Die Weisheit aus Goethes „Faust“ belegt klar: Geisterjäger sind Nihilisten. Und Nihilisten finden letztlich nichts und schon gar nichts Neues. Bei näherer Betrachtung stellt man fest: Der eine MIB heißt Mr. X, der andere Mr. Y. Zusammen ergibt das eine tödliche Kombination (nomen est omen:129 „XY“), die Superillusion, den Geist von Institutionen könne man/men konservieren, verordnen oder in Programmen festhalten. Lehrer müssten es am ehesten wissen, nichts kann man (fest)halten, am wenigsten Geister.
Seitter, W., Psychologie, Topologie, Dämonologie, in: Wulf, C., Kamper, D. (Hg.), Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie, Berlin 2002, S. 337–340, hält mit P. Klossowski fest: „Die Besessenheit ist nicht die Krankheit, sondern eine ‚Geistestatsache‘. Die Seele ist immer von irgendwelcher Macht bewohnt, einer guten oder bösen. Nicht wenn sie bewohnt sind, sind die Seelen krank; krank sind die Seelen, wenn sie nicht mehr bewohnbar sind. Die Krankheit der modernen Welt besteht darin, dass die Seelen nicht mehr bewohnbar sind und dass sie daran leiden. Man glaubt, die übeltätigen Mächte auf nichts reduzieren zu können, unter dem Vorwand, dass es kein übernatürliches Wesen gibt. Die Rechnung ist falsch! Sobald ein Wesen existiert, existiert eine Übernatur. … Es ist nötig, dass ich die Mächte, die mich zum Sprechen bringen, identifiziere‘“ (ebd., S. 339f). 129 In jeder Schule waren wohl bereits zwei Controller bzw. zwei irregeleitete externe Qualitätsmanager, die versucht haben, die Schule für den Bildungsmarkt flottzumachen und mit einer seltsamen Begrifflichkeit neuen Schwung in scheinbar „verkrustete“ Strukturen zu bringen. Die Namen dieser Leute dürfen hier eingesetzt werden: Die Kompositum-Bildung ergibt meist einen weiteren Heiterkeitseffekt. 128
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
Schulamtlich bestellte Geisterjäger arbeiten ähnlich-schablonenhaft, sie akzeptieren nur das „business as usual“. Ob Geist oder Alien, ist egal. Der einfache Einsatzbefehl des biopolitischen Case-Managements lautet: Alles, was zu sonderbar ist, fokussieren/sondieren, dann torpedieren und schließlich terminieren. Nietzsche hat dagegen noch nie etwas von solchen Vorgaben oder Referenzrahmen gehalten, er bezeichnet diese unverblümt als Prokrustesbett: Dagegen propagiert er eine postmoderne Ökologie und wildwüchsige Biodiversität: Nietzsche meint: „Man muss in das eigene Chaos hinabsteigen und sich dort wohlfühlen.“ Und: „Nur wer noch Chaos in sich spürt, kann einen tanzenden Stern, genauer: Weihnachtsstern, gebären.“ – Wenigstens einer steht eindeutig auf der Seite der irregulären Geister und ihrer bedrohten Arten. Die Profession der Geisterjäger ist sehr angesehen, Ghosthunters und Ghostbusters sind hochdekoriert und mit Preisen geehrt, ihre Adepten in den Schulen/Schulämtern werden befördert. Controlling ist eine Wissenschaft, während Astrologie und Alchemie es inzwischen nicht mehr sind – man kann das ungerecht finden. Alles begann mit dem Irrglauben, sich selbst und sein Treiben für besonders rational zu halten. Sensationsgierige lechzen natürlich nach einem lauten, offenen ideologischen Show-down der MIB-Systemfunktionäre gegen die kleine Gang der Nietzsche-Freaks; Letztere gingen aber eigene Wege und machten als „Weihnachtssternsucher“ und „die drei Weisen aus dem Abendland“ Geschichte. Bis heute pflegen sie ein ausgiebiges Nachtleben, d. h., sie sind nur nachts unterwegs, auf der Piste. MIBs agieren dagegen wie gute Beamte eher am Tag, das grelle Sonnenlicht vertragen sie allerdings auch nicht, daher die auffällig coolen Brillen. – Der Einfachheit halber seien Fachleiter schon einmal als MIBs enttarnt. Salman Rushdie, der Zweite im Bunde neben Nietzsche, propagierte unlängst die Wildheit des Denkens/der Phantasie als „unaufgebbaren Grund jeder Freiheit“. Rushdie ist auf seiner lebenslangen Flucht sicherlich freier als jeder seiner Verfolger oder tausendmal unabhängiger als jeder Geister-Kontrolleur. Eine Bildschirm-Dokumentation über Geister wie die hier dargebotene kann nur deren Lebensrealität und Aktionsweisen andeuten: Die Geister umgehen in der freien Denkbahn die direkte Kontaktaufnahme; Konkurrenz wird ebenso gemieden, Geister suchen Nischen auf (jeder kann denken, was er will), sie bevorzugen die friedliche Koexistenz und pflegen ansonsten ein hochentwickeltes Sozialleben. Wie bei Grzimek bereits ist die eigentliche Bedrohung der Spezies nicht der Artgenosse, sondern die ökonomische Erschließung aller Lebensräume, die Kolonialisierung der letzten freien geistigen und seelischen Kontinente … Die Lösung der Geisterfrage kann also nicht die endgültige Zähmung für den Gedankenzoo oder gar die Überzüchtung für das kleingeistige Streichelgehege sein. – Was Grzimek betonte, bleibt auch hier richtig: Hollywood-Action, deus-ex-machina-Filmplots oder schnulzige Happyends werden in keiner Weise dem traurigen Überlebenskampf der geistigen Art gerecht. Geister weichen vor den Geisterjägern ständig aus; sie sind seit Jahren schon auf der Flucht; das biophile Dreigespann Nietzsche, Rushdie und Grzimek stört allerdings die Rasterfahndung 328
5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
nach Geistern. Es hat diverse Widerstandsnester eingerichtet und betreibt einige Störsender. Das haben sich die MIBs so nicht vorgestellt, ihnen wurden einfache, unkomplizierte Posten mit übersichtlichen Klassifikations- und Bewertungsskalen versprochen. Nun sind sie frustriert, denn das Dingfest-Machen von Geistern lässt auf sich warten. Geisterjäger müssten längst ahnen, dass der Geist das Leben des Lebewesens ausmacht und überhaupt die Lebendigkeit darstellt. Geister sind also überall; es ist demnach ein Wunder, dass die Geister die Geisterjäger so lange schon haben gewähren lassen. Geisterjäger müssten auch wissen, dass man Geister nie mit bloßem Auge oder durch dunkle Brillen sehen kann. Wie verhalten sich Geister? Wo kann man sie aufspüren?130 Von jedem schlechten Grusel- oder Alien-Film ist zu lernen: Die Geister – und die Aliens gleichermaßen – sind uns näher, als man glaubt. Das Beunruhigendste überhaupt ist längst schon Realität: Das fremde Alien-Andere, der Geist, den du suchst, ist bereits in dir. Philosophen seit Descartes wissen ebenso: Das Ich ist selbst ein Geist, es ist weltlos, ohne Alter, spukt ohne festen Ort im Körper herum, es ist das, was mich zwingt, mich mit mir und meinem Unsinn zu identifizieren, eine fremde, unbewusste, übermächtig-kalte Gesetzesmacht also, die keiner je loswird. (Und wenn man diesen seltsamen, ständig überfordernden Ich-Geist endlich los wäre, dürfte man nicht mehr frei herumlaufen.)131 Der erste Grundsatz der Hauntology/Gespenster-Geisterkunde lautet: Es wirkt allein der Geist … In allem waltet ein Geist, (natürlich ist nicht in allem und jedem ein Ich. Das anzunehmen wäre etwas übertrieben.) … Alles, was sich bewegt, ist geisterhaft-gespenstisch motiviert. Das führt zu dem Schluss von Marx und Jesus gleichermaßen: Die meisten wissen nicht, was sie antreibt. Kurzum: Das, was für das Totgesagte gilt – es lebt ja bekanntlich länger, als man sich vorstellt – gilt besonders für das Untote, den Geist. – Den Geist und die Geister wird man so schnell nicht los. – Ob es überhaupt nur einen Geist gibt (eine Weltseele) oder viele Geister, ist immer noch nicht ausgemacht. Daher auch die erste Grundregel: Rechne immer zumindest mit einem Geist, besser: geh von zwei Geistern aus! Vergiss nicht den Geist in deinem Gegenüber, der anders als Wie ein Geist zum anderen Geist spricht, ist ein Grundproblem Fausts (V. 425). Zum Ich gehört die Aufspaltung in einen inneren Befehlsgeber und einen Ausführenden, Subjekt des Aussagens und Subjekt der Aussage. Ebenso steht der idealistische Anspruch „Du kannst, denn du sollst“ im Raum. Der Einblick in die letztliche Passivität, die mich dazu zwingt, mich mit mir zu identifizieren, kann erschrecken (vgl. Lévinas’ Theorie der Rekurrenz). Das Subjekt scheint auf alle Fälle passiver als gedacht. Und die moderne Selbstüberforderung ist nicht leicht abzuschütteln. Jedenfalls kann der Kurzschluss von Meister Eckhart, dass das Wesen der Seele und das Wesen Gottes identisch sind, nicht verdecken, dass die gnostische Introspektion und der Versuch der Selbsterlösung mit seinem alleinigen Rückzug in sich gerade für die christliche Gnade, die von außen kommt und Begegnung erfordert, unempfänglich macht. Die Erfahrung der Extimität des Subjektkerns, in der das Ich mit seiner Passivität oder der Fremdheit seines Genießens konfrontiert wird („das Ich ist ein Anderer“, Rimbaud), darf nicht ausgeklammert werden.
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dein Geist sein könnte! (Und nimm grundsätzlich an: Es wird letztlich schon wohl irgendein Geist sein, der den anderen besetzt und reitet – vollautomatisierte Autos, Roboterintelligenzen und hirnlose Mutanten verbreiten sich gerade erst allmählich.) Die zehn Grundregeln für einen wertschätzenden Umgang mit Geistern muss man hier nicht gesondert vortragen. Die Frage, wie man sich bei einem Erstkontakt einem Geist oder Alien gegenüber verhalten kann, stellt sich ja nicht mehr. Alle Zuhörerinnen und Zuhörer haben ihre eigenen Erfahrungen mit den Geistern gemacht, den guten Geistern, von denen man manchmal verlassen wird, den Quälgeistern, die uns tagtäglich heimsuchen, und den Dämonen der Unbildung, die einfach nicht auszutreiben sind … Die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada schreibt in einem Artikel „Email für japanische Gespenster“, dass es zumindest drei Arten von Gespenstern gibt: Yokai, „die Gespenster, die außergewöhnliche Gestalt besitzen“, Henge, „Gespenster, die sich verwandelt haben“, und Yurei, „Seelen …, die sich von ihrem Körper gelöst haben.“132 Die im Film Porträtierten können ja überlegen, welcher der drei Gruppen von Geistern sie sich zugehörig und verbunden fühlen. Aber was für japanische Gespenster gilt, muss ja nicht für europäische Geister gelten. Wie auch aus anderen Zusammenhängen zu lernen ist, internationalisiert sich die Geisterpopulation. Die Szene hält sich immer weniger in bestimmten Regionen auf und stereotype Charakterzuschreibungen gehen fehl. Identitätswechsel und Mutationen sind bei Geistern geradezu an der Tagesordnung. Der zweite Grundsatz: Es gibt keinen Geist ohne Geister, keine hohe Geistesvernunft ohne die diversen nicht zähmbaren Gespenster. Exorzisten wissen ohnehin: Es ist schwierig, Dämonen auszutreiben, ohne selber zu einem zu werden. Paul Valéry meint: „Nichts führt sicherer zur völligen Barbarei als ausschließlich dem reinen Geist anzuhängen. Ich kenne diesen Fanatismus aus nächster Nähe.“133 Den selbstsicheren Aussagen: „Nein, in unserer Gegend gibt es keine Kannibalen mehr. Den letzten haben wir gestern aufgefressen!“134 oder „Ich weiß genau, Tawada, Y., Eine E-mail an japanische Gespenster, in: Caduff, C., Pfaff, Czarnecka, J. (Hg.), Rituale heute. Theorien – Kontroversen – Entwürfe, Berlin 1999, S. (219–226) 221. Tawada meint weiter: „Ein Ritual kann ein Appell an die Geister sein, es kann genauso gut eine Abwehr gegen sie bedeuten.“ Rituale sind wie die Geister also immer mehrdeutig. „Wenn ein Buchstabe sich umdreht, wird ein fremdes Gesicht sichtbar“ (ebd., S. 122); das ist wohl der Moment einer Geistererscheinung. Tawada schlägt vor, jedes fremde Verhalten zunächst als Ritual zu deuten und darum nicht schnell als Affront zu sehen, das sei ein „produktives Denkmodell“ (ebd., S. 226). Tawada entdeckt auf diese Weise viele schöne Rituale. In Deutschland ist ihr aufgefallen, dass sich Menschen nach einem Abend, bei dem sie gar nicht miteinander gesprochen haben, dennoch ausführlich verabschieden. „Ein schlichter Abschied kann … fast unhöflich wirken“ (ebd., S. 123); die Abschiedszeremonie scheint die ausgebliebene Kontaktaufnahme zu kompensieren. Ähnliches wird man auch bei Weihnachtsfeiern beobachten können. 133 Valéry, P., zit. n.: Wind, E., Kunst und Anarchie, Frankfurt a. M. 1994, S.25. 134 Žižek, S., Sade – die Wahrheit Kants?, in: ders. (Hg.), Gestalten der Autorität. Seminar der Laibacher Lacan-Schule, Wien 1991, S. (87–103) 92; vgl. ders., Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des 132
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dass es keine Geister gibt, ich habe den letzten gerade gekillt“, ist also zu misstrauen. Im Film zeigt der Moment, in dem der letzte Geist ausgelöscht wird, immer die grausige Geburt des MegaUngeheuers, den Ausbruch des Riesenunsinns. Die Aufklärer, die gegen den Geisterglauben anschreiben, müssen sich jedenfalls nach ihrem irrationalen Rest fragen lassen und sich ihm stellen. Die guten Hausgeister, die Laren und Penaten (von diesen Geistern leitet sich bekanntlich auch der Name der Baby-Creme ab), halten sich nach Auffassung der Römer besonders dort auf, wo es im Haus am wärmsten ist, am Herd; dort unter dem Herd oder in seiner Nähe wurden auch die Toten beerdigt. Geister sind im Grunde sehr treue Wesen. Noch für Descartes haben die Lebensgeister des Körpers ihren Platz, wo es am wärmsten ist, also im Herzen. Dort geht es seiner Auffassung nach heiß her, die Lebensgeister kochen hier das Blut auf, damit es dann kräftig mit ihnen im Körper zirkuliert. – Wenn das Bypassing, die Bertelsmann-Methode des Change-Managements, die vorhandenen demokratischen Strukturen vorsätzlich umgehen will, um Ziele schneller erreichen zu können, ist das zumindest nach der alten cartesischen Anatomie ein fragwürdiges Vorgehen. Das Herz und die Lebensgeister wollen beachtet und gefragt und nicht umgangen/entlastet werden. Sie wollen schaffen und wirken. – Daher Regel Nummer 3: Geister, insbesondere Lebensgeister, soll man nicht bei ihrer Arbeit stören oder mutwillig verärgern. – Das wäre ein Schuss in den Ofen, der ziemlich viel Staub aufwirbelt. – Man soll sich jedenfalls nicht wundern, dass dann alles wie verhext ist. Der vierte Grundsatz: Um dem Zeitgeist (uuuh!) nicht aufzusitzen, muss man ihn zuvor erahnt, erspürt oder im besten Fall erkannt und identifiziert haben. In jedem Fall gilt: Don’t believe the hype! Die herrschende Meinung ist die Meinung der Herrschenden (Marx, Faust I, V. 577f). Es ist klar, dass der Geist der Masse gefährlich ist, es verflüchtigen sich die Gegenstimmen. Verdächtig ist der, der nur eine Stimme hört, man muss immer mehrere zugleich hören: Demokratie, Gewaltenteilung ist ja auch das polytheistische Nebeneinander von mehreren Mächten, die sich nicht auf eine Einheitsmacht reduzieren lassen. – Wer die Verwandtschaft von Hauntology und politischer Theorie/Theologie übersieht, springt eindeutig zu kurz, er muss am besten nachsitzen. Bei einem GEW-Vortrag – es waren gespenstisch wenige Lehrer anwesend – hat ein Referent von einer nordrhein-westfälischen Schule berichtet, in der die Gesamtkonferenz sich vorgenommen und entschieden hat, von nun an keinen Unsinn mehr zu beschließen. – Hauntologen raten an dieser Stelle: Das ist zu weit gesprungen. Es genügt schon, sich vorzunehmen, weniger Unsinn zu beschließen. Die fünfte Grundregel: Alles kann monströs werden. Erschrick nicht, wenn das tote Ding dir lebendig erscheint. – Die Grenzen zwischen Sachen und Personen, Maschinen und autonomen dialektischen Materialismus, Berlin 2014, S. 513.
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Subjekten wird gerade neu gezogen. Du verliebst Dich in dein Betriebssystem, die Stimme deines Bordcomputers im Auto nervt dich? – Bewahre Ruhe! Der Mechanismus ist alt: Du kennst ihn seit eh und je von deinem Begehren oder Genießen, es sind die alten Gesetze der Attraktion und Anziehung, die nun allerorten gegen dich ausgespielt werden. – Aber genau ihre Ohnmacht wird die Disziplinarmacht nie zugeben.135 Michel Foucault gehört zweifellos auch zur Widerstandsgruppe rund um Nietzsche. Foucault kann darlegen, „keine Macht ist absolut oder definitiv unvermeidlich oder mit vollem Recht akzeptierbar“; Macht und Kontrolle sind nie notwendig, gerechtfertigt oder gar gerecht.136 Das Wahrheits-/Macht- und Moralproblem gehören zusammen. Man muss merken, wenn der Charakter der Normen sich wandelt und vom erfüllbaren Forderungskatalog (lediglich Handlungen werden verordnet) zu einem unerfüllbaren ÜberichDiktat wird (letztlich wird Druck erzeugt, bestimmte Gefühle zu haben). – Sagte man früher, die Religion ist neurotisch, muss man heute sagen: Perfektionismus und Überregulierung sind quasi-religiös, verabsolutiert und zwanghaft automatisiert.137 … Und Geister sind grundsätzlich allergisch gegen Überregulierung, Nützlichkeits- und Sicherheitsdenken sowie den Ordnungswahn; sie leiden unter dem Bestreben, sie zu objektivieren, kartieren, disziplinieren und zu regeln. Grundsatz 6: Kanalisieren lassen sich nur Abwässer und Unrat. Geister schweben! Man muss in jedem Fall mit dem Unvermögen von Geistern rechnen, an einer Stelle zu bleiben, vor allem bei Horizontverschiebungen oder größeren Veränderungen. Dass der Engel der Geschichte vom Sturm des Neuen fortgetragen wird, dass er aus Schrecken vor dem, was er erblickte, seine Flügel nicht mehr zusammenfalten kann, kann man wissen (Walter Benjamin). – In chaotischen Kontexten ist das einfache Standhalten schon eine große Kunst. Alexander Kluge lobt das scheinbar unsinnige Verhalten seiner Mutter, die bei einem Unglück,
Das Schulamt ist verärgert wegen eines kleinen Streiks und erteilt den Kollegen einen Verweis. Sie waren wohl nicht ganz brav. Der große Andere ist beleidigt und gekränkt, aber eben auch hilflos. 136 Nigro, R., Wahrheitsregime, Zürich Berlin 2015, S. 100 und S. 31: „Es ist die alltägliche Ausübung der Macht, die als Bürgerkrieg betrachtet werden muss“. Machtverhältnisse gehen mit entsprechenden Wissensfeldern einher und umgekehrt erzeugt Wissen immer auch Machtkonstellationen. Wenn hinter jedem Wissen ein Machtkampf steht, plädiert Nigro für ein minoritäres Wissen: das Wissen des Rests, das verleugnete Wissen, das keinen Platz in offiziellen Bildungskanons findet. Es lohnt sich, sich diesem minoritären Wissen ganz zu verschreiben. Sich auf die Seite der bedrohten Geister zu schlagen, ist immer eine Herzensangelegenheit. 137 Wenn sich der Mechanismus einschleicht: „Je mehr man gehorcht und tut, desto schuldiger wird man“, weiß man, man steht unter der totalitären Überich-Kontrolle. 135
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das sie als Augenzeugin miterlebte, einfach mitten auf der Straße stehenblieb.138 Er hält das für nachahmenswert. Die siebte Grundregel beinhaltet dreierlei: a) Geister lassen sich nicht fixieren. Der Geist weht, wo er will. b) Gute Geister wirken lautlos. Dasselbe meint auch Goethe: „Gebildete Menschen und die, die auf die Bildung anderer hinarbeiten, bringen ihr Leben ohne Geräusch zu.“139 Und c) Manches ist nur als Gespenst wirksam.140 Eine Materialisation oder Realisierung wäre hier eine Zähmung, Lähmung und Entstellung. Untote Materialisierungen oder Zombie-Geburten sind unbedingt zu vermeiden. Geisterbeschwörungen und Exorzismen sind ebenso nicht notwendig und wenig sinnvoll. Die Resultate sind hier immer spärlich-fragwürdig. Kurzum: Man muss die Geister also Geister sein lassen. – Es gilt der alte Lehrsatz Spinozas: Was man nicht aus anderem herleiten kann, muss man aus sich selbst heraus erklären. – Eigentlich lässt sich ohnehin nicht mehr über Geister sagen als ein mehr oder weniger erschrecktes: Huch! Wie verträgt sich die Rede vom Geist und der Moderne? Peter Weibel, der Chef des ZKMs, des weltweit führenden Medienkunstmuseums in Karlsruhe, propagierte vor Jahren schon die „Psychotisierung der Wahrnehmung“; Gilles Deleuze und Felix Guattari propagierten die Schizo-Existenz, die ihr Begehren als Wunschmaschine und kapitalistische Produktionsstätte identifiziert und eine karnevaleske Vielheit lebt. Kenneth Gergen sprach vom „multiphrenen“ Selbst141, viele andere kennen nur noch ein hybrides, dezentriertes Subjekt. Auch wenn Geister wieder herumspuken dürfen und das Ich vielfältig schillert, scheint der Identifikationspunkt nicht verdrängt werden zu können, der das Ich ausmacht: „das Sich“. Immer wieder ist man auf sich zurückgeworfen, zu einer ultimativen Passivität gezwungen, sich auf sich selbst zu beziehen. Das Subjekt ist die unmögliche Beziehung zwischen dem sozialen Referenzpunkt und dem Abgrund seines Genießens (S. Žižek). Man kann es auch einfacher sagen: Die Moderne nötigt
Kluge, A., Verdeckte Ermittlung, Berlin 2001, S. 42: „Ich bin ein nervöser Mensch, der feststellt, dass sich in dem Maß einer Verletzung sämtliche Perspektiven und Horizonte verändern. Das muss ich treffen. In einem Bild, in einem Satz. Die meisten Geschichten, die ich schreibe, gehen über einen einzigen Satz. … Meine Mutter hat mir erzählt, sie habe beim Fahren einen Unfall gesehen und sei sofort stehen geblieben, damit sich das Unglück nicht wiederhole. Das ist richtig oder falsch. Aber ausprobierenswert. So denke ich.“ 139 Goethe, zit. n.: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes. Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 57 (Brief an Charlotte vom Stein vom 1.12.1807). 140 Derrida interpretiert derart den ersten Satz des kommunistischen Manifests: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus.“ Dieser wirke nur als Gespenst. Auf Derrida geht überhaupt das neuere philosophische Nachdenken über Gespenster zurück. 141 Gergen, K. J., Das übersättigte Selbst. Identitätsprobleme im heutigen Leben, Heidelberg 1996, S. 131ff, 254, 191. 138
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uns auf, extremste Gegensätze in sich zu vereinen, im Bewusstsein der absoluten Kontingenz, im Nicht-Ausweichen vor Hofmannsthals Schrecken: „wie zufällig wir alle sind, und wie uns der Zufall zueinander jagt und auseinander jagt, und wie jeder mit jedem hausen könnte, wenn der Zufall es wollte.“142 – Für die Sinnstiftung seiner eigenen Existenz muss jeder selbst sorgen. Moderne beinhaltet das Zugleich von Erlebnisversprechen und Selbstdestruktion: „Modern zu sein bedeutet, unter Bedingungen zu leben, die uns Abenteuer, Möglichkeiten, Vergnügen, Wachstum und die Veränderung unserer selbst und der Welt versprechen – und zugleich drohen, alles, was wir haben, alles, was wir kennen, alles, was wir sind, zu zerstören“ (Marshall Berman).143 Wenn Kehlmann meint: „In Wahrheit ist ja nie etwas vorbei“144, dann persistiert hier erneut die Dimension des Untot-Geisterhaften, Unbewussten. Ian Penman schreibt: „Ghosts … Replikanten? Elektrizität hat uns alle zu Engeln werden lassen. Technik (von der Psychoanalyse bis zur Überwachung) hat uns alle zu Gespenstern gemacht. Der Replikant … ist ein sprechendes Nichts. Das Erschreckende an ‚Aftermath‘ ist die Behauptung, heute seien wir alle so. Sprechende Nichtse, aus Fragmenten und Zitaten zusammengefügt … durch die Erinnerungen anderer kontaminiert … abdriftend.“145 Der Gedanke an Geister und Gespenster kommt einem unvermeidbar, wenn einem die Fotos zu echt erscheinen, um wahr zu sein. Der Manipulationsverdacht spukt also über getunte Facebook-Profile und über die hochaufgelösten Bilder, die wirklicher sind als die Wirklichkeit. Die Gespenster der Simulation springen vom Bildschirm über auf den Alltag, der insgesamt merkwürdig inszeniert erscheint. Die untiefen Bildschirmoberflächen verfangen uns und belegen das Fazit des Medientheoretikers Jochen Hörisch: „Verzauberter, fetischistischer und exzentrischer dürfte keine Kulturepoche gewesen sein als die der späten Moderne.“146 Das Reale ist virtuell. Es flackert, schillert und entzieht sich gespenstisch der Fixierung. Das gilt nicht nur für die Finanzströme. – Auch die Schuhe sind im Schaufenster so viel schöner als später nach dem Kauf, wenn wir sie besitzen. Die Dinge tanzen uns auf dem Kopf herum … Das widerständige Unmögliche, das sich nicht Hugo von Hofmannsthal, zit. n.: Kehlmann, D., Kommt, Geister! Frankfurter Vorlesungen, Hamburg 2015, S.76. Und S. 169 Gödel zitierend: „Das a priori wird sehr unterschätzt. die Logik ist äußerst machtvoll.“ „Gödel hat sich vollkommen zurückgezogen, er fürchtet Gespenster und Geheimdienste …“ Und S. 156: „Im Reich der Logik sind die Toten noch da. Tatsächlich glaubt Gödel an Gespenster, er sieht sie und hört ihre Stimmen, er fühlte sich von ihnen umgeben.“ 143 Marshall Berman, in: Fisher, M., Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin 2015, S. 73. 144 Kehlmann, D., Kommt, Geister! Frankfurter Vorlesungen, Hamburg 2015, S. 60. 145 Penman, I., (aus Wire), in: Fisher, M., Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, Berlin 2015, S. 61. 146 Hörisch, J., „Schrift frißt Schöpfung“. Die Macht der Medien, Manuskript des SWR2-Aula-Vortrags vom 1.3.1998, S. 11. 142
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realisieren lässt, sich immer entzieht, ist die Ursache unseres Begehrens. Es ist das reine Nichts, der unsinnige Preis von 1,99 €, der scheinbare Spareffekt, der uns die Produkte so erstrebenswert und lukrativ erscheinen lässt. Der Systemtheoretiker und Luhmann-Schüler Peter Fuchs meint nüchtern: Unser „Realitätskontakt liegt auf der Ebene der Projektionen“147. Jeder konstruiert unweigerlich sein Bild von der Wirklichkeit und überblendet dabei die Geschichte des anderen mit seiner eigenen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns in unseren Projektionen zu verirren. Auch wenn man systemtheoretisch spricht und denkt, wiederholt man Goethes Weisheit aus dem „Faust“: Man kann nicht oft genug daran denken, dass der Geist des anderen uns überraschen wird und will. – Grundregel Nummer 9: Jeder hat nicht nur etwas vom Geist, sondern auch etwas vom Geisterjäger in sich. Man hat sich an die eigene Nase zu fassen: Der Geisterjäger in uns will identifiziert sein. Bei dem Katz- und Maus-Spiel wird allerdings immer der Geist seine Nase vorne haben und die Stimme des Geistes wird nicht verklingen: „Ich bin, aber habe mich nicht, darum werden wir erst … Das Bin ist innen. Alles Innen ist dunkel“ (Ernst Bloch). Im Übrigen ist das, was Geisterjäger und MIBs anstreben, schon längst mit zweifelhaftem Erfolg versucht worden. Der griechische König Midas war der erste Geisterjäger, er machte den Waldgeist Silen betrunken, nahm ihn gefangen und folterte ihn. – Midas war im Übrigen auch der, der wollte, dass alles unter seinen Händen zu Gold wird, er ist damit auch der Urkapitalist; an seiner Geschichte müsste die unheilige Liaison von Geisterjagd und Profitgier ein für alle Mal als eigentliches Schreckgespenst entlarvt sein. – Silen sollte verraten, was das Beste für den Menschen sei. Midas bekam schließlich die grausige Antwort: Das Beste für den Menschen sei, nie geboren zu werden; und das Zweitbeste: möglichst bald zu sterben. Wie konnte Midas übersehen, dass unter Druck gesetzte Geister Nebelkerzen werfen, sich aus der Affäre ziehen wollen und in Rätseln reden, auch wenn sich alles klar anhört. Grundsatz Nr. 10: Geisterwissen löst keine Probleme, sondern löst vielmehr neue aus. Mit den Rätseln bedrängter Geister muss man umzugehen wissen. Silen, der Experte für unbändige Leidenschaft und grenzenlosen Genuss – er war schließlich der Lehrer von Dionysos, hat also den Gott des Rausches und der Ekstase in dessen ureigensten Disziplinen unterrichtet –, legt mit seinen Antworten wohl den bedrohlichen Kern des Genießens/Exzesses offen: Der untote Trieb (Todestrieb) ist das Ende der Geschichte. In den Versen Nietzsches „Denn alle Lust will Ewigkeit, / will tiefe, tiefe Ewigkeit“ hallt noch die Botschaft Silens wider. Gegen diese finstere Ausweglosigkeit Silens setzt der apollinische Geist einen optimistischen Kontrapunkt: Apolls Botschaft lautet: Wissen und Erkenntnis sind möglich und Bildung, der „pädagogische Eros“, befreit vom dumpfen Wiederholungszwang. Was Fuchs, P., Intervention und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1999, S. 71.
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
man kollektive und individuelle Bildungsgeschichte oder auch das „Drama der Schule“ nennt, ist der Wettstreit zweier Geister: der Kampf zwischen Silens Thanatos und dem unersättlichen Bildungshunger Apolls. Midas wurde im Übrigen von Apoll, dem Gott der Bildung, für seine Dummheiten bestraft; er bekam Eselsohren aufgesetzt. Das Beispiel müsste eigentlich alle heutigen Geisterjäger und Bildungsökonomen abschrecken. Übrigens: Als Bremer Stadtmusikant muss Midas unentgeltlich bis ans Ende der Tage in allen Kinderzimmern die Weisheit Apolls in einer Light-Version verkünden: „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal.“ Ab und zu treten Leute auf wie ein Messias; in dem Film „Matrix“ gibt Neo, der „Auserwählte“, die Parole aus, seinen Geist zu befreien. Hier muss man aufpassen. Er liegt ruhig da – auch in höchster Not will er alles mit seinen Gedanken bewegen, er kämpft nur in Gedanken, das scheint bei aller Liebe zum Geist etwas übertrieben. Ein Messias der Verhirnung und Vergeistigung ist sicher ein gnostischer Pseudoprophet, noch dazu, wenn er nicht erlöst, sondern verschuldet, also das schlechte Gewissen schürt, es immer noch nicht richtig zu machen. Unverzichtbar ist zweifellos, dass man sich von der Matrix lösen und distanzieren muss. Und das beginnt damit, dass man aufhört, Energie-Quanten des eigenen Genießens an die Matrix abzugeben. Man soll nicht „herumorakeln“: Befreiung beginnt damit, dass man seine Träume verändert.148 Die Bindung an den großen Anderen muss gekappt werden. Und es ist auch klar, dass jeder, der noch an die Matrix angeschlossen ist, ein potentieller Agent ist.149 Die von der Illusion Befreiten, die sich weigern, in Zynismus zu verfallen, kämpfen auf alle Fälle einen guten Kampf.150 – Das ist mindestens Regel Nr. 11 und 12., Hauntology für Fortgeschrittene: Level B1.
Žižek redet davon, dass man die Bindung an den Herrn aus sich herausprügeln muss, alle Sympathie für die eigendynamische Faust aus Finchers „Fight Club“ haben muss, vgl. Žižeks „Pervert’s Guide to Cinema“ von 2006. 149 Der Geist ist in dem Film viel zu gegenständlich gedacht. Aber Gnosis ist ja auch der Materialismus der Geister. Wenn dagegen das Wort Fleisch wird, der Körper-Geist-Dualismus überwunden werden soll, so ist gemäß Lévinas das „Gott-Licht“ (F. Werfel) auf dem Gesicht des Gegenübers zu suchen … Unvergesslich ist Žižeks Aufforderung, nicht banal zwischen Realität und Illusion unterscheiden zu wollen sowie die Realität hinter der Illusion zu suchen, sondern auf einen Blickwechsel zu setzen: Man muss das Reale in der Illusion sehen, sehen, wie Fiktion die Realität stützt. Wir halten es nicht aus in der Wüste des Realen. Das Reale muss sofort fiktionalisiert werden. Wir verdanken uns ganz dem Aufkeimen der Projektionen, dem ständigen Aufschäumen der Phantasie, sie reißt uns aus allen Bindungen heraus. Das Ende in einer Phantasie ist nicht bereits das reale Ende, diese geistert weiter im Kopf herum. 150 Lévinas’ Verständnis des Messianismus als Inanspruchnahme des Einzelnen – „ich bin berufen, eine Verantwortung mehr als alle anderen zu tragen“ als Gipfelpunkt des Messianismus – oder sein entgrenztes Verständnis vom Staat Israel, der die von der Illusion Befreiten einschließt, öffnen das Judentum. Die prophetische Tradition fordert eine universale Gerechtigkeit. Zu ihr gehört die Universalisierung der Religion, die Partikularität nicht auflöst, sondern von ihr ihren Ausgang nimmt. 148
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Zentrales „Leitziel“ – bei dem Begriff beschleicht nicht wenige, die in Schulprogramm-Prozessen kostbare Stunden ihres Lebens opferten, bereits ein gruseliges Gefühl – ist also wie immer die Scheidung der Geister. Man kann nur hoffen, dass einem das gelingt. Und die Leitfrage hierbei ist zutiefst weihnachtlich: „Inwieweit verträgt die Wahrheit ihre Einverleibung?151“ (Nietzsche) oder: Wie konkretisiert sich die Idee? oder „Butter bei die Fische“: Kann das Wort sich materialisieren, verkörpern/Fleisch werden? – Das Fleisch ist die höchste Abstraktion, sagt der französische Philosoph Michel Serres, der es wohl verstanden hat. Wahrheit bleibt nicht mehr wahr, wenn sie zynisch gesagt wird, meinte schon Bonhoeffer. Lévinas meint, wenn wir das Gesicht des anderen sehen, wird das Fleisch Wort. Man kann also von der „Geburt des Geistes aus dem Gesicht des Gegenübers“ reden. Wir wären komplett orientierungslos und hilflos, wenn es keine Gesichter gäbe. Wenn es statt Gesichtern nur noch unbewegliche Charakter-Masken gibt, ist dies das Ende. Gesichter tragen also Spuren des Geistes, der alles lebendig macht, so viel kann man festhalten. Und ohne weihnachtliche Existenzen verkommt die Schule zu einer Monster-Anstalt152: Vor eiskalten Hirnzombies und dumpfen Rechenmonstern nimmt auch der Weihnachtsengel Reißaus. Žižek spricht von schmutzigen Zombies und aristokratischen Vampiren, die unerkannt unter uns leben, Zombies repräsentieren das Fremde, das uns zu nahe kommt;153 Aliens spiegeln das Eigene, das uns fremd wird. Auf alle Fälle sind auch „die bösen Geister des himmlischen Bereichs“154 (Eph 6,12) nicht zu übersehen, die Verkörperungen des großen Anderen, des QuasiGöttlichen, des Idealperspektivenblicks. Hauntologen untersuchen den Realitätsgehalt von Projektionen. Sie weinen über zynische Rationalisten und geistlos-monströse Super-Macher. Mit Kleist gibt es Vergebung aber schon mit Blick auf die „zerbrechliche Ordnung der Welt“. Geistern kann man sich nur leise nähern, sie verschwinden und verflüchtigen sich, wenn sie sich beobachtet fühlen. Sie reagieren auch aufgeregt auf verdeckte Ermittlungen und inkognito arbeitende Agenten; Geister merken es sofort, wenn einer mit einer Tarnkappe daherkommt. Nach der Entführung des Waldgeistes Silen gelang den Geisterjägern keine weitere Gefangennahme Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 129: „Das ist die Frage, das ist das Experiment.“ 152 Wenn Žižek mit der Aussage provoziert: „I am not a human, I am a monster“, spielt er schon mit den Projektionen. Man muss monströs zu denken wagen, die Monstrosität und Inhumanität von Institutionen ist damit keineswegs legitimiert. 153 „Vampire sind wohlerzogen, exquisit und aristokratisch, und sie leben unter normalen Menschen, während Zombies ungeschickt, schwerfällig, schmutzig sind und von außen angreifen, wie ein primitiver Aufruhr der Ausgeschlossenen“ (Žižek, S., Aufruhr im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 102). 154 Žižek widmet ihnen ein ganzes Buch „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert“ (Frankfurt a. M. 2011). 151
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5 Kammerflimmern: Geist der Schule = Herz-Geist der Weihnacht
von Geistern mehr. Die Geister erscheinen hinfort nur denen, die ihnen gewogen und guten Willens sind. Angesichts dieser für Geisterjäger aussichtslosen Situation erging schließlich im Advent dieses Jahres die Order an alle MIBs, die Waffen niederzulegen und einer sinnvolleren Profession nachzugehen. – Denn: „Schrecken ist genug verbreitet, / Hilfe sei nun eingeleitet!“ (Faust II, V. 5970) – Es war auch höchste Zeit für eine Charity-Initiative und eine generelle Rückrufaktion für Geisterjäger. (Dieselfilter und Software sind schadhaft oder manipuliert.) Der Etappensieg für die Geisterkulturen lässt fröhliche Weihnachtsfeierlichkeiten und einen dauerhaften Friedensschluss erwarten. Man traut es sich kaum zu sagen: Geister-suchen ist schwer, Geister-finden sehr leicht. – Weihnachten bleibt ein Fest einfacher Weisheiten: Nach dem Dichter Franz Werfel und dem Philosophen Emmanuel Lévinas scheint einem aus jedem Gesicht ein „Gottlicht“ entgegen; lose Spöttermünder und böse Argwohn-Blicke können das nicht verhindern: das Walten des Geistes. – Inkarnation, der Geist der Weihnacht, ist also – auch das ist nicht neu – eine sehr konkret-nahe Angelegenheit. – Nur Funktionäre und Technokraten wollen hieraus Kapital schlagen oder Energie absaugen. Die Botschaft von Weihnachten ist unmissverständlich: Das sinnhaft Geistige zieht nie laut in Systeme ein; wenn es das täte, sich mächtig manifestierte, wäre es bereits korrumpiert oder monströs-mutiert, es hätte die Seiten gewechselt; und Geister wechseln wie Geheimnisse nie von selbst die Seiten. Geheimnisse können ja auch nur leise gewahrt oder enthüllt, nie laut repräsentiert oder verkauft werden. Auch ohne Spiritismus ist die Hoffnung begründet, dass die Mächte der Finsternis nicht alle Lichter werden auslöschen können. Die Botschaft aus dem dunklen Zwischenreich und der hohen Sphäre der Vernunft lautet indes einhellig: „Löscht den Geist nicht aus! – MIS155 – (wo-)men in spirits – Für eine geist(er)reiche, begeisterte Schule!“ Auch alle Bildungsdefätisten dürfen hoffen. Die Geschichte der beiden schießwütigen Geisterjäger nahm tatsächlich eine glückliche Wendung. Mr. X und Mr. Y hängten ihre HighTech-Waffen, ihre modernen Messinstrumente und die alten Traumfänger an den Nagel: no dreamcatcher, no guns, no hunt. Sie konvertierten und rocken hinfort als Bluesbrothers die Szene. MIB (men in blame, oder „b“ wie Blockade) war gestern. Aus MIB wurde MIS. Auch Lehrer, die früher noch mit Geisterjägern eine Sache machten, hört man inzwischen Weihnachtslieder singen: „Let it flow, let it flow, let it flow“. Durch die weihnachtliche Willkommenskultur sind die einst ausgegrenzten und verfolgten Geister jedenfalls so gerührt, dass sie gar nicht anders können, als einen Chor zu gründen und bei jedem Weihnachtslied im Hintergrund immerzu Wenn die eigene Schule dann noch Marx-Insterburg-Schule (MIS) oder so ähnlich heißt, funktioniert das Sprachspiel reibungslos.
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5.4 Hauntology: Eine Weihnachtsgeistergeschichte
mitzusingen.156 Auch für die Dämonen und „die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ besteht Hoffnung. Alles läuft auf eine Verlängerung des Weihnachtsfests und der damit verbundenen Ferienzeit hinaus. Der Geist der Schule – ein letzter Wink – kann also nur weihnachtlich gestimmt sein, ansonsten wäre er ein blöder Kobold. Theologisch kann man es noch einfacher und klarer sagen: Der Geist der Weihnacht ist auch der Geist der Schule. Es kann nur einen geben; Highlander hat also recht behalten. Es kann keinen anderen Geist geben als den Geist der Mitmenschlichkeit. „Es herrscht ein guter/göttlicher Geist, wenn der eine dem anderen hilft“, meinte der griechische Dichter Menander schon 300 v. Chr.157 Ohne weihnachtliche Existenzen wird aus der Schule eine Monster-Anstalt. Der Schlusssatz gehört aber Donna Haraway, einer Postfeministin, die das Zerbrechliche und Fragile des Menschen betont. Schließlich bleibt Weihnachten ein Fest der leisen Vorsicht. Haraway meint: „Leben ist ein Fenster der Verwundbarkeit! Es zu schließen, wäre ein Fehler!“158
Ein Hoch auf alle Lebens- und Schutzgeister! Walter Benjamin meinte, keine Revolution ist wirklich radikal, wenn sie nicht die alten Geister zum Schweigen bringt. Insofern müssten mit Weihnachten, dem Kommen des Messias, alle bösen unerlösten Geister schweigen und ihr Herumspuken ein Ende haben. Von Agamben ist zu lernen, dass am Ende der Zeit ohnehin nur Lobgesang und Jubel, „Freude bei den himmlischen Heerscharen“ ist. Denen, die fragen, was mit den Gesetzen sein wird, sagt die christliche Eschatologie nur einen Bestimmungsort zu: Gesetze sind letztlich nur etwas für die Hölle. Die „Idee einer ewigen Regierung“ ist eindeutig als „eine infernale Idee“ zu bestimmen. „Das letzte, glorreiche telos des Gesetzes und der englischen wie der profanen Macht ist es, außer Kraft gesetzt, unwirksam zu werden“ (vgl. Agamben, G., Herrschaft und Herrlichkeit, Berlin 2010, S. 196f, 200). 157 Für Ernst Bloch enthält Weihnachten oder Inkarnation die revolutionärste Idee überhaupt, Himmlisches greift inmitten von Irdischem Raum; Gott wird in menschlicher Endlichkeit erfahrbar. Die Kreisläufe werden durchbrochen; das fixe Korsett der Systeme erhält einen Riss; Öffnung (Exteriorität) ist möglich, nicht nur die Wiederkehr des Immergleichen. Kafka, F., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. 241 (Aphorismus 78), meint zur in Aussicht gestellten Befreiung: „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“ Das Klarheits-, Vertrautheits- bzw. Sicherheitsbedürfnis gilt es zu überwinden. Befreiende Humanisierung setzt für Bataille vor allem die Aufgabe von Verabsolutierungen, das Eingeständnis der eigenen Bedürftigkeit und die Annahme von Hilfe voraus: „Menschlich sein heißt aufhören, souverän zu sein“ (zit. n.: Bischof, R., Negativität und Anerkennung. Hegel, Kojève, Bataille und das Ende der Geschichte, in: Bataille, G., Hegel, der Mensch und die Geschichte, Berlin 2018, S. 292). 158 Haraway, D., zit. n.: Tiefenbacher, C., Befreundete Monster, Hand in Pfote. Zu Donna Haraways diffraktionellen Schreibtechnologien, in: Singer, M. (Hg.), Technik & Politik. Technikphilosophie von Benjamin und Deleuze bis Latour und Haraway, Wien 2015, S. (116–145) 142: „Life is a window of vulnerability. It seems a mistake to close it. The perfection of the fully defended, ‘victorious’ self is a chilling fantasy.“ 156
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6. Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“ (Positionierung und Affirmation) „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken. … Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen. …“ – Johann Wolfgang von Goethe1 „Um bei dem anzukommen, was man nicht weiß, / muss man den Weg gehen, welcher der Weg des Nichtwissens ist. / … Um bei dem anzukommen, was man nicht ist, / muss man den Weg gehen, auf dem man nicht ist.“ „Was wir den Anfang nennen, ist oftmals das Ende / und etwas beenden heißt neu anzufangen. / Das Ziel ist da, wo man losläuft …“ „Wir lassen niemals vom Entdecken / und am Ende alles Entdeckens / langen wir, wo wir losliefen, an / und kennen den Ort zum ersten Mal. / Durchs unbekannte, erinnerte Tor / wenn der letzte unentdeckte Flecken / der ist, der am Anfang war …“ – Thomas Stearns Eliot2 „Seine Grundsätze soll man für die wenigen Augenblicke in seinem Leben aufsparen, in denen es auf Grundsätze ankommt. Für das Meiste genügt ein wenig Barmherzigkeit.“ – Albert Camus3
Abiturreden haben einen versöhnlichen Charakter; konfrontative Zuspitzungen, schroffe Härten oder zu drastische Verweise auf Katastrophisches/Unabgegoltenes werden Schülern am Ende ihrer Schulkarriere und ihren anwesenden Eltern nicht zugemutet. Der Anlass und Kontext lassen auch Provokationen nur in begrenztem Maße zu. Trotzdem wollen die folgenden Ansprachen keine bloßen Sonntagsreden sein. Weltfremdes Moralisieren oder Wertepredigen
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Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 415 (Nr. 373, 375). Eliot, T. S., Vier Quartette, Berlin 2015, S. 37, 41, 81. Camus, A., zit. n.: Cremer, D., (Hg.), Bleibt in meiner Liebe! Predigten Laacher Mönche zu den Evangelien der Sonn- und Festtage Lesejahr C/II, Regensburg 1994, S. 53.
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6.1 Spiderman im Bildungsdschungel
unterbleiben. Die acht Abiturreden zeigen acht Ausgänge, klare Richtungsangaben bzw. Positionsbestimmungen. Die knappen zeitlichen Vorgaben von zehn Minuten erforderten eine enorme inhaltliche Verdichtung. Die nun präsentierten Versionen bieten zum Teil ungekürzte Textfassungen. Da über die Jahre ein Faden weitergesponnen wurde, stehen die Reden auch in der Reihenfolge, in der sie von 2012 an bei den Abschlussfeiern des Beruflichen Gymnasiums gehalten wurden. Eine Sammlung von Abiturreden macht deutlich: Schule ist fokussiert auf den Abschluss, sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Übergangsraum. Der Vorläufigkeitscharakter des schulischen Geschehens vermag Lehrer nicht von ihrer Verantwortung zu entlasten. Was Schüler an Kränkendem, Schmerzhaftem oder Positivem ein Leben lang erinnern, ist nicht abzusehen. Die Abschlussreden wurden jeweils als letzte schulische Bildungsgelegenheit begriffen. Es sollten nicht nur Optimismus und Zuversicht versprüht, sondern Lebensthemen und Desiderata, die Lehrpläne nicht berücksichtigen, zur Sprache gebracht werden.
6.1 Spiderman im Bildungsdschungel „Die schönste Metempsychose ist die, wenn wir uns im andern wieder auftreten sehen … Sich mitzuteilen ist Natur, Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung. … Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht.“ – Johann Wolfgang von Goethe4 „Gaben müssen den Beschenkten so tief betreffen, dass er erschrickt.“ – Walter Benjamin5
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, schon vor einem Jahr wurde mir der ehrenvolle Auftrag gegeben, diese Rede hier zu halten. Es war genug Zeit zum Nachdenken, die grundsätzliche Schwierigkeit besteht allerdings immer noch: Was man auch in den wenigen Minuten sagt, es wird zu wenig sein. Da Philosophen einen vor Schönrednerei und rhetorischen Gefälligkeiten warnen6, soll es mir erlaubt sein, Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 543, 547 (Nr. 1336, 1345, 1389). Benjamin, W., zit. n.: Hesse, B. (Hg.), Die schönsten Aphorismen, Frankfurt a. M. 2010, S. 168. 6 Nach Hegel muss „die Philosophie … sich davor hüten, erbaulich sein zu wollen.“ Die sokratische Warnung vor den Sophisten und ihren verführerischen Reden hat an verschiedenen Stellen der Dialoge Platons ihren Niederschlag gefunden (vgl. auch Rancière, J., Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, Wien (2. Aufl.) 2009, S. 102: „Die Rhetorik … hat zu ihrem Prinzip den Krieg. Man sucht dabei nicht das Verständnis, nur die Vernichtung der gegnerischen Vernunft. Die Rhetorik ist eine Rede, die gegen die poetische Verfasstheit des sprechenden Wesens revoltiert.“); und nach A. N. Whitehead kann alles Nachdenken ohnehin nur kleine Fußnoten zu Platon ergeben. 4 5
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Ihnen einige sperrige Inhalte aufzutischen und ein anstrengendes Zuhören abzuverlangen. Die Unverschämtheit, diese Ankündigung auch wahrzumachen und tatsächlich einige Zeit des Abends zu okkupieren, wird mir hoffentlich verziehen und nicht im Nachhinein als schweres Foul mit Ansage ausgelegt. Wenn Sie für die folgenden Ausführungen einen reißerischen Titel im Edutainment-Format möchten, schlage ich „Spiderman im Bildungsdschungel“ vor. Ein ernsterer Untertitel, der natürlich zu lang ist, könnte heißen: „Letzter Ausweg Copy and Paste? – ‚Sind wir nicht alle geistige Trittbrettfahrer?‘ Naja, wir sollten aber wissen, wem wir aufsitzen …“7 Der Untertitel rückt spürbar vom Abimotto ab. Schon der jüdische Talmud äußert die Hoffnung, dass das illegale Leser-, Hörer- und Verfasserzeit raubende Kopieren einmal ein Ende nimmt. Man vertraut darauf, dass die Zeit des Heils anbrechen, der Messias dann kommen wird, wenn jeder die Quellen seiner Erkenntnisse genau benennen kann.8 Das richtige Zitat und die exakte Fußnote bereiten also die Erlösung und Befreiung der Menschen vor. – Aber keine Sorge, auch „zu den dunkelsten Themen“ werden „die hellsten/fröhlichsten Gesänge“ (Lukrez) angestimmt.9 Angesichts des Abimottos sehe ich meine Aufgabe darin, Ihnen einen kleinen ZitatCocktail, eine letzte, hoffentlich hochprozentige Mixtur zu reichen, es soll Ihnen schwindlig werden. Denn „nur wem schwindlig ist, der ist informiert.“10 Rabbi Nachman von Breslov (ein Sohn des legendären Baalschem Tow, des Begründers des Chassidismus) hat empfohlen, Als Kommentar zum diesjährigen Abi-Motto „Abipedia – 13 Jahre Copy and Paste“ genügte es, lediglich den kurzen Vers Wilhelm Buschs hinterherzuschicken: „Nun ist‘s vorbei – mit der Übeltäterei.“ Das Motto provoziert andererseits eine deutlichere Reaktion. 8 Lévinas, E., Jenseits des Buchstabens, Frankfurt a. M. 1996, S. 125. Serres, M., Die fünf Sinne, Frankfurt a. M. 1993, S. 460, kritisiert das Zitat als unfeine Explizierung: „Zitate zeigen von Unkultur, von schlechter Verdauung. Sie sind die Rülpser eines Menschen, der krankhaft Luft schluckt.“ Kultur lebt vom Impliziten, vom Vergessen der Übung: „Lerne die Umstände, um dann niemals welche zu machen, rieten die antiken Damen, lerne alles, was möglich ist, und breite es niemals aus, deine Kultur wird gerade so viele Lücken haben wie Plumpheiten, an die du dich erinnerst und die deine Sprache hemmen.“ Hypertext-Formate bieten allerdings die Möglichkeit von eleganten Links, die nicht im Nirvana enden, sondern stabile und valide Verknüpfungen herstellen, dem Nachfragenden Verweise bieten. – Der Vorwurf, dass man sich beim Zitieren auf Autoritäten beruft, übersieht, dass man Zitatverweise gegeneinander ausspielen kann, hier also Freiräume entstehen können und „das Zitat vom Geist des Zitierten befreit“ (Agentur Bilwet). Zitate verweisen auf die notwendigen Theorierahmen, auf die Goethes Verhältnisbestimmung von „Natur und Kunst“ anspielt: „Vergebens werden ungebundene Geister /nach der Vollendung reiner Höhe streben.“ 9 Lukrez, zit. n.: Steiner, G., Gedanken dichten, Berlin 2011, S. 32. 10 Sloterdijk, P., Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987, S. 64. An dieser Stelle bleiben das Devianzpotential und die Explosivität von Philosophie noch unerwähnt. Nietzsche/Badiou meinten, der Philosoph sei „der Verbrecher der Verbrecher“ (vgl. Badiou, A., Ethik, Wien 2003, S.121). Schon Goethe warnt im „West-östlichen Divan“ (Hg v. M. Rychner, Zürich (4. Aufl.) 1994): „Traue nicht dem trunkenen Weisen, / denn er stiehlt dir dein Geheimnis“ (Paralipomena, S. 159); an anderer Stelle aber heißt es: „Überall will jeder obenauf sein, / Wie’s eben in der 7
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man solle pro Tag einmal wenigstens in Gedanken tanzen, also sich in einen Rausch denken.11 Das mag damit zusammenhängen, dass Denken immer Übertreiben ist, dass Wahrheit viel mit Ekstase zu tun hat, jedenfalls nicht dröge und altbacken ist. Andere Zeitkritiker sind sich sicher: Der Schwindel stellt sich von allein ein, man muss nur ein wenig die gegenwärtigen Zustände ansehen, denn Wissen ist in der Informationsgesellschaft längst zu einer Art Droge/Aufputschmittel, einem Steroid, geworden.12 – Wenn die Frage „Was ist Bildung?“ heute Abend hier für Sie ein letztes Mal im schulischen Raum steht, wäre eine erste Antwort: Ungewöhnliche Gedanken mit Wohlwollen/Interesse zu bedenken, vor schwindelerregenden, merkwürdigen Gedanken nicht zurückzuschrecken. Lévinas spricht davon, „verrückte Gedanken mit Liebe zu bedenken“13.
Bildung als Fetisch und Mittel sozialer Selektion Ein – zumindest für heute Abend – ungewöhnlicher Gedanke lautet: Bildung hat nichts mit Abschlüssen zu tun. Sie erschöpft oder verkörpert sich nicht in Zeugnissen. Eine Gleichsetzung oder Engführung von Bildung auf formale Qualifikationen oder Zertifikate wäre hochproblematisch. In den Augen mancher Kritiker praktizieren Schulen und Unis ohnehin längst einen Tanz ums Goldene Kalb, sie huldigen dem Fetisch Bildung, inszenieren eine Fetischisierung von Abschlüssen, also eine Bildungsreligion:14 Der Fetisch Bildung bedient das Distinktionsbedürfnis
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Welt so geht. / Jeder sollte freilich grob sein, / aber nur in dem, was er versteht.“ Und: „Weise fallen in Unwissenheit, / wenn sie mit Unwissenden streiten“ (Buch der Sprüche, ebd., S. 63–64). Vgl. auch Cioran, E. M., in: Koch, J., Abschied von der Realität. Das illusionistische Zeitalter, Hamburg 1988, S. 29: „Nichts trocknet den Geist rascher aus, als sein Abscheu vor obskuren Ideen.“ Oder besser Deleuze, G., Guattari, F., Was ist Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 50: „Denken heißt stets einer Hexenlinie folgen.“ In ähnlicher Weise betont Stengers, I., Spekulativer Konstruktivismus, Berlin 2008, S. 73: „Man muss die ehren, die uns in die Lage versetzen, zu divergieren!“ und S. 76: „Daher ist es auch gut, zwei Hexenflüge gleichzeitig zu vollziehen.“ Ein derartiges Philosophieverständnis will nicht feste Antworten, sondern die Kontinuität des Fragens/Suchens: „Und zur Unverschämtheit der Dummköpfe gehört es, dass sie mit fertigen Antworten gefüttert werden wollen“ (Steinweg, M., Bataille Maschine, Berlin 2003, S. 133). Dass Verstehen mit der Irritation beginnt, dass Hermeneutik Destruktion ist, stellen im Übrigen auch alle Hermeneutiker (vgl. etwa Grondin, J., Der Sinn der Hermeneutik) heraus. Serres, M., Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a. M. 1993, S. 135– 136: „Wissen heißt heute: sich informieren. Information wird die oberste, die universelle Form der Droge, der Gewöhnung, der Sucht.“ Lévinas, E., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg München (3. Aufl.) 1999, S. 113. Vgl. auch die bekannte Sentenz aus Hölderlins „Hyperion“: „Das beste Wort verwirrt den Menschen oft.“ Die moderne Gesellschaft ist demnach keineswegs so säkular, wie sie sich geriert, sondern erzeugt permanent neue Heilsbegriffe wie Bildung, (Jugend oder auch Gesundheit). Schulen mutieren zu Tempelanlagen dieser Ersatzreligion. Die Lehrer führen als Hilfspriester in den Bildungskult ein, auf leicht
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aufstrebender Gesellschaftsschichten und sichert vorgeblich aussichtsreiche Startpositionen bei allen weiteren Verteilungswettkämpfen. Höhere Bildungsabschlüsse verheißen beruflichen Erfolg und bessere Lebenschancen. In seiner magisch-religiösen Aufladung wird Bildung aber auch als Universallösung aller gesellschaftlichen Probleme angepriesen. Soziale Probleme werden auf diese Weise privatisiert. Statt struktureller Arbeitsmarktprobleme gibt es allein individuelle lebenslange Fortbildungserfordernisse.15 Wie dem auch sei: Sie wohnen gerade dem letzten Akt Ihrer schulischen Initiation bei, ab heute besitzen Sie die Erlaubnis, weitere höhere, nun akademische Weihen zu erlangen. Natürlich erwartet man heute Abend keine bedenkenschwere Zeitkritik, sondern vielmehr eine erbaulichere Reflexion der Schulzeit:
Bildung – elitäre Blindheit oder alternativer Lebensstil Adorno meinte: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen.“16 – Das führt zu der heiteren Definition F. B. Simons (oder doch eigentlich M. Horkheimers) von Lernen oder Bildung als dem Verzicht auf die Mühe, sich gegen neue Erkenntnisse zu sträuben und zu wehren.17 Zur Bildung gehören demnach eine sehr vitale Bereitschaft zur Wandlung und die Weigerung, angesichts des eigenen ungeheuren Nichtwissens und übermächtiger medialer „Blödmaschinen“18 zu resignieren. Auch wenn man nicht annähernd in alle interessanten Bücher hineinschauen kann, geht es darum, weiterzulesen. Bildung wäre also die Fähigkeit, fortgesetzt Irritationen zuzulassen und sich Neuem zu stellen, Infragestellungen nicht auszuklammern.
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reproduzierbares Wissen zu setzen und Lernen zu trivialisieren. An der Universität geht die Informationsbulimie dann weiter. Es hat keiner mehr ausgelernt, lebenslang müssen wir uns nach- und weiterqualifizieren. Keiner weiß je genug über auch nur das geringste Problem. Es wird dabei auch der biblische Satz, die Einsicht Kohelets verschwiegen: Mehrt man das Wissen, so mehrt man den Verdruss (Koh 1,18); vgl. Richard Münchs Sisyphus-Hypothese, die Sloterdijks Statement ähnelt: „Je mehr Probleme gelöst werden, umso mehr neue Probleme werden entstehen“ (Münch, R., Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1991, S. 361). Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 63 (Nr. 34). Leben ist für Konstruktivisten ein erkenntnisgewinnender Prozess. Jede Lebensäußerung bedingt Veränderung und neue Lernprozesse. Nicht zu lernen bedeutet so gesehen, Vitalität einzubüßen. F. B. Simon spricht vom „Verzicht auf die Anstrengung, die es kostet, dumm zu bleiben“ (ders., Die Kunst, nicht zu lernen, Heidelberg 1997). – Spätestens heute Abend lassen die Lehrer es sein, gegen diese vorschnell bei Schülern ausgemachte Anstrengung anzukämpfen. Vgl. Metz, M., Seeßlen, G., Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität, Berlin 2011.
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Schule geht es nicht um die Vermittlung von zusammenhanglosem Datenmaterial, von Infomüll, der nur in Quizshows zu recyceln ist, sondern um Orientierungswissen, kontextualisiertes Wissen, das zur Kritik und zur Distanz zu den verschiedenen Hypes der Gesellschaft befähigt. Schule implantiert im besten Sinn ein Verzögerungs- und Langsamkeitsmodul, das an einem schnellen Aufspringen auf Moden hindert und nicht auf Appelle zur allgemeinen Mobilisierung oder auf Sachzwang-Argumente hört. Für Luhmann gehört zur zeitgenössischen Bildung das Eingeständnis des Scheiterns der „allgemein geltenden Formen“19. Aufklärung scheitert für gewöhnlich an dem Wunsch nach Vertrautem/Gewohntem, an den Normalisierungsbedürfnissen der Leute20. Wir wissen genau: Wir sind mehr unsere Gewohnheiten als unsere Entscheidungen oder kühnen Erkenntnisse (Marquard). Und: „Wir wagen nicht zu denken, wie wir leben.“21 – Medien können nach Luhmann positiv zur Bildung beitragen, insofern sie die „Irritierbarkeit“ des Einzelnen steigern.22 Man muss aber hier schon herausstellen: Da Bildung kein leicht verdauliches, einfach reproduzierbares, problemlos anwendbares Wissen meint, beginnt sie mit der Einsicht, dass Wissen keine Probleme löst, sondern vielmehr auslöst (Sloterdijk).23 So geht Albert Schweitzer davon aus, dass wir uns der Wahrheit nähern, wenn wir die Konflikte immer tiefer erleben24, also Komplexität weniger ausblenden, Widersprüchlichkeit immer mehr aufnehmen/aushalten; und Edmond Jabès antwortet auf die Frage „Welches ist deine Wahrheit?“ kurz: „Die mich zerreißt.“25 Heute Abend liegt aber folgende Überlegung nahe:
Luhmann, N., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 48 (Novalis). Luhmann karikiert hier emanzipatorische Ziele (die „Emanzipation zur Vernunft“) und spricht von einer „Emanzipation von der Vernunft“, die längst passiert sei; die Dekonstruktion des Vernunftbegriffs ist in seinen Augen in vollem Gange (ebd., S. 42). Und ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 568: „Wir gehören nicht mehr zu jenem Geschlecht der tragischen Helden, die, nachträglich jedenfalls, zu erfahren hatten, dass sie sich selbst ihr Schicksal bereitet hatten. Wir wissen es schon vorher.“ 20 Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 285, 337: Normalität und Bodenständigkeit stehen einer Zeitdiagnose bzw. Zeitgenossenschaft im Weg. 21 Stegmaier, W., Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994, S. 143. Aber es ist auch klar, was Ammann, J.-C., Bewegung im Kopf, Regensburg, 1993, S. 79, herausstellt: „Wie auch immer wir leben, wir bilden eine Metapher hierfür.“ 22 Luhmann, N., Die Realität der Massenmedien, Opladen (2. Aufl.) 1996, S. 149. 23 Sloterdijk, P., Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987. 24 Schweitzer, A., Wie wir überleben können. Eine Ethik für die Zukunft, Freiburg 1994, S. 85–86. 25 Jabès, E., Vom Buch zum Buch, München Wien 1989, S. 41. 19
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Bildung als Lebensaufgabe „Das Herz lebt in Chancen“, so der amerikanische Philosoph William James.26 Das Abiturzeugnis erscheint in diesem Sinn als ein offener, uneingelöster Scheck auf die Zukunft. – Es überwiegt heute die Faszination des Aufbruchs. Nach Derrida brauchen wir für den Aufbruch lediglich ein paar unbezweifelbare Namen, Namen, an die man sich halten kann. Die Aufgabe des Zitat-Cocktails ist es, einige Referenzen zu liefern und damit die Bedenken vor dem Ungewissen zu zerstreuen. Als Türsteher darf man Ihnen heute nur noch die Tür aufhalten und hilfreiche Geister in Form von Zitaten hinterherschicken. Ein Türsteher darf nie den Weg zum Ausgang verstellen, denn nicht nur Mystiker und Dichter wissen: „Der Weg ist besser als die Herberge“ (Cervantes). – Ein Abiturus, ein Abiturient, ist einer, der weggehen wird. Schule ist nur ein Transitraum, eine Gangway zum nächsten Flug. – Der Zitatregen kann als finale Gabe wie bei Frau Holle die Goldmarie nur erfrischen und zum Weitergehen ermuntern. Wenn Buddha als letzten Satz vor seinem Tod zu seinen Schülern „Geh weiter!“ gesagt haben soll, so spricht daraus das Zutrauen, dass die Schüler ihren Weg schon gehen werden. Schüler sollen nicht auf Lehrer fixiert sein. Lehrer haben spätestens heute als Projektionsfläche und Sparringspartner ausgedient. Sie treten aus dem berechenbaren Übungsraum Schule heraus und suchen sich neue Lernorte. – Kafka formulierte darum schärfer als Buddha: „Du bist die Aufgabe. Kein Schüler [oder Lehrer] weit und breit.“ 27 Winston Churchill meinte (ebenso illusionslos): „Die Hälfte seines Lebens verbringt der Mensch damit, die falschen Vorstellungen seiner Vorfahren loszuwerden, die andere damit, seinen Kindern falsche Ansichten beizubringen.“28 Aus derselben Überlegung heraus kam Freud zur Einsicht, dass wir hypnotisiert sind, wir nicht wissen, was wir tun, und es entscheidend
Sloterdijk, P., Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluß an einige Motive bei William James; in: James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S. 11–34. In die vorliegenden Ausführungen sind einige Begriffe von Moderne eingesponnen. Moderne steht für die Selbstermächtigung und Überforderung eines hypertrophen Subjekts. Postmodern erscheint die Thematik des Ungeheuren, der Abgründe des Subjekts. Im Rahmen seiner Sphärologie werden diese Definitionen umformuliert: „Modern ist, wer abstreitet, jemals innen gewesen zu sein“ (Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 155, 159, 167). Postmodern wäre nach dieser Definition, wer sein Bedürfnis nach bergenden Innenräumen nicht verkennt und sich seiner eigenen Fremdheit stellt. 27 Kafka, F., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. 231 (Aphorismus 22). 28 Churchill, W., zit. n.: Forschung und Lehre 4/2005, S. 18 (Rubrik „Fundsachen“). Es wäre also der traurige Normalfall und die Regel, dass wir nicht wissen, wessen Agent wir sind, in welchem Namen wir handeln. 26
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6.1 Spiderman im Bildungsdschungel
darauf ankommt, Distanz zu unseren Vorprägungen zu bekommen; Bildung bedeutet also, etwas zu lassen und zu verlernen. Hölderlin fasst die Erkenntnis in andere Worte, die M. Heidegger gern zitiert: „Der freie Gebrauch des Eigenen ist das Schwerste.“29 Der Philosoph Peter Bieri meint ähnlich: „Sich bilden – das ist wie aufwachen.“30 Alles kommt darauf an, auch die dunklen Seiten und die Brüche des eigenen Weltbildes kennenzulernen, um ihnen nicht blind zu erliegen. Das Projekt Selbstaufklärung ist nie abgeschlossen. Für Platon steht fest: Nur das reflektierte, geprüfte Leben ist ein sinnvolles Leben. Denken Sie zugleich den Satz aber so unprätentiös wie Kant: Das Wesen der Welt lässt sich auch in einer Waschküche erkennen. Und hier in der Waschküche ist klar: Bildung muss sich nicht auszahlen: Im Gegenteil gilt der Satz Mark Twains: „Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn man keinen Cent mehr in der Tasche hat.“ – Und jede Rede über Erziehung und Bildung hat an einer Stelle das Zweckfreie zu feiern und einfache Kosten-Nutzen-Überlegungen zu karikieren. Wer Kategorien des Gewinns und des Profits verhaftet bleibt, hat den Bildungsgedanken noch nicht ansatzweise berührt.31 Eine der schönsten Umschreibungen von Bildung geht auf Hegel zurück; er meinte, Bildung ist die Fähigkeit, mit den Gedanken eines anderen mitgehen zu können. Das impliziert gerade nicht distanzlose Zustimmung, sondern eigenständiges Weiterdenken.32 Die Schulzeit war nicht umsonst, wenn sie eine Ermutigung zu einem freien Umgang mit dem Eigenen war. „Das Grausamste, was man Menschen antun kann,“ wäre nach dem amerikanisch-jüdischen Dichter Leon Wieseltier, „sie dazu zu bringen, sich ihrer Komplexität/Vielheiten zu schämen.“33
Heidegger vereinfacht diesen Satz aus Hölderlins Brief an Böhlendorff: „Aber das Eigene muss so gut gelernt sein, wie das Fremde. […] wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen [ist] das schwerste.“ (vgl. Weber-Henking, I., Differenzlektüre. Fremdes und Eigenes der deutschsprachigen Schweizer Literatur, gelesen im Vergleich von Original und Übersetzung, München 1999). 30 Bieri, P., Wie wollen wir leben?, Salzburg (2. Aufl.) 2011, S. 83 und S. 68: „Es geschieht, was für Bildung typisch ist: Vertrautes wird verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist, erneut zu etwas Eigenem, Vertrautem zu machen.“ 31 Es wäre zu wenig, nur zu einem Buch zu greifen, wenn man einen Schein oder Creditpoints dafür bekommt. Georg Francks „mentaler Kapitalismus“ diagnostiziert ein ubiquitäres Kalkulieren: Die Marktszenarien weiten sich aus (Franck, G., Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1994). Steiner meinte einmal, dass es noch keinen Begriff für den „Faschismus (!) des Profits“ gibt, der sich allerorten breitmacht. 32 Vor allem geht es darum, den anderen nicht schnell einzugemeinden, die Fremdheit seiner Position nicht zu übertünchen, das wäre nach Schütze/Lévinas schon der Keim des Rassismus. 33 Wieseltier, L., Against Identity: Wider das Identitätsgetue, in: Die Zeit vom 17.2.1995, Nr. 8, S. 57–58: „Das Grausamste, was man Menschen heute antun kann, ist, sie dazu zu bringen, sich ihrer Komplexität zu schämen. … Nicht: meine Identität, sondern: meine Identitäten. Die größere Wahrheit liegt im Plural. Eine größere Chance, den Anstand zu wahren, ebenfalls. Das multikulturelle Individuum ist 29
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Oder in den berühmten, tröstlichen Worten von Friedrich Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“34 Wenn man sich ein Bild von Bildung machen will, muss man aber auch hier weiterfragen:
Auf der Suche nach der passenden Bildungsmetapher Vor 2400 Jahren definierte der ionische Naturphilosoph Demokrit von Abdera, einer der sogenannten Atomisten oder ersten philosophischen „Materialisten“: „Bildung (griechisch Paideia) ist für den Glücklichen ein Schmuck (griechisch Kosmos), für den Unglücklichen eine Zuflucht.“35 Diese Ambivalenz ist in der Schule allerorten zu beobachten. Was die einen brennend interessiert, berührt die anderen überhaupt nicht, geradezu eine Grunderfahrung von Lehrern.36 Was ist also Bildung, wenn sie so verschieden angeschaut werden kann, so vielfarbig schillert zwischen ornamentalem Beiwerk und Rettungsanker? Die Auflösung des Rätsels liegt für Spiderman oder Spiderwoman auf der Hand: Bildung scheint schließlich eine Art Spinnennetz zu sein, ein zartes, leicht zerstörbares Gewebe von Begriffen und Formeln, das eine ästhetische Qualität hat und zugleich dem Halt bieten kann, der sich darin eingesponnen hat. Von ihrer lateinischen Grundbedeutung her sind Texte „gewebt“, eben derart schöne und zugleich rettende Wortgewebe – oder können es zumindest sein.37 Die
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eine Gestalt, in der es zu moralischen Reibungen kommt. In diesem Individuum geraten die Spötter, der Hasser und der Töter leicht aneinander und holen sich Beulen. … Reinheit ist das Gegenteil von Integrität.“ Und Einstein, A., Mein Weltbild, Berlin 1989, S. 106: „Die Kontraste und Widersprüche, die dauernd in einer Hirnschale friedlich nebeneinander hausen können, werfen alle Systeme der politischen Optimisten oder Pessimisten über den Haufen.“ Und in den Aphorismen für Leo Baeck schreibt Einstein auf S. 105: „Wenige sind imstande, eine von den Vorurteilen der Umgebung abweichende Meinung gelassen auszusprechen; die meisten sind gar nicht fähig, überhaupt zu solchen Meinungen zu gelangen.“ Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra (Zarathustras Vorrede, KSA 4, S. 19). Zit. n. Stobaios; aus: Mansfeld, J. (Hg.), Die Vorsokratiker II. Zenon, Empedokles, Anaxagoras, Leukipp, Demokrit, Stuttgart 1989, S. 278 (DK 68 B 180). Vielleicht gehört eine weitere Ambivalenz hierher: Das Abitur erscheint denen, die es noch nicht haben, als ein magisch aufgeladener, großartiger Abschluss, der alle Chancen eröffnet; für den, der es hat, ist es selbstverständlich und nur mit einem begrenzten Aussagewert über die Person/ihr Können verbunden. Vgl. die ebenso von Martin Heidegger viel zitierten Sätze Hölderlins aus „In lieblicher Bläue“: „Doch dichterisch, / wohnet der Mensch auf dieser Erde.“ und aus „Andenken“: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Sie weisen die Richtung für den weiteren Gedankengang, Kultur als Text und Literatur/Dichtung/Philosophie als Lebensraum zu verstehen.
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6.1 Spiderman im Bildungsdschungel
Theorie-Netze, die Netze aus Zahlen und Formeln, die Sie in der Schule kennengelernt haben, wurden ja nicht von bösen Alien-Lehrer-Spinnen ausgedacht, um Sie in die Falle zu locken, festzukleben und zu quälen. Die diversen kulturellen Netze wurden Ihnen zum Weiterknüpfen anvertraut. Dicht gesponnene panzerartige Kokons mögen schützen, engen aber auch ein. Netze, die dagegen offen aufgespannt sind, können bewegliche Brücken, Verbindungen und zugleich Sensorien darstellen, die auf atmosphärische Veränderungen reagieren. – Denken Sie an die Spinnweben, auf die sich der Tau oder Frühreif niederlässt, ohne sie zerreißen zu können. – Die Wette der Philosophen geht natürlich dahin, dass offene, bewegliche Begriffsnetze einem genug Halt geben, das lehren auch Spiderwoman und Spiderman, die mit leichten Seilen und wenig Gepäck gut vorankommen. Beide brauchen bei ihren Expeditionen und Abenteuern Bildungssicherheitsnetze und kulturelle Rettungsleinen. Die Trilogie: „Unterwegs als Spiderman: The Mission (I), Net Construction Reloaded (II) und Revolutions (III)“ mit Bonusmaterial „Spider meets Alien“38 kann hier nicht vorgetragen werden, Sie können ja Ihrer Fantasie freien Lauf lassen und sich an das Motto gewöhnen, das an den Türen der Studentenwohnheime zu lesen ist: „Was Sie sich auch vorstellen, hinter dieser Tür passiert’s.“ Sie müssen den Film selbst drehen bzw. werden als Akteure gebraucht. Als Casting oder eher erstes Afterglow zur Trilogie können Sie unsere jährlichen Ehemaligentreffen nutzen, es ist klar, dass dann keine Statistenrollen vergeben werden. Sie sind jedenfalls herzlich eingeladen, vorbeizuschauen.
Bildung als Devianz/Abweichung und die Gefahr der Sklerose Nietzsche formulierte: „Man vergilt dem Lehrer schlecht, wenn man nur Schüler bleibt.“ Es hängt also alles davon ab, selbstständig zu denken, andere Wege zu gehen als die ausgetretenen Pfade. Der norwegische Philosoph Jens Bjœrneboe deutet Nietzsche so: „Der gute Schüler ist der, der auf den Scheiterhaufen kommt, es ist der wache, kritische und verantwortungsbewusste Mensch, gegen den der Hass sich richtet. Nur solange es diesen guten und treulosen Schüler gibt, besteht Hoffnung für uns. Wenn er verstummt, schweigt alles … und unsere Kultur geht in ihren Mumienzustand über …“39 Bei den Titeln handelt es sich um keine Luftschlösser. Der Netz- und Fadenmetaphorik im kulturphilosophischen Diskurs nachzuspüren, stellte sich als sehr ergiebig heraus; die Überlegungen zu einer (konstruktivistischen) Ästhetik der Bildung werden separat veröffentlicht. 39 Bjœrneboe, J., Der Mensch ist unsichtbar. Anstiftung zu Verrat und Freiheit, Dornach 2007, S. 40. Ähnliches gilt natürlich auch für den devianten Lehrer. Sokrates wurde der Jugendverderberei und der Gotteslästerei angeklagt, zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt und hingerichtet. 38
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Schon griechische Philosophen vor zweieinhalbtausend Jahren ermutigten ihre Schüler, sich nicht von der Meinung der anderen abhängig zu machen: Wem die geistige Freiheit wichtig ist, kann im Grunde nichts passieren.40 Epiktets letzter Kernsatz lautet: „Anytos und Meletos [die Ankläger Sokrates’] können mich zwar töten, aber schaden können sie mir nicht.“ Man muss hier nichts idealisieren. Jean Baudrillard schreibt über seine Philosophie die Warnung, die auch auf amerikanischen Rückspiegeln zu lesen ist. „Vorsicht: Die Dinge können näher sein, als sie erscheinen.“ Baudrillard fürchtet also weniger allzu trockene oder dunkelgraue Theorien als vielmehr die eigene Unbeweglichkeit. Die Hauptgefahr ist die Sklerose, Verkalkung, die geistige Vergreisung. (Und diese kann natürlich auch jedem noch so jungen Praktiker blühen.) Es geht also um Offenheit des Denkens, Subversion und Devianz. Und tatsächlich ist vieles offen: Wir wissen nicht, wie man sich in untiefen Bildschirmwelten, auf spiegelglatten Benutzer-Oberflächen orientiert oder in Datensintfluten navigiert. – Das Erleben eigener Endlichkeit und Kontingenz, radikaler Zufälligkeit, bleibt jedenfalls ein einmaliger Ernstfall und kein Spiel mit Reset-Taste. – Es ist nicht ausgemacht, wie man Multi- oder Transkulturalismus lebt, wie man im karnevalesk Pluralen der sogenannten Multioptionsgesellschaft (Peter Gross) oder im fast totalitären popkulturellen Mainstream Identität definiert/ausbildet. Um es nicht zu beliebig zu halten, ist an den Frankfurter Philosophen Schopenhauer zu erinnern. Für ihn ist klar: Auch Wissen und Bildungsabschlüsse dienen allzu häufig der Selbststeigerung und Bildungseinrichtungen sind Wille-zur-Macht-Organisationen. Insofern würde er der Diagnose der Fetisch-Bildungsreligion zustimmen. Bildung ist erst da ausgereift, wo sie sich in Mitgefühl/Mitleid verwandelt.41 Und hier ist dann für Augenblicke der Wille zur Macht überwunden, der das sonstige Leben so sehr bestimmt.
Bildung als Hochseilakt In zwei Zitaten von Nietzsche wird deutlich, dass er vor 150 Jahren ahnte, dass die Stunde von Spiderwomen/Spidermen angebrochen ist: Epiktet, Handbüchlein der Moral, hg. v. K. Steinmann, Stuttgart 1992, S. 79. Sicherlich gilt auch B. Kirchhoffs Satz: „Es gibt keine harmlosen Worte.“, Worte können extrem verletzen. Aber trotz der Verwundbarkeit und Fragilität des Menschen beharrt Epiktet auf der oben zitierten Position. – Genauso sieht es auch Einstein, A., Mein Weltbild, Berlin 1989, S. 173: „Einen innerlich freien und gewissenhaften Menschen kann man zwar vernichten, aber nicht zum Sklaven oder blinden Werkzeug machen.“ 41 Deshalb lügt ja auch der, der die Wahrheit nur zynisch sagt, vgl. Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung. 40
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6.1 Spiderman im Bildungsdschungel
„Der Mensch ist ein Seil [denken Sie an das Spinnennetz, ein gefährdetes Zwischenwesen], … – ein Seil über einem Abgrund. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf dem Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist.“42
Nietzsche meint hier, dass der gefährliche Seilweg wie bei Spiderman erst in actu beim Gehen oder Springen entsteht und die Spinnweben und ihr Urheber letztlich nicht zu trennen ist. Ob Sie sich an großen Strukturen orientieren oder an nahe Anknüpfungspunkte halten, der Appell Nietzsches lautet: Lassen Sie den Faden nicht abreißen, spinnen Sie die dargebotenen Fäden weiter.43 Um nun den Leistungsdruck loszuwerden, besonders viel spinnen zu müssen, vergegenwärtige man sich Nietzsches zurückhaltenden Satz, er war sonst extrem unbescheiden/ größenwahnsinnig: „Weh mir, ich bin eine Nuance.“44 – oder eine Zitatkollage. Es kommt also auf das Strickmuster, die feine/individuelle Struktur Ihres Spinnennetzes an. – Das Nessushemd, das Herakles erstickte/verbrannte, war jedenfalls aus eintöniger Mikrofaser. – Und es wäre doch schade, wenn Spiderman oder -woman, statt kreativer Netze zu knüpfen, damit beschäftigt
Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra, (KSA 4, S. 16): Die fremde Formulierung „geknüpft zwischen Tier und Übermensch“ wurde ausgeklammert, da sie hier zu erklärungsbedürftig ist und das Bild vom Seil überdeckt. Von Kafka stammt ein weiterer Seil-Vergleich: „Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden“ (Kafka, F., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. 228, Aphorismus 1). Der Weg ist eher als untiefe Stolperfalle, denn als Slackline-Akrobatik-Pfad zu denken. Die Metapher vom Denker als Seiltänzer bringt Wittgenstein auf (vgl. Vermischte Bemerkungen, S. 141, zit. n.: Sloterdijk, P., Du musst Dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 211). 43 Lewitscharoff, S., Der mörderische Kern des Erzählens. Rede zur Eröffnung des Europäischen Schriftstellerkongresses 2009 in der Stiftskirche St. Arnual, Merzig 2010, S. 52–53, wagt sich nicht auszudenken und nur fragend anzudeuten, was passiert, wenn etwa die Erzählfäden reißen; man darf also nie seine haltenden Rettungsfäden vergessen. „Eine punkthaft auseinanderfahrende Zeit, in der es den göttlichen Aufhalter nicht gibt, in der die Kette der Generationen in winzige Stücke zerbrochen ist, und wir von den Wassern des Jordan her erzählend keinen Sinn zu uns leiten, lässt uns ängstlich und nervös, vor allem: bitterlich allein zurück. Die Erzählfäden sind mürbe geworden, sie kommen nurmehr selten aus dem Woher und reichen kaum in das Wohin. Wohin das führen mag? Die Antworten überlasse ich nun Ihren eigenen spekulationswilligen Köpfen.“ 44 Nietzsche, F., KSA 6, S. 362; vgl. auch: Benjamin, W., Das Passagenwerk, S. 1026: „In der Kultur kommt es nicht auf die großen Unterschiede an, sondern auf die Nuancen. Aus ihnen gebiert sich die Welt immer neu“ (zit. n.: Lilge, Th., Du sollst. Kapitalismus als Religion und seine Performer, Berlin 2011, S. 156). Nach R. Barthes ist es die Aufgabe der Literatur, über die Nuancen zu wachen und die Sensibilität hierfür zu verfeinern. Nuancen sind die Spuren, die den Menschen unverwechselbar machen, wie eine Vase durch den Fehler, zu lange gebrannt worden zu sein, wertvoll und einzigartig wird. 42
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wären, in Seilschaften (oder Netzwerken) über Schlepptaue und vermeintliche Sicherheitsleinen zu stolpern oder sich bei bestem Wetter im Basislager einzuspinnen.45 Der Philosoph Peter Sloterdijk hat unlängst angemahnt, nicht zu vergessen, dass die Schule eine Nähe zur Artistik hat, dass sie sich von antiken Zirkusschulen herleitet.46 Die Metapher vom Leben als Seiltanz, von der Schule als Zirkus-Übung ist also nicht so weit hergeholt. – In der Schule sind Sicherheitsmatten, die größere Stürze abfedern, noch obligatorisch; ab heute mögen Ihre kulturellen Netze Sie vor harten Bruchlandungen oder schmerzhaften Aufprallerfahrungen bewahren.47 Schließlich gilt der Satz des Lyrikers Karl Krolow: „Glücklichsein beginnt immer ein wenig über der Erde.“48 Für den, der die Metapher von Seil und Netz nicht mag, hält Nietzsche ein anderes Bild bereit. Denn er wünscht Ihnen und uns eine bewegte Seefahrt in immer neue, unbekannte Gefilde: „Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen [Abiturientinnen und Abiturienten]!“49
Der Philosoph ist nach Nietzsche dazu verdammt, in Eis und Fels zu wandern, damit meint er gerade nicht, dass er das asketische Ideal befördert und eher das Nichts will, als nicht zu wollen. Nietzsche propagiert vielmehr den singulären Weg. Nietzsche formuliert weiter provokant, dass Gott von den Metaphysikern als Spinne gedacht wird, die alles konstruiert oder spinnt (vgl. Leibniz: cum deus calculat fiat mundus). 46 Sloterdijk, P., Du musst Dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 684–685, kritisiert an der Schule, dass sie Anpassung als Ziel ausgibt. „Durch Anpassung an das System hat man ein Lernen gelernt, das auf die Verinnerlichung der Materien verzichtet, man hat, nahezu irreversibel, die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben eingeübt. Man hat den Habitus eines Lernens-als-Ob erworben, das sich beliebige Gegenstände defensiv zu eigen macht …“ Der Dysfunktionalität von Schule steht nach Sloterdijk der umfassende Erziehungsauftrag entgegen, der Konversionen und artistische Operationen einschließt. Schließlich übersieht der, der sich – an pädagogischen Fragen uninteressiert – der Schule sicher entronnen glaubt, dass die Moderne „Hyperscholastik“ (ebd., S. 567) ist, dass sie die Grenzen der Schule ausweitet, aus der Welt insgesamt einen „Trainingsraum der Fähigkeiten des Subjekts“ macht: „Die ganze Welt ist eine Schule“ (ebd., S. 551). 47 Bei den Thesen zur Aufgabe der Kultur als haltendes Netz klingt der Grundkonflikt zwischen Heidegger und Cassirer während des Davoser Treffens 1929 an. Cassirers Position von der Kultur als Schutzund Schonraum, der von elementaren Existenznöten befreit, steht gegen Heideggers Ansicht, wonach Kultur die Unsicherheit eigentlicher Existenz nicht künstlich abmildern und den Menschen von einer unverstellten Konfrontation mit seiner Angst und Sorge nicht abhalten darf. 48 Krolow gibt in seinem Gedicht „Ziemlich viel Glück“ auch den Ratschlag, man solle vor allem „einander das schenken, was leicht an ihnen ist.“ 49 Nietzsche, F., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3.Aufl.) 1988, S. 179, Nr. 289. Lacans Rat wäre in diesem Zusammenhang, seinem Begehren nicht nachzugeben (Ethik der Psychoanalyse, Seminar VII, S. 370: Ne pas céder sur son désir; man soll sein Begehren nicht verraten). Lacan redet nicht einer egomanen Selbstüberschätzung das Wort, wohl aber der Selbstkritik über die eigene mauvaise foi/die Unaufrichtigkeit, das leise Umwerten eigener Ziele und die eigene Saure45
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6.2 Das Lob der Lücke
Aber auch hier wird uns ein Kunststück abverlangt; nämlich „das eigene Schiff auf hoher See ständig umzubauen, ohne je ein Trockendock anfahren zu können.“ (v. Neumann, O. Schwemmer) „Die Schiffe sind im Hafen am sichersten, aber dafür sind sie nicht gebaut.“50 Und zum Schluss wird es ein Nietzsche-Zitat mehr als angekündigt: Denn der Philosoph der Heiterkeit sagt uns: „Wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.“51
6.2 Das Lob der Lücke – Von den Schwierigkeiten des Abschlusses und dem Sinn/Unsinn von Ratschlägen (Oder: Wie Schule, Muße und Glück zusammenhängen) „Die Freiheit ist alsdann die Leere, eine Leere verzweiflungsvoll zu verrechnen. Nachher ihr teuren eingemauerten Eminenzen, ist es der starke Geruch eurer Auflösung. Wie könnte er Euch überraschen?“ – René Char52 „Man muss verstehen, dass sich die Emanzipation immer in einer lokalisierten Figur, einer Ausnahme, einer Art fast unsichtbaren Spalte in der Ordnung ereignen kann.“ – Alain Badiou53
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, was bleibt zu sagen, wenn alles im Grunde bereits gesagt ist? Abireden stehen schon zuhauf im Netz. Die Ratgeberliteratur füllt ganze Bibliotheken. Wohlmeinende Tipps und Wegweiser bekommen Sie in diesen Tagen ohnehin von allen Seiten. Überflüssig wäre es also, Ihnen zum Ende Ihrer Schulzeit noch einfache Ratschläge zu geben.
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Trauben-Politik. Der Wahlspruch von Erasmus von Rotterdam lautete entsprechend: „Concedo nulli“/„Ich weiche keinem.“ Nietzsche dachte an das Motto der Hanse: „Navigare necesse est, vivere non necesse“/„Seefahren muss man, leben muss man nicht!“ Zit. n.: Steiner, G., Gedanken dichten, Berlin 2011, S. 207. Wer Tsunami-Bilder vergegenwärtigt, hält natürlich Schiffe im Hafen auch nicht mehr für sonderlich sicher. Zit. n.: Prossliner, J. (Hg.), Lexikon der Nietzsche-Zitate, München 1999, S. 202 (Götzendämmerung, Spr. 43). Vgl. auch Serres, M., Die fünf Sinne, Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a. M. 1993, S. 130: „Die Tragödie des Sprechens endet im Lachen.“ Char, R., zit. n.: Balibar, E., Gleichfreiheit, Berlin 2013, S. 252f. Badiou, in: Badiou, A., Roudinesco, E., Jacques Lacan. Gestern heute Dialog, Wien 2013, S. 55.
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Wer einfache Tipps will, muss sowieso die Warnung vernehmen: Es gibt nichts Komplexeres als die Einfachheit.54 Das wird auch deutlich bei den Ratschlägen aus der Wochenzeitung „Die Zeit“, dort konnte man im Dossier „Beruf “55 lesen: „Fehler vermeidet man, indem man Erfahrung sammelt, Erfahrung sammelt man, indem man Fehler macht.“ (Laurence J. Peter) „Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie.“ „Wenn man alles berechnet, gelingt nichts.“ „Wenn du eine Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.“
Literarische Ratschläge fallen auch extrem paradox und nicht leicht handhabbar aus, wie an Paul Celans lyrischen Imperativen deutlich wird: „Schreib dich nicht / Zwischen die Welten. Komm auf gegen / Der Bedeutungen Vielfalt, Vertrau der Tränenspur / Und lerne leben.“56
Ein zentraler Ratschlag des Films „The Outsiders“ von Francis Ford Coppola von 1983 beinhaltet eine Unmöglichkeit wie in den Zen-Geschichten: „Stay golden!“57. Der sterbende Johnny, der einen Angreifer in Notwehr umgebracht und einem Kind das Leben gerettet hat, gibt ihn seinem Kumpel Ponnyboy nach dem Gedicht von Robert Frost: Ponnyboy selbst hat das Gedicht zitiert; Johnny war beeindruckt davon und erinnert nun lediglich den anderen an dessen Eigenes.58 Die Der Satz stammt von Software-Pionier Kai Krause und bezieht sich auf Einsteins Bonmot: „Man soll die Dinge so einfach wie möglich darstellen, aber nicht einfacher.“ Melville, H., Moby Dick, Baden-Baden (3.Aufl.) 1992, S. 498, beschreibt es ähnlich: „Mein lieber Herr, in dieser Welt ist es nicht immer leicht, so einfache Dinge zu klären. Ich habe stets gefunden, eure einfachen Dinge sind die verwickeltsten von allen.“ Und Goethe schreibt in seinen „Maximen und Reflexionen“ (HA 12, S. 426, Nr. 438): „Wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt.“ Man muss nach Goethe ebenso wie für Žižek „parallaktisch“ denken, die eigene Beweglichkeit mitberücksichtigen, die die Perspektive verschiebt (vgl. HA 12, S. 437, Nr. 527). 55 Vgl. die Kolumne von Martin Wehrle, in: Die Zeit vom 8.11.2012, S. 79; 31.10.2012, S. 77; 19.11.2012, S. 81. Die afrikanische Weisheit, die die SOS-Kinderdörfer-Zeitschrift „Ubuntu“ (2012) bietet, hat ein ähnliches Format: „Rechthaben oder Glücklichsein, beides zusammen geht nicht!“ 56 Celan, P., Eingedunkelt. Gedichte, Frankfurt (2. Aufl.) 1991, S. 41. 57 Frosts Gedicht „Nothing Gold Can Stay” lautet: „Nature’s first green is gold, / her hardest hue to hold. / Her early leaf ’s a flower; / but only so an hour. / Then leaf subsides to leaf. / So Eden sank to grief, / so dawn goes down to day. / Nothing gold can stay.” 58 Hier kann man auch Lacans Definition von Liebe assoziieren: Geben, was man nicht hat, dem, der es nicht gebrauchen kann. 54
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6.2 Das Lob der Lücke
Imperative „Bleib jugendlich verträumt und irritierbar!“ oder „Erhalte Dir deine grundsätzlichen Fragen!“ beinhalten wohl in ähnlicher Weise unerfüllbare Vorhaben.
Variationen von Ratschlägen Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace meint auch, dass das Selbstverständliche, Einfache am schwierigsten zu erkennen ist.59 Foster gab seiner Abi-Rede von 2005 den banal klingenden Titel: „Das hier ist Wasser“. Nach Foster kommt es darauf an, dass der Fisch das Wasser erkennt, in dem er sich bewegt, dass er merkt, in welchem Medium er schwimmt, ob er mit dem Strom schwimmt, ob er in verpesteten Kloaken oder in Richtung Quellwasser unterwegs ist. Foster hält nicht so viel von Schwarmintelligenz, der angeblichen Klugheit der Massen, die insgesamt weiser sein sollen als das Individuum. Er ermutigt eher dazu, nicht immer nur mitzuschwimmen. Ratschläge mögen überzeugender sein, wenn sie in gute Geschichten verpackt werden. So warnt Tolstoi mit seiner „Kreutzersonate“ vor Eifersuchtsdramen in Beziehungen. Der Satz der sophokleischen Antigone: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da“ zeigt für Tolstoi die Richtung an, auch wenn man ständig dahinter zurückbleibt. Tolstoi gibt den Wink, Ideale nicht mit Verweis auf das Leben kleinzureden: „Keiner würde einen Kompass als unpraktisch ansehen, nur weil die Linie, die er zu fahren vorgibt, nicht exakt so einzuhalten ist.“60 Es geht bei Tolstoi wie bei Foster vor allem um Selbsterziehung, weniger um „Du sollst …“, sondern um „Ich soll“. Originell wäre es auch, wenn die Ratschläge Sie da überraschen, wo Sie es gar nicht vermuten, etwa jetzt beim Essen. Sie hören nicht zu und auf dem Teller zeigt sich, je mehr sie ihn leeren, der Sinnspruch, den sie gerade überhört haben. So haben bereits persische Herrscher des 10. Jahrhunderts aus Samarkand Erkenntnisse auf Tellern fixieren lassen. Für den Philosophen
Wallace, D. F., Das hier ist Wasser, Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 2012, S. 15. Denken zu lernen heißt davon auszugehen, „dass das Zeug, dessen ich mir automatisch sicher bin, … sich großenteils als total falsch und irreführend“ herausstellen wird. 60 Tolstoj, L. N., Die Kreutzersonate, Frankfurt a. M. 1984, S. 170. Meister Eckhart meint: „Der Mensch ist der Stoff für seine künftige Bildung“ aus: Lazzer, D. de, Professionalisierung der Bürger – Einleitung, in: Brock, B., Sloterdijk, P. (Hg.), Der Profi-Bürger. Handreichungen für die Ausbildung von DiplomBürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Rezipienten und Diplom-Gläubigen, München 2011, S. 9. Und S. 45: „Die Bürgerschule muss sich heute als Agentur dieser Weltzivilisation verstehen.“ 59
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Žižek wären solche Denkessen sinnvoller als die modernen Geschäftsessen oder power lunches.61 Heute wäre ja schon denkbar, dass der Redetext auf dem Grund ihres Tellers erscheint. Da die Teller noch nicht als Bildschirme funktionieren – zum Glück –, muss der Bildschirm als Teller fungieren und ihnen einige Zitate als Sinnhäppchen darbieten. Auf einem der alten persischen Teller steht das Sprichwort von Yahya ibn Ziyad geschrieben: „Ein Narr ist, wer seine Chance verpasst und später von Schicksal spricht.“ Der Satz ist nicht als einfacher Tipp aufzufassen: Verpass nichts; nimm mit, was du kriegen kannst! Solche Lifestyle-Formeln von Eventgurus erzeugen nur Konsumterror und die neidvolle Angst, zu kurz zu kommen. Im Zusammenhang mit dem Essen meint der Satz vielmehr: Unsere grundsätzliche Aufgabe ist es, zu akzeptieren, dass das Leben wie auch immer bereits angefangen hat. – Freiheit ist nie grenzenlos, zur Freiheit gehört die Einsicht in die Notwendigkeiten. Der Satz heißt also: Es ist in unserer Macht, das eigene Schicksal anzunehmen; wir haben die Möglichkeit, zwischen Formen der Selbstbegrenzung zu wählen.62 Boris Vildé, ein französisch-russischer Widerstandskämpfer, der von den Nazis am 23.2.1942 im Alter von 32 Jahren füsiliert wurde, vermerkt in seinen Tagebuchaufzeichnungen folgenden trostreichen Ausblick: „Eine Seele, die sich verzehrt, kann die Finsternis erhellen.“63
Ratschläge zur Lücke Ein Ratschlag aus dem Film „Heaven“ von Tom Tykwer (2002) lautet: „Man soll im richtigen Moment das tun, was keiner von einem erwartet.“ Er war für die Wahl des Themas entscheidend. Žižek, S., The year of dreaming dangerously, London New York 2012, S. 63ff. Žižek interpretiert auch den Satz, der ebenso auf den Tellern zu finden ist: „Peace is that which is silent and the inner [thoughts] of the man with faults will only be revealed through his speech” (von http://www.lacan.com/ thesymptom/ vom 3.1.2013). 62 Goethe, zit. n.: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes, Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 51: „Beim Muss kann der Mensch allein zeigen, wie’ s inwendig mit ihm steht. Willkürlich leben kann jeder.“ 63 Vildé, B., Trost der Philosophie. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1941/42, Berlin 2012, S. 65. Seine Auffassung vom Tod erscheint erstaunlich: „Solange man das Leben dem Tod entgegensetzt, wird man nicht weiterkommen. Es gibt keinen Gegensatz. Dieser ergänzt jenes, setzt es fort, vervollständigt es. So wie es auch keinen Gegensatz zwischen den Geschlechtern gibt“ (Umschlagtext). Und S. 137: „Also gibt es die Liebe. Der Rest zählt kaum. Wenn es den Tod gibt, kann er nur die Liebe sein.“ S. 160: „Die Liebe ähnelt dem Tod. … Und stets dasselbe Doppelthema: die Liebe und der Tod. Stets dieses Streben nach dem Absoluten, Versuch, sich selbst zu übersteigen, diese Suche nach dem Unauffindbaren.“ Der letzte Tagebucheintrag: „Der Tod. Ich habe weder Angst noch Verachtung. Die Liebe. Den Tod besiegen, heißt ihn lieben.“ – Und S. 40: „Verstehen heißt verzeihen, ein Widersinn: Wenn man versteht, weiß man doch, dass nichts zu verzeihen ist, man wird zum Komplizen. Doch das Verstehen reicht selten bis zum Letzten. Annehmen, ohne zu verstehen, das ist der Beginn der Liebe.“ S. 61: „Die vollkommene Liebe ist reine Freude. … Die Liebe hat keinen Grund, ist stets Wunder. Wenn man weiß, dass man sich liebt, ist die Liebe verdächtig.“ 61
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6.2 Das Lob der Lücke
Es soll nämlich im Folgenden um ein Lob der Lücke gehen. Die Ihnen vertraute Strategie „Mut zur Lücke“ muss man hier nicht noch einmal glorifizieren. Als unperfekte sogenannte Mängelwesen können wir auch nicht anders, als ständig Inkompetenz zu kompensieren.64 Mit dem Lob der Lücke ist etwas anderes gemeint, als unvorbereitet in eine Klausur zu gehen. Die Strategie der Lücke ist auch für den Soziologen und Anthropologen Dieter Claessens evolutiv erfolgsversprechend. Sie beinhaltet eine Absage an den Anspruch auf Vollständigkeit. Ein Problem des Lernens ist die Chronifizierung von Problemstellungen:65 Das Gelernte kann einen nämlich daran hindern, kreative neue Lösungen zu erfinden. In eine Sackgasse gerät, wer sich zu sehr abschließt, die Bodenhaftung verliert oder sich seine Meinung für alle Zeiten gebildet, diese unverrückbar fest und fertig zementiert hat. Goethe sieht darum im Vergessen eine heilsame Lebensfunktion, ähnlich wie Nietzsche: „Glücklich ist, wer vergaß.“ Ich darf hier einfügen: Wir verbinden in diesen Tagen angesichts des Todes unseres Schulleiters mit dem Wort „Lücke“ einen traurigen/schmerzlichen Verlust, der nicht verdrängt oder übergangen werden kann. Und es ist auch die Absicht der folgenden Ausführungen, Lücken gerade nicht zu ignorieren.66 Der folgende Verweis auf verschiedene Formen von Lücke unternimmt aber – dem Anlass der Abiturfeier entsprechend – einen gelassenen und heiter zuversichtlichen Blick auf eine Grundfrage der Lebensgestaltung. Eine Kollegin, die Herrn S. schon 34 Jahre kennt, meinte, dass es ganz in seinem Sinne ist/wäre, wenn die Abiturienten ihren Abschluss gebührend feiern. Das Lob der Lücke warnt also vor der Not und den Gefahren des Abschlusses/der Abschließung. Es plädiert für die Öffnung, die Unterbrechung, die lebenslange Offenheit, die Freiräume. Lücke ist der Gegenbegriff zum Kollaps der perfekten Planung und dem Desaster der Überregulierung. Die Aufforderung Hölderlins lautet: „Komm! ins Offene, Freund/Freundin!“ (aus „Der Gang aufs Land. An Landauer“) und nicht etwa: „Bleib im Bunker, Alter“. Man muss sogleich einsehen, dass das Lob der Lücke selbst sehr lückenhaft und unvollständig bleibt. Es kann keine geschlossene Theorie der Öffnung geben, das wäre überaus widerspruchsvoll und nicht einzulösen.
Der Philosoph Odo Marquard prägte daher schon vor Jahren den Begriff „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (in: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 23–38). Es geht ihm um die Anerkennung tiefergehender Lücken, den Umgang mit philosophischem Nichtwissen. 65 Claessens, D., Instinkt – Psyche – Geltung. Zur Legitimation menschlichen Verhaltens. Eine soziologische Anthropologie, Köln Opladen (2. Aufl.) 1970, S. 120: „Gelerntes verfestigt sich und kann insofern eine Behinderung der weiteren Bewältigung der Realität durchaus darstellen … Mit Lernen kann ‚Offenheit‘ verlorengehen; Lernen spezialisiert.“ 66 Vgl. Böhringer, C., Notlösung – Kultur und Christentum, Berlin 2012, S. 14. „Die Sprache bannt die Aufdringlichkeit des äußerlichen Geschehens. … Die Menschen haben ein loses Mundwerk.“ 64
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Die Wichtigkeit der Lücke lässt sich banal an der Tatsache ablesen, dass auf unseren Tastaturen, die Leertaste am größten ist. Was wäre auch Schrift ohne Platz zwischen den Wörtern? Man weiß, dass erst die Lücke zwischen den Wörtern das leise Lesen, das Verständnis von Text als Mitteilung von Gedanken ermöglicht. Diese leise Medien-Revolution, eine Lücke zwischen den Wörtern zu lassen, macht letztlich den Buchdruck möglich und damit alle weiteren Medienrevolutionen.67
Lücke und Stille Die Lücke und Leere wird auch in der asiatischen Philosophie – anders als in unseren Breiten – als bedeutsam gefeiert. In den berühmten Versen aus Laotses „Tao te King“, dem nach Bibel, Koran und kommunistischem Manifest am weitesten verbreiteten Buch, heißt es im elften Kapitel: „Dreißig Speichen gehören zu einer Nabe, doch erst durch das Nichts [die Lücke] in der Mitte kann man sie verwenden. Man formt Ton zu einem Gefäß, doch erst durch das Nichts im Innern kann man es benutzen; man macht Fenster und Türen für das Haus, doch erst durch ihr Nichts in den Öffnungen erhält das Haus seinen Sinn. Somit entsteht der Wert dessen, was ist, erst durch das, was nicht da ist.“68
Die vier Sätze haben bei Karlfried Graf Dürckheim ein Erleuchtungserlebnis hervorgerufen. Dürckheim erzählt gerne und oft, dass er in einer Buchhandlung diese Sätze ganz zufällig las und tieferschüttert und verwandelt zugleich war. Nagarjuna meinte, dass es ein Kardinalfehler ist, sich Leere dinghaft vorzustellen: „Das leere Bild ist kein Bild vom Nichts mehr. Das Wort ist von seiner Leere gänzlich erfüllt, und dieser Friede der Vorstellung ist das Erwachen. Wer aufwacht, weiß nur, dass er geträumt hat, weiß nur von der Leere seiner Vorstellung, weiß nur von dem Schläfer. Aber der Traum, an den er sich jetzt erinnert, stellt nichts mehr vor, träumt nichts mehr.“69
Illich, I., Im Weinberg des Textes, Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M. 1991. Zuerst die symbolische Neuerung – der veränderte Symbolgebrauch, die neue Metapher, dann die technische Umsetzung, zuerst das religiöse Kreis-Symbol, dann erst der Bau des Rades, so auch der Denkansatz des Religionshistorikers Ulrich Mann. 68 Lao Tse, Tao-Te-King, Zürich 1996, Kapitel 11 (o. S.). 69 Nagarjuna, zit. n.: Agamben, G., Idee der Prosa, München Wien 1987, S. 109. 67
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6.2 Das Lob der Lücke
Aus Zeitgründen muss eine tiefere Behandlung des Themas „Die Lücke in der asiatischen Philosophie“ unterbleiben. Der Ratschlag wäre hier nur: Googlen Sie das elfte Kapitel von Laotses „Tao-te-king“ oder den indischen Philosophen Nagarjuna. Goethe meinte ganz im Sinn einer Philosophie der Lücke: „Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste.“70 Für Goethe wäre das Beste „die tiefe Stille“. – Sein Ratschlag lautet: „Wenn du stille wirst, wird dir geholfen“; Peter Wusts „Ungewissheit und Wagnis“ endet mit diesem Zitat.71 Das würde bereits als Schlusssatz taugen. (Bis dahin sind es noch etwa „gefühlte“ sieben Minuten.) Goethe will sagen: Das Schweigen hat ein Eigengewicht. Wesentliches ereignet sich ohne viele Worte. Nach Nietzsche kommt Gott „auf Taubenfüßen“, leise.72 Die glücklichsten Stunden sind für Jean Paul ohnehin nicht die lauten, sondern unseren leisesten Stunden. Goethe rät in jedem Fall auch dazu, lieber zu schweigen, als das zu sagen, was allen gefällt.73
Feier und Humor als Erfahrungen der Lücke Wer den Blick auf die Lücke richtet, entdeckt sie überall: Jedes Fest – so auch diese Feier – markiert eine Lücke, Feste unterbrechen Normalität und Alltag. Ritualforscher wie V. W. Turner sprechen vom Fest als der Kultivierung eines Ausnahmezustands. Das Fest setzt die bestehende Ordnung außer Kraft. Dass das stimmt, sehen sie daran, dass selten Lehrer so „durch den Kakao gezogen“ werden wie auf dieserart Festen. – Wir sind zumindest mental auf einiges vorbereitet. Von Lücken oder Zwischenstadien – Sie befinden sich ja ab heute auch insgesamt in einer Lücke-Situation, einer Übergangsphase zwischen Schule und X (Studium/Ausbildung/etc.) – erwarten Philosophen ziemlich viel. Der Philosoph und Theologe Paul Tillich meint: „Die Grenze [das Zwischen, die Lücke] ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“74 Wie wohltuend die Lücke ist, weiß jeder, der im Humor Abstand zu sich findet und so befreit über sich selbst lachen kann. Die Lücke, die Distanz zu sich, erlaubt überhaupt erst die Selbstreflexion.
Goethe, zit. n.: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes, Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 73: „Das Wunderbarste ist, dass das Beste unserer Überzeugungen nicht in Worte zu fassen ist. Die Sprache ist nicht auf alles eingerichtet, und wir wissen oft nicht recht, ob wir endlich sehen, schauen, denken, erinnern, phantasieren oder glauben.“ 71 Wust, P., Ungewissheit und Wagnis, München Kempten (5. Aufl.) 1950, S. 313. 72 Das Eingangszitat von Piepers Essay über das Schweigen Goethes“: „Die Menschen sind unsere Lehrmeister im Reden, die Götter im Schweigen“ (a. a. O., S. 7). Freud betont, die Triebe sind stumm. 73 Goethe, zit. n.: Pieper, J., a. a. O., S. 27. 74 Tillich, P., Begegnungen. (Paul Tillich über sich selbst und andere. Gesammelte Werke. Bd. 12), Stuttgart 1971, S. 13; vgl. Tillich, P., Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962. 70
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Wir brauchen nicht so sehr ständige Ratschläge, nach denen wir uns dann zwanghaft richten, sondern vielmehr eine ruhige Zwischenzone, eine Lücke-Situation, um die Lage zu sondieren. Das wusste Goethe, als er formulierte: „Echte Originalität betätigt sich darin, dass es nur eines Anstoßes bedarf, um sie aufzuregen, worauf sie denn ganz eigen und unabhängig den Weg des Wahren, Tüchtigen und Haltbaren zu verfolgen weiß.“75
Es dämmert Ihnen bereits: Der ultimative Ratschlag wäre gerade das Ausbleiben von Tipps; ultimativ wäre ein Vertrauen, das man Ihnen entgegenbringt und Ihnen zeigt, dass Sie es schon schaffen werden.76 Man kann hier auf das Bild vom Fisch im Wasser vom Anfang zurückkommen und behaupten: Das Vertrauen ist das einfache Medium, in dem Menschsein allein möglich ist. Das ist das Selbstverständliche, das leicht zu übersehen und schwer zu erkennen ist.
Der Mensch verdankt sich ganz einer Lücke Es lässt sich weiterhin sagen: Menschsein überhaupt beginnt mit einer Lücke, der Distanz zu den Instinkten und dem Abstand zur biologischen/natürlichen Programmierung (Loslösung aus dem engen Korsett der Instinktprogrammierung). Diese Lücke in der instinkthaft-perfekten Einbindung in die Umwelt bildet erst den menschlichen Handlungsspielraum. – Fragt man, was diese elementare Lücke ermöglicht, gelangt man zu einer Antwort in den eben angesprochenen Momenten der Stille, wenn die Erfahrung der Leere sofort durch das ständige Aufschäumen der Phantasmen gefüllt wird. Im Wagner-Jahr darf man aus dem „Parsifal“ zitieren: „Nur der Speer schließt die Wunde, die er schlug.“ Wenn der Satz stimmt, dann hat genau der Überschuss an Phantasie, durchaus triebgebundener Phantasie, die Lücke geschlagen und füllt sie beständig. Seine Phantasmen treiben den Menschen über sich hinaus und öffnen ihm immer weiter das Bewusstsein, so dass eine Horizontbegrenzung, eine Grenze des Denkbaren nicht mehr klar zu bestimmen ist. Man darf hier anfügen: Die Lücke macht gerade auch den modernen Menschen aus. Modern ist wohl, wer Sinnlücken zulässt und Erfahrungen des Abgrunds nicht gleich in einer Supertheorie
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Goethe, zit. n.: Pieper, J., a. a. O., S. 66. Orientierungserwartungen werden heute zurückgewiesen mit der Aussage, dass sie nun genug orientiert wurden und die Lehrerschaft ihnen nichts mehr zu sagen hat.
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6.2 Das Lob der Lücke
neutralisieren muss.77 Geschlossene Theorien stehen jedenfalls unter dem modernen Verdacht, dem Menschen etwas vorzumachen. Im Anfang war die Lücke, der Abgrund, der die Einrichtung eines harmonischen Gleichgewichts für immer störte. – So würde das jedenfalls der griechische Philosoph Heraklit sehen.78 Die Welt scheint insgesamt ontologisch lückenhaft/unbestimmt zu sein, eine Lücke offen zu lassen für Interpretationen, die sie zugleich verändern und umprägen. Auch die Institutionen und starren Regeln, die die Aufgabe der Instinkte übernommen haben (so Claessens und Gehlen), können ähnlich relativiert werden. Der Mangel an traditioneller Einbindung, das Erleben von Sinnlücken ermöglicht die Hinwendung und den Austausch zwischen den Kulturen, also Pluralismus. – Kants bekannte metaphorische Beschreibung der menschlichen Natur als krummes Holz, aus dem nichts ganz Gerades gezimmert werden kann,79 gründet schließlich ebenso in der Erfahrung der Lücke, des Nicht-Zusammenpassens von klaren Begriffsrastern, ethischen Zielvorstellungen und realexistierenden Menschen.
Muße als Lücke Sie merken: Je mehr man über die Lücke nachdenkt, umso bedeutsamer wird die Lücke: Erst die Lücke bietet Gelegenheit für Kreativität; Neues entsteht nur, wenn man nicht total ins Alltagsgeschäft eingebunden ist, sondern unterschiedliche Bereiche aufeinander beziehen kann. Hirnforscher meinen, es gibt nichts Besseres für unser Gehirn als leere Langeweile, eine lange Weile zu haben, in der das Bewusstsein sich langsam nochmals neu ordnen kann. Lücke meint nicht eine geplante Pause, die eingelegt wird, um direkt weiter zu funktionieren. Lücke meint Muße, und Muße ist mehr als Freizeit. Muße bedeutet Besinnung auf das Wesentliche, das Bewusstsein, dass etwas konstitutiv fehlt, das Aushalten dieser Leere – Zeit zur inneren Entwicklung, Zeit zum Erleben und Genießen von Kunst. Muße ist die Brutstätte und Kernzeit der Bildung. Sie beinhaltet die Erfahrung, dass man sich Themen und Fragen hingeben kann und beim Sich-Vertiefen die Zeit und sich ganz vergisst. Der Philosoph Christoph Žižek, S., Die Revolution steht bevor. 13 Versuche über Lenin, Frankfurt a. M. 2002, S. 175. Konzepte wie Religion ohne Religion, Gott ohne Gott sind genau von der Intuition geleitet, dass es einen Selbstwiderspruch auch in religiösen Zusammenhängen gibt, der nicht geleugnet werden darf. 78 Heraklit philosophiert über das Eine, das sich von sich selbst unterscheidet, sich entzweit und mit sich kämpft. Er setzt das Werden dem parmenideischen unveränderlichen Sein entgegen. Also ist die klare Identifizierung oder das Identischsein des Dings durchbrochen. Das ergänzt das Laotse-Zitat; vgl. Žižek, S., Körperlose Organe, Frankfurt a. M. 2005. 79 Kant, I., Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 6, Darmstadt (5. Aufl.) 1998, S. 41: „Aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ 77
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Türcke meint: Zu erfahren, wie die lange Weile zur erfüllten Zeit werden kann, „ist vielleicht die vordringlichste Bildungsaufgabe unserer Epoche“.80 Der Philosoph würde gerne allen Eltern, die ihren Kindern Zeit lassen und ihnen Langeweile-Phasen nicht ersparen, einen Preis überreichen. Goethe formulierte bereits eindrucksvoll: „Wenn die Affen es dahin bringen könnten, Langeweile zu haben, so könnten sie Menschen werden.“ 81 Sie werden fragen, was Muße mit Schule zu tun hat, abgesehen davon, dass es da auch langweilig sein kann? Muße heißt griechisch Scholé. Die lateinische Schola, Schule, ist von ihrem Wortsinn her Muße, Lücke, Freiraum von der normalen Arbeit, da man nur da wirklich lernt, wo man seinen eigenen Fragen nachgehen kann. – Jeder weiß, wie weit sich die heutige Schule von ihren musischen Ursprüngen und Grundideen entfernt hat. Die musische Schule gibt es nicht mehr. Für den Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino erfüllt nun die Literatur die Funktion dieser utopischen Schule, die Literatur wäre die „ultimative Schule der Besänftigung“.82 „Die Menschen leben, wenn sie leben, in von ihnen bemerkten Augenblicken und Einzelheiten. … Wir sind immer neu erschrockene Einzelkämpfer, wir leben, jeder für sich, in unseren Verschleißzusammenhängen, wir kämpfen gegen die Pathologien der Arbeit, gegen die Pathologie des Alterns, gegen die Pathologie der Liebe – und keine Schule hat uns beigebracht, wie wir in diesem Stellungskrieg überleben sollen.“ „Lasst die Finger weg von unserer Langeweile. Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert, in die Welt schauen dürfen! Hört auf, uns mit euch bekannt zu machen! Hört auf, euch für uns etwas auszudenken! Sagt uns nicht länger, was wir wollen! … Manchmal träume ich von einer Schule der Besänftigung, die uns etwas von dem beibringen könnte, was wir so dringend brauchen. Nach meinem Gefühl gibt es ein starkes Bedürfnis nach einer solchen Schule. … Unterrichtet würden die Fächer Existenzkunst, Enttäuschungspraxis, Sehnsuchtsabbau, Fremdheitsüberlistung, Hoffnungsclownerie. Eine Schule der Besänftigung gibt es nicht, sie wird es auch nie geben. Sie verstehen, diese Schule ist …, mit einem Wort, nichts anderes als Literatur. … In der Literatur – und nur in der Literatur – überlebt die Sehnsuchtswirtschaft der Menschen. Sie ist unsere palliative Heimat.“ 83
Türcke, Chr., Achtung ADHS! Wie Kinder unsere Gesellschaft spiegeln, in: SWR2-Aula vom 8.7.2012. Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 538 (Nr. 1296). Und an anderer Stelle, S. 399 (Nr. 250): „Es ist nichts schrecklicher als eine tätige Unwissenheit.“ 82 Genazino, W., Der gedehnte Blick, München 2007, S. 204. 83 Ebd., S. 203-205. 80 81
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6.2 Das Lob der Lücke
Glück als Lücke Wenn Sie nun bedenken, dass sich auch das Wort Glück direkt von Lücke ableitet, vom mittelhochdeutschen „gelücke“, ist die Lücke endgültig in ihrer Wichtigkeit herausgestellt und als würdiges Thema einer Abirede etabliert.84 Der Dreiklang von Lücke, Schule/Muße und Glück darf etwas nachhallen: Wenn wir – ich darf im Namen der Kollegen sprechen – Ihnen heute Glück als „gelücke“ wünschen, hoffen wir, dass Sie wie in dem Märchen „Das Mädchen ohne Hände“ das Haus finden, in dem man frei wohnen kann, dass sich Ihnen also Räume auftun, in denen Sie sich nicht verbiegen müssen. Geschützte Bereiche, in denen man nicht stark sein und seine Schwächen nicht verbergen muss, haben bereits Glücksqualität, eben den Charakter von heilsamen Lücken. Als letzter Freiraum, den Ihnen keiner nehmen kann, bleibt Ihnen natürlich das eigenwillige Denken. Dass Sie sich das eigenwillige Denken nicht nehmen lassen, war jedenfalls ein Anliegen unseres Unterrichts. Glück heißt natürlich auch: Dem Menschen sind Fülle-Erfahrungen möglich, ein Übermaß an Gegenwart, so dass alle Kategorien aufgesprengt werden. Solche positiven Irritationen und „gesättigten Phänomene“, wie Jean-Luc Marion sagt, wünschen wir Ihnen von Herzen.
Bildung als Grundunterscheidung – Mut zur Lücke Wenn Sie nach dem Wesen von Bildung, Muße und Glück fragen, kommen Sie an einer Definition von Aristoteles nicht vorbei. Der Philosoph Martin Heidegger übernimmt sie gerne, weil sie seinen philosophischen Grundansatz wie in einem Brennglas enthält, und die Wette geht dahin, dass der Satz noch heute relevant ist oder zu einer Lebensperspektive taugt. Aristoteles formulierte vor 2400 Jahren: „Es ist eine Unbildung nicht zu wissen, wo man Gründe anführen muss, und wo nicht.“ (Met. Γ4/1006a). In einer positiven Version lautet der Satz: „Bildung besteht darin, zu wissen, wo man begründen muss, und wo nicht.“85 Bildung beginnt mit einer klaren Unterscheidung, der Differenz zwischen dem Bereich der Begründung, der Berechnung, der Kosten-Nutzen-Überlegungen, der Zwecke, der Preise und der Noten auf der einen Seite und dann dem Bereich jenseits davon. Bildung beginnt mit der Eingrenzung oder Einfriedung des Bereichs der Kalkulationen und der Verdinglichung. Mit der
Han, B.-C., Transparenzgesellschaft, Berlin 2012, S. 11. Bei Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 458 (Nr.664), klingt die Wahrheitstypologie an: „Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen lässt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entscheidenden Experiment bringen lässt.“
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Muße und dem zweckfreien Spiel öffnet sich der Bereich jenseits der Verdinglichung und der Mensch beginnt über sich hinauszuwachsen. „Haben oder Sein“, so auch der Titel von Erich Fromms Jahrhundertbuch86, ist die Alternative, die auf den Satz des Aristoteles zurückgeführt werden kann. Der Ratschlag von Aristoteles wäre also, zwischen Ding und Nicht-Ding, Haben und Sein zu unterscheiden und Nicht-Dinge, Muße, das Geschenkhafte, das Medium des Vertrauens, zweckfreie Beziehungen für das Eigentliche zu halten. Das wäre der entscheidende philosophische Mut zur Lücke, der nicht auf Sicherheiten setzt und weiß, dass die Lücken nicht und nie beherrschbar sind. Für Aristoteles sind Menschen, für die es nur Dinge gibt und keine Nicht-Dinge, diejenigen, die ihre Verobjektivierungswut nicht begrenzen, die, die keine Lücken lassen, die, für die auch Beziehungen total austauschbar und manipulierbar sind, gefährlich eindimensional und grob unvernünftig, Einfaltspinsel eben. Man ahnt: Der Verweis auf die Lücken bleibt in der Moderne, die eine Phase der bürokratischen Schließung, Gleichschaltung und der totalen Programm- und Systemlogik lostritt, äußerst kostbar. (Nebenbei gesagt: Die Grundunterscheidung stellt die Basis-Lektion in Existentialismus oder auch Theorie der Frankfurter Schule dar.)
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Fromm, E., Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München (15. Aufl.) 1986.
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6.2 Das Lob der Lücke
Die (moderne) Lücke im Denken und die Aufgabe, eine Lücke zu lassen Man kann aber nochmals langsamer vorgehen und schrittweise den aristotelischen Satz entschlüsseln und zu einer hermeneutischen „Zustimmung zur Welt“ gelangen: a) Zur Bildung gehören Grundunterscheidungen, ein differenzierter Blick. Es ist nicht alles über einen Kamm zu scheren, sondern zu differenzieren.87 Vor allem beruht Bildung darauf, Wirklichkeitsbereiche oder Sprachmodi zu unterscheiden, einmal den Bereich, in dem man Begründungen, Zwecke und Kosten angeben muss; und dann muss man wissen, wo der Bereich beginnt, in dem Begründungen nichts zu suchen haben, man muss also auch eine Ahnung davon haben, wie sehr man eingebunden ist, sein Leben anderen verdankt. b) Mit der Muße wie dem zweckfreien Spiel oder dem „Tun um des Tuns Willen“ öffnet sich der Bereich jenseits aller Begründung. Wir spielen um des Spielens willen, der freien Entfaltung wegen, grundlos selbstvergessen. Und das Grundlose ist bereits ein Aspekt von Glück. Es mag gewagt klingen, in dem aristotelischen Satz der Unterscheidung von Begründung und Nichtbegründung, begründungspflichtiger Zweckmäßigkeit und zweckfreier Muße/Kunst, die Grundunterscheidung Erich Fromms zwischen „Haben und Sein“ und die der Frankfurter Schule angelegt zu sehen: Menschsein beginnt damit, dass dem zweckmäßigen Handeln durch Phasen der Unterbrechung, Mußestunden, Lücken von Ruhe/Spiel Grenzen gesetzt werden. Menschsein und Kultur beginnen mit der Differenz zwischen dem, was man begründen und verdinglichen kann, und dem, was nicht zu verdinglichen ist, zwischen Verobjektivierbarem, Messbarem und Nicht-zu-Vergegenständlichendem, zwischen Ding und Nicht-Ding/Beziehungen. Denn, wie schon der kleine Prinz in einfachen Worten formuliert hat, ist das eigentlich Wichtige für die Augen unsichtbar. c) Derjenige, für den es nur Dinge oder nur das Kosten-Nutzen-Kalkül gibt, schrammt gerade an den wesentlichen Erfahrungen vorbei. Wer für Beziehungen vorzeigbare Beweise und Sicherheiten will, zerstört sie. Es kommt also entscheidend auf die Berücksichtigung der Grundunterscheidung, die Beachtung der Grundoption an. Durch seine Unterscheidungen schreibt sich der Mensch in die Wirklichkeit ein und diese zugleich um. d) Auch wenn konsumkulturelle Prägungen in eine andere Richtung weisen, gilt es einzusehen: Die Dingperspektive ist nicht alles; nicht alles kann adäquat gewogen, gemessen, berechnet, kapitalisiert werden. Der Begriff der Würde ist der Gegenbegriff zum Preis (ähnlich 87
Der Satz von Aristoteles (Met. Γ4/1006a) redet von der menschlichen Unterscheidungsfähigkeit und der Notwendigkeit zur Unterscheidung: Der Logiker George Spencer Brown („Laws of form“) ist überzeugt: „Make a difference and you have created a universe.“ Die Grundunterscheidung, die erste Unterscheidung bestimmt alles Weitere. Ist diese gemacht, ist alles andere vorgeprägt. Die Unterscheidung von Licht und Dunkel, Ordnung und Chaos, Licht und Tag ist wesentlich, weltbildend, wie auch der Schöpfungsbericht der Bibel weiß.
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wirken die Begriffe der Kunst, der Religion, der Humanität); er setzt der Dingkategorie und Verobjektivierung, dem modernen Sicherheitsbedürfnis und der Kapitalisierungswut, eine klare Grenze. Würde bedeutet also ein Stoppschild für das ökonomische Denken, die Kosten-NutzenRechnung: Für das Menschenleben ist kein Preis angebbar, es ist unendlich wertvoll. – Die alles prägende Grundunterscheidung definiert menschliche Wirklichkeit als unabgeschlossen und interpretationsoffen. Dinge lassen sich vorausberechnen und begründen, Menschen als Nicht-Dinge nicht. Für den russischen Dichter Andrej Bitow88 wäre es unerträglich, in einer fertigen, komplett-verdinglichten Welt zu leben. Kultur umfasst für ihn alles, was den Menschen befähigt, sich zu achten, Würde zu erfahren oder – in aristotelischer Diktion – was Nicht-Ding-Assoziationen weckt oder den Menschen über sich hinausgreifen, also transzendieren lässt. Kultur bzw. kulturelle Weitung basiert auf der Ahnung: „Es muss im Leben mehr als alles geben.“89 Oder frei nach dem Philosophen Hans Blumenberg: Bildung ist kein Reservoir, keine Asservatenkammer und kein Waffenarsenal, sondern ein offener Horizont.90 Es wird hier deutlich, wie Würde, Muße und Bildung sich gleichermaßen auf die Unterscheidung zwischen Ding und Nichtding als Grundlage beziehen. e) Die ultimative Lücke und die Kunst der Unterscheidung: Wenn man den Satz als Ausgangspunkt einer Unterscheidungslehre liest, lässt sich die kurze Bitte des protestantischen Theologen Friedrich Christoph Oetinger um die Gabe der Unterscheidung anfügen. Er betet: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.“ (Dass man den Gottesbegriff nicht dinghaft zu verstehen hat, ist nun nicht mehr sekundär.) Man kann also den aristotelischen Satz so übersetzen, dass er wie ein theologischer Ratschlag klingt: Vergiss nicht, für geschenkhafte Widerfahrnisse dankbar zu sein! Der Bereich des Menschen ist der Bereich des vorbehaltlosen Angenommenseins, in dem der Mensch sich nicht begründen oder rechtfertigen muss.91 f) Der Satz des Aristoteles, der zwischen dem Machbaren/Herstellbaren und Nichtmachbaren, dem Geschenkhaften unterscheidet und nahelegt, die Verdinglichungstendenz, den modernen Berechnungswahnsinn klar einzuschränken, klingt auch bei Emmanuel Lévinas an: „Das Menschliche gewährt sich da, wo Beziehung kein Können ist“; „einem Menschen begegnen Verfasser des Romans „Das Puschkinhaus“, Frankfurt a. M. 2006. Sendak, M., Higgelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben, Zürich 1993. 90 Blumenberg, H., Begriffe in Geschichten, Frankfurt a. M. 1998, S. 24f, geht aus von der Definition Edouard Herriots „Bildung sei das, was übrigbleibt, wenn man alles vergessen hat“ und spitzt sie schließlich zu: „Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.“ 91 Begründendes oder rechnendes Denken, das sich über Gebühr ausweitet und totalisiert, verdeckt oder beschädigt diesen Bereich. (Heidegger meint daher schon in den 1960er Jahren, die Wissenschaft denke nicht und auf die Philosophie folge die Kybernetik.) 88 89
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6.2 Das Lob der Lücke
heißt von einem Rätsel und Geheimnis wachgehalten werden.“ Mit dem Imperativ, nicht alles als Ding aufzufassen, wird also Homogenität und monomanes Denken aufgebrochen, es hat sich in Heterogenität und Vielfalt zu verwandeln. Die Verabsolutierung eines Denktypus steht unter Ideologieverdacht. Denken ist immer mehrdimensional, plural. Es gibt stets schon zwei Denkansätze. Denken ist immer zwiefältig, so Martin Buber. Zum aristotelischen wie dem modernen Denken gehört die genaue Begrenzung der verschiedenen Rationalitäten. Es kommt nun auf die richtige Verortung an. Es kommt also darauf an, mit dem Geheimnis und Rätsel zu rechnen. Bildung beinhaltet das praktische Wissen, wo und wann man mit den kalten Begriffen nicht mehr hantieren kann. g) Zur Bildung gehört also die Gabe der Unterscheidungen. Und dies ist von einer Lücke her möglich, einem Ort der Grenze. In unserem Zusammenhang bietet die Unterscheidung selber die minimale, zumindest virtuelle Lücke, die man braucht, um die Welt zu ordnen, zu bewohnen oder zu erkennen. – Der Unterscheidungstheorie von Spencer Brown verdanken wir eine weitere Erkenntnis, dass die Unterscheidung, die wir gerade anwenden, nicht direkt verfügbar ist und darum den blinden Fleck des Erkennenden darstellt: „Unterscheidungen sind den Beobachtern jeweils einen Schritt voraus. … Ein neues Spiel wird ausgerufen: Das Spiel heißt: Zeig mir Deine Unterscheidung, und ich sage Dir, wer Du bist. Aber das Spiel ist schwer zu spielen. Denn gerade die Unterscheidung, die ein Beobachter verwendet, um etwas zu beobachten, ist der blinde Fleck seiner Beobachtung. Er kann die Unterscheidung nicht sehen, die ihm erlaubt, überhaupt irgendetwas zu sehen.“92
Das Zeichen des rechtwinkligen Hakens (vgl. das Symbol der vorangehenden Abbildung) ist der Grundoperator von G. Spencer Browns Unterscheidungslogik, die hier zur Anwendung kommen kann: Es bezeichnet eine Unterscheidung, die eine Seite betont. Spencer Brown will auf neue Weise Paradoxa denken, wenn er eine Unterscheidung in dieselbe Unterscheidung einführt und so Unentscheidbarkeiten provoziert. Dass Unentscheidbarkeiten und Paradoxa unabwendbar und aus der Logik nicht zu eliminieren sind, ist eine Grundeinsicht Browns: Ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse selbst gut oder doch zuweilen böse/unangebracht/deplatziert? Oder auf unsere Unterscheidung übertragen: Ist die Unterscheidung Baecker, D., Die Kunst der Unterscheidungen, in: Ars electronica (Hg.), Im Netz der Systeme, Berlin 1990, S. 7–8. Dieses Spiel strenger Selbstreferenz sagt nichts über den Beobachter an sich, sondern nur über seine Wirkung aus; es geht nur um seine Rolle; im entontologisierten Paradigma ist die Seinsperspektive zurückgenommen bzw. uminterpretiert. Für Luhmann , der die Differenzlogik Browns als Basis seiner Systemtheorie nimmt, schmilzt ontologische Latenz/Tiefe zur Beobachterkontingenz. Bei ihm geht es weniger um die Identität des Verschiedenen (vgl. Nikolaus von Kues), sondern um die letztliche Betonung von Differenz.
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von Ding und Nicht-Ding auf der Folie und dem Hintergrund des Dings oder des Nichtdings zu sehen? Räumt das vergegenständlichende Bewusstsein der Nicht-Ding-Kategorie einen Raum ein; tritt diese also auf in einem Kontext des Dings, wird sie von einem Verstand expliziert, der sich in seinem Verdinglichen zu beschränken versucht und Reservate von Nichtzuständigkeit ausweist. Ein theologisch-poetischer Hintergrund geht dagegen wohl von einer grundsätzlichen Dominanz der Nicht-Ding-Dimension aus; die Unterscheidung von Ding und Nicht-Ding wird also im zweiten Fall anders konnotiert. Die Ding-Kategorie scheint nur passager auf; der „Schleier“ des Metaphorisch-Unbeherrschbaren wird sich hier niemals ganz lüften. Im Sinne Luhmanns, der sich eng an G. S. Brown anlehnt, kann man sagen, dass sich die Unterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding mit jeder Kommunikation selbst fortschreibt, weshalb die Kommunikation als eigenes System gegenüber Leben und Bewusstseinsprozess verstanden werden muss. Die Unterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding ist nicht symmetrisch. Die Nicht-DingSeite wiegt schwerer. (Der Ratschlag von Aristoteles intendiert also, nicht nur zwischen Dingen und Nicht-Dingen zu unterscheiden, sondern für das Geschenkhafte, Nicht-Dinghafte eine Lücke und einen Raum zu lassen und dies für das Eigentliche zu halten.) Bildung und Muße umfasst die Sensibilität hierfür, den Feinsinn; sie eröffnen Räume und Nischen, in denen nicht verobjektiviert wird; der esprit de finesse (Pascal) hat den totalisierenden Systemanforderungen, Zeitgeist-Suggestionen etwas entgegenzusetzen. h) Schließlich kann man festhalten, dass der Kategorische Imperativ nichts anders meint als „Verobjektiviere nicht den anderen!“. Er bringt den Menschen in Verbindung mit dem Zweckfreien und Unbedingten und betont dieses als wesentlich. Der Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (Jean-Pierre Jeunet, 2001) erzählt die Geschichte der jungen Amélie Poulain, die zu vertrauen beginnt; und damit ändert sich ihre Welt grundstürzend. Die Welt des Vertrauenden ist nicht die des Misstrauenden, lässt sich in Abwandlung eines wittgensteinschen Satzes sagen, der ursprünglich Glückliche von Traurigen unterschied. Der Zuschauer begleitet Amélie bei ihren ersten Schritten aus ihrer solipsistischen Schneckenhaus-Existenz in eine relationale Welt. Zu Beginn dominiert noch für sie das Zählen und Berechnen-Wollen; später das Stiften und Verstehen von Beziehungskonstellationen, das Wunder von Begegnungen. Therapeutisch-kathartisch wirkt für Amélie der Kontakt zu dem in ihrem Haus lebenden Maler Raymond Dufayel, der wegen seiner Glasknochenkrankheit stark eingeschränkt ist. Mehrfach kopiert er das „Frühstück der Ruderer“ von Renoir; bei gemeinsamen Bildinterpretationen wirft er die wichtige Frage auf: Wie komme ich in dem Bild vor? Er übt mit ihr empathische Sichtweisen ein. Das Renoir-Bild begleitet die Entwicklung und das vorsichtige Sich-Einlassen auf die neue Welt. Die Einstimmung ins Nichtobjektivierbare scheint es nicht ohne Symbole und Projektionsflächen zu geben. 368
6.2 Das Lob der Lücke
i) Entscheidend ist auch der Hinweis, dass die Lücke nicht zu machen oder zu beherrschen ist, man sich ihr aussetzen muss. Nach Lévinas bewirkt die Begegnung mit dem Gegenüber die entscheidende, immer verstörende Erfahrung, das Moment der Lücke. Sie führt ihn zur Anerkennung von Pluralität. Lévinas versteht Bildung als Bewusstsein für die Grenzen des Wissens, das eine Lücke für die Ethik lässt: „Nicht das Wissen für sich, sondern die Infragestellung ist der letzte Sinn des Wissens.“ Wissen verweist immer auf die Beziehung oder Gegenwart des Anderen, des Mitmenschen. Auch wenn wir nicht verdinglichen, wollen wir letztlich etwas verstehen; Lévinas konzediert das, formuliert aber dann: „Den Grund berühren oder in Wahrheit sein heißt weder verstehen noch etwas ergreifen, sondern heißt im Gegenteil, dem Anderen ohne Allergie, d. h. in der Gerechtigkeit begegnen.“93 Die Lücke offenbart uns unsere Beziehungen und orientiert uns. Lévinas meint weiterhin: Die Lücke macht uns passiv. Ich bin eine Beute der Lücke, der ich ausgesetzt bin. Muße und Lücke bedeuten auch für den Philosophen Nancy Passivität und rezeptive Offenheit; auf keinem Fall geht es darum, „durch Disziplin Sinn produzieren, sondern fähig zu sein, den Aufprall des Sinns zu ertragen.“94 Alain Badiou formuliert mit anderen Begriffen: „Das Neue erfinden eben an der Stelle der minimalen Differenz, dort, wo fast nichts ist. Der Akt ist ein ‚neuer Tag in der Wüste‘.“95 Lévinas kritisiert schließlich das Unterscheidungsdenken als zu statuarisch und systemverliebt, stärker als das Differenzdenken betont er die Fraglichkeit, die von der Lücke und dem anderen/dem Gegenüber ausgeht. „Sie fragen mich: Gibt es nicht eine erste Grundunterscheidung? Ich würde eher sagen: Es gibt eine erste Frage. [Die Frage ist besser als die Antwort], … weil die Frage über das hinaus gestellt werden kann, was einer Antwort sicher ist. Die Frage ist schon eine Beziehung dort, wo es keinen Platz für eine Antwort gibt, dort wo eine Antwort nicht genügt: sie würde das verkürzen, was in Frage ist … Die abendländische Philosophie ist eine Philosophie
Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 122, 398, 441. Vgl. auch: „Durch das Ethische, durch die Emphase meiner Verpflichtung bin ich Ich.“ (Lévinas, E., in: Goodman-Thau, E., Monotheismus der Moderne. Zeitgemäße Überlegungen für Profibürger aus den Quellen des Judentums, in: Brock, B., Sloterdijk, P. (Hg.), Der Profibürger. Handreichungen für die Ausbildung von Diplom-Bürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Rezipienten und Diplom-Gläubigen, München 2011, S. (87–104) 102.) 94 Nancy, J.-L., Das Vergessen der Philosophie, Wien (3. Aufl.) 2010, S. 114, Eikels, K. van, Meine Trägheit ist ebenso furchtlos wie mein Zorn, in: Gebauer, G., König, E., Volbers, J. (Hg.), Selbst-Reflexionen. Performative Perspektiven, München 2012, S. 155–179, karikiert das Modell der Selbstdisziplinierung, mit Verweis auf Georges Perecs Roman „Der Mann, der schläft“, der im Bett bleibt. Er plädiert für ein Modell der Neigung, das den Selbstzwang relativiert. 95 Badiou, A., Das Jahrhundert, Zürich Berlin 2006, S. 74. 93
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der Antwort, was zählt ist die Antwort, das Ergebnis. … Jede Antwort bringt ein ‚An-derFrage-Vorbeigehen‘ mit sich und ruft nach einem Wider-ruf.“96
j) Die Aufgabe der Anerkennung von Lücken erscheint herausfordernd: Vor allem darf man sich die eigene Lücke, die einen konstituiert, nicht besetzen oder von anderen füllen lassen. – Da der Mensch von seiner Lücke her zu verstehen ist, hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda recht, wenn er sagt: „Die Würde des Menschen besteht in seiner Fehlbarkeit“; Roboter machen keine Fehler; ihnen fehlt die Lücke. Der unstillbare Mangel und die Leere, die der Mensch nicht füllen kann, ist sein wunder Punkt und zugleich sein Sensor für Unendlichkeit, den er sich nicht zukleistern lassen darf. Nur ein unperfektes Mängelwesen kann scheitern, schuldig werden, sich schämen oder Dinge neu versuchen, sich Ziele setzen und so frei sein. Die Basis für ein plurales Zusammenleben wären also nicht unerreichbare Ideale, sondern das offene Eingeständnis von eigenen Fehlern. Universalität fußt auf der Erfahrung der Lücke, gemeinsam geteilter Fehler. „Das Universale ist nicht die Negation der Partikularität. Es ist das Durchmessen eines Abstands im Verhältnis zur Partikularität, die stets bleibt. Jede Partikularität ist eine Anpassung, ein Konformismus. Es geht darum, eine Nichtkonformität mit dem, was uns stets anpasst, aufrechtzuerhalten. Das Denken wird von einer Konformität auf eine Probe gestellt, aus der nur das Universale es befreit – in einer ununterbrochenen Arbeit, einem erfinderischen Durchgang durch diese.“97
k) Moderne bedeutet, dass die Lücke in Ordnungen, das Nichtfunktionieren der Mythen und symbolischen Ordnungen und der Mangel im Individuum nicht mehr verschleiert, sondern offen dargestellt wird. Der Zusammenbruch der Erzählungen, die Darstellung der Lücke und Leere im Mythos selbst, ist es, was Žižek als das moderne Universale ansieht. René Girard sieht sogar im Glauben an die Auferstehung, als dem Ereignis, an dem sich „die Subversion des Mythos“ zeigt, ein Aufbegehren gegen die Totalität, die Endgültigkeit des Todes.98
Lévinas, E., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg München (3. Aufl.) 1999, S. 106, 108. Ebd., S. 134-135. 98 Girard, R., Ich sah den Satan vom Himmel fallen, wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München Wien 2002, S. 153: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit driften das Göttliche und die Kollektivgewalt auseinander.“ Und S. 161: „In der Auferstehung Christi vollendet sich die Subversion und Offenbarung der Mythologie, der Riten und alles dessen, was die Stiftung und den Fortbestand der Kulturen sichert.“ Opfermythen werden expliziert und entmachtet; Gott nimmt die Position Hiobs ein. „Der Mensch ist niemals das Opfer Gottes. Gott ist stets das Opfer des Menschen“ (ebd., S. 238). 96 97
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6.2 Das Lob der Lücke
Die Lücke ist in jedem Kontext wesentlich. Man muss allerdings das Nichtfunktionieren von Mythen sehen und darf sich nicht allzu schnell als Opfer anbieten, um deren Leere und Lücken zu füllen. So ist auch der Moment, in dem der Kaiser nackt auftritt, auszuhalten und Applaus unangebracht. Die Moderne mutet also den Zeitgenossen zu, den Blick klar und offen auf das Nichtfunktionieren der großen Erzählungen zu richten und sich nicht ideologisieren zu lassen. Die Moderne verleugnet also nicht die Lücke zwischen den Wünschen, dem Panorama des Erhofften, und dem Tatsächlichen, dem kleinen Kreis des Realisierbaren. Und sie fordert uns auf, diese Kränkung und Zurückweisung menschlicher Allmachtsphantasien auszuhalten. Hölderlins Imperativ „Komm! ins Offene, Freund!“ bedeutet also nicht nur schöne Aussichten, sondern den Blick in die eigenen Leere und das schwere Aushalten des eigenen Unbehagens mit sich, die Annahme eigener Begrenztheit.
Kafka und die Lücke „Beim Lesen von Kafka empfindet man auf unheimliche Weise die Gegenwart des Abwesenden.“ Kafka adressiert nicht das Unaussprechliche frontal, sondern „macht aus der Ohnmacht den Kern seines Schreibens. Um diesen leeren Punkt entsteht alles. Jedes von Kafkas Werken ist das unaufhörliche Jagen nach einem unzugänglichen Punkt, der nichts ist als das Hinterherjagen.“ – Georges-Arthur Goldschmidt99
Es scheint sich ein Desaster der Philosophie anzubahnen, da bei der Grundunterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding das Tier keine besondere Berücksichtigung finden kann, das Leben nicht genug geachtet ist – das Binäre hat zunächst keinen Platz für einen dritten Bereich. Kafkas „Bericht für die Akademie“100 steuert die Diskussion um die Lücke und die Grundunterscheidung auf diesen Kipppunkt zu: Der Affe Rotpeter gibt hier zu Protokoll, wie er sich in fünf Jahren humanisiert hat, er scheint nicht wirklich menschlich zu sein, nur ein Schauspieler und genauer Beobachter der Menschen. Als er eingesperrt war, sah er durch ein winziges Loch seines Käfigs nach außen. Er plädiert nun dafür, ihn nicht mehr auf seine tierische Abkunft anzusprechen, die so weit hinter ihm liegt wie bei anderen Menschen auch. Mit dem Bericht Rotpeters steht nun die Menschlichkeit des Menschen in Frage. Denn er beschreibt, wie ein Affe zum Menschen wurde, indem er sich seinen Eigensinn abtrainierte und menschliches Verhalten nur nachahmte; Menschsein wird entkernt, kopierbar.
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Goldschmidt, G.-A., in: Mitgusch, A., Die Grenzen der Sprache, Wien 2013, S. 105, 102 Kafka, F., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt a. M. (8. Aufl.) 2003, S. 322–337.
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Rotpeter lernte die menschliche Begrüßung, den Handschlag; der dazugehörige Smalltalk erscheint ihm zweitrangig gegenüber der ersten Konditionierung. Mit einem Namen, den er sich nicht ausgesucht hat, wurde er ansprechbar. Rotpeter trägt noch die Narben einer Schussverletzung, die von der früheren Jagd auf ihn herrühren und ihn bleibend an die an ihm verübte Brutalität erinnern. Gefangen blieb Rotpeter kein Ausweg; er spricht nicht von Freiheit, denn auch seine jetzige Existenz als angesehener Varieté-Künstler, der sich gesittet zu verhalten weiß, verdient nicht als frei genannt zu werden. Sie steht weiterhin unter den Vorzeichen der Dressur und Abrichtung. Der vormals drangsalierte und dem Käfig glücklich entronnene Rotpeter steht weiterhin unter Observanz und muss sich selbst befehlen, will er nicht wieder niederer Befehlsempfänger werden. „Menschliches“ erscheint ihm nicht verlockend, es gestaltete sich schließlich als alternativlos. Das Fehlen eines Auswegs und seine Gefangenschaft ließen ihn verzweifeln und zwangen ihn zur „Menschwerdung“. Entscheidend ist hier, dass die Erzählung seiner Zähmung und Verwandlung, die keine innere Wesensverwandlung darstellt, zahlreiche Stereotypen, Referenzen Dritter und Positivzuschreibungen von Beobachtern enthält, die Rotpeter nicht wirklich berühren. Er sieht sich in einer Rechtfertigungsposition und versucht einen Beweis für seine vollständige Konformität und Gesellschaftsfähigkeit anzutreten. Er lernte schnell durch Nachahmung und kämpfte erfolgreich gegen seine Affennatur an. Er lernte aus Zwang auf einen Ausweg hin, den er nicht überblickte. Er verbrauchte schließlich viele Lehrer, die selber zum Teil affenartig abdrifteten, kann sich inzwischen aber selbst eine halbdressierte Schimpansin leisten. Der Widerwillen gegen Menschen überkommt ihn häufig so stark, dass er oft Ruhe braucht. Dass er so viel Alkohol wie andere verträgt und sich fluchend, lasziv-ordinär geben kann, sich ähnlich gebärdet wie ein Durchschnittsbürger, gibt Rotpeter als Schritt in seiner Hominisation aus. Seine unmögliche Aufgabe besteht darin, sein Menschsein verobjektiviert vorzuzeigen. Kafkas Tiere verkörpern das widerständig Anomische, das nicht aufgehoben werden kann. Der Bildungsprozess des Affen Rotpeter ist gleichfalls eine Negativfolie humanistischer Bildung. Die Vorgaben der Bildung werden von Kafka dekonstruiert: Humanisierung erscheint als eine Qual und Folter, sie entstammt einem Zwang, der internalisiert wird; Rotpeter hat sich seine Rolle selbst beigebracht; er kopierte das Verhalten seiner Bewacher. Menschsein verdankt sich nach Kafka nicht der Weite, sondern der Enge. Es erscheint als Stadium der Erschöpfung, als Fassade, hinter der nur mühsam tierisch-archaische Triebe verborgen werden. Die Argumentation Rotpeters dreht sich im Kreis; seine Schilderung erschöpft sich in neutralen Common Sense-Phrasen; sie legt keine Menschlichkeit, sondern lediglich die uneigentliche Lebensform des Man offen, die Ausweglosigkeit von Bühnen-Akteuren, die auf ihren Status stolz sind, auf Luxus nicht mehr verzichten können und zu zynischen Schauspielern ihres gesamten Lebens geworden sind. Die Abgründigkeit und Bestialität der Menschen lassen sich nicht mehr verbergen: 372
6.2 Das Lob der Lücke
„Ich war zum ersten Mal in meinem Leben ohne Ausweg … Zwar war zwischen den Brettern eine durchlaufende Lücke, die ich, als ich sie zuerst entdeckte, mit dem glückseligen Heulen des Unverstandes begrüßte, aber diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum Durchstrecken des Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu verbreitern. … Durch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat, habe ich die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Das wäre an sich nichts, ist aber insofern doch etwas, als es mir aus dem Käfig half und mir diesen besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg verschaffte. Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen war. … Ich hatte bis dahin nicht gewusst, was es bedeutet, keinen Ausweg zu … Ich hatte die Kiste vor mir. Öffne die Bretterwand, beiße ein Loch durch, presse dich durch die Lücke, die in Wirklichkeit kaum den Blick durchlässt und die du bei der ersten Entdeckung mit dem glückseligen Heulen des Unverstandes begrüßest. Wohin willst du? Hinter dem Brett fängt der Wald an.“ 101
Religion und Lücke Gerade das Christentum kann als Religion der Lücke verstanden werden. Als „Religion der permanenten Unruhe“ (H. Gollwitzer), die auf das Zwischen, den liminalen Schwebezustand der Umkehr gegründet ist, sind ihm Veränderung und Wandel eingeschrieben. – Es baut nicht auf festen Strukturen, sondern Veränderungen auf. Widersprüche, das Irritierende werden nicht ausgeblendet. – Glauben erwirkt nicht Stabilisierung, sondern fortgesetzte Schwächung und Sich-Aussetzen. Nach Sören Kierkegaard und Gerd Theißen ist die jesuanische Lebensform von einer Selbstexklusion aus der Gesellschaft gekennzeichnet (vgl. die Deutungen der Soziologie der jesuanischen Wanderradikalen-Bewegung). Es geht nach Žižek im Christentum nicht um Bewusstseinskultur, einen Rückzug auf die eigene Innerlichkeit, sondern um Mitmenschlichkeitspraxis, um Übungen der Besänftigung, um sich aktivierende Zirkel des Verzeihens, Gesten der Veränderung, vor allem um Akte der Selbstschwächung und Aussetzung: Auch wenn radikale Neuinterpretationen das Christentum ausmachen102, versuchen Konformisten die Brüche und Widersprüche zu übersehen und ihre Dynamik zu zügeln.
Ebd., S. 325, 332, 336. Vgl. Ernst Blochs Statement: „Das Beste an der Religion ist, dass sie Ketzer schafft“ (Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1977, S. 23). Indem die Religion Entscheidungen provoziert, bringt sie Häretiker hervor (haireo bedeutet im Griechischen „wählen“).
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Franziskus von Assisi, der eigenwillige Bilder und ausdrucksstarke Symbole verwendete, warf das Geld auf den Misthaufen, da er es buchstäblich für „Dreck“ hielt und nicht damit befasst sein wollte. Er erzählt augenfällige und drastische Gleichnisse, unter anderem die Parabel von der wahren, vollkommenen Freude: Bei diesem Gleichnis kommt er, der Ordensgründer, an sein eigenes Kloster und wird in der eiskalten Wintersnacht nicht eingelassen. Dass er auf den Ausschluss seiner Mitbrüder mit einem Lachen reagieren kann, deutet Franziskus als wahre und vollkommene Freude. In der tiefsten Erniedrigung ist eine Erhöhung zu sehen. Franziskus propagiert hier also einen Minusglauben, der die Lücke als Segen interpretiert und Negativität positiv umdeutet. Diese Umwertungsfunktion ist auch nach Luhmann charakteristisch für Religionen. Der italienische Philosoph Agamben interpretiert die franziskanische Parabel subjekttheoretisch. Er betont, dass hier der Name des Franziskus nichts mehr bedeutet; das Ich löst sich komplett von seiner Rolle und seinen physischen Bedingtheiten; insofern wird hier die reine Subjektivität gedacht, die Leere der Wörter wird deutlich.103 Ein derartiger Umgang mit Negativität unterscheidet sich wesentlich von Urs Sommers Plädoyer für die Vergleichgültigung gegenüber religiösen Fragestellungen.104 In seinem Aufsatz „Religionsverzicht“ vertritt er die Auffassung, dass es in multizentrischen Gesellschaften nicht mehr um Erlösung gehen kann. Dass es um das Vorläufige und Immanente geht, heißt er willkommen und preist das Klima der Lauheit. Sommer nimmt mit der Frage „Haben wir es tatsächlich verlernt, uns bedürftig zu fühlen?“ allerdings die Kritik an der Saturiertheit westlicher Lebensstile vorweg, die religiöse Fragen nicht mehr aufkommen lässt. Dagegen gibt Martin Walser aber zu bedenken, dass Religionen vor allem das Bewusstsein des Fehlens Gottes in der Gesellschaft wachhalten und auf diese Weise vor einem schnellen Arrangement mit dem Bestehenden bewahren. Religion erscheint nach Walser also aufgrund ihrer Fähigkeit unverzichtbar, Lücken zu visualisieren und gegen Verdrängungen zu immunisieren.
Das Glück, von Lücken überrascht zu werden In Fontanes „Frau Jenny Treibel“ will der Lehrer Willibald Schmidt, ein alter Herr, seiner Tochter Corinna noch Einiges mit auf den Weg geben. Seine Tochter Corinna wollte berechnend einen Mann heiraten, den sie nicht liebte, der aber viel Geld hatte und ihr ein angenehmes Leben garantiert hätte. Die Sache kam anders. Die Lehrertochter war der reichen Familie nicht wohlhabend genug. Und nun sagt der Vater anlässlich der misslungenen Verlobung zunächst trotzdem zu Corinna: „Du bist ein Glückskind.“ Der Vater steht ungebrochen zu seiner Tochter. – Und er Agamben, G., Idee der Prosa, München Wien 1987, S. 110. Sommer, U., Religionsverzicht. Ein Memorandum, in: Information Philosophie 2/2013, S. (8–14) 10.
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6.2 Das Lob der Lücke
hält Corinna für ein Glückskind, da sie die Gelegenheit erhält, das wirklich Wichtige im Leben vom Unwichtigen zu unterscheiden: Der Lehrer meint: „Sieh, das ist das, was man das Höhere nennt, das wirklich Ideale, nicht das von meiner [geldfixierten] Freundin Jenny. Glaube mir, das Klassische, das sie jetzt verspotten, das ist das, was die Seele freimacht, das Kleinliche nicht kennt und das Christliche (Religiöse) und vergeben und vergessen lehrt, weil wir alle des Ruhmes mangeln. Ja, Corinna, das Klassische hat Sprüche wie Bibelsprüche. Mitunter beinah noch etwas drüber. Da haben wir zum Beispiel den Spruch: „Werde, der du bist“, ein Wort, das nur ein Grieche sprechen konnte. Freilich dieser Werdeprozess, der hier gefordert wird, muss sich verlohnen, aber wenn mich meine väterliche Befangenheit nicht täuscht, bei dir verlohnt es sich. … Das Literarische macht frei … Jetzt hast du das Richtige wiedergefunden und dich selbst dazu.“105
„Werde, der du bist“ meint der griechische Dichter Pindar: „Werden Sie, der/die Sie sind“ – Glauben Sie denen, die Ihnen Entwicklung und Reifung zutrauen, denen, die Sie nicht wie Dinge auf einem Schachbrett verschieben, sondern Ihnen Achtung und unbedingte Wertschätzung entgegenbringen (also denen, die im Grunde etwas von aristotelischer Bildung und seiner Grundunterscheidung verstehen – implizit oder explizit, das ist völlig egal). Und Nietzsche ergänzt hier scharfsinnig: Der Satz „Werde, der du bist“, hat nur dann einen Sinn, wenn man noch nicht weiß, wer man ist, wenn man sich selbst ein Rätsel bleibt. Diese harte Erkenntnis der eigenen Fremdheit mit sich gehört zum Bildungsbegriff dazu und zur Theorie der Lücke sowieso.
Die Unmöglichkeit letzter Sätze – Schlussgedanken Die letzte Lektion des alten Lehrers Willibald Schmidt klingt nun wieder heiterer: „die (r)echte Vernunft kommt aus dem Herzen.“106 Was Fontane gesagt hat, formuliert Konfuzius noch einfacher: „Wohin du auch gehst, geh mit ganzem Herzen.“107 Ernst von Feuchtersleben meint ähnlich: „Immer und immer siegt der Begeisterte über den Nichtbegeisterten.“ Das bedeutet jenseits der Kategorien des einfachen Gewinnens und Verlierens: Auf Ihrer persönlichen Schatzkarte, Fontane, T., Frau Jenny Treibel, Husum 2011, S. 149. Ebd., S. 148. 107 Im ersten und im letzten Satz des Bilderbuchs „Fiete Anders“ (Hildesheim 2007) zitiert die Autorin Miriam Koch Konfuzius. Es geht um ein rotweißgestreiftes Schaf, das als Sonderling ausgegrenzt wird, beharrlich seinen Platz im Leben sucht und diesen schließlich am Meer am Fuße eines ebenso rotweißen Leuchtturms findet. 105 106
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
in Ihren Plänen sollen faszinierende Orte, sagenumwobene Freiräume eingezeichnet sein. Für Ernst Bloch ist nur die Landkarte vollständig, in die auch das Land Utopia, also die unplanbaren Lücken, verzeichnet sind.108 Im Bewusstsein der Lücke gibt es kein abschließendes letztes Wort: Dass es keine Abschlüsse, sondern nur Anschlüsse gibt, meinte auch der Soziologe Niklas Luhmann. Da sein Systemdenken zu wenig Lücken lässt, soll ein anderer Philosoph am Ende zitiert werden. Der Begründer der Phänomenologie Edmund Husserl sagte schließlich sterbend zu seiner Krankenschwester Adelgundis Jägerschmid OSB, einer Benediktiner-Nonne, die ihn bis zuletzt pflegte: „Gerade jetzt, wo ich fertig bin, weiß ich, dass ich von vorne anfange, denn fertig sein, heißt von vorne anfangen.109 Die Faszination des Abschlusses enthält bereits das Verlangen und die Sehnsucht nach einem neuen Anfang. – Der Mensch ist also nicht für Abschlüsse gemacht, sondern für Neuanfänge. Alles Gute dafür.
6.3 Die Kunst des Übergangs – Vom rätselhaften Zugleich von Abschluss und Neubeginn 110
„Jede Form ist eine Form des Übergangs.“ – Dirk Baecker111 „Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her.“ – Johann Wolfgang von Goethe112
Es gibt Koffersätze, also Sätze, denen man zunächst nicht ansieht, wie komplex sie sind, Sätze, die wie russische Puppen viele weitere enthalten:113 Ein Koffersatz für heute Abend Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 102, zitiert Oscar Wilde: „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, lohnt keinen Blick.“ 109 Derrida, J., Die Phänomenologie und die Schließung der Metaphysik, Zürich 2011, S. 44: Schließung, clôture, zu denken, heißt für ihn nicht nur Geschlossenheit, sondern das Zukommende denken, über die Grenzen des Bisherigen hinausgehen. 110 Im Uni-Jargon könnte der Titel der Rede auch lauten: „Von weichen Schwebezuständen, harten Schwellen/Grenz-Erfahrungen, hybriden Existenzweisen und letzten Möglichkeiten der Komplexitätssteigerung“. 111 Baecker, D., Wozu Theater?, Berlin 2013, S. 180. 112 Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 371 (Nr. 47). 113 Virilio, P., Die Verwaltung der Angst, Wien 2011, S. 47, spricht vom komplexen „Kofferwort“. Paradoxe Konstellationen bezeichnet er nicht als Aporien, Sackgassen, sondern als „Orte des Verstehens der Spannung des nicht zu vernachlässigenden Sinns“ (ebd., S. 67); so gibt er zu bedenken: „Die Angst 108
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6.3 Die Kunst des Übergangs
wäre das französische Sprichwort: Nous n’aurons jamais notre âme de ce soir; wir werden niemals wieder unsere Seele dieses Abends haben. Der Satz deutet auf weitere Sätze hin: Jede Stunde hat ihr Geheimnis. Dieser Augenblick, dieser Abend sind einmalig. Panta rhei, alles wandelt sich, nichts lässt sich aufhalten; die Einsicht Heraklits ist alt …114 Wie dem auch sei: Der Koffersatz gibt das Thema der Rede vor, es geht im Folgenden nämlich darum, den Tag Ihres Abschlusses als besonderen Moment des Übergangs herauszustellen, das rätselhafte Zugleich von Abschluss und Neuanfang zu bedenken, den Übergang als komplexe Schwellensituation zu beschreiben. (Man könnte auch sagen: Das Kofferwort des Abends heißt Übergang.)
Abitur / Abschluss und Übergang Dabei sind Abiturienten in besonderer Weise Menschen im Übergang, das zeigt schon der lateinische Wortursprung: Abiturus/abitura heißt wörtlich „eine/r, der/die weggehen wird.“ Schule ist für Abiturienten von vorneherein keine Bleibe, sondern eine Transitzone … ähnlich wie eine Raststätte oder eine Verkehrskreuzung.115 – Das ist jedem klar, nur heute wird Ihr Weggehen Realität. Die Funktion der Reden heute Abend besteht ja darin, den unweigerlichen Abschied etwas aufzuschieben. Den Übergang zu verlangsamen. Die Verzögerung des Übergangs ist – man mag erstaunt sein – für den indischen Philosophen Homi Bhabha genau die Aufgabe der
ist der schlimmste Mörder, sie tötet nicht, sondern hindert am Leben“ (ebd., S. 88). Auch für Han ist Freiheit überhaupt erfahrbar im Übergang von einer Lebensform in die andere; (problematisch wird erst für ihn die Vorstellung des Übergangs vom Subjekt zum Projekt). Anders sieht das Leach, E., zit. n.: Baecker, D., Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2007, S. 120: „Der Übergang ist ein Punkt der größten Gefahr.“ Ben, Ze’ev, A., Die Logik der Gefühle. Kritik der emotionalen Intelligenz, Frankfurt a. M. 2009, S. 45, hebt dagegen grundsätzlich hervor: „Emotionen sind Zeichen eines Übergangs, der Instabilität.“ 114 Goethe hebt auch die beiden Aspekte hervor: Er preist die Gegenwart als „mächtige Göttin“ (vgl. „Torquato Tasso“ und seine Aussage im Gespräch mit Friederike Brun „Die Gegenwart ist die einzige Göttin, die ich anbete“; zit. n.: Jullien, F., Nah bei ihr. Opake Gegenwart, vertraute Präsenz, Wien 2018, S. 21) und in „Dauer im Wechsel“ heißt es in direkter Anlehnung an Heraklit: „Hielte diesen frühen Segen, / ach, nur eine Stunde fest! / …. Ach, und in demselben Flusse / schwimmst du nicht zum zweiten Mal. / … Lass den Anfang mit dem Ende / sich in Eins zusammenziehn!“ In seinen „Maximen und Reflexionen“ (HA 12, S. 390, Nr. 186) feiert er ebenso den Kairos: „Das Wichtigste bleibt jedoch das Gleichzeitige, weil es sich in uns am reinsten abspiegelt, wir uns in ihm.“ 115 Der Vergleich rührt an Marc Augés Theorie der „Nichtorte“ (München (3. Aufl.) 2012), die hier allerdings nicht vertieft werden kann. Augé versteht die Moderne von der Wucherung solcher non-lieux her.
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Philosophie.116 Es lohnt sich, so das Versprechen des Philosophen, Übergänge bewusst zu machen und über Übergänge selbst nachzudenken. Ernst Gombrich betont: „Nicht sich unmittelbaren phobischen Reaktionen ausliefern, sondern die Zeitspanne der Reflexion ausdehnen: das ist das Ziel wahrer Kultur.“117
Den Übergang verlangsamen – der Blick auf Atmosphären Auch nach Sloterdijk und bereits für Hegel ist es eine vornehme Aufgabe des Denkens, komplexe Atmosphären zu beschreiben und seismographisch zu erfassen, die in Situationen eingeschriebenen Widersprüche aufzuspüren und wiederzugeben. Der prekäre, fragile oder flüssige Charakter der Kultur ist nach Sloterdijk nicht länger zu übersehen. Soziale Phänomene sind als Zwischen-/Schwebezustände zu begreifen, als projektive Medieneffekte ohne klare Begründung und Planung, als eigendynamische Klimaphänomene.118 Die Thematik des Übergangs ermöglicht ein Verständnis der Gegenwart. In diesem Sinn meint V. Flusser zeitdiagnostisch: „Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Daseinsebene …, die einmal überschritten, alle Geschichte und Vorgeschichte als bloße Vorstufe erscheinen lässt.“119 Digitalisierung, Mediatisierung und neue Kontrollmöglichkeiten verändern nach Flusser das soziale Klima. Einmal durchgesetzt wird sich die den Menschen irritierende und destabilisierende Dominanz der System- und Programmlogik nicht mehr zurückdrehen lassen. Während einige von der Perfektionierung sozialer Funktionsmechanismen berauscht sein werden, werden andere im Sinne von Büchners „Lenz“ darüber erschaudern, dass alles zu einer Maschine geworden ist. Es lohnt also, sich auf Liminalitätstheorien zu beziehen, ein Paradigma der Kultur wissenschaften, das sich mit dem Zwischen, dem Übergang beschäftigt, mit dem Ritus, der nach V. W. Turner ganz als Übergang zu verstehen ist.120 Bhabha, H., Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien 2012, S. 69. Huizing, K., Ästhetische Theologie: Bd. 3: Der dramatisierte Mensch. Eine Theater-Anthropologie. Ein Theaterstück, Stuttgart 2004, S. 86. 118 Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 244f, 248: „Es geht mir darum, dass das In-der-Luft-Liegen von etwas das Primäre ist und das Feststellen auf Grund und Boden [das Begründen] das Sekundäre. … Ich will den Grund in Zukunft über dem Boden suchen, im Klima der Kultur, in der geteilten Luft, in der sozialen Lichtung. … Man wohnt, indem man ein Anderswo in ein Hier projiziert. Es gibt keinen Ort ohne Hier-Dort-Differenz.“ 119 Flusser, V., in: Mersch, D., Ordo ab chao – Order from Noise, Zürich 2013, S. 44. Dinge und Algorithmen, Programme werden zu Aktanten, neue Entscheidungslogiken destabilisieren Menschen. 120 Die Einlasszeremonie beim Begräbnis Ottos von Habsburg am 16.7.2011 symbolisiert die finale Übergangs- und Schwellensituation des Menschen: Die Trauergemeinde mit dem Sarg steht zunächst vor 116 117
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6.3 Die Kunst des Übergangs
Den Übergang verlangsamen – den Übergang feiern Zunächst lässt sich sagen: Übergangssituationen sind widersprüchlich ambivalent: Der Philosoph Hannes Böhringer schreibt: „Feste binden und lösen“ zugleich. Das gilt auch für diese Entlassfeier. Über die Abschiedssituation sagt er: „Die Menschen haben ein loses Mundwerk. Das hilft ihnen beim Weggehen. Sie reden sich und anderen ein, dass sie bald wiederkommen.“121 Einige Schüler, die nicht da sind und der Ambivalenz des Abends ausweichen wollten, mögen kühl gedacht haben. „Ist doch klar, dass ich das Abi habe, das Zeugnis gibt es auch auf dem Sekretariat“. Sie übersehen die Erkenntnis der Dichterin Hilde Domin: „Wir essen Brot, aber leben vom Glanz.“ Der gesamte feierliche Abend bestätigt das. – Wir brauchen Riten und Feste, die Übergänge begleiten. Wir brauchen das Zauberhafte, das nicht so sehr auf Worten, sondern Gesten beruht.122 So gehören eigentlich nur Sie heute auf die Bühne. Und die Bühne wartet den ganzen Abend auf die zentrale Geste der Zeugnisübergabe. Doch zunächst gilt es ja, den Übergang zu verlangsamen.
dem verschlossenen Eingang zur Grablege der Habsburger. Die Stimme des Kustos der Wiener Kaisergruft fragt aus dem Inneren: „Wer begehrt Einlass?“ Der Zeremoniemeister antwortet: „Otto von Österreich, einst Kronprinz von Österreich-Ungarn, königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen …“ Es folgt eine vollständige Aufzählung der Titel. Der Kustos antwortet: „Wir kennen ihn nicht!“ Das Tor öffnet sich nicht. Auf ein erneutes Klopfen fragt die Stimme wieder: „Wer begehrt Einlass?“ Bei dem zweiten Versuch, Zugang zu erhalten, werden Ämter, Auszeichnungen und Orden des Toten aufgezählt. Der Kustos reagiert erneut: „Wir kennen ihn nicht!“ Auf die dritte Frage „Wer begehrt Einlass?“ lautet die Antwort dann schlicht: „Otto – ein sterblicher, sündiger Mensch.“ Und mit den Worten „So komme er herein!“ öffnet sich das Tor; der Weg zur letzten Ruhestätte ist offen, der eigentliche Bestattungsritus kann beginnen. – Auch wenn die Zeremonie nicht auf einer historischen Tradition, sondern eher auf einer Legendenbildung beruht, versinnbildlicht sie die Transformation, die zu einem gelungenen Übergang nötig ist, den Blickwechsel, den der Übergang vom Leben zum Tod erfordert und eine Konzentration auf die menschliche Bedürftigkeit und Hoffnung einleitet. 121 Böhringer, H., Kultur und Notlösung, Berlin 2012, S. 14. Man spielt also die Endgültigkeit herunter. Symbolische Ordnungen verleugnen häufig – oder geradezu notwendig – das traumatische Reale. – Žižek klärt in diesem Zusammenhang auch die Funktion leerer Gesten, die ganz auf den Erhalt der symbolischen Ordnung ausgerichtet sind. 122 Wer sich das Zeugnis heute überreichen und aushändigen lässt, weiß, dass Wirklichkeit den Zauber braucht, vgl. Agamben, G., Profanierungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 47–50 und Žižek, S., Lacan. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2008, S. 39: „Man sollte niemals die Macht des äußeren Scheins unterschätzen. Wenn wir manchmal versehentlich den äußeren Schein zerstören, dann fällt das Ding hinter der Erscheinung selbst ebenfalls auseinander.“ Zauber braucht keine Worte, sondern ist gestisch, namenlos. Wir brauchen den Puffer des Ritus, um Realität zu erfahren, und zuweilen kann man sie auch durch die Inszenierung besser verstehen und begreifen. „Das bedeutet, dass die Gefühle, die ich durch die Maske (die falsche Rolle) ausdrücke, auf seltsame Weise authentischer und wahrhafter sein können als das, was ich als meine eigenen Gefühle annehme“ (ebd., S. 47).
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Gilles Deleuze meint: „Man weiß nie im Voraus, wie jemand lernen wird“, und so stellen auch die letzten Momente ihrer Schulzeit – sie merken es an der Zitatfülle – auch noch Bildungsangebote bereit.123 Das erscheint wenig sonderbar, wenn Sie an den ersten Grundsatz der Pädagogik denken: „Alle erziehen alle zu jeder Zeit“124 Man kann – so die Zuversicht der Schulmeister – in jeder Situation, auch noch an diesen Abend, lernen.
Übergang als Lebensthema (emotionale Dimension) Der Schriftsteller Peter Handke: meint: „Wenn du den Schmerz der Schwelle spürst, dann bist du kein Tourist; es kann den Übergang geben.“125 Zur Dramaturgie des Übergangs gehört das Bewusstsein der Grenze, der entscheidenden Zäsur, das Zurücklassen von etwas Vertrautem, der etwas wehmütige Blick zurück. Der Philosoph Peter Sloterdijk deutete unlängst in einem Interview der Zeitung „Die Zeit“ an: „Es gibt ein Menschenrecht darauf, überschätzt zu werden.“126 Das würde bedeuten, dass alle ein übergroßes Zutrauen einfordern könnten; und es lässt sich vielleicht einfacher von einem universalen Bedürfnis nach unbedingter Wertschätzung sprechen. Auch wenn man Sloterdijk nicht zustimmt, muss man zumindest William James recht geben: „Das Herz lebt in Chancen“.127 Erst im Bewusstsein neuer künftiger Möglichkeiten schreitet man dann wagemutig/munter voran. Ein Übergang zeigt sich also, indem das Neue lockt. Andererseits drängt es uns immerzu nach Neuem. Hölderlin schreibt im „Hyperion“: „Aber sage nur niemand, dass uns das Schicksal trenne! Wir sind’s, wir. Wir haben unsere Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgendeiner anderen Welt zu stürzen, und, wäre es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten
Deleuze, G., zit. n.: Tyradellis, D., Malfaҫon. Wunder zwischen Immanenz und Transzendenz, in: Pazzini, K.-J., Sabisch, A., Tyradellis, D., Das Unverfügbare. Wunder Wissen Bildung, Zürich Berlin 2013, S. 20. 124 Eugen Fink formuliert: „Menschliches Dasein ist immer im Element der Lehre; jeder ist jedem ein Lehrer des Lebens, jeder gibt jedem ein rechtes oder schlechtes Beispiel“ (Fink, E., zit. n.: Burchardt, M., Erziehung im Weltbezug. Zur pädagogischen Anthropologie Eugen Finks, Würzburg 2001, S. 167). 125 Handke, P., Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a. M. 1983, S. 13, zit. n.: Han; B.-C., Hyperkultu ralität. Kultur und Globalisierung, Berlin 2005, S. 82 (Schlusssatz). 126 Soboczinsky, A., Felix Schmidt und Peter Sloterdijk. Überleben ist alles, in: Die Zeit vom 27.2.2014, S. 48. 127 Sloterdijk, P., Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluß an einige Motive bei William James; in: James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S. (11–34) 34. 123
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über des Irrsterns Grenzen hinaus. Ach, für des Menschen wilde Brust ist keine Heimat möglich.“128
Mit weniger Pathos heißt es dazu im „kleinen Prinzen“ ganz einfach: „Den Menschen fehlen die Wurzeln, das ist sehr übel für sie“129; das konstatiert eine Blume mit Wurzeln bedauernsvoll und lapidar. Noch einfacher singt der Soul-Sänger Bobby Womack: „Home is, where the heart is.“ Und da das Herz häufig bis ständig unterwegs ist, so darf man sagen: Der Mensch ist das unbehauste Wesen. Nie bleiben wir an einer Stelle. Projizierend und phantasierend sind wir immer schon woanders. Um einen kleinen Beleg aus Ihrer Erfahrung anzuführen, darf ich Sie daran erinnern, wie leicht sie sich vom Handy irritieren oder ablenken lassen – aus der Gegenwart des Unterrichts in ein virtuelles Anderswohin. Prinzipiell heimatlos gehört das menschliche Herz allein dem Übergang. Der Übergang ist seine einzige Heimat.
Übergang als Lebensthema (kognitive Dimension) Nicht nur das Fühlen, auch das Denken ist ganz vom Übergang her zu verstehen. Der Philosoph Ernst Bloch hält ganz allgemein fest: „Denken heißt Überschreiten“130, also einen Übergang vollziehen. Damit betont er: Wir sind auch im Denken ständig mit anderem befasst.131 Wir blicken auf einen Horizont und fragen sogleich auch schon darüber hinaus. Die Beschäftigung mit eigenen Beschränktheiten und Handikaps bringt die Möglichkeit des Übergangs: Existenzphilosophen meinen: Wer seine Grenzen kennt, ist bereits über sie hinaus. Wer seine Ketten erkennt, ist frei, und unfrei der, der meint, er hätte keine.132 So lässt sich
Axelos, K., Einführung in ein künftiges Denken, Tübingen 1966, S. 61 und S. 88: „Die berühmte Veränderung der Welt findet dennoch statt, nach einem gemischten und unreinen Schema (man könnte auch sagen nach den Gesetzen der Hybriden). Die Entwürfe der Veränderer, der Reformatoren und Revolutionäre, sind selbst verwandelt in und durch die geschichtliche Bewegung, die nur unter Missverständnissen und Kompromissen verläuft.“ 129 Saint-Exupéry, A. de, Der kleine Prinz, Düsseldorf 1983, S. 46. 130 Bloch, E., Das Prinzip Hoffnung. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 2. 131 Während die Sinne uns mit Eindrücken fluten und wir wie ein Schwamm alles aufnehmen, sind wir nie bei uns selbst; durch die Fähigkeit, nein zu sagen, distanzieren wir uns von dem Gegebenen. 132 Oder wie es bei Kant heißt: „Philosophieren heißt seine Grenzen kennen.“ Vgl.: Zill, R., Grenze, in: Konersmann, R. (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. (135–146) 135. In Goethes „Maximen und Reflexionen“ (HA 12, S. 520, Nr. 1116) ist zu lesen: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ 128
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als weitere These festhalten: Frei ist man nur im Übergang, im Bewusstsein der Grenze, der Schwellensituation des Lebens. Wenn nach Heidegger über den Philosophen Aristoteles nur drei Dinge gesagt werden können: Er wurde geboren, dachte nach und starb, so bedeutet gerade das Nachdenken die permanente Bewegung des Übergangs, der Überschreitung von Schwellen, das Ertragen von Widersprüchen und Ambivalenzen, das Durchschreiten von Räumen, die Veränderung durch Übergänge, auch das Durchleiden unendlich vieler innerer Kämpfe: Kinesis, Bewegung, d. h. der Übergang von Möglichkeit zur Wirklichkeit, stellt jedenfalls eine Kernthematik der Philosophie des Aristoteles dar. In der Ethik geht es Aristoteles um Übergänge vom Denken zum Tun, vom Tun zum Sein und damit um das Problem der Willensschwäche, die Frage, weshalb man das Erkannte nicht tut und wie sich Tugend umsetzen lässt. Während Aristoteles eine ausgewogene Ethik der Mitte vorschlägt, die Habitus/Hexis und Akt/ Operation verbindet, wird das Menschenbild in der modernen Philosophie schroffer und extremer. Marcus Steinweg und Rosemarie Trockel interpretieren Marguerite Duras’ Aussage, „Die Erfahrung der Freiheit ist … sicher die härteste von allen, aber es handelt sich um ein ungeheures Glück“ wie folgt: „Glücklich zu sein bedeutet, an das Unlebbare zu rühren, das mit der Unmöglichkeit objektiver Freiheit zusammenfällt. Es ist klar, dass die Freiheit über dem Abgrund der Unfreiheit gespannt bleibt, dass alles, was vom Subjekt kommt, als eine seiner Leistungen – Sprache, Bedeutung, Schrift – schwebendes Gefüge, Konstrukt, Erfindung ist. Subjekt ist, was fähig ist, zur Erfindung, was einen Sinn aufrichtet in einer Wüste des Nichtsinns, die der Raum der Freiheit und Ohnmacht gleichermaßen ist. Die Erfahrung der Freiheit ist von der Erfahrung der Ohnmacht untrennbar. Weil die Freiheit des Subjekts absolut ist, ist seine Ohnmacht total. Der Absolutismus der Freiheit hat sich a priori mit dem Totalismus der Ohnmacht verbunden. Die ohnmächtige Freiheit bewegt das Subjekt auf eine absolute Grenze zu. Als Subjekt der Grenzerfahrung realisiert es seine Freiheit, indem es seine Ohnmacht als deren Bedingung affirmiert.“133
Der französische Soziologe Bruno Latour fordert dazu auf, die Bilder und die Dinge ins Schweben zu bringen, „ins Leuchten, … in den Zwischenraum, wo alles noch im Entstehen ist und nichts fertig“. Latour fordert ein Parlament der Dinge ein, in dem alles nochmals neu verhandelt werden kann (das englische thing enthält noch die Nähe zum germanischen ting, der Versammlung.)
Steinweg, M., Trockel, M., Duras, Berlin 2008, S. 165f.
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Ähnlich wird in W. Welschs postmodernen Philosophie-Entwürfen auch die Vernunft pluraltransitorisch als Brücke und weniger als fester Anker und Fundament verstanden.134
Übergang – Widerspruch erleben, Hybrid sein Das anfangs angesprochene Verlangsamen des Übergangs heißt natürlich zögern, Widersprüche und Komplexität aufsaugen. Kafka ist der Autor, der mit seinem Zaudern die Schwelle in ein Labyrinth verwandeln kann und dabei die Widersprüchlichkeit und extremen Abgründe der modernen Erfahrung auslotet.135 Der Künstler Günther Uecker sieht das Erleben von Widersprüchen nicht so negativ: Er kam aus dem Krieg zurück und hat Kunst nur noch mit dem Hammer gemacht, Nägel in Holzplatten oder andere Gegenstände, etwa Fernseher, eingeschlagen. Er meint: „Widersprüche im Menschen vereint, sind Ausdruck seiner Poesie. Der Mensch ist das einzig befähigte Wesen, das Widersprüche in sich vereinen kann, ohne zu kollabieren.“136 (Die Betonung liegt wohl hier auf: „vereinen“.) Und der christliche Theologe Paul Knitter nennt den zeitgenössischen Menschen ein Mischwesen137; Hybrid-Sein bedeutet: verschiedene Welten gleichzeitig bewohnen, die Alltagswelt, die Cyberwelt und die Welt des Arbeitsplatzes und der Freizeit, sich diverser kultureller und religiöser Einflüsse und der Dominanz von gesellschaftlichen Mehrheiten bewusst zu sein. Damit ist nicht einer Beliebigkeit das Wort geredet, sondern gerade eine persönliche Auseinandersetzung mit Widersprüchen gefordert. Nach Knitter muss der Bruch zwischen dem Wunsch nach Sinnerfahrung und dem gedankenlosen Konsum billigster Waren aus ausbeuterischen Firmen deutlich werden. Albert Schweitzer drückt das
Latour, B., Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin 2005, S. 29; vgl. Welsch, W., Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1995. 135 Vogl, J., Über das Zaudern, Berlin Zürich 2007, S. 76 und S. 109: „Das Zaudern hegt einen Komplexitätsverdacht. Es folgt einer Arithmetik, die vom Hundertsten ins Tausendste geht. Es mag die Linearität und Einförmigkeit der Welt nicht oder nur schwer ertragen.“ 136 Uecker, G., im Gespräch mit A. Bosetti „Günther Uecker malt mit Nägeln“ anlässlich des 80. Geburtstags des Malers, in: Neuss-Grevenbroicher-Zeitung vom 12.3.2010, A7: „Majakowski hat nach der Russischen Revolution gesagt, die Poesie wird mit dem Hammer gemacht.“ Uecker teilt Majakowskis Auffassung von Poesie. 137 Knitter, P., Ohne Buddha wäre ich kein Christ, Freiburg Basel Wien 2013, S. 341: „Unser religiöses Selbst ist wie unser kulturelles und soziales Selbst im Kern und seinem Verhalten nach ein Hybrid [ein Mischwesen]. Das bedeutet, unsere religiöse/kulturelle Identität ist eine Mischform, keine Einzahl, sondern eine Mehrzahl … So etwas wie eine sauber abgegrenzte und ein für alle Mal bestehende Identität gibt es nicht.“ 134
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so aus: „In der Wahrheit sind wir, wenn wir die Konflikte und Widersprüche immer tiefer erleben.“138 Das heißt: Die Chancen des Übergangs liegen in einer Vertiefung und Weitung des Blicks und des Herzens. Und das sind zugleich auch die Chancen von Bildung, denn was soll Bildung anderes sein als eine große Kette/Experimentreihe von Übergängen? – ein langer Exodus heraus aus Vorurteilen und unreflektierten Ansichten. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard kommt zu dem Schluss: „Überall wo Leben ist, da ist Widerspruch, und wo Widerspruch ist, da findet sich das Komische“. Das Komische gehört also unweigerlich zu einer Grundstimmung des Übergangs. Das Reden über Übergänge muss natürlich auch dem zu entsprechen suchen.139 Adorno hat Recht: Das Unmittelbare und Prompte ist das Barbarische.140 Der Übergang beinhaltet also immer auch einen Versuch des Brückenschlags und der Vermittlung zwischen den Widersprüchen, ein Versuch der Bearbeitung oder auch der Distanzierung. Der Übergang – Abschluss und Neustart zugleich – bietet die Chance, die Welt neu entstehen oder eine neue Welt entstehen zu lassen.
Von gelingenden Übergängen Die Frage lautet in einem zweiten Anlauf: Wie gelingen Übergänge? Es geht ja um mehr als um ein bloßes Aushalten der Widersprüche. Einfache Tipps kann man nicht erwarten, aber fünf Winke: 1) Auf die Frage, wie sperrig-holprige Schwellen zu passierbaren Übergängen werden, antwortet der Frankfurter Philosoph Adorno: Am besten mit wenig Gepäck. Er meint: „der Panzer verdeckt die Wunde.“141 – Der Übergang erfordert eine Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit, Einsicht in die eigene Fehlbarkeit.142 Schweitzer, A., Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, München (8. Aufl.) 2003, S. 40. 139 Kierkegaard, S., Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, München 2005, S. 709. 140 Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 46 (Nr. 20), wendet sich gegen die „nackte Roheit“ wie auch gegen eine Ideologie der Sachlichkeit, die Menschen zu Sachen degradiert. „Das direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zögern, ohne Reflexion dem anderen die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos, das unterm Faschismus von Stummen an Schweigende ergeht.“ 141 Adorno, Th. W., Kulturkritik und Gesellschaft II. GS 10-2, Frankfurt a. M. 1997, S. 491. 142 In unserer Imperfektion und in unserer Einsicht in unsere Fehler unterscheiden wir uns von Maschinen; unsere Fehlbarkeit begründet unsere Würde (vgl. E. Benda). Maschinen machen keine Fehler und werden daher nicht beerdigt, sondern würdelos verschrottet. 138
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Übergänge gelingen, wenn man sich weniger seiner Verdienste, Leistungen und Fähigkeiten bewusst ist, sondern vielmehr seiner Hinfälligkeit, Bedürftigkeit und Vorläufigkeit. Auch wenn das Karriere-Coaches und Selbstdarstellungs-/Castingformate anders sehen und selbstbewusstes Auftreten bereits als ein Kompetenzmerkmal ausgeben, sind sich Kulturwissenschaftler mit Verweis auf verschiedenste Mythen und Riten sicher: Nicht Perfektionismus und Managerqualitäten helfen letztlich, sondern die Annahme der Begrenztheiten, die Einsicht in die eigene Kontingenz. Oder wie die lustige Person schon zu Beginn von „Faust I“ (V. 182) formuliert: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; / ein Werdender wird immer dankbar sein.“ (Man sollte sich wohl davor hüten, je fertig sein zu wollen.) 2) Auch wenn wir uns in Übergangssituationen so überfordert fühlen wie eine Ameise auf dem Rücken eines Elefanten, gilt Jean Pauls Zuversicht: „Vertrauet auf die Entzifferungskanzlei der Zeit und des Zusammenhangs.“ Und weiter: „Fürchtet keine Unverständlichkeit, sogar ganzer Sätze; … der ahnende Drang, zu verstehen, hellet die eine Hälfte und mit dieser und der Zeit [hellt sich] auch die andere auf.“143 Alles hängt also an der Verzögerung des Übergangs. So fordert auch Rilke uns auf, nicht schnelle Antworten zu suchen, sondern die Fragen zu leben, um so in eine neue, uns jetzt noch fremde Antwort hinein zu leben.144 3) Der Psychoanalytiker Jacques Lacan gibt den Ratschlag, in seinem Begehren nicht nachzugeben. Er meint: Wir sollten unsere Träume und Hoffnungen nicht verraten bzw. einander die Träume nicht kaputtmachen. Keiner hat das Recht, in das Phantasie-Universum des anderen einzubrechen. Die Verantwortung für die eigenen Träume formuliert Marquis de Posa in Schillers „Don Carlos“ in den berühmten Versen: „Sagen Sie / ihm [dem Thronfolger], dass er für die Träume seiner Jugend / soll Achtung tragen, wenn er ein Mann sein wird, / (nicht öffnen soll dem tötenden Insekte / gerühmter besserer Vernunft das Herz / der zarten Götterblume) – dass er nicht / soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit / die Begeisterung, diese Himmelstochter, lästert.“145 (Der Satz gilt natürlich unspezifisch auch für Prinzessinnen, die junge Generation allgemein.) Der Wahlspruch des Humanisten Erasmus von Rotterdam lautet: Ich weiche keinem, „concedo nulli“. So ist auch auf seiner persönlichen Motivtafel von Hans Holbein zeichnerisch nachempfunden, dass wir dem römischen Gott Terminus nacheifern sollen. Der Gott der Grenze weicht auch bei Bedrohungen nicht, auch nicht vor dem höchsten Gott. So wie ja bis heute Grenzsteine nicht einfach verrückt werden dürfen. Die Widerstandskämpfer der Weißen Rose wählten den Goethe-Vers „allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“ zu ihrem Leitspruch, der
Bichsel, P., Das süße Gift der Buchstaben. Reden zur Literatur, Berlin 2004, S. 31. Rilke, R. M., Briefe an einen jungen Dichter, herausgegeben von F. X. Kappus, Leipzig Frankfurt a. M. (53. Aufl.) 2014, (1929, Insel-Bücherei Nr. 406), S. 20–25 (vierter von zehn Briefen). 145 Schiller, F., Don Carlos IV 2, in: ders., Sämtliche Werke. Dramen II, Darmstadt München 1981, S. 173. 143 144
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ganz ähnlich klingt wie der Erasmus-Satz. In diesem Sinn beschwört auch der Erfinder der Logotherapie Viktor Frankl „die Trotzmacht des Geistes.“ Terminus lautet der lateinische Name für den Gott der Grenze. Jeder Begriff, Terminus hat seine Reichweite, in dem er sinnvoll ist, die auch durch ihre Definition abgesteckt ist. Darüber hinaus wird er nicht wirken. Die Grenze zwischen zwei Arealen oder Feldern bedeutet in der Antike keine klare Linie, sondern einen fünf Fuß breiten Streifen – confinium, ein unscharfes Niemandsland, das nicht zuletzt dadurch entstand, dass man Platz brauchte, um den Pflug zu wenden.146 Der Begriff Übergang wäre in der philosophischen Terminologie mit „Transzendenz“ zu übersetzen. Der Mensch ist transzendierend, sich immer schon voraus oder vorweg, nie mit sich identisch, und erst in seinem Überschreiten/Projizieren/Sich-Distanzieren frei. Transzendenz bedeutet also Existenz in Freiheit.147 4) Nietzsches Definition von Berufung/Begabung ist eigenartig sehr einfach: „Man kann sich Mühe geben.“ Sie gilt in den Augen Nietzsches für jeden: Sich Mühe geben bedeutet eine Frage, ein Thema oder eine Aufgabe liebgewinnen. Und dass keiner mehr geben muss, als er kann, und über das eigene Können hinaus keiner beansprucht werden kann, ist bereits ein alter römischer Rechtsgrundsatz (ultra posse nemo obligatur). 5) Der französische Philosoph Alain Badiou meint: Wir sollten „das Neue erfinden eben an der Stelle der minimalen Differenz, dort, wo fast nichts ist“. Übergänge ergeben sich oft unmerklich und leise-lautlos. So kommt es schon zu Veränderungen, wenn alte Zeichen neu verwendet werden, etwa durch einen anderen Notenschlüssel, andere Vorzeichen. Eine neue Tonart verändert das Spiel. Wenn Worte in Anführungszeichen gesetzt werden, ändert sich der Sinn der Rede. Man sollte also lernen, wie ein Seismograph auf die lautlosen Anzeichen zu achten, auf die unhörbaren Zeichen, die die Regeln für andere Zeichen abgeben: also auf all das, was neue Interpretationen einleitet. Übergänge beginnen mit neuen Atmosphären, unmerklichen Akzentverschiebungen und neuen Betonungen, die sich in einem weiteren Schritt dann natürlich in neuen Metaphern und Bildern manifestieren. Zill, R., Grenze, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. (135–146) 135f: Da man das Nichtsprachliche nicht fassen kann, wird aus der Grenze der Sprache eine Mauer, vgl. Wittgenstein. 147 Vgl. Billeter, J. F., Ein Paradigma, Berlin 2017, S. 52f, bezeichnet „Phänomene der Diskontinuität“, des tieferen Verstehens als Transzendenz und erinnert an Spinoza: „Freude ist der Übergang des Menschen von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit.“ Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 357ff, thematisiert den „Reiz der Schwelle“, „die Formel Incipit vita nova“, „die Treue zur Hoffnung“: „Die Akte des Überschreitens selber lassen sich jedenfalls nicht nihilisieren … Und die Hoffnung tritt gerade vor … als die pionierhafte Gegenkraft gegen die manipulierte Angst und Entwürdigung zu einer ideologisch brauchbaren Versicherungsanstalt“ (ebd., S. 272ff). 146
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Es stimmt eben nicht, dass alles Dressur ist, wie es in „Faust I“ (V. 1173) heißt. (Faust sucht ja selbst nach Möglichkeiten der Veränderung, des leisen Widerstands, der Distanz zu sich.) Alain Badiou wendet sich gegen veränderungsmüden Sekurismus und defätistische Saturiertheit: „Heute dagegen will man uns eintrichtern, dass das Wollen, dominiert von einem erdrückenden Realitätsprinzip, dessen Konzentrat die Ökonomie ist, sich äußerste Zurückhaltung auferlegen muss, will es die Welt nicht schwerem Unheil aussetzen.“148
Die Erfahrung der Freiheit ist nicht eine Erfahrung der Harmonie, sondern eine Erfahrung der Störung und des Ungleichgewichts, die mit dem Übergang einhergeht und sich mit neuen Interpretationen, Akzentverschiebungen leise ankündigt – so auch der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Ingeborg Bachmann dichtete: „Ihr Worte auf, mir nach! Weiter, zu keinem Ende geht’s.“149 Man könnte den Übergang noch mehr verlangsamen; aber Ihre Geduld sollte nicht überstrapaziert werden, was hoffentlich nicht bereits geschehen ist:
Schlussgedanke Wir wissen, welcher Satz über dem Eingang der Akademie Platons in Athen stand – diese große Schule hatte 900 Jahre Bestand von 385 v. Chr. an, bis sie 529 Kaiser Justinian schließen ließ: „Kein Ungeometrischer soll eintreten!“ (Das heißt also, wer eintreten will, muss Geometrie, Mathematik können, also einen Sinn für die Schönheit der Formen und ihre Komplexität mitbringen.) Doch was stand über dem Ausgang? Was war der Ratschlag, der beim Verlassen der Akademie zu lesen war? – Die anwesenden Lehrer der MINT-Fächer werden sagen: Natürlich bleibt es
Badiou, A, Das Jahrhundert, Zürich Berlin 2006, S. 124 und S. 155f: „Das Umgekehrte der Feigheit ist nicht der Wille, sondern die Hingabe an das, was geschieht (Hingabe an das Ereignis)“, Badiou zitiert auch André Breton (ebd., S. 172): „In der Tat, es gibt keine unverschämtere Lüge als die, selbst – ja vor allem – angesichts des Irreparablen zu behaupten, Rebellion sei zwecklos. Die Rebellion rechtfertigt sich selbst, völlig unabhängig von den etwaigen Möglichkeiten, den Sachverhalt, der sie ausgelöst hat, zu verändern. Die Rebellion ist der Funke im Wind, aber der Funke, der das Pulverfass sucht.“ 149 Bachmann, I., zit. n.: Kluge, A., Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten, Frankfurt a. M. 2009, S. 418. 148
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dabei: Man muss immer noch Mathematik können. Aber vielleicht taugen auch folgende Zitate für den Ausgang: – Johann Gottlieb Fichte: „Das Lernen hat seinen Reiz und seine Belohnung in sich selber.“ Der idealistische Satz relativiert auf heilsame Weise das Punktesammeln und das Benotungssystem als letztlich sekundär. Bei Bildung und beim Lernen geht es um sehr viel mehr. Nämlich um Blickweitung, Perspektivwechsel. – Honoré de Balzac: „Leben gibt es nur an den Rändern.“150, nicht im Mainstream. Die Einsicht: „Leben gibt es nur in ständigen Übergängen“ hilft Ihnen vielleicht etwas beim Verlassen und Abschiednehmen. – Hafis formuliert schließlich: „Du bist deine eigene Grenze. Erhebe dich darüber!“151 Charles Péguy sagte einmal frustriert: Alles beginnt mit einem Geheimnis, mit Mystik, und endet mit Politik,152, dieser Satz darf sich hier nicht bewahrheiten. Das PragmatischTechnokratische, das Strategische soll nicht das letzte Wort haben. Das Abenteuer Bildung geht nämlich für Sie weiter. Weitere neue Erkundungen warten auf Sie: „Komm“ rufen die neuen Bildungsstätten Ihnen zu. Einen ähnlichen Ruf aus der Zukunft formulierte der große persische Dichter und Mystiker des 13. Jahrhunderts Djalal-odhin Rumi. Seine Aufforderung, die auch auf seinem Grab im türkischen Konya steht, verbindet das Thema Übergang und die Verheißung von Bildung in einem umfassenden Sinn. Rumis Aufforderung gilt Ihnen, sie lautet: „Komm, Komm, / wer immer du bist, / Wanderer oder Götzenanbeter, / der du den Abschied liebst, / das ist keine Karawane der Verzweiflung; / auch wenn du den Schwur tausendmal gebrochen hast, / komm, komm, noch einmal komm!“153 Balzac, H. de, zit. n.: Virilio, P., Petit, Ph., Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik, Berlin 2011, S. 8. Einige Aussagen, die uns direkt in den Sinn kommen, sind etwas ausgeleiert: „Leben ist immer lebensgefährlich“ (Kästner). „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin). „Wohl an denn Herz, nimm Abschied und gesunde!“ (Hesse) „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt in ihr um!“ (Wolf Biermann). 151 Vgl. die kalligraphische Ausstellung im Goethemuseum Frankfurt 2014. Vielleicht eignete sich auch der Goethe-Vers aus dem „west-östlichen Divan“: „Dass du nie endest, macht dich groß. / Dass du nie beginnst, ist dein Los.“ 152 Péguy, C., zit. n.: Taylor, C., Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, S. 1238: „Tout commence en mystique et finit en politique“. 153 Es gibt verschiedene Übersetzungen des Satzes, die hier ausgewählte ist hoffentlich akzeptabel. 150
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6.4 Extreme Bildung – Bildung der Extreme
Wir Lehrer wünschen Ihnen noch viele gelungene, runde Übergänge und natürlich zugleich den kantigen Eigensinn und die Widerständigkeit, die nötig sind, um sich gegen die Übermacht der Systeme und den Druck der Konventionen zu behaupten. Wenn wir Ihnen heute „alles Gute“ wünschen, verstehen Sie das bitte auch als Koffersatz. Bei vielen Koffern wissen Sie nicht, was alles enthalten ist. Bei diesem ahnen sie den Inhalt. Weil man mit einem Koffer schlecht gehen kann, zwei gleich schwere Koffer – für jede Hand einen – sich aber gut tragen lassen, sei es einfach nochmals gesagt: Alles, alles Gute Ihnen!
6.4 Extreme Bildung – Bildung der Extreme „Was uns denken macht, ist immer eine traumatische Begegnung mit dem externen Realen, das sich uns brutal aufdrängt und unsere etablierten Denkweisen erschüttert. Ein echter Gedanke ist als solcher immer dezentriert: Man denkt nicht spontan, man wird zum Denken gezwungen.“ – Slavoj Žižek154
Der Frankfurter Philosoph Arthur Schopenhauer klagte einmal: „Was hilft alle Philosophie der Welt gegen meinen Zahnschmerz?“ Und dennoch hat er sein ganzes Leben mit Nachdenken und philosophischer Bildung zugebracht. „Vernunft ist, wenn man trotzdem denkt“155: Auch wenn von vorneherein klar ist, dass man nicht zu abschließenden einfachen Antworten kommen kann, sollte man nach Odo Marquard mit dem Fragen und Analysieren nicht nachlassen. Nach diesem kurzen geistigen Anfahrtsweg zeichnet sich das Thema für die nächsten Minuten ab: Es soll gleichermaßen für eine extreme Bildung und eine Bildung der Extreme geworben werden. Beides muss als Zwillingsprojekt gesehen werden. Sie sind zu einer kurzen, gedanklichen Achterbahnfahrt eingeladen. Ein Zitat wird durch eine Zitatkollage erläutert, ganz nach William Blake: „Die Straße des Übermaßes führt zum Palast der Weisheit.“156 Die Tour d’Horizon beginnt an einem wahrhaft gespenstisch-dunklen Ort,
Žižek, S., Da capo senza fine, in: Butler, J., Laclau, E., Žižek, S., Kontingenz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge der Linken. Hg. V. G. Posselt, Wien 2013, S. 265. 155 Marquard, O., Endlichkeitsphilosophisches. Über das Alter, Stuttgart 2013, S. 68 (Kapitel „Vernunft und Humor). 156 Ganz ähnlich lautet die rhetorische Frage bei Günther Anders: „Übertreibung oder Erkenntnisverzicht?“, denn es scheint so zu sein, dass die Wahrheit nichts Langweiliges ist, sondern eher etwas mit Ekstase und Ausnahmezustand zu tun hat. 154
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nämlich mit der Spiegelbestsellerliste, d. h. dem Ranking, das den Wert und die Bedeutung von Büchern an ihren Verkaufszahlen bemisst.
1) Ein Tiefpunkt der Unbildung – ein vergifteter letzter Ratschlag Der englische Erfolgstitel „10 Milliarden“ von Stephen Emmott, der 2014 beim renommierten Suhrkamp-Verlag erschien und in Deutschland zu den am meisten verkauften Büchern gehörte, versucht das Ausmaß der drohenden Überbevölkerung und ihre drastischen ökologischen und sozialen Folgen abzuschätzen: Emmott gibt am Ende einen erschreckenden-unsinnigen, total kopflosen Ratschlag, einen katastrophalen Anti-Ratschlag, den er zudem völlig unkommentiert lässt: „Wenn wir eine globale Katastrophe verhindern wollen, müssen wir irgendetwas Radikales tun – und ich meine wirklich tun. Aber ich glaube nicht, dass wir das machen werden. Ich glaube, wir sind nicht mehr zu retten. Ich habe einem der nüchternsten und klügsten Forscher, die mir jemals begegnet sind, einem jungen Mann aus meinem Labor, der sich weiß Gott in diesen Dingen auskennt, die folgende Frage gestellt: Wenn er angesichts der Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, nur eine einzige Sache tun könnte, was wäre das? Was würde er tun? Wissen Sie, was er geantwortet hat? ‚Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.“157
2) Bildung als Kritik der Verrohung/Brutalisierung Man wundert sich, dass der Aufschrei der Feuilletons ausgeblieben ist; dass sich bisher noch niemand über den finalen Ratschlag Emmotts ereifert hat, kann hier nur ansatzweise kompensiert werden. Emmott beschwört herauf, was alle aus dem Politik- und Ethikunterricht kennen: das Horror-Szenario des hobbesschen Krieges aller gegen alle, den Rückfall in den Naturzustand, die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags. Eine Brutalisierung und Verrohung des sozialen Klimas wird nicht mehr zu unterbinden versucht, sondern förmlich herbeigeredet. Auch wenn der Schlussratschlag wohlbemerkt im Konjunktiv steht und nur ein Gedankenspiel darstellt, beinhaltet er eine geistige Bankrotterklärung, einen Kollaps von Vernunft und Kultur.
Emmott, S., 10 Millarden, Berlin 2013, S. 202–204.
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6.4 Extreme Bildung – Bildung der Extreme
Ironisierend kann man eigentlich nur vermuten, dass es sich bei dem nicht namentlich erwähnten Experten wohl um Bruce Willis oder ein jüngeres Double gehandelt hat, dass hier Willis für seinen neuesten Hollywood-Actionfilm und die amerikanische Waffenlobby kräftig die Werbetrommel rührte. Emmott und sein Statistiklabor konnten oder wollten nicht verhehlen, dass sie mit ihrem Latein am Ende sind. Sie diagnostizieren eine kollektive Realitätsverleugnung in Bezug auf globale Probleme. In diesem Fall ist die Maßnahme der Wahl aber nicht Aufrüstung (das Hantieren mit dem Fetisch Waffe), sondern eine Therapie. Der Fetisch indes fundamentiert die Realitätsverleugnung (Žižek): „Man weiß zwar, aber man glaubt nicht wirklich, was man glaubt.“ Die an die Wand gemalten Teufel verschwinden nicht, solange man mit dem Fetisch operiert. Wenn man Emmotts Schluss einen Sinn geben will, muss man auf Žižeks Ausführungen zurückgreifen: „Das ist die grundlegende Lehre aus dem Scheitern der traditionellen Ideologiekritik: Wissen ist nicht genug, man kann wissen, was man tut, und trotzdem fortfahren, es zu tun. … Da man erst dann die Katastrophe glaubt, wenn sie wirklich eingetreten ist (es zu spät zum Handeln ist), muss man sich in die Zeit unmittelbar danach versetzen und der Katastrophe die Wirklichkeit von etwas zuerkennen, das tatsächlich stattgefunden hat. Wir kennen alle den taktischen Zug, dass man erst einen Schritt zurück macht, um weiter nach vorn springen zu können. Dupuy dreht dieses Vorgehen um: Man muss erst nach vorn, in die Zeit nach der Katastrophe springen, um vom Rand zurücktreten zu können.“158 „Wir wissen jetzt Bescheid und können nicht mehr so tun, als wüssten wir es nicht.“159 „Man nimmt die finale Katastrophe, die Obszönität, dass Menschen ihre Nächsten im Namen der Gerechtigkeit umbringen – als unausweichlich, als in unser Schicksal geschrieben hin und bemüht sich, sie, solange es geht, – möglichst für immer – aufzuschieben.“160
Der Webfehler des Buches wird schon im Titel deutlich. Man hätte sich hier bereits von dem Statistiker Emmott die Klarstellung gewünscht, dass es sich bei den „10 Milliarden“ um Menschen handelt, und nicht um „anonyme Fressfeinde“, die als gefährlich große Masse zu verrechnen sind oder wie Aliens/Zombies bekämpft und ausgeschaltet werden können, wenn sie einem zu nahe kommen.
Žižek, S., Weniger als nichts, Berlin 2014, S. 1338. Ebd., S. 1324. Žižek beschreibt diesen Satz als Fazit des Christentums, das im Mythos die Wahrheit des Mythos, den eigenen Riss nicht verdrängt und nicht verheimlicht. 160 Ebd., S. 1333. 158 159
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Der populären Annahme, dass sich der Einzelne nicht mehr an Regeln halten muss, wenn sich alle anderen auch nicht daran halten,161 kann Emmott nichts entgegensetzen, Kant dagegen schon. Wer hilfreiche ultimative Ratschläge sucht, darf sich also nicht an die Spiegel-Bestsellerliste wenden. Emmott hätte dagegen selbst einen unbestechlichen Philosophen, etwa Immanuel Kant, um Rat fragen müssen. Dieser ist ein Experte im Bohren dicker Bretter und gewissermaßen mit seinem Gedankenlaser in der Lage, ein Guckloch in die Betonwand zu bohren, die Emmott und seine Einzelkämpfer-Mutanten vorm Kopf haben.
3) Unabweisbarkeit der Goldenen Regel – zur sozialen Imprägnierung des Denkens An dieser Stelle reicht ein Hinweis auf die Unabweisbarkeit der Goldenen Regel, der Hinweis auf ihre grundsätzliche, unbedingte Gültigkeit. Dies muss eigentlich nicht näher dargelegt werden, Sie haben ja alle im Religions- oder Ethikunterricht tüchtig aufgepasst. Kant setzt – Sie wissen es – auf einen letzten Funken Rationalität, den auch Emmott dem Menschen nicht absprechen kann, und meinte extrem zuversichtlich: Selbst eine Gesellschaft von Teufeln wird sich selbst zähmen, befrieden und augenblicklich in eine Gemeinschaft von Engeln verwandeln, wenn sie nur mit diesem Rest-Verstand ausgestattet sind. Denn jeder wird mit ein bisschen Nachdenken einsehen, dass ich dem anderen nicht das antun kann, was ich selbst nicht will. Der Kategorische Imperativ meint nämlich genau dies: Der Mensch ist kein Ding und kann niemals wollen, dass er oder irgendein Mensch derart behandelt wird.162 Die Überlegung löst nicht alle Probleme in Luft auf, bietet aber eine gemeinsame Ausgangssituation, die durch die plumpe Untergangsrhetorik gerade infrage gestellt und unterlaufen zu werden drohte. Die Entsolidarisierung, die Emmott noch vorangetrieben hat, wird von Kant revidiert/korrigiert.
Utilitaristen wie Norbert Hoerster teilen die Auffassung, dass im Falle des Rückfalls in den Naturzustand alles erlaubt ist, keine Regeln mehr für das Individuum gelten müssen. 162 Für Kant gilt jedenfalls die idealistische (Über-)Forderung: „Du kannst, denn du sollst“, von jedem Subjekt darf verlangt werden, dass es das Eingesehene umsetzt, die Kluft zwischen Denken und Tun überwindet etc. Die Zumutung von Bildung geht weiter; Kants Einsicht in die Einheit des Subjekts („Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“, KrV B 132) bedeutet: So fremd die Gedanken, Wutemotionen auch sind, die in mir aufsteigen, die weit davon entfernt sind, Gegenstand willentlicher Entscheidungen gewesen zu sein, man muss sie personalisieren, sich mit ihnen ganz und gar identifizieren. 161
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6.4 Extreme Bildung – Bildung der Extreme
Und mit Kant kann man auch sagen, dass das Denken das „Sozialste“ ist, was es gibt: a) Der individuelle Verstand bindet sich aus sich heraus für immer an den Mitmenschen und lässt den Gedanken der Menschheit nicht mehr los. b) Was man sich allein am Schreibtisch oder im Labor klargemacht hat, vor dem Forum der Vernunft, ist zugleich für alle geklärt.163 Mit der Einsicht in die soziale Imprägnierung des Denkens beginnt jedenfalls die Bildung der Extreme … Und Sie ahnen es: Das geht zugleich mit extremer Bildung einher: Auch im Mittelalter hat man über Extreme nachgedacht, über die ultima ratio, die äußerste/ letzte Wirklichkeit (ultimum potentiae). Für Thomas von Aquin waren das Umschreibungen/ Erklärungen für den Begriff Tugend. Tugend ist also nicht erst bei Kant ein Extrem, eine Radikalität, und alles andere als altbackenes, langweiliges Mittelmaß/Maßhalten; das „Äußerste der Tugend“ wird bereits von dem mittelalterlichen Theologen hervorgehoben. Da man seit der Antike von einer Vielzahl von Tugenden, etwa den vier Kardinaltugenden, ausging, erscheint die letzte Wirklichkeit vielfältig-dynamisch und nicht als monolithisch-homogene Einheit. Man ahnt, wenn M. M. Bachtin meint: Wirklichkeit ist nicht gegeben, sondern aufgegeben, eine Aufgabe eben.
4) Mitleid als Bändigung der Extreme Der anfangs zitierte Schopenhauer gilt allgemein als äußerst pessimistischer Philosoph. Im Gegensatz zu dem besagten Emmott mündet sein ganzes Denken in Mitleid/Mitgefühl mit dem Anderen. Der Schlussstein seines Denkens bildet das uralte Sanskrit-Wort: „Tat twam asi“, das hinduistische „Auch das bist Du“, die Aufforderung zum Mitgefühl, zur Identifikation mit dem Anderen.164 Wenn man schon illusionslos philosophieren will, darf man sich und andere nicht um die Lichtpunkte des Mitgefühls betrügen. Im Mitgefühl ist nämlich die blinde
Vgl. Gespräch, Negt, O., Kluge, A., Selbstdenken. Immanuel Kants Schrift „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (2005), in: Kluge, A., Weinmann, M., Seen sind für Fische Inseln. Fernseharbeiten 1987–2008, Frankfurt a. M. 2009. – Es erscheint erstaunlich, dass Kant das therapeutische Potential (Optimismus und Trost) seiner Ethik nicht offensiver dargestellt hat: 1791 wendet sich Maria von Herbert verzweifelt an Kant, sie stammt aus Klagenfurt; Kant ist in Österreich verboten, sie hat seine Schriften dennoch gelesen und stürzte ähnlich wie Kleist in eine Krise: Kant soll ihr nun helfen, der Kategorische Imperativ, so Maria von Herbert, tröste sie nicht. Walter Benjamin meint, Kants Antwort sei der „erschütterndste Philosophenbrief aller Zeiten“, weil er den Abstand von Lebenswelt und Philosophie belegt. Kant erscheint hilflos gegenüber dem Anliegen der Frau; Maria von Herbert hat sich 1803 suizidiert (vgl. Berger, W., Was ist philosophieren?, Wien 2014, S. 90–94). Im Folgenden wird der Kategorische Imperativ um den Mitleidsgedanken ergänzt. 164 Schopenhauer meint, dass alle Liebe letztlich Mitleid ist, also auf der Identifikation mit dem anderen, der Aufgabe oder doch Irritation des eigenen Willens, gründet. 163
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evolutionäre Logik der Selbststeigerung und der immer expansive Wille zur Macht überstiegen und ausgesetzt. Das Mitleid ist nach Schopenhauer durchaus ein geeigneter Maßstab für Bildung, ein Gradmesser für die Bändigung der Extreme. Der amerikanische Schriftsteller Henry James hat es auf den Punkt gebracht: „Drei Dinge sind im Leben eines Menschen wichtig. Erstens Menschlichkeit. Zweitens Menschlichkeit. Und drittens: Menschlichkeit.“165 Schopenhauers Bücher sind voll von griechischen, lateinischen, französischen, englischen, italienischen, spanischen Zitaten. Sie belegen, dass jeder Mensch viele Kulturen hat (T. Todorov) und dass Pluralismus, Vielstimmigkeit und Gewaltenteilung das Gewissen gerade schärfen und keineswegs bloß irritieren oder gar schwächen (Z. Bauman).
5) Bildung als Idealismus: der unvergleichliche Bildungsgenuss Bildung bedeutet – Sie haben es gemerkt –, kontrafaktisch auf die Macht der Gedanken und Ideen zu setzen. Ihnen soll darum auch das „Sahnehäubchen“ oder der Gipfelpunkt des Idealismus nicht vorenthalten werden; Johann Gottlieb Fichte beschreibt das Erleben von Bildung als unvergleichlich beglückend und zutiefst lustvoll: „Der Genuss einer einzigen, mit Glück in der Kunst oder in der Wissenschaft verlebten Stunde, überwiegt bei weitem ein ganzes Leben voll sinnlicher Genüsse; und schon vor
An diesem Punkt scheint eine Komplizierung angebracht: Die dreimalige Wiederholung will natürlich den Begriff der Menschlichkeit mit Nachdruck in das Gedächtnis des Lesers/Hörers einprägen. Die Wiederholung deutet aber auch auf die Eigendynamik und Offenheit des Begriffs hin (frei nach Slavoj Žižek): Die erste Nennung von Menschlichkeit klingt emphatisch-überschwänglich, das zweite Mal darf man schon in dem Wort die Kluft zwischen Anspruch und Realisierung mitdenken, also das Wissen um die eigenen Grenzen und das Scheitern mithören, und die dritte Nennung drängt schließlich auf ein Tun, damit sie keine Hohlphrase wird. Al-Ghasali meinte in Vorwegnahme kantischer Begriffe (vgl. „Oh Kind! Ayyuha ’l-walad“, Braunschweig 2002, S. 31): „Wissen ohne Handeln ist Schwachsinn; und Handeln ohne Wissen ist Unsinn“; Tun ohne Wissen ist blind und Wissen ohne Tun ist leer. Damit der Satz von James aber nicht zu einem plumpen Aktionismus anleitet, ist er so zu verstehen, wie Rilke das seinem verzweifelten jüngeren Dichterkollegen Franz Xaver Kappus geraten hat: Man soll nicht nach Antworten suchen, die einem keiner momentan geben kann, man soll die Fragen leben und vielleicht so eines Tages unverhofft in die Antwort hineinleben. Das ist eine ganz und gar existenzialistisch klingende, paradoxe Aussage. Fragen und Antworten gehen ineinander über. Heidegger meinte bekanntlich, dass das Fragen die Frömmigkeit des Denkens ist. Gegensätze können sich berühren oder auflösen, wenn sie ins Extreme überführt oder zu Ende gedacht sind (vgl. „les extrêmes se touchent“, Louis Sébastien Mercier).
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dieser Seligkeit Bilde würde der sinnliche Mensch, falls es an ihn sich bringen ließe, in Neid und in Sehnsucht vergehen.“166
Im Sinne Fichtes ist zu hoffen, dass Sie in Ihrer Schulzeit eine halbe Stunde dieser Seligkeit erlebt haben, in der Sie eine solche Horizonterfahrung machen durften, die Schönheit einer Gleichung, die Eleganz einer chemischen oder mathematischen Formel, die Originalität einer Idee, die unübersetzbare Nuance eines fremdsprachlichen Ausdrucks oder die Tiefe eines historischen oder wirtschaftlichen Gedankenzusammenhangs geahnt haben … Nach Fichte würde das den „langen Marsch durch die Ebene“, den die Schule ja unweigerlich auch bedeutet, aufwiegen. Die Schuljahre hätten sich gelohnt. Die andere halbe Stunde und noch mehr können und dürfen Sie getrost von ihrem Studium oder ihrer weiteren Ausbildung erwarten. Extreme Bildung = Orientierung am Unmöglichen Sloterdijk schrieb vor fünf Jahren in seiner Monographie „Du musst Dein Leben ändern“ (der Titel zitiert eigentlich ein Rilke-Gedicht): „Der Mensch erreicht nur etwas, wenn man sich am Unmöglichen orientiert.“ Den „Unmöglichkeitselan“ kennt auch Ernst Bloch, der Leonardo da Vinci zitiert: „Wer an einen Stern gebunden ist, kehrt niemals um“: Wer einem Stern folgt, bricht seine Reise nicht vorschnell ab.167 In dieser Weise meint extreme Bildung ständige Beweglichkeit, Geistesgegenwart, kritische Distanz zum Alltagsgeschäft – also das Gegenteil von geistigem Einrosten, Stillstand oder willfährigem Funktionieren. Entkörpernde Postmoderne – verkörpert denken Der Pädagoge und Kosmopolit Ivan Illich, ein ehemaliger Priester, der in einer Schlammhütte in den Slums von Mexico City lebte, meinte: „Die Postmoderne ist so ungeheuer entkörpernd.“168 Der Zwang zum Bildschirm diszipliniert uns, stellt die Körper und die Blickrichtung fest. Es ist also wichtig, verkörpert zu denken. Und von Illich kann man lernen, dass das griechische Wort für Mitleid haben (splangchnizein) „mit den Eingeweiden (splangchnon) Fichte, J. G., Die Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 2012, S. 125. Sloterdijk, P., Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, S. 700, 451; Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 185. 168 Illich, I., In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München 2006, S. 250. Dagegen stellt Illich die elementare Erfahrung der Demut/Begrenztheit (ebd., S. 24): „Ich glaube tatsächlich, dass das richtig geleitete Erlernen einer Sprache … eine der wenigen Gelegenheiten ist, bei denen ein Erwachsener das tiefe Erlebnis der Armut, der Schwäche und der Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer vermittelt bekommen kann.“ 166 167
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denken“ bedeutet. Wer Mitleid hat, empathisch agiert, denkt also verkörpert und alles andere als verkopft. Daher wirkt die einfache Frage Baruch Spinozas heute so aufklärerisch-aktuell wie vor 300 Jahren: Warum arbeiten die Menschen für ihre Knechtung, als wenn es für ihr Heil und ihre Erlösung ist?169 Das Projekt der Zeitdiagnose wäre natürlich nicht zuletzt im Sinne einer Befreiungsphilosophie/-theologie weiterzutreiben. Badiou stößt ins selbe Horn: Es kann doch nicht sein, dass das einzige Fazit, das unsere Generation betreffend gezogen werden kann, lautet: „Sie konsumiert und sie ist online.“170 Max Scheler zitiert gerne den Satz Hölderlins: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste …“171: Man muss also denken bis zum zerebralen Kurzschluss, zur Konfusion von Emotion und Kognition. Und man darf zuversichtlich sein, dass Idealismus nicht verkopft bleibt, sondern sich mit Leidenschaft paart und über zu simple Entgegensetzungen lacht.
6) Bildung als Autonomie und Selbsterziehung Der Philosoph Peter Bieri schreibt: Ausbilden können einen andere, bilden kann man nur sich selbst. Bildung bedeutet Autonomie und Selbsterziehung. Sie bestimmen ab heute deutlicher als bisher, was Sie lesen und lernen. Das Kapitel der Lehrer-Ermahnung und -Nötigung ist abgeschlossen. Zumindest ab heute heißt Erziehung nicht mehr führen/geführt werden, sondern wachsen lassen, um einen Klassiker der Pädagogik172 zu bemühen. Der Erzieher soll in dieser Vorstellung wie ein Gärtner handeln und das Wachstum, das nur aus der Pflanze selbst kommen kann, vor allem unterstützen/fördern. Die biblische Metapher vom Menschen als Baum, der in einen fruchtbaren Boden gepflanzt und vor allem mit Wasser und guten Wachstumsbedingungen versorgt gedeihen kann173, wird von Hesse und Kafka aufgegriffen und variiert:
Vgl. Spinoza, B. de, zit. n.: Deleuze, G., Guattari, F., Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. (7. Aufl.) 1995, S. 39. 170 Badiou, A., Pornographie der Gegenwart, Wien 2014, S. 41. 171 Hölderlin, F. („Sokrates und Alcibiades“), zit. n.: Scheler, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos (GW Bd. 9: Späte Schriften), Bern München 1976, S. 67. 172 Vgl. Theodor Litts „Führen oder wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems“ (Stuttgart 1952). 173 Vgl.: „Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken“ (Ps 1,3); „Nur den Bäumen, von denen du weißt, dass sie keine Fruchtbäume sind, darfst du Schaden zufügen. Du darfst sie fällen und daraus Belagerungswerk bauen.“ (Dtn 20,20); „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor“ (Jes 11,1); „Schon ist die Axt an die 169
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„Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Wer mit ihnen zu sprechen weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens. Ein Baum spricht: In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen, ich bin Leben vom ewigen Leben. … Ein Baum spricht: Meine Kraft ist das Vertrauen. Ich weiß nichts von meinen Vätern, ich weiß nichts von den tausend Kindern, die in jedem Jahr aus mir entstehen. Ich vertraue, dass Gott in mir ist. Ich vertraue, dass meine Aufgabe heilig ist. Aus diesem Vertrauen lebe ich. Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum zu uns sprechen: Sei still! Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, Leben ist nicht schwer, das sind Kindergedanken. … Du bangst, weil dich dein Weg von der Mutter und Heimat wegführt. Aber jeder Schritt und Tag führt dich neu der Mutter entgegen. Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir innen, oder nirgends.“174 „Die Bäume – Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“175
Interessant ist, dass es zu Zeiten der großen Seefahrernationen, als alle Mittelmeerstaaten oder -städte große Handelsflotten unterhielten und viel Holz für den Schiffsbau brauchten, Versuche gab, Bäume schon beim Wachstum so zu formen, dass man sie später bei der Schiffskonstruktion leichter verwenden und einbauen konnte. Man hat also zuhauf die Bäume, die für die Seitenwände oder den Bug des Schiffs bestimmt waren, schon früh dementsprechend gebogen. Es gibt heute noch Wälder mit Restbeständen dieser traurig verbogenen Bäume. – Das Biegen als vormoderne Kulturtechnik findet leider nach wie vor auch in der Pädagogik
Wurzel der Bäume gelegt, jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen“ (Mt 3,10). 174 Hermann Hesse; aus: Bamming, R., Trendelkamp, M. (Hg.), Treffpunkt RU 9/10, München 1993, S. 27. 175 Kafka, F., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt a. M. 1996, S. 9. Ins Auge springt ja die Irritation und Schwebe, die von Kafkas Text ausgeht. Die Reduktion von Bäumen auf Baumstämme bleibt auch in anderen Bildern deutlich. Die moderne Wurzellosigkeit und funktionale Formatierung spiegelt sich auch in dem folgenden Aphorismus: „Ein Bild meiner Existenz … gibt eine nutzlose, mit Schnee … überdeckte, schief in den Erdboden leicht eingebohrte Stange auf einem … aufgewühlten Feld am Rande einer großen Ebene in einer dunklen Winternacht“ (Kafka, F., zit. n.: Mairowitz, D. Z., Kafka. Kurz und knapp, Frankfurt a. M. 1995, S. 36).
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seine Anwendung.176 Es bleibt nicht weniger problematisch, wenn sich die Metaphorik etwas abschwächt. Falls Sie den Eindruck haben, dass Sie bisher in eine bestimmte Richtung gelenkt wurden, in die sie nicht gehen wollten, können Sie das jetzt ändern, so wie es die Skizze andeutet. Die Pflanze weicht eigensinnig der Fessel aus.177
Der protestantische Theologe Jan Amos Comenius formulierte im 17. Jahrhundert als Bildungsmotto: „Alles fließe von selbst und Zwang sei den Dingen fern“ (omnia sponte fluant, absit violentia rebus).178 Man soll also „der Antwortkraft der Seele nicht ins Wort fallen“, wie der Philosoph Josef Pieper meint179. Und das schließt Ruhe- und Erholungsphasen ein, die Sie sich hoffentlich immer auch gewähren. Bildung ohne Muße wäre nämlich eine Farce, so Konrad Paul Liessmann180. Und Nietzsche meinte, dass man die Störungen des Denkens willkommen heißen soll, wie ein Einsiedler einen Raben begrüßt, der ihm das Essen bringt. In dem Horizont, den Bildung eröffnet und in den man hineinsegeln oder hineinwachsen kann (Blumenberg), muss auch Raum für die Erkenntnis von Jean-Luc Nancy sein: Wahrheit meint nicht das Erfinden von Sätzen, sondern ein Moment des Sich-Aussetzens: …„fähig zu sein, den Aufprall des Sinns zu ertragen.“181 Bildungsbemühungen sollten diesen Aufprall keineswegs abzufedern oder gar einzuklammern versuchen. André Gide verglich darum die Literatur mit einem Krankheitsvirus, den man nicht mehr loswird. Andere Schriftsteller sprechen von Literatur und Kunst als Lebensmittel. Wenn Barthes meint: Poesie/Dichtung ist die „Suche nach dem unentfremdbaren Sinn der Dinge“182, so existiert jeder notwendig poetisch: „Dichterisch wohnet der Mensch“ (vgl. Hölderlin). Für Filter, L., Biegen, Berlin 2014. Vorlage der Zeichnung von Stauber, aus: Diözesanleitung der KJG Trier (Hg), Omnibus Trier 3/1987, S. 27. 178 Schaller, K., Alles fließe von selbst! Bemerkungen zum Verantwortungsverständnis bei J. A. Comenius, in: Fauser, P., Meyer-Drawe, K. u. a. (Hg.), Verantwortung. Jahresheft X/92 aller pädagogischen Zeitschriften des Friedrich-Verlages, S. 132–133. 179 Pieper, J., Muße und Kult, München 1948, S. 52. 180 Liessmann, K. P., Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung, Wien 2014. 181 Nancy, J.-L., Das Vergessen der Philosophie, Wien 2010, S. 114. 182 Barthes, R., zit. n.: Kittler, F., Philosophie der Literaturen, Berlin 2013, S. 269. 176 177
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Alexander Kluge und Heiner Müller ist Poesie ein Sammelvorgang, dem Beerensammeln nicht unähnlich: Jeder legt sich einen Zitatenschatz an und erinnert sich an bestimmte Sätze, die ihm etwas bedeuten und Heimat geben. Jeder braucht nach Derrida unbezweifelbare Namen als Orientierungspunkte, die hier genannten Autoren sind sichere Adressen, ebenso die Schriftsteller Kafka, Büchner, Kleist, die auf dem Deutsch-Lektüreplan standen. Wilhelm Genazino meint, dass man sich auf diese Dichter, insbesondere auf Büchner, verlassen kann, weil sie einen nicht betrügen.183 Der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink schreibt: „Es ist kein Zufall, dass unser Kanon voll von Außenseitern ist: Marx, Benjamin, Debord, Baudrillard. Sie hatten keine Stipendien der National Science Foundation, aber sie hatten Leidenschaft.“184
7) Minoritär sein – Don’t believe the hype Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, die schon als Kind Gruppenzwänge erspürt und sich dann dementsprechend unwohl gefühlt hat, meint: „Dieses Gefühl des Herausgerissenseins aus der Gemeinschaft habe ich sehr früh kennengelernt, diese Erfahrung, in der Minderheit zu sein. Den Schülern von heute, die sehr danach streben, in der Mehrheit zu leben, weil das natürlich sehr viel bequemer ist, sage ich oft: Habt keine Angst, in der Minderheit zu sein, keine Angst, ‚Nein‘ zu sagen. Die Welt entwickelt sich nur dank seltsamer Menschen, die immer in der Minderheit sind.“185
Gilles Deleuze sieht ebenso, dass es nötig ist, minoritär zu werden, Minderheitenpositionen einzunehmen.186 Das bedeutet für ihn, nicht siegen zu müssen, „den General in sich nicht hoch-
Genazino, W., Der gedehnte Blick, München 2007, S. 198f: „Büchner ist schon deswegen modern geblieben, weil er immer wieder Antworten auf die Frage gesucht hat: Wie verhalten wir uns zu den Abgründen unseres Scheiterns? Aufregend ist Büchner bis heute, weil er die Niederlage nicht als Niederlage, sondern als Kampfmittel gegen den Mangel beschreibt.“ 184 Lovink, G., Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur, Bielefeld 2014, S. 107. 185 Interview mit Nina Hartwich, „Habt keine Angst, in der Minderheit zu sein“, in: FR vom 19.5.2015, S. 30–31. 186 Vgl. Engelhardt, M., Deleuze als Methode. Ein Seismograph für theoretische Innovationen durchgeführt an Beispielen des feministischen Diskurses, München 2008, S. 168f. 183
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kommen lassen“, äußere Zwänge nicht zu internalisieren, sich von Fragen sozialer Anerkennung und Zustimmung freizumachen: „Don’t believe the hype.“187
8) Talent als flüssiger Ärger (Frank Gehry) William Faulkner formulierte einmal: „Das Einzige, worüber zu schreiben (nachzudenken) lohnt, ist das menschliche Herz im Widerstreit mit sich selbst.“ Es ist also eine Grundfrage für den Menschen, für junge Leute ohnehin, wie man mit Wut und innerer Zerrissenheit umgehen kann. – Die aristotelischen Ratschläge zu einer Mäßigung sind zwar gutgemeint, aber oft zwecklos. Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Architekten Frank Gehry meint: „Talent ist flüssiger Ärger“; er schlägt also vor, seine Energien zu kanalisieren, einzusetzen, mit Leidenschaft zu denken und leidenschaftlich zu arbeiten. Ein Professor wollte den jungen Gehry zu Beginn des Studiums davon abbringen, das Fach Architektur weiterzustudieren. Gehry galt als ungeeignet.188 Sie können schon an wenigen Fotos seiner Bauwerke die Genialität des Architekten Gehry erahnen. Gehry hat seinen Ärger darauf verwenden können, die totale Fehleinschätzung und falschen Ratschläge seiner Lehrer zu korrigieren, es mit radikal neuen Ideen der etablierten, wohlsituierten Architektenzunft zu zeigen. In ähnlicher Weise meint Adorno, dass es darauf ankommt, Wut glücklich zu sublimieren, „jene Energien, die einmal zur Zerstörung widerspenstiger Objekte ins Ungemessene sich steigerten, in die Konzentration geduldiger Betrachtung umzusetzen …“189 Es besteht hier die extrem schwere Aufgabe, das Versöhnende dem Zerstörenden abzutrotzen. Wut scheint zu Befreiungsprozessen dazuzugehören, wobei man sich nach Adorno zuletzt von seiner Gebundenheit an die Wut lösen muss, um ihr nicht bleibend zu unterliegen. Diese Hinweise wollen und sollen natürlich nicht dem konkreten Lebensexperiment vorgreifen.
Vgl. Welzer, H., Pauen, M., Autonomie, München 2015, S. 284. Vgl. den Dokumentarfilm „Sketches of Frank Gehry“ (Sydney Pollack, 2005). 189 Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 123 (Nr. 72). 187 188
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9) Extreme Bildung – Sinn für Komik/Humor An dieser Stelle hilft der Verweis auf den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard weiter: Er protestiert mit jeder Zeile, die er schreibt, gegen die Verplanung und Normierung des Menschen. „Wer existiert, ist beständig im Werden … und … versetzt sein Denken ins Werden.“ Widersprüche sind somit eine selbstverständliche Begleiterscheinung des Werdens und der „Lohn der Konsequenz“.190 Einen Sinn für widersprüchliche oder paradoxe Konstellationen entwickeln heißt auch für das Komische empfänglich zu werden. „Wenn man im Äußersten seiner subjektiven Leidenschaft mit dem vollen Bewusstsein einer ewigen Verantwortung das Entscheidende wagt (was doch jeder Mensch vermag), bekommt man etwas anderes zu wissen, so wie das Menschsein etwas anderes ist, als jahraus jahrein etwas in einem System zusammenzuschustern. Wenn man wesentlich als Mensch existiert, bekommt man auch Empfänglichkeit für das Komische. Ich sage nicht, dass jeder, der wirklich als Mensch existiert, darum imstande ist, komischer Dichter oder komischer Schauspieler zu sein, aber er hat Empfänglichkeit dafür.“191
Komik ist also der Preis der Freiheit; sie beinhaltet notwendig die Fähigkeit, sich nicht ganz ernst zu nehmen. Und Ernst von Feuchtersleben ergänzt: „Der Humor trägt den Menschen über Abgründe hinweg und lehrt ihn, mit seinem eigenen Leid zu spielen.“192
10) Extreme Bildung: Denken = Danken Ein elliptisch-kurzer Satz von Martin Heidegger lautet: „Denken und danken – Glaube und Liebe: das Selbe“193; er drückt die enge Verwandtschaft und innere Beziehung zwischen den Kierkegaard, S., zit. n.: Boyd, A., Mitchell, D. O. (Hg.), Beautiful Trouble. Handbuch für eine unwiderstehliche Revolution, Freiburg 2014, S. 152. 191 Kierkegaard, S., Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, München 2005, S. 464. Komik ist nicht harmlos: In dem Sammelband „Figuren der Gewalt“ findet sich auch der Clown. Nach Wagner, E., Der Clown, in: Friedrich, L., Harrasser, K., Tyradellis, D, Vogl, J. (Hg.), Figuren der Gewalt, Zürich Berlin 2014, S. 39-45, wirken seine Übertreibung, Derbheit und Respektlosigkeit verstörend. 192 Das scheint von allgemeiner Relevanz, denn schließlich ist jeder Mensch, wie man von Büchner gelernt hat, ein Abgrund, in den hineinblickend es einem schwindelt (vgl. „Woyzeck“). 193 Heidegger, M., zit. n.: Tömmel, T. N., Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin 2013, S. 176. 190
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Begriffen aus: Es kann keinen Gegensatz zwischen Glauben und Mitmenschlichkeit sowie Denken und elementarer Dankbarkeit geben. Wer sich in der genannten Gleichung aufhält, wird sich gewiss immer in einem menschlichen Rahmen bewegen. Herzlichsten Dank an dieser Stelle für das faire Miteinander, Ihre guten Fragen und Ihr Mitdenken/Mitdiskutieren, das Lehrerinnen und Lehrer so sehr erfreut.
11) Der Schlussratschlag Luhmanns Der bekannte Soziologe Niklas Luhmann wurde einmal von einem Abiturienten um Rat gefragt und schrieb zurück: „Studieren empfiehlt sich … Aber man muss nicht damit rechnen, eine Tätigkeit zu finden, die dem Studium entspricht. Ich denke, dass man seinen eigenen Neigungen folgen sollte und nicht den Rücksichten auf dem Arbeitsmarkt. Dann hält man auch Krisen … am ehesten durch und gibt sich die Chance, Erfahrungen mit dem zu machen, was man selbst gewollt hat.“194 Zur Komik dieses Vortrags gehört, dass sie wussten, was kommen würde, und die Über raschung, es ist auch tatsächlich so gekommen … Bei Komödien sitzt im Kleiderschrank immer ein Liebhaber, die Tür muss nur geöffnet werden.195 Und am Ende des Vortrags stehen natürlich die nur allerbesten Wünsche … und die Ermunterung, an viele Türen zu klopfen und sie gegebenenfalls zu durchschreiten. Es gibt ja nicht nur Schranktüren mit den erwartbaren Komplikationen oder unsinnige blinde Türen. Für Kleist ist die Vordertür des Paradieses auf ewig verschlossen196 – denken Sie an die biblische Geschichte von der Vertreibung Adams und Evas; aber die Hintertür ist nach wie vor offen. An diese gelangt man, wenn man einmal den Umkreis der Erde umrundet. Auf den Wegweisern zur Tür steht „Empathie“/“Mitgefühl“ oder „Identifikation mit dem Ausgeschlossenen“. Es ist ein übles Gerücht, dass man für alles ein Passwort, einen Zugangscode braucht oder Eintrittsgeld bezahlen muss. Von den eben zitierten Philosophen hat die besagte Hintertür jedenfalls keiner verschlossen. Einige wollten die Tür sogar bereits aushängen. Insider-Informationen zufolge hat man das aber gelassen. Die Tür ist also nach wie vor lediglich angelehnt, damit es keinen Durchzug gibt. Alles erdenklich Gute nochmals!
Dammann, K. (Hg.), Wie halten Sie’s mit den Außerirdischen, Herr Luhmann, Berlin 2014, S. 132. Vgl. Zupancic, A, Der Geist der Komödie, Berlin 2014. 196 Vgl. Kleists „Über das Marionettentheater“ und vgl. Jorge Luis Borges’ bekannte hyperbolische Aussage: „Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ 194 195
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6.5 Paradox und Pathos der Gabe/Zeugnisübergabe
6.5 Paradox und Pathos der Gabe/Zeugnisübergabe „Du fragst nach dem Warum? Aber nichts ist so überflüssig wie diese Frage. Man hat etwas getan, gemacht, geschrieben – und dann kommt jemand und fragt, warum! Wenn man das beantworten wollte, dann müsste man etwas Neues hinzuerfinden. Ich lasse mir dann oft in Interviews dazu etwas einfallen. Aber das wollen doch wir beide, bitte, nicht. Wichtig ist, dass etwas geschieht. Wichtig ist, was geschieht. Wichtig ist nicht, warum es geschieht. Die Wirklichkeit des Lebens ist eine andauernde Provokation.“ „Erlösung wird nur möglich durch Schönheit. Das fraglos Schöne erlöst dich, wenigstens eine gewisse Zeit lang … Jeder Roman wirft einen weißen Schatten. Religion und Literatur sind Sehnsucht nach Schönheit. … Wenn die Sehnsucht groß genug ist, schmeckt sie manchmal nach Erfüllung.“ – Martin Walser197
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, letztes Jahr sorgte das „Lexikon der offenen Fragen“, herausgegeben von Jürgen Kaube und Jörn Laakmann, für Aufsehen. Es behandelt auf unterhaltsame Weise Fragen von A wie „Außerirdische – Weshalb bekommen wir so wenig Besuch?“ bis Z wie „Zeit – Wie lange dauert die Ewigkeit?“. In dem Artikel „Ankunft“ geht es um die Frage „Wann sind wir endlich da?“ Hier ist zu lesen: „Die Frage ‚Wann sind wir endlich da?‘ begleitet uns auf dem Rücksitz des Lebens. Auch wenn wir … irgendwann selber am Steuer sitzen, sind wir doch ständig unterwegs zum nächsten Zwischenziel. Wir halten nach Ereignissen Ausschau, die Orientierung bieten, Anlass zur Vorfreude oder einen Grund zum Durchhalten. … Man hat es geahnt, auf dem Rücksitz, dass auf die ‚knapp zwei Stunden‘ viele weitere folgen werden. Ob es jemals eine Ankunft gibt, bleibt ungeklärt.“198
Derartig vage, ironische Resümees erscheinen Ihnen heute Abend zu Recht ungenügend. Auf dem Display ihres persönlichen Navis (also auf Ihrem Smartphone) erscheint heute Abend die Leuchtschrift „Ziel erreicht, Ankunft gelungen“. Der Dichter Friedrich Hebbel stimmt Ihnen zu, er vertritt sogar die Auffassung, dass es nötig ist, das Ankommen ständig für realisierbar zu Walser, M., Augstein, J., Das Leben wortwörtlich. Ein Gespräch, Reinbek 2017, S. 160f, 300f. Vaihinger, D., Ankunft, in: Kaube, J., Laakmann J. (Hg.), Das Lexikon der offenen Fragen, Stuttgart 2015, S. 22–23.
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halten. Er notiert in sein Tagebuch: „Den Augenblick immer als den höchsten Brennpunkt der Existenz, auf den die ganze Vergangenheit nur vorbereitete, ansehen und genießen, das würde leben heißen.“ Sie haben es längst gemerkt: Schriftsteller und Philosophen überfordern uns mit Maximalaussagen. Dieter Henrich spricht aber von der „noblen Eigenschaft der Philosophie, uns zu überfordern“199. Auf den griechischen Philosophen Alkmaion von Kroton geht die Äußerung zurück: Das Leben gelingt dann, wenn man das Ende mit dem Anfang verknüpfen kann.200 Der Satz, der orakelhaft-geheimnisvoll klingt, kann für die folgenden Minuten den Leitfaden bilden. (Vier Punkte dazu) 1) Für Sie bedeutet der Satz von Alkmaion zunächst, dass die Schule so froh und freundlich, wie sie angefangen hat, auch enden soll. Man lernt nur in heiterer Umgebung, war der bedeutende Schweizer Pädagoge Pestalozzi überzeugt; Lachen ist für Hegel ein Zeichen eines tätigen Geistes.201 Sigmund Freud forderte neben der Traumarbeit – nicht alle wissen das – eine Witzarbeit, da wir im Lachen unsere Fixierungen wiedererkennen und überwinden. Hier ist nur Platz, einen wichtigen Witz zum Besten zu geben. Der Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Žižek bezieht sich in seinen Werken ja auf eine Fülle von Witzen, den folgenden Witz erzählt und interpretiert er aber sicher am häufigsten: Ein Patient hatte Angst, nur ein kleines Korn zu sein, das von einem Huhn aufgefressen wird. Er hat nun eine lange Therapie abgeschlossen und wird entlassen. Nach kurzer Zeit kehrt der Mann allerdings irritiert zurück und fragt: „Also ich weiß ja, dass ich kein Korn bin, aber weiß das auch das Huhn?“ Es ist klar: Solange man noch das Riesenhuhn fürchtet, sieht man sich nur als Korn. Žižek will hier aber festhalten: Viele unserer Erkenntnisse sind eher aufgesetzt, nicht internalisiert. Wir sind ständig in der „Ich weiß ja, aber trotzdem …“-Falle. Žižek pathologisiert uns alle: Er meint, dass wirkliche Erkenntnis immer von einer Eigendynamik getragen ist, die Ängste
Henrich, D., Sterbliche Gedanken. Dieter Henrich im Gespräch mit Alexandru Bulucz, Frankfurt a. M. 2015, S. 25. 200 Eigentlich lautet Alkmaions Satz negativisch: „Die Menschen sterben, weil sie es nicht vermögen, den Anfang mit dem Ende ihres Lebens zu verbinden.“ Goethe formulierte in seinen „Maximen und Reflexionen“ (HA 12, München 2000, S. 515, Nr. 1064) ohne expliziten Bezug auf Alkmaion: „Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.“ (Vgl. auch die Verszeile aus „Dauer im Wechsel“: „Laß den Anfang mit dem Ende / Sich in Eins zusammenziehn!“) 201 Das Lachen deutet auf eine tiefe Erschütterung hin, wir lachen, wenn wir nicht weiterwissen oder unvorbereitet-überrascht in eine intellektuelle Sackgasse geraten sind, daher wird auch in der Schule so viel auf allen Ebenen gelacht. 199
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6.5 Paradox und Pathos der Gabe/Zeugnisübergabe
fortschwemmt und das gesamte Weltbild verändert und revolutioniert. Erkenntnis hat immer konkret-praktische oder soziale Folgen.202 Erlauben Sie, den Witz Žižeks auf unsere Situation zu übertragen, so lässt sich vielleicht sagen: Das Abschiedsfest und die öffentliche Zeugnisübergabe dienen auch dazu, der Gesellschaft, dem großen Anderen, dem Riesenhuhn, der symbolischen Ordnung (wie auch immer Sie das ausdrücken), mitzuteilen, dass Sie das Abitur haben. Mit der Aushändigung des Zeugnisses auf der Bühne und den Fotoerinnerungen wird die Erlangung der Hochschulreife für alle sichtbar und objektiviert. Auch wenn manche es noch nicht ganz glauben können, dass die Schulzeit nun endgültig vorbei ist: Nach diesem Abend sollte das Riesenhuhn wissen, dass Sie kein Korn sind, sondern einen wichtigen Schlüssel für Ihr weiteres Leben in der Hand haben. – Generationen von Festrednern sprachen auf Abiturfeiern vom lebenswichtigen „geistig-moralischen Rüstzeug“, das die Schule zu vermitteln habe. Die Geschichte vom Riesenhuhn wurde bisher leider zu wenig berücksichtigt. 2) Den Anfang mit dem Ende zu verbinden bedeutet: in einem weiteren entscheidenden Punkt, den Paradoxa, Widersprüchen menschlicher Existenz nicht mehr auszuweichen: Sie lassen sich das Zeugnis feierlich aushändigen und verleihen, auch wenn Sie wissen, dass Sie einen Anspruch auf Ihr Zeugnis haben und es verlangen könnten (die Schulleitung zwingen könnten). Soziologen und Philosophen denken schon länger über den fundamentalen Vorgang der Gabe nach, den rituellen Augenblick der Übergabe, die Wirkung der Gabe und den Rahmen, in dem dies möglich ist. Es gibt inzwischen eine Fülle, ein ganzes Paradigma von Gabetheorien.203 Und diese Gabetheorien stimmen darin überein, dass es sich bei der Gabe um die Grundlage des Sozialen überhaupt handelt, die soziale Grundoperation schlechthin. Es gibt gewissermaßen einen Dreisatz aus Geben, Annehmen und Erwidern; dabei ist der Gruß, diese leere Geste, bereits eine Ur-Form der Gabe. Das klingt banal; der Gruß als Gabe verdeutlicht aber, dass es beim Geben nie um einen reinen Gütertausch geht, sondern darum, wechselseitige Beziehungen lebendig zu halten. Die Gabe beruht nicht auf einer ökonomischen Logik, möglichst günstige „Deals“ abzuwickeln, es geht nicht um das Nützliche oder Angenehme, sondern die Gabe vermittelt primär Anerkennung und Bindung. Gabetheoretiker meinen,
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Žižek, S., Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M. 2009, S. 97f. Vgl. Därmann, I., Theorie der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010. Jacques Derrida (Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 28ff, 41) fragt nach der unmöglichen Gabe, die den ökonomischen Tausch unterbricht, die eigenen Möglichkeiten übersteigt und zum Ereignis wird; Vergebung wäre eine solche nichtmachbare Gabe, „das Un-Mögliche“, das „nicht nur Gegenteil des Möglichen ist, sondern gleichermaßen die Bedingung oder Chance des Möglichen“. Das alltägliche Geben verdankt sich der unmöglichen Gabe.
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dass mit der Gabe keine agonalen Konkurrenzsituationen, sondern Friedenszustände gepflegt werden. Die feierliche Zeugnisübergabe, Ihre Einwilligung, sich das Zeugnis überreichen zu lassen, ist also Ausdruck von Respekt, ein Akt wechselseitigen Wohlwollens, ohne den Schule nicht möglich wäre; es ist der letzte Akt freilich. Sie nehmen die Zeugnisgabe an und erwidern sie mit einer Selbstverpflichtung, dem Projekt Bildung treu zu bleiben, oder nüchterner formuliert: Die, die das Zeugnis erhalten, sehen sich aufgerufen, in irgendeiner Weise etwas mit dem Abschluss zu machen. Und Sie wissen dabei, dass Sie sich unter den maßlosen Anspruch auf Bildung stellen. 3) Den Anfang mit dem Ende verbinden heißt ebenso einsehen, dass das Schul-Ende die Gelegenheit für einen zweiten Beginn bietet. Die bulgarisch-französische Philosophin Julia Kristeva meint: Von vorne beginnen bedeutet lebendig bleiben. Die kindliche Neugier, die alles zum Gegenstand des Staunens nehmen kann, ist zurückzugewinnen. Nach Foucault brauchen wir eine Neugier, die uns von uns selbst befreit.204 – (Und das wäre dann fast eine Transzendenzerfahrung.) Kristeva und Foucault meinen gleichermaßen, dass es notwendig ist, sich selbst zur Frage, zur Aufgabe zu werden, für sich Antworten zu verlangen und die Fächer/Berufe, die man erlernt oder studiert, auf die eigene/persönliche Problematik hin zu befragen … (Und das radikale Fragen können Sie beim nächsten Neuanfang nochmals entschiedener praktizieren, als Sie dies bisher getan haben.) 4) Die Verbindung von Anfang und Ende bedeutet, immer neue Paradoxa heraufzubeschwören, einen tieferen Sinn für Paradoxa zu entwickeln: Und die Lebenserfahrungen älterer Menschen klingen häufig paradox-vielschichtig, zwei Beispiele: Der todkranke, schwer leidende Existenzphilosoph Peter Wust meinte auf die Frage eines Freundes, wie es ihm gehe: „Mir geht es schlecht, aber genau genommen bin ich glücklich. Also will ich hinfort genau sein.“ Auf die Frage nach einer Bilanz seines anstrengenden Lebens reagierte der sonst so kühle AltBundeskanzler Helmut Schmidt – er ist 2015 im Alter von 96 Jahren gestorben – ungewöhnlich zurückhaltend und eigenartig einsilbig. Ohne ausdrücklich die Antwort als Bibelzitat kenntlich zu machen, gibt er ganz selbstverständlich einen Psalmvers wieder (Ps 90,10): Da heißt es nämlich und das war Schmidts Antwort: „Das Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt achtzig. Und köstlich war es, wenn es voll Mühe und Arbeit war.“205 Vgl. Kristeva, J., Dieses unglaubliche Bedürfnis zu glauben, Gießen 2014; Kristeva, J., Die Zukunft einer Revolte, Frankfurt a. M. 2016; Foucault, M., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984. 205 Der Schluss des Psalmwortes wird häufig unterschlagen: „Rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.“ Der Schriftsteller Arno Schmidt karikiert die Psalm-Aussage: „Des Menschen Leben: das heißt vier204
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Der politisch-engagierte und der mehr reflektierend zurückgezogene Lebensweg, Vita activa und Vita contemplativa, kommen zu demselben Schluss, einer Haltung der Dankbarkeit: Pathos war angekündigt und Pathos wird geliefert. 5) Der baltische Dichter Werner Bergengruen, verfasste ein dreistrophiges Gedicht mit dem Titel „Frage und Antwort“, es enthält eine drastische Frage und eine wundersame Antwort. Auch hier wird ein älterer Mensch aufgefordert, zu sagen, was er im Leben gelernt hat. Nun das – gemessen an der zentralen Thematik – unglaublich kurze Gedicht: Es beginnt mit einer längeren Anrede, Beschreibung dessen, der antworten soll: „Der die Welt erfuhr, faltig und ergraut, Narb an Narbenspur auf gefurchter Haut, den die Not gehetzt, den der Dämon trieb, – sage, was zuletzt dir verblieb.“ [die Antwort:] „Was aus Schmerzen kam, war Vorübergang.“ Und mein Ohr vernahm nichts als Lobgesang.“
Auf die Frage, warum der Lobgesang als Schlussakkord bleibt, würden Philosophen sagen, dass man nicht genug bedenken kann, dass wir eingebunden sind und bleiben. Dass man vor allem für die Atmosphäre des Vertrauens, des Wohlwollens und der Mitmenschlichkeit dankbar sein kann, die einem widerfährt und aus der man immer lebt. Und auf diese Atmosphäre bleibt jeder Mensch angewiesen. Für Bergengruen ist dies wichtiger als alle Noten und vorzeigbare evaluierbare Fakten. Wir bleiben eingebunden, daher bleiben wir dankbar. Zur Paradoxalität des Lebens
zig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch!!), sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation“ (Schmidt, A., Geschichten aus Deutschland. Romane und Erzählungen. Bd. 2, Frankfurt a. M. 2007, S. 359). Der Schriftsteller verweigert sich vehement und polemisch einer konventionellen Sinnsuche.
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gehört schließlich, dass wir nicht nur Erfahrungen machen, sondern die Erfahrungen auch uns machen. Wir Lehrer haben für Sie nur Lobgesang – von Schmerzen kann natürlich keine Rede sein, nur von jubilierender Freude –, wir bedanken uns für Ihr Engagement und Ihre Nachdenklichkeit, Ihre Lebendigkeit und Ihren Esprit, der ja immer ansteckend ist, … und wünschen Ihnen alles, alles Gute. 6) Das Ende ist ja mit dem Anfang zu verbinden, daher der nochmalige Verweis auf das „Lexikon der offenen Fragen“. Da steht unter der Rubrik „Umsturz“ ein Satz von Niklas Luhmann. Und dieser Satz fängt ebenso ein Paradox, ein widersprüchliches Gefühl ein: „Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern.“206 Zwischen den Halbsätzen steht ein Gedankenstrich. Wer Heinrich Kleist kennt, weiß, dass in den Gedankenstrichen das Eigentliche, das Dramatische passiert oder passieren muss, Unheil und Rettung, die Denkbarkeit der Veränderung und die Möglichkeit eines Neubeginns. Sie sind aufgerufen, den Gedankenstrich auszufüllen, den Satz weiterzuschreiben … oder auch umzuformulieren. Es bleiben dazu die persischen Wünsche: „Mögen Ihre Hände niemals schmerzen“, „Mögen Ihre Augen glänzen“,
und auch Bergengruens Wunsch: „Wohin du auch gehst, es füge sich der Weg zu Wegen.“
6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“ – Finales Posting und Miniaturisierung eines Schulmonsters. Eine kleine Perfektionismuskritik „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst.“ – Goethe (Faust I, V. 317, 328f)
Luhmann, N., zit. n.: Menke, Chr., Umsturz – Ist eine Revolution denkbar?, in: Kaube, J., Laakmann, J. (Hg.), ebd., S. 175f.
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, Abireden könnten so einfach sein. Man beschwört ein letztes Mal den Wert der Bildung, zitiert ein paar Klassiker und tritt mit einer finalen Weisheit Goethes elegant ab. Auf Abwege und buchstäblich in „Teufels Küche“ gerät man dagegen, wenn man mit folgendem Zitat Antonio Gramscis, einem italienischen Philosophen, beginnt: Gramsci, der sein halbes Leben im Gefängnis verbringen musste, formulierte: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren, es ist die Zeit der Monster.“ Das Zitat aus den 1930er Jahren, an das zuletzt häufiger in Feuilletons erinnert wird, spiegelt ein Zeitgefühl. Es ist ursprünglich auf politische Umbrüche gemünzt, in denen sich vieles Unbegreifliche und Unheimliche zu ereignen scheint, in denen noch keine passenden Kategorien und Maßstäbe gefunden sind und sich darum ein diffuses Unbehagen breitmacht. – Der Satz lässt sich aber ebenso auf Entwicklungsphasen und Übergangssituationen im Allgemeinen übertragen, und damit auch auf die Phase der Adoleszenz. Das Heranwachsen ist eine Zeit des Kampfes mit Monstern. Das erklärt die Attraktivität von entsprechenden Monster-/ Alien-Filmen bei Jugendlichen.207 Als „Fehlerteufel“ lässt sich das Gespenst des Perfektionismus bezeichnen, die Monsterforderung ständiger Selbstoptimierung/Selbstdarstellung, also ein gesellschaftliches Arrangement, bei dem ich immer gut dastehen muss: die Facebook-Sozial-Architektur, die letztlich zur Arbeit am Ausstellungswert (Selbstikonisierung/Selbstidolisierung) anleitet und zur Steigerung der Selbstkontrolle/Selbstunterdrückung führt. Foucault würde hier von einem Optimierungsdispositiv sprechen.208 Fehlerteuflisch wirkt aber genauso die innere Stimme, die einem die Zuversicht des Gelingens eigener Vorhaben madig macht, also die gemeine Selbstkommentierung, die man nicht so schnell loswird, ein idealer Blick, dem man nie genügt, Freuds Überich-Diktat, vor dem man nicht bestehen kann. (Das Überich ist ja bekanntlich weit davon entfernt, moralisch zu sein. Seine Funktionsweise, wonach je mehr man ihm gehorcht, umso schuldiger wird, ist monströs, fehlerteuflisch eben, vgl. Žižek.) Der Fehlerteufel – erlauben Sie die metaphorische Redeweise beizubehalten – ist zugleich auf einer sozialen und individuellen Ebene wirksam, die natürlich miteinander verwoben oder Sloterdijk meinte schon vor einigen Jahren, dass sich die Zeiten ändern, merke man daran, dass sich in Kinderzimmern das Spielzeug ändere, und er bezog sich dabei dezidiert auf den Dinosaurier-Hype nach „Jurassic-Park“. Vgl. auch Vaas, R., Alien, in: Reiter, B. (Hg.), Wesen. Von Alien bis Winnetou. Dr. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags, Stuttgart 2017, S. 11–16. – Es gilt wohl auch: Wo keine Monster sind, werden welche geschaffen; das ermöglicht es, den eigenen Heroen-Status zu stabilisieren. 208 Vgl., Spreen, D., Upgrade-Kultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld 2015; Klopotek, F., Scheiffele, P. (Hg.), Zonen der Selbstoptimierung. Berichte der Leistungsgesellschaft, Berlin 2016. Zur Weiterentwicklung des Gedankens des Enhancement im Transhumanismus und zur Ausweitung der Verbesserungsdebatten vgl. Sorgner, S. L., Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“, Freiburg 2016. 207
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ineinander verschränkt sind. Es kann – genau wie in guten Alien-Filmen ja auch – offenbleiben, ob das monströse Fehlergespenst irgendwo da draußen oder eine Angstgeburt von innen209 ist, die dann nach außen projiziert wird. Lehrer wären in diesem Szenario wohl mehr Projektionsfläche als alleinige Verursacher des Optimierungsdrucks – ein Gedanke pro domo, der die eigene Profession einigermaßen freisprechen will. Aber zu monströsen Konstellationen gehört auch, dass sich keiner sagen kann, dass er nicht involviert und Teil des Problems oder auch der Lösung wäre. In jedem Fall stimmt der Satz: „The objects in the mirror/movie can be nearer than they appear. “ Die Gespenster im Film könnten näher sein, als sie erscheinen. Verwechslungen, Transformationen, Metamorphosen, anamorphotische Verschiebungen, parallaktische Irritationen bei der Lokalisierung des Gespensts gehören zum Phänomen des Monströsen dazu. Den Eltern sei kurz erklärt, dass in der diesjährigen schriftlichen Abiturprüfung des Grundkurses Deutsch das Thema Monster vorkam und häufig und gern gewählt wurde, daher die auf den ersten Blick merkwürdige thematische Ausrichtung hier. Wenn der Psychoanalytiker und Philosoph Slavoj Žižek davon spricht, dass das Monster das „Subjekt der Aufklärung“ ist, meint er wohl überspitzt, dass das Ich sich mit seiner eigenen Fremdheit auseinandersetzen muss.210 Das Thema ist also keineswegs so abseitig, wie es scheint.
Das Ende der Monster: das Lachen Wie am Ende einer Folge von „Alien“ (1979) oder „Resident Evil“ (2002), ahnen Sie vielleicht dunkel, dass nach dem erfolgreichen Bewältigen der Schulzeit das Aufkommen neuer Gespenster bevorsteht; etwa in Gestalt einer Datensintflut und ungeheuren Stofffülle, die über Studenten hereinzubrechen und diese zeitweise zu verschlingen droht, oder in Gestalt einer weiteren Auseinandersetzung mit den eigenen Ansprüchen, die weiterwachsen können und sich nicht so schnell zähmen lassen. Das Ende der besagten Monster-Filme zeigt aber auch: Bedrohungen können sich verflüchtigen – wie Wittgenstein sagte: „Die Lösung eines Problems des Lebens merkt man am Verschwinden des Problems“; diverse Schulmonster haben Sie erfolgreich bezwungen und mit Sicherheit haben Sie Anlass und Grund genug, heute Abend mehr zu lächeln als die entsprechenden Film-Heldinnen Alice (Milla Jovovich) oder Ellen Ripley (Sigourney Weaver), die sich
„Machst du’s doch selbst, das Fratzengeisterspiel“ (Faust, V. 6546). Žižek, S., Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993, S. 178. Zur Aufklärung gehört die Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen, ein Queren des eigenen Phantasmas.
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auch nach erfolgreich überstandenen Strapazen nie wirklich freuen und immer cool-besorgt gucken. Dabei hilft Lachen definitiv gegen Monster und Monster-Forderungen – Sie wissen das –, jedenfalls mehr als das sprichwörtliche Pfeifen im Wald. Mark Twain meinte: Für die Gesundheit einer Stadt ist die Ankunft eines Clowns ungemein wichtiger als zehn mit Arznei vollbepackte Esel. Verstehen Sie Abi-Reden immer als Versuch der Clownerie oder als Einladung oder Vorspiel dazu.211 Brechts Einsicht aus dem berühmtem Gedicht „An die Nachgeborenen“, wonach „auch der Hass gegen die Niedrigkeit“ die Gesichtszüge „verzerrt“212, stellt heraus, dass dialektischen Bindungen oder auch Doublebinds schwer zu entkommen ist. Und Selbstdistanzierung und Ironisierung bilden wohl erste Schritte, der Attraktivität von Fixierungen auf einfache Feindbilder zu entgehen.
Erste Einblicke in Goethes „Fehlerkultur“ Goethes Plädoyer für eine Fehlerkultur enthält ein passendes Aufklärungsprogramm: Er liefert in seinen „Maximen und Reflexionen“ keine geschlossene Erkenntnistheorie; vielmehr plädiert er für eine Erdung und ethische Dimensionierung des Wissens sowie für eine Desillusionierung und Reduktion überzogener Erkenntnisansprüche. Goethe nimmt R. Münchs
Ein erstes Mittel gegen schulischen Perfektionismus, der ja keineswegs nur von Lehrerseite her aufgeboten wird, ist ein lockerer Spruch oder ein befreites Lächeln: Aristoteles favorisiert zwar das schönwendige gesittete Lachen gegenüber Unformen des gemeinen sardonischen Lachens. Das Wort „lachen“ leitet sich vom althochdeutschen „(h)lahhan“ bzw. indogermanischen „klak“/“kleg“ ab, eigentlichen Schallwörtern, die so viel wie Krächzen, Schreien oder Gackern bedeuten (vgl. Richert, F., Lachen, in: Reiter, B. (Hg.), Zustände. Von Asozial bis Zurechnungsfähigkeit. Dr. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags, Stuttgart 2017, S. 63–69). Schon das ursprüngliche Gegacker, Gegickel scheint bei der Bewältigung des Schulalltags sehr zu helfen, wenn es auch wohl nicht an die ausgereifte Form nietzschescher Freude heranreicht: „Das Lachen sprach ich heilig: ihr höheren Menschen – lernt mir lachen!“ (Nietzsche, F., Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Frankfurt a. M. 1987, S. 22). George Tabori meinte nämlich, jeder Witz sei eine überlebte Katastrophe. Und in dem Schauspiel „Drei Tage auf dem Land“ nach Turgenjew heißt es: „Jeder Mensch ist ein Witz, den er nicht versteht“ und „Es gibt eine Kunst des Übersehens“ (Frankfurter Schauspielhaus vom 2.6.2017). Schließlich erinnert Richert (a. a. O., S. 65) auch an Luthers Auffassung: „Denn wo Glaube ist, da ist auch Lachen.“ 212 Die Passage aus Brechts Gedicht von1939 lautet: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / macht die Stimme heiser. Ach, wir / die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / konnten selber nicht freundlich sein.“ Illich, I., In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München 2006, S. 27, stellt fest, „dass es, wenn ich mich in öffentliche Kontroversen einmischen musste, eine einzige Art von geplanter Gewalt gab, die ich anwenden konnte: Lügen durch Lachen zu zerstören.“ 211
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„Sisyphus-Hypothese“ vorweg: „Je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.“213 Er feiert den Geist, der praktisch werden kann, als Genie und warnt vor allem vor den „Pedanten, die zugleich Schelme sind“, „und das sind die allerschlimmsten.“214 Denken hat (lebenspraktisch) relevante Einsichten zu liefern: „Ein Unterschied, der dem Verstand nichts gibt, ist kein Unterschied.“215 Wie alle Hermeneutiker bzw. Phänomenologen216 geht Goethe davon aus, dass man nicht nichts verstehen kann und niemals alles; Irrtum und Wahrheit gehören zusammen: „Es ist so gewiss als wunderbar, dass Wahrheit und Irrtum aus einer Quelle entstehen; deswegen man oft dem Irrtum nicht schaden darf, weil man zugleich der Wahrheit schadet. … Der Irrtum verhält sich gegen das Wahre wie der Schlaf gegen das Wachen. Ich habe bemerkt, dass man aus dem Irren sich wie erquickt wieder zu dem Wahren hinwende.“217
Die Beharrlichkeit, mit der Menschen an ihren Irrtümern und Fehlern festhalten, ist allerdings nicht zu verkennen. Das Aufdecken der Fehlerquelle bedeutet noch nicht die Überwindung des Irrtums: „Was aber das Allersonderbarste ist: der Mensch, wenn er auch den Grund des Irrtums aufdeckt, wird den Irrtum selbst deshalb doch nicht los.“218
Vom kleinen zum großen Fehlerteufel Der Fehlerteufel ist mir – gestatten Sie die biographische Notiz – bereits in der ersten Klasse am ersten Schultag begegnet, er war auf der Fibel und allen Deutschübungsheften abgebildet, eine kleine rote Teufelsfigur mit Hörnern namens Uli, spärlich bekleidet, seine dreizackige Mistgabel
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Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 441 (Nr. 557). Ebd., S. 449 (Nr. 619). Ebd., S. 435 (Nr. 510). Seine Phänomenologie wird vor allem in folgenden Maximen deutlich: „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte“ (ebd, S. 440, Nr. 548). „Das Höchste wäre, zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man sollte nur nichts hinter den Phänomenen suchen, sie selbst sind die Lehre“ (ebd., S. 432, Nr. 488). 217 Ebd., S. 407, 410 (Nr. 310, 353). 218 Ebd., S. 462, Nr. 688. 213 214
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
hatte er gegen den Ranzen eingetauscht. Die Abbildung des Teufelchens sollte wohl die kleinen Schüler auf eine lustige Weise auf ihre Fehlerhaftigheit/Fehlerbeladenheit aufmerksam machen und zur Vermeidung von Fehlern anhalten. – Vielleicht sollte auch erwähnt sein: Das geschah an einer normalen Grundschule irgendwo in Rheinland-Pfalz, nicht etwa in Death-/HeavyMetal-Land. – Als Figur der pädagogischen Mythologie hat der Fehlerteufel ausgedient; er ist inzwischen zum Glück aus den Schulbüchern verschwunden, natürlich nicht der Perfektionismus und das Optimierungsdispositiv, das Macht- und Unterdrückungsgeflecht, für das er steht. Sie kennen den Fehlerteufel als ausgewachsenen, gefährlichen Dämon aus der Fausttragödie. Wegen der großen Redeanteile von Mephistopheles meinten ja einige Interpreten, das goethesche Drama müsse eigentlich nach ihm benannt werden. Der destruktiven Weltsicht und dem Zynismus des Fehlerteufels wird ein ungemein breiter Raum gewährt. Und Mephisto triumphiert zusehends, denn je mehr Faust mit ihm an seiner Seite sein Leben zu optimieren versucht, umso verfahrener wird die Situation. Und der teuflische Schalk und Spott geht typischerweise immer auf Kosten seines Gegenübers.
Goethes Weltwissen: die menschliche Not mit der Assistenz des Fehlerteufels „Romantische Gespenster kennt ihr nur allein; ein echt Gespenst, auch klassisch hat’s zu sein.“ „Am Ende hängen wir doch ab, von Kreaturen, die wir machten.“ – Goethe (Faust II, V. 6946f, 7004f)
Nur aufgrund seines lebensmüden Nihilismus und seiner enttäuschten Abkehr von der Wissenschaft, einer neuerlichen Verachtung der Reflexion und seines übergroßen blinden Erfahrungshungers kann sich der gelehrte Faust überhaupt auf die Kumpanei mit Mephisto einlassen. Dabei hätte Faust schon vor seiner Kooperation mit dem Teufel folgende banale Zusammenhänge zu vergegenwärtigen: a) Der schlechte Umgang mit dem Teufel färbt ab, dem Sog des Monströsen kann man sich nicht entziehen oder neutral gegenüberstellen. Monstrosität ist ansteckend. Es bewahrheitet sich das amerikanische Sprichwort: Be careful of the company you keep. Gretchen, die an übergroßem Leid zerbrochen und geistig verwirrt ist, hat schließlich im Kerker Angst vor Faust und schreckt zu Recht davor zurück, mit ihm zu fliehen (V. 4576f). Ihr ist klar, angesichts der engen Allianz Fausts mit dem Teufel würde sie immer nur die Rolle der störenden Dritten spielen. Sie ermisst die faustische Verlorenheit, erinnert sich daran, dass Faust sie im Stich gelassen hat, und überantwortet sich bereitwillig dem (himmlischen) Gericht. – Im Film „Im Tal von Elah“ (2007) gibt der alte Soldat Hank Deerfield einem kleinen Jungen den Ratschlag, wie man als David 413
6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
mit Goliath-Monstern umzugehen hat: „Man lässt sie möglichst nah, aber nicht zu nah, an sich herankommen und macht sie fertig.“ Der Hinweis ist nicht unproblematisch; er ist eher als eine Erinnerung an die Möglichkeit eines politisch-ethisch-religiösen Akts, der letztlich eigendynamisch-gefährlich und unplanbar ist, zu verstehen, an einen unwahrscheinlichen Grenzpunkt menschlicher Erfahrung, der nicht herstellbar oder steuerbar ist. b) Was Faust durch lange bittere Erfahrung einsehen muss, wäre schon ganz zu Beginn abzuschätzen: Man darf seine Wünsche nicht diabolischen Zynikern preisgeben, die nur darauf warten, wie der anfängliche Enthusiasmus Dämpfer abbekommt, Spöttern, die beobachten wollen, wie man sich desillusioniert in seinem eigenen Projekt verfängt. Vor den Augen von Fehlerteufel-Beobachtern zerfällt jeder schöne Traum; Ideale missraten zu übermächtigem, alles vermiesendem Perfektionsdruck. Man kann mit Fehlerteufeln nicht wirklich befreundet sein. c) Der immer ironisch-obszöne Mephisto, der Meister der schonungslos zynischen Brüskierungen (V. 1735ff), warnt seinen Vertragspartner Faust, dass dieser sich übermütig verhebe, dieser nicht wisse, was er da wolle, und er lacht den schwärmenden Faust schon gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit aus (V. 1776ff). Mephistos Voraussage bestätigt sich. Faust verzweifelt schon beim Anblick des Leids, das er Gretchen und ihrer Familie angetan hat, und er bereut den Tag seiner Geburt, und seinen Pakt mit dem gemeinen, gefährlich-übermächtigen Lästermaul allemal (vgl. die Szene „Trüber Tag. Feld“). Die Einsicht, dass wir selber monströsabgründig sind, ist für Faust nicht annehmbar, weil er eine Figur an seiner Seite hat, die letztlich immer alles besser weiß, ihm alle Fehler vorrechnet. An der Seite von Mephisto ist eine konsequente Selbsterkenntnis unmöglich, denn der Fehlerteufel genießt das Scheitern und treibt die monströsen Vorhaben Fausts voran, nur um zu sehen, wie sehr der Mensch in die Sackgasse gerät, wie sehr die anfänglichen Ziele zurechtgestutzt und verfehlt werden. Man könnte an Bonhoeffers Aussage erinnern: Wer die Wahrheit zynisch sagt, lügt. d) Das Schicksal Fausts hätte der französische Philosoph Gilles Deleuze mit der Warnung kommentiert: „Du bist verloren, wenn du im Traum eines anderen gefangen bist.“ Und Deleuze rät weiter, den General (oder das fehlerteuflische Schulmonster) in sich nicht aufkommen zu lassen, d. h. das Perfektionismus-Regiment des Fehlerteufels nicht überhand nehmen zu lassen; oder positiv ausgedrückt: die Integrität des eigenen phantasmatischen Universums oder die jedes anderen zu verteidigen und unbedingt zu achten. Übergriffige Perfektionisten halten sich gleichfalls nicht an das Zutrittsverbot zu den Träumen ihres Gegenübers. – Der Fehlerteufel ist ein kalter Beobachter, der schließlich jede Gefühlsregung kompromittiert und letztlich die Integrität der Person zerstört. Und Mephisto ist überdies ein desillusionierter, zynischer Perfektionist. Wer es mythologisch möchte: Luzifer ist das „Licht, das die Finsternis gebar“, der Engel, der (ganz wie Mephisto im „Prolog im Himmel“; V. 280ff, 295ff) Gott für seine unvollkommene schlechte Schöpfung rügt und ihm deswegen Vorwürfe macht, also gemäß mittelalterlichen Theologien: „der Affe Gottes“, eine Figur, die Gott bloß mimt und nachäfft. Mephisto als der sich anbiedernde willfährige 414
6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
Wunscherfüllungsgehilfe von Faust verschlimmert mit jeder seiner Aktionen die menschliche Not. Und während nach Augustinus der Teufel noch durch das Christus-Ereignis gefoppt wurde, schwindet über die Jahrhunderte diese Heilssicherheit und man ängstigt sich – bei Descartes ist es ganz offensichtlich (1637 im „Discours de la méthode“, 1641 in den „Meditationes“) – vor einem foppenden Teufel, dem täuschenden Dämon (genius malignus, malin génie), der den Menschen gerade bei Evidenzmomenten des Erkennens noch in die Irre führen kann. e) Wenn der Teufel Faust bereits bei der Besiegelung des Pakts klarmacht, dass der Mensch nicht wünschen kann (V. 1776ff, 1801ff), dass schon in Bezug auf seine Träume und Vorhaben sich elementare Fehler einschleichen, ist das für Faust nicht zu akzeptieren. Es ist unangenehm, schon im Ansatz Planungsfehler vorgehalten zu bekommen, und wir sind berechtigterweise gekränkt, wenn man uns sagt, dass wir noch nicht einmal wünschen können und mit unserem innersten Verlangen nicht richtig liegen. Wer sich in einer existentialen Interpretation der Faust-Tragödie berühren lässt, sich mit ihm identifiziert, kann sich die Frage stellen, ob man seine Erwartungen an das Leben zurückschrauben oder weniger umfassend und vorsichtiger formulieren soll, ob man sich gar für seine Wünsche schämen muss oder wie man sich und anderen eine Wiederholung solchen Leids ersparen kann. f) Ein nicht mittelalterlicher, zeitgenössischer Faust hätte überdies wissen können: Freiheit wird nie von einem wohlwollenden Herrn übertragen, sondern nur durch harten unerbitterlichen Kampf diesem abgerungen.219 Žižek meint in seinem „Pervert’s Guide to Cinema“ unter Verweis auf den Film „Fight Club“, in dem der Protagonist sich vor seinem Chef selbst verprügelt, dass er ganz auf der Seite der Faust, ihrer Eigendynamik stehe – diesmal geht es tatsächlich um die Faust: Um sich zu befreien, ist es nötig, in sich die Bindung an den großen Anderen zu kappen, das Sehnen nach autoritärer Sicherheit zu überwinden, sich mit den eigenen Träumen zu konfrontieren. Dieser aufklärerische Kampf mit sich ist keinem zu ersparen. Extrem schwierig ist es dabei nach Žižek, die Inkonsistenz jeder Ordnung zu akzeptieren und das Nichtfunktionieren der Ordnung auszuhalten.
Wünsche jenseits des Zynismus „Der Irrtum kann nur durch das Irren geheilt werden.“ „Man darf nur alt werden, um milder zu sein. Ich sehe keinen Fehler begehen, die ich nicht auch begangen hätte.“ – Johann Wolfgang von Goethe 220
Žižek, S., Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus, Frankfurt a. M. 2016, S. 76. 220 Goethe, zit. n.: Osten, M., Die Kunst, Fehler zu machen, Frankfurt a. M. 2006, S. 18, 22f. 219
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Dem französischen Aphoristiker Alphonse de Lamartine gelingt schließlich die Distanz vom Fehlerteufel; er geht davon aus, dass die typisch faustische Zerrissenheit zum Menschsein dazugehört; er normalisiert sie: Sich vom Fehlerteufel zu verabschieden bedeutet nach Alphonse de Lamartine, sich seine Wünsche nicht kleinreden lassen, genauso wie Sie heute keinen brauchen, der Ihnen die Stunde Ihres Erfolgs madig macht:221 „Borné dans sa nature, infini dans ses vœux, c’est l’homme – un dieu tombé qui se souvient de ses cieux.“ „Begrenzt in seiner Natur, unbegrenzt in seinen Wünschen, das ist der Mensch, ein gefallener Gott, der sich seiner Himmel erinnert.“
Nach Lamartine ist es gut, dass der Mensch mit seinen Wünschen an die Grenzen geht, das Unmögliche ausreizt. Er berührt schließlich hier das Unendliche, eine fast heilige Sphäre. Die Erinnerung an die Himmel überwindet die menschlichen Grenzen; sie bildet die Schlussaussage des Aphorismus; das Mythisch-Dämonische behält nicht die Oberhand. Zu der SackgassenSituation, dass der Mensch selbstdestruktiv die enge Komplizenschaft mit dem Teufel und die Übereignung an ihn sucht, kommt es nicht. Die Träume sind ein wirksamer Gegenmythos gegen das Fehlerteuflische, vor allem, wenn man den Ratschlag von Rose Ausländer beherzigt: „Nimm ein Licht in Deinen Traum …“222 Und nur Dichter und Poetinnen dürfen in Bezug auf unser Träumen einen Imperativ formulieren: Auch dunkle Visionen brauchen einen Ausgang. Ein Licht wäre nach dem Theologen Johann B. Metz so etwas wie „eine gefährliche Erinnerung“, Žižek und Badiou würden von „Treue zum Ereignis“ sprechen; d. h., bestimmte positive Erfahrungen von früherer Freiheit oder unbedingtem Vertrauen sollte man nie vergessen und noch weniger verraten.
Die römische Praxis, während des Triumphzugs den siegreichen Imperator durch ständige mahnende Einflüsterung eines Sklaven „Bedenke, dass du ein Mensch bist“ an seine Endlichkeit zu erinnern, rechnet mit einem äußerst instabilen, ausgreifenden Bewusstsein. Lamartine teilt nicht die generelle Vorsicht gegenüber überschwänglichen Menschen im Moment ihres Erfolgs. Aus dem obenstehenden Aphorismus ist nicht abzulesen, dass der Mensch auf eine hemmungslose Selbststeigerung und immer weiteren Machtzuwachs festgelegt ist. 222 Ausländer, R., Und preise die kühlende Liebe der Luft. Gedichte 1983–1987, Frankfurt a. M. 1988, S. 183. Vgl. auch Seiler, L., Kruso. Roman, Berlin 2015, S. 468: „Jeder Traum musste einen Notausgang haben, sonst war es kein Traum.“ Nur so ergibt auch Krusos Aussage einen Sinn: „Der Keim der wahren Freiheit gedeiht in Unfreiheit.“ (S. 414). Ed, der sich intensiv mit Trakls Verzweiflung auseinandersetzt, kommt zu dem vorsichtigen Schluss: „Alles hat sein Maß, dachte Ed. Ein Maß, bis zu dem es erlaubt war, über die Dinge hinwegzusehen, ein Maß, das nicht überschritten werden durfte“ (S. 129). 221
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
So ist zu hoffen, dass Sie die Schule nicht als Ort der Fehlerfixierung erfahren haben, sondern als vielfältigen Ort in Erinnerung behalten können, an dem Sie Defizite haben durften, als Ort, an dem Ihre Ideen, selbst wenn sie noch wirr waren, in einer positiven Form aufgenommen wurden, ermutigt von fehlerbehafteten, skurrilen Lehrergestalten, die ihre eigene Defizienz nicht kaschiert haben, und vor allem aufgebaut von Mitschülern und netten Mitmenschen, die einem signalisierten, dass es weitergeht, wenn es einmal düster aussah. Im Kontext der Selbstoptimierungsgesellschaft, der Upgrade-Kultur, in der der Druck auf den Einzelnen erhöht wird, sich ständig zu verbessern oder ständig solche Bemühungen nachzuweisen, sind Räume wichtig, in denen man noch vor sich hin spinnen oder sich ausprobieren kann, ohne permanent kontrolliert zu sein. Kenner des Action-/Horrorgenres – und das sind wir ja alle mehr oder weniger – wissen: Alte Monster sind durchaus anhänglich und wollen uns weiter begleiten. Und alte Monster kann man zum Teil im Kampf gegen die neuen gut gebrauchen; gegen Monster helfen zuweilen nur Monster. Der alte Terminator T-800 hilft unerwartet gegen den neuen T-1000 oder T-X bzw. Terminatrix; Sie erinnern sich, die neue Bedrohung war ein Chamäleon, das sich flugs in alles verwandeln konnte. Man muss also die Monster gegeneinander antreten lassen. Bei dem Kampf des alten kleinen Fehlerteufels gegen die Armee sich selbst reproduzierender Perfektionsmonster, Professionalisierer und Systemoptimierer sollte klar sein, wo die Sympathien liegen: auf der Seite der alten harmloseren, ungeschminkt-argloseren Figur bzw. der mythischen Gestalten, die noch einigermaßen fair zu kämpfen verstehen und deren Skrupellosigkeit und Rigorismus noch nicht vollends entfesselt sind (vgl. auch den Film „Real Steel“, 2011).223
Wider den Perfektionismus – Das Lob des Fehlers und der Fehlerhaftigkeit „Wer nie im Leben töricht war, / ein Weiser wird er nimmer.“ – Heinrich Heine224
Bei Märchen spricht man ja vom „Achtergewicht“; den Happyend-Sehnsüchten der Leser, die sich mit dem Schwachen, Geschundenen identifizieren und auf die Befreiung und Erlösung des Unterdrückten setzen, wird in Mythen weithin entsprochen: Der alte Terminator kennt noch das Selbstopfer, das die Auslöschung der Menschen durch die Maschine zu verhindern sucht. Die jüngeren Generationen von Terminatoren sind so programmiert und professionalisiert, dass sie zu solchen Aktionen nicht mehr fähig sind. 224 Heine, H., Ich habe verlacht, bei Tag und Nacht, in: Liebesgedichte, Frankfurt a. M. Leipzig, 2002, S. 57. In dem zweistrophigen Gedicht von 1853 heißt es in der ersten Strophe u. a.: „Ich habe große Dummheiten gemacht – / die Klugheit bekam mir noch schlimmer.“ 223
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Schließlich lassen sich zur Demission des Perfektionismus und zur Rehabilitierung des schnöden Fehlers handfeste Argumente anführen: Für den Philosophen Friedrich Nietzsche sind die Störungen beim Denken zu begrüßen, wie Raben, die einst die Einsiedler mit Nahrung versorgten. Nicht nur Pädagogen sprechen von richtigen Fehlern und fruchtbaren Missgriffen.225 Wenn für Falsifikationisten „der Gipfel des Wissens“ darin besteht, „eine Hypothese widerlegt zu haben“ (McCulloch)226, wird der Moment der Offenlegung einer Sackgasse nicht zu einer Niederlage, sondern zu einem bemerkenswerten Erkenntnisgewinn. Für Warren McCulloch, einem Ahnherrn des Konstruktivismus, sind Destruktion und Konstruktion immer unmittelbar miteinander verbunden. Hegel sieht den Irrtum als „das dynamische Element der Wahrheit“.227 Für Lacan entsteht Wahrheit aus dem Irrtum: La vérité surgit de la méprise.228 Der monströse Philosoph Martin Heidegger zitiert gerne die Vorsokratiker, vor allem das Heraklit-Fragment 123; „Physis kryptesthai philei“: Mit einer Lichtung des Seins geht unweigerlich seine Verschleierung einher.229 Das Reale ist auch für den Philosophen Alain Badiou genau das, was sich einer endgültigen Formalisierung entzieht, was sprachlich-symbolisch immer wieder verfehlt wird, das, was den etablierten Wahrheitsprozeduren entkommt. Dem Realen gegenüber gibt es also immer nur ein Scheitern; und nur momenthaft wird es manifest, so dass es nicht angeeignet und man seiner nicht habhaft werden kann.230
Eine kurze Erzählung aus der Serie „Fargo“ verdeutlicht einen richtigen Fehler: Eine Frau steigt in einen Zug, sieht beim Anfahren des Zuges, wie einer ihrer Handschuhe auf dem Bahnsteig liegt. Es gelingt ihr im letzten Moment noch, ihren zweiten Handschuh aus dem Zug zu werfen, damit nun ein anderer das Verlorene verwenden kann. Bal, M., Lexikon der Kulturanalyse, Berlin Wien 2016, S. 15ff, fragt darum zu Recht, wer bestimmt, was ein Fehler ist. Sie spricht ebenfalls von richtigen Fehlern. Ein Anachronismus, ein historischer Fehler, ist zugleich ein „Vergrößerungsglas“, um die Gegenwart neu zu erkennen. 226 McCulloch, W., zit. n.: Glasersfeld, E. v., Einführung in den Radikalen Konstruktivismus, in: Watzlawick, P. (Hg.), Die erfundene Wirklichkeit, München (6. Aufl.) 1990, S. 23. 227 Roberts, J., Die Notwendigkeit von Irrtümern, Hamburg 2015, S. 67, 128f. Und S. 225ff: „Die moderne Wissenschaft, das moderne Subjekt fordern den Irrtum geradezu heraus“, man legt es darauf an, dass sich Irrtümer als solche erweisen. 228 Žižek, S., Absoluter Gegenstoß. Versuch einer Neubegründung des dialektischen Materialismus, Frankfurt a. M. 2016, S. 114f. 229 Vgl. Heidegger, M., Der Satz vom Grund, Pfullingen (1957) (4. Aufl.) 1971; vgl. Žižeks Freud-Interpretation: „Die Wiederholung ist … die untrennbare Überschneidung der Wahrheit mit ihrer Verschleierung – die Wahrheit persistiert und wiederholt sich genau in der Form ihrer Verschleierung“ (Žižek, S., Absoluter Gegenstoß, S. 114). 230 Badiou, A., Auf der Suche nach dem verlorenen Realen, Wien 2016. Auch Lévinas erteilt den Optimierern eine Absage: Das Andere ist immer das Störende, das, was sich Assimilierungsversuchen entzieht. 225
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
Es gibt eine ganze Reihe von Büchern von kreativen Designern und anderen PISA-Geschädigten, die schildern, wie Innovationen aus sogenannten Fehlern entstehen. Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer betitelt einen Porträt-Band über Naturwissenschaftler mit einem Satz Einsteins: „Noch wichtiger als das Wissen ist die Phantasie.“ Der Satz lautet vollständig: „… denn Wissen ist begrenzt und Phantasie umfasst die ganze Welt.“231 Es will natürlich keiner in einem Haus mit instabiler Statik wohnen oder von einem Arzt mit einer mangelhaften Ausbildung versorgt werden. Aber angesichts der Omnipräsenz von Programmen der Selbststeigerung hilft es etwas, wenn betont wird, wie zutiefst menschlich und geradezu unvermeidbar Fehler sind. Und der Hype um die sogenannte „Fehlerkultur“ ist auf eine einfache (psychologische) Gesetzmäßigkeit zurückzuführen; wenn der Perfektionsdruck zunimmt, werden Crazy-Failures-Seiten beliebter. Die Webseiten, die diverse Ausrutscher und peinliche oder unglückliche Fehler zeigen, funktionieren als Überdruckventil. Die Dokumentation von allzu menschlichem Misslingen ist in Zeiten der Optimierung weniger ein Ausdruck von Gemeinheit, sondern eher eine Entlastungsreaktion, eine Einladung zur Abrüstung und Entkrampfung, ein Ruf nach Korrektur eines unmenschlichen gesellschaftlichen Leitbilds. „Optimize yourself “, „Selbstdesign ist im Kapitalismus zur Pflicht geworden“, schreibt der Design-Theoretiker Friedrich von Borries; und weiter: „Totales Selbstdesign entmenschlicht den Menschen.“ 232 Von Borries rät, „dem glatten Design das Poröse, bloß Rissartige entgegenzusetzen“233. Das Statement von Borries’, wonach man sich nicht „auf ein Ergebnis festlegen“ lassen sollte,234 bedeutet für Sie: Eine Punktzahl sagt natürlich recht wenig über Sie. Und Sie sind erst dann frei, wenn Sie Punktzahlen, Rankings nicht über Ihre weitere Zukunft entscheiden lassen. Fischer, E. P., „Noch wichtiger als das Wissen ist die Phantasie“. Die 50 besten Erkenntnisse der Wissenschaft von Galilei bis Einstein, München (3. Aufl.) 2016, S. 9. Interessanterweise endet der Band mit einem Kapitel zu Anton Tschechow als einem dichterischen Verehrer und „Freund“ der Naturwissenschaften. 232 Borries, F. v., Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin 2016, S. 104, 112. 233 Ebd., S. 114f. Und S. 115: „Der poröse Mensch akzeptiert sich als Mängelwesen.“ Dass seit vielleicht zwei Jahren Jeans-Hosen an den Knien aufgerissen sind, mag man zunächst als sehr äußerlichen Protest gegen das Perfektionistische ansehen. Die Mode macht allerdings sofort auch daraus wiederum einen perfekten Trend. So sieht es jedenfalls Allert, T., „Der Riss der Welt geht auch durch mich“. Was sich an den Jeans mit offen gelegten Knien alles über das Selbst eines Jugendlichen ablesen lässt. Der Schlitz ist nur noch der Schein einer Wunde und einer besonderen Verletzlichkeit, in: FAZ Nr. 71 vom 24.3.2016, S. 7: „Der Riss markiert eine Wunde; die Perfektion, die mein Auftritt suggeriert, durchzieht ein Bruch und ist für jedermann sichtbar. … Hier klafft keine tatsächliche Wunde, es ist der Schein einer Wunde, der sich zeigt. … Man ist gar nicht verwundet, das macht man anderen nur vor, es sind nur destroyed Jeans.“ Allert spricht von einer „jugendlichen Koketterie … des entblößten Knies“, der „Perfektion, unvollkommen zu sein“. 234 Vgl. ebd., S. 115. 231
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Ratschläge für eine Fehlerkultur „Wir haben eine neue Regel gefunden. Sie lautet: Weltbilder knacken, als wären es Tresore. … Wir haben eine neue Regel gefunden: Man darf auch Fehler machen.“ – Laura Naumann235
Zum Start in eine neue/alte Fehlerkultur gehören auch einige Ratschläge. Das beckettsche Motto ist in aller Munde: „Wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern“236. Es braucht fast nicht nochmals zitiert und noch weniger weiter kommentiert zu werden; Erik Kessels legt nahe, Fehler als Inspiration und Anlass zur Veränderung von Assoziationsräumen zu sehen. Er animiert dazu, sich der erdrückenden Ideologie des Selbstdesigns und der Professionalisierung, der Arbeit am Profil und der Programmatik der Selbstoptimierung/Selbstpräsentation zu widersetzen: a) „Scheuen Sie sich nicht, ihren Papierkorb zu durchwühlen, wenn sie auf Ideensuche sind“237. Kessels’ Ratschlag, man solle sich durchaus zum Idioten machen238, kann für Lehrer sehr sinnvoll sein; er rückt die Lehrerrolle in die Nähe eines Clowns, dessen Auftritt zutiefst rührt, auf eine „warmherzige“, hingebungsvolle Weise „ohne mahnenden Zeigefinger“ zur Selbstreflexion anstiftet und zur Annahme des eigenen Scheiterns anzuleiten vermag.239 b) „Wenn Ihre Ideen nicht regelmäßig verlacht werden, sobald Sie sie denjenigen vortragen, die sich an die Regeln halten, … dann machen Sie wahrscheinlich etwas falsch.“240
Naumann, L., In einer Küche sitzen und neue, bessere Regeln finden, in: Schauspiel Frankfurt (Hg.), Programmankündigung Spielzeit 2017/18, Frankfurt 2017, S. 97f. 236 Beckett, S. („Worstward Ho“), zit. n.: Žižek, S., Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M. 2009, S. 159. Vgl. auch den Satz, der Churchill zugeschrieben wird: „Erfolg ist die Fähigkeit, von Misserfolg zu Misserfolg zu scheitern, ohne die Begeisterung zu verlieren“ (Kessels, E., Fast perfekt. Die Kunst, hemmungslos zu scheitern. Wie aus Fehlern Ideen entstehen, Köln 2016, S. 117). 237 Kessels, E., ebd., S. 126f. Kessels’ Buch ist schon von seiner Aufmachung her ein Fehler. Es vertauscht Vorder- und Rückseite; zeigt also erst auf der Rückseite die Titelseite. Im Sinne Kessels’ müsste H. M. Enzensbergers Buchprojekt sein: „Meine Lieblingsflops, gefolgt von einem Ideenmagazin“ (Berlin 2011). 238 Ebd., S. 128. 239 Rost, A., „Scheitern erlaubt“. Richard Weber über die Clownausbildung, in: FR vom 24./25.6.2017, S. F11: In dem Interview wünscht sich der künstlerische Leiter der Clownschule in Hofheim Richard Weber, „dass die Rolle des Clowns stärker wird“. Denn seine lebenswichtige Botschaft lautet: „Scheitern ist nicht schlimm. Geh einfach weiter, der Clown macht das auch.“ Der Clown ist also ein Antimonster, der passende Gegenspieler des Fehlerteufels (vgl. die Erkenntnis Mephistos: „Da habt ihr’s nun! Mit Narren sich beladen, / Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden.“ Faust, V. 6565f), und der belächelte Narr wird sogar versuchen, dem abdankenden Perfektionisten die Hand zu reichen. 240 Kessels, E., Fast perfekt. Die Kunst, hemmungslos zu scheitern. Wie aus Fehlern Ideen entstehen, Köln 2016, S. 129 (ein Zitat zur Selbstimmunisierung des Plädoyers einer Fehlerkultur). 235
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
c) „Einen Fehler zu machen, ist normal. Den gleichen Fehler zweimal zu machen, ist nachlässig. Ihn dreimal zu machen, grenzt an das Unverzeihliche. Aber den gleichen Fehler immer und immer wieder zu machen, kann genial sein. – Wenn wir aus unseren Fehlern lernen, folgt daraus, dass wir am meisten lernen, wenn unsere Fehler zu Obsessionen werden.“241 – Žižeks Imperativ „Liebe dein Symptom wie dich selbst“ (ein gleichnamiger Buchtitel, Berlin 1991) scheint hier präziser: Man soll sich mit dem ausgeschlossenen, verfemten Rest, der den sozialen Status unterminiert, dem Spleen, mit dem man nie zurechtkommt, identifizieren, d. h. darin die letzte Stütze seiner Subjektivität sehen. d) Ernst Bendas Satz „Die Würde des Menschen liegt in seiner Fehlbarkeit“ – entschuldigen Sie das erneute Zitieren, der Satz geistert durch den Ethik-Unterricht – müsste über jeder Schule stehen, denn Schule ist dezidiert als Schonraum angelegt, als Freiraum für Fehler, als Teststrecke für irrlichternde Gedanken, als Laboratorium, in dem frei vom Druck, nur Ergebnisse zu liefern, auch unausgegorene, halbfertige Gedanken ihren Platz finden. Demokratie heißt schließlich für den Sozialphilosophen Oliver Marchart nichts anderes als eine Form der radikalen Annahme der Begrenztheit, der „Konfliktualität und Kontingenz“ der Sozialordnung. Den Ausgriff auf Perfektion versagt man sich. Fehlerteufel dürfen hier zwar auch wildern, sie bekommen aber keine alleinige Machtoption.242
Variationen, Abweichungen, Devianz … das Lob der schrägen Ideen Wie sehr Abweichungen und Variationen, die zunächst lächerlich klingen, einen großen Hintersinn enthalten können, ist unter anderem an einer Aussage Heinrich Heines zu sehen: Gefragt nach seinen Idealen, macht Heine folgende Auflistung: „Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe“; „Krebssuppe“ bezeichnet das, was die Ideale stört, die materielle Erdung, den ungebetenen Eindringling. „Krebssuppe“ verkörpert das Genießen, das die Geistessphäre aufrechterhält.243 Ähnlich wirkt die Aufzählung von Kierkegaard, wonach die Gesellschaft in „Offiziere, Dienstmädchen, und Schornsteinfeger“ einzuteilen ist. Der überspitzten Aussage ist Ebd., S. 77. Marchart, O., In Verteidigung der Korruption – eine postfundamentalistische Perspektive, in: Bröckling, U., Dries, C., Leanza, M., Schlechtriemen, T. (Hg.), Das Andere der Ordnung, Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist 2016, S. (89–106) 104. 243 Žižek, S., Absoluter Gegenstoß, Frankfurt a. M. 2016, S. 506–519. Mit der Umwandlung des französischen Revolutionsrufs in „Freiheit, Gleichheit, Bentham“ (ebd., S. 504ff) deutet Marx an, dass die Philosophie Benthams keineswegs ideologiefrei ist, dass das utilitaristische Kosten-Nutzen-Denken an die Stelle der Brüderlichkeit“ getreten ist, die kapitalistische Ideologie die Französische Revolution unterläuft. Übermaß und Variation sind wichtig. – Eine weitere interessante Variation lautet „Anthropozän, Technozän, Knetozän“, der Ausdruck des niederländischen Atmosphärenchemikers Paul M. Crutzen 241 242
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
nicht zu sehr Sexismus zu unterstellen; Kierkegaard deutet nach Žižek vielmehr an, dass die Ordnung in Klassen, Arm und Reich, Frau und Mann usw., durch ein „Drittes“ gestört wird, den „Schornsteinfeger“. Es gibt den Antagonismus nach Hegel/Marx/Žižek nur unter Herausbildung eines Dritten, eines störenden Elements, der dann gegebenenfalls als Sündenbock herhalten muss.244 Nach Žižek ist von einer inhärenten Gebrochenheit und Selbstwidersprüchlichkeit der Subjektivität, der Fremdheit des Ichs mit sich, auszugehen: „Jede Lebensform ist von Anfang an in sich durchkreuzt, sie entfaltet ihr Potential als verzweifelte Strategie, um mit ihrer immanenten Blockade zurechtzukommen.“245 Der Wert der Devianz ist schließlich an einem kleinen Witz aus Lubitschs Film „Ninotschka“ abzulesen: Ein Gast bestellt einen Kaffee ohne Sahne, der Kellner geht in die Küche, kommt wieder und sagt: „Tut mir leid, mein Herr, wir haben keine Sahne mehr, kann es auch ohne Milch sein?“246 Sie müssen sich an solche Leute halten, die Ihnen mehr sagen, als Sie hören wollten, die Ihnen Einblick geben in die Risse der Welt, die Ihnen freimütig zeigen, was hinter den Kulissen passiert. Der witzige Dialog zeigt nach Slavoj Žižek, dass es den bloßen Kaffee nicht gibt, dass Kaffee immer Kaffee plus x (Milch, Sahne, Zucker, Keks, Zigarette) ist, dass scheinbare Einheiten, Geschlossenheiten immer zu hinterfragen sind: Alles ist nicht es selbst, schrieb Rilke. „Der Riss der Welt geht auch durch mich“, meint Siegfried Kracauer. Wenn Sie wollen: Der Riss der Welt geht auch durch den Kaffee. Leonard Cohen singt, dass es den Sprung, den Bruch in allem deshalb gibt, dass Licht, etwas anderes, durchscheinen kann. „There is a crack in everything, / that’s how the light gets in.“247 Der Songvers ist natürlich eminent theologisch. Er gibt der menschlichen Begrenztheit einen neuen Sinn und befreit den Fehler von Geruch der peinlichen Defizienz und des bloßen Mangels. Es lohnt sich, bei Künstlern und Philosophen in die Lehre zu gehen, die uns neue Sichtweisen anbieten und uns ermuntern, nach dem übersehenen Rest und dem Kontrafaktischen zu suchen. Solche hegelianische Kellner bzw. derart theologisch gestimmte Künstler können Sie getrost nach schattigen Plätzchen fragen, die noch nicht von den gleißenden Scheinwerfern der Perfektion ausgeleuchtet und verstrahlt sind. Baudrillard und Luhmann sehen – selbstverständlich mit unterschiedlicher Intensität – die „Schließung der Systeme“ als fatale Strategie, als Katastrophe der Positivierung, auf die
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von 2000 bietet sich geradezu an (vgl. Renn, J., Scherer, B. (Hg.), Anthropozän. Zum Stand der Dinge Berlin 2015). Žižek, S., Absoluter Gegenstoß, Frankfurt a. M. 2016, S. 499ff. Ebd., S. 524f, mit Bezug auf Hegel. Ebd., S. 561ff. Cohen, L., zit. n.: Schaefer, J., Lob des Irrtums. Warum es ohne Fehler keinen Fortschritt gibt, München 2014, S. 5.
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die Eigendynamik der selbstreferenten Systeme und die Programmlogik der funktionalen Differenzierung ausgerichtet ist. Daher betont auch Žižek: „Wir müssen auf das pochen, was verhindert, dass sich der Kreis schließt.“248 Auf die Frage: Kann man lernen zu leben? gibt der Literaturwissenschaftler George Steiner eine unmissverständliche Antwort: „Nein, man kann lernen zu sterben. Was das Leben betrifft, so erteilt es einem jeden Morgen neue, unvorhersehbare Lektionen. Und man irrt sich immer wieder! Wie wundervoll ist es doch, sich irren zu können – und sich zu sagen: ‚Ich habe mich getäuscht!‘ Und dann beginnt das nächste Kapitel. Niemals Furcht vor einem Irrtum haben, das ist das Privileg, ist die Freiheit selbst.“249
Maulwurfstrategie Das Lob der Abweichung mündet schließlich in ein Plädoyer für unkonventionelle Experimente und subversive Forschungen: Für Heiner Müller ist „das Wappentier der Befreiung“ der Maulwurf.250 Das verwundert zunächst: Der Maulwurf ist ja niedlich-friedlich-süß und dazu noch halbblind/untauglich für das Leben auf der Erde. Es sind aber stets die stillen Gedanken, die den Sturm bringen, meinte schon Nietzsche.251 Vielleicht rechnet der ansonsten sehr laut polternde Theatermacher Heiner Müller mit tiefgreifenden Mutationen: Wie Dinosaurier sich in der Evolution zu den uns bekannten, zum Teil gar schön klingenden Vögeln weiterentwickelten, können umgekehrt auch aus kleinen Maulwürfen in the long run kapitale Monster der Tiefe à la „Pacific Rim“ werden. Man muss Entwicklungen für möglich halten. Maulwurf Grabowski, eine Figur aus unseren Kinderbüchern, die sich vor der Zivilisation fürchtete und zurückzog, braucht nicht belächelt zu werden. Er wird irgendwann zurückkommen und die einfachen, aber legendären Worte des Terminators sprechen: „I am back!“ – vielleicht sogar in einem österreichischen Akzent. Bis es so weit ist, sind Sie aufgerufen, möglichst tief zu graben, Sie müssen sich nicht an die offizielle „Obergrenze“, den Maulwurf-Richtwert fürs Tiefschürfen von maximal einem
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Žižek, S., Absoluter Gegenstoß, Frankfurt a. M. 2016, S. 502. Steiner, G., Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler, Hamburg 2016, S. 156f. Müller, H., zit. n.: Schütte, U., Heiner Müller, Köln Weimar Wien 2010, S. 116. Auch Konersmann, R., Die Unruhe der Welt, Frankfurt a. M. 2015, S. 151, hebt den subversiven Charakter der stillen, geistigen Arbeit hervor; mit Hegel betont er die Maulswurfsarbeit als Paradigma der geistigen Arbeit, die unter der Oberfläche stattfindet: „Du bist ein guter Maulwurf, sagt Hamlet: So arbeitet der Geist unter der Erde in dieser Ruhe.“
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Meter252 halten. – Das Abiturzeugnis beinhaltet die ultimative Lizenz für Tiefenbohrungen, für die Anlage komplizierter Tunnelsysteme. Nach Kafka graben wir alle den Schacht von Babel, ein unterirdisches Labyrinth, das unkontrollierbar neben unseren lauten Gesprächen eigene Bedeutungstiefen generiert; unheimliche Zwischenreiche können sich für Kafka schon an einer Schwelle auftun, wenn man nur lange genug zögert und die Unklarheiten und Ungewissheiten bewusst zu erleben bereit ist.253 Ganz im Sinne der Bergbauzunft lautet darum der abschließende Wunsch: Glück auf! Graben Sie sich in neue Wissensareale und undurchsichtige Bereiche ein, dringen Sie phantasmatisch dorthin vor, „wo noch nie ein Mensch gewesen ist …“ Horkheimer warnt, „dass die Menschen zu leeren Hülsen werden, wenn sie nicht vermögen, in der Sache (in einem Thema/Studienfach) aufzugehen … Wer nicht aus sich herausgehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, der ist nicht gebildet.“254
Wünsche zum Abschluss Der Dichter Karl Krolow hat recht, wenn er sagt: „Lest, um zu leben“.255 Wer den Fehlerteufel verabschieden will, also Alternativen zur Sackgasse der Selbstoptimierung und des Perfektionismus sucht, sich als Mensch entwickeln und nicht als Mutant oder Systemklon enden will, kommt nicht an der Literatur und Kunst vorbei; hier kann man seine Endlichkeit
Natürlich kann der Ausdruck „Maulwurf-Gelehrter“ pejorativ gemeint sein (vgl. etwa Hans Ebeling, Denksturz der Moderne, Würzburg 2002, S. 30 in Anlehnung an Hegel, kritisiert das Sich-Eingraben in unfruchtbarem Land), der Begriff kann aber neu/anders justiert werden. 253 Robert Walsers Aussage „Niemand hat das Recht, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich“ (vgl. Pilz, D., In träumender Ferne. Vor 60 Jahren ist der große Dichter Robert Walser gestorben. Eine Leseaufforderung, in: FR vom 25.12.2016, S. 37) reklamiert die Opazität und den Geheimnischarakter einer Maulwurfexistenz, die sich gegen fehlerteuflische Übergriffe wappnet. 254 Horkheimer, M., (Der Begriff der Bildung, in: Sozialphilosophische Studien, S. 169), zit. n.: Bernhard, A., Pädagogisches Denken, Baltmannsweiler 2006, S. 80 – vgl. V. E. Frankls Betonung der Selbsttranszendenz als Sinn-Erlebnis. 255 Karl Krolows Antrittsrede zum Stadtschreiberamt von Bergen-Enkheim am 18.6.1975 trug dieses Motto; es stammt von Flaubert; vgl. Mistereck, W., Schneider, A. (Hg.), Zeltreden. Reden zur Verleihung des Literaturpreises „Stadtschreiber von Bergen“ 1974–1998, Göttingen 1998, S. 5, 12, 30. Das Plädoyer dagegen formulierte Peter Neururer, „unter den Fußballtrainern der Meister des nicht geklöppelten Spruchs“ (zit. n.: Ortmann, G., Noch nicht/Nicht mehr. Wir Virtuosen des versäumten Augenblicks, Weilerswist 2015, S. 71): „Ich habe früher auch die großen Philosophen gelesen. Doch dann habe ich bemerkt, dass die von meinem normalen Denken absolut abweichen. Jetzt lese ich nur noch Fußballfachbücher“ (SZ, Nr. 261 vom 13.10.2006, S. 28)“. 252
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6.6 Abschied vom „Fehlerteufel“
und Faktizität gespiegelt sehen, ohne sie aufpolieren zu müssen.256 Es ist hier der Wunsch Alain Badious zu wiederholen, den er in seinen „Reden an die Jugend“, vornehmlich an seine eigenen Kinder, formulierte; Sie werden gleich merken, dass hier ein Philosoph Wünsche formuliert: „Ich kann euch nur wünschen, dass für euch nicht der feste Platz im Vordergrund stehen wird, nicht die Karriere, sondern das wahre Denken, dem es gelingt, die Schwester des Traums zu sein. Ein Denken des Aufbruchs, ein wahres Denken des wogenden Ozeans der Welt. Ein exaktes und nomadisches Denken, ein Denken, das exakt ist, weil es nomadisch ist, ein maritimes Denken.“257
Badiou redet weiter davon, dass in Zukunft „Fähigkeiten“ wichtig werden, „von denen man noch nicht weiß, dass man sie kann.“258 Von diesem ungeahnten Neuen spricht auch der Kunsttheoretiker Ludger Schwarte: „Die erstaunlichsten Ereignisse sind diejenigen, von denen wir nicht einmal geahnt haben, dass wir sie uns wünschen können. Kunst eröffnet eine Dimension, in der wir uns wünschen können, überrascht zu werden.“ 259
Es ist also durchaus sinnvoll, mit radikal Neuem zu rechnen. Der Bereich des Möglichen ist in keiner Weise fertig und abgeschlossen, er lässt sich tatsächlich neu formatieren. Vgl. Stanislaw Lems Aussage (zit. n.: Spiegelungen. Ballett des Hessischen Staatstheaters Darmstadt, Programmheft 2016, S. 39): „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel.“ 257 Badiou, A., Versuch, die Jugend zu verderben, Berlin 2016, S. 54. Der Titel der Reden erinnert natürlich an Sokrates, dem genau dieser Vorwurf der Jugendverderberei und der Gottlosigkeit gemacht wurde. Die Ostrakismos/Scherbengericht-Evaluierung (jeder durfte jeden beurteilen/anklagen/vorverurteilen) ergab genug Stimmen, um eine Anklage/Hinrichtung zu erreichen. – Ob ähnliche Fehleinschätzungen in den heutigen Echokammern der mediatisierten Arena-Gesellschaft eher unterbleiben, darf bezweifelt werden. – Sokrates war vor allem bei den Sophisten so verhasst, weil sein Bildungsangebot komplett unentgeltlich war. Der christliche Theologe und Humanist Erasmus von Rotterdam hielt es jedenfalls für angebracht, sich freimütig-offen vor Sokrates zu verneigen; er formulierte durchaus gegen Luthers Betonung der menschlichen Sündigkeit/Verderbtheit: „Heiliger Sokrates, bitte für uns.“ 258 Ebd., S. 49 und S. 48: „Es gibt Dinge, zu denen man fähig ist, über die man verfügt und mit denen man sein Leben konstruiert. Und es gibt die Dinge, von denen man noch gar nicht weiß, dass man zu ihnen fähig ist. Diese Dinge sind für die zukünftige egalitäre Symbolisierung die wichtigsten.“ Badiou sieht keinen Gegensatz zwischen Konstruktion und Aufbruch: „Seid bereit, das Konstruierte aufzugeben, weil etwas anderes euch den Weg zum wahren Leben weist. Dieses wahre Leben von heute liegt jenseits der marktbestimmten Neutralität und jenseits der hierarchischen Welt“ (ebd., S. 50). 259 Schwarte, L., Notate für eine künftige Kunst, Berlin 2016, S. 113f. Und S. 79: „Kunst konfrontiert die Gegenwart mit einer nur möglichen Zeit, der Zukunft.“ 256
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Wir Lehrer wünschen Ihnen solche positiven Überraschungen, die den Horizont Ihrer Erwartungen weit übertreffen; Nietzsche würde sagen: Noch nie gab es ein so offenes Meer, einen offenen Horizont für Sie wie heute. Und wir wünschen Ihnen die entsprechende nomadisch-maritime Beschwingtheit und Beweglichkeit, die einen nicht untergehen lässt. Während gestrenge Bedenkenträger und trendige Systemadministratoren in Gespensterdebatten Monsterprobleme wälzen, können Sie den Staub von Ihren Füßen schütteln, weiterziehen und getrost sein;260 und nun folgt doch das obligatorische Goethe-Zitat: „Wenn dir’s in Kopf und Herzen schwirrt, was willst du Bessres haben! Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben.“261 „Vernunft sei überall zugegen, wo Leben sich des Lebens freut. Dann ist Vergangenheit beständig, das Künftige voraus lebendig, der Augenblick ist Ewigkeit.“262 „… Heute geh ich; komm ich wieder, singen wir ganz andre Lieder. Wo so viel sich hoffen lässt, ist der Abschied ja ein Fest.“263
Zum Reformationsjubiläum wäre noch ein Lutherzitat unterzubringen: Kluge, Th. (Hg.), Luthers kleine Teufeleien, Berlin 2016, S. 11. „Und wenn die Welt voll [Fehler]Teufel wär, / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen.“ 261 Goethe, J. W. v., Gedichte, hg. v. E. Trunz, München 1981, S. 315. 262 Ders., Vermächtnis, zit. n: Hübner, H., Goethes Faust und das Neue Testament, Göttingen 2003, S. 250. 263 Ders., zit. n.: Neundorfer, G. (Hg.), Lass dein Leben blühen. Worte der Inspiration, Freiburg 2017, S. 108. 260
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6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“
6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“ – Von den „Wonnen des Trivialen“, der „Herzlichkeit der Vernunft“ und der Möglichkeit heiterer Abschiede „Den Mutigen gehört die Welt, ich sage – dem Humor.“ „Vor allem: Verdirb es nicht mit dem Menschen! Wir müssen innerlich ein wenig an uns arbeiten und suchen, milder in unserem Urteil, anspruchsloser in unseren Forderungen zu werden. Wir müssen anfangen, die Leute zu nehmen, wie sie sind …“ – Theodor Fontane264 „Die strenge Grenze doch umgeht gefällig / ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt.“ – Johann Wolfgang von Goethe265
Unzählige Artikel zum fünfzigsten Jubiläum der Studentenrevolte füllen momentan die Feuilletons;266 es wird versucht, die emanzipatorischen Effekte zu bestimmen, die auf die Studentenbewegung zurückgehen: „Alle reden von 1968, wir auch!“267 Die damals oft beschwore-
Fontane, Th., in: Christoffel, K. (Hg.), „Eigen war mein Weg und Ziel.“ Das Fontane-Brevier, Darmstadt (6. Aufl.) 2011, S. 104, 140. 265 Goethe, zit. n.: Sombart, W., Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin (3. Aufl.) 2006, S. 383. 266 Im ersten Satz muss nach Fontane alles enthalten sein. Paul Valéry pflichtet Fontane bei: „Erste Sätze werden einem geschenkt“. Hilbig, W., Der Anfang, in: Illies, F. (Hg.), Kleines Deutsches Wörterbuch, Frankfurt a. M. 2002, S. (13–18) 14, regt weiter an; er wüsste gerne, wie es nach dem Anfang weitergeht: „Ich habe den Gedanken, dass Anfänge immer eine Geschichte haben müssen … (in der Vorgeschichte) … Es ist vielleicht … zu ahnen, welch eine gewaltige Vorgeschichte die Literatur hat.“ – Zum Kontext der Abiturreden gehört der offizielle Rahmen einer Feier, der eine akribische Vorbereitung erfordert. Dabei würde das Agieren nach dem pfingstlerischen Motto „Tu deinen Mund weit auf, so will ich ihn füllen“, das Vertrauen auf Spontaneität, sehr gut der 68er-Thematik entsprechen. Martin Walser, in: Walser, M., Augstein, J., Das Leben wortwörtlich, München 2017, S. 304, erinnert an seinen Protagonisten Percy, einen Prediger, der es für unanständig hält, vor unvorbereiteten Menschen vorbereitet zu sprechen, „… weil die Heiligung des Augenblicks unüberholbar das Höchste ist, was es gibt.“ Das Jetzt bedeutet für ihn „immer Pfingsten“. Percys Verweis auf offensichtliche Paradoxa kann nicht entkräftet werden. 267 Den Spruch des SDS-Plakats „Alle reden vom Wetter, wir auch!“ übernahm bekanntlich die Deutsche Bahn. Seine erneute Abwandlung mag andeuten, dass die Nachgeborenen in medialer Selbstreferenz gefangen bleiben, gesättigte Rezeptionszirkel schwer aufzubrechen sind; der Überhöhung eines Denk-/Proteststils oder der Mythisierung einer Epoche ist schwer zu entkommen. Dies bestätigt auch Delius, F. D., Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer. Ein Leit264
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
ne „Befreiung vom Zwang, konstruktiv sein zu müssen“268, kann für die diesjährige Abschlussrede zunächst nur bedeuten, dass sie zeitweise vom Seriös-Gediegenen ins Komödiantische zu wechseln versucht.269
faden für deutsches Denken, Berlin 2003, S. 10 unter dem Stichwort „Achtundsechzig“: „Keine politische Bewegung ist so auf ihre eigenen Mythen und Klischees hereingefallen. Die meisten dieser Klischees sind sogar nicht einmal falsch. Trotzdem sage ich. Alles war anders, nämlich viel widersprüchlicher, mehrdeutiger, spielerischer. … Zu jeder These gab es eine Gegenthese. Synthesen waren verpönt … Wer immer sich Details, Bilder, Sätze, Thesen aus den Strömungen dieser großen Zirkulation herausfischt und die Gegenbilder, -sätze, -thesen weglässt, wandelt auf dem bequemen Pfad der Legendenbildung.“ Die Diskussion um das Jubiläum wird kontrovers geführt. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus geht in seinem SWR2-Aula-Vortrag „50 Jahre Umerziehung. Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“ vom 1.7.2018 nicht über die Frontstellung alter Debatten und die Repristinierung bekannter Schlagworte hinaus und schlägt eine Bresche für Disziplin, Anstrengung und Leistung, deren Wichtigkeit im Übrigen keiner in Abrede stellt. Er konzediert zwar, dass die Schulen „freier, sozial offener und lebendiger“ wurden, zählt aber neben Egalitarismus, Leistungsfeindlichkeit seltsamerweise auch Machbarkeitseuphorie und Quotengläubigkeit zu den Irrtümern und Negativfolgen von 68, unter denen das Schulsystem noch leide. Mündigkeit kommt als ein von der Studentenbewegung favorisiertes Erziehungsziel bei der krausschen Aufarbeitung gar nicht vor; die Orientierung an Gerechtigkeit, Emanzipation und Kreativität wird als Hohlphrase abgetan und neben anderen pädagogischen Modewörtern aufgeführt. Treffend ist gleichwohl die Diagnose, dass schulamtliche Direktiven mit einem Wust an nichtssagenden Begriffen wie kognitive Operation und Lernstrategie Umdeutungen vollziehen und im Testfieber mangelnde Kenntnisse von Schülern systematisch schöngeredet werden. Für die neokapitalistischen Kurzschlüsse der behördlichen Bildungspolitik und alle beklagenswerten Zustände in Schulen die Studentenbewegung verantwortlich zu machen, scheint weit hergeholt. 268 Vgl. Freyenhagen, F., „Aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau“. Zur Normativitätsproblematik bei Adorno, in: Ellmers, S., Hogh, Ph. (Hg.), Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorie, Weilerswist 2017, S. 241. 269 Ob es als ein Proprium der 68er Bewegung gelten darf, dass soziale Veränderungen ohne Rigorismus und neue Imperativik, sondern unernst unter Berücksichtigung der eigenen Lust/Unlust-Bilanz erreicht werden sollten, kann hier offenbleiben. Befreiung impliziert für Adorno jedenfalls eine „Erziehung zur Mündigkeit“ als eine strikte, unangenehme Pädagogik des Madigmachens: „Es gibt keine andere als politische Pädagogik“ (Paulo Freire, zit. n.: Goddar, J., Langer Weg, in: Erziehung und Wissenschaft 5/2017, S. 22). Im postkolonialen Diskurs verändert sich der pädagogische Imperativ: „Die Dekolonisierung von Wissen ist eine massive Trennungsarbeit, denn man muss es zulassen, seine Position zu verlieren“ (Boulbina, S. L., Den Überblick verlieren: Ein Lob auf die Orientierungslosigkeit. Über die Notwendigkeit, Wissen zu dekolonisieren, in: Ndikung, B. S. B. (Hg.), Die Beschwörung der beunruhigenden Muse, Berlin 2017, S. (125–139) 137). Im Zeichen der Digitalisierung sieht Nils B. Schulz es in ähnlicher Weise angebracht, „Argumentationssymmetrien zu zerstören“ und ein klares „Bedenken first, Digital second“ auszurufen (FR vom 20.4.2018, S. 29). Für S. J. Schmidt wäre ebenso die unentschiedene additive Juxtaposition eine Katastrophe, Datensalat aus unverbundenen Fakts, die Und-und-und-Falle (vgl. S. J. Schmidt weiter unten).
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6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“
1) „Das Lachen im Hals“ Kant meinte einmal mit Bezug auf Voltaire: „Der Himmel hat uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben, die Hoffnung und den Schlaf “.270 Er hat das Lachen vergessen. Wenn der Kantkritiker Nietzsche 1882 eine „fröhliche Wissenschaft“ in Aussicht stellt, ist es an der Zeit, eine heitere Schule, leichte Bildung zu fordern oder über Bedingungen ihrer (Un-)Möglichkeit nachzudenken.271 Dass Prüfungsvorbereitung eine Kärrnerarbeit ist, soll nicht bestritten werden. Bildung kann aber auch Freude bereiten und zum Teil fast beiläufig geschehen, etwa bei einem Theaterbesuch, bei dem die Freiheit der Interpretation und der souveräne Umgang mit Tradition gelernt werden. (Denken Sie kurz an Ihren letzten Theaterbesuch, „Romeo und Julia“ im Schauspielhaus Frankfurt).272 Kant, I., KU, S. 228. Es bedarf – nicht zuletzt wegen des herzpädagogischen „Überbaus“ – keiner großen Erklärungen, um sich des Verdachts zu erwehren, hier einer Spaßpädagogik das Wort zu reden oder gar dem fungesellschaftlichen Überich-Befehl „Genieße“, dem ultimativen Garanten von Unlust/gesteigerter Selbstkontrolle, auf den Leim zu gehen. Einer konfrontativen Polemik und dem mutwilligen Missverstehen der 68er-Bewegung im Stile J. Kraus’ kann man gelassen entgegentreten. Die Forderung nach leichter Bildung und die nietzschesche „Lachpropaganda“ werden schon durch Schillers Einsicht „Allzu straff gespannt zerspringt der Bogen“ (Wilhelm Tell III, 3) gestützt: Schulischer Ernst verlangt nach einer ausgleichenden Gegenbewegung; ohne Überdruckventil droht ohnehin ein rascher Kollaps; das Lachen hat bei Nietzsche keine systemstabilisierende, sondern eine individuierende Wirkung; es vereinzelt, ist in jeder Hinsicht radikal und bestätigt Camus’ Aussage: „Der Mensch ist das Opfer seiner Wahrheiten“. Das Hinterfragen von offenen und verdeckten Herrschaftsstrukturen und die Sensibilität für sie gelten als genuines Anliegen der Studentenbewegung. Ein antiautoritärer 68er Affekt (vgl. den „AntiStruwwelpeter“ von F. K. Waechter) mag die pädagogische Theoriebildung oder das Selbstverständnis vieler Kollegen prägen. Damit dieser nicht zur bloßen Leerformel oder Attitüde mutiert, ist eine Ideologiekritik notwendig, wie sie etwa in „Pervert’s Guide to Ideology“ von S. Žižek vorgeführt hat. Die verfängliche Selbstreproduktion von Autorität ist genau zu rekonstruieren; die Opferbereitschaft, die Nichtfunktionalität kaschiert, sowie der Wunsch nach Entlastung von innerer Komplexität, der Wunsch nach Delegation von Verantwortung, nach anerkennender Beobachtung, instantiieren Idealperspektiven und nähren den Ruf nach klarer Führung. Lacan sah in dem Studentenprotest das uneingestandene Verlangen nach dem großen Anderen. Žižek skizziert nach, wie die sog. „sexuelle Revolution“ neue Zwänge generierte und zu einem apolitisch-wohlfeilen kapitalismuskonformen Privatismus/Konsumismus mutierte. Die Analysen von Coccia, E., Das Gute in den Dingen, Berlin 2017, S. 29, 98, 122, führen Zeitanalyse und pädagogische Thematik zusammen: „Die Metropole ist heute ein Klassenzimmer und die Werbung ist ihr Lehrer“ (McLuhan, „Counterblast“). „Konsum ist die Arena, in der über Kultur gestritten und in der ihr ihre Form gegeben wird.“ „Es kann bezweifelt werden, ob irgendeine andere Kraft, die Schule, die Kirche und die Presse ausgenommen, so einen großen Einfluss hat wie die Werbung (E. E. Calkins).“ „Im Unterschied jedoch zur Schule, der Presse und der Kirche bedient sich die Werbung nur der Bilder. Es ist das Leben der Norm jenseits des Befehls und der Vorschrift.“ 272 Marius von Mayenburg lässt „Romeo und Julia“ im Punk-Milieu spielen, der shakespearesche Priester ist heroinabhängig; einige Frauenrollen werden von männlichen Schauspielern besetzt; der Zuschauer sieht, wie Schauspieler sich für die Doppelrolle auf der Bühne umziehen. Das Publikum sitzt zum 270 271
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Nietzsche und sein Prophet Zarathustra fordern lautstark: „Lachen! Lernt mir lachen!“273 Ein sowjetischer Witz, den der Philosoph Slavoj Žižek in seinen philosophischen Büchern und Vorträgen häufig gerne erzählt, lautet: „Radio Eriwan wird die Frage gestellt: ‚Stimmt es, dass Herr Rabinowitsch ein neues Auto im Lotto gewonnen hat?‘ Der Sprecher antwortet: ‚Im Prinzip ja, aber es war kein neues Auto, sondern ein altes Fahrrad, und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.‘“274 Auf Ihre Situation angewendet müsste die Frage lauten: „Habe ich mit dem Abitur nun den Jackpot mit allen Möglichkeiten?“ Die entsprechende Antwort: „Im Prinzip ja, aber es kommen mit den Möglichkeiten neue Prüfungen und diese hören nicht auf, sondern nehmen eher zu.“ „Dies ist eine Rede?“ „Im Prinzip ja, aber im Grunde handelt es sich um eine Collage von Zitaten, die aus dem Kontext gerissen sind und überdies zum Teil aus sehr populären Medien entstammen.“ Der Witz war gar nicht so lustig. So richtet sich der Blick auf ein weiteres Zitat, schließlich gelingt es dem Zitat nach Karl Kraus, „das Unsägliche“/Unsagbare auszusprechen275: „Das Schulsystem [ist] als etwas aufzufassen, durch das wir die Eingeweide der Gesellschaft betrachten können.“276 So zitiert der bekannte Soziologe Didier Eribon den österreichischen Skandal-Schriftsteller Thomas Bernhard und will andeuten: Nach 13 Jahren Schule muss man Ihnen über das Funktionieren der sozialen Ordnungen (ihr Leerlaufen, ihre Eigendynamik, ihre Totpunkte und ihre Erregungsmuster, Mechanismen ihrer Selbstreproduktion und ihre
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Teil hinter der Bühne, es wird durch eine Mauer auf der Bühne vollständig auseinanderdividiert und in die Feindschaft der beiden Familien hineingezogen. Die Mauer ist zugleich Projektionsfläche, das Geschehen wird jeweils aufgenommen und auf die Wand der Gegenseite projiziert. Nicht nur durch den aktuellen Rahmen einer totalen Mediatisierung werden neue Denkräume aufgerissen, eigene Gefährdungen, Zwänge und Denkblockaden schrill beleuchtet, Gentrifzierungstendenzen, narzisstischer Bildungsdünkel und Distinktionsbedürfnisse gespiegelt. Auch elementare Zuschauerprojektionen und -erwartungen werden unterminiert: Hinter der Fürsorgedoktrin und Erstickungsmacht von Familien/ Alleinerziehern kann das Verlangen (sexueller) Selbstbestimmung nur in einem Graubereich und unter Tarnkappen aufkeimen; es erstickt jedoch jäh im Cluster düsterer Kompromisse und geht in der übermächtigen elterlichen Wunschpolitik unter. Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Mit einem Essay von Thomas Mann, Frankfurt a. M. (15. Aufl.) 1992, S. 299; vgl. auch ders., Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Frankfurt (3. Aufl.) 1993, S. 22: „Das Lachen sprach ich heilig: ihr höheren Menschen – lernt mir lachen!“ Žižek, S., Die verspätete Aktualität des kommunistischen Manifests, Frankfurt a. M. 2018, S. 7. Paoli, G., Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur, Berlin 2018, S. 111: „Wie Karl Kraus wusste, lässt man Zitate am besten für sich sprechen, ‚wissend, dass ihr Unsäglichstes nur von [ihnen] selbst gesagt werden konnte‘.“ Bernhard, Th., zit. n.: Eribon, D., Gesellschaft als Urteil, Berlin 2018, S. 88.
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6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“
Riten) im Grunde nichts mehr beibringen.277 Sie waren aufgefordert, nicht nur Bücher, sondern gerade auch soziale Phänomene zu lesen, ganz im Sinne Walter Benjamins. Sie haben ihre Analysen gemacht und setzen diese hoffentlich auch an ihren nächsten Wirkungsstätten fort. (Im Übrigen bilden in östlichen Weisheitslehren der Bauch und die Eingeweide die Personmitte Hara.278)
2) Untiefen des Humors „Humor ist nicht, wenn man trotzdem lacht.“279 Nach Michel Houellebecq beinhaltet Humor „die Scham, ein wirkliches Gefühl zu empfinden“280. – Der Schriftsteller Houellebecq und der Urs Widmer meinte, „man kann nicht vor ein Familienhaus ein Schild stellen mit der Aufschrift: hier passiert nichts.“ Gleiches gilt von der Schule. Noch im Ritual der Zeugnisausgabe lässt sich Wesentliches erkennen; hier bewahrheitet sich Lacans Satz: „les non-dupes errent“: „Die nicht-Düpierten irren.“ Die Zynisch-Überheblichen verkennen das Spiel des Sozialen, die Weisheit der offiziellen Geste. Man braucht das Ritual, um nicht nur zu wissen, dass man das Abitur hat, sondern so langsam auch anfängt, es zu glauben. „Wir wissen es, aber wir glauben es nicht“ war die etwas hemdsärmelige Umschreibung für den psychoanalytischen Terminus der Verleugnung. Das Eingeständnis einer Realitätsverkennung beinhaltet einen schmerzhaften, häufig aufgenötigten Perspektivwechsel, vergleichbar der Aussage Mephistos bei der Walpurgisnacht: „Du glaubst zu schieben und du wirst geschoben“ (Faust I, V. 4116). 278 Vgl. Dürckheim, K. Graf, Hara – Die Erdmitte des Menschen, Weilheim München (9. Aufl.) 1981. 279 Wilhelm Busch prägte das Bonmot (vgl. Marquard, O., Vernunft und Humor. Vom Sieg des So-ist-es über das So-hat-es-zu-sein, in: ders., Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern, Stuttgart 2013, S. (55–69) 68). Für eine Philosophie des Lachens sind Helmuth Plessners Ausführungen maßgeblich: „Lachen und Weinen sind Reaktionen auf Grenzen, an welche unser Verhalten stößt … nur der Mensch hat die Höhe, aus der er sich fallen lässt. Nur der Mensch kennt mit dem Sinn zugleich Doppelsinn, Unsinn und das, was darüber hinausreicht“ (vgl. Plessner, H., Elemente menschlichen Verhaltens (1961); in: ders., Mit anderen Augen, Stuttgart 1982, S. 80, 83). Nur ein Lebewesen, das konstitutiv exzentrisch bzw. nicht-festgestellt und ohne Zentrum ist (vgl. Plessners Bestimmung des Menschen als „exzentrische Positionalität“), kann lachen. Nach Gilles Deleuze (Nietzsche Lesebuch. Berlin 1979, S. 116f) stellt sich Lachen zwangsläufig als Nebeneffekt ein: „Wenn man die Codes durcheinanderwirft. Wenn ihr das Denken in Beziehung zum Außen bringt, entstehen Momente dionysischen Lachens, das ist das Denken in frischer Luft“; die nietzschesche Liaison von Leichtsinn und Tiefe kennzeichnet auch Marleen Stoessels „Lob des Lachens“ (Frankfurt Leipzig 2008, S. 207): „Das Leichte ohne das Schwere ist flüchtig, das Schwere ohne das Leichte wird fallen. … Es ist das Gesetz des Humors – zu schwer und fast zu weise, um es nicht sogleich … ach was! Humor ist Glückssache! Und dieses Glück kostet uns nur – Ein Lächeln.“ Vgl. aber auch: Avanessian, A., Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz, Berlin 2015, S. 186–195 (Abductio ab nihilo. Der Witz und seine Beziehung zum Über-Ich); Liggieri, K. (Hg.), „Fröhliche Wissenschaft“. Zur Genealogie des Lachens, Freiburg München 2015; Holt, J., Kennen Sie den schon? Geschichte und Philosophie des Witzes, Reinbek 2015. 280 Houellebecq, M., in: Houellebecq, M., Lévy, B.-H., Volksfeinde, Köln 2009, S. 232: „Was ist der Humor anderes als die Scham, ein wirkliches Gefühl zu empfinden!“ Houellebecq bezichtiget sein 277
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Publizist und Philosoph Bernard-Henri Lévy, ein Schüler und späterer Kritiker Sartres, beginnen ihre Korrespondenz, der das Zitat entstammt und die unter dem Titel „Volksfeinde“ veröffentlicht ist, zunächst sehr reserviert; im Laufe ihres Briefwechsels ändert sich das dann. – Wie auch immer Sie Houellebecqs Aussage einschätzen; Lachen bewahrt uns vor dem Abgrund des Realen und lässt uns Abstand halten vor der „Selffiction“281 (Guillaume Paoli), der SelfieFiktion282, das heißt: Die Lachenden haben immer schon einen Weg gefunden, über sich hinaus und sich vorweg zu sein, vor allem, da sie ihr aktuelles Selbstbild relativieren und sich nicht mit ihm identifizieren. Das Lachen der fröhlichen Bildung ist also nie zynisch-überheblich. (Natürlich gibt es auch das Lachen, das uns abgenötigt wird und bei dem wir ausgesaugt werden. Das Lachen sucht nach einem Echo- oder Resonanzraum. Ebenso mag ein Lachen zuweilen Verlegenheit kaschieren, es ist aber auch der Ausweg aus kognitiven Sackgassen und reagiert schneller als das diskursive Denken auf Situationen. Dass der Mensch sich selbst ein Rätsel ist, es keinen direkten Weg zu sich gibt, lässt sich lachend hinnehmen. Das nietzschesche Gelächter als „großes Erziehungsmittel“ der „Fröhlichen Wissenschaft“283 hat mit dem Lachen als „Überlaufen zu den Instanzen, die es zu fürchten gilt“, nichts gemein.284) Auf die umfassende Literatur über das Lachen in der Philosophie oder Psychoanalyse kann hier nicht eingegangen werden. Cynthia Fleury wertet in ihrer jüngsten Monographie „Die
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Gegenüber, „Kaviar-Linker“ zu sein. Der Angegriffene kontert zurück, dass der Spötter die Selbstironie des öffentlichen Auftretens missverstehe; beide freunden sie sich aber nach und nach an, schließlich spielen beide in der französischen Öffentlichkeit häufig die Rolle von „Volksfeinden“ (S. 221) Beide eint nicht zuletzt die Reserve gegenüber Kollektiven: „Am Ende gewinnt immer die Gruppe“ (S. 197). Paoli, G., Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur, Berlin 2018, S. 106. Coccia, E., Das Gute in den Dingen, Berlin 2017, S. 127, hält seine düsteren Aussichten nicht zurück: „Die Persönlichkeit eines jeden fällt [bei Facebook-Kommunikationen] mit einer Mauer in eins, mit der Pinnwand, d. h. mit dem Raum der epigraphischen und der werbeförmigen Kommunikation par excellence. Ihre Existenz ist epigraphisch, ist Werbediskurs geworden. Facebook ist nichts anderes als ein schwindelerregender Kurzschluss, durch den jeder zugleich Subjekt, Objekt und Medium der Werbekommunikation ist … [I]n der Gesellschaft, die uns erwartet, [wird] die Werbung nicht verschwinden, sondern vielmehr … sich von einem episodischen Element der menschlichen Kommunikation in ihre allgemeine Form, in ihre Bedingung der Möglichkeit, verwandeln … Die Werbung wird (oder vielleicht ist sie es schon) zur transzendentalen Form einer jeden sozialen Interaktion. An dieser Aussicht gibt es etwas, das gewiss beunruhigend ist. Aber es ist die Welt, die uns erwartet und in der wir im Grunde bereits leben.“ Blom, Ph., Gefangen im Panoptikum. Leben in den Ruinen der aufgeklärten Utopie. Reisenotizen zwischen Aufklärung und Gegenwart, Wien Salzburg 2017, S. 59, 76, beschreibt die Situation ganz ähnlich: „Das Kerker-Panoptikum ist eine Shopping Mall geworden, aber den Ausgang aus der Unmündigkeit will niemand suchen. Überall hängen leuchtende ‚Exit‘-Zeichen, aber wir bleiben lieber drinnen im Warmen … Der Markt ist eine eifersüchtige Gottheit. Er duldet keine anderen Götter neben sich.“ Nietzsche, F., Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 156, Nr. 177. Meier, L., MRX-Maschine, Berlin 2018, S. 9, bezieht sich hier auf eine Warnung Adornos.
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Unersetzbaren“ (Wien 2018)285 Gedanken Nietzsches, aber auch Freuds und Jankélévitchs aus. In der vis comica, dem Sinn für Komik, sieht Fleury Humor, Ironie und Lachen gleichermaßen vereint. Sie ist als ein leises, aber trotziges Mittel der Opposition und nicht als ein Zeichen der Resignation zu sehen. Das Freud-Zitat „Das Wesen des Humors besteht darin, dass man sich die Affekte erspart, zu denen die Situation Anlass gäbe und sich mit einem Scherz über die Möglichkeit solcher Gefühlsäußerungen hinaussetzt“ (31) bestätigt indes die Annahme Houellebecqs. Humor mag der Selbsterhaltung dienen und individuierend wirken, er separiert aber nicht, sondern ist schöpferisch. Für Jankélévitch verkörpert Humor die Macht, „etwas anderes zu tun, anderswo, später zu sein, aliud und Alibi“ (32); auf ironische Weise lässt sich Herrschaft zergliedern: „Sie [Ironie] kennt das Geheimnis der Macht, ihre Usurpation, sie kann daher nicht an ihr teilhaben … Ironie will nicht geglaubt werden, sie will verstanden werden“ (32/33). Sie beabsichtigt nach Fleury keine Verführung. In ähnlicher Weise entgleitet und entzieht sich Humor der Macht, und daher ist er auch Machthabern und Institutionen suspekt. Es geht nicht um Flucht, sondern „Entkommen“. Ironie und Humor lösen Bildungsprozesse aus. „Der Humor ist ein Beginn. Die Welt öffnet sich, weil die Ursprungserzählung verlacht und die Lüge entblößt wird“ (33). „Humor ist die Spur des Subjekts, bevor es noch seine Subjektivierungsfähigkeit behauptet hat“ (33). Der Witz steht in Beziehung zum Unbewussten, zum Freudschen Versprecher. Dass Freud neben der Traumarbeit eine Witzarbeit angeregt hat, Žižek diese auch einlöst, wurde bereits angedeutet. Wenn Macht Spielräume einengen und Verhaltensweisen erzwingen kann, so ist Humor dem entgegengesetzt als „ein Spiel ohne Opfer, ein Umgang ohne Einsatz von Gewalt“ (34). Lachen befreit, Fleury meint, dass man souverän sein muss, um lachen zu können; der Lachende weiß, dass er allein ist, und akzeptiert „von jeher“ illusionslos sein Alleinsein und seine Verlassenheit. Damit erweist sich „Gleichgültigkeit“ als das „natürliche Element“ der vis comica (34). Das spontane Lachen geschieht unkalkuliert. Das Lachen in Gruppen oder gar ein mehrheitliches Lachen ist dagegen für Fleury „der Anfang vom Ende“ (35): Lachen braucht zwar ein Echo. Wer aber einfach loslachen muss, rechnet nicht mit der Zustimmung von anderen.286 Der Lach-Ausbruch kann sich also in sozialen Bezügen verlieren und zu einem Lächeln mutieren. Nietzsche feiert das Lachen, das den Einzelnen isoliert; er kennt das „Eis im Lachen“. Das weise Lachen reicht allerdings auch über diese Abgründe hinweg; es vermag Stimmungen zu verändern oder auch Fragen komplett aufzulösen. „Verwandlung einer gespannten Erwartung Die Seitenangaben zu den Zitaten aus dem Werk Fleurys befinden sich im Haupttext. Vgl. Tolokonnikowa, N., Anleitung für eine Revolution, Berlin 2016, S. 138: „Hab die Dreistigkeit, laut zu lachen.“ Ähnliche Imperative, die als Reminiszenzen an 1968 gedacht sind, lauten: „Tue das Unmögliche!“ (42), „Leg das Pflaster frei!“ (64) – dies ist zugleich ein Songtitel – und „Gründe an deinem Siebzehnten eine Gang. Eine Gang, die politische Kunstaktionen auf die Beine stellt“ (37).
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in nichts, das ist Humor. Eine Begegnung mit dem Nichts, nichts weniger“ (36/ 37). Ernst ist dieses Lachen, weil es der Lauterkeit des Herzens entstammt oder mit einer klaren Urteilskraft einhergeht. Fleury sieht mit dem Lachen das freie Denken aufkommen:287 „Denn die vis comica ist die Kunst, den Geist dort eintreten zu lassen, wo ihn die Gesellschaft nicht haben will. In letzter Instanz ist diese Freiheit zu denken – die Freiheit, Gedanken anzuregen – die Freiheit der vis comica“ (37). Ausgehend von einem Bergson-Zitat „sobald man sich mit dem Körper beschäftigt, ist eine Infiltration der Komik zu befürchten“ (37) gibt Fleury zu bedenken, dass tragische Helden nicht essen/trinken, sich wärmen oder sich auch nicht setzen sollten, denn schon das Hinsetzen kann eine Tragödie in eine Komödie verwandeln. Ausgehend von der Reflexion über das komische Potential der Gesten verstrickt sich das Subjekt in Fragen der Selbstinszenierung. Das Lachen löst und neutralisiert die Selbstvergiftung/Verkrampfungen des Überich-Kontrolldiktats; der Lachende schöpft neuen Mut: „Lachen maskiert nicht das Reale, es lässt die Seele hervortreten und wird zur Individuationskraft“ (38). Der lachende Ausweg ist die ureigene Möglichkeit des freien Subjekts. Fleurys Phänomenologie des Lachens kommt schließlich unter erneuten Nietzsche-Anleihen dazu, Lachen mit Erfinden gleichzusetzen. Seelen werden entdeckt und gefunden, indem sie lachend erfunden werden: „Was ist eine Gemeinschaft wert, in der keine Seelen erfunden werden?“ (39) Nach der Eloge auf das Lachen und den Humor blickt Fleury aber auf deren Grenzen. „Humor ist eine Art des Wahrsprechens, die hinter den Gedanken die neuen und alten Formen der Gedankenlosigkeit aufdeckt. Er siedelt die Knechtschaft aus dem Heim des Menschen aus. Er deckt zwar das Fehlen einer Zweckmäßigkeit auf …“ (39), dient aber nicht als Sinnbasis. Im Kontext werbeindustrieller Formen der Bespaßung droht der Humor leerzulaufen. Gegenüber modernen Ausformungen der Barbarei sind nach Fleury wohl radikalere Antidote erforderlich, etwa Grunderfahrungen von Stille oder Selbsttranszendenz. Max Horkheimer meint, „dass die Menschen zu leeren Hülsen werden, wenn sie nicht vermögen, in einer Sache (in einem Thema/Studienfach oder einer Tätigkeit) aufzugehen“.288 Es Vgl. Hesse, H., Der Steppenwolf, Frankfurt a. M. (24. Aufl.) 1986, S. 62: „Einzig der Humor, die herrliche Erfindung der in ihrer Berufung zum Größten Gehemmten, … vollbringt das Unmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen. In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, ‚als besäße man nicht‘, zu verzichten, als sei es kein Verzicht – alle diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohlen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig.“ 288 Max Horkheimer (Der Begriff der Bildung, in: Sozialphilosophische Studien, S. 169) meint weiter: „Wer nicht aus sich herausgehen, sich an ein Anderes, Objektives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, der ist nicht gebildet“ (zit. n.: Bernhard, A., Pädagogisches Denken, Baltmannsweiler 2006, S. 80). 287
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kommt also darauf an, sich absorbieren zu lassen von etwas, was größer ist als man selbst; Humboldt und viele andere Pädagogen sprechen von der nötigen Hingabe. Wie im Witz von Radio Eriwan verwandelt sich – diesmal aber positiv – das Sich-in-einem-Thema-Verlieren in ein Sich-darin-Finden. Besagter Lévy aus dem erwähnten „Volksfeinde“-Band bringt unsere Bildungstradition auf den Punkt: Solche Bücher, in denen man sich verlieren und zugleich finden kann, sind nicht „die Spiegel“, sondern „das Gebälk des Universums“289.
3) Die Kunst der Perspektivwechsel – zum trivialen Verschmelzen von Philosophie und Film (Alltagsexistenzialismus) Peter Weibel, auch ein extrem radikaler Künstler und seit 20 Jahren Direktor des weltweit einzigartigen Medienkunst-Museums ZKM in Karlsruhe, meint: „Die Aufgabe der Kunst besteht darin, Türen zu öffnen, wo sie keiner sieht.“290 Kunst kann wie Philosophie nicht gelehrt, sondern muss gelebt werden. Kunst (wie Philosophie) bewirkt Perspektivwechsel. Sitins, Happenings oder die Aktionskunst legen nahe, dass jeder ein Künstler ist (Beuys); analog dazu sehen Existenzphilosophen, aber auch Diderot und Althusser, in jedem Menschen einen Philosophen.291 Jacob Taubes formuliert überspitzt: „Die Gedanken sind frei, aber nicht folgenlos.“292 Nichts anderes bringt Nadja Tolokonnikowa zum Ausdruck: „Mit jeder Geste setzt Du Normen. Keine Entscheidung, die du fällst, fällst du für dich“293; sie klingt allerdings hemdsärmeliger und pragmatischer. Lévy, B.-H., in: Houellebecq, M., Lévy, B.-H., Volksfeinde, Köln 2009, S. 297: „Die Bücher sind nicht der Spiegel, sondern das Gebälk des Universums; und daher ist es auch so wichtig, dass es weiterhin Schriftsteller gibt.“ Lévys Aussage steht im Kontext einer Eloge auf das Buch, einer vom Judentum inspirierten Feier des Buchstabens, vgl. S. 248f: „Damit Leben ist, muss man die guten Funken aus dem bis zur Weißglut erhitzten Stein heraushauen: die Wörter – das ist das Herzstück des Talmuds. Die eigentliche Logik des Lebens, sein eigentlich grundlegendes Element ist nicht die Zelle, die DNA etc., sondern das blasse Gewebe des Signifikanten, die feinen Ränke der Wörter. … Die großen Schriftsteller, die uns beinahe entmutigen, nach ihnen überhaupt noch zu schreiben: Fast alles in den Texten ist lebendig. Lange Zeit, sehr lange Zeit, nachdem sie geschrieben wurden, bleibt die Macht des Dramas erhalten, das sich durch sie entsponnen hat.“ 290 Szlauderbach, J., Forschungsstation auf Planet B, in: Bieber, A., Fereiss, L. (Hg.), Planet B. Ideen für eine neue Welt, Köln 2016, S. (12–17) 17. 291 Althusser, L., Einleitung in die Philosophie für Nichtphilosophen, Wien 2018, S. 25, 34–41. 292 Taubes, J., zit. n.: Öhler, A., Was hat er, was er nicht hat? Luther musste durch den Tugend-TÜV, bevor man ihn feierte. Bei Marx ist die Sache noch schwieriger. Ein Heldenvergleich, in: C&W vom 24.5.2018, Nr. 22, S. 1. 293 Tolokonnikowa, N., Anleitung für eine Revolution, Berlin 2016, S. 16. 289
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Der Beuys-Schüler Claude Jaté, der seine Kunst auf Gratis-Postkarten drucken lässt und damit den Kunstmarkt unterläuft, formuliert in einer weiteren popularisierten Version des Existentialismus: „Die Steigerung der Kunst ist die Lebenskunst.“ Jaté hat damit keine wohlfeile Wellness-Philosophie im Sinn, seine Ästhetisierung stellt sich eher auf die Seite Peter Rühmkorfs: „Wer sich nicht ruiniert, aus dem wird nichts.“ Die existentialistische Betonung der Entscheidung, des Vollzugs ist längst im populären Film angekommen: Man kann hier vernehmen, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist. Das existentialistische „Existenz denken heißt denkend Existenz verwirklichen“294 wird simplifiziert und ähnlich häufig kolportiert wie Rimbauds Einsicht, dass das wahre Leben abwesend ist (la vraie vie est absente).295 Die ethischen Optionen Sartres werden popularisiert, auch Serienproduktionen vermitteln zuweilen die Grundstimmung der Absurdität: In der „Polizeiruf 110“-Serie mit dem Titel „Demokratie stirbt in Finsternis“ (Matthias Glasner, 2018), entspinnt sich folgender Dialog: Der deprimierte Aussteiger Lennard Kohlmorgen, der früher als Arzt in der Entwicklungshilfe, nun im Gemüse-/Obstbau arbeitet und von Jürgen Vogel gespielt wird, meint: „Ich kann den Menschen nicht vertrauen, weil sie labil sind. Am Schluss rettet jeder seinen Arsch.“ Kohlmorgens Downshifting erinnert an Simone Weils Grundgeste des Sich-Aussetzens. Die Kommissarin Olga Lenski antwortet: „Ich glaube nicht, dass die menschliche Seele von Natur aus so ist. Sie wird korrumpiert Tag für Tag. Unter dem Druck der Welt verschrumpeln unsere Seelen.“ Der Landwirt reagiert darauf: „Ich brauche aber jemanden, dem ich vertrauen kann“. Die Kommissarin sagt schließlich: „Versuch es doch mit mir.“ Die Krimi-Folge stellt das Gedankenspiel vor, dass nach einigen Stunden Stromausfall die Zivilisation zusammenbricht und Anomie und Chaos ausbrechen.
Ferdinand von Schirachs Existentialismus stützt sich auf antike Klassiker; vgl. Schirach, F. v., Kluge, A., Die Herzlichkeit der Vernunft, Berlin 2017, S. 72: „Marc Aurel meint: ‚Der Zweck des Lebens ist die richtige Tat und das Geheimnis des Lebens ist das Leben selbst.‘ Ich bezweifele, ob man darüber hinaus noch zu weiteren Erkenntnis kommt. Für mich ist das alles“ Und weiter S. 83: „Wir leben nur einen Wimpernschlag, dann versinken wir wieder, und in dieser kurzen Zeit können wir noch nicht einmal das Einfachste: die Wirklichkeit verstehen. Aber wir können Wahrheit erschaffen. Sie ist nichts anderes als Formalisierung … (das geschieht im Prozess, Gerichtsverfahren).“ Existenzphilosophisch nimmt sich auch die Aussage von S. 169 aus: „Wir entscheiden, wer wir sein sollen. Wenn wir das nicht mehr glauben, müssen wir aufgeben.“ Der Gedanke der Möglichkeit oder die Fähigkeit zur Entscheidung sowie des Entscheidungszwangs (wir sind verurteilt zur Wahl; auch wer nicht wählt, hat sich dazu entschieden) lässt sich nicht mehr revidieren; das Subjekt muss sich daran messen. Der Freiheitsbegriff schafft sich also seine eigene Wirklichkeit. 295 Auch Fassin, D., Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Berlin 2017, S. 181, bezieht sich auf Rimbaud; ebenso aber auch Badiou. 294
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Im Unbehagen an der „Kommodifizierung“296 spiegelt sich das Bewusstsein des Risses, das Leiden an der eigenen Trägheit und dem Beharrungsvermögen ungerechter, zerstörerischer Strukturen. Auch der Titel der Ausstellung „Plan_et B – Ideen für eine neue Welt“, die im NRW Forum Düsseldorf 2016 gezeigt wurde, spielt mit der Erkenntnis, dass es den einfachen Plan B wie den Planeten B nicht gibt. Die Kuratoren beginnen ihren Ausstellungsband mit dem Imperativ: „Stay hungry, stay foolish“297 und variieren Elton Johns und Oscar Wildes Einsicht: „Leben ist das, was passiert, während wir eifrig dabei sind, andere Pläne zu schmieden.“
4) Hoffen lernen und die Kultur der Frage Der Düsseldorfer Kunstprofessor Ludger Schwarte meint: „Kunst konfrontiert die Gegenwart mit einer möglichen Zeit, der Zukunft.“298 Ebenso fordert der Philosoph Ernst Bloch uns auf, hoffen zu lernen.299 Der 68er-Slogan „Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche“300 verfolgt ebenfalls dieses Ziel. Er klingt provokant-neu, ist es aber keineswegs. Heraklit formulierte schon vor 2500 Jahren: „Wer Unverhofftes nicht erhofft, kann es nicht finden.“ Heraklits Begründung
Kluge, A., zit. n.: Museum Folkwang (Hg.), Alexander Kluge. Pluriversum (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung), Essen 2017, S. 105: „Der Kapitalismus verlangt, dass unser Leben aus Arbeit, Bedürfnissen und Befriedigungen besteht.“ Und S. 95: „Die Not, seinen Schmerz auszudrücken, ist die Bedingung jeder Wahrheit.“ 297 Bieber, A., Fereiss, L., Ideenkatalog für eine neue Welt. Stay hungry, stay foolish“, in: Dies. (Hg.), Planet B. Ideen für eine neue Welt, Köln 2016, S. S. (18–21) 18f. 298 Schwarte, L., Notate für eine Künftige Kunst, Berlin 2016, S. 79. 299 Nach Bloch ist eine Neubearbeitung des Märchens „Von einem, der auszog, das fürchten zu lernen“ nötig. Diesmal lautet aber der Titel und das Thema: „Von deinem der auszieht, das hoffen zu lernen“. Man getraut sich kaum, das bekannte und zugleich sehr schöne V. Havel-Zitat zu wiederholen: „Hoffnung bedeutet nicht den blinden Optimismus, dass es gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass es sinnvoll war, egal wie es ausgeht.“ Das Zitat scheint weit mehr angebracht zu sein als der Hinweis auf Fontane, der meinte, Leben bedeute Hoffnungen zu begraben (Fontane-Brevier, S. 104). Eine ähnlich gelagerte Zuversicht vermittelt Terry Eagletons Aussage: „Es ist realistisch zu glauben, dass sich unsere Lage erheblich verbessern lässt. Leute, die sich dieser Einsicht verweigern, sind Fantasten, die sich als Pragmatiker aufspielen“ (in: Eagleton, T., Hoffnung schöpfen, in: E. Finger: Diese Menschen lassen hoffen, in: Die Zeit vom 21.12.2016, Nr. 53, S. 55f). 300 „Soyons réalistes, demandons l’impossible!“, vgl.: Schulenberg, L. (Hg.), Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche. Rebellische Widerworte, Hamburg 2004 (hier auf S. 47 das Flugblatt des Öffentlichen Wohlfahrtausschusses der Vandalisten, Bordeaux 5/1968). – Bei dem Songtitel ähnlichen Inhalts „Das weiche Wasser bricht den Stein“ von Diether Dehm ist der Ursprung in der (taoistischen) Weisheitstradition offensichtlicher und leichter erkennbar; er klingt nach den 68ern, aber stammt aus den 80er Jahren. 296
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ist einfach: „Da es dann unaufspürbar und unzugänglich bleibt“ (DK 22 B 18). Die Aussage war schon damals als Mahnung zum Umdenken gedacht und an die gerichtet, deren Horizont den Durchmesser Null hat und die das dann als ihren unaufgebbaren Standpunkt verteidigen.301 Eine Anekdote, die der hochbetagte jüdische Literaturwissenschaftler George Steiner, nach eigenen Aussagen, sich täglich morgens beim Aufstehen in Erinnerung ruft, belegt ebenso den kontrafaktischen Hoffnungsgrund und die gleichzeitige Zuversicht in Bildungsangelegenheiten. – Witze darf man wie Mythen variieren (vgl. das Original in Kap. 2): Auf die göttliche Ankündigung, dass in eineinhalb Wochen die Sintflut kommt, rufen die Religionen ihre Gläubigen zur Einkehr und Besinnung auf, viele beginnen eine persönliche Schlussbilanz zu ziehen. Noch mehr Leute kümmern sich um ihre finanziellen Angelegenheiten. Ein Rabbi kommt aber munter in seine Schule, klatscht zu Beginn des Unterrichts in die Hände und sagt: „Also, 10 Tage sind genug Zeit, um das Atmen unter Wasser zu lernen.“ Gerade auf dem Gebiet der Bildung darf man Unverhofftes erwarten, und muss das Unmögliche von sich (von sich in erster Linie, nicht von den anderen) fordern: Die Selbstbeanspruchung, der Satz Kants und Fichtes „Du kannst, denn du sollst“, gilt hier ähnlich wie auf dem Feld der Ethik. In der Renaissance war es unter Gelehrten üblich, für sich ein Lebensmotto zu wählen. Der Sinnspruch wurde als Emblem kunstvoll dargestellt. Der Spruch des Renaissance-Architekten/ Künstlers Leon Battista Alberti bestand in einer geheimnisvollen und zugleich gewagt-unerbaulichen Frage: Er lautete: Quid tum? Was dann?302, es wird noch heute über ihre Intention und ihren Hintergrund gerätselt. Nach Alberti muss man zu seinen Fragen stehen; man darf sich also nicht mit vorgefertigten Antworten begnügen, es gilt, unsere transzendentale Obdachlosigkeit (Lukács) nicht zu kaschieren, die eigene Fraglichkeit nicht zu verdrängen, man muss sie im Gegenteil zum Lebensmotto machen und, wie Rilke formuliert, „die Fragen selbst liebhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.“ (Brief an Franz X. Kappus von 16. Juli 1903) Henrik Ibsens Gedicht „Ein Vers“303 ist den kurzen emblematischen Sinnsprüchen verwandt: „Leben heißt – dunkler Gestalten / Spuk bekämpfen in sich. Dichten: Gerichttag halten / über sein eignes Ich.“ Vgl. Keller, A., Sinn im Unsinn. Worüber Jesuiten lachen, Würzburg 2008, S. 39. Roeck, B., Gelehrte Künstler. Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance über Kunst, Berlin 2013, S. 5. 303 Ibsen, H., zit. n.: Mayer, M., Frankfurter Anthologie, in: FAZ vom 14.2.2017, S. 18. Ibsen schrieb (ins Album von Leopold von Sacher-Masoch; ebd.): „In unserer Zeit hat jede Dichtung die Aufgabe, Grenzpfähle zu versetzen.“ 301 302
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Heute sollten Sie ein gnädiges, gütiges Urteil über sich sprechen; die perfektionistischen Gespenster aus den Sozialen Netzwerken sollten heute zumindest schweigen. Wie Sie von Kafka gelernt haben, ist es schwierig, das Gericht einzudämmen. Denn alles kann zum Gegenstand des Prozesses werden. – Lähmenden Selbstverurteilungen und Selbstzweifeln entkommt man am leichtesten, wenn sie ein Gegenüber mit einer unmissverständlichen Geste wegwischt: Eindrucksvoll und lustig geschieht das in dem französischen Film „Verstehen Sie die Béliers?“ (Eric Lartigau, 2014). Hier übt eine Schülerin, die mit einem taubstummen Bruder bei ebenso taubstummen Eltern aufwächst – welch großartige Metapher für die familiären Verstehensprobleme: Für Heranwachsende sind gerade die nächsten Anverwandten unempfänglich und taub –, mit ihrem kauzigen Musiklehrer für ein Vorsingen am Konservatorium. Die Schülerin zweifelt an ihrer Gesangsbegabung und ihrem Talent, worauf sie den autoritär klingenden, aber selbstironischen Satz zu hören bekommt: „Zweifeln Sie an allem, nur nicht an mir“. „Es ist nur die halbe Wahrheit, dass am Boden der Büchse der Pandora die Hoffnung ruht“; Kluge betont weiter: „Die Zukunft erfindet sich mit Fragmenten der Vergangenheit“; sie stellt sich als eine besondere Form der „Montage“304 heraus. Sie ist poetisch-künstlerisch, ein Effekt des Sammelns, wie die Poesie insgesamt ein Sammelvorgang ist. Für Kluge sind Kunst und Wissenschaft keine getrennten Bereiche, sondern „nach vorwärts gerichtete Mythen, die nichts anderes sind als Erzählungen.“ „Es geht nichts über die Reparaturerfahrung“; das Pluriversum hat seinen Herzlichkeitsnukleus in der Suche nach Rettung, in der drängenden (aus der Herzpädagogik bekannten) Frage, wie man die Bombe im letzten Moment noch wird entschärfen können.305 Kluge stellt heraus, wir wohnen „am besten in der Unschärfe des Erzählens.“306 Daher darf man Johanna Wokaleks Schilderung in Erinnerung rufen: „Meine Erfahrung auf der Bühne wie im Leben ist: Man kann die Kraft entwickeln, sich selber zu retten. Und Rettungen sind nicht unbedingt äußere, sondern oft innere Vorgänge, seelische Befreiungen. Deshalb gefällt mir auch der Satz von Henrik Ibsen: ‚Rette mich vor mir selbst‘.“307
Obrist, H. U., Kluge, A., Im Pluriversum. Ein Interview, in: Museum Folkwang (Hg.), Alexander Kluge. Pluriversum (Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung), Essen 2017, S. 57 (Panofsky-Zitat). 305 Ebd., S. 63. 306 Kluge, A., in: Lethen, H., Steinwürfe von Nomaden, in: Museum Folkwang (Hg.), Alexander Kluge Pluriversum, S. (75–94) 77. 307 Wokalek, J., „Das war meine Rettung“; in: Zeit-Magazin vom 29.6.2017, Nr. 27, S. 54. 304
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Eine derartige Rettung ist nur über eine Steigerung der inneren Widersprüche denkbar: Kluge spricht darum auch bewundernd von Voltaire: „In seinem Kopf denken andere“.308 Auch Althusser rät dazu, Widersprüche in sich zu erzeugen, „den Widerpart in sich zu tragen“309; hybride Zustände kognitiver Überlastung sind anzustreben. Hybridität führt zur Öffnung der Kulturen.310 Sie ist darum nach H. Bhabha auch ein emanzipatorischer Begriff, mit Hoffnungen verknüpft; mit Variationen verbinden sich Destabilisierungen, Strategien der Subversion. Der Annahme der Komplexität auf kognitiver Ebene entspricht das Aushalten und die Pflege uneindeutiger, unübersichtlicher Zustände auf der sozialen Ebene.311 Demokratie stellt das institutionalisierte Provisorium, eine Feier des Imperfekten dar; sie beinhaltet die Weigerung, eine symbolische Ordnung oder institutionelle Formation für unveränderlich zu halten. „Demokratie ist nichts anderes als ein Name für alle jene Institutionen und Einstellungsweisen, die die Bürger eines Gemeinwesens auf symbolische Weise mit den Anforderungen konfrontieren, dessen Kontingenz und Konfliktualität zu akzeptieren. … Die Abwesenheit letzter Gründe, die zu akzeptieren das demokratische Dispositiv uns zumutet, produziert ein vages Unbehagen, das sich in der Suche nach Sündenböcken ausdrückt, denen man die Brüchigkeit der Fundamente des Gemeinwesens anlasten kann.“312 Kluge, A., in: Schirach, F. v., Kluge, A., Die Herzlichkeit der Vernunft, Berlin 2017, S. 68. Althusser, L., Einleitung in die Philosophie für Nicht-Philosophen, Wien 2018, S. 70f. 310 Lavagno; C., Kreolisierung und Hybridität. Das Andere der Ordnung bei E. Glissant und H. Bhabha, in:, Bröckling, U. v., Dries, C., Leanza, M., Schlechtriemen, T. (Hg.), Das Andere der Ordnung, Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist 2016, S. (223-239) 232. 311 Kluge, A., zit. n.: Potthast B., Geschichte und (Gegen-)Geschichten, in: Museum Folkwang (Hg.), Alexander Kluge. Pluriversum, Essen 2017, S. (107-116) 107, 111, begründet das Entstehen von Pluriversen in menschlichen Kompensationsversuchen: „Eine Realität, die Menschen vernichtet, ist ‚wirklich‘. Eine Wirklichkeit, die sich gegenüber Menschen nicht menschlich zeigt, wird von ihnen verleugnet. Das ist ebenfalls ‚wirklich‘. So leben wir notwendig in Parallelwelten … In der Geschichte existiert ein Antirealismus, der – vereinzelt und im Kleinen – das Böse und Grausame in der Welt nicht bestätigt. Es bleibt ein Rest an menschlichem Eigensinn noch in den schlimmsten Zuständen der Barbarei.“ 312 Marchart, O., Die Verteidigung der Korruption, in: Bröckling, U. v., Dries, C., Leanza, M., Schlechtriemen, T. (Hg.), Das Andere der Ordnung, Theorien des Exzeptionellen, Weilerswist 2016, S. (89-106) 104. Medientheoretiker mögen die Sit-ins der 68er zwar in der Sitzhaltung vor dem Fernseher vorformatiert sehen, die das Gerät von Autoritäten und Untergebenen, Eltern und Kindern gleichermaßen erzwang. Den diversen Aufbruchsbemühungen der 68er scheint aber nur schwer ein deutlicher Demokratisierungseffekt abgesprochen werden zu können. In keinem Punkt ist die Reminiszenz an 1968 brisanter als in der Warnung vor und der Sensibilisierung gegenüber autoritären Strukturen; das Aufkommen eines neuen „Autoritatismus“ sehen Soziologen mit der Beschneidung von Freiheitsrechten, dem Schüren von Ressentiments/Ängsten vor Fremden, einer sozialen Polarisierung/Entsolidarisierung sowie dem Sprachverfall, der Umdeutung von Geschichte, dem Bruch mit Erinnerungskulturen, und dem Ruf nach neuen starken Führergestalten heraufziehen. Im Verbund mit ökonomischen Analysen und ihrer Kapitalismuskritik erscheinen hier die Analysen zum autoritären Charakter der Frankfurter 308 309
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5) Herzensbildung Die bekannte Hollywood-Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig betonte in einem Interview, dass sie Literatur und Philosophie studiert hat: Sie nennt Nietzsche und Descartes. „Am meisten beeindruckt hat mich aber Montaigne. Er ist auch heute noch mein Lieblingsphilosoph. Seine Gedanken sind so wunderbar frei und unabhängig. Bei ihm gibt es diesen fundamentalen Humanismus und diese tiefen Einsichten darüber, wie Menschen tagtäglich leben.“ 313
Über das, was Gerwig en détail an Montaignes „Lebensphilosophie“ fasziniert, darf spekuliert werden. Man erfährt von Montaigne ja sogar intime Hygiene-Ratschläge und Tipps für das soziale Leben. Zu Montaigne sei hier nur erwähnt, dass er die Besonnenheit vor Umtriebigkeit und Schlagfertigkeit stellt314, sicher geht es aber Gerwig um einen suchenden Philosophiestil, der die Eindeutigkeitsbedürfnisse nicht befriedigt und Fragen in der Schwebe lässt.315 Das Sprichwort „Nicht minder als das Wissen / möcht ich das Zweifeln missen“ kommentiert Montaigne wie folgt: „Wer einem anderen blindlings folgt, folgt nichts. … wir sind keinem König untertan, jeder folge sich selbst.“316 Greta Gerwig erläutert den fraglichen Perspektivwechsel näher; sie bleibt nicht bei Autonomieforderungen stehen, sondern propagiert „eine Erziehung des Herzens“: Diese ist nicht
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Schule unvermindert aktuell; vgl. auch Marchart, O., Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, S. 326ff. Gerwig, G., „Ich wollte es immer allen recht machen“. Interview mit Ulrich Lössl, in: FR vom 18.4.2018, S. 20f. Montaigne, M. de, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1998, S. 327. Vgl. ebd., S. 123 (Kap. 38: Wie wir über denselben Gegenstand weinen und lachen). Ebd., S. 83. In diesem Kapitel zur Knabenerziehung heißt es auf S. 85f: „Man muss den Zögling dazu anhalten, in Gesellschaft seine Augen überall zu haben … Man flöße seinem Geist eine tüchtige Neugierde ein. Allem gehe er nach, auf alles, was um ihn bemerkenswert ist, achte er. … Ich habe im Titus Livius hundert Dinge gelesen, die ein anderer nicht darin gelesen hat. Plutarch wiederum las darin hundertmal mehr als ich, und vielleicht sogar mehr, als der Autor selbst hineinlegte.“ – Die hermeneutische Maßgabe Schleiermachers, den Text besser zu verstehen, als der Autor ihn verstanden hat, scheint hier präfiguriert. – Weitere Beispiele für Montaignes Sensibilität und Großmut: „Ich rede über alles plaudernd, doch rate stets nur zaudernd. Anders als die andern schäme ich mich keineswegs zu gestehen, dass ich nicht weiß, was ich nicht weiß“ (520f). „Jede Medaille hat ihre Kehrseite“ (521). „Starres Beharren auf der eignen Meinung zeugt eindeutig von Dummheit“ (542). „Wie wichtig ist es doch, die Phantasie zufriedenzustellen! Ihr kommt meines Erachtens die höchste Bedeutung zu, eine höhere als allem anderen … Das spanische Sprichwort ‚Gott schütze mich vor mir selbst!‘ gefällt mir daher in vielfacher Hinsicht …“ (549).
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
mit der Schule abgeschlossen, vielmehr hofft Gerwig, dass diese „mein Leben lang andauert“. Leben ist als kognitive Öffnungsbewegung und nicht als Abschluss-/Schließungsbewegung zu verstehen.317 Perecs Definition von Leben „von einem Raum zum anderen gehen, und dabei so weit wie möglich versuchen, sich nicht zu stoßen“318 könnte auch als Anpassungsprozess missverstanden werden. Es gilt, das Autonomiestreben und den emanzipatorischen Impuls, der mit Gerwigs philosophiegeschichtlichen Verweisen verbunden ist, nicht zu überhören. Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge, die beide gleichermaßen Juristen und Schriftsteller sind, umschreiben „die Herzlichkeit der Vernunft“ in ihrem gleichnamigen Dialog-Band wie folgt: „Intelligenz ist ein Fluchttier von Hause aus und will sich retten, … eine bedingungslose Suche nach Auswegen. Es geht um die ärztliche Tugend. Jemand ist unheilbar krank und wir finden doch noch einen Trick gegen die Natur.“ Auf Kluges Aussage antwortet von Schirach: „Für mich ist dieser Ausweg [der ultimative Trick gegen die Natur] Güte. Wenn ich einen Fragebogen ausfüllen und sagen müsste, was ich bei einer Frau oder einem Mann am meisten schätze, würde ich nicht Intelligenz, Schönheit usw. nennen, es ist Güte.“319
An den wiederholten Rekurs auf Interviews kann sich der banale Ratschlag knüpfen, wenn Sie keine Zeit mehr haben, ganze Monographien zu lesen, es mit derartigen Interview-Bänden zu versuchen. Wir brauchen nach von Schirach und Kluge für eine „Güte-Revolution“, die sich im Übrigen über 800 Jahre erstrecken wird, Schulen, in denen sich „Kantone des guten Willens“ ausbilden und „Wunderkammern“ entstehen, Wunderkammern, in denen zu enge Spezialisierungen und schizoide Realitätsabspaltungen überwunden werden.“320
Fassin, D., Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Berlin 2017, S. 34. Perec, G., zit. n.: Fassin, D., ebd., S. 10, Fassin bezieht sich direkt auf Perec, G., Das Leben. Gebrauchsanweisung. Romane, Zürich 2017. Mit dem Zitat gelingt es, den Bogen zum spatial turn, zum kulturwissenschaftlichen Raumparadigma, zu schlagen. 319 Schirach, F. v., Kluge, A., Die Herzlichkeit der Vernunft, Berlin 2017, S. 127f. Foster, C., „Tiere sind großartige Lehrer“. Interview mit Fritz Habekuß, in: Die Zeit vom 16.2.2017, Nr. 8, S. 39, sieht Güte auch durch die Beschäftigung mit der Natur entstehen: „Jay Griffith spricht von ‚wilder Güte‘. Diese Güte schließt pure Bösartigkeit gegenüber anderen Lebewesen aus … Griffith hat recht. Und genau diese Güte existiert nicht im Nationalismus. Niemand, der wirklich verbunden ist mit seiner Umwelt, hätte für den Brexit gestimmt oder würde Flüchtlinge ausschließen. … Egal wie gut unsere Anzüge geschnitten sind, wir bleiben wilde Kreaturen, und man täte gut daran, das nicht zu vergessen … es ist das Wilde, das uns am Ende tötet.“ 320 Schirach, F. v., Kluge, A., Die Herzlichkeit der Vernunft, Berlin 2017, S. 139. 317 318
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6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“
Wie Sie wissen, hat Georg Büchner gegen diesen Optimismus verschiedentlich polemisiert: „Nichts kommt einem doch in der Welt teurer zu stehen, als die Humanität.“ – Der offene Utopie-Diskurs der Literaten ist aber ein guter Anlass und die Gelegenheit, dass wir Lehrerinnen und Lehrer Ihnen, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, danken für Ihre Mitarbeit, Ihr Mitdenken und für Ihre Lebendigkeit, die ja immer auch etwas auf uns überspringt und uns fit-/wachhält.321 Wenn der Gründer des chinesischen Mega-Konzerns Alibaba Jack Ma auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum 2017 fordert, dass wir in den Schulen vor allem das kultivieren, was Künstliche Intelligenz nie können wird: nämlich Kreativität und Kunst, Ethik und menschliche Grundtugenden.322 Als extrem erfolgreicher Ökonom findet er große Aufmerksamkeit. Seine Vision für die Schule sollte nicht verwundern: Ma war selbst Lehrer und weiß um das Implizite, die unausgesprochene Wertschätzung als Basis der Bildung. – Wenn mit dem Verweis auf Mas pädagogischen Hintergrund seine schulutopische Aussage sofort wieder an Gewicht verliert, sollte das zu denken geben. Erst 2017 (und nicht bereits 1968) wurde der ursprüngliche hippokratische Eid, den Mediziner bei ihrer Approbation ablegen, im Sinne einer sozialen Sensibilisierung überarbeitet. Nun ist von einer wechselseitigen „Achtung und Dankbarkeit“ von Studierenden und Lehrern die Rede, und nicht mehr nur vom Respekt gegenüber Lehrkräften. Pädagogen ist generell klar, dass Unterrichten und schulische Interaktionen nur in einem fundamentalen reziproken Anerkennungsverhältnis möglich sind.323 Ein hippokratischer Eid für Programmierer, eine justiziable Selbstverpflichtung oder ein Ethikkodex für IT-Fachleute, mag opportun erscheinen, schließlich arbeiten diese an der Architektur unserer Kommunikation, unserer Weltbilder. Ein solcher Eid für Pädagogen erscheint dagegen wenig hilfreich, da eine weitere Verrechtlichung der Schule eine Erstarrung
Vgl. Rückert, F., Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hg. v. A. Schimmel, Frankfurt a. M. 1988, S. 282 („Alte und neue Welt“): „Von deinen Kindern lernst du mehr als sie von dir: / Sie lernen eine Welt von dir, die nicht mehr ist; / du lernst von ihnen eine, die nun wird und gilt.“ 322 Mas pädagogischer Ansatz zeigt deutliche herzpädagogische Komponenten: „Lehrer sein bedeutet nicht, ‚ich weiß es besser als du‘, sondern ‚ich weiß es besser, weil ich von anderen gelernt habe’. Ein Lehrer darf niemals aufhören zu lernen.“ Er fügt an: „Ändern wir nicht, wie wir unterrichten, dann haben wir in 30 Jahren große Probleme“ (vgl. http://www.medientraining-institut.de/2018/01/31/ starkes-statement-von-alibaba-gruender-jack-ma vom 04.06.2018). 323 Albrecht, H., Schweitzer J., Im Dienst der Menschlichkeit, in: Die Zeit vom 9.11.2017, Nr. 46, S. 40. Im zehnten Paragraphen der Eidesformel findet sich folgende leicht veränderte Formulierung: „Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, Kolleginnen und Kollegen sowie den Studierenden die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.“ Der 14. letzte Punkt des Eides bekräftigt nochmals die Selbstverpflichtung: „Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.“ 321
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
bedeutete und jeder in der Schule um das Implizite weiß, um das, was unausgesprochen vermittelt wird. Dankbarkeit und Achtung lassen sich nie ganz explizieren, sie müssen sich im wittgensteinschen Sinne „zeigen“. Wie sehr wir Ihnen dankbar sind, hat sich gezeigt und wird sich bei jedem Wiedersehen erneut zeigen. Unter Rekurs auf Gerwigs „Herzensbildung“ lässt sich resümieren: Wenn „Herz“, die Herzmetapher für die beglückend-belebende Sinnperspektive stehen, für die Sonnenstrahlen, die das Leben in ein sinnvolles Licht tauchen, so lässt sich überspitzt sagen, dass Bildung bedeutet, ein heißes Herz zu haben, nicht nur ein weises Herz, um das in den Psalmen gebetet wird (Ps 90,12): Aus der Einsicht in die eigene Endlichkeit mag Gelassenheit, aber auch leidenschaftlicher Eifer entstehen. Und die Annahme eigener Unzulänglichkeiten verwandelt das weise Herz in jedem Fall auch zu einem lachenden Herzen.
6) Das Lob des Umwegs (Schlussgedanke) „Kultur besteht“ nach dem Philosophen Hans Blumenberg „in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, sowie Aufwertung und Prämierung der Umwege“.324 Bei aller berechtigen Zielstrebigkeit und Ungeduld muss man sich nach Blumenberg also für den Umweg und ungeplante Überraschungen Zeit nehmen – Reden wie diese über sich ergehen lassen – und die Möglichkeit der Schleife, der dankbaren Geschenkschleife, in Betracht ziehen. Die Existenzphilosophen der 60er Jahre raten Ihnen allesamt, dass sich Ihr Leben nicht in der Addition von Erfahrungen/Erlebnissen oder Scheinen erschöpfen sollte (eine bloße Zielsicherung/Plansoll-Erfüllung verbliebe auch in der Und-und-und-Falle325), es sollte Ihnen vielmehr um das Experiment der Einverleibung (Nietzsche) gehen, den Versuch
Blumenberg, H., Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt a. M. 1987, S. 137 und weiter: „Daher hat die Kultur einerseits den Anschein mangelnder Rationalität. Umwege sind es aber, die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben … Die vermeintliche Lebenskunst der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei.“ 325 Schmidt, S. J., Entfernungen, Bielefeld 2017, S. 79. „gefragt/ ob – und wie – er / die innerste list / nein besser: die tragik / seines lebens / auf den (einen) begriff bringen könnte / antwortete er ohne zögern / die unendlich prägende / logik laute: / UND / immer nur und.“ Denn: „Es gibt nichts Beruhigenderes als ein Wörterbuch“ (Konersmann, Lexikon der Unruhe, S. 9); es bietet eine unverfängliche alphabetische Ordnung. Im Gegensatz zu additiven Rahmungen des Wissens muss die Schule mit Zäsuren und Zuspitzungen arbeiten, in denen das ungebändigte freie Flottieren von Signifikanten spürbar wird. – Die Abiturrede ist als letzte Gelegenheit der Popularisierung zu verstehen. Wer den klassischen Bildungsort verlässt, muss sich neuen Irritationen stellen. 324
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6.7 Leichte Bildung, „fröhliche Schule“
der Synchronisierung von Theorie und Praxis, oder die Treue zum „Wahrheitsereignis“ (Badiou).326 Dann wird Ihr weiterer Weg zu einer interessanten Seefahrt und es gelten für Sie die verheißungsvollen Worte Nietzsches: „Endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offenes‘ Meer.“ 327
Kluge erinnert an eine mögliche Etymologie der modernen Ratio/Vernunft, die im Französischen aufscheint und worauf J. Derrida erstmals hingewiesen hat: Arraisonnement bezeichnet die Überprüfung der Schiffsladung vor der Abfahrt und „arraisonner“: sich an jemandem wenden, jemand zu überzeugen versuchen, sich binden.328 Derrida und Kluge beschwören abschließend Ratio/Vernunft als (Selbst-)Bindung. Lehrer haben als Kontrolleure Ihrer Schiffsladung ausgedient; heute salutieren wir nur noch zu Ihrem Auslaufen aus dem Hafen, Ihrem letztlichen In-See-Stechen. Nietzsche beschreibt abschließend sein/unser Glück:
Badiou, A., in: Badiou, A., Tarby, F., Die Philosophie und das Ereignis, Wien Berlin 2017, S. 172: „Die Treue einem Ereignis gegenüber, die ermöglicht, Wahrheitssubjekt zu werden, kann schwierig sein. Früher oder später wird es politische Hindernisse geben, Ehekrachs oder Gleichgültigkeit dem anderen gegenüber, künstlerische Entmutigung, wissenschaftliche Sackgassen. Aber die Affekte, Enthusiasmus, Glück, Lust und Freude werden mir ermöglichen zu siegen. Unter der Bedingung, dass ich auf dem Weg der Treue, der Inkorporation weitergehe. Das ist die Ethik. Sie ist keine Menge von vorherbestimmten moralischen Regeln. Sie besteht darin, den durch ein authentisches Ereignis für mich geöffneten Weg zu verfolgen, weiterzugehen. Die Ethik ist also auch die Anerkennung der Existenz des Ereignisses durch den Menschen: an ein Ereignis zu glauben, dass sich etwas ereignen kann, das das Gegebene, die Dinge wahrhaftig verändert und nicht nur dem Anschein nach, wie man maschinell das Fernsehprogramm wechselt …“ 327 Nietzsche, F., Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 220 Nr. 343. Das sehr viel eingängigere Zitat von S. 179, Nr. 289, wurde schon in der ersten Rede verwendet: „Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen [Abiturientinnen]!“ – Als abschließender Bezug zu 1968 eignete sich auch der Schlusssatz aus Stanley Kubricks magischem Film desselben Jahres „2001: Odyssee im Weltraum“, wonach die Welt ein unauflösliches Rätsel ist. 328 Kluge, A., in: Kluge, A., Didi-Huberman, G., Emotion sagt nicht „ich“, in: Museum Folkwang (Hg.), Alexander Kluge. Pluriversum, Essen 2017, S. (95–104) 102. 326
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
„Seit ich des Suchens müde ward, / erlernte ich das Finden. / Seit mir ein Wind hielt Widerpart, / segl’ ich mit allen Winden.“329
Mein zweites Schlusswort, das ebenso mit großer Dankbarkeit verbunden ist, wendet sich an Herrn L., unseren scheidenden Abteilungsleiter. Entschuldige bitte, lieber R., dass ich mein Zeitlimit so hoffnungslos überzogen habe. Sperrige Themen und Witze-Erzählen brauchen so viel Zeit. – Du hast mir die unlösbare Aufgabe gegeben, fünf Minuten zu reden, Kulturwissenschaftler haben in der Zeit noch nicht einmal das Thema genannt, über das sie sprechen wollen. Ich habe überlegt, ob Deine unmögliche Vorgabe ein Koan sein soll, wie „mit einer Hand zu klatschen“, und dann gemacht, was ich wollte. Du verkörperst das Lernziel Menschlichkeit, das die Rede andeuten wollte; ebenso verkörperst Du die alte Pädagogen-Weisheit: „Man sollte nicht Fächer, sondern Menschen lehren“. Fast am Ende Deiner aktiven Schulzeit darf ich Dir im Namen aller Kolleginnen und Kollegen mit einem ganz kurzen Filmzitat, das meines Erachtens Superlativisches aussagt, danken. – Und alle, die den Film „Der Club der toten Dichter“ (Peter Weir, 1989) kennen und die Wonnen des Populären nicht verachten, werden mir Recht geben. – Der Ausspruch lautet: „Captain, mein Captain, ahoi!“. Denen, deren Filmgedächtnis Lücken aufweist, sei kurz erläutert: Mit diesem abschließenden Gruß drücken die Schüler ihrem scheidenden Lehrer (hier: die Kollegen ihrem Abteilungsleiter) äußersten Respekt aus und signalisieren, dass sie verstanden haben und seine Lektionen beherzigen wollen. Dass nun alle Kollegen wie im Film auf die Tische steigen, ist nach dem Drehbuch dieser Feier nicht vorgesehen und unterbleibt auch besser aus Sorge um die Gesundheit des Lehrkörpers. Vor allem, da der Lehrkörper nicht das dafür geeignete Schuhwerk trägt. Da Bezüge zu Filmen immer auch problematisch sind, wünsche ich Dir alternativ, dass bei Deiner Heimfahrt das Radio oder Deine Beifahrer für Dich Frank Sinatras „I did it my way“ singen. Da der Refrain passt, der Song insgesamt nur sehr bedingt, zurück zum Film: Bei jedem Film gibt es viele Outtakes, also Szenen, die der Regisseur gerne gezeigt hätte, aber die zu präsentieren kein Platz war. (Bei Reden verhält es sich genauso.) Ein Berufsleben erzwingt auch Kürzungen und Einschnitte. Daher der Wunsch, dass Du die berufsbedingten Einschränkungen revidieren und nun Deine Outtakes reintegrieren oder in neuen Vorhaben ausgiebig ausleben kannst. Lieber R., tausend Dank für alles, vor allem für Deinen libertären Geist, für Deine Geduld und Nachsicht sowie für Deine Menschlichkeit und Menschenfreundlichkeit.
Nietzsche, F. (Mein Glück), in: ders., Fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 17.
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6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik
Und nochmals an das ganze gewogene Abgänger-Auditorium, an R. und seine Abi-Truppe, gerichtet: Alles erdenklich Gute!
6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik „An meinen Bildern müsst ihr nicht schnüffeln, die Farben sind ungesund.“ – Rembrandt“330 „Kunst ist, das Wort Kunst definieren zu können! – Für mich stammt die beste Definition von Groucho Marx: Auf die Frage ‚what is art?‘ antwortete er: ‚the abbreviation of Arthur‘. – Wir brauchen Kunst nicht, um zu leben, dennoch können wir nicht ohne sie leben.“ – Simon de Pury331 „Täusche dich nicht: Nicht die letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich in sich selbst vertieft.“ – Paul Celan332
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, der Filmklassiker „Die Reifeprüfung“ von 1968 beginnt mit einer Abschlussfeier. Der 21-jährige Benjamin Braddock, ein erfolgreicher College-Absolvent, würde sich nach seinen letzten Prüfungen gerne zurückziehen (vielleicht ging es Ihnen vor ein paar Tagen ganz ähnlich). Die Eltern drängen ihn aber, an einer von ihnen organisierten Feier teilzunehmen. Benjamin, eindrucksvoll dargestellt vom damals schon 30-jährigen Dustin Hoffman, lässt sich geduldig von den Erwachsenen auf die Schulter klopfen; er reagiert sehr höflich und wohlerzogen, zum Teil aber auch überfordert, vor allem als ein älterer Gast ihn auf die Seite nimmt und ihm sagt: „Ich möchte dir nur eins sagen, Ben. Nur eins.“333 Es folgt eine bedeutungsschwere Pause. Benjamin und alle Zuschauer erwarten einen ultimativen Ratschlag, vernehmen aber den kurzen, elliptischen Satz: „Plastik, die Zukunft ist Plastik.“ Die Aussage erscheint äußerst deplatziert und heute nach 51 Jahren auf dem Hintergrund der Müllberge, der Mikroplastikablagerungen in der Natur
Rembrandt, zit. n.: Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 480 (Nr.818). 331 Pury, S. de, in: Beyeler Foundation (Hg.), Was ist Kunst? 27 Fragen 27 Antworten, Basel 2012, S. 103. 332 Celan, P., zit. n.: Hesse, B. (Hg.), Die schönsten Aphorismen, Frankfurt a. M. 2010, S. 180. 333 Vgl. das entsprechende Leitwort in: Fenichell, S., Plastic. Unser synthetisches Jahrzehnt, Berlin 1997, S. 6. 330
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
und in uns334 als eine treffende Prognose und ein düsteres Menetekel zugleich. Vielleicht rät der erfahrene Herr aber auch dem jungen Mann metaphorisch zu der Elastizität und Biegsamkeit, die der magischen Materie Plastik eigen ist. Das muss offenbleiben. Der Film enthält ja eine beißende Satire. Will man wegweisende/tiefsinnigere Einsichten vernehmen, die auch für die Lebensführung relevant sind, muss man Dichter und Schriftsteller zu sich nach Hause einladen – am einfachsten via Lektüre: Rainer Maria Rilke schlägt in seinem neunten Orpheus-Sonett (1922) die geheimnisvolle Formel vor: „Wisse das Bild“.335 Die Aufforderung lenkt unser Augenmerk auf die Kunst, nicht insofern sie ihren Stachel verloren, bildungsbürgerlich-gefällig und harmlos geworden ist, sondern insofern sie neue Interpretationen und ein neues Denken provoziert und uns mit Mehrdeutigkeiten und Abgründigem konfrontiert: Die folgenden Minuten sind also der ästhetischen Bildung gewidmet, einer Dimension, die in der normalen Schulkarriere und vor allem im Beruflichen Gymnasium leider zu kurz kommt. Das erscheint nur hinnehmbar und nicht so schlimm, wenn man sich das Diktum des Schulkritikers und Theologen Ivan Illich vergegenwärtigt: „Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir außerhalb der Schule gelernt. Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und oft trotz diesen.“336 Die Thematisierung der Ästhetik entspringt verschiedenen Motiven: Der Londoner Professor für Neurobiologie Semir Zeki betonte unlängst, dass ästhetische Erfahrungen „immer einen Großteil unseres Gehirns betreffen“337. „Die Wahrheit gibt es nur, wenn es ein Medium gibt, das sie zeigt oder auslöscht … Die Wahrheit hat die Struktur des Films“; das stellt de Sutter mit Blick auf Jean-Luc Godard heraus.338 Nach Bettina Banasch kommt es „jenseits der Erinnerungsleistung der Bildung elementar auf Bilder an; … so versteht bereits Montaigne Bildung als ‚Möblierung des Kopfes‘“.339 Dies bedeutet allerdings nicht einer Ästhetisierung, der Umwandlung von
Nach einer am 12.6.2019 veröffentlichten australischen Studie nimmt jeder Mensch pro Woche 5 Gramm Mikroplastik auf; das entspricht dem Gewicht einer Kreditkarte; und schon länger ist bekannt, dass jede Stunde auf der Erde zehn Tonnen Plastik produziert werden. 335 Der Hinweis auf das Zitat verdankt sich Boehm, G., Der springende Punkt. Über ikonische Lebendigkeit, in: Fischer-Gebors, M., Wirz, B. (Hg.), Leben verstehen. Zur Verstricktheit zweier philosophischer Grundbegriffe, Weilerswist 2015, S. 179–190. 336 Illich, I., zit. n.: Probst, M., Endlos Lernen, in: Die Zeit vom 17.1.2019, Nr. 4, S. 65. 337 Zeki, T., Stefan Kleins Wissenschaftsgespräche (33), in: Zeit-Magazin vom 2.1.2019, Nr. 2, S. 29–34. 338 Sutter, L. de, Metaphysik der Hure, Leipzig 2018, S. 12f. Und S. 28: „Das Kokette des Films ist der Gestus der Hure“. De Sutter hält aber auf S. 40 noch viel grundlegender fest: „In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es zahllose Zuhälter: … jeder Mann, der mehr vom Besitz als von der Liebe träumt.“ Wahrheit ist für Sutter Intensität, nicht ein lautes Evidentwerden, sondern eher die Irritation klarer Seinsmanifestationen (ebd., S. 96). 339 Banasch, B., Bildung, in: Pethes, N., Ruchatz, J. (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, S. 89–90.) 334
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6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik
Sinn- in Designfragen, das Wort zu reden oder eine Musealisierung der Welt zu propagieren, die einer Neutralisierung der Rolle des Einzelnen auf einen passiven Betrachterstatus oder eine Konsumentenrolle gleichkäme: „Musealisieren heißt Aneignung, institutionalisierte Klitterung“.340 Rancière stellt heraus, dass Freiheit vor allem ästhetisch vermittelt ist, denn Kunst provoziert und kultiviert Erfahrungen des Zwischen, der Spannung und Proliferation, des Abstands von der Logik; sie eröffnet buchstäblich erst den Freiraum, den Raum für die Freiheit.341 Für Iris Laner gehört zur ästhetischen Bildung darum auch Ideologie- und Herrschaftskritik, die die kurrenten Identitätslogiken und Vereinheitlichungstendenzen aufbricht: „Ästhetische Bildung schürt die Hoffnung auf dem Weg zu einer kosmopolitischen Welt, in der niemand ungehört bleibt, weil sie aus dem Rahmen fällt oder anderen die Fantasie fehlt, sich in sie einzufühlen.“342
1) „Wisse das Bild!“ – Erkenne dein Selfie! Wolfgang Ullrich kommt in seiner Studie über Selfies zu dem Schluss: „Als Millionen über Millionen weltweit damit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, begann nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte.“343 Eine billige Schelte oder ein pauschaler Alarmismus, die Warnung vor Dekadenz/Narzissmus, sind nicht die Sache des bekannten Kunsthistorikers. Ullrich meint: Das Selfie kolonialisiert unsere spontanen Gesten und unsere Mimik. Das Gesicht wird gerade neu vermessen, neu kartiert. Parallel zu den Kleidungscodes entstehen also nun neue soziale Regeln für den Blick und den Gesichtsausdruck. Ein Selfie anfertigen heißt eben: nicht nur ein Bild von sich machen, sondern sich zum Bild machen, eine Objektivierung von sich und seinen Gefühlen anbieten. „Nie zuvor wird so viel Kultur in jedem einzelnen Gesichtsausdruck gewesen sein.“344 Das Selfie ist also ein Ausdruck der zunehmenden Virtualisierung des Alltags, der Tendenz, das Privatleben immer mehr zu inszenieren, ein Moment der Hyperrealität.
Welzbacher, Das totale Museum, Berlin 2017, S. 70. Vgl. Rancière, F., zit. n.: Laner, I., Ästhetische Bildung zur Einführung, Hamburg 2019, S. 153: „Die Erfahrung des Schönen, die Erfahrung des weder … noch …, ist bereits die Erfahrung einer Spannung, der Gegensätze. Sie ist schon eine Erfahrung von Dissens, dem tatsächlichen Bruch … Das freie ästhetische Spiel ist im eigentlichen Sinn des Wortes ein aufschiebender Zustand, ein Zustand, in dem die Logik der Herrschaft aufgeschoben ist und Freiheit sich entfalten kann.“ 342 Laner, I., ebd., S. 159. 343 Ullrich, W., Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens, 2019, S. 66. 344 Ebd., S. 64. 340 341
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
2) „Wisse das Bild!“ – Beachte den Rahmen/den Frame! „Wisse das Bild“ bedeutet zugleich „Beachte den Rahmen“. Der Rahmen macht das Bild, wie der Notenschlüssel die Musik und der Kontext den Text. Das Zauberwort Framing hat gerade Hochkonjunktur.345 Frames sind Leitmetaphern, sprachliche Bilder oder mentale Konzepte, die die Koordinaten von Diskussionen, die Atmosphäre in der Gesellschaft insgesamt bestimmen … („Wisse den Frame“ heißt „Wisse das Klima“). Der Rahmen – das mag auf den ersten Blick etwas befremdlich klingen – besteht also in einem dominanten Bild, das alle anderen Bilder kontextualisiert und überlagert. Nehmen Sie die Rede von der „Flüchtlingswelle“. Durch den Frame „Flut“/“Welle“ erscheinen Flüchtlinge vor allem als Katastrophe und Gefahr, und nicht mehr als hilfsbedürftige Mitmenschen. Das vom Frame initiierte Bedrohungsszenario schränkt den Blickwinkel ein; es scheint erlaubt, sich einseitig auf die eigenen Interessen und die Selbsterhaltung zu konzentrieren; es scheint möglich, nun auch Flüchtlinge wie illegale Eindringlinge und nicht mehr nur Fluchtursachen zu bekämpfen. Markante Frames heizen die Stimmung auf, die Gesellschaft wird „thymotisch überversorgt“; Ängste, zu kurz zu kommen, keimen; der Binnendruck, der Gesellschaften formatiert, erhöht sich. Eifersuchtsreaktoren und Neidkraftwerke fahren ihre Turbinen hoch (Sloterdijk und Girard, der das mimetische Paradigma und die Mechanismen der Ausgrenzung analysiert hat, beschreiben die Stufen der Eskalation und die Phasen, die zu einer Abschottung oder zum Hass auf den anderen führen). Kurzum: Wer sich um die Frames keine Gedanken macht, ist leicht manipulierbar. – Der Ausflug in die politische Ikonographie verdeutlicht: Leitbilder/Frames formatieren die Wahrnehmung und geben den Interpretationszusammenhang vor, sie lenken und prägen die Bedeutungen einzelner Informationen, die in dem Frame erscheinen. Die Bildergedrängtheit unseres Denkens ist nicht zu vermeiden. Der amerikanische Medienwissenschaftler Klaus Krippendorff meint: „No reality can deny its embodiment.“346
Wehling, E., Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht, Köln 2016; Lakoff, G., Wehling, E., Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2007, S. 73: „Fakten, die unserem Common Sense widersprechen, prallen an den im Gehirn tiefverankerten Frames ab.“ Nach Lakoff ist der Begriff „Steuererleichterung“ keineswegs neutral, er legt vielmehr nahe, dass Steuern eine Last sind und die Verminderung von Steuern generell empfehlenswert ist. Die Suggestion der Objektivierbarkeit des Menschen geht von dem Ausdruck „Humankapital“ aus. Lakoff weist sehr eindrücklich darauf hin, dass etwa an griechischen Bussen „metaphoroi“ (Überträger) steht, sie von einem ursprünglichen Ort in eine Zieldomäne transportieren (ebd., S. 27f): Metaphern bringen also Sprache in eine Bewegung, die bewusstgemacht werden muss. 346 Krippendorff, K., Realism of Enactment. real doc. Philadelphia 1995. Unveröffentlichtes Arbeitspapier vom 16.10.1995, S. 3. Ähnlich sieht es auch Wehling, a. a. O., S. 72 und S. 66: „Achtung. 345
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6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik
3) „Wisse das Bild!“ – Bewohne Bilder, lege Bildatlanten an! Mit dem Imperativ „Wisse das Bild!“ ist die Aufforderung verbunden, Bilder nicht nur zu interpretieren oder zu meditieren, sondern sie zu bewohnen347, sich Bilderalben oder -atlanten anzulegen. Typische Konstellationen und Bedeutungsverschiebungen sind nur zu beobachten, wenn man wie Aby Warburg Bilder und Motive verschiedenster Epochen und Kulturkreise nebeneinanderstellt.348 „Wisse das Bild“ bedeutet also: Erkenne die Zusammenhänge und die Unverträglichkeiten, die mit dem Bild auftretenden Verwerfungen oder Traditionsbrüche. Die französische Philosophin Hélène Cixous hat – nach ihren drei Lieblingsbildern gefragt – freimütig auf folgende Gemälde verwiesen: a) „Der geschlachtete Ochse“ von Rembrandt zeigt ganz drastisch das rohe Fleisch, die kreatürliche Verletzbarkeit und Hinfälligkeit, das nackte Leben, den Abgrund des Realen, ebenso den menschlichen Eingriff in die Natur; das Innere des toten Tiers ist merkwürdig leer.349 b) Auf dem Gemälde „Hund“ von Francisco de Goya ist nur die Stupsnase eines Hundes zu sehen, der hinter einem Hügel mühevoll hervorlugt. Der spanische Künstler identifiziert sich selbstironisch mit dem Hund und deutet wohl an, wie wenig man erkennen, begreifen oder sichtbar machen kann. c) „Écriture rose“ des ungarischen Künstlers Simon Hantai umfasst Kritzeleien und Übermalungen. Das Gemälde erinnert an die Kritzeleien von Cy Twombly oder die ungegenständliche Kunst von Jackson Pollock; mehrere Sinnebenen überlagern sich bis zur Unlesbarkeit. Der Sinnentzug ist schwer zu ertragen. Kant
Man bekommt immer nur beantwortet, wonach man fragt! … Wer in Diskursen nicht sagt, was er ideologisch meint, der macht sich der Fehlkommunikation schuldig – mit allen Konsequenzen!“ Und S. 18: „Jedes Wort aktiviert einen Frame [Deutungsrahmen] und beinhaltet damit viel mehr, als wir zunächst meinen mögen.“ Wehling bestätigt die enge Korrelation von Hetze und Gewalt, die in der Diskussion um Rechtspopulismus, Verrohung der Sprache und Hate Speech-Debatten immer wieder vorgebracht wird: „Sprache übersetzt sich also direkt in Gedanken. Wenn Sie das Wort langsam lesen, verlangsamen sie automatisch Ihre Bewegungen. … Nur dann, wenn ein Fakt in einen aktivierten Frame passt, sinkt er problemlos und schnell in unser Bewusstsein. Und nicht zuletzt nehmen die über Sprache aktivierten Frames direkten Einfluss auf unser eigenes Denken“ (ebd., S. 40f). 347 Taylor, M. C., Saarinen, E., Imagologies, New York 1994, S. media philosophy 3: „Images must be inhabited not simply interpreted.“ 348 Beyer, A., Bredekamp, H., Fleckner, U., Wolf, G. (Hg.), Bilderfahrzeuge. Aby Warburgs Vermächtnis und die Zukunft der Ikonologie, Berlin 2018. 349 Vgl. Cixous, H., Max und Moritz und meine Mutter, in: Engelmann, P. (Hg.), Stören! Das Passagen Buch, Wien 2017, S. (100–117) 104: „Die Grausamkeit ist der Schlüssel des Menschen.“ Und unter Bezug auf die Kunst, die Musik ihrer Mutter, schreibt Cixous auf S. 114f: „Alles, was nicht gesagt werden kann, kann gesagt werden.“
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meinte: Wie auch immer wir abstrahieren und klare Begriffe erfinden, wir bleiben doch bildlichen Vorstellungen verhaftet.350
4) Bild und Bildung Wie Bild und Bildung zusammenhängen, macht uns der mittelalterliche Theologe und Mystiker Meister Eckhart deutlich. Das Motto „Wisse das Bild“ verweist auf den Ursprung des Wortes „Bildung“, „Sich-Bilden“: Das althochdeutsche „bilidon“ meint immer die konkrete, sinnliche Erfahrung des Gestaltens oder das passive Sich-Ähneln/Ähnlich-Werden. Bilden kann sich auch auf innerliche Vorgänge beziehen. „Bildung“ wurde im 13. Jahrhundert von Meister Eckhart zu einem Grundbegriff der Selbst- und Gotteserfahrung gemacht. Bildung/Sich-Bilden bedeutet für ihn einen Prozess des Formens und Geformtwerdens, eine sehr existentielle, persönliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, den Zusammenklang von Welt-, Selbst- und Gotteserkenntnis. Bildung ist kein planbares Vorgehen; sie entwickelt eine Eigendynamik, für Meister Eckhart bedeutet Bildung eine Transformation und Verwandlung, bei der man das Nützlichkeitsdenken, Zweckrationale überwindet und sich immer mehr von letzten Horizonten bestimmen lässt. (Der DominikanerMönch hat im Übrigen viele Begriffe geschaffen, die innere Vorgänge oder den Umgang mit sich beschreiben: Begreifen, Einsehen, Eindruck, Innigkeit, Dankbarkeit, Grundlosigkeit, Gelassenheit).351 Bildung stellt für Meister Eckhart einen dreistufigen Prozess dar. Sie umfasst a) das Entbilden; das Verlernen/Vergessen und Überwinden von Illusionen, unpassenden Frames; der Mensch löst sich vom Vorfindlichen ab; er wird sich seiner Bedürftigkeit bewusst; b) das Einbilden; das Sich-neu-Ausrichten an letzten Horizonten und Sich-Identifizieren mit biblischen Vorbildern; die Wirkung des Urbildes wird manifest und beginnt sich zu entfalten; klare Bilder lösen sich in dem Prozess der Angleichung immer mehr auf und werden Teil des Subjekts; c) das Überbilden: Was an Urbildern eingepflanzt ist, wächst weiter oder gewinnt immer mehr Raum. Bildung/ Sich-Bilden verwandelt sich also immer mehr in ein (von Gott) Geschaffen-Werden. Überbilden bedeutet eine selige Existenz, das Sein in der Ewigkeit, ein Durchleuchtet-Werden von Gott, die
Vgl. Stangneth, B., Hässliches Sehen, Reinbek 2019, S. 134 (Kant-Zitat): „Wir mögen unsere Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an.“ 351 Philipp, Th., Bilden bei Meister Eckhart. Der weibliche Einfluss auf die Spiritualität des Mittelalters, in: StZ 9/2018, S. (639–649) 640. 350
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schließliche Einheit von Gott und Mensch.352 Für Meister Eckhart geht es um eine Übereignung und letztlich ein Sich-fallen-Lassen in Gottes Wirklichkeit. Die komplexen Bezüge Meister Eckharts, der rastlos für seinen Orden tätig war, in seiner Theologie ein systematisches Anliegen verfolgte, also nur verkürzt als ein an Innerlichkeit interessierter Mystiker etikettiert werden kann, und an seinem Lebensende der Häresie angeklagt wurde, zur islamischen Aristoteles-Rezeption werden gerade erforscht.353 Neben dem aufklärerischen/klassischen Begriff von Bildung als Autonomie und Selbsterziehung ist der stärker sinnlich-künstlerische Bildungsbegriff der Transformation und Eigendynamik von Meister Eckhart für die heutige Pädagogik immer noch wegweisend.354
5) „Wisse das Bild!“ – Wisse die Form! Vielleicht gilt der Satz: Zeige mir deine Lieblingsbilder und ich sage Dir, wer du bist. Ich darf Ihnen kurz drei Skulpturen vorstellen, nicht unbedingt Lieblingskunstwerke, wohl aber Darstellungen mit einiger Aussagekraft. In Bezug auf Skulpturen bedeutet das Motto „Wisse das Bild“ „Wisse die Form“. Die folgenden Skulpturen verkörpern zentrale menschliche Gesten: Der französische Sinologe Jean François Billeter meint, dass das Wesen und die Triebfeder der Sprache in Gesten bestehen.355 Skulpturen frieren diese förmlich ein – was Walker Evans über gute Fotografien gesagt hat, gilt natürlich auch für Skulpturen: „Sie sind Literatur.“ Sie erzählen Geschichten.356
6) „Der Denker“ von Auguste Rodin (1880/1888) Die bekannte Figur erscheint in einem völlig neuen Licht, wenn man ihre Einbettung und ihren Hintergrund kennt: „Der Denker“ sitzt ursprünglich an zentraler Stelle in Rodins „Höllentor“, Ebd., S. 644–646. Vgl. Flasch, K., Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München (3. Aufl.) 2013. 354 Vgl. auch den Schlüsselbegriff „Bildung“ in der Brockhaus-Enzyklopädie (Mannheim 19. Aufl. 1996, Bd. 4, S. 313–315): Der Bildungsbegriff in seinen verschiedenen Ausprägungen (Bildung als Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen (H. Blankertz), Revolution der Denkungsart (T. Ballauff), Neuorientierung (H. v. Hentig oder G. Gamm), als „Öffnung“ (T. Wilhelm) oder „Dialog“ (M. Heitger)), wendet sich vor allem gegen monozentrische Ausrichtungen der Pädagogik, erzieherische Vereinseitigungen oder eindimensionale Lernkonzepte. 355 Billeter, J. F., Skizzen, Berlin 2018, S. 42: „Die Geste ist das Wesen des Satzes …“ 356 Evans, W., zit. n.: Cole, T., Vertraute Dinge – fremde Dinge, Berlin 2016, S. 188. 352 353
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einem sechs Meter hohen Portal mit 200 Figuren, das für ein Kunstmuseum vorgesehen war, das nie realisiert wurde; daher stellt das Höllentor einen Eingang ohne Gebäude dar. Reliefs mit Menschengestalten, Mischwesen und Tieren sind auf dem Tor versammelt. Rodin hat von 1880 bis an sein Lebensende an einer Gipsversion des Tores gearbeitet. Der Denker ist also kein isolierter, gelangweilt grübelnder Philosoph im Elfenbeinturm, wie man meinen könnte, wenn man ihn nur als „Single-Auskopplung“ kennt: Rodins Denker sieht das Leid um ihn herum. Er sieht, wie auf der einen Seite des Tores die Menschen aufzusteigen versuchen und auf der anderen Seite fallen. Wer den Denker näher betrachtet, erkennt seine vibrierende Hautoberfläche und die angespannten Muskeln. Er trägt gerade innere Kämpfe aus und zerbirst förmlich, explodiert fast357 (nicht unähnlich dem „Moses“ von Michelangelo, der – ebenfalls sitzend – zögert und seine Wut und seine Gefühle auch aufzuschieben versucht). Denken heißt für Rodin Mitfühlen.358 – Die Skulptur müsste also „Mitleidender“ heißen, der Titel „Denker“ stammt auch nicht von Rodin, sondern von seiner Gießerei; die Figur des Höllentors sollte an Dante und seine „Göttliche Komödie“ erinnern, die Rodin als Inspirationsquelle diente; daher wollte Rodin die Figur „Dichter“ nennen; herausgelöst aus dem „Höllentor“ wurde die Skulptur von 90 cm auf 180 cm vergrößert. – Rilke meint, das „Höllentor“ erzählt die gesamte fleischliche Geschichte der Menschheit; die innere Dramatik des Menschen wird hier nach außen projiziert und uns gegenübergestellt.359 Rilke spricht von einer „Riesenspielbank“, in dem das Verlangen sich in einem aufwändigen Kräfteverschleiß verbraucht.360 Der Sinologe und Kulturwissenschaftler Jean François Billeter spricht jedem Menschen, der nach innen gewendet ist und nachdenkt, „eine gewisse Schönheit“ zu:
Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 63f: „Doch jeder Denker, wenn er den Namen verdient, steht dem Erfrager Faust nahe.“ 358 Rodins Urfrage lautet: „Wozu das Gesetz, das die Kreaturen ans Dasein kettet, um sie leiden zu lassen? Wozu die ewige Lockung, die sie das Leben mit all seinen Schmerzen so lieben lässt?“ (zit. n.: Schmoll gen. Eisenwerth, J. A., Rodins Höllentor, in: Fath, M. (Hg.), Auguste Rodin. Das Höllentor, München 1991, S. (13–46) 44). 359 Anatole France (zit. n.: Fath, M. (Hg.), ebd., S. 156) interpretiert 1900 das Höllentor wie folgt: „Hier gibt es keine Dämonen mehr, oder wenn doch, so verbergen sie sich im Innern der Verdammten … Die gefallenen Engel, unter denen diese Männer und Frauen zu leiden haben, das sind ihre Passionen, ihre Leidenschaften, ihre Hassgefühle, das ist ihr Fleisch und ihr Denken … Unsere Folterer, die uns auf ewig martern, sind in uns. In uns tragen wir das Feuer, das uns verbrennt.“ 360 Rilke, R. M., zit. n.: Fath, M. (Hg.), ebd., S. 158: „Hier hungert die Menschheit über sich hinaus. Hier strecken sich Hände aus nach der Ewigkeit. Hier öffnen sich Augen, schauen den Tod und fürchten ihn nicht, hier entfaltet sich ein hoffnungsloses Heldentum, dessen Ruhm wie ein Lächeln kommt und wie eine Rose blüht und bricht. Hier sind die Stürme des Wunsches und die Windstillen der Erwartung, hier sind Träume, die zu Taten werden, und Taten, die in Träumen vergehen.“ Zu Rilkes Rodin-Rezeption: vgl. auch Rilke, R. M., Auguste Rodin, Frankfurt a. M. 1984. 357
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„Die Aufmerksamkeit, die er seinem inneren Geschehen schenkt, spiegelt sich in der Aufmerksamkeit wider, mit der ich ihn betrachte. … Mich berührt auch die edle Anmut des Menschen, der lernt, dessen ganze Aufmerksamkeit auf die Aktivität des Körpers und die entstehende Geste oder das neue Verstehen gerichtet ist. Die Anmut ist auf allen Stufen des Lernprozesses dieselbe. Lernen und Denken sind ein und dasselbe, so dass es falsch ist, das Lernen geringer zu schätzen als das Meistern.361
Billeter kommt schließlich dazu, Denken und Freiheit gleichzusetzen, Freiheit aus dem in unfreien Kontexten aufkommenden Wunsch nach Freiheit entstanden zu sehen.362 Höhere kognitive Leistungen integrieren elementarere Projektionen. Gemäß Billeter ist an Rodins Figur das Moment der Entstehung der Freiheit, des Aufkeimens von Transzendenz abzulesen. Und Freiheit besteht für Billeter in der Fähigkeit zum Neubeginn: „Die Idee des Subjekts … bringt unsere Fähigkeit ans Licht, Anfänge zu setzen. Wir tun dies, wenn in uns neue Synthesen entstehen und die älteren ersetzen oder in sich aufnehmen … Nicht das biologische Leben hat für den Menschen den höchsten Wert, sondern das Leben, das er durch die Integrierung in all ihren Arten und Formen in sich selbst hervorbringt.“363
Wenn das entscheidend Menschliche nicht souveräne Selbstbehauptung, sondern die Bewusstmachung und der Versuch der „Integrierung“ von Widersprüchen ist, so verkörpert Rodins Figur genau den menschlichen Prototypen.
7) „Der Schwebende“ von Ernst Barlach (1927) Die Skulptur bildete ein Mahnmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Sie galt den Nazis als entartet und wurde 1937 aus dem Dom entfernt und 1941 eingeschmolzen, von einem erhalten gebliebenen Gipsabdruck wurden nach dem Krieg drei Bronze-Figuren angefertigt. Die massive Skulptur hängt an zwei Eisenketten. (Barlachs Figuren sind wunderbar klar und einfach und Billeter, J. F., Ein Paradigma, Berlin 2017, S. 91f, in der griechischen Plastik sind die „schönsten Gesichter ausdruckslos“; „es sind denkende Gesichter“. 362 Ebd., S. 98f, zitiert zunächst Pierre Larousse: „Freiheit ist nichts anderes als die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten“. Unfrei entsteht in mir die Möglichkeit zur Freiheit, der Wunsch nach Freiheit. „Die Freiheit bildet sich von unten nach oben, wie das Denken. Freiheit und Denken sind wesensgleich. Sie sind letztlich ein und dasselbe.“ 363 Ebd., S. 107. 361
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blicken zugleich ruhig-vorsichtig und tief: Man nimmt vielleicht an, „der Schwebende“ ist ein Engel, Barlach selbst hat allerdings die Figur anders gedeutet: Sie repräsentiert die stillstehende Zeit während des Krieges. „Für mich hat während des Krieges die Zeit stillgestanden. Sie [die eigene Zeit] war in nichts anderes Irdisches einfügbar. Sie schwebte. Von diesem Gefühl wollte ich in dieser im Leeren schwebenden Schicksalsgestalt etwas wiedergeben.“364
Barlachs Skulptur verkörpert also das Menschliche, was aufgrund der herrschenden Verhältnisse keinen Boden nehmen kann, das Verlorene, das sich nicht konkret darstellen oder beheimaten kann. Die Gestalt gibt uns die Frage auf, was gegenwärtig ungedacht und übersehen wird. Der Frage nach dem, was hegemoniales Denken oder dominante Systeme ausschließen, verdrängen und übergehen, darf man nicht ausweichen. Barlachs Figur verkörpert die Gewissheit, dass der Rest nicht ganz verschwindet, sondern zumindest eine gespenstisch irrlichternde Spur hinterlässt. So berichtet der Reiseschriftsteller Chateaubriand von Papageien im südamerikanischen Urwald, die in den Bäumen flattern und Wörter der Völker zwitschern, die längst von Kolonialherren ausgerottet wurden; die Papageien tragen die Erinnerung an den ungeheuren Verlust weiter.365 (Die Erzählung, wonach Kultur nicht restlos ausgelöscht werden kann, erinnert an das apokalyptische Jesus-Wort (Lk 19,40): „Wenn diese (seine Jünger) schweigen, werden die Steine schreien.“)
8) „Der Atlas“ von Gustav Herold (1886/87) Die Titanen-Gestalt hat nach der griechischen Sage das Himmelsgewölbe an seinem westlichsten Punkt zu tragen. Sie kennen seinen Bruder, Prometheus. Schon antike Darstellungen wie der Farnesische Atlas zeigen den Titan, wie er eine Kugel, den Himmelsglobus, stemmt. Sie kennen die Atlas-Figur vom Dach des Frankfurter Hauptbahnhofs. Der Frankfurter „Atlas“ trägt die Erdkugel auf seinen Schultern; er ist seiner Aufgabe alleine nicht mehr gewachsen und hat als nützliche Helfer die Elektrizität und die Dampfkraft neben sich, personifiziert als junge Adjutanten; vor 130 Jahren waren die besagten technischen Erfindungen tatsächlich noch neu.366
Barlach, E., zit. n.: Probst, V. (Hg.), Ernst Barlach. Das Güstrower Ehrenmal, Güstrow 1998, S. 86. Billeter, J. F., Skizzen zur Wiederaufnahme und Vertiefung der Aufklärung, Berlin 2018, S. 55. 366 Winterson, J., Die Last der Welt. Der Mythos von Atlas und Herkules, München 2007. 364 365
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Die Skulptur deutet die Aufgabe an, die nach dem Philosophen Lévinas der Mensch schultern muss, auch wenn sie ihm zu schwer erscheint: „Nur ich kann mich dazu berufen fühlen, eine Verantwortung mehr zu tragen als andere; niemand sonst kann mich dazu verpflichten.“ Wir können uns also erwählt fühlen, übergroße Verantwortung für den Globus zu übernehmen. Eine aktuelle Atlasfigur – Sie ahnen es, auf wen ich hinauswill – ist die schwedische Schülerin und Aktivistin Greta Thunberg. Sie versteht ihr Klima-Engagement keineswegs als lästige Pflicht, sondern als Lebensprojekt.367 Wenn das langsame Beharren gemeinhin als ein Kennzeichen von Autisten, von Menschen mit Asperger-Syndrom gilt, verwandelte Greta Thunberg ihre scheinbare Schwäche und Behinderung in eine beispielhafte Tugend – sicher gegen alle Voraussagen ihrer Lehrer und Therapeuten: Thunbergs Ausdauer und dem Engagement der jungen Klima-Aktivistinnen von „Fridays for Future“ gelingt es vielleicht, das so dringend notwendige, weltweite Umdenken anzustoßen. Atlas-Figuren können in der Moderne die schwere Aufgabe nicht mehr alleine meistern; sie brauchen Hilfe, gerade junge Helfer scheinen, wie der Frankfurter „Atlas“ belegt, eine entscheidende Unterstützung geben zu können. Die Belastung auf den Schultern der jetzigen Generationen wächst. Wer auf die schimpft oder wütend ist, die einem die Bürde auferlegt und eingebrockt haben, ändert dadurch noch nichts. An der Atlas-Figur bestätigt sich eine alternative Definition von Aufklärung, die Kants berühmten Aufsatz vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ergänzt: Georg Christoph Lichtenberg meinte: „Aufklärung besteht in den richtigen Begriffen von unseren wesentlichen Bedürfnissen.“368 Das schließt das Eingeständnis Kafkas ein: „Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung darüber kommen lässt, wovon sie ablenkt.“369 Kafka destruiert jedoch auch die Verwendung des Geständnis-Begriffs: „Geständnis und Lüge ist das Gleiche. Um gestehen zu können, lügt man. Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken. Denn dieses ist man eben. Mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, das ist die Lüge.“370 Die aufklärerische Einsicht führt also direkt zu einer veränderten Praxis; Kafka fordert ein Sprechen ein, das keine Selbstbespiegelungen und selbstgerechten
Zeitungsartikel über Greta Thunberg: Kümmel, P., Weil sie wissen, was sie tun. Eine junge unbestechliche Frau ist die faszinierende öffentliche Figur dieser Tage. In ihrem Schatten wirken die Potentaten des Planeten wie irrlichternde Kinder, in: Die Zeit vom 11.7.2019, Nr. 29, S. 25; Weizsäcker, E. U. v., „Greta sollte den Nobelpreis bekommen“. Interview mit J. Wille, in: FR vom 24.6.2019, S. 14f; Otto, J., „Sie werden weitermachen.“ Warum gehen Schüler lieber auf die Straße als in den Unterricht? Sind die Klimastreiks ein Angriff auf die Schulen. Eine Rektorin (Birte Güting) und ein Politiker (A. Lorz) im Streitgespräch, in: Die Zeit vom 11.7.2019, Nr. 29, S. 57. 368 Billeter, J. F., Skizzen zur Wiederaufnahme und Vertiefung der Aufklärung, Berlin 2018, S. 88. 369 Kafka, F., zit. n.: Lamping, D., Kafka und die Folgen, Stuttgart 2017, S. 85. 370 Kafka, F., zit. n.: ebd., S. 12. 367
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Entschuldigungen oder Rechtfertigungen duldet. Kafka fragt nach einer Alternative zu Theorie-Praxis-Unterscheidungen. Atlas-Figuren und Atlas-Mythos konfrontieren uns unerbittlich mit der Bürde, die der Vernunft eingeschrieben ist: So beinhaltet Aufklärung heute ein präzises Wissen darüber, was wir wirklich brauchen oder verbrauchen dürfen; die Anerkennung der Kohlendioxidmenge, die ein einzelnes Individuum inmitten von 8 Milliarden Zeitgenossen jährlich verbrauchen darf (etwa zwei Tonnen), führt zu einem sofortigen Stopp des Konsums und der (Reise-)Tätigkeiten, die mehr beanspruchen (so zumindest das Klimagerechtigkeitskonzept von Niko Paech). Kants Forderung, das eigene Handeln und Wollen der Universalisierbarkeitsprüfung (Könnte das Verhalten als Maßstab für alle dienen?) zu unterziehen, stiftet einen unabweisbaren Orientierungsrahmen, der in westlichen Lifestyle-/Selbstverwirklichungskontexten noch Gegenreaktionen hervorruft oder verdrängt wird. Die Kunst, die ein Atlas-Bewusstsein provoziert, bedient also nicht „den einzig wahren Wunsch des Menschen, beschwichtigt zu werden“ – „den Wunsch, der in Musestunden ans Licht kommt“ (Joseph Conrad).371 Der Zukunfts- und Stadtforscher Paul Virilio schlug vor, Pannenmuseen einzurichten, die an Unfälle, Börsen-Crashs, Abstürze, Katastrophen erinnern; sie sollten Zukunftswerkstätten und Folgenforschungsuniversitäten ergänzen.372 Der Besuch eines solchen Museums dispensiert aber nicht vom Gang ins Kunstmuseum, von der Beschäftigung mit Ästhetik. Diese verweigert sich einer Einengung des Freiheitspotentials, ebenso des Hoffnungs- und Kritikpotentials:373 „Der Dialog mit den Toten darf nie abbrechen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist“ (Heiner Müller).374 Billeter, ein Grenzgänger zwischen chinesischer und europäischer Kultur, hebt hervor: Die ästhetische Ausrichtung rettet den Menschen ganz buchstäblich. Zivilisation ist das, was Conrad, J., zit. n.: Eagleton, T., Literatur lesen. Eine Einladung, Stuttgart 2018, S. 126. Virilio, P., in: Probst, M., Endlos Lernen, in: Die Zeit vom 17.1.2019, Nr. 4, S. 65. Dazu passt die Aufforderung von Quent, M., Kon-Formismen, Leipzig 2018, S. 14: „Ohne Zweifel gibt es heute ein mediales Übermaß an Pseudo-Debatten, … Versuchen wir einer Art des kritischen Denkens treuzubleiben, das die Formen der Pseudo-Debatten und Pseudo-Kritiken hinter sich lässt. Seien wir skrupel-, aber nicht teilnahmslos. Seien wir unerbittlich, aber nicht zynisch. Verlassen wir unsere Freunde [Komfortzone], betreten wir vermintes Gelände.“ Quents Schrift endet mit den Worten, ebd., S. 63: „Ein politisches Leben beginnt dort, wo der Kampf um die Durchsetzung von Interessen endet. Für das Außergewöhnliche, das Unvorgesehene, das Exzentrische.“ 373 Agamben, G., Das Abenteuer. Der Freund, Berlin 2018, S. 67f, stellt heraus, „Wenn die letzte Gabe der Pandora, die Hoffnung, in der Büchse verbleibt, dann deshalb, weil sie ihre wirkliche Erfüllung in der Welt gar nicht erwartet.“ Und nicht, weil sie der Grund allen Übels wäre; sondern von der Unerfüllbarkeit lebt. Agamben, ebd., S. 68, interpretiert Röm 8,24 – „In der Hoffnung sind wir gerettet“: „Wir können „nur als Unrettbare – schon Gerettete – auf Rettung hoffen. So wie sie die Erfüllung übersteigt, überschreitet die Hoffnung auch das Heil – ja selbst die Liebe“. 374 Osten, M., „Gedenke zu leben. Wage es, glücklich zu sein. Goethe und das Glück, Göttingen 2017, S. 114. Das Heiner-Müller-Zitat bildet den Schlusssatz der Abhandlung über das Glück. 371 372
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uns vervollkommnet. „Wer die Schönheit gekannt, gesehen hat, muss nicht, er kann sterben, denn er hat eine Vollkommenheit gesehen.“375 (Bei Rilke fand sich noch die Formulierung der Zwangsläufigkeit, der Tödlichkeit des Schönen.) Billeter feiert den nichteliminierbaren Pluralismus der Kulturen, Künste und Sprachen und sieht die „Integrierung“ als eigentliche philosophische Aufgabe an. Der Integrierungsbegriff scheint kein „reizvoller Begriff “ zu sein, er vermag aber nach Billeter aus dem Unbehagen der Spezialisierungen herauszuführen und eine Verbindung diverser Bereiche kleiner und großer Relevanz, die Beziehung von Tiefem und Höchstem zu ermöglichen und zum eigentlich Menschlichen zu leiten.376 Im Sinne Billeters lässt sich das folgende integrierende Fazit festhalten: Kunst macht es möglich, „in Ketten zu tanzen“, wie Nietzsche sagt,377 d. h. die Sorge um das Ganze mit einem Leichtigkeitsversprechen, einem spielerischen Moment zu verbinden, den Daseinsgehorsam mit dem Überflüssig-Zweckfreien zusammenzubringen. Epiktets Sorglosigkeitsversprechen „Me phylatte! Sorge dich nicht!“, das auch Verausgabungen nicht scheut, gilt es nicht zu überhören und paradoxerweise mit dem Orakelspruch von Delphi „Melete to pan! Sorge dich um das Ganze!“ zu verbinden. Wir brauchen die Kunst als Quelle der Erkenntnis, der Inspiration und Infragestellung. Cixous spricht davon, dass sie jeden Träumer/Traumverwirklicher einen Dichter/eine Dichterin nennt, der/die „sein/ihr Leben als Zeit der ‚Annäherung‘ verwendet“. „Man muss viel gewandert sein, um endlich unser Bedürfnis, zu verschleiern oder zu lügen oder zu vergolden, hinter sich zu lassen. Das Vergoldungsbedürfnis hinter sich lassen, das wäre die Passion nach Rembrandt.“378 Splett präzisiert das: „Rembrandt verwandelt – und das Verwandeln können ist die Mitgift des großen Künstlers. Nicht nachahmen, nicht Naturalismus. Auch nicht freihin erfinden, auf Kosten der Natur und aus alberner Verachtung des Gegenständlichen, sondern verwandeln! Das ist die Kunst. Verwandeln.“379 Billeter, J.-F., Skizzen zur Wiederaufnahme und Vertiefung der Aufklärung, Berlin 2018, S. 86. Ebd., S. 111. 377 Nietzsche, F., zit. n.: Hamika, I., Seifert, E., Die Wette auf das Ubw. Oder was sie schon immer über Psychoanalyse wissen wollten, Wien (2. Aufl.) 2018, S. 201f. 378 Cixous, H., Schriften zur Kunst, Berlin 2018, S. 106 und S. 127f: „Was das Leben einer Person größer macht, das sind die unmöglichen Träume, die nicht zu verwirklichenden Wünsche. Der noch nicht verwirklichte Wunsch … [Cixous kommentiert, dass Monet dreißig Gemälde verbrannte]. Aus unserer Sicht waren diese Gemälde ‚schön‘, aus seiner Sicht sind sie Hindernis auf dem Weg zum Letzten. Seine Unzufriedenheit ist Hoffnung, Erhoffen des Unmöglichen. Sich noch einmal zur Sonne zuwenden, ist ein Glaubensakt. Die Sonne zu schreiben ist genauso unmöglich, wie die Luft zu malen. Eben das will ich tun.“ 379 Splett, J., Philosophie für die Theologie (Hg. v. P. Hofmann u. J. C. Pech), Heiligenkreuz im Wienerwald 2016, S. 298. 375 376
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6 Linker Vorhof: „Schulweisheiten“ und „Herzensbildung“
Schon der einfache „Respekt vor den Errungenschaften und Anstrengungen von anderen“ verlebendigt uns und lässt uns uns selbst verstehen, so der georgische Philosoph Merab Marmadaschwili. Er spricht hier nicht nur von Anerkennung, sondern von „einer Art Auferstehung“. Da es in der Kunst wie in der Bildung um Wirklichkeitsformen und Transformation/Verwandlung geht, versteigt er sich sogar zu der Aussage: „Sie ist nicht ein Abbild des Lebens, sie ist das Leben selbst.“ Die lapidare Feststellung „Wenn das Leben kommt, geht die Kunst“ ist also nicht richtig. Leben und Kunst vermählen sich oder verwandeln sich ineinander. Ein Beispiel für diese Transformation gibt Ahmet Altan: Zusammen mit seinem Bruder wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Beiden wurde eine Beteiligung am Putsch gegen Erdogan 2016 zur Last gelegt. Bereits sein Vater und sein Großvater waren in der Türkei inhaftiert: Er schreibt in der Haft weiter und rebelliert mit den Worten: „Die mich hier eingesperrt haben, mögen die Macht dazu besitzen. Doch mich im Gefängnis festzuhalten, dazu reicht ihre Macht nicht. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder, wo ich bin, noch, wo ich nicht bin. Ihr könnt mich einsperren, wo immer ihr wollt. Auf den Flügeln meiner unendlichen Vorstellungskraft werde ich die ganze Welt bereisen. Außerdem habe ich überall auf der Welt Freunde, die mir beim Reisen helfen, wobei ich die meisten von ihnen überhaupt nicht kenne. … In meiner Gefängniszelle eingesperrt, bereise ich die ganze Welt. … Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten. Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.“380
Altan schreibt, dass er nicht schizophren erscheinen will, und spricht von einer „göttlichen Arroganz des Schriftstellers“, ebenso von einem „Selbstvertrauen, das wie eine Perle in einer soliden Schale der Literatur herangewachsen ist“ und von einer „mir durch den stählernen Panzer meiner Bücher garantierten Unverletzlichkeit“.381 Altan gelingt es also, aus dem Gefängnis he Altan, A., Ich werde die Welt nie wiedersehen. Texte aus dem Gefängnis, Frankfurt a. M. 2018, S. 172– 173: Altan ist durchaus selbstkritisch: „Wie Sie sicher bereits erraten haben, besitze ich eine göttliche Arroganz, die, obwohl selten eingestanden, den Schriftstellern ureigen ist und seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weitergereicht wird. Dazu kommt ein Selbstvertrauen, das wie eine Perle in einer soliden Schale der Literatur herangewachsen ist, und eine mir durch den stählernen Panzer meiner Bücher garantierte Unverletzlichkeit.“ Altan beschreibt nach 12 Tagen in einem dunklen Kellerverlies den Moment, in dem seine Phantasie zurückkehrt und er sie als Kraftquelle entdeckt, als Gottesgeburt und Rückkehr seiner eigenen Zeit (S. 87f). Altan wendet sich gegen den Eindruck, er sei mutig. Er schreibt aus einer Notwendigkeit heraus. 381 Ebd., S. 173. 380
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6.8 Bild und Bildung – Skizzen einer schulischen Ästhetik
raus, das ihn brechen und mundtot machen sollte, völlig kontrafaktisch einem ungerechten Regime zu drohen; er braucht nicht den Untergang der Unterdrücker zu prophezeien, denn mit seiner triumphierenden Geste erhebt er sich schon jetzt über sie.
9) Schlussgedanke – Schlusswunsch Auch wenn Sie mit dem heutigen Abend keine Schüler mehr sind, werden Sie sich doch – wie wir alle – ein Leben lang bilden und im Bildungsprozess involviert bleiben: Der bekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach meinte: „Wir suchen die Bücher, die für uns geschrieben sind.“382 Daher der Wunsch: Mögen Sie die Bücher finden, die sie weiterbringen; mögen Sie die Bilder und Kunstwerke entdecken, die Sie anrühren, wachhalten und irritieren – durch alle Filterblasen hindurch. Mögen Sie also auf die Werke stoßen, die Sie einerseits in Kontakt mit sich bringen und andererseits eine Distanz zu Ihnen herstellen: Mögen Sie die Poesie und die Musik entdecken, „die imstande ist, die dem Wort unzugänglichen Regungen der Innenwelt aufzunehmen“ (Milan Kundera).383 „Am anderen Ende der Sprache beginnt die Zärtlichkeit“, verheißt der Schriftsteller Lukas Bärfuss.384 An dieser Stelle können Worte enden … Goethe gibt Ihnen einen letzten freundlichen Hinweis: „Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen.“385 Mit unserem Abschied heute verbindet sich die Hoffnung auf ein Wiedersehen, „irgendwo … irgendwann“. Wir Kollegen freuen uns jedenfalls immer über Lebenszeichen von Ihnen, wir danken Ihnen für Ihr Engagement, Ihre Verstehensbemühungen, für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Freundlichkeit und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles erdenklich Gute.
Schirach, F. v., Kaffee und Zigaretten, München 2019, S. 122. Kundera, M., Der Vorhang, München Wien 2005, S. 120. 384 Bärfuss, L., Krieg und Liebe. Essays, Göttingen 2018, S. 64. Alexander Pope meint: „For fools rush in where angels fear to tread“, „Nur Toren stürmen hinein, wohin selbst Engel sich zu treten scheuen“ (Eagleton, T., Literatur lesen. Eine Einladung, Stuttgart 2016, S. 164). Und nach Giorgio Agamben lässt sich präziser sagen, dass der Abschied vom Wort mit der Ankündigung seiner Wiederkehr zusammenfällt (vgl. Agamben, G., Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 2018, S. 156f). 385 Goethe, zit. n.: Radiobeitrag „Wenn Menschen mitten im Leben den Beruf wechseln“, DLF vom 8.6.2019. 382 383
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7. Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe (Theoriebildung als Stachel des Widerstands) „In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ – Walter Benjamin1 „Keinen Widerstand zu leisten, heißt nicht zu denken. Nicht zu denken, heißt das Risiko nicht riskieren.“ – Alain Badiou2 „Habe Mut, Angst zu haben, und ängstige deinen Nächsten wie dich selbst, damit du und er Mut zum Widerstand gewinnen.“ – Günther Anders3
Zwei theorielastigere, dem Schulalltag enthobene Beiträge sollen den bunten Reigen der herzpädagogischen Tour d’Horizon abrunden. In den Schulen vor Ort scheint es ein Denkverbot zu geben, das eine offene Infragestellung gegenwärtiger Qualitätssicherungsbemühungen unterbindet. Dabei kann sich eine Problematisierung des Qualitätsmanagement-(QM)-Letztbegriffs – wie zu zeigen ist – auf elaborierte philosophische und pädagogische Studien stützen. Die Kritik an kurrenten schulischen QM-Programmen fußt auf der grundsätzlichen Diagnose manifester Selbststeigerungstendenzen der kapitalistischen Leistungsreligion, einer theologieblinden Verobjektivierungswut oder kompetenzfixierten Erziehungstechnologie (7.1). Da Philosophie nach Catherine Malabou das untersuchen muss, was das Leben unmöglich macht4, stellt der QM-Perfektionismuskult ein geeignetes Ausgangsthema dar.
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2 3
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Benjamin, W., Über den Begriff der Geschichte, VI; in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 144. Badiou, A., Über Metapolitik, Zürich Berlin 2003, S. 22. Anders, G., zit. n.: Wiebicke, J., Dürfen wir so bleiben, wie wir sind. Gegen die Perfektionierung des Menschen – eine philosophische Intervention, Bonn 2013, S. 212. Malabou, C., Ontologie des Akzidentiellen, Berlin 2011, 94: „Die kommende Philosophie muss dieses gescheiterte messianische Denken erforschen.“
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Das zweite Kapitel liefert den Nährboden der Kritik und weist einen Ausblick aus der QMSackgasse; es stellt die Grundzüge einer elementaren (lebensweltlich verankerten)/relationalen (zwischenmenschliche Mehrdimensionalität fokussierenden) Theologie bereit (7.2).5 Indem die elementare/relationale Theologie Erfahrungsbezüge für eine Rede vom Unbedingten aufzeigt, bietet sie auch Anknüpfungspunkte für ein interdisziplinäres Gespräch mit der Pädagogik. Sie weist Geschenkerfahrungen (Bultmann, Hasenhüttl), das Berührtsein vom Blick des Anderen (Lévinas) und irritierende Restinklusionen (Žižek) als Momente der christlichen/trinitarischen Gotteserfahrung aus. Um unhintergehbare Sinnerfahrungen, Offenbarung von Letztgültigem in der mitmenschlichen Begegnung und Geschichte zu denken, sind die Hermeneutik der Präsenzerfahrung, das phänomenologische Spurdenken und die idealistisch bzw. psychoanalytisch orientierte Akttheorie zusammenzuführen. Theologische Bildung bedeutet: relational auf dreifache Weise vom Unbedingten-Unverfügbaren unterwiesen zu werden. Die in diesen Zusammenhang gehörenden Überlegungen zum Verhältnis von Theologie, Pädagogik und Kunst können hier nicht erörtert werden, sie bleiben einer eigenen Publikation vorbehalten.
7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/Überich-Krampf (elementare Religionskritik) „Ein Unterschied, der dem Verstand nichts gibt, ist kein Unterschied.“ – Johann Wolfgang von Goethe6 „Messen bedeutet Stören. … Beobachten und Stören gehen unweigerlich miteinander einher. … Jede Beobachtung stört das beobachtete Stück Welt und vermittelt nur Kenntnisse über ein Universum, das schon Geschichte geworden ist.“ – John Brockman7
Das Kapitel 7.2 geht auf einen Beitrag des Autors zur Tagung zur Historischen Bildungsforschung „Erziehung als ‚Entfehlerung‘“ vom 3.–5.12.2015 an der Universität des Saarlandes zurück, vgl. den Aufsatz „Wissen um das Nichtobjektivierbare“, in: Conrad, A., Maier, A. (Hg.), Erziehung als „Entfehlerung“. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, Bad Heilbrunn 2017, S. 227–244; es handelt sich um eine Kurzfassung der Monographie: Wallich, M., Minusglaube. Gott ohne Grund, ohne Sein und ohne Symbol – Grundmuster elementarer/relationaler Theologie, St. Ingbert 2015. 6 Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 435 (Nr. 510). 7 Brockman, J., Nachworte. Gedanken eines Wegbereiters der Dritten Kultur, Frankfurt a. M. 2014, S. 143. 5
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
„Der Imperativ der Transparenz bringt jede Distanz und Diskretion zum Verschwinden. Transparenz bedeutet totale Nähe und Abstandslosigkeit, totale Promiskuität und Permeabilität, totale Exponiertheit und Exhibition.“ „Ausleuchtung ist Ausbeutung. Kommunikation ist Kommerz.“ – Byung-Chul Han8
Reif für die Insel? – ein filmischer Einstieg „Anarchisches, spielerisches, verschwenderisches Denken ist das, was totalitäre Regime am meisten fürchten.“ – George Steiner9
In dem Film „Die Insel“ von Michael Bay (2005) werden in einer riesigen ehemaligen Armeebunkeranlage menschliche Klone gezüchtet, die dann ihren (zahlungskräftigen) Klienten mit degenerativen Erkrankungen oder Organdefekten als Ersatzteillager dienen und damit ein langes Leben garantieren. Die Protosubjekte/Agnaten leben total überwacht auf Abruf und müssen im Kollektiv roboterhaft bei der Arbeit funktionieren; bei emotionalen Ausbrüchen schreitet sofort das allgegenwärtige Aufsichtspersonal ein; das Aufkommen unbedingten Wollens/ Sollens (schon seine Vorformen etwa als kindliches, lautes, irrationales Insistieren „Ich will jetzt Schokoladetorte“) wird so verunmöglicht. – Agnaten dürfen einander nicht berühren; die Ausbildung einer sexuellen Identität wird unterbunden. Auf Bildschirmen wird den KlonMenschen die Übersiedlung auf eine Insel, der Lotteriegewinn, in Aussicht gestellt. Unterdessen haben sie einen streng reglementierten Tagesablauf zu absolvieren, mit Arbeitsphasen und intensiven Fitnessprogrammen. In der komplett mediatisierten Kunstwelt sollen Gedanken an das, was jenseits des geräumigen, luxuriösen Lebensumfelds passiert, gar nicht aufkommen; überdies wird die hermetisch abgeschirmte Existenz mit einer Verseuchung der Außenwelt begründet; die Insel wäre dann der nach der offiziellen Propaganda zweite noch verbliebene Lebensraum auf der Erde. Alle Klone erhoffen sehnsuchtsvoll die baldige Umsiedelung auf die wunderbare Insel als absolutes Lebensglück. Lincoln Six Echo, der sich mit Jordan Two Delta anfreundet und sich zu ihr hingezogen fühlt, beginnt stärker als andere, alles zu hinterfragen. Weshalb hört man von den auf die Insel Geschickten nichts mehr? Die Vermutung, dass mit der Lotterie etwas nicht stimmt, wird auch von anderen geäußert. Der leitende Arzt, der darauf achtet, dass die Humanoiden nicht zu viel Intelligenz ausbilden, ist erstaunt über den Erkenntnisgewinn Lincoln Six Echos. Dieser steht illegalerweise mit dem Computerexperten McCord in Kontakt, dringt 8
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Han, B.-C., Topologie der Gewalt, Berlin 2011, S. 132f, 135. Han reflektiert auch die „Gewalt der Positivität“ (ebd., S. 118) und die „Gewalt der Transparenz“ (ebd., S. 128ff). Steiner, G., Warum Denken traurig macht, Frankfurt a. M. 2006, S. 42.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
immer weiter in den eigentlich für ihn unzugänglichen Versorgungsbereich des Bunkers vor und entdeckt, dass die Abberufung auf die Insel Organentnahme/-transplantation und sicheren Tod des klonierten Bunkermenschen bedeutet. Lincoln Six Echo fängt nämlich eine Motte ein, hält sie zunächst in einem Glas gefangen; er kann sich aber so mit ihr identifizieren, dass er sie freilässt, ihrem Flug in die Freiheit folgt und auf diese Weise in den OP-Bereich vordringen kann; er sieht, wie zwei Lotteriegewinner operiert und nach der Organentnahme anschließend entsorgt werden. Da Jordan Two Delta gerade das Lotterielos zuteilwurde, will er sie im letzten Moment retten und beide fliehen aus dem exklusiven, futuristischen Lifestyle-Bunker ohne klares Ziel und ohne vorherigen Plan, verfolgt von der hochgerüsteten Crew einer Sicherheitsfirma, die sie natürlich schnellstmöglich nochmals einfangen und eine Begegnung von Klon und Original verhindern soll. Auf der Flucht ist zu sehen, wie die beiden Humanoiden zu denken beginnen und die Welt langsam entdecken. Zunächst beginnen sie sich zaghaft zu fragen, weshalb die Originalmenschen/die prominenten Auftraggeber sich für ihre Klone nicht interessieren, und erhalten von McCord die Antwort: „Wer Hamburger mag, will nicht gleich die Kuh kennenlernen.“ Lincoln Six Echo und Jordan Two Delta fordern schließlich dem Programmierer gegenüber ein, dass er ihnen hilft und sie nicht länger als Spielzeugpuppen behandelt: „Wir fragen nicht um Erlaubnis, wir bitten um Hilfe.“ Sie haben ein Recht darauf, in ihrem Wunsch und Anliegen (den Organ-Menschenhandel publik zu machen und die Vertuschung der BunkerZustände bei der Biotechnik-Firma zu beenden) ernst genommen zu werden. In gewisser Weise erinnert die Haltung von Lehrern gegenüber den kurrenten Qualitätsmanagement-Programmen an die Naivität von Protosubjekten, die den via Bildschirm und Medien mantraartig wiederholten Suggestionen, den „Heilsweg“ zur Insel, kritiklos glauben. Derartig permanente Einspielungen sind nötig, um Sphären geschlossen zu halten und den innersystemischen Glauben an die Richtigkeit des Tuns und die Korrektheit der Wünsche zu stabilisieren und zu befestigen. Großangelegte PR-Aktionen nach dem PISA-Schock, die seit Jahren das Qualitätsmanagement zur Verbesserung der Unterrichtsqualität anpreisen, scheinen eine ähnliche Funktion zu haben. Dabei stellt Lincoln Six Echos und Jordan Two Deltas Ausbruchsabenteuer eine Neuauflage des alten platonischen Exodus dar, des beschwerlichen Weges heraus aus der Höhle des Scheins und der Unfreiheit. Beide Protagonisten müssen allerdings feststellen, dass sie aktiv an ihrem Aufstieg aus der Höhle, ihrer Selbstbefreiung gehindert werden; schließlich sollen die Sphären, die Klonwelt und die menschliche Normalwirklichkeit nicht vermischt werden. Die beiden flüchtigen Agnaten müssen im Gespräch mit McCord schmerzhaft feststellen, dass sie keine wirkliche Vergangenheit hatten, ihre schönen Erinnerungen bloß konstruiert sind und standardmäßig implantiert wurden. Der Satz „Wer Hamburger mag, will doch nicht gleich die Kuh kennenlernen“ entstammt einer Einstellung, die den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit verriegelt und 465
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verbarrikadiert. Er erklärt die beschränkte Perspektive, das Unterlassen anstrengender Fragen zur Tugend, und beinhaltet das Gegenmotto zu Platons Bekenntnis, dass nur ein erkanntes Leben ein sinnvolles Leben ist. Er dokumentiert die Liaison von selbstgewähltem Nichtwissen und Bequemlichkeit; die Sisyphus-Grunderfahrung, wonach mit jeder Antwort neue Fragen entstehen und das Wissen neue Probleme auslöst und keineswegs nur löst, wird unter allen Umständen vermieden. Es ist auch klar, dass die Nachfrage nach Fleischprodukten nachließe, wenn man das entsprechende Tier, seine Lebensbedingungen und die Schlachthöfe kennen würde. Der Satz der beiden Humanoiden „Wir fragen nicht nach Erlaubnis, wir bitten um Hilfe“ repräsentiert dagegen das Kippmoment des Films, den Startpunkt in eine neue Ära des Umgangs von Mensch und Klon/Agnat. Er markiert den Beginn des eigentlichen Menschseins der Protosubjekte, die damit offen ihre Verletzlichkeit und Begrenztheit zeigen, und zugleich die deutliche Weigerung, sich nochmals ins System eingliedern zu lassen und weiterhin ihre Ahnungen bezüglich ihres Wissens/Unwissens zu ignorieren. Subjektwerdung beginnt mit einem Moment der Selbstermächtigung oder auch der solidarischen Verantwortungsübernahme. Die Humanoiden wollen ernst genommen werden; McCord würde die Klone weiterhin bemuttern und ihnen Wünsche auszureden versuchen. Die Humanoide reklamieren aber hier, dass sie mit ihrer Rede Ansprüche verbinden, dass sie bereit sind zu kämpfen; Biomaschinen fordern keine Anerkennung ein, Subjekte schon; sie fragen nach Bedeutung und zeigen eine entsprechend ernsthafte Haltung. Lincoln Six Echo und Jordan Two Delta wissen, dass sie in McCord einen Systemvertreter vor sich haben, dessen Identifikation mit der Biotech-Firma gebrochen ist, der längst nicht mehr hinter seiner Arbeit steht und ihnen seine Anerkennung nicht verwehren wird. Ein vergleichbar eindrucksvolles Statement von Lehrern, die gegenüber dem QM-System, das sich immer weiter reproduziert, ernst genommen werden wollen, scheint noch nicht gesprochen. Es setzte auch eine Basis des Verstehens unter allen Beteiligten und nicht als Geschäftsgrundlage eine alternativlose Funktionalisierung voraus. „Das Imperium stellt sich uns nicht als ein Subjekt gegenüber, das uns die Stirn bietet, sondern als Milieu, das uns feindlich gesinnt ist.“10 Man darf also nicht annehmen, dass sich das QM-System leicht außer Kraft setzen oder einfach entsorgen ließe. Und so ist offen, mit welcher Phase des Films sich Lehrer identifizieren, die ein deutliches Unbehagen an der QM-Programmatik verspüren. Lincoln Six Echo hat sich jedenfalls bereits während seiner Bunker-/Quarantäne-Existenz unablässig Fragen erlaubt, die seinen Vorgesetzten und Betreuern unheimlich und gefährlich vorkamen. Eine Parallelisierung des filmischen Überwachungsszenarios mit dem QM-System mag man für anstößig halten, handelt es sich doch im ersten Fall um kriminelle Machenschaften einer 10
Tiqqun, Anleitung zum Bürgerkrieg, Hamburg 2012, S. 77.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Klon-Verschwörung. Jedoch weist das QM-Programm auch eine biopolitische Dimension auf; ihr totalisierendes System soll im Folgenden dargestellt werden.
Feedback – zur schnellen Karriere eines Plastikworts11 „Verblödung ist keine Unfähigkeit zur Klugheit, sondern die Fähigkeit zur Verdummung. Blödheit ist militante, performative, lust- und angstbesetzte Dummheit … Ob es NichtVerblödung, Nicht-Verblendung gibt, kann niemand wissen in unserer Matrix. Aber es gibt den Kampf darum, nicht verblendet und nicht verblödet zu werden.“ – Markus Metz, Georg Seeßlen12
Einen spektakulären Fluchtversuch im Stile Lincoln Six Echos und Jordan Two Deltas zu unternehmen heraus aus der geschlossenen Logik von Kontrolle, Evaluation und Feedback, die als dogmatisierte Letztbegriffe oberste Gültigkeit beanspruchen, ist indes dringend nötig. Dabei soll der Intuition nachgegangen werden, dass angesichts der Grundpfeiler der kantischen Ethik, der Wertschätzung und gleichzeitigen Beanspruchung des autonomen Subjekts, der QM-Ansatz gesteigerter Fremd-Kontrollen doch schwerlich als neuer sinnvoller Schritt vorwärts, vielmehr als Retrobewegung erscheint: Wie lässt sich also der Siegeszug einer Schulideologie erklären und welche Auswirkungen oder von dem QM ausgehende Verstellungen im Alltag sind bereits zu verzeichnen? Oder in einer pathetischen Filmsprache gefragt: Wie kann „die krude Karikatur einer Philosophie“ eine derartige Macht über so viele (bedrängte) Lehrerherzen gewinnen? Organisationen wollen ihre Arbeit optimieren, zuweilen wird diese Optimierung auch als privates Lebensziel ausgegeben. Weshalb setzt sich aber eine flächendeckende Externalisierung und Selbstpräsentation dieses Strebens durch? Wie kann der Gedanke des Feedbacks und der Intensivierung des Messens/Evaluierens eine solche Karriere machen, so dass man diesem bereits eine qualitätssichernde Wirkung zutraut? Eine Bauernweisheit besagt bereits, dass ein Schwein vom vielen Wiegen nicht schon fett wird; die hemdsärmelige Kritik ist längst ein running gag auf allen Gewerkschaftsveranstaltungen,
Vgl. Strohschneider, P., Alt, P.-A., „Diese Plastikwörter! – Ja, Plastikmüll!“ Ein Gespräch über larmoyante Geisteswissenschaftler und Dialekt in Sitzungen, in: Die Zeit vom 26.4.2018, Nr. 18, S. 69. PeterAndré Alts und Peter Strohschneiders Hitliste von Unwörtern wird angeführt von „spannend“, „Transparenz“, „adressieren“. 12 Metz, M., Seeßlen, G., Der Rechtsruck. Skizzen zu einer Theorie des politischen Kulturwandels, Berlin 2018, S. 118. 11
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
wenn die Rede auf die Feedback-Thematik kommt.13 Das Feedback meint eine Lücke zu schließen; eine explizite Schülerrückmeldung solle der Lehrperson signalisieren, wo die Schüler stehen, damit sie ihre Interventionen neu abstimmen und perfektionieren kann. Darauf lässt sich bereits kurz und schnell entgegnen: Gegen ein Denken in Kreismodell kann man noch nichts einwenden; Lehren ist keine einkanalige, eindimensionale Angelegenheit. Selbstverständlich werden Lehrer immer wieder fragen, wie ihre Themen, ihr Tun/Agieren bei den Schülern aufgenommen werden. Aristoteles sah den göttlichen Geist, nous, eine Kreisbewegung vollziehen. Dass ein vollständiges Erkennen eine solche Bewegung durchläuft, eine reditio completa umfasst, gehört ebenso zur scholastischen Erkenntnistheorie; jedoch ist es hier der einzelne Verstand, der alle Phasen der Erkenntnisbewegung durchläuft, also aus sich herausgeht und nochmals zu sich zurückkehrt. Die Reflexionsbewegung unterscheidet sich nun allerdings qualitativ von der kybernetischen Rückmeldeschleife in einem einfachen Regelkreislauf, der dem QM-Modell zugrundeliegt. Thermostate senden der Steuereinheit der Heizung ein Feedback, die den Heizkessel zu mehr oder weniger Leistung „anstiftet“, zu seinem Anspringen oder Abschalten führt, so dass die Wärme auf einem vorgegebenen Richtwert konstant gehalten werden kann. Die Exaktheit der Rückmeldung scheint in dem technischen Modell ein wesentlicher Punkt zu sein; und wie mit der Unschärfe von Schülerrückmeldungen umzugehen ist, kann wohl nur im Einzelfall zu entscheiden sein. (Zusätzliche Aussagen auf Rückmeldebögen wie „Ihr neues Auto sieht echt gut aus“ lassen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Schülerselbstaussage aufkommen und sind wenig zielführend.) Möglicherweise mag sich Routine oder aber auch Ermüdung der Schüler bei einer Potenzierung der von ihnen verlangten Umfragen einstellen. Zumindest bei Lehrern rangiert der Begriff des Feedbacks und der Evaluation längst unter der Rubrik von Unworten, die man nur noch mit seelischen Darmverschlingungen vernehmen kann. Das Feedback stellt einen systeminternen Regulierungsmechanismus dar, einen Baustein in einem sozialtechnologischen Instrumentenkoffer; Habermas’ Vorwurf gegenüber der luhmannschen Systemtheorie scheint verhallt zu sein. Ein kritischer Diskurs, die LehrerSchüler-Reflexion über Unterricht, geht dagegen über einfache Rückmeldebögen oder abstrakte Systemmaßgaben immer schon hinaus. Dass das Feedback ein Indiz für eine Kälte abstrahlende, weil sich abkühlende Gesellschaft ist, gehört zur Theorie des Verdachts, die hinter den auch im Internet ubiquitären Rückmeldeschleifen eine abnehmende Solidarisierung, eine Distanzierung oder ein „Cocooning“ der Interaktionspartner vermutet. Denn tatsächlich wird man im Internet durch ständige Aufforderungen zur Bewertung in Anspruch genommener Dienste schon fast genötigt. 13
Vgl. auch Klein, H. P., Verkümmert das selbständige Denken? Interview von Dirk Frank, in: UniReport Nr. 1 3.2.2017, S. 2, 12.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Schließlich ist schon aus systemtheoretischer Sicht zu berücksichtigen, dass es bei Menschen um nichttriviale Maschinen (von Foerster) geht. – Rainer Dollase nimmt das trivialisierende Feedbackmodell in seinen Vorträgen häufig aufs Korn, im Übrigen wie auch der Kybernetiker Heinz von Foerster selbst.14 – Dass man es bei Lebewesen mit nichttrivialen, geschlossenen, selbstreferenten, strukturdeterminierten, autopoietischen Systemen zu tun hat, ist eine Doxa konstruktivistisch-systemischer Ansätze, die große Teile des pädagogischen Diskurses bestimmen. Vom Feedback mag man sich Hinweise darauf erhoffen, was Schüler beim Lernen stört, und Demotivierendes dann kurzerhand unterlassen. Aber wie soll sich eine Qualitätssicherung oder eine Leistungssteigerung ergeben, wenn Schüler in keiner Weise neu motiviert werden, verstärkte Anstrengungen erbringen oder eine (moralische) Wende vollziehen und weniger spicken, oder wenn nicht in kantischer Manier auf die Selbstverpflichtung des Lehrers abgestellt wird? Die Fokussierung auf das Feedback und die Kontrollmechanismen scheint exakt mit einer Externalisierung, Verdinglichung und damit Horizontverkürzung des Bildungsbegriffs einherzugehen. Dem Lehrer bleibt die Herkulesaufgabe des permanenten, nie ermüdenden Motivators. „Wer Bildung nur als Hilfsmagd der eigenen Karriere ansieht, hat keine.“ Bruno Preisendörfer betont wie eigentlich jeder Bildungstheoretiker den Selbstzweck-Charakter der Bildung, „das, was sich weder durch fachwissenschaftliche Wahrheiten disziplinieren noch durch persönliche oder politische Interessen versklaven lässt.“ „Gebildete Menschen verfügen über die Fähigkeit, geistige, ästhetische und ethische Erfahrungen zu machen, weil sie sich für geistige, ästhetische und ethische Erfahrungen interessieren, und zwar auch dann, wenn dadurch die eigenen Wertevorstellungen und Lebensbedürfnisse in Frage gestellt werden. Das hat mit Transzendenz zu tun. Dabei wird der eigene Horizont nicht etwas ‚erweitert‘, wie es immer so schrecklich engstirnig heißt, sondern überschritten. Es gibt Größeres als die eigene Existenz.“15
Schließlich darf noch aus kommunikationstheoretischer Sicht kritisch bemerkt werden: Die Betonung des expliziten Feedbacks scheint zu vergessen, dass Kommunikation immer schon die inaugurierte oder geforderte Reflexivität einschließt. Natürlich drückt sich die Beziehungsebene auf der Inhaltsebene aus und vice versa – es gehört ja zu den ersten batesonschen/watzlawickschen Lektionen, dass die feinsäuberliche Trennung der Ebenen nicht funktioniert. Und Vgl. Dollase, R., Sinn und Unsinn des Qualitätsmanagements. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Frankfurt „Ökonomisierung und Entdemokratisierung des Bildungswesens. Sind Kompetenzen, Standards und Methoden ein Allheilmittel?“ vom 12.12.2013; Foerster, H. v., KybernEthik, Berlin 1993. 15 Preisendörfer, B., Bildung, Interesse, Bildungsinteresse. Essay, in: APuZ 49/2008, S. (3–8) 3, 4. 14
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
natürlich reflektiert das Klassenverhalten immer schon die Qualität des Unterrichts. Sprache ist als solche immer schon reflexiv. Es gibt keine Metasprache, kann man Lacan polemisch sagen hören, und Lacan fährt damit fort, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, es also nicht in einem „Dahinter“ zu suchen ist, sondern in der Weise, wie Traumata, Denkverbote, Tabus usw. verkörpert sind. Das Medium ist die Botschaft nach McLuhan, die Form des Unterrichts wird zum Lerninhalt; für Fritz B. Simon ist sie der eigentliche Lehrinhalt.16 Peter Fuchs sieht die Kaprizierung auf die Form, die Umstellung von Sachfragen auf Fragen der Präsentation/Performativität als romantische Kommunikationsform.17 Dass die Integration des Bewusstseinsstroms in Gesprächssituationen diese kollabieren lässt, kann man allerorten von Luhmann lernen. Die Explikation von Befindlichkeiten mag mitunter eine schwer einzufangende Eigendynamik entfesseln. Gegenüber verbalen Feedback-Methoden können also schriftliche, anonymisierte Verfahren Vorteile haben; die Vorstellung der Ergebnisse ist allerdings ein Moment der Metakommunikation, auf die die geäußerten Bedenken zutreffen: Sie sprengt nicht selten den engen Rahmen des Faches auf. In permanenter Selbstbespiegelung kann eine problemfokussierte Klasse ihren letzten Zusammenhalt zerreden, alte Konflikte immer neu aufköcheln und darüber ihr Prüfungsziel ganz aus den Augen verlieren. Schüler, die gerade mit sich kämpfen, sich mit einem schulfernen Konflikt herumschlagen und ständig auf ihr schulisches Desinteresse angesprochen werden, können sich leicht noch mehr zurückziehen. Es kann pädagogisch sehr sinnvoll sein, sie in Ruhe zu lassen, wohl mit dem klaren Signal, dass sie von der Lehrkraft sehr wohl wahrgenommen und geschätzt werden, dass sie jederzeit auf Lehrpersonen zukommen können … Explikation scheint nicht der generelle Königsweg. Bei Besprechungen der mündlichen Note wissen die Schüler, was sie gemacht oder nicht gemacht haben. Eine ausführliche Darlegung der Defizite wird nicht selten als sehr quälend oder auch demütigend empfunden und wirkt letztlich kontraproduktiv. Mit Sinn fürs Implizite lässt sich sagen: „Es liegt alles schon auf dem Tisch.“ Ein Kollege sagte, wenn man den Klassenraum verlässt und nicht weiß, wie die Stunde war, ob man etwas erreichen konnte oder nicht, ist man nicht für den Beruf geeignet. Es spricht vieles für das Primat der Beobachtung/Selbstbeobachtung vor dem Feedback. Wenn hier unter anderem für eine sehr intensive, genaue und umfassende Beobachtung plädiert wird, ist allerdings auch hinsichtlich einer zu engen Interpretation der eigenen Wahrnehmungen Vorsicht geboten. (Vor wichtigen Hauptfachklausuren wird man mit seinem Ethik-/Nebenfachunterricht keinen großen „Stich“ machen und bei allen Motivationsversuchen nur begrenzte Erfolge erwarten können. Die
Simon, F. B., Die Kunst, nicht zu lernen. Und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik …, Heidelberg 1997, S. 153. 17 Fuchs, P., Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a. M. 1993, S. 79ff. 16
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Schüler werden, wenn sie dürfen, klar zu verstehen geben, dass sie momentan keinen Sinn für ethische Problematiken haben, vor allem wenn es bei einigen doch schließlich ums schulische Überleben geht.) Der Versuch der Ritualisierung von Feedback und der Verordnung von Feedback-Intervallen übergeht den Begriff des Live-Feedbacks, der in der Hochschulpädagogik geläufig ist. Dort wird herausgestellt, dass die Rückfragen während des Unterrichts hinsichtlich des Verstehens Feedbackcharakter haben, gewissermaßen die unverblümte, unmittelbare Variante von Feedback darstellen.18 Die Explizierung und Fokussierung auf protokollierbare Feedbackarten im Rahmen des Qualitätsmanagements hat demnach einen klaren phallokratischen Kontroll-Hintergrund, den Kontext der Selbstrechtfertigung; sie sind mit deutlichen Zäsuren im Kontinuum des Unterrichtsverlaufs verbunden. Es gibt also gute Gründe, das genaue Verordnen von Feedback-Häufigkeiten für eine Infantilisierung und Gängelung der Lehrerschaft zu halten, der man das Feingefühl für Klassensituationen abspricht. Eine Phallokratie-Kritik wird am Kontrollgestus vor allem die Fixierung auf Protokollierbares anstößig finden. Aus einem Raum des Wohlwollens kann der Unterricht zu einer Kampfzone der Selbstrechtfertigung mutieren. Die Verordnung von Feedback mündet also in Krampf, aber ganz und gar nicht in Qualität. Die Ritualisierung der Rückmeldung oder die Verordnung von fixierbaren FeedbackVerfahren entwickelt ihre eigene Wirkung. Die Lehrer-Motivation bzw. seine Einstellung zu Pflichtfeedbackrunden entgehen Schülern nicht, die gerade sehr genau das Lehrerverhalten und leise Zwischentöne deuten. – Die Schüler mögen indes einiges über den Anstaltscharakter von Schule und die zwanghafte Persönlichkeitsstruktur des Lehrers lernen, der offizielle Vorgaben abarbeitet. Erziehung nimmt nach Dietmar Kamper eigene Wege: „Wenn Erziehung nicht scheitert, ist sie Vernichtung.“19 Wenn Devianz und Kritik der Erziehungsvorgaben geradezu ein Kennzeichen einer gelungenen Erziehung ist, so ist klar, dass auch Lehrer ihre Vorgaben eigenwillig deuten (müssen): Dem Überraschenden, Verblüffend-Wunderbaren muss Raum gelassen werden; und das wäre eine sehr angepasste, moderate Deutung des Satzes von Kamper. Es ist von vorneherein klar, dass sich das Lernen gerade an den nicht-geplanten Einwänden, Fragen weiterentwickelt.
Kundisch, D., Direkte Rückmeldung erwünscht, in: Forschung und Lehre 4/2013, S. 296f. Es handelt sich um „Livefeedback“, wenn man während des Unterrichts direkt Fragen des Verständnisses bearbeitet. Diese Art von Feedback, die Interpunktion an geeigneter Stelle mit dem Ziel, den (gemeinsamen) Kenntnisstand zu erfragen und das Vorgehen Revue passieren zu lassen, praktizieren wohl alle Lehrer. Es besteht also kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben, Lehrer seien im Hinblick auf ihre „Feedbackkultur“ unterentwickelt. Live-Feedback scheint überdies mit der impliziten Reflexivität der Kommunikation zu kongruieren. 19 Kamper, D., Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999, S. 57. 18
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Daher scheint der Bildungsbegriff auch eine methodische Offenheit zu implizieren, die eine eindimensionale Feedback-Programmatik und ein behördlicher Dirigismus nicht einfangen. Es erscheint überdies sonderbar, dass von „Feedback“, aber nicht mehr von „Demokratisierung“ oder „Mitbestimmung“ der Schüler die Rede ist. Der Feedback-Begriff meint eine Meldung in den abgesteckten Koordinaten eines Kontrollsystems; dass die alten Forderungen nach einer Demokratisierung der Schule viel mehr bedeuten, muss nicht lange ausgeführt werden. Solange die Schüler nicht hinsichtlich der Gestaltung der Lerninhalte und des Lehrplans mitbestimmen können, ist die Rede vom selbstorganisierten Lernen und von selbständigen Schulen eine reine Farce. Reformpädagogische Kindertagesstätten lassen indes schon Dreijährige über Anschaffungen und die Gestaltung des Alltags ganz wesentlich mitentscheiden. – Ivan Illichs Forderung nach einer „Entschulung der Gesellschaft“20 bezieht sich gerade auf die Schule als starre Kontroll- und Selektionsinstanz.
„Quantifizierungskult“, der Mess-Fetisch und der Hype ums Liken – ein soziologischer Befund „Wissen und Geld lassen sich nicht mit einem Maß messen.“ – Aristoteles21 „Aber es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen, und die Glieder würden mir langsam systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht. So mechanisch getötet zu werden! … Es braucht nicht viel, um einem das bisschen Verstand verlieren zu machen. Der Wahnsinn fasste mich bei den Haaren.“ – Georg Büchner22
Steffen Mau greift auf religiös konnotierte Ausdrücke zurück und spricht von „Kult“ und „Fetisch“23, um die Ausmaße der Datensammelwut und der Datengläubigkeit, aber auch der Bereitwilligkeit der Akteure zur Mitwirkung anzudeuten, mit der mittlerweile „die Vermessung
Illich, I., Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems, Reinbek 1973. Aristoteles, zit. n.: Hénaff, M., Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009, S. 11. 22 Büchner, G., Dantons Tod, Stuttgart 1989, S. 61, 68. 23 Mau, S., Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 10, 139 (Die sich auf Maus Werk beziehenden Seitenzahlen befinden sich im Haupttext). – Die ungewöhnlichste Etikettierung eines sozialen Phänomens als Religion stammt wohl von Taureck, B. H. F., Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion, Paderborn 2014. Der Religionsbegriff wird so lange nicht inflationär gebraucht, wie er der Metastasierung von Religion nachspürt bzw. die postmoderne Dispersion des Religiösen einfängt. 20 21
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des Sozialen“ betrieben wird (17). Mau kann sicher Michael Hagners Statement zustimmen: „Der Messbarkeitswahn bedeutet eine gravierende Krise der Urteilskraft“24, sein Anliegen ist es jedoch, die soziologischen Implikationen abzuschätzen: Der soziometrische Trend unterstützt die Ökonomisierung der Lebensbereiche, die von Habermas diagnostizierte „Kolonialisierung der Lebenswelt“. Es setzt sich eine Logik der Ungleichheit durch, die Unterschiede auf ein quantifizierbares „objektives“ Level bringt und damit naturalisiert und legalisiert. Mau legt dar, dass in der „Vermessungsgesellschaft“ „nicht Personen, sondern Verfahren über Ergebnisse und deren Interpretation entscheiden“ (27). Man könnte eine „Legitimation durch Verfahren“, die Luhmann als wesentliches Strukturprinzip moderner Gesellschaftssysteme ansieht, auf dem Feld der Pädagogik am Werk sehen. Was Luhmann vor allem als Funktionsmerkmal des Rechtssystems analysiert, lässt sich auch als Strukturprinzip der Schule ausmachen; dass die zunehmende Verrechtlichung der Schule einen Kollaps der pädagogischen Arbeit bedeutet, wird Schulämtern dann klar, wenn sie sich vor einer Flut elterlicher Klagen kaum mehr retten können (vgl. die Angina-Pectoris-Diagnose, Kap. 1). Mit der Suggestion, dass es auf die Meinung der Bewerter ankommt, und durch permanente Feedback-Anreize/Like-Möglichkeiten werden Machtbeziehungen neu geordnet und stabilisiert. Die „Omnimetrie“, die Allgegenwart des Feedbacks und der Bewertungsmöglichkeiten, ist ein wesentlicher Teil der Sharing Economy, die schon als Shark Economy25 bezeichnet wird; diese ist keineswegs egalitär, sondern treibt etwa die Marktmacht von großen Unternehmen wie Uber voran oder forciert die Ökonomisierung des Privatlebens. Dass jeder jeden bewertet, die Meinung des Einzelnen ständig gefragt ist, schließt keineswegs aus, dass es „zu Aufschaukeleffekten, Stimmungsmache oder auch Herdenverhalten“ (143) kommt. Es verstärkt sich vielmehr die bekannte Echokammer-/Filterblasensituation. Mau geht auf frühere Lehrerbewertungsportale ein, in denen die Schüler ihrerseits Bewertungen abgeben wollten, und auch Rachebewertungen an der Tagesordnung waren. „Die Forderungen nach Qualität, Transparenz und Rechenschaft lassen jeden Versuch, sich der Durchleuchtung und Bewertung zu entziehen, als illegitim erscheinen. Das Transparenzgebot unserer Zeit öffnet hier unweigerlich die Türen zu weiteren Bewertungen, die institutionelle Routine und gelebte Praktiken erheblich irritieren können.“ (155)
Die Frage über die Sinnhaftigkeit von Evaluationen hält Mau für eine „rein akademische Debatte“; ihm kommt es darauf an, zu rekonstruieren, wieso die Reputationsmaschinerie nicht Hagner, M., zit. n. NZZ vom 11.10.2010, in: Forschung und Lehre, 11/2010, S. 783. Sauer, S., Das Geschäft mit dem Teilen. Die soziale Grundidee wird mehr und mehr verraten, in: FR vom 21.9.2016, S. 15.
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mehr zu bremsen ist (155, 162). Die Selbststeigerungsdynamik der Moderne führt auch nach Hartmut Rosa dazu, dass der kalt rechnende, instrumentelle Weltzugang dominiert, ergo: der Kalkulationismus und die Skalierung von Nichtzählbarem werden gleichermaßen zunehmen. Sinnerleben hat dagegen immer mit Resonanz oder Wirksamkeit zu tun; von daher löst das Feedback zu Recht den Eindruck einer unerlaubten Instrumentalisierung/Funktionalisierung aus. Zahlen machen Politik (189): Mau macht vor allem darauf aufmerksam, dass die Generierung der Zahlen entscheidend ist, nicht die bloße Messung, sondern auch die Auswahl der Messverfahren. Mau erinnert an Bourdieus „Benennungsmacht“. Dass Bildung sich einseitig auf Messen und Vergleichen ausrichtet, ist nur ein Spezialfall der gesellschaftlichen Fokussierung auf Skalen und Rankings. Schließlich kann Mau eindrucksvoll belegen, wie die Orientierung an vorzeigbaren Ergebnissen eigene Lernstrategien hervorbringt; Qualität soll quantifizierbar werden. Also bewegt sich das Lernen nur noch im engen Fokus auf das Bestehen der Prüfung, auf das Lösen von Prüfungsaufgaben, die Simulation von (mündlichen/ schriftlichen) Prüfungssituationen. Das Lernen, das über Tests hinausreicht, die eigentliche Bildungsperspektive, gerät aus dem Blick. „Nur wer sich zählen lässt, zählt auch dazu. Nur wer sich beziffern lässt, zählt“ (234). Dass der „Bewertungsuniversalismus“ Solidarsysteme ins Wanken bringt, ist schon längst mit Blick auf Autoversicherungen manifest (242). Wer seinen Fahrstil von der Versicherung nicht kontrollieren will, zahlt mehr. Es kommt also zu neuen Formen der Ausgrenzung der Bewertungsgegner bzw. zur Perfektionierung von Zwängen. Die Schlagworte vom „Reputationsmanagement“, von der „Glorifizierung von Konkurrenz“ (Pierre Rosanvallon) verdeutlichen, wie mit der Quantifizierung die „Spaltbarkeit des Sozialen“ einhergeht (264): „Das metrische Wir ist eine Masse von Individuen, die im Wettstreit miteinander stehen, kein solidarisches und kooperatives Wir“ (275).26 Mau sieht von den Kontrollen gleichermaßen Statusverfestigungen und Statuslabilität ausgehen. Der Effekt der Messung besteht darin, „die ständige Leistungsbereitschaft aller sicherzustellen“ und „Loyalität mit herrschenden Interessen und Lebensformen (Offe) … zu prämieren“ (282–285). Auf dem Hintergrund von Maus Diagnose der Quantifizierungsgesellschaft ist die vom Qualitätsmanagement dominierte Schule nur ein Symptom: Von der omnipräsenten Quantifizierung scheint es keine Dispens mehr zu geben; es ist nicht möglich, ihrem Zugriff zu entkommen; pädagogische Institutionen reproduzieren den allgemeinen kontrollgesellschaftlichen
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In ähnlicher Weise lautete schon eine frühe Kritik am Fordismus: „Die Logik des Fließbandes heißt nicht: Einer trage des anderen Last, sondern: Jeder trage die seine so, dass das Band läuft.“ Vor der Invisibilisierung von Entfremdung, der fatalen Situation der Ent-Entfremdung, dem Nicht-Merken von Entfremdung, der positivistischen Freude am glatten Funktionieren, hat nicht nur Baudrillard bereits vor Jahrzehnten gewarnt.
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Nimbus; schulische Binnenräume können keine alternativen Erfahrungsmöglichkeiten anbieten. Der Bildungsbegriff droht zu verarmen und seine Mehrdimensionalität einzubüßen.
„Lost in Super-Ego“: Postbildung = Verwaltung und Kontrolle (Kritik der Verdinglichung) „Kontrolle ist die technische Form der Aufklärung und so dazu verdammt, ihren Wahn zu verbreiten, aller Welt das Magische austreiben zu können. Durch Kontrolle, so scheint es noch dem Ohnmächtigsten, muss Macht vernünftig werden. Wenn Vernunft Macht werden will, äußert sie sich als Kontrolle (und eine neue Geschichte des Terrors beginnt). Kontrolle erzeugt eine neue Beziehung der Macht, die weder Einverständnis noch Unterwerfung bedeutet. Durch Kontrolle macht sich Macht wenigstens verständlich.“ „Kontrolle wurde von einer Technik des Regierens zu einer Manie des Post-Regierens. Mehr noch: Kontrolle konnte zu einem Ersatz für Regieren werden.“ – Markus Metz, Georg Seeßlen27
Immer wieder wird festgehalten, dass Qualitätsentwicklung bzw. das Qualitätsmanagementsystem auf vier Säulen beruht: „schulspezifisches Qualitätsverständnis, Prozesssteuerung, Individual feedback, interne/externe Evaluation.“28 Dabei verläuft der Prozess in dem bereits angesprochenen Kreislauf von Qualitätsplanung, -verbesserung und -prüfung. Unterstützungssysteme dieses Prozesses gliedern sich in Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwicklung. Die kultusministeriellen Rahmenvorgaben, der Qualitätsrahmen, werden nun am besten so umgesetzt, dass die Schulen ein Leitbild erstellen, in dem sie „smart“ formulierte Leitziele ermitteln, diese sind dann in den Fach- oder Fachbereichskonferenzen nochmals umzusetzen oder zu aktualisieren.29 „Smart“ bedeutet: „spezifisch, messbar, aktionsorientiert, realistisch, terminiert“, d. h. also die Orientierung am Objektivierbaren, Evaluierbaren und an der Operationalisierung soll sich bis in jedes Leitziel eines Leitbildes umsetzen lassen. Je nachdem, wie streng man vorgeht, kann man ganze Nachmittage und Abende in der Schule damit zubringen, smarte Ziele Metz, M., Seeßlen, G., Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven, Berlin 2017, S. 256, 447. 28 Waldmann, G., Forum XII Qualitätsmanagement im internationalen Vergleich, in: Erziehung und Wissenschaft 4/2017 69. Jg., S. 152f. 29 Vgl. Zech, R., Leitbildentwicklung in Schulen, in: www.praxiswissen-schulleitung.de (2570.14), S. 1–9; Zech verhehlt nicht den klaren betriebswirtschaftlichen Hintergrund seines Leitbildkonzepts: „Ein Leitbild ist ein Leistungsversprechen gegenüber den Kunden“ und seine Rolle bei der „Imagebildung der Organisation in der Öffentlichkeit“ (ebd., S. 1). 27
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zu formulieren; es gibt Kollegen, die sich in einer Weise des lacanschen Mehr-Genießens, das den Genuss des Schmerzes/Entzugs einschließt, an dem Luftschloss totaler und vollkommener Smartheit ergötzen. Nach einer ersten Darlegung der herzpädagogischen Optionen, der theologischen Kritik der Verobjektivierung und Verdinglichung ist eigentlich schon klar, aus welcher Perspektive das QM-System kritisiert oder auch pulversiert werden kann/muss. Nimmt man noch die philosophische Tradition der Verdinglichungskritik (die Kritik der Frankfurter Schule bzw. der Phänomenologie) hinzu – Lévinas hat ja genau die Überwindung der Verdinglichung als die Faszination neuzeitlicher Philosophie überhaupt beschrieben –, stellt sich in Bezug auf das schulische QM-Problem fast eine mitleidsethische Beißhemmung ein. Warum sich nochmals die Mühe machen, den Unsinn eines Programms herauszustellen, dessen philosophische Fragwürdigkeit ohnehin klar ist und das schon häufig kritisiert wurde (vgl. Kap. 2.2, 6.6, 7.2)? Es gilt, die fraglose Gültigkeit und ungebrochene Wirksamkeit des QM-Führungssystems zu dekonstruieren und die Funktionsweise eines Dispositivs deutlich zu machen. Dabei muss betont werden: Kritische Stimmen unter der Lehrerschaft sind bereits Legion. Die hier dargelegte QM-Kritik entspringt also keiner idiosynkratischen „Verächtlichmachung der ministeriellen bildungspolitischen Maßnahmen“; ein derartiger Straftatbestand sollte bekanntlich früher Systemtreue sicherstellen. – Zu den Kritikern des QM-Konzepts in der Bildung gehören vor allem Pädagogik- und Philosophie-Professoren30: Peter Struck kommentiert das „Precht-Syndrom“, die Hochkonjunktur von Vorschlägen zur Schulreform von Nicht-Pädagogen. „Manches in unserer Bildungslandschaft lässt sich richtig auszählen, also quantifizieren. Man kann angeben, wie viele Schüler eines Geburtsjahrgangs zur Hochschulreife oder nicht einmal bis zum Hauptschulabschluss kommen. Aber schon die Eigenschaften eines erfolgreichen Lehrers oder einer guten Schule oder guten Unterrichts lassen sich nicht mehr so einfach aufdröseln. Das Allermeiste in der Pädagogik verschließt sich empirischen Analysen, es lässt sich allenfalls qualifizierend einschätzen.“31
Der deutsche OECD-Bildungsadministrator Andreas Schleicher sieht das nicht so; er verficht weiterhin ungebrochen das Konzept der Zählbarkeit:
An dieser Stelle darf man auf die Bildungskritiken von Konrad Paul Liessmann, Peter Bieris Bildungsessay, aber auch Gelhards Kritik der Kompetenz verweisen. 31 Struck, P., Das Precht-Syndrom. Pädagogische Gedanken zur aktuellen deutschen Bildungsdebatte der Nichtpädagogen, in: FR 23.7.2013, S. 24. 30
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„Neugier können wir noch nicht testen. Dasselbe gilt für die Fähigkeit zur realistischen Selbstwahrnehmung. Da müssen unsere Tests noch besser werden.“32
Der Würzburger Pädagogik-Professor Andreas Dörpinghaus macht hinter den verwendeten Bildungs-Leerformeln den Heils- oder Fetischcharakter einer „Kontrollmacht“ aus. Er spricht von „Post-Bildung“: Seine Analysen, die auf die Situation an den Unis gemünzt und als Selbstkritik gemeint sind, sind auf den zu formalistischen QM-Ansatz in der Schule direkt zu übertragen: Das Wesen der Postbildung ist „die Außerkraftsetzung von Bildung durch ihre bloße Verwaltung und Kontrolle … Post-Bildung ist dabei gänzlich wertfrei, ethisch uninteressiert, inhaltslos, reflexionsneutral, orientierungslos und partikular, dafür leistungsorientiert, kontrollbesessen und extrem evaluativ. … Die Post-Bildung selbst unterliegt keiner Kontrolle, sie ist Kontrolle …“ „Post-Bildung und Bildung … folgen schlichtweg entgegengesetzten Logiken, sie sind gleichsam nicht kompatible ‚Programmiersprachen‘: Genauer: Während Post-Bildung über ihre Grammatik des Kompetenzmodells eine Anpassungsleistung intendiert, ist Bildung schlichtweg eine Distanzleistung. … Die Unis [respektive: Schulen] … sind zum Behufe des eigenen Heils dieser permanenten Kontrolle unterworfen. … Ihr nach außen getragener Wille zur Selbstverbesserung gehört zur modernen Kontrolltechnologie der Post-Bildung. Auf ihn bezogen sind Menschen und Institutionen beständig defizitär – eine neue Erbsünde. Die Kontrolle wird so zu einer ‚fürsorglich‘ daherkommenden pastoralen Prozessmacht, die vermittelt, es gehe um das Heil der Beteiligten, um den Schlüssel zum Erfolg … Diese Kontrolle braucht radikale Sichtbarkeit …“33
Dörpinghaus bringt die Dinge auf den Punkt: Wenn einige Lehrer gerne kontrollieren, kann das nicht bedeuten, sich von diesen infizieren zu lassen und der beunruhigenden Arbeit an einem Bildungsbegriff, der über Verwaltung und Kontrolle hinausgeht, aus dem Weg zu gehen. Mit dem smarten QM-Ansatz dominiert ein religiös dimensionierter Überich-Perfektionismus: Transparenz ist schön-obszön. Dörpinghaus kritisiert vor allem die Kaprizierung auf die Schleicher, A., Peter, T., „Man lässt die Lehrer allein“ in: FR vom 12.8.2016, S. 23. Dörpinghaus, A., Post-Bildung, in: Forschung und Lehre 7/2014, S. 540ff. Ders., Bildung als Fähigkeit zur Distanz, in: ders., Platzer, B., Mietzner, U. (Hg.), Bildung an ihren Grenzen. Zwischen Theorie und Empirie, Darmstadt 2015, S. (45–54) 53, formuliert noch schärfer: „Die Postbildung gehört daher in den Kontext der Verdummung“; ihr (Selbst-)Erfahrungsbegriff ist unterkomplex, sie verkennt die provozierende Dimension des „Nichtsichtbaren im Sichtbaren“, „den Einbruch dieser noumenalen, negativen Dimension menschlicher Existenz und Freiheit“.
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Fehlerbehaftetheit. Natürlich kann immer noch mehr standardisiert, evaluiert und optimiert werden. Bonhoeffer würde hier von armseligen „pfäffischen Kniffen“ ausgehen, die er als extrem unchristlich desavouiert.34 Für Bonhoeffer wäre es gemein, wenn der Pfarrer mit seiner Ideologiekeule dort ansetzt, wo der Mensch in seiner Endlichkeit und Begrenztheit und Mangelbehaftetheit aufstöhnt. Natürlich ist jede Unterrichtsstunde auch noch zu verbessern, was sonst? – Was bringt es, die Bemühungen der Lehrkräfte durch weitere Optiminierungsimperative noch zu erschweren? Der Fokus des QM-Perfektionismus auf der Fehlerbehaftetheit des Lehrers (die des Schülers ist hier ja zunächst sekundär) ist als eine durchsichtige Unterdrückungsstrategie auszumachen. Diese erweist sich mit Blick auf die Bildungstradition als unwürdig. Sie gehört zu einem schlecht gemachten Bewertungs- und Kontrollkult. Mit Leerformeln, besser zu werden, ohne Angabe eines tertium comparationis, verstrickt sie Lehrer in einen Überich-Teufelskreislauf, aus dem kein Entkommen ist. Žižek analysierte bereits die paradoxe Verschuldungsdynamik der Bürokratie, „die Probleme erfinden muss, um ihr Dasein zu rechtfertigen, das ihrer Lösung dient“: „Die Bürokratie ernährt sich buchstäblich von der ewigen und apriorischen Schuld des Subjekts.“35 Und die Funktionsweise des Überichs lautet bekanntlich: Je mehr man gehorcht, umso schuldiger wird man. Lehrer mögen aufgrund ihres Beamtenstatus und weiterer struktureller Momente, wie der Möglichkeit, die Klassenzimmertür zu schließen oder ein Großteil ihrer Arbeit am häuslichen Arbeitstisch zu erledigen, privilegiert erscheinen; sie dürfen sich wegen der Übernahme hoheitlicher Bildungsaufgaben auch dazu berechtigt sehen. Zur Freiheit, zu der sie vorrangig berufen sind, gehört es nun aber, die von der kurrenten schulischen Ordnung ausgehenden Verschuldungssuggestionen klar zu durchschauen und offen zu benennen. Überdies kann es als Grundintention einer Theologie der Schule angesehen werden, dass sie von den Schuldimplikationen und Überich-Verstrickungen des Schulbetriebes befreit. Foucault meinte bereits sehr präzise: „Die Perfektion der Überwachung ist die Summe der Feindseligkeiten.“36 Schließlich ist an den in der Soziologie bekannten Parkinson-Effekt zu erinnern: Der Bereich der Verwaltung hat die Tendenz sich auszubreiten, es wird hier keine Selbstreduktion oder Bonhoeffer, D. Widerstand und Ergebung, Gütersloh (13. Aufl.) 1985, S. 174, spielt auf „jenes Hinterden-Sünden-der-Menschheit-Herschnüffeln“ an, „um sie einzufangen“: „Es ist, als ob man ein schönes Haus erst kennte, wenn man die Spinnweben im letzten Keller gefunden hätte, als ob man ein gutes Theaterstück erst recht würdigen könne, wenn man gesehen hat, wie sich die Schauspieler hinter den Kulissen aufführen“ (ebd., S. 173). 35 Žižek, S., Der Mut, den ersten Stein zu werfen. Das Genießen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Wien 2008, S. 145, 133. 36 Tiqqun, Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus!, Hamburg 2013, S. 304. 34
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Selbstbescheidung geben. Und man wird vergebens darauf warten, dass Kontrollbegehrlichkeiten vonseiten der Schulbürokratie zurückgenommen werden. Nietzsche meinte in Bezug auf Kants Betonung des Kategorischen Imperativs: Der Königsberger Philosoph wolle damit eigentlich nur sagen: Er kann gehorchen, und darum geachtet werden.37 Was Nietzsche über die ausschließliche Übernahme des QMModells und der einseitigen Betonung des Smarten in Fragen der Schulqualität denken würde, mag man sich gar nicht ausdenken. Für ihn würde die apathische Hinnahme der „Qualitätsmanagement“-Ideologie durch Lehrkräfte heißen: „Ihr Lehrer wollt ‚durchregiert‘ werden; Ihr sollt bekommen, was Ihr wollt. Ihr wollt aus Angst vor Eurer Freiheit diese abgeben, nun gut, Eurem Verlangen nach totaler Kontrolle kann entsprochen werden … in Aussicht stehen weitere ungeahnte Möglichkeiten der Totalprotokollierung. Glaubt vor allem euren Tablet-Programmen!“ Mit der Bildungsaufgabe sollte nach Dörpinghaus ein Selbstverständnis von Pädagogen einhergehen, das über ein willfähriges „Ich kann und will funktionieren“ hinausgeht. Die Welle der Bravheit und der Anpassung, die einem beim Bewillkommnen des Qualtitätsmanagements entgegenschlägt, ist noch nicht der Geist der Bildung, der eine Distanzierungsleistung beinhaltet. Weil man sich nicht mehr vorstellen kann, wie es sein kann, dass Nicht-Evaluation, das Ausbleiben von Überprüfungen sinnvoll oder gar geboten sein soll, sei nochmals auf die Ausrichtung der kantischen Ethik verwiesen. Eine Evaluierung einer guten Tat ist hier nicht möglich; sie erfolgte auch in totaler Unkenntnis des Guten: Das Gute ist nicht vorzeigbar und die Orientierung am Vorzeigbaren kann es nur zerstören. Der Kategorische Imperativ besagt: Verobjektiviere nicht den anderen! Überprüfung, Evaluation haben in der Interaktion also immer eine nachrangige Bedeutung; dass die Nichtobjektivierbarkeit des anderen respektiert wird, macht das Gute der Handlung aus. Auf dem Hintergrund des kantischen Ansatzes erscheint das QM-Konzept als total absurd und unannehmbar. Nach Kant gibt es keinen Nachweis einer tatsächlich guten Tat, keinen präsentierbaren Beleg für das Vorliegen einer von egoistischen Interessen ungetrübten Gesinnung. Die kann und muss es auch nicht geben. Jedes Verobjektivierungsanliegen würde das Kernanliegen seiner Ethik auch sofort konterkarieren. – Kants Ethik kommt ohne den positiven Beleg ihrer Erfüllung oder den Nachweis ihrer Umsetzbarkeit aus. Sie erweist sich allein aufgrund ihrer Zielbestimmung als humane/angemessene Ethik, da sie der Würde und Nichtobjektivierbarkeit
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Nietzsche, F., Jenseits von Gut und Böse und andere Schriften, Köln 1994, S. 101, ist hier sehr präzise, Žižek führt die Kritik aus: Jedem „Was des Gesetzes“ geht schon das „Dass des Gesetzes“ voraus. Bevor klar ist, was ich tun soll, steht im kantischen Ethik-Universum die Existenz des Gesetzes, eines unbedingten Sollens, fest.
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des Menschen entspricht und vollends entgegenkommt. Entscheidend ist die Orientierung an Grundwerten, an einer denkbaren und möglichen Fähigkeit des Menschen. Nietzsches Motto „der Erde treu sein, dem Stern folgen“ mag passend erscheinen. Zentral ist der Leitstern der Nichtobjektivierbarkeit, auf den hin der Mensch sich auszurichten hat: Es ist denkbar und möglich, dass der Mensch interesselos handelt, ohne Beimischung sekundärer Neigungen sein Gegenüber nicht verdinglicht, den anderen nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck behandelt, nicht bedingt, sondern unbedingt-entschlossen handelt, also dem Kategorischen Imperativ folgt; die mögliche Größe menschlichen Tuns bildet den Kompass für das konkrete ethische Handeln. Oskar Negt macht klar, es mag Fortschritte in der Legalität geben, in der Moralität ist das nicht möglich. (Dass der Anspruch des Kategorischen Imperativs überfordert, gehört nichtdispensierbar zur menschlichen Subjektivität; von daher braucht es keine weiteren äußeren Kontrollinstanzen.) Dass Würde Nichtobjektivierbarkeit bedeutet und das Wissen darum den Umgang mit dem anderen bestimmen soll, bedeutet nicht, dass nun alle Noten und Bewertungen schlecht wären, es bedeutet aber, dass sie in der Pädagogik immer nur einen sekundären Stellenwert besitzen und eine Nebenrolle spielen. Derzeit drängt sich der Eindruck auf, dass der fundamentale Nicht-Evaluierungsvorbehalt nicht mehr die schulische Wirklichkeit bestimmt, dass über allen Schulen vielmehr das Gütesiegel stehen soll: „Diese Institution ist evaluiert nach standardisierten Verfahren und wird auch nach solchen Verfahren regelmäßig überprüft.“ „Mens agitat molem“ (Vergil), die Vernunft leitet die Materie, stand als Sinnspruch über so manchem ehrwürdigen Gymnasium. Was könnte man auch Besseres tun, als den dem Bildungsbegriff inhärenten Idealismus zu beschwören. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass (Neu-)Kantianer oder in Idealismus geschulte Lehrer vergangener Epochen die QMMaßnahmen geduldet hätten, sie wären in einen Generalstreik getreten oder hätten sicherlich ähnlich gehandelt wie Peter Bieri, der im Zuge der Bologna-Reform unter Protest sein Amt als Hochschulprofessor aufgab.38 – Das Unternehmen, mit QM-Kontrollen Leistungsniveaus sicherzustellen oder gar zu verbessern, steht lediglich für den Versuch der Externalisierung des Denkens, also das Nicht-Denken. „Machen wir uns ehrlich!“ lautet ein Spruch, der nicht selten auch an Lehrerzimmertischen fällt; es folgt dann meist ein hemdsärmeliges Plädoyer für Pragmatismus und Realismus. Doch auch ohne lehrertypische Fehlerfixierung oder aufklärerisches Pathos scheint der Befund klar: QMOffensiven müssen als Entmündigungsversuch und eine Attacke auf die Lehrer-Souveränität empfunden werden, die Argwohn und Misstrauen sät. Sie erscheinen im Schulalltag wenig sinnvoll oder hilfreich. Im Unterricht kommt es auf die Experimentierfreude und die Begeisterungsfähigkeit 38
Bieri, P., „Die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen“. Warum Bildung für jeden von uns bedeutsam ist, in: Kindergarten heute 12/2007, S. 6–9.
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von Pädagogen an, die durch Kontrollen mutwillig brüskiert wird. Lehrpersonen erhalten täglich und stündlich Rückmeldung und Widerspruch/Korrekturvorschläge. Sie befinden sich ohnehin in einem fortwährenden Gespräch mit ihren Schülern, ebenso in einer permanenten Suche nach geeigneteren Methoden, Medien oder Basistexten. Der Würzburger Pädagoge Dörpinghaus hat unterdessen nachgelegt, seine Kritik weiter gefasst und betont, dass Lernen Möglichkeitsräume, neue Denkhorizonte zu eröffnen hat: Das häufig propagierte lebenslange Lernen verfolgt dagegen „ein additiv-lineares modularisiertes Lernmodell“, das Kompetenzen wie Briefmarken sammelt: „Das gegenwärtige Bildungssystem konditioniert den Menschen als flexibles Bedürfnissubjekt, das nur noch eins zu wollen hat: Employability“39. Dörpinghaus bemängelt ebenso, dass zunehmend der genuine Bildungsbegriff verloren geht. Lernen hat die „Performanz der menschlichen Lebensführung“ zu spiegeln: „Lernen gibt es nur im Plural und in der Vielfalt“: „Das Lernen ist eine menschliche Praxis, in deren Vollzug wir nachhaltig Möglichkeiten für uns gewinnen. Lernen ist Aneignung von Möglichkeiten.“ Lernen bedingt die Wirklichkeit anders zu sehen, „eine Erfahrung mit unserer Bildsamkeit“, sodass „die Möglichkeiten selbst zum Bestandteil unserer Wirklichkeit werden“. Lernen erwirkt Unterbrechungen: „Das unbestimmt Mögliche, um das es im Lernen geht, ist in der Negation wirklich, gestaltet so die Wirklichkeit des Lernens“. Lernen heißt „Möglichkeiten schaffen und so Wirklichkeiten gestalten.“ „Bildung heißt Sinn schaffen; wir werden durch das Lernen andere“.40 Dörpinghaus plädiert also für „Persönlichkeitsbildung und bildendes Lernen, ein Sich-in Nachdenklichkeit-Verlieren“ und reflexive Akte der Distanzierung („reflexive actio per distans“). Dominante Verwertungskontexte und vordefinierte Antwortmöglichkeiten trüben den Bildungshorizont ein. Bildung richtet sich immer auch kritisch gegen die Gesellschaft.
Ästhetisierung der Evaluation – An der optimierten Oberfläche der Feedbackkultur Noten seh ich sehe rot sehe Lilien Idiot Herz ist Hokus oder nein
Dörpinghaus, A., Abschied vom Lebenslangen Lernen. Gedanken über ein komplexes anthropologisches Phänomen, in: Forschung & Lehre 8/2017, S. (674–678) 676, 678. 40 Ebd., S. 678. 39
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Welt ist Jokus oder doch. – Daniil Iwanovic Charms41
Wie deutlich wurde, steht die Evaluationsmetapher in einem problematischen Kontext der Omnimetrie; es lässt sich festhalten, dass die Feedback-Methoden Teil einer ohnehin dominanten Gefällt-mir-/Like-/Unlike-Kultur ist; sie gehen mit der bei Facebook geforderten permanenten Arbeit am Ausstellungswert, Tendenzen der Selbstidolisierung und Selbstpräsentation einher und sind eingebettet in den Kontext der Ästhetisierung der Lebenswelt. An dieser Stelle werden an den Schulen als Seismographen gesellschaftliche Umbrüche manifest: Erst seit ein paar Jahren ist eine neue Reaktionsweise von Mitschülern auf gerade rezipierte Referate zu beobachten. Die Schüler beginnen ihre Kommentare zu den Referaten ganz selbstverständlich mit Aussagen zur Art des Vortrags: „Du wirktest sehr sicher“, „Dein Blick hat alle einbezogen“, „Ich fühlte mich angesprochen“, „Die Folien waren schön gestaltet, nicht zu voll“ „Am Anfang hat man dir deine Aufregung angesehen, später nicht“. Es kommt zu solchen Kommentierungen des Verhaltens der Referenten, auch wenn diese nicht – etwa beim Einüben von Präsentationstechniken – Gegenstand des Unterrichts waren. Diese Fokussierung des Formalen und die bloße Meinungskundgabe drängen sich vor jede inhaltliche Diskussion des Referatthemas. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt erspart man sich auf diese Weise vollends. Man geht nicht fehl, wenn man einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der sehr populären Castingshows und der weiten Verbreitung dieser typischen Kommentare nach Referaten sieht. Nach wie vor von ihren Fächern faszinierte Lehrer beziehen sich auf Inhalte und würden sich freuen, wenn sich an ein Referat eine Diskussion darüber, ein Nachdenken über die Problemstellung, weitergehende Überlegungen oder kritische Bedenken anschlössen. Im Gefolge der Castingshows ändert sich aber das Reaktionsverhalten von Schülern auf die Referate so sehr, dass die Fragen des Layouts, des Standings und der Performance zentral werden. In Kursen und Ausbildungsgängen, in denen Methodentraining unterrichtet wird, wiederholt sich der Befund der Angleichung von schulischem Feedback an televisionäre Vorbilder. Das Feedback ist also Teil einer Mega-Inszenierung, eines Unterhaltungsformats, das mit einem Fokus auf Performance und einer weitgehenden inhaltlichen Entleerung einhergeht. Auf dem Hintergrund des selbstverständlichen Feedbackverhaltens der Schüler lässt sich sagen, dass das Feedback ein Zeitgeistphänomen, einen popkulturellen Trend darstellt. – Die Analysen von Steffen Mau lassen sich also direkt mit Blick auf die schulische Praxis bestätigen.
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Charms, D. I., zit. n.: www.umsu.de/charms/texte vom 2.2.2018.
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Das Feedback ist keineswegs progressiv-innovativ, sondern ubiquitär, Teil einer televisionären oder medialen Kultur, die in der Schule Platz gegriffen hat. Eine kritische Schule muss dem allgegenwärtigen Geist des Feedbacks entgegentreten, die Ursprünge des gängigen Feedbackverhaltens ausleuchten, Parallelen zur Mediatisierung der Kommunikation aufzeigen, Freiräume gegen die Ausweitung der Evaluierung schaffen, gegen zu schnelle Bewertung und Eintaxierung sensibilisieren und zu einem Zurückhalten der zu schnellen, ersten Eindrücke, gewissermaßen zu einer „eidetischen Reduktion“ (Husserl) und Epikie, anleiten.
„Das Herz der Finsternis“ – Auf der Suche nach Kurtz, dem QM-Monster „Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und ich hatte recht: Denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an.“ – Johann Wolfgang von Goethe42 „Das Bildungssystem ist politisch und deshalb sind nicht wir es, die es politisieren wollen. Was wir wollen, ist eine Gegenpolitik zur herrschenden Politik. … Alle Bildung ist heute Therapie – Therapie im Sinne der Befreiung des Menschen mit allen erreichbaren Mitteln: Befreiung von einer Gesellschaft, die ihn früher oder später zum Barbaren werden lässt, auch wenn er das gar nicht mehr merkt. … und alle Therapie ist heute identisch mit politischer Theorie und Praxis.“ – Herbert Marcuse43
Die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Herzpädagogik bewahrt den sicher längst überfälligen Verweis auf Joseph Conrads „Herz der Finsternis“44 für den Essay über das Goethe, J. W. v., Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre, Frankfurt a. M. 1980, S. 19. Marcuse, H., Befreiung von der Überflussgesellschaft, in: Katsinas, Ph. (Hg), Dialektik der Befreiung, Wien 2017 (Reinbek 1969), S. (99–112) 110f. 44 Conrad, J., Herz der Finsternis – Jugend – Das Ende vom Lied. Erzählungen, Frankfurt a. M. 2007, S. 55–175. – Lorenz, M. N., Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads „Heart of Darkness“ in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht, Stuttgart 2017 betont, dass Figuren wie Kurtz sich für Anschlussnarrative anbieten. Conrads Roman von 1899 hat „Prätext“-Charakter und er kann als einer der wirkmächtigsten Romane im 20. Jahrhundert gelten. Conrad entdeckt zwar das Grauenvolle, Unmenschliche im Imperialismus, sein Roman stößt aber nicht zu kritischen Reflexionen über Rassismus und Kolonialismus oder gar zur Solidarität mit den ausgebeuteten indigenen Völkern vor, die „Wilde“ genannt werden (vgl. Lorenz, ebd. S. 140). „Heart of Darkness“ ist alles andere als ein postkolonialer Roman; die Entmenschlichung Afrikas und das Leid der Versklavung sind zu erahnen: 42 43
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Qualitätsmanagement auf. Wo könnte es auch passender erscheinen, auf die Erzählung bzw. Francis Ford Coppolas Film „Apocalypse Now“ (1979), der sich eng an die literarische Vorlage anlehnt, einzugehen? Beschrieben wird in beiden Fällen eine längere Schiffsfahrt in ein entlegenes Urwalddorf, wobei die Reise an den dunklen Ort einem Prozess der Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn der Selbstvergottung eines monströsen Menschen bzw. des VietnamKrieges, einem Weg der Selbsterkenntnis gleichkommt, die sich den Abgründen des Herzens und des Militärapparats stellen muss. Conrads Seereise spielt im vorletzten Jahrhundert im Dschungel von Belgisch-Kongo. Der IchErzähler macht sich auf den Weg zu dem berüchtigten Mister Kurtz, einem extrem erfolgreichen Elfenbeinhändler. Er ist die unheimliche, wahnsinnige Gestalt, die eine furchtbare Dunkelheit umgibt und einen heiligen Schrecken verbreitet, lange bevor er überhaupt dem Erzähler begegnet. Kurtz’ Sterben wird abschließend geschildert, ebenso die Regelung seines Nachlasses und sein irreal hohes Ansehen bei seiner Verlobten. Bei der Dschungel-Expedition in dem Vietnamfilm handelt es sich um eine militärische Geheimaktion, mit dem Ziel, Colonel Kurtz, einen wahnsinnig gewordenen Soldaten, der um sich herum einen Kult organisiert und wahllos tötet/töten lässt, zu liquidieren. Kurtz war an vielen geheimen Tötungsaktionen des US-Militärs beteiligt. Auf der langen Fahrt zu seinem Unterschlupf setzt sich Captain Willard mit dem Leben des Colonels auseinander, der sich von den Eingeborenen inzwischen als Gott verehren lässt. Die Siedlung, in die er sich mit seiner Kult-Gemeinde, die ihn rückhaltlos verehrt, zurückgezogen hat, umgibt die Aura eines unheimlichen Grauens. Die Akte, Fotos und Dokumente der Karriere des einstigen Elitesoldaten Kurtz, der sich zum Monster entwickelt hat, bieten eine Spiegelfläche, auf der das Verrücktspielen der Militärmaschine, das Captain Willard tagtäglich erlebt, immer deutlicher aufscheint. Geht es nun – ähnlich wie bei Coppola oder Conrad – nicht darum, das QM-Monster aufzuspüren und den Evaluationswahnsinn an der Stelle, von der aus er seinen Ausgang nahm, zu beenden? In welches Refugium, welches schulamtliche Büro hat sich QM-Kurtz verkrochen? Wer nimmt den Sonderauftrag an, das QM-Gespenst wirksam zu stoppen? Nach Nietzsches hellsichtiger Einschätzung hinsichtlich der zähen Überlebenskraft überkommener Kulte ist damit zu rechnen, dass auch nach einem finalen Platzen der QM-Vorstellung noch Generationen von Lehrern an das Feedback „glauben“ werden. In Höhlen werden die entsprechenden Riten und Religionen auch noch Jahrhunderte nach dem Tode ihrer Götter weiter praktiziert und man wird von dort statt fröhlicher Abgesänge noch ernste Kultlieder vernehmen. Kimmich, D., Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne, Leiden Boston Paderborn 2017, S. 73f, betont, wie sehr es Conrad gelingt, die nachträgliche Verwilderung von Kurtz und die Überforderung sowie Hilflosigkeit des Protagonisten, des Kapitäns Marlow, zu schildern: Auch Marlows einfachem Verstand drängt sich die Erkenntnis auf: „Der eigentliche Kannibale ist der Weiße“ und das Fremde ist uns erschreckend nah und ähnlich.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Kurtz sitzt in seiner Dunkelheit, als hätte er auf den jüngeren, schmächtigen US-Offizier, der noch unerfahren ist, gewartet. Vor Kurtz’ Wohnstätte sind einige Totenschädel aufgestellt – seltsamer Weise so, dass sie Kurtz ansehen; vor dem Verlies des QM-Erfinders befindet sich wohl der Totenschädel dessen, der die Ferien erfunden hat, den Lehrer immer schon küssen möchten (frei nach Jean Paul). Conrad und Coppola stellen die menschliche Irritierbarkeit und Überforderung dar, die aus der Nähe zum Monströsen entsteht. Sie schildern die Begegnung mit Kurtz, dessen Dunkelheit undurchdringlich ist und in seinem Sterben noch vieles mit sich in seine Dunkelheit mitreißen will. Andererseits erscheint Kurtz auch merkwürdig einsam und verloren. Bei Conrad und Coppola wird Kurtz’ Tod als leiser „Sieg“ geschildert. Seine letzten Worte lauten bekanntlich: „Das Grauen! Das Grauen!“ Der letzte Lebensausdruck wird als Moment äußerster Klarheit und Wahrheit geschildert. Kurtz hält sich die Treue und bewahrt sich seine Identität. Kurtz muss bei Conrad fliehen, er stirbt abseits von seinem Elfenbeinimperium auf einem baufälligen Boot auf dem Fluss. Bei Coppola erscheint die Kurtz-Figur auch als extrem-träge, geistesabwesend-deliriös, nicht mehr fähig zur Gegenwehr. Die heisere Stimme Marlon Brandos kann allerdings kein Mitleid erregen; Kurtz ist ein Nihilist, der brutal-verschlagen sowie geheimnisvoll-gefährlich agiert, und selbstdestruktiv im Grunde auf seinen eigenen Untergang wartet. Es findet schließlich eine Umkehrung statt, die Žižek häufig beschrieben hat, das Große wandelt sich in etwas exkremental Unansehnliches, das Schreckliche wird fast erbarmungswürdig; das Mächtige erscheint hilflos. Überhaupt scheint der Kult um Kurtz nicht erhaben, sondern geistlos, absurd. Man darf ebenso in Bezug auf das Qualitätsmanagement fragen, ob sich hinter dem monströs mächtigen Programm ein enttäuschter Lehrer verbirgt, der mit viel Idealismus begonnen hat und seine Motivation und Orientierung verloren hat und nur noch einfache Beherrschbarkeit duldet, ein bürokratischer Kleingeist, eine Buchhalter-Seele, die alles fein säuberlich notiert und abrechnet und seit Jahren nicht mehr pädagogisch gearbeitet hat. Nach einem mutigen Blick hinter die Charaktermaske ihres Mannes kommt Effi Briest in Fontanes gleichnamigem Roman zu einem ähnlich traurigen Resümee: Die Grausamkeit, mit der ihr Mann sie behandelte, empfindet sie im Nachhinein als hilflose Reaktion einer gekränkten Seele:45 „Ich habe gedacht, dass er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. … Ein Schulmeister war er immer. Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat Recht gehabt … Ein Streber war er, weiter nichts. – Ehre, Ehre, Ehre …
Fontane, Th., Effi Briest. Leipzig Stuttgart Düsseldorf 2004, S. 274–275. Innstetten selbst sieht sich gezwungen: „Das tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl, ich muss.“ „Unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber müssen wir uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“ (ebd., S. 235, 237).
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Mich ekelt, was ich getan, aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend.“ Innstetten, ihr Mann, der das alleinige Erziehungsrecht hat, dressiert das gemeinsame Kind, er lässt es höflichdevot „wenn ich darf “ sagen; die Herzlosigkeit seiner Erziehung, die sie nicht mehr eindämmen kann, erscheint ihr als Inbegriff der Grausamkeit, als eine fortgesetzte Rache an ihr.46 Thomas Bernhard schildert in seiner Kürzestgeschichte „Besonderheit“ eine ähnliche Eigenschaft, ein offizielles, erstarrtes Leben, das dennoch Brutalität und Grausamkeit aufweist: „Der Präsident hat eine Besonderheit, die allen auffällt, die ihm begegnen, beim Kegeln und Biertrinken, in der Nacht und während des Beischlafs, ja selbst in den Parlamentssitzungen, die er anführt, nachdem der große Umschwung gekommen ist. Verschiedene Handbewegungen deuten auf die Besonderheit hin, die niemand erklären kann, aber die so deutlich sichtbar ist, dass sie auch dem Uneingeweihten nicht entgeht. Die Leute behaupten, sie käme von einer Entwicklung, die man nicht mehr aufhalten könne. Sie rufen sich Augenblicke in ihr Gedächtnis, in welchen sie eine Erscheinung wahrgenommen haben, die die Besonderheit hervorgerufen haben könnte. Tatsächlich wissen alle, um was es sich handelt. Aus Angst, sie könnten zur Rechenschaft gezogen werden, unterlassen sie es, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen oder zu debattieren. Ja, sie verwischen sogar bewusst jede Spur. Aber nicht nur in den Augenwinkeln des Präsidenten ist es. Es ist auch an anderen Stellen seines fetten, unruhigen Körpers. Selbst in seinen Träumen. Es erzeugt allen, die es erkennen, eine Spannung, die mit der Zeit die Besonderheit auf sie überträgt. Sie sind schließlich von ihr besessen. Sie ist nichts anderes als die Brutalität.“47
Der Präsident ist bis in die kleinsten Gesten hinein brutal; diese Gewalt ist spürbar und nicht wegzudiskutieren. Auch alle Versuche, die Besonderheit zu retuschieren, scheitern. Wie sich nach Foucault Herrschaft invisibilisiert, in Architektur übergeht und unabhängig vom jeweiligen Personal systemisch wirkt und das Feld der Interaktion krümmt, so ist auf das leise gewaltvolle Abstrahlen der QM-Schularchitektur hinzuweisen. Thomas Bernhard beschreibt diese Struktur auch in seinem Roman „Der Untergeher“: „Jährlich gehen Zehntausende Musikhochschüler den Weg in den Musikschulstumpfsinn und werden von ihren unqualifizierten Lehrern zugrunde gerichtet! … Was für miserable Lehrer haben wir zu erdulden gehabt, haben sich an unseren Köpfen vergriffen. Kunstaustreiber waren sie alle. Kunstvernichter, Geisttöter, Studentenmörder. … Die Stümper
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Ebd., S. 81: „Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Fantasie“ (Effi Briest). Bernhard, T., Besonderheit, in: Schneider, W. (Hg.), Männerbilder. Ein Lesebuch, Frankfurt a. M. 1998, S. 204.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
beherrschten das Gebäude, das wie kein zweites in der Welt berühmt war und auch heute noch ist.“ „Das ganze Leben laufen wir dem Dilettantismus davon, und er holt uns immer wieder ein.“48
Man merkt an Bernhards Darstellung, wie sehr er unter der fremden Schulmacht gelitten hat:49 Es ist vollkommen klar, dass gleichzeitig zwei sich widersprechende Befunde in Zusammenhang mit Feedbacks möglich sind: Man kann kaum Fachwissen vermitteln, den Geist des Faches verraten, und zugleich schöne Feedbacks bekommen und beliebt sein; aber auch das Umgekehrte ist möglich, so dass Schülerrückmeldungen nicht den Anlass bilden, den Anspruch an sich selbst zu überdenken. Svetlana Alexijewitsch gibt die Aussage eines befragten Zeugen wieder: „Verdammte Buchhalter! Verstehen sie doch. Uns kann man nur nach den Gesetzen der Religion beurteilen.“50 Die Auseinandersetzung mit dem QM-Programm und die Expedition, die an die Wurzel der Idee vorstoßen will, muss sich mit dem Schulsystem insgesamt auseinandersetzen. Es ist zu erkennen, wie tief im gegenwärtigen Schulsystem Bewertungswahnsinn und bildungsreligiöse Aufladungen ineinandergreifen. Und man darf annehmen, dass womöglich bei den Olympiaden schneller Ländermedaillenspiegel abgeschafft und eine Diversifizierung der Wettkampfklassen durchgeführt werden, die statt zwei Geschlechtern dann Blutwerte, Testosteronspiegel und Körpergröße usw. berücksichtigen, als dass schulische (Meta-)Evaluationen aussetzen? – Es bleibt zu hoffen, dass die Historische Pädagogik unterdessen nicht müde wird, immer wieder als Ermutigung auf die Ahnengalerie der Pädagogen hinzuweisen, die das ständige Messen oder „Triagieren“ von Schülern gerade nicht als genuine Aufgabe des Lehrens erachteten. Betritt ein Suchtrupp nach langer Expedition endlich das Büro von Kurtz, begegnet er nur zurückweichenden Mitarbeitern. Kurtz-Gespräche sind immer seltsam, Kurtz stellt ein letztes Mal stereotyp heraus, dass eine evaluierbare Schule doch eine kontrollierbare, leichter zu managende Schule ist. Kurtz hat ausgedient; das wird deutlich, wenn er einmal aus seiner Höhle/seinem Büro, der Sicherheit seiner Behörde herausgelockt wurde und ins Freie kommt. Das Ende der Kurtz-Ära ergibt sich dann völlig undramatisch; nach der Evakuierung der Mitarbeiter schließt Bernhard, T., Der Untergeher, München 2004, S. 16–20, 72. Ronell, A., Dummheit, Berlin 2005, S. 95 zitiert Camus: „Grausamkeit provoziert, aber Dummheit entmutigt“, ebenso Musil: „Unter Knaben und Sportsbrüdern (wird) einer, der sich ungeschickt anstellt, dumm heißen, auch wenn er ein Hölderlin ist“ (ebd. S. 85). Die Literatur zum Thema Dummheit erscheint wenig geeignet, das herzpädagogische Projekt zu stützen. 50 Alexijewitsch, S., Warum bin ich in die Hölle hinabgestiegen? Aus der Dankesrede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels, in: FR vom 14.10.2013, S. 20f. 48 49
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der Türsteher aus Kafkas „Prozess“ seine Bürotür und die Glastür zu seiner Abteilung. Man deutet Kurtz an, dass er seine Bildschirme und Rechenspiele nicht mehr sehen wird, Kurtz wird das Gebäude nie mehr betreten. Der Türsteher hat nur einmal den Fehler gemacht, so lange den Zugang für eine Person offenzuhalten. Einige aus dem Kurtz-Suchtrupp hatten eine heftige Gegenwehr erwartet oder einen apokalyptischen Kampf phantasiert. Der Kafka-Kenner der Crew, den nichts überrascht, weil er jederzeit auf Äußerstes und Merkwürdigstes rechnet, erinnert an den Aphorismus: „Zur Vermeidung des Wort-Irrtums: Was tätig zerstört werden soll, muss vorher ganz fest gehalten worden sein; was zerbröckelt, zerbröckelt, kann aber nicht zerstört werden.“51
Wegen der zu erwartenden negativ nachstrahlenden Aura schlagen einige als letzte Maßnahme gegen den QM-Spuk einen Betonsarkophag vor. Aber das ist unnötig. Vor dem Gebäude wird ein Schild aufgestellt, das auf Kontaminationen hinweist. Eine weitere Erklärung macht unmissverständlich klar, dass hier lediglich der Sitz einer Behörde war, der geheimnisvolle Zugang zum sagenumwobenen Gesetz darf anderswo weitergesucht werden. Der traurige Anblick verfallender, „einstürzender Schulbauten“52 wird eine deutlich abschreckende Wirkung haben. Am Ende wird die fehlende Attraktivität der QM-Programme sichtbar und man benutzt sie so, wie Enzensbergers „ins lesebuch der oberstufe“ es für Enzykliken und Manifeste prophezeite: zum Feueranzünden und zum Einwickeln von Pausenbroten. Es empfiehlt sich, dass ein Informatikkollege, der Hacker der Expedition, den digitalen QM-Versionen ein Virus hinterherschickt, der sie virtuell rosten oder sofort verschwinden lässt. Ein Pädagogik-Museum wird noch einige Exemplare der QM-Programme ausstellen in einem Raum, in dem die Phase der Ökonomisierung von Bildung illustriert wird. Kurtz ist ohne Computerprogramm und Excel-Listen ganz hilflos. Ungläubig vernimmt er den Vorschlag, seine Zeit mit anderen, schöneren Dingen zu verbringen als mit der Ausarbeitung neuer Testpläne. Als Lehrer könnte Kurtz doch VHS-Kurse in seinen ursprünglichen Fächern anbieten oder als Pate (nun im eigentlichen Sinn) eines Jugendlichen mit Schulschwierigkeiten fungieren, wenn er schon über seine Zwangspensionierung hinaus weiterhin berufsnah wirken möchte. Man macht Kurtz Mut, wünscht ihm Glück und lässt ihn gehen. Es heißt, er wurde niemals mehr in der Nähe eines Schulgebäudes gesehen und er hat auch nie mehr versucht, in solche hineinzugelangen; auch in kurzfristig als Wahllokal fungierende Schulgebäude setzte er Kafka, F., Aphorismen, in: ders., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. 243 (Nr. 91). 52 Der Titel einer GEW-Studie trägt diesen mehrsinnigen Titel: Eicker-Wolf, K., Einstürzende Schulbauten … oder warum ÖPP kein Mittel zur Beseitigung des kommunalen Investitionsstaus ist (Finanzpolitisches Arbeitspapier der GEW Hessen Nr. 1), Frankfurt 5/2017. 51
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keinen Fuß. Manche, die ihn sahen, sagten, er gehe etwas desorientiert und demotiviert durch die Welt. Real existierende Schüler und tätige Lehrerkollegen hat er davor schon nicht mehr zur Kenntnis genommen. Man hatte Kurtz einen Brief überreicht, den er möglicherweise als vernichtendes Feedback aufgefasst hat, dabei waren die Zitate als Lektüre-Ratschlag gedacht: „Kontrolle verlagert die Bestimmung des Menschen von sich nach außen.“ „So ist die Kontrolle also eine Form des Sehens, die immer genau das Wesentliche übersehen muss … Durch Kontrolle werden Dinge miteinander verknüpft, die ein unvergleichliches Wesen haben, das durch die Kontrolle eben unsichtbar gemacht wird.“ „Das Wesentliche der Kunst wird [etwa] von der Kontrolle, von den Marktpreisen, den Besucherzahlen des Museums, den Expertisen und Einordnungen, nicht berührt.“53
Als Hinweis auf ein mögliches Seniorenstudium der Philosophie und Theologie waren folgende Zitate gedacht: „Kontrolle lässt das Leben weitergehen, aber mit weniger Leben; Freiheit lässt das Leben ‚explodieren‘, aber im Angesicht des Todes.“ „Wir sprechen von der Freiheit wie von einem Phantom. Sie ist selber atopisch, überall und nirgends, immer da und nie greifbar.“ „Eine besondere Freiheit bestünde darin, nach dem Wesentlichen zu suchen, dem (Noch-)NichtKontrollierten.“54
Kant hält bekanntlich nichts von der platonischen Idee, dass die Könige Philosophen werden sollten, dass also Potentaten und Topmanager sich dem Philosophiestudium widmen könnten, „weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“55. Der tiefe Gehalt und weite Horizont philosophischer Fragen können sich Kurtz also erst jetzt erschließen. Kurtz hat gute Gründe, seine Entmachtung und Demission als Segen zu begreifen. Auch Isaiah Berlin warnt vor dem Missverständnis, Philosophie könne als harmloses Geschäft betrieben werden:
Metz, M., Seeßlen, G., Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven, Berlin 2017, S. 341, 415f, 238. 54 Ebd., S. 238, 415f. 55 Kant, I., Zum ewigen Frieden, in: Ders., Gesammelte Werke Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt (5. Aufl.) 1998, S. 228. 53
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„Vor hundert Jahren warnte der deutsche Dichter Heinrich Heine die Franzosen davor, die Kraft der Ideen zu unterschätzen: Philosophische Begriffe, in der Stille eines Studierzimmers entstanden, können ganze Zivilisationen zerstören … Seltsamerweise scheinen unsere Philosophen die weitreichenden Auswirkungen ihres Tuns nicht zu bemerken.“56
Um die kafkasche Unterscheidung von Zerstörung und Verfall aufzugreifen, lässt sich sagen, dass hier weniger das schulische Qualitätsmanagement destruiert, als vielmehr seine Selbstauflösung protokolliert wird. Nur in seiner gespenstischen Form, die von der Anwendung in betriebswirtschaftlichen Systemen ihre Kraft speist, konnte es so lange den Schein von Funktionalität und Lebendigkeit behalten.
Zur Kritik der Sozialtechnologie „Möchtest du eine Sache zugrunderichten, gründe eine Kommission.“ „Wer die Vergangenheit erinnert, verliert ein Auge. Wer die Vergangenheit vergisst, verliert beide Augen.“ – Russische Sprichwörter57 „Es ist noch gar nicht abzusehen, was einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte.“ – Friedrich Nietzsche58
Feedback-Kultur und QM-Denken fußen auf der Kybernetik, von der Bateson einmal sagte, sie sei in seinen Augen „der größte Bissen aus der Frucht vom Baum der Erkenntnis, den die Menschheit in den letzten zweitausend Jahren zu sich genommen hat“59. Aber hier bereits ist herauszustreichen, dass sich Batesons Aussage weniger auf die Kybernetik erster Ordnung, Systeme mit einfachen Rückmeldeschleifen und offener Systemsteuerung bezog, sondern auf das Erahnen visionärer Ansätze von Foersters oder Maturanas, der „second order cybernetic“, die
Berlin, I., zit. n.: Lovink, G., Im Bann der Plattformen. Die nächste Runde der Netzkritik, Bielefeld 2017, S. 87. 57 Osten, M., Die Kunst, Fehler zu machen, Frankfurt a. M. 2006, S. 64. 58 Nietzsche, F., Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 68, Nr. 34. 59 Bateson, G., Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1985, S.612. Für Bateson ist die „Kybernetik … ein Beitrag zur Veränderung – nicht nur zu einer Veränderung der Einstellung, sondern auch zu einer Veränderung des Verständnisses davon, was eine Einstellung ist“ (ebd., S. 611). Der Mensch muß einsehen, daß er als „Teil niemals das Ganze kontrollieren kann“ (ebd., S. 563). – Dieser Abschnitt greift stark auf Wallich, M., Autopoiesis und Pistis, St. Ingbert 1999, S. 61ff, zurück. 56
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von einer autopoietischen Schließung, einem nicht zu ermittelnden inneren Aggregatzustand, einer Eigenfunktion, ausgingen. In Bezug auf solche Theorien sprach auch Niklas Luhmann vom „Explosivstoff Selbstreferenz“60. Die Kritiken von Rombach, Habermas, Mersch, Tiqqun oder anderen kaprizieren sich auf komplexere systemtheoretische Modelle; dem Steuerungsmodell mit einer einfachen Rückmeldeschleife, wie es dem QM-Ansatz zugrundeliegt, muss dagegen unterstellt werden, einem mechanistischen Weltbild aufzusitzen. In diesem Sinn kritisiert K. Gloy Kybernetik als „radikalste Form der Technisierung“61. Selbst Kybernetiker sehen einfache Steuerungs- oder Regelmechanismen zur Erklärung menschlicher Phänomene als ungeeignet an: So meint der chilenische Biologe F. J. Varela mit Blick auf das Gehirn: „Das Verhalten des Gesamtsystems erinnert also eher an das Stimmengewirr auf einer Cocktailparty als an eine Befehlskette.“62 Herbert Jaeger sieht dagegen durch die Kybernetik heilsame Einsichten auf alle Leitungsgremien zukommen: „‚Der Wahn der Beschreibbarkeit, Beherrschbarkeit, Machbarkeit‘ ist ‚unter den Nadelstichen einer klar(er)en Einsicht‘ schon längst geplatzt: ‚Uns steht eine wunderbare Lektion in Bescheidenheit bevor.‘“63
Die kybernetische Kritik der Machbarkeit müsste auf die QM-Ansätze selbst zurückweisen. Den Begriff der „kopernikanischen Revolution“ im Zusammenhang mit Selbstorganisationstheorien rechtfertigt Paslack mit dem Hinweis, dass „jene neuzeitliche Desillusionierung des modernen Subjekts über seine operativen Möglichkeiten“ hier fortgeführt wird. Wir sind nicht nur zufällig hinsichtlich unserer Herkunft (Darwin) und undurchschaubar bezüglich unserer psychischen Struktur (Freud); undurchschaubar sind auch die Folgen unseres Handelns: „Und die moderne Chaosforschung schließlich weist unseren Anspruch zurück, auf der Basis erkannter Gesetze komplexe Prozesse zweckrational planen zu können.“64 Kybernetische Theorien konvergieren nach Paslack also mit Chaostheorien.
Luhmann, N., Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Haferkamp, H., Schmid, M. (Hg.), a. a. O., S. 307; und ders., Soziale Systeme, Frankfurt a. M. (4. Aufl.) 1991, S. 656. 61 Gloy, K., Das Verständnis der Natur. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens Bd. 1., München 1995, S. 226. 62 Varela, F. J., Kognitionswissenschaft – Kognitionstechnik, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1990, S. 136. 63 Jaeger, H., zit. n.: Arnold, R., Selbstorganisation als Modell der Pädagogik, in: Zwierlein, E. (Hg.), Natur als Vorbild: Was können wir von der Natur zur Lösung unserer Probleme lernen?, Idstein 1993, S. 86. 64 Paslack, R., Urgeschichte der Selbstorganisation: Zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig 1991, S. 183–184, und weiter: „nicht nur die Interpretation der Wirklichkeit hat durch die moderne Selbstorganisationsforschung eine Wandlung erfahren, auch unsere Erwartungen 60
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Tiqqun – ein radikaler französischer Philosoph und Systemkritiker, der mit seinem Pseudonym auf die kabbalistische Vorstellung der „Sammlung der zerstreuten Lichtfunken“ zurückgreift – problematisiert die Soziokybernetik als „Anthropotechnie“; wegen ihrer Ursprünge in der kriegsnahen Ingenieurskunst sieht er sie als ein Machtorgan, das mit Informations- und Kontrollkreisläufen arbeitet, und letztlich als „Materialisierung der Kriegsmaschine“ und „materialisierten Krieg“, mit der eine „Entleerung des Sozialen ohne Innerlichkeit“ einhergeht.65 Sie ermögliche ein alltägliches Verbrechen, die Schließung der Informations- und Kapitalkreisläufe, und halte das bionische Phantasma aufrecht, den Traum einer Modellierung des Menschen. Es ist hier zu vermerken, dass Sloterdijk unter den Begriff der Anthropotechnik alle Formen des Übens und der Mobilmachung fasst.66 Gerade religiöse Übungstechniken setzen auf die Formbarkeit des Menschen. Von daher wäre auch die Geburt der Simulation aus dem Geiste der (spirituellen) Perfektionierung abzuleiten, also eine generelle Ungefährlichkeit nichttechnischer Übungsprogramme in Frage zu stellen. Luhmann-Kritiker wie Rombach bzw. Habermas vermissen eine ideologiekritische Einbettung der systemtheoretischen Perspektiven.67 Kältemetaphern des Systems beschreiben eine „Eiswelt des positiven Seins“ ohne emanzipatorischen Anspruch. Bolz interpretiert Luhmann so, dass die Gesellschaft vernünftiger ist als der Einzelne und damit auch nicht von einem Einzelnen zu kritisieren ist. Luhmann umgeht das Thema nicht: Auch über die Unerreichbarkeit der Welt kann man noch reden – allerdings in paradoxen Formulierungen. Er meint, dass diesbezüglich die Soziologie zu ähnlichen paradoxiegeladenen Äußerungen gelangt wie die Theologie. Das Problem der Welt ist ein Problem des Anfangens. Das Paradox der Einheit der Unterscheidungen bzw. die Reparadoxierungen dieses Grundparadoxes erlauben neue Entfaltungen von Unterscheidungen und Neuarrangements der Komplexitätsreduktion.68 Der Letztbegriff der Gesellschaft verkörpert ebenfalls das Paradox, die uneinholbare Einheit des Unterschiedenen (vgl. die göttliche coincidentia oppositorum bei Nikolaus von Kues). Das Verdikt Heideggers, dass die Wissenschaft
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und Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich der Veränderbarkeit der Wirklichkeit beginnen, sich durch die ‚Wissenschaft vom Komplexen‘ nachhaltig zu wandeln.“ Tiqqun, Kybernetik und Revolte, Zürich Berlin 2007, S. 24ff.: „Die Kybernetik ist das Projekt einer Neuschöpfung der Welt durch die unendliche Rückwirkung dieser beiden Momente – trennende Repräsentation, wieder verbindende Kommunikation – aufeinander. Die erstere tötet das Leben ab, die zweite imitiert es.“ Sloterdijk, P., Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1991, S. 426–445. Luhmann, N., „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, Bielefeld 1993, S. 23.
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nicht mehr denke, vermag jedenfalls den Siegeszug der Kybernetik und Systemtheorie nicht aufzuhalten. 69 Habermas kritisiert weiter, dass Vernunft zur Komplexitätsreduktion verkommt, dass alles Operieren des Systems letztlich im Kontext der Systemrationalität, der selbstreferentiellen Bestandserhaltung, gesehen wird. Die Entontologisierung, die Umwandlung von ontologischer Latenz in Beobachterkontingenz, steht im Kontext der Selbstbehauptung des Systems; jede Operation kann nur auf dem Hintergrund der Bestandserhaltung und eines untiefen Unterscheidungsspiels gesehen werden. Habermas sieht den Sinn bei Luhmann immer perspektivisch rückgebunden und keine Möglichkeit für eine Überwindung des „Egozentrismus“/ der jeweiligen Systemspezifität. Wenn auch die System- und Subjektdimension in Habermas’ Kritik vermischt werden, so kommt er immer wieder auf das luhmannsche Primat des Instrumentellen zurück, der Mensch sei „auflösbares Letztelement“, und damit zusammenhängend auf das Fehlen von Ansatzmöglichkeiten für eine Normentwicklung. Wenn Habermas hier die Dimension kommunikativer Erdung und eine klare Priorisierung vermisst, so übernimmt er in der hier geführten Diskussion die Position der Theologie, die den normativen Intersubjektivitätsgedanken einfordert. Luhmann erwidert hier, dass Systemrationalität nur unzureichend im Konnotat des Instrumentellen gedacht wird und es mit dieser Gleichsetzung nicht möglich ist, Systemrationalität jenseits der Abhängigkeit von Zwecktätigkeit zu denken. Luhmann kann erwidern, dass gerade die zweckfreien Aspekte der Operationen des autopoietischen Systems – ebenso seine Destruktion des Zweckbegriffs – übersehen oder kleingeredet werden. Es wird darum hier eine Perspektive favorisiert, die den Elementen des Zweckfreien Rechnung trägt und um Denkmöglichkeiten von Theologie bemüht ist, die sich aus dem radikalkonstruktivistischen Ansatz heraus entwickeln lassen. Die Rede vom Selbstzweck hatte aber Luhmann als „widerspruchsvolle Protestformel“ oder „dunkle Formulierung“70 bezeichnet. Luhmann kritisiert das Operieren mit dem Intersubjektivitätsgedanken als Letztbegründung dahingehend, dass Intersubjektivität als eine Systemlösung in ihrer funktionalen Einordnung übersehen wird. „Intersubjektivität ist
Vgl. Heidegger, M., zit. n.: Fasel, G., Die Logoslehre. Hegels Logik heute, Duisburg (2. Aufl.) 1980, S. 70, 72 aus dem Augstein-Heidegger-Interview vom 23.9.1966; Martin Heidegger resümiert: „Die Philosophie ist am Ende.“ Auf die Frage „Und wer nimmt [nach der Auflösung der Philosophie in Einzelwissenschaften] den Platz der Philosophie ein?“ antwortet Heidegger lapidar: „Die Kybernetik“. 70 Luhmann, N., Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 1991, S. 16; ders., Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftlicher Perspektive, in: NHPh Bd. 20: Teleologie, Göttingen 1981, S. 23. Selbstzweck fungiert als Interdependenzunterbrecher und gibt als Wert-Ausdruck Anschlussmöglichkeiten zu Kombinationen mit Werten: „Er feiert die Notwendigkeit und das überzeugende Gelingen dieser Leistung.“ 69
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nicht Realität sui generis.“71 Wenn er Intersubjektivität in transzendentalphilosophischen Ansätzen an der zweiwertigen Logik bzw. der Pluralität der Subjekte scheitern sieht, werden dialogisch-dialektische Überlegungen nicht weit genug berücksichtigt; die relationale Theologie sah es gerade für den intersubjektiven Bereich als kennzeichnend an, dass gegensätzliche Auffassungen nicht nach einem einfachen Wahr-/Falsch-Schema ausgetragen werden. Luhmann begrenzt also nicht die Gültigkeit der funktionalen Betrachtungsweise und der zweiwertigen Codes. Selbstreferente Systeme tendieren nach Luhmann dazu, sich selbst zu bestätigen oder nach internen Maßgaben zu agieren, dies führt seine Systemtheorie auch in die Nähe von Untergangsvorstellungen: Denn im Kontext der Schließung der Systeme, in der nur noch eine Perfektionierung derselben zu erwarten ist, wird die Bedrohung des totalen Ressourcenverbrauchs durch die Kommunikation wahrscheinlicher: „Von der Evolution wird jetzt nicht mehr laufend bessere Anpassung erwartet. Die Fakten sprechen für das Gegenteil. Die Frage kann daher nur sein, wie die Gesellschaft den Zustand des vorausgesetzten Angepasstseins halten kann, den sie benötigt, um ihre eigene Autopoiesis unter Bedingungen hoher Komplexität fortzusetzen. Die Teilsystemevolutionen können auf diese Fragen keine Antwort geben. Sie machen es eher wahrscheinlich, dass die Wissenschaft immer mehr Wissen erzeugt, das zu noch mehr Unsicherheit führt, … dass die Wirtschaft immer mehr anlagebereites Kapital erzeugt, das aber nicht investiert wird, dass in der Politik im Zuge von thematischer Universalisierung der Anteil der Entscheidungen, nicht zu entscheiden, zunimmt. Dass das Recht in eine Einrahmung eingebettet wird, in der nochmals verhandelt wird und ‚abgewogen‘ wird, wie es bestimmt und ob es überhaupt angewandt werden soll oder nicht. In allen diesen Fällen nehmen Beschleunigungen und Verzögerungen gleichzeitig zu und reiben sich aneinander, so dass Synchronisationen immer schwieriger werden. Für eine junge Generation mit langen Lebenserwartungen verschwimmen die Perspektiven.“72
Ders., „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie, Bielefeld 1993, S. 15; vgl. ähnliche Andeutungen in: ders., Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?, in: Watzlawick, P., Krieg, P. (Hg.), Das Auge des Betrachters, München Zürich 1991, S. 62; ders., Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, in: Fuchs, P., Göbel, A., Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 44, 46: „Die Einheit des Subjekts ist das Paradox der Selbstbeobachtung.“ 72 Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 568; „Und hinter der zunehmenden Zukunftsunsicherheit zeichnet sich schon die Vorahnung ab, dass eine Evolution der Evolutionen unvorhersehbare Zustände ergeben wird“ (S. 567). 71
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Die Differenzierung von Gesellschaft und Interaktion erschwert nach Luhmann die Möglichkeit der Beschreibung der Gesellschaft, ebenso die Verfahren der Selbsteinschätzung. Es gehört zu den Angelpunkten luhmannscher Überlegungen, den blinden Fleck jeder Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die immer inmitten des Systems stattfindet, als nichteliminierbar herauszustellen. Der blinde Fleck, die gerade im Gebrauch befindliche Unterscheidung, die dem Beobachter das Sehen erlaubt und nicht zugleich beobachtet werden kann, kann von anderen Beobachtern gespiegelt werden.73 In der differenzierten Gesellschaft übernehmen nun die Massenmedien die Funktion der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Sie bilden nach Luhmann auch das Gedächtnis der Gesellschaft; hier kommt es zur Bestimmung dessen, was bewahrt werden soll. Dabei übernehmen sie die Aufgabe von früher religiös geprägten Memoria-Institutionen, von Erzählern etwa, die die Geschichte des Stammes oder Volkes wachhielten. Die Differenzierung der Medien bilden Differenzierungschancen der Gesellschaft jenseits von Perfektion, Ruhe und Stabilität. Es geht nicht um die Frage der „Realität der Beobachtungsoperationen“, sondern um die „rekursive Vernetzung der Systemoperationen“74, die Verwertbarkeit und Kompatibilität der in den Medien referierten Unterschiede. Die Medien als das Gedächtnis der Gesellschaft beschreiben sich selbst „als eine ontologisch nicht mehr fassbare, sich selbst in sich selbst verortende Kultur“75. Die
Wenn es zum sozialen Spiel der Unterscheidungen gehört, dass sich die Systeme gegenseitig beobachten und auf ihre blinden Flecke hinweisen können, darf die theologische Unterscheidungstheorie gerade im Dialog mit der soziologischen Logik der Differenz Einblicke in den Bereich ihrer eigenen blinden Flecke erhoffen. – Die soziologischen Leitdifferenzen dürfen von der kritischen Beobachtung nicht ausgespart bleiben. 74 Luhmann, N., ebd., S. 538. 75 Ebd., S. 594. Es ist allerdings hier auf die baudrillardsche Interpretation der Kommunikation der Kommunikation als „Es kommuniziert“ hinzuweisen; Baudrillard, J., Paradoxe Kommunikation, Bern 1989, S. 33–35: Luhmanns Maschinerie der Kommunikation ist für ihn das Ende des Sozialen: „Die Kommunikation ersetzt also gewissermaßen die Kommunion. … Alles kommuniziert, nichts berührt sich.“ Für Baudrillard erreichen die modernen Kommunikationsformen eine Vereinzelung und Ohnmacht des Individuums, die die Versklavung jeder vorherigen Epoche übersteigt. Das Ausräumen der Widerstände, die technische Eliminierung der Distanz, führt zur Aufhebung der Möglichkeiten des Kontakts, der früher gerade in der Überwindung dieser Barriere bestand. „Aber heute besteht das sicherste Mittel, jemanden zu neutralisieren, nicht mehr darin, alles über ihn zu wissen, sondern ihm zu ermöglichen, alles über alles und über sich selbst zu wissen. Man neutralisiert niemanden mehr durch Repression und Überwachung, sondern durch Information und Kommunikation, sobald man ihn zur einzigen Notwendigkeit des Bildschirms zwingt. Sie machen jemanden viel ohnmächtiger durch ein Übermaß an Information über alles …, als wenn sie ihn der Informationen berauben. So haben sich die Strategien des Systems umgedreht, aber auch die Strategien des Widerstandes. Nach dem Widerstand gegen Kontrolle machen sich nun neue Widerstände bemerkbar, Widerstände gegen Zwangsinformation und Überwältigung der Menschen durch Information und Kommunikation“ (S. 41–42). 73
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Infragestellung eines Rationalitätskontinuums ist die Konsequenz aus der funktional differenzierten Gesellschaft. „Die spezifische Modernität dieser Beobachtung zweiter Ordnung liegt nicht nur darin, dass sie nicht mehr auf eine gemeinsame Welt angewiesen, nicht mehr ontologisch prädisponiert ist, sondern auch, wenn nicht primär, die Frage verfolgt, was ein Beobachter mit seinen Unterscheidungen sehen und nicht sehen kann.“ „Kann man in einer Welt des Zaubers und der Ironie, der Imagination und der Mathematik, der Schizophrenie und der Individualisierung durch ein Sich-selbst als Beobachter-Beobachten nach Rationalität suchen? Jedenfalls nicht, wenn man meint, damit die Welt, wie sie wirklich ist, beschreiben zu können und anderen von da aus mitteilen zu können, wie sie richtig zu denken und zu handeln haben. Kein unterscheidungslogischer Rationalitätsbegriff wird jemals auf diese Position der Einheit und der Autorität zurückführen. Nie wieder Vernunft! Aber man könnte sich vorstellen, dass die Regel: beobachte den Beobachter! und die Entwicklung von dafür geeigneten formalen Instrumenten aus der puren Resignation von obsoleten Ideen hinausführt.“76
Der längere Bezug auf Luhmann unterstreicht, wie sehr auch neuere soziokybernetische Grundlagentheorien einfachen QM-Steuerungs-/Optimierungsphantasien entgegenstehen. Einfache Feedback-Modelle erscheinen auf diesem Hintergrund als Banalisierung und Infantilisierung. Luhmanns Verabschiedung der aufklärerischen Vernunft besitzt eine eigene Relevanz. Das Qualitätsmanagement hat also zumindest das aktuelle Systemdenken und seine (postmoderne) Vernunftkritik aufzunehmen. Heinz von Foerster hat schon gegen die Trivialisierung durch Multiple-Choice-Tests formuliert, dass Tests mehr ihre Tester als die Testpersonen auf die Probe stellen. Er plädiert in seinen späteren Schriften immer häufiger für eine Lethologie, für eine Theorie, die sich mit dem Unentscheidbaren auseinandersetzt: Denn nur die unentscheidbaren Fragen lassen sich entscheiden; die entscheidbaren Fragen sind immer schon entschieden, und für die QM-Transformationsversuche, unentscheidbare Fragen zu trivialisieren/quantifizieren, hätte von Foerster nur ein Lächeln übrig. Von Foerster beendet seine Vorträge mit einem MartinBuber-Zitat und einem kurzen Kommentar, dass er nicht mehr sagen will als dieser. Die Bezüge des Kybernetikers von Foerster auf Buber unterstützen erneut das Plädoyer für einen Bildungsbegriff, der sich von Quantifizierungsversuchen absetzt. Schließlich unterscheidet Buber ganz im Sinne Habermas’ zwischen instrumentellen Ich-Es- und kommunikativen Ich-Du-Beziehungen. Derartige Voraussetzungen zu machen, liegt Luhmann natürlich fern. 76
Luhmann, N., Beobachtungen der Moderne., Opladen 1992, S. 45, 75–76.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Vielleicht kommt erst die Zeit für die Entgegensetzung von Luhmanns System und Rombachs Struktur. Der Freiburger Philosoph wandte sich dagegen, Systemrationalität und menschliche Ratio gleichzusetzen, die Dynamik der Strukturontologie gegenüber der Autopoiese zu vergessen. Die Ausführungen dieses Kapitels wollen als Versuch gelesen werden, die Perspektivität und den blinden Fleck der QM-Beobachtung näher zu bestimmen. Schließlich sind die FeedbackMethoden alles andere als neutral. Wenn etwa ein so genanntes Stimmungsbarometer am Ende eines Projekttages eingesetzt wird, so zwingt das alle Beteiligten dazu, ihre Meinung offen äußern zu müssen durch die Positionierung im Raum auf einer Skala zwischen blau/kühl (nicht gelungene Veranstaltung) und rot/warm (gelungenes Projekt). Man kann eine solche Methode, deren Einsatz im Vorfeld zu wenig reflektiert gewesen sein mag, als Mittel verstehen, Gruppen zusammenzuschweißen oder auch durch Einsatz von Transparenzdruck „auf Linie“ zu bringen. Jedenfalls widerspricht der Bekenntniszwang dem Beutelsbacher Konsens, der jedem Schüler garantiert, unaufdringlich eine eigene Positionierung vorzunehmen und in seiner Meinungsbildung nicht bedrängt zu werden.
Zur „unheiligen“ Magie der Kompetenz „Dort, wo die am stärksten verdinglichten und verfestigten Beziehungsweisen, jene, die kaum überhaupt als Beziehungen erscheinen, reflexiv zur Disposition gestellt werden, lässt sich von Revolution sprechen.“ – Bini Adamczak77
Volker Ladenthin problematisiert in seinem Vortrag „Brauchen wir Kompetenzen?“, dass der empirisch belegbare Kompetenzbegriff der Psychologie unkritisch auf die Pädagogik übertragen wurde, dort inzwischen inflationär gebraucht zur Leerformel mutiert. In der pädagogischen Arbeit verflüchtigt sich die psychometrische Genauigkeit des Begriffs, wenn etwa von moralischer Kompetenz die Rede ist.78 Kompetenzorientierung erweist sich als Schlüsselkategorie in der McDonaldisierung der Gesellschaft (George Ritter), im sich fortsetzenden weberschen Rationalisierungsprozess. Outputorientiert bezeichnet Kompetenz das Ergebnis des Lernens, das Verfügen-Können über „Kenntnisse und Methoden, Fertigkeiten und Fähigkeiten“, an die Quantifizierungsversuche sowie die generelle Effizienz- und
Adamczak, B., Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, S. 245. Ladenthin, V., Brauchen wir Kompetenzen?, in: AG der GEW Hessen „Gegen die Ökonomisierung der Bildung“ (Hg.), Die Schule ist kein Wirtschaftsbetrieb. Bildung in der Effizienzfalle, www.gew-hessen. de 2016, S. 51–60. Der Band sammelt die Vorträge der Ringvorlesung von 2015/2016.
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Kontroll-Orientierung anknüpfen können: „Doch ein standardisiertes Individuum ist keines mehr.“79 Dass mit einem „instrumentellen Demokratieverständnis“ zugleich eine „Instrumentalisierung der Bürger“ einhergeht80, ist die These von Matthias Burchardt, die ähnlich wie Ladenthins Ausführungen im Rahmen einer Ringvorlesung der Universität Frankfurt vorgestellt wurden. Burchardt legt im Einzelnen dar, wie stark die BertelsmannStiftung eine Ökonomisierung der Bildung forciert, mittels Studien in der Öffentlichkeit Reformdruck erzeugt und Bildungspolitik in ihrem Sinne soft und unmerklich meritokratisch „umprogrammiert“. Das von der Stiftung in Kursen gelehrte Changemanagement, das Lancieren und die Durchsetzung von Leitungszielen unter Umgehung vorhandener demokratischer Strukturen, kommt dabei direkt zur Anwendung. Neben Burchardt weist auch Jochen Krautz auf die Gefahr der Entwurzelung (Simone Weil) hin. Destabilisierung und Verunsicherung war die erste Phase des Changemanagements, die die Öffentlichkeit für Neuerungen empfänglich macht. Entwurzelungen setzen sich epidemisch fort, denn entwurzelte Eltern und Lehrer geben ihre Leere an ihre Kinder und Schüler weiter.81 Die fatale Konstellation hat Simone Weil in ihrer Monographie über Verwurzelung schon 1943 beschrieben: „Wer entwurzelt ist, entwurzelt auch andere. Wer verwurzelt ist, entwurzelt niemanden.“82 „L’enracinement“, Verwurzelung, als seelisches Urbedürfnis ist für Simone Weil nur auf dem Boden einer fundierten philosophisch-theologischen Bildung, einer Klärung des Glaubensbegriffs und Hinwendung zu religiöser Weisheit, möglich. Man könnte die Pluralisierungsdebatte erneut beginnen, wenn man mit Žižek den Versuch der Repristinierung einer bruchlosen Verortung im Mythos oder des Phantasmas einer geschlossenen funktionierenden Ordnung ohne Leerstellen problematisiert und keineswegs für angebracht hält. Der Bezug auf die weilsche Verwurzelung verdeutlicht aber das Erfordernis, dass Bildung die gründliche, jedem Nützlichkeitsdenken enthobene, entschleunigte Auseinandersetzung mit
Ebd., S. 57. Burchardt, M., Liebesgrüße aus Gütersloh. Eine unsachlich-polemische Meinungsäußerung, in: AG der GEW Hessen, (Hg.), ebd., S. 37–49) 45. 81 Krautz, J., Zersetzung von Bildung: Ökonomismus als Entwurzelung und Steuerung. Ein Essay, in: AG der GEW Hessen (Hg.), ebd., S. 15–34. 82 Weil, S., Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber, Zürich 2011, S. 47. Man darf Weils Diagnose nicht übergehen: „Die heutige Gesellschaft gleicht einer gewaltigen Maschinerie, die beständig Menschen verschlingt und die niemand beherrschen kann; und diejenigen, die sich für den gesellschaftlichen Fortschritt opfern, gleichen Menschen, die in ihr Getriebe und Räderwerk eingreifen, um sie zu stoppen, und dabei selbst zermalmt werden … Unter allen Namen, mit denen er (der Feind der Menschheit) sich schmückt, ob Faschismus, Demokratie oder Diktatur des Proletariats, bleibt der Hauptfeind der Verwaltungs-, Polizei- und Militärapparat“ (zit. n. Bauer, Ch., Simone Weil: Politische Anästhetik im Selbstversuch, in: Kohns, O. (Hg.), Perspektiven der politischen Ästhetik. Texte zur politischen Ästhetik 2, Paderborn 2016, S. (179–216) 191). 79 80
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existentiellen Themen umfasst, und die Hoffnung, dass das philosophisch-theologisch geschulte Subjekt sich der Quantifizierungswut verweigern, den Pseudoreformismus leerlaufen und letztlich scheitern lassen kann. Das Anliegen von Gelhards Studie „Kritik der Kompetenz“ (Zürich 2011)83 scheint ähnlich gelagert, nämlich unter Rückgriff auf die pädagogische oder sozialwissenschaftliche Tradition die Kritik der Zauberformel Kompetenz zu verfeinern. Dabei unterbleiben ausgedehnte Bezüge zur Bologna-/PISA-Reform. Gelhard lehnt sich an Foucault an und erinnert daran, dass religiöse Übungspraktiken in die Erziehung übertragen werden und dort eine „‚disziplinäre Form‘ annehmen“. Der Unterschied der beiden Regimes der Ausbildungsorganisation, die „Umstellung von der ‚Initiationszeit‘ der traditionellen Ausbildung auf die ‚Disziplinarzeit‘, die Lernstoffe gliedert, Übungen nach Schwierigkeitsgraden staffelt“, muss deutlich markiert werden (37). Das gegenwärtige Optimierungsparadigma bleibt aber quasireligiös aufgeladen; es greift nach der Überformung des ganzen Menschen. Die religiöse Übung der Gewissenserforschung wird in Optimierungsfragebögen umgemünzt und weitergeführt. Der God’s-Eye-View mutiert zur QM-Kontrolle, der Gewissenszwang perfektioniert sich; der Kontrollblick lässt dabei für eine liebende, bedingungslose Annahme jenseits von Training und Vorleistungen, das Kernmoment der christlichen Botschaft, keinen Platz. Gelhard gelingt es, das Ausmaß des pädagogischen Kontrollsystems, das auf Kompetenz setzt, und die mit ihm einhergehenden metaphorologischen Verschiebungen auf der Folie der Philosophie Kants, Schillers, Hegels und Kleists klarzumachen. Das QM-System arbeitet auch weiterhin mit dem Rekurs auf das Exemplum; das erinnert zwar an frühere Erbauungsschriften (109), erhält allerdings eine neue Richtung. Das Konzept der emotionalen Intelligenz und Kontrollmethoden wie das 360°-Feedback verstärken die Totalisierungs- und Mobilisierungstendenz der modernen Pädagogik; das ganze Leben soll in Form gebracht werden (112–117). Während Kreativität für Kleist noch Konfliktbeladenheit bedeutete, wird diese Kategorie in der gegenwärtigen Psychotechnik leitbildadaptiv domestiziert und normalisiert (122); auch der Umgang mit sich selbst wird zur kontrollierbaren, evaluierbaren Fertigkeit (132). Durch Fragebögen werden Antworten/Antwortmöglichkeiten formalisiert und vergleichbar gemacht, die „responsive Freiheit“ wird normiert und extrem eingeschränkt; standardisierte Feedback-Verfahren verdrängen Alternativen (130). Man darf annehmen, dass sich frühere Umschreibungen von Lebenszielen in der Lebenskunst-Literatur als weniger rigide oder formbildend-bedrängend erwiesen. Inzwischen haben sich die Beurteilungsinstanzen multipliziert. Dabei schließen sich Bewertung und fundamentale personale Anerkennung aus, was Psychologen auch keineswegs verschweigen: „Nicht irgendeine Beurteilung ‚als x‘ … ermöglicht das Verhältnis gegenseitiger Anerkennung, sondern der elementare Verzicht“ darauf Die Seitenverweise zur ersten Auflage von Gelhards „Kritik der Kompetenz“ finden sich im Text.
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(144). Die Ausweitung der Kompetenz-Kriteriologien und diversen Tests geht mit einem weiteren Siegeszug der kapitalistischen Verwertungslogik einher. „Die Logik der Bewährung ist eine Konfliktlogik“ (144). Gelhard erinnert daran, dass Hegel sich seinerzeit gegen die Überspanntheit, mit der Kirchen Gefühle steuern oder lenken wollten, zur Wehr setzte (147). Wieviel nötiger erscheint heute ein entschiedenes Nein zu der aggressiven Expansion der Trainingsindustrie und Optimierungsreligion? Der Frage unterläuft jedoch ein historischer Kurzschluss; sie übersieht, wie sehr das Dispositiv, die Machtformation, in die Haltung und Formation der Körper und sein Begehren übergegangen ist. Der Frage nach Oppositionsmöglichkeiten geht Gelhard in der Neuauflage seiner „Kritik der Kompetenz“84 nach. Er betont die Negativität des Lernens, die im Kompetenzhype total übergangen und verdrängt wird. Der Kompetenzerwerb gestaltet sich immer systemaffirmativ (123); Psychotechniken deuten Autonomie in Aktivität oder Selbstorganisation und Bildung in selbstreguliertes Lernen (Lernen zu lernen) um. Die Rede von Problemlösungsstrategien bewirkt eine Entpolitisierung pädagogischer wie politischer Begriffe (127). Dass Lernen gerade auch den Erwartungshorizont überprägt, also vor allem Umlernen/ Verlernen bedeutet (139), gehört schon zu Grundeinsichten der Hermeneutik. Bei der Gegenüberstellung von Kompetenzdenken und philosophisch-pädagogischer Tradition wird deutlich, dass im Horizont von Soll-Ist-Abgleichen oder Anpassungsleistungen das Ziel der Autonomie des Subjekts verblasst und nicht zur Dimension der Zweckfreiheit/des Selbstzwecks der Person vorgestoßen werden kann. Beim selbstregulierten Lernen bleibt die Autorität des Gegebenen unhinterfragt, die Bildung wesentlich zur Disposition stellt (142). Leitziel oder Grundkoordinate der neuen Kompetenzorientierung ist demnach Anpassung, und nicht Mündigkeit. Bildung impliziert gerade die Reflexion der Herrschaftsbeziehungen, Souveränität gegenüber Systemarrangements und Offenheit für Devianz. Verstehensbemühungen bleiben vor dem Ungewöhnlichen nicht einfach stehen; gerade die „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher) wird nochmals hinterfragt; neue Lesarten werden gesucht; das Fenster für neue Möglichkeiten der Annäherungen wird nicht aus Ressourcenmangel oder Pragmatismus geschlossen. In Gelhards Analyse erscheint es plausibel, dass die häufig vernommene Reformrhetorik, die Appelle für pädagogische Paradigmenwechsel oder Polemiken gegen das Bürokratische, schließlich den bestehenden Disziplinar-Komplex stabilisiert (156), solange die Ausrichtung an objektivierbarer Effizienz und Kontrolle sowie die Prüfungskriteriologie der Testindustrie bestehen bleiben. Gelhard diagnostiziert wie Sloterdijk eine erneute Ausweitung des Schulraums (Hyperscholastik): Wenn Lernplaner und Lernbegleiter zu „Seelenleitern“ 84
Gelhard, A., Kritik der Kompetenz, Zürich (3. Aufl.) 2018; die Seitenzahlen zu den Zitaten/referierten Textseiten der Neuauflage finden sich ebenfalls im Text.
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werden (158), also Funktionen von Mystagogen, Kultführern übertragen bekommen, setzt sich der Triumph des Kompetenzdenkens weiter fort, diesmal mit unverhohlen religiösen Konnotationen.
Die kapitalistische Leistungsreligion – Zur brüchigen Selbstimmunisierung des Perfektionismus „What gets measured gets managed.“ – Peter Drucker85 „Wir dienen nicht nur der Freiheit, sondern die Freiheit selbst macht sich uns unmittelbar zu Eigen.“ – Slavoj Žižek86
Jacques Derridas Frage, welche Zukunft immer im Kommen ist87, übersteigt gegenwärtige Risikodiskurse und Zeitanalysen; sie relativiert soziologische Trends mit Blick auf einen unverfügbaren Horizont und bildet damit schon ein Moment eines Auswegs. – Vor der Skizzierung von Alternativen steht allerdings der beklemmende Hinweis auf die metastasierenden Wucherungen des Religiösen in der postsäkularen Postmoderne. Die religiösen Imprägnierungen der Ökonomie, die kultische Inszenierungen von Produkten (das „Altardesign“, das „Kultmarketing“, die diversen Möglichkeiten der Fetischbildung; vgl. Kap. 4.1 B./2.) wurden bereits herausgestellt. Sie wurden als Konturen der Konsum-/Medienreligion identifiziert. Dabei kam ein funktionaler Religionsbegriff zur Anwendung, d. h. Aufgaben von Religion wie Kontingenzbewältigung, Befriedung der Gesellschaft werden (außerhalb der etablierten Religionen) manifest. Immer wenn Letztbegriffe eingesetzt und auratisiert werden, besteht Verdacht auf Religion. Bei „Bildung“ und „Leistung“ handelt es sich zweifellos um aufgeladene Begriffe, deren Suggestionskraft und Magie weit über das Feld der Pädagogik hinaus strahlen: Sie verbürgen Selbstzufriedenheit und Lebenssinn und versprechen als kapitalistische Universallösungsschlüssel ebenso soziale Anerkennung und Aufstieg. Der Bildungskult und die Erfolgsreligion amalgamieren. Im Kontext des Strebens nach Selbsterlösung müssen alle Ressourcen mobilisiert werden. Zur Ausschöpfung des eigenen Potentials gehört damit auch die Erschließung innerer
Drucker, P., zit. n.: Grassegger, H., Das Kapital bin ich. Schluss mit der digitalen Leibeigenschaft, Berlin 2014, S. 29. 86 Žižek, S., Der göttliche Todestrieb. Sigmund-Freud-Vorlesung 2015. Mit einer Einleitung von Victor Mazin, Wien 2016, S. 76. 87 Ebd., S. 20. 85
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Kraftfelder, das „Anzapfen“ spiritueller Kräfte; d. h., es kommt zur (religiös-pädagogischen) Doppelkodierung des Selbstmanagements. Weist das Paradigma der Bildungsoptimierung nun tatsächlich Parallelen zum Selbsterlösungskult der Gnosis auf? Die These vom Vorliegen einer gnostischen Bildungsreligion erlaubt es, eigentlich in Religionen beheimatete Denk- und Unterscheidungsmuster im schulischen Bereich zu identifizieren. Die Arbeit von Metaevaluationsteams, die für einige Tage Schulen besuchen und dabei auf interne Daten zugreifen und Interviews mit Schülern und Lehrern führen, wird ja schon intern scherzhaft mit dem Regiment von „Meta-Inquisitoren“ verglichen; sie erstellen Mängellisten und geben einen Ziel-/Maßnahmenkatalog vor, der bis zu ihrer bange erwarteten Wiederkehr erfüllt werden muss. Aufgrund des hohen Stellenwerts und der Wirkmacht des Qualitätsmanagements erfolgt eine interne Segregation und Hierarchisierung; so geht man nicht fehl, die Controller-Riege als Elite von Pneumatikern zu titulieren, die die uneingeweihten Schüler und Lehrer (Somatiker) begutachten. Die Lehrerschaft vor Ort leistet ihren Dienst auf den unteren Ebenen der Priesteraristokratie mit einer abgestuften Erlaubnis zur Auswahl/Bewertung. Einige Kollegen wähnen sich bereits auf dem rechten Weg; sie fühlen sich berufen, über den Unterricht von Kollegen zu urteilen; Schulleitungen suchen nach Methoden, um die Renitenz der „Pappenheimer“, die man ja nur allzu gut zu kennen glaubt, zu brechen und einen höheren Mobilisierungsgrad für Qualitätsmanagement-Aktivitäten wie kollegiale Unterrichtsbesuche zu erreichen. Allerdings müssen auch Meta-Evaluatoren konzedieren, dass es womöglich mehr Austausch und Vereinbarungen unter Kollegen gibt als in den Intra-Netzen der Schule dokumentiert. Erhalten Lehrer von ihren Schülern zu positive Bewertungen, kann das ein Indiz dafür sein, dass sie zu niedrige Anforderungen stellen; ein negatives Feedback nährt ebenso den Verdacht auf Defizite in der Unterrichtsgestaltung. Der Interpretationsspielraum für MetaEvaluationen und Steuergruppen ist groß; die Arbeit an der Unterrichtsentwicklung ist nicht abschließbar und darum perpetuiert sich der Kontrollzugriff. Das Zutrauen, dass Lehrer im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Methoden und Unterlagen ohnehin modifizieren, ist unter Evaluatoren nicht verbreitet. Es entzöge ja auch dem eigenen Agieren die Grundlage. Dass mit Bildung als einem Letztwert soziale Probleme individualisiert werden, dass es infolgedessen nur noch Qualifizierungsprobleme gibt und keine strukturellen Armuts- oder Arbeitsmarktprobleme, ist ein nützlicher Seiteneffekt der Umdeutung. Schüler werden als Mysten initiiert und auf die magischen Bildungsziele eingeschworen, das Abitur verleiht eine wichtige Weihe, die weitere, höhere Reputationsgewinne verheißt. Auf dem Hintergrund der bildungsreligiösen Aufladung immunisiert sich Schule als zentraler Ort der Vorauswahl von Chancen künftiger sozialer Teilhabe. Die Fixierung auf Abschlüsse, die eine besondere Dignität ausstrahlen, lässt den allgemeinen Bildungsauftrag jenseits von Prüfungs- und Abschlusstrainings verblassen. 502
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Der durch das Qualitätsmanagement stabilisierten Bildungsreligion scheint nun ein gnostischer Glaube an Selbsterlösung und auch eine Theorie der Selbstverschuldung – das wäre die andere Seite der Medaille – zugrunde zu liegen. Die Gnosis operiert immer schon streng dualistisch (sie dividiert Kollegien in zukunftsfähige Aktivposten und rückwärtsgewandte Blockierer) und gibt einen klaren Heils- und Erkenntnisweg vor. Während die historische Gnosis eine asketische Arkandisziplin bereithielt, die mit strikter Leibfeindlichkeit und Vergeistigungsund Vergöttlichungsaussichten ambitionierte Eliten herausforderte, gebärdet sich das QMProgramm testfixiert, an nachprüfbaren und vergleichbaren Skills orientiert. Es verwandelt Bildung in eine an Transparenz, Kontrolle und Machbarkeit ausgerichtete, kompetenzbasierte Erziehungstechnologie. Wurde in der Klassik Bildung als Selbsterziehung verstanden, so blieb der Optimierungsdruck noch deutlich begrenzt; der christliche Heils- und Erlösungskontext sollte vor Überforderungen und der Hybris vermessener Ziele schützen: Schließlich bilden in Johann Gottfried Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität“ von 1792/93 „Billigkeit und Güte“ die Richtschnur des Verstandes, die Maßgabe für die Selbstbetrachtung sowie das Handeln. Fehler haben bei Herder eine nützliche Funktion, sie „gereichen zum Besten“, vor allem dienen sie der Selbsterkenntnis.88 Selbsterziehung bedeutet menschliche Reifung, nicht das Phantasma leistungsoptimierter Selbsterlösung. Auch bei T.S. Eliot findet sich ein Lob der Demut, der Tugend der humilitas: „Die einzige Weisheit, die zu erlangen wir hoffen dürfen, / ist die Weisheit der Demut: Demut ist endlos.“ „Aber die Stelle / zu erkennen, wo die Zeit das Zeitlose / kreuzt, ist kein Beruf für Heilige – / auch kein Beruf, sondern etwas, was gegeben wird/ und genommen, im Liebestod eines ganzen Lebens, / Inbrunst, Hingabe, Aufopferung. … / Das sind nur erste Andeutungen/ Fingerzeige, Rätselraten; der Rest / ist Gebet, Zucht, Innehalten, Denken, Handeln, / das, worauf der Finger zeigt, die halberkannte Gabe: Fleischwerdung.“89
Die Gedanken der Inkarnation oder auch der guten Schöpfung bilden die kontroverstheologischen Kategorien, die (Leistungs-)Gnostiker immer zurückweisen werden und niemals annehmen können: Es fehlt im QM-Überich-Kult die Nachsicht, gewissermaßen der Sonntag, das Stillstehen der Optimierungsmaschine. Untrügliche Indizien für das Vorliegen eines bodenlosen Überich-Kults sind seine Verschuldungslogik und seine Drohung mit harten Herder, J. G., 25. Brief: Über den Charakter der Menschheit, in: Briefe zur Beförderung der Humanität. Bd.1, Berlin Weimar 1971, S. Nr. 23–25. (www.zeno.org). 89 Eliot, T. S., Vier Quartette, Berlin 2015, S. 33, 61f. 88
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Ausschlüssen. In einer kalten Leistungsreligion ist nicht mehr von Gabe/Charisma/Gnade (gratia gratis data) die Rede. Gnostische Esoterik entsolidarisiert und führt das Perfektionsoder Optimierungsstreben zur Kaprizierung auf das eigene Ich; das Qualitätsmanagement leitet zur Selbstinstrumentalisierung an; Leitbildprozesse, Scores und Rankings provozieren das Selbstmarketing und den Wettbewerb auf verschiedensten institutionellen Ebenen. Da das Christentum als „Fremderlösungsreligion“ einen Ausweg weist, da es nicht bei der Fixierung auf der Eigenleistung und bei Schuldzuschreibungen ansetzt und Selbststeigerungszirkel durchbricht, haben kapitalistische Leistungs-/Bildungsreligion und Christentum/Weltreligion wenig gemein. Eine Aktualisierung des Vaterunsers mit einer Bitte um „Erlösung vom Alpdruck des Perfektionismus“ läge schon fast nahe: Das Qualitätsmanagement fördert indes regressive Strategien, die – wie bereits kritisiert – menschliche Unzulänglichkeit ausnutzen und Herrschaftsformationen stabilisieren. Das schulische QM zielt in einer zwangsneurotischen Permanenz der Verbesserung auf Positivierung und befeuert dabei einen wenig lebenstauglichen Überich-Terror, eine ängstliche Fixierung und Überreflexion, die möglicherweise auch schon für die jansenistisch-pietistische Selbsterforschung typisch war: Natürlich kann man gewissenhafter protokollieren und dokumentieren, noch einen weiteren Kontrollanruf in der Firma der Praktikanten tätigen, und vielleicht sind vier Meetings besser als nur drei usw. – Vor Burnout-Überlastung soll daher ein Gesundheitsmanagement bewahren. Selbsterlösungsprogramme90 verstricken den Einzelnen in Zirkel der Selbstüberforderung: Je mehr man gehorcht, desto schuldiger wird man. Wie Žižek nachweist, zeigt sich hier die obszön-sadistische Seite des Überichs: Der innere Befehlsgeber, der sich in immer neuen Maximalforderungen aufstellt, genießt das Scheitern des Ausführenden, die Unzulänglichkeit der körperlich-volitiven Ausstattung: Kants Pflicht ist dagegen klar von den Überich-Suggestionen zu unterscheiden. Trotz der bildungsreligiösen Zweckentfremdung des Begriffs und der Optimierungs missverständnisse der QM-Theorien scheint der Rekurs auf die so arg geschundene Bildungskategorie nicht hinfällig oder substituierbar. Das Plädoyer für Herzensbildung wendet sich gegen gnostische, bildungsreligiöse Überreiztheiten. Kardio-Pädagogik hat hier den Widerstand gegen evaluative (Selbst-)Objektivierungen zu mobilisieren und Freiräume zu reklamieren. Im Sinne Rousseaus wäre eine friedliche, behutsame Selbsteinschätzung ein Ausstieg aus der Optimierungsspirale; schließlich will er – so zumindest die Absicht seiner „Bekenntnisse“ – ohne Beschönigungen und nachträgliche Aufhübschungen auf seinen Lebens- und Erkenntnisweg schauen. Es wird erneut deutlich, dass Theologie ohnehin dazu anleitet, sich 90
Bolz, N., Selbsterlösung, in: Bolz, N., Reijen, W. v. (Hg.), Heilsversprechen, München 1998, S. 209–220.
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gegen Objektivierungen und auch Selbstobjektivierungen zur Wehr zu setzen. Die christliche Rechtfertigungslehre sieht jede Leistung wiederum als Geschenk. Dass ich lernen kann/darf, geschieht in einem Kontext der Dankbarkeit, die ohne übersteigerten Stolz eigene Grenzen annehmen kann. Auch auf dem Hintergrund von Martin Buber, Erich Fromm, Karl Jaspers und existenzialistischen Denkern erscheint der hohe Stellenwert der QM-Technokratie in pädagogischen Prozessen fragwürdig. Es reicht schließlich ein Statement von Lévinas, um das System der Objektivierung zerfallen zu lassen und die zentralen pädagogischen Grundkoordinaten zurückgewinnen zu können: „Sobald der Andere formbar wird, verliert er sein Angesicht.“ „Die Herrlichkeit des Unendlichen ist Anarchie im Subjekt, das aufgeschreckt ist und keine Ausfluchtmöglichkeit hat.“91
Die QM-Programmatik scheint stereotyp und für Gesichtsdimensionen blind zu sein; Gewalt kann als eine Formation ohne Gesicht beschrieben werden, meint Jean-Luc Nancy hellsichtig und unter Bezug auf Lévinas; bloße Verobjektivierung wäre somit als Urform von Gewalt zu verstehen.92 Sie stört oder zerstört gerade die Basis dessen, was sie messen will, die Beziehung von Lehrern und Schülern. (Längst gibt es auch in der Beratungsbranche die Maßgabe, die Effekte von Gesprächen zu evaluieren und weiter zu prüfen.) Daher können sich Lehrer vor Ort nur auf die Seite derer stellen, die auf das Vertrauen und auf ein Schulklima setzen, das Bewertungsregime begrenzt. Der Positivist, der sich nur an das Messbare hält, kann keine Bildung erreichen. Zuweilen zeichnen sich geistige Entwicklungsprozesse erst später ab; zu schnelles Kontrollieren und häufiges Messen verunsichern Schüler; diese drohen ungeduldig mit sich und mutlos zu werden. Es tut also Ruhe und Gelassenheit Not. Schon die Zuversicht der Schüler, dass Lehrer schon ihrem „Job“ nachgehen, es sich nicht zu einfach machen und ihnen den Rücken freihalten, beugt Überforderungen vor. Wirkliche „Qualitätssicherung“ kann demnach für die konkrete Lehrer-Schüler-Interaktion nur heißen, testfreie Räume zu eröffnen, Arbeits- und Terminbelastungen zu beschränken oder über die mühevolle Arbeit hinausgehende Ausblicke und Gelegenheiten anzubieten, sich selbst weiterzuentwickeln. Da Maßnahmen der Entlastung von Lehrern vonseiten der Schulbehörde nicht erfolgen, stehen Kollegen weiterhin unter permanentem, vielfachem Druck. Lévinas, E., Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996 (letzte Vorlesung von 1975–1976), S. 208. Nancy, J.-L., zit. n.: Jürgens, A.-S., Das versehrte Lachen. Neomoderne Gewaltclowns in der Literatur, in: Liggieri, K. (Hg.), „Fröhliche Wissenschaft“. Zur Genealogie des Lachens, Freiburg München 2015, S. (296–318) 312; ganz im lévinasschen Sinne: „Gewalt stellt sich als Gestalt ohne Gestalt aus; sie ist Zur-Schau-Stellung (monstration) und Darbietung, Ostentation dessen, was ohne Gesicht bleibt.“
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Es mag sein, dass plakative Sätze, die die Umbrüche der Industrie 4.0 beschreiben, wie „software is eating the world“, „Go fast, break things!“ die neue Irritation und das Bedrohungsszenario andeuten, dem sich das Subjekt ausgesetzt sieht. Byung-Chul Hans Analyse der „Müdigkeitsgesellschaft“ expliziert aber unter Rekurs auf Obamas „Yes we can“ den Überdruck und die Strategien der Unterwerfung: Han macht deutlich, dass Arbeitgeber bzw. Arbeitsregime nicht mehr mit einer klaren „Du sollst“-Imperativik arbeiten. Diese autoritäre Struktur machte noch eine Opposition und Distanzierung einfach. Dispositive bzw. Herrschaftssysteme haben auf „Ich kann“ (oder wohl präziser: „Ich muss können“) umgestellt. Die Verfänglichkeit zur Selbstunterdrückung und Selbstausbeutung ist im Kontext dieses Leitimperativs viel größer. Unter den Vorzeichen der Selbstverwirklichung im Beruf und der Anleitung zur emotionalen Partizipation und Identifizierung sollen das arbeitende Subjekt, Lehrer und Schüler sich stärker engagieren. Unter dem Vorzeichen von „Ich kann“ sind der Selbstobjektivierung keine Grenzen mehr gesetzt. Lehrer sind wohl immer geneigt, im Konfliktfall für die Schüler und gegen die eigenen Interessen zu entscheiden, etwa eher auf eine interessante Fortbildung zu verzichten, als Unterrichtsstunden vor der Prüfung ausfallen zu lassen. In den Kontext des „Ich muss können“ gehört die kultusministerielle Reaktion auf Überlastungsanzeigen, wonach Postmoderne heiße, dass jeder heute für zwei arbeite; Überlastungsanzeigen entbehrten also jeder Grundlage; so ein erster behördlicher Bagatellisierungsversuch.93 Der sloterdijksche Vorschlag, gegen die modernen kopernikanischen Mobilmachungen postmodern-ptolemäisch abzurüsten, also gegen die Entmythologisierungswut und den Schnelligkeitswahn dem Augenschein und den konkreten Erfahrungen Geltung zu verschaffen sowie aus dem modernen Selbststeigerungswahn auszusteigen, hat sich verflüchtigt.94 Die Widerständigkeit der Leistungsparolen und die Perfidie der
Höhere Anforderungen im Beruf werden auf die sich verändernde Gesellschaft, die Postmoderne, zurückgeführt und normalisiert. „Überlastung ist eine Begleiterscheinung der Postmoderne, so das hessische Kultusministerium“ (Freiling, H., Blick in den Landtag Plenardebatte zur Arbeitsbelastung von Lehrerinnen und Lehrern, in: HLZ, 1–2/2018, S. 24f). 94 Rosas Resonanz-Konzept plädiert ganz ähnlich wie Sloterdijk für einen Ausstieg aus der Selbststeigerungsdynamik, vgl. auch Rosa, H., Unverfügbarkeit, Wien Salzburg 2018. Zuletzt plädiert Rosa, H., Ohnmacht. Was muss sich ändern? – Es herrscht rasender Stillstand. Unser Verhältnis zur Welt ist versteinert, in: Die Zeit vom 11.7.2019, Nr. 29, S. 38f, für „ein schonendes Naturverhältnis“, einen Mittelweg zwischen Aktiv und Passiv, für ein mediales Lassen. Wie die griechische Konjugation ein drittes Genus Verbi, das Medium, kennt, so soll nun auch in unserem Denken, das diese sprachliche Möglichkeit nicht kennt, ein Mittelweg zwischen Aktiv und Passivität gewonnen werden; ein „medioaktives“ oder „mediopassives“ Weltverhältnis, das die Überlastung des souveränen Subjekts zurückweist und auch seine Abhängigkeiten und Einbindungen anerkennt. Žižek schlägt unter drastischem Verweis auf Finchers „Fight Club“ vor, die Bindung an den Herrn aus sich herauszuprügeln. Er betont, wie wichtig es ist, sich auf die Seite der eigendynamischen Partialobjekte, hier der Faust, zu stellen, dass es aber so 93
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Überich-Unterdrückung lässt eine einfache und leichte Opposition unwahrscheinlich erscheinen. Diese bedrückende Perspektive weist auch Martin Walser auf. Martin Walsers Büchner-Preisrede nahm bereits 1981 die kapitalistische Leistungsreligion unter die Lupe; seine eindringlichen Worte dürfen bei einem Charakterisierungsversuch ihrer malignen Konturen nicht übergangen werden. Mit Verweis auf Büchners „Lenz“ stellt Walser zunächst heraus, dass der Mensch, der merkt, dass Gott nicht hilft oder helfen kann, mit Gott zu ringen beginnt. Das Wahnsinnigwerden von Lenz verkörpert die extreme religiöse Verzweiflung und das Mitleiden an der Ohnmacht des christlichen Gottes. Lenz und Büchner gleichermaßen lassen sich nicht „durch Bildung, Aufstieg, Genialität“ von ihrer Solidarität mit den Leidenden abbringen oder zu einem elitären Denken verführen. Bis zu aktuellen Interviews ist es Walser wichtig, dass der Gottesbegriff die Stelle markiert, dass etwas fehlt, und dass es ein Krankheitssymptom und Warnzeichen unserer Gesellschaft ist, wenn dieses Fehlen verwischt und zugekleistert wird. Walser wird nicht müde, in Verbund mit Büchner und Lenz das Fehlen zu artikulieren und den christlichen Gott wegen seiner Untätigkeit anzuklagen. Auch wenn Gott stirbt, wird Theologie nicht minder wichtig: „Der Heilige Geist in uns ist das, was uns gemeinsam ist. Das wird geschändet durch alles, was aus Unterschieden herrschaftlich herausgewirtschaftet wird. Und ein Gott, der gegen diese Bewirtschaftung, diese Ausbeutung der menschlichen Lage nichts bietet, stirbt.“95 Walser sieht für die Religionen, besonders für das Christentum die Herausforderung, ein Antidot gegen die bürgerliche Leistungsreligion zu entwickeln. Denn als Ausweg aus der Misere der Ohnmacht des christlichen Gottes, der Religion des Heiligen Geistes, die Solidarität verheißt, gibt die kapitalistische leistungsreligiöse Ideologie jedem Einzelnen selbst die Schuld an seinem Unglück. Die Leistungsreligion entsolidarisiert systematisch, sie macht apathisch und erzieht zur Hartherzigkeit, „zu einer bürgerlichen Feindseligkeit“. – Walser bleibt schonungslos selbstkritisch und sieht sich auch in den Fängen dieses Leistungs-/Bildungskults. Es wäre also völlig deplatziert, die Gegenwart für religionslos zu halten. Vielmehr gibt die Leistungsreligion eine dehumanisierende Parole aus: Bleib teilnahmslos, jeder hat sich seine Situation selber zuzuschreiben.96 gelingen kann, die Verknotung des Ichs mit dem System der Selbstunterdrückung zu lösen (vgl. „The Pervert’s Guide to Cinema” von Slavoj Žižek/Sophie Fiennes, 2006). 95 Walser, M., Woran Gott stirbt. Dankrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1981), zit. n.: Saarländisches Staatstheater (Hg.), Programmheft „Ein Mann namens Lenz“, Saarbrücken 1984, o. S. 96 Walser M., Über Rechtfertigung. Eine Versuchung, Reinbek 2012, S. 81, führt den Gedanken, dass Gott fehlt, theologisch aus. Walser berichtet von Gesprächen mit Atheisten, denen er immer entgegnet: Gott ist nicht da; „aber er fehlt“. Die Existenz der Sehnsucht nach ihm, verleiht der theologischen Perspektive schon ihre Rechtfertigung. Walser zeigt sich von Karl Barths Gedanken fasziniert, der das Fehlen als Konsequenz des göttlichen Andersseins versteht: „Der gläubige Mensch ist der Gegensatz des reli-
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Walser konnte seine Preisrede von 1981 nur so enden, dass er sich bei Büchner entschuldigt, dessen „Empfindungsgenie“ und Lenzens Compassion mit der Empathielosigkeit und dem übergroßen, aufgeblähten Sendungsbewusstsein der derzeitigen Leistungsreligion konfrontiert. Der Gipfel der leistungsreligiösen Prüderie besteht nämlich darin, dem Armen und Leidenden die Schuld für die eigene Situation zu geben. Das Leistungskriterium erlaubt es, Härten hinzunehmen und weitere zu produzieren. Die ungemein erfolgreiche Leistungsreligion stiftet also an zu kalten Exklusionen und zu einem apathischen Dünkel gegenüber denen, die es nicht so weit geschafft haben, einem selbstverliebten bürgerlichen Stolz auf das Erreichte; sie immunisiert und legitimiert das Desinteresse gegenüber den Ausgeschlossenen und ihrer Not. – Indem Walser uns mitarbeiten sieht an dem kapitalistischen Leistungsgott, „der sogar Leidende einschüchtert“, schafft er Platz für die Möglichkeit, am christlichen Solidargeist mitzuarbeiten. Jedoch muss analog zu Walsers Redeschluss97 die Diagnose der Bildungsreligion mit einer Selbstkritik des Leistungssubjekts enden, das zu wenig opponiert, vielmehr aus Respekt vor Qualitätsrahmen und Niveaugrenzen weiterhin Angst in Kinderseelen verbreitet,
giösen Menschen … Nie wird Ehrfurcht und Demut vor Gott etwas anderes sein wollen als Hohlraum, Entbehren und Hoffen“ (Zitate aus Barths „Römerbrief “-Kommentar, S. 56, 59). Er plädiert für einen Minusglauben, der dem radikalen Anderssein Gottes und seinem Fehlen Rechnung trägt. Walser diagnostiziert und beklagt allerdings das Verschwinden theologischer Fragestellungen, das unmittelbar aus dem Fehlen Gottes resultiert: „Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei. Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben“ (S. 33). Die Diagnose wiegt umso schwerer, als Walser sich Barths Satz zu eigen macht, dass „alle Wissenschaft als solche Theologie sein“ muss (Barth-Zitat, S. 80), also der menschlichen Mangelstruktur mit Güte zu begegnen hat. Walser kann unter Verweis auf Nietzsche und Augustinus sagen, dass der Schmerz, vor allem der Schmerz des Fehlens und das Leiden an der Unerlöstheit, bereits Gebet ist (S. 40f, 92). Walser spricht Nietzsches ästhetische Pathodizee an, wonach der Schmerz durch die Fähigkeit, Schönes zu empfinden, gerechtfertigt ist und die Ästhetik das Leid aufwiegen kann (S. 86). Das Verdrängen der letzten Fragen und des Leidens geschieht in der Ironie: Im Gegensatz zum Heuchler, der „verbergen will, dass er heuchelt“, verheimlicht der Ironiker die eigene Heuchelei nicht, zeigt sie vor, spielt mit ihr, genießt die bei anderen evozierte Unsicherheit oder will aus ihr soziales Kapital schlagen. Walsers ernster Essay-Schluss, der Ironie als Flucht vor der theologischen Rechtfertigungsproblematik ausweist, liefert zugleich eine finale Erklärung für die Hochkonjunktur der Comedy-Sparte. Diese fungiert als Kollektiv-Sedativum, das Fehlen Gottes und andere fundamentale Unstimmigkeiten, allen voran die hohle Perfidie unserer Leistungsgläubigkeit, nicht zu merken. 97 Walser, M., Woran Gott stirbt. Dankrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1981), zit. n.: Saarländisches Staatstheater (Hg.), Programmheft „Ein Mann namens Lenz“, Saarbrücken 1984, o. S.: „Armer Büchner! … Büchners Empfindlichkeit liegt nur noch unterm Mikroskop. Ergriffen, wenn auch skeptisch, studieren wir die Feinfühligkeit dieser Moralmembran; die Entzündbarkeit dieses Gewissensnervs. Anstatt einen Gott sterben zu lassen, der Leiden zulässt, hätte Büchner wie wir mitarbeiten sollen an einem Gott, der Leidende einschüchtert. Armer Büchner. Aber ein ergreifendes Präparat bleibt er. Und ein vorwurfsvolles.“
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mit einschüchternder Aura die Autorität des großen Anderen repräsentiert und entschlossen weiter aussortiert.
Einfache Gegenmaßnahmen? „Das Wesentliche der Politik ist der Dissens. Dissens ist nicht die Konfrontation der Interessen oder Meinungen. Er ist die Demonstration des Abstands des Sinnlichen zu sich selbst. … Der Konsens ist die Reduktion der Politik auf die Polizei.“ – Jacques Rancière98 „Du sollst nicht denken, ist mein elftes Gebet (!). In dieser Welt, Kameraden, darf die Sünde, die sich bezahlt macht, frei und ohne Pass reisen, während die Tugend, wenn sie von Almosen lebt, an jeder Grenze aufgehalten wird.“ – Herman Melville99
Die Kritik des QM hat ihre Diagnosen zu verfeinern. Die Kontexte der Transparenz sind zu verkomplizieren; werden die gleißenden Scheinwerfer direkt gegeneinander gerichtet, entstehen Schattenzonen und uneindeutige Bereiche. Solange das Kontrollnetz nicht zu eng gespannt ist, empfiehlt Tiqqun die unübersichtliche Lage zu nutzen. Erst der Nebel macht die Revolte möglich. Für Tiqqun ist der Nebel „der bevorzugte Vektor der Revolte“100, einer Opposition, die sich nicht offen zeigen muss: „Dass die Offensive undurchsichtig sein muss, um Erfolg zu haben, und dass die Undurchsichtigkeit offensiv werden muss, um dauerhaft zu werden. Das ist die Quintessenz der unsichtbaren Revolte. … Zu Nebel zu werden soll heißen, das ich endlich den Part des Schattens übernehme, der mich ausmacht und mich daran hindert, an all die Fiktionen
Rancière, J., Thesen zur Politik, Zürich Berlin 2008, S. 35, 45. „Macht ist Macht. Es kann vernünftig sein, sie anzuwenden. Aber es ist unvernünftig, sie vernünftig machen zu wollen.“ Ganz ähnlich sieht es bereits Montaigne: „Die Macht der Gesetze bleibt ja nicht deswegen unangetastet, weil sie gerecht, sondern weil sie Gesetze sind. Das ist das mythische Fundament ihrer fortdauernden Geltung, ein andres haben sie nicht – und das kommt ihnen sehr zustatten. Oft werden sie von Hohlköpfen gemacht, … – stets aber von Menschen, nur diesen windigen und wetterwendischen Machern. Wer ihnen gehorcht, weil er sie für gerecht hält, gehorcht ihnen nicht aus dem rechten Grund“ (Michel de Montaigne, „Essais“, vgl. Derrida, J., Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a. M. 1991, S. 25ff, 49ff). 99 Melville, H., Moby Dick, Baden-Baden (3.Aufl.) 1992, S. 81 186. 100 Tiqqun, Kybernetik und Revolte, Zürich Berlin 2007, S. 114. Culp, A., Dark Deleuze, Hamburg 2017, S. 26, 56, gibt zu bedenken: „Selbst wenn du oppositionell bist, glaube nie, dass die Dunkelheit ausreichen wird, um zu retten.“ „Opazität ist das erste Prinzip.“ 98
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der direkten Demokratie zu glauben, insofern sie eine Transparenz jedes einzelnen für seine eigenen Interessen und für die Interessen aller ritualisieren wollen. Undurchsichtig wie der Nebel zu werden bedeutet zu erkennen, dass man nichts repräsentiert, dass man nicht identifizierbar ist.“101
Tiqqun misstraut dem kommunikativen Hype, dem Angeschlossensein an Netzwerke. Das wache Subjekt verträgt keine permanenten Nabelschnüre, ebenso wenig den Dauerstress der Selbstmediatisierung. Es entwickelt sich erst in Zeroräumen, in denen es nicht online ist und sich in seiner Endlichkeit erleben und reflektieren kann. Unter Bezug auf Bartlebys „I prefer not to“ setzt Tiqqun auf die Eigendynamik eines Genießens, das Systemgrenzen transzendiert: „Ich benutze meine Passivität als Wirkungskraft gegen die Dispositive. Weder 0 noch 1, ich bin das absolute Nichts. Erster Akt: Ich genieße auf perverse Weise. Zweiter Akt: Ich halte mich zurück. Jenseits. Diesseits. Kurzschluss und Abklemmen. In beiden Fällen findet kein Feedback statt [sic!], die Fluchtlinie beginnt.“102
Beat Gloor sieht in der Imagination den Widerpart gegen die Funktionalisierung. Darum stellt er in dem schon zitierten Staatsexamen-Buch so entlegene Fragen wie: „Wieso eigentlich haben Adam und Eva auf den biblischen Darstellungen einen Bauchnabel?“103 Gloor schlägt einen neuen Umgang mit Möglichkeiten vor: „Man hätte, man sollte, man müsste … Was wir brauchen, ist der praktizierte Konjunktiv.“104 „Es gibt Wirkungen / für die ihre Ursachen / nicht ganz ausreichen.105
Die Imagination hat aufgehört, ein bloßer Fluchtort zu sein; sie ist vielmehr ein Widerstandsnest. Beat Gloors Überlegungen bewegen sich nicht auf das Ziel eines direkten und offenen Widerstands hin. Geschäftslosigkeit, der spielerische Gebrauch begründen aber einen neuen Umgang mit den Dingen und einen Weltzugriff, der nach Agamben neue Lebensformen nach
Tiqqun, Kybernetik und Revolte, Zürich Berlin 2007, S. 118 unter Rekurs auf G. Deleuze: „Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als kommunizieren. Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“ 102 Tiqqun, a. a. O., S. 97. 103 Gloor, B., staat sex amen. 81 Sprachbeobachtungen, Zürich 2001, Nr. 63 D6. 104 Ebd., Nr. 63 E1. 105 Ebd., Nr. 71, vgl. Nietzsche. 101
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sich zieht. Funktionsloses, zweckfreies Tun, das nicht auf seine Ursachen reduzierbar ist, lässt Systeme heißlaufen. Spinoza und Deleuze stellen unverblümt und direkt die einfache Frage, warum wir unsere Unterwerfung und Unterdrückung forcieren, als wenn es um unser Heil und unsere Erlösung geht.106 Von Hentig scheint auf Spinoza Bezug zu nehmen: „Ach wie gern wir uns doch unterwerfen – möglichst ohne uns zu verändern.“107 Für den Pädagogen beginnt alles Verändern, aber auch Verstehen mit der Frage; dementsprechend gilt es eine Kultur des Fragens zu pflegen. Mit Verweis auf Schelers Unterscheidung von Herrschafts-, Leistungswissen, Heils- und Erlösungswissen und Bildungswissen gelingt es von Hentig leicht, das funktionalisierbare Wissen und die Bedeutung des Verwertungszusammenhangs zu relativieren. Die Zunahme der Systemsprache („koordinieren“, „vernetzen“, „integrieren“) in der Pädagogik lässt sich auch für von Hentig nicht ignorieren: Für ihn muss man Politik lernen, wenn man von Erziehung redet. Er bleibt bei dem Satz, den er schon 1968 geprägt hat: „Soziale Demokratie verlangt nicht nur ein starkes gesellschaftliches Bewusstsein, sondern auch ein hohes Maß an Unabhängigkeit davon.“108 Von Hentigs Statement lässt sich so lesen, dass er für die Schule einen Freiraum einfordert, der nicht durch permanente Evaluation in ein Übungsterrain umformatiert werden kann. Von Hentig sieht in der Pädagogik „eine der gegenhaltenden Kräfte“ gegen den Zeitgeist. „Das Bildungssystem … muss den Einzelnen gegen Systemzwänge stärken. Stark ist er, wenn er die Sachverhalte wirklich versteht und sich selber Zwecke zu setzen weiß.“109 Von Hentig argumentiert sehr pragmatisch: Er will systembedingte Ungleichheiten nicht verschärfen oder verfestigen, dagegen natürliche Unterschiede wahrnehmen oder bejahen; der Rekurs auf den Naturbegriff erscheint allerdings hochgradig ideologiebefrachtet. Wenn von Hentig meint: „Wer jederzeit weiß, was Wissen ist und wozu es taugen soll, wird von diesem weder verängstigt noch verwirrt noch überschwemmt“110, so stellt sich Lévinas diesem einfachen, sich absichernden Lernen entgegen.
Vgl. Spinoza, B. de., Vorrede zum Tractatus theologico-politicus, in: Gawlick, G., Niewöhner, F. (Hg.), Spinoza – Opera/Werke Bd.1, Darmstadt (2. Aufl.) 1989, S. 11; Deleuze, G., Guattari, F., Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a. M. (7. Aufl.) 1995, S. 39: „Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Was veranlasst einen zu schreien: Noch mehr Steuern! Noch weniger Brot!“ 107 Hentig, H. v., Rückblick nach vorn. Pädagogische Hoffnungen der Gegenwart auf dem Prüfstand der Erfahrung. Erweiterter Text einer Rede zum 25-jährigen Bestehen der Bielefelder Schulprojekte – Laborschule und Oberstufen-Kolleg – gehalten am 9.9.1999, Hannover 1999, S. 93. 108 Ebd., S. 115. 109 Ebd., S. 11f. 110 Ebd., S. 114. 106
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Nach Lévinas bleibt das Wissen, das zur Selbststabilisierung dient, ein dröges Wissen. Die philosophische Methode ist dagegen gerade an Destruktion, Selbstabsetzung interessiert; das Abenteuer der Phänomenologie bewirkt eine Infragestellung der Ordnungen, sodass auch die Deviationen von Bartleby (Melville), Oblomow (Gontscharow), Josef K. (Kafka), Fürst Myschkin (Dostojewski) und so vielen anderen literarischen Figuren in den Fokus rücken: Dass gerade die theologischen Reflexionen über Metanoia, Umkehr, und Kenosis, Entäußerung, in Systemkritik münden, braucht nicht zu verwundern: Lévinas sieht das Sein/das System auf den conatus essendi (Selbsterhaltungstrieb) rückführbar; dagegen gründen Empathie und Gottesrede in der Nähekonstellation, die einer Anarchie, der Alterität folgt; die Philosophie findet hier ebenfalls ihre metaphorologische und phänomenologische Zuspitzung: „Werden die ersten Wörter nicht dort im Verborgenen geboren, wo Annäherungen entstehen, die erst Annäherungen hervorrufen? Knüpfen sich die Grundannahmen, auf denen später Systeme erbaut werden, nicht frei und unabhängig wie Gedichte zusammen, auch wenn dann ihr nicht rechtfertigender poetischer Ursprung von der Schulphilosophie vergessen wird?“111
Im Übrigen genügt ein Satz von Jeanne Delhomme, der sich an Lévinas anlehnt, um das biedere Programm der Systemstabilisierung/-sicherung vom Tisch zu fegen: „Philosophie ist absoluter Anfang, Bruch, Sichlosreißen vom Leben, von der Welt, zugunsten einer Selbstsuche, von der sie weiß, dass diese nicht ins Präreflexive zurücktauchen kann. … Denken heißt für immer, unwiderruflich, unabänderlich aufgehört haben an das Sein zu glauben.“112
„Sein“ steht für Manifestation, Selbststabilisierung und Ermächtigung. Und Philosophie, die dem Sein misstraut, bedeutet für Lévinas nicht nur die Liebe zur Weisheit, sondern die Weisheit der Liebe113: Es gilt eine Idee aufzunehmen, die sich selbst übersteigt. Das Ästhetisch-Kreative, aber auch das Aufrührerische pulsiert in Lévinas’ Ansatz. Für Lévinas bedeutet Denken bzw. Bildung: der irritierenden und verstörenden Spur des Nichtobjektivierbaren folgen und nicht dem allzu deutlichen Augenschein vertrauen.
Lévinas, E., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie München Wien 1991, S. 95f. Delhomme, J., zit. n.: Miething, F., Am Thema vorbei, in: Lévinas, E., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie München Wien 1991, S. (205–222) 220. 113 Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 12. 111 112
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Mit einer handfesteren soziologischen Schlagseite warnt Geoffroy de Lagasnerie vor der Zustimmung zu Diagnosen, die letztlich das oppositionelle Denken verraten, weil sie nicht in eine entsprechende Praxis münden. Er sieht die traurige Tendenz, „sich mit Ungerechtigkeiten gemein[zu]machen“ oder zur „Aufrechterhaltung oder Verstärkung von Machtsystemen bei[zu]tragen“ oder Situationen des Involviertseins zu leugnen.114 Verwundert variiert auch de Lagasnerie Spinozas Frage: „Wieso findet eher Unterwerfung als Aufbegehren statt?“115 Unter Bezug auf Foucaults Protest gegen die „große Freimaurerei unnützer Gelehrsamkeit“. und Adornos Diagnose der „Verfilzung von Konformismus und Selbstinthronisation der Wissenschaft“ äußert de Lagasnerie den Verdacht, dass die gegenwärtige Pädagogik irrational und ebenso korrumpiert ist.116 De Lagasnerie misstraut dem Konzept der Kritik, da es keine ethischen Konsequenzen zu ziehen wagt. Er präferiert den Begriff der „oppositionellen Theorie“; „Praxen“ sind anzuzielen, „die oppositionelle Wahrheiten gegen die Falschheit und Bösartigkeit – die Macht ist bösartig, sagte Deleuze oft – des Bestehenden und der gesellschaftlichen Maschinerien herstellen, in denen wir gefangen sind.“117 Veränderungen des Dispositivs setzen Praktiken der Distanzierung voraus: „Für Kämpfe Partei zu ergreifen heißt, für ein Mehr an Bewusstsein und somit an Wissen einzutreten. Der ethische Drang, nicht an der Falschheit der Welt teilzuhaben, muss unsere Arbeitsweise beeinflussen … In jeder Disziplin im institutionellen Sinn des Wortes gibt es Menschen, deren Arbeit im Dienst der Reproduktion des Machtsystems steht, und andere, die dieses System zu destabilisieren versuchen … Jeder Theoretiker, der ein ethisches, intellektuelles Leben führen will, wird dazu getrieben, zu den etablierten und vorgeprägten Formen des akademischen Lebens auf Distanz zu gehen. Diese Distanzierung führt dazu, dass sich das oppositionelle Denken in einer relativen Autonomie gegenüber Dispositiven entfaltet.“118
Das Antidot gegen das Regime des Qualitätsmanagements ist mit Bezügen zur Philosophie von Deleuze, Althusser, Lévinas, und Žižek bereitgestellt; unter eingehenderem Rekurs auf C. Fleury und U. Bröckling wird die Kritik der Verdinglichung/Selbstobjektivierung im Folgenden noch
116 117 118 114 115
Lagasnerie, G. de, Denken in einer schlechten Welt, Berlin 2018, S. 21–25. Ebd., S. 25. Ebd., S. 43, 47, 56. Ebd., S. 65. Ebd., S. 77, 99, 108.
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erweitert und variiert. Ähnlich wie Begeisterung, Humanität oder das kritische Bewusstsein widersetzt sich das kantische Moment der Bildung bleibend jeder Verobjektivierung.
Der Jargon der Qualitätssicherung – Mythen der Normalität „Fehler sind charmant, witzig, unvergleichlich. Sie erzählen mehr über den Menschen als der makellose Rest … Ein Kollektiv, das Perfektion zum allgemeinen Maßstab macht, schafft damit eine Atmosphäre permanenter Schuldzuweisungen und Schuldgefühle. … Erst die Fehler, Unzulänglichkeiten und Aussetzer des Einzelnen geben der Gesellschaft die Möglichkeit, ihre Toleranz unter Beweis zu stellen.“ – Robert Treichler119
Wie in kulturphilosophischen Diskussionen die Kritik der Kompetenz oder die Kritik des Kreativitätsbooms120 ihren Platz hat, ist ebenso auch eine Kritik der „Qualitätssicherung“ opportun. Es ist klar, dass der Begriff der Qualitätssicherung dem Bereich der Materialprüfung entstammt und von daher mitsamt den Optimierungsintentionen sehr ungeeignet ist, pädagogische Prozesse zu bewerten. Auch wenn man konzediert, dass die schulischen Controller Prüfund Kontrollverfahren modifizieren, die dann für das Bildungssystem geeignet erscheinen, so wird häufig von „Instrumentarien“, mit denen Schulen auf Vordermann zu bringen sind, oder einem „Instrumentenkoffer“ gesprochen, der für Feedback und Evaluation zur Verfügung steht. Der technische Jargon widersteht pädagogischen Alternativen, die etwa frühere Diskussionen um Litts „führen oder wachsen lassen“ angestoßen und das erzieherische Tun zwischen den Polen „dirigieren oder begleiten“ angesiedelt haben. Die Metaphorik weist auf chirurgische Operationen hin, die am Sozialkörper zum Zwecke einer posthumanistischen Perfektionierung vollzogen werden. Es ist hier nicht vorstellbar, dass es um bloße Schönheitsoperationen geht, die kleinere Makel beheben, Spuren des Alters beseitigen, sondern eher um tiefergehende Eingriffe der Cyborgisierung, der technologischen Aufrüstung und Veränderung, und um Prozesse der Veränderung, „die unter die Haut gehen“. Auf einer Siemens-Werbung früherer Jahre ist die Bauchpartie einer Frau mit einem Nabel zu sehen und daneben der Satz zu lesen: „Innovation ist, wenn die chirurgischen Eingriffe keine Treichler, R., Liebst du mich? Alle Welt will vollkommen sein. Dabei erzählen kleine Mängel mehr über den Menschen als der makellose Rest. Ein Lob des Unperfekten, in: Die Zeit/Zeit zum Entdecken vom 16.2.2017, Nr. 8, S. 2. 120 Kreativität fungiert nicht mehr als Stachel im Fleisch der etablierten Ordnung, sondern wird allerorten sozialerwünscht gefordert, Kunst nimmt nicht mehr Außenseiterpositionen ein, sondern füllt staatstragend einen Mangel der Gesellschaft aus. 119
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tiefgreifenden Einschnitte mehr bedeuten.“ Mit dem Bikini-Schnitt bleibt auch nach großen Operationen nur eine winzige Narbe zurück. Die Wette des Konzerns geht auch dahin – und nur deshalb wird der Nabel gezeigt, weil der Nabel die überdeutliche „natürliche“ Geburtsnarbe ist –, dass das biologische Werden größere Spuren hinterlässt als die derzeitigen oder künftigen technologisch unterstützten Eingriffe. Gerade wegen der Diastase zwischen äußerer Unscheinbarkeit und großen Spätfolgen erscheint es unverzichtbar, das Nachdenken darüber anzuregen, welche chirurgischen Eingriffe mit den QM-Instrumenten vorgenommen werden: Offensichtlich handelt es sich bei Qualitätssicherungsoperationen um In-vivo-Experimente, um Testreihen, die Schule oder Bildung tiefgreifend modifizieren. – Sloterdijks Ausführungen in „Du mußt dein Leben ändern“ kommen immer wieder auf die Idee der gentherapeutischen oder technologischen Unterstützung der Pädagogik als naheliegende Versuchung einer glatten, unproblematischen Perfektionierung zurück. Horkheimer und Adorno interessierten sich in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ auch für die Frage, mit welchen Formen der Betäubung diese Veränderungen am Sozialkörper erreicht werden oder ob die Betäubung nur das Schmerzgedächtnis ausschaltet, die Schmerzen bei der Operation aber ganz real und traumatisch empfunden werden. – Die „Apokalyptiker aller Länder“, die sich noch nicht vereinigt haben, sind einstimmig der Meinung, dass die größte Not das Nichtmerken der Not ist. Der totale Kollaps träte ein, wenn chirurgische Operationen ohne Furcht, Unbehagen oder Bedenken vonstattengingen und Prozesse der Cyborgisierung ohne Aufschreie hingenommen oder sogar mit freudigen Willkommensrufen begrüßt würden. Schulen scheinen keine Wahl zu haben, Testreihen, Evaluierungen, das volle Programm der Tauglichkeitschecks abzulehnen. – Es gibt nicht die Option des Nichtwissenwollens, der Ablehnung bestehender oder der Wahl alternativer Methoden. – Alle Schulen sind gehalten, das Screening total durchzuführen, vor allem wenn es sich um „Selbständige Schulen“ handelt. Die Vitalfunktionen werden überprüft, die Blutabnahme scheint unproblematisch … Die Schulleitungen sammeln Daten, ohne dass deren Weiterverwendung abschätzbar wäre oder die gesamte Datenmasse den Probanden in vollem Umfang zurückgegeben würde. Es mag ja sein, dass einige alte Äste der Schule eines natürlichen Todes absterben, die Noten ausgedient haben, dass sie abgeschafft werden könnten; die Perfektionierung und Cyborgisierung wirkt dagegen wie eine fortgesetzte Transplantationskur, ein ständiger Austausch neuer Organe, sodass der Patient als Versuchsobjekt noch lange am Leben bleibt. (Illichs Forderung nach einem radikalen Schul-Ende, der „Entschulung“, wird sicher nicht umgesetzt.) Aufgabe von Organisationen ist es nach F.-X. Kaufmann, nicht mehr nur interne Verhältnisse zu regulieren, sondern sich von außen stören zu lassen, die Bedürfnisse derer wahrzunehmen, für die sie da sind.121. Diese Offenheit für Irritationen von außen spricht man denen ab, die sich Kaufmann, F.-X., Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg Basel Wien 2012, S. 212.
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gegen eklektizistisch zusammengestellte QM-Fragebögen wehren. Und es ist die Frage, ob genau diese Tests eine Störung von außen sind oder doch eher die interne Nabelschau verstärken. Der Dokumentarfilmer, Journalist und Schriftsteller Andres Veiel meint in Bezug auf das Argumentieren mit Sachzwängen, insbesondere auf die Rede vom Wachstum als Sachzwang: „Zwänge sind für mich ein Synonym für Interessen. Und die sind nicht zwangsläufig.“122 Es stellt sich also die Frage, wem Qualitätssicherung dient, und man wird wohl nicht fehlgehen, in ihm ein subtiles Herrschaftsinstrument zu sehen; Information wird wohl immer Macht und Kontrolle bedeuten; und Schulleitungen/Schulämter mögen ein berechtigtes Interesse haben, viele Daten über den Unterricht zu haben. Es scheint aber, dass die neuen Evaluationsmöglichkeiten Begehrlichkeiten wecken und auf Leitungsebenen einen übersteigerten Datenhunger erzeugen. Durch das schulische Qualitätssicherungssystem wird wohl die geschlossene Atmosphäre von Klassenzimmern immer mehr aufgelöst; durch die Handykommunikation von Schülern hat dieser Erosionsprozess längst begonnen. In Verbund mit offiziellen Umfragen und Rankings entsteht ein Hype der Vergleichbarkeit, der Synchronisation und der Gleichschaltung von Unterricht. Die Vergegenständlichung geistiger Prozesse, ihre Normierung und Homogenisierung stellte für Lévinas die neuzeitliche Ursünde dar, die hier zur Tugend erhoben wird. Die Auswirkungen des grassierenden Ungeistes der Qualitätssicherung auf das Schulklima erscheinen verheerend: Man kann jetzt im Schutze der Anonymität, im Rahmen standardisierter Feedbackfragen, bei Verbesserungsvorschlägen ohne weiteres Nachdenken Unverschämtes oder Unmögliches fordern; spontane Einfälle und Assoziationen werden ohne weitere Reflexion notiert; unbedachte Äußerungen können ungeahnt hohe Wellen schlagen: So bezeichnen die Schüler die Sekretärinnen – zwei an der Zahl für 2000 Schüler – als zu unhöflich und fordern einen freundlicheren Service. Die Befragung erlaubt es, sich auf die eigenen Interessen zu konzentrieren und sich über das schwächste Glied der Verwaltung zu beschweren. Man kann ungedeckte Behauptungen aufstellen, Diffamierungen aussprechen, Verdächtigungen in die Welt setzen, Rufmord begehen. – Es finden sich andererseits unter den vielen gesammelten Aussagen immer die passenden und probaten, um von der Leitungsseite erwünschte Optionen mit Datenmaterial zu belegen oder Desiderate auszuweisen. Die Service-Gesellschaft erwartet einen immerzu lächelnden, gutgelaunten Empfang; Putzkräfte sollten noch lautloser arbeiten, sich weniger über die hinterlassene Unordnung beschweren und perfektere Dienstleister sein. Es gibt keinen Rahmen, die eigene Erwartungshaltung nochmals zu reflektieren oder zurückzunehmen. Sekretärinnen, die kurz vor dem Burnout stehen, oder Putzkräfte, die pro Klassenraum sieben Minuten Zeit zugebilligt bekommen, zu kritisieren, wird nicht mehr als unpassend oder schäbig empfunden. Dass sie sich für Dumpinglöhne aufreiben, wird nicht mehr gesehen. Werden die Ergebnisse den Kritisierten entsprechend unsensibel mitgeteilt, kommt es zu Verletzungen und Veiel, A., Das System. Interview über sein Theaterprojekt „Das Himbeerreich“, in: FR vom 9.1.2013, S. 32f.
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einem enttäuschten Rückzug. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Berufsgruppen wird gestört, wenn man sich nicht mehr der Rückendeckung durch seine Kollegen sicher ist. Einzelne Kollegen können angeprangert werden. Angesichts neuer Feedback-Formulare, dem Freibrief zu Verletzung oder Grobheiten, kann das Arbeitsklima schnell unwirtlich werden. Das allseits geforderte Lächeln der Service-Gesellschaft kann gefrieren. In der Schule wird des Weiteren durch den zur Schau gestellten Anspruch der Vergleichbarkeit und Transparenz ein Klima des argwöhnischen Beobachtens untereinander geschaffen, indem Schüler den Verdacht äußern, beim anderen Kurs wäre es besser, dort komme man leichter an seine Noten. Verheerend wird es, wenn Kollegen diesen Schülerbedenken, häufig Hysterien und Projektionen, nachgeben und unter Preisgabe kollegialer Verbundenheit Kurse gegeneinander ausspielen. Wenn die Spontaneität gehemmt wird und Lehrer daran zu denken beginnen, wie das, was sie gerade tun, gepostet wird und bei der Nachbarklasse ankommt, geht es natürlich nicht um die Umsetzung des kantischen Anspruchs, das eigene Handeln „vor der Menschheit“ als gut und vorbildlich auszuweisen, sondern hier setzt die Verformung von Unterricht zur Show, zur Talkshow-Beteiligungskultur, zur Casting-Rückmeldung ein, gegen den der Lehrkörper wohl eine gesunde Abneigung hat. Wenn Schüler in Umfragen etwa Förderkurse zu teuer finden, bei denen 2,– € Eigenbeteiligung pro Doppelstunde aufgewendet werden müssen, oder die aufopferungsvolle Arbeit von Sekretärinnen nicht schätzen und noch mehr Service fordern, sind die Grenzen des Anstands überschritten, so dass nur eine deftige Karikatur eine probate Reaktion sein kann. Friedrich Karl Waechters Karikatur zeigt ein Raumschiff, das in ein gesäßartiges Schwarzes Loch fliegt, die letzten Worte aus dem Cockpit lauten: „Hilfe, wir verlieren an Fahrt! Die Sterne verlösch – au-a …“123 In Abwandlung des Kommentars von Waechter, der den Menschen am Ende seiner explorativen Abenteuer in seinem eigenen Anus verschwinden sieht, darf man resümieren: „Durch Perfektionierung und Anwendung neuester betriebswirtschaftlicher Methoden der Unternehmensführung verschwindet die Schule in ihrem eigenen Datenmüll.“ Friedrich Karl Waechter ist wie häufig hellsichtig und visionär: Die Anwendung der modernen Kontrollverfahren bringt die verdrängte, aber immer präsente Rück- und Unterseite der Schule umso deutlicher hervor: Neid, Missgunst, Denunziation, Argwohn, üble Nachrede. Durch das ständige Vergleichen wird ein Klima der wechselseitigen Überwachung hervorgerufen. Das neue Gesicht der durchevaluierten, qualitätsgesicherten Schule ist identisch mit dem Schwarzen Loch des Systems. Nach Baudrillard können neue Methoden der Repräsentation die Wirklichkeit auflösen und zum Verschwinden bringen. Die Bilder sind zu echt, um wahr zu sein, und von hier aus erscheint alles simulativ, hyperreal eben … Im Fall der neuen Messinstrumente Waechter, F. K., Waechter, Zürich 2002, S. 255 mit der Bildunterschrift: „Durch die Erschließung immer neuer Dimensionen geschieht das Unfassbare. Der Mensch verschwindet in seinem eigenen …“
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ist das ebenso der Fall. Zumindest die hermeneutischen Prozesse in den geisteswissenschaftlichen Fächern werden unter dem Ungeist der Messung arg zu leiden haben. Vor dem bekannten Zauberlehrling-Syndrom ist zu warnen: Im Schwarzen Loch des Umfrage- und Evaluierungswahns verliert die Schule jede Orientierung und verschwindet vom Radar gesellschaftlicher Relevanz und ernst zu nehmender Diskussion. Sie gibt sich auf, schließt sich von anderen Systemen ab, wird „autopoietisch“ oder vielmehr idiosynkratisch und verliert die Orientierung am konkreten Menschen. Und Schulverwaltungen dürfen sich mit einer strahlenden Unschuldsmandorla umgeben; sie haben schließlich weisungsgebunden und peinlich genau die geforderten Kontrollen durchgeführt. Das waechtersche Verlöschen im eigenen Anus hat bereits stattgefunden, wenn bei Homogenisierungsversuchen die Angst vor Nichtvergleichbarkeit um sich greift, Schüler ihre Ängste vor Benachteiligung aufsummieren und diesen Angstprojektionen Realitätsgehalt zugewiesen wird. Man ist förmlich am Ende, wenn das Lehrerverhalten die (gefühlte/potentielle) Angst der Schüler der Schulklasse von nebenan antizipieren soll. Es ergeben sich neue Möglichkeiten der Gleichschaltung und die Last der Absprachen, die anfangs noch Arbeit erleichtern sollten, wird übergroß. – Darf ich das Unterrichtsmaterial per Email an den eigenen Kurs verschicken oder soll die sonst so propagierte Mediennutzung unterbleiben, wenn der Kollege das erstellte Material nicht in der gleichen Weise goutiert? Elementare Schulinteressen haben sich verkehrt, wenn hysterische Bedenken von Schülern, die nie im Unterricht dabei waren, als Argumente angeführt werden und diesen nun offensichtlich dennoch vom „Hörensagen“ beurteilen dürfen. Im schlimmsten Fall werden Posts und Mitschnitte abgespielt und berücksichtigt. Der Geist der Selbstprofilierung, der Arbeit am Ausstellungswert ist längst aus der Flasche. Die Gleichheit des Verschiedenen war ein Paradox, das Nikolaus von Kues nur in der göttlichen Letztperspektive aufgelöst sieht, Luhmann zufolge ist das Paradox nur temporär zu entfalten oder temporalisiert zu umgehen. Ob Gesellschaft oder Gott, in jedem Fall nehmen nur Letztbegriffe – oder in systemtheoretischer Diktion: „Kontingenzformeln“ – ein solches Paradox sinnvoll auf. Die einzige Möglichkeit der Schule, dem alles verschlingenden Sog des Mess-GleichheitsParadoxes zu entkommen, besteht schlicht darin, Vergleichbarkeit wie bisher zu postulieren. Was könnte der Vergleichbarkeitswahn denn nicht noch alles erfassen? Die Schulen untereinander müssten sich absprechen – die Länder wollen ohnehin ein gemeinsames Abitur erstellen; und es wird nur schwer sichergestellt werden können, dass auch tatsächlich nach gleichen Maßstäben korrigiert wird; um dies zu erreichen, sind natürlich weitere Kontrollen nötig. Totale Vergleichbarkeit herzustellen käme einer Umwandlung der Schule in eine totalitäre, unpädagogische (weil jede konkrete Lernsituation übergehende) Vereinheitlichungsmaschinerie gleich. Aber es hat nicht jeder das Glück, eine Maschine zu werden, war Baudrillards ironischer Kommentar zu Andy Warhols Wunsch nach Reproduzierbarkeit. Entspricht man dem Ruf nach 518
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Vereinheitlichung unter Schulen, mündet der Regulierungswahn in einen analfixierten, zwangsneurotischen Stillstand und eine totale Selbstblockade. Die Angst, die Noten könnten nicht objektiv/reliabel/vergleichbar sein, ist offensichtlich nicht korrigierbar. Man kann nicht mit ihr „arbeiten“. Das Zitat von Jeanine Luczak „Sardinen wissen, dass Gleichmachen mit Kopfabschneiden beginnt“124 kommentiert jede Vereinheitlichung als Prokrustes-Beschneidung. Individuell-regionale Eigenheiten und die pädagogische Berücksichtigung kursspezifischer Lerntempi würden dem Verwaltungsakt geopfert. Überhaupt kann man bislang nicht plausibel darstellen, wie sich die konstruktivistische Lerntheorie – jeder baut individuell Wissen auf, konstruiert und steht in einem ganz unplanbaren, spezifischen Lernprozess – mit der Verwaltungs- und Managementidee der Verrechenbarkeit und Parallelisierung von Lernen sowie der Durchführung von Einheitstests und -prüfungen verbinden soll. „Dass wahre Schätzung nicht ohne Schonung sein kann“, bringt Goethe gegen den ungestümen Drang zur Klarheit vor.125 Dass die, die in der Bildung arbeiten, ihr Leben ohne Geräusch zubringen, ist für ihn ohnehin klar.126 Was der Philosoph Josef Pieper von Schulleitungen erwartete? Er spricht von wohlwollendem Zuhören: Die ruhige Zurückgezogenheit und „das Schweigen des allzu Verwundbaren“127 sowie den entsprechenden Lehrertypus gilt es zu schützen; wenn die Kultur ruhiger Arbeit durch Umfragen im Deutlichkeits- und Selbstdarstellungsterror oder im Rampenlicht der Kontrollen zerrieben und zerredet wird, verliert die Schule „ihre guten Geister“. Neben lauten Phasen, die jeder Lehrer auch mitmacht, braucht Schule vor allem die „ruhige Arbeit im Weinberg des Herrn“, die „sich ums Publikum so wenig als möglich … kümmert“128. – Momente des ständigen Messens scheinen Ergebnisse zu produzieren, wie sie der Reisbauer der indischen Weisheitsgeschichte erreicht, der jeden Tag an seinen Reispflänzchen herumzupft, sie ungeduldig bearbeitet, bis alle eines Morgens kaputt und ersoffen am Boden lagen. Vom Standpunkt einer relationalen Theologie ist überdeutlich, dass es nicht möglich ist, gleichzeitig Beziehungen zu pflegen und penibelste Kontrolle auszuüben. Denn Kontrollen (und das ihr zugrundeliegende Sicherheitsbedürfnis und die damit verbundene Vergegenständlichung) zernagen die nicht zu verobjektivierende Vertrauensbasis von Beziehungen. Dass Beziehungen unter Kontrolle und Beweiszwang leiden und auch zerstört werden können, gilt es für den schulischen Zusammenhang erneut herauszustellen. – Dass es also eine Wahrheit gibt, die unter Kontrolle
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Wehrle, M., Das Zitat (Beruf/Chancen), in: Die Zeit vom 13.12.2012, Nr. 51, S. 77. Goethe, zit. n.: Pieper, J., Das Schweigen Goethes. Ein Essay, Frankfurt a. M. 2012, S. 55. Ders., zit. n.: ebd., S. 57. Pieper, J., ebd., S. 38. Ebd., S. 32–33.
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Schaden nimmt und sich auflöst, wird das Qualitätsmanagement im Bildungsbereich lernen müssen. Umgekehrt gilt auch, dass Selbstvergewisserung und Selbstsicherung nicht instrumentelldirektiv herstellbar sind; Zufriedenheit oder ein angenehmes Arbeitsklima können nur Früchte eines kommunikativen Einsatzes sein, der sich überdies evolutiv entwickelt. Von theologischer Seite werden die Bedenken gegen das absichernde Kalkül der instrumentellen Vernunft verstärkt. Wenn Schüler im Rahmen von QM-Evaluationen in Einzelbefragungen von Interviewern befragt werden, die sie nicht kennen, geben sie meist nach anfänglichen Bedenken dennoch bereitwillig Antwort. Zurück in den Klassen kommen dann Fragen auf, was mit dem Wissen, das da gesammelt wurde, geschieht, wie es verwendet wird. Angesichts des Settings solcher Interviews ist es angebracht, die Schüler, die den Überwachungskontext des Films „Das Leben der Anderen“ assoziieren, an die erste Datenschutz-Grundregel zu erinnern: eben nicht jedem Frager alles und schon gar nichts ungefiltert mitzuteilen. Es bleibt dabei, dass neue Technologien die obszöne Unterseite von Institutionen und die Schattenseiten der Schule wachrufen und verstärken. Die entsprechenden Exekutivorgane, die zur Evaluation und zum QM-Management anleiten oder es durchführen, müssen sich dessen bewusst sein. Mit der abgebrüht-zynischen Einstellung „Wir wissen es, aber tun es trotzdem“ (O. Mannoni; vgl. auch Žižeks Fetischismusanalyse129) oder der distanziert-lächelnden Miene, die dennoch gleichzeitig unglaublich Brutales zu sagen in der Lage ist, verstärkt sich lediglich der losgetretene Wahnsinn.
Kalte Beherrschbarkeit – Austauschbarkeit versus Unersetzbarkeit – soziales Geheimnis „Priester ist jeder, der aufgehört hat, die Rebellion für einen unbedingten Wert zu halten, jeder der alles an seinen ‚objektiven‘ Ergebnissen misst. Leider ist der Priester an diesem Jahrhundertende überall.“ – Alain Badiou130 „Vor allem in Großbritannien haben Akademiker das Evaluieren und Bewerten, den Grundsatz der profitorientierten Verwaltung so sehr verinnerlicht, dass sie die Privatisierung der Geistes-, Kunst- und Sozialwissenschaften ohne merkliches Aufmucken hinnehmen. … Gerade am Verhalten der Akademiker kann man also nicht nur die Kälte, den Mangel an Solidarität mit den sogenannten Kollegen und Studenten ablesen, sondern auch
Žižek, S., Disparitäten, Darmstadt 2018, S. 208ff. Badiou, A., Das Jahrhundert, Zürich Berlin 2006, S. 177.
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die doppelte Auswirkung des Verblendungszusammenhangs, der in der Bewertung von allem und jedem Gestalt annimmt.“ – Alexander Garcia Düttmann131
Nach Alexander Garcia Düttmann zeigt die apathische Kälte als „Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität“ (Adorno) deutliche Auswirkungen. Akademiker verinnerlichen im Evaluieren und Bewerten die Erfordernisse einer marktgängigen, kapitalismuskompatiblen Verwaltung. Düttmann schildert, wie der Verwertungsgedanke sich ausbreitet und „die verallgemeinerte Bewertung sich des Daseins bemächtigt, um es in einen umfangreichen Bestand bewertbarer Dinge zu verwandeln“ (Jean-Claude Milner); sodann verfolgt „die Anwendung des Grundsatzes der Bewertung nur ein einziges Ziel, festzustellen, dass der oder die Bewertete den eingeführten Kriterien nicht genügt, nicht genügen kann“.132 Wenn Lehrer niemals 15 Punkte verteilen und über unzureichende Leistungen klagen, würde Düttmann das wohl auch als Selbststabilisierungsversuch deuten. Auf die eigene Entwertung und Degradierung lässt man die der anderen folgen. Verdinglichung lässt sich allerdings immer auch als Selbstobjektivierung verstehen: „Wer zum Ding geworden und als Ding die Macht an sich gerissen hat, die in der Bewertung anderer liegt, kann willkürlich über sie verfügen, Cliquen bilden, ‚sich vernetzen‘.“133.
Düttmann sieht den Menschen in einen Sog der Verobjektivierung und Valorisierung oder Skalierung versinken. Die Kategorie des Nicht-Dings, die Skrupel vor der Bewertung lösen sich auf. Man könnte mit Baudrillard annehmen, dass die Objekte in ihrer Widerständigkeit nicht beherrschbar sein werden; Baudrillard gab ja das Vertrauen in das Subjekt auf und setzte ganz auf die Nichtkorrumpierbarkeit der Objekte oder die Nichtbeherrschbarkeit ihrer Verführung. Für Düttmann verwandelt sich allerdings zunächst die Welt in ein Experimentierfeld, das von Heerscharen neutral-teilnahmsloser, strenger Begutachter schonungslos in ihrer Unzulänglichkeit demaskiert wird. Begehrlichkeiten werden also zunächst ausgetrieben. Der Be- und Entwertungsblick dominiert. Als Beleg für Düttmanns Befürchtung kann Rosenthals Managementtheorie angeführt werden, denn sein Verwertungs- und Effizienzkalkül nimmt ontologische Ausmaße an: Rosenthal beginnt sehr elementar, mit der aristotelischen Substanz, die bewirken (efficere) will, Möglichkeit
Düttmann. A. G., Was weiß Kunst? Für eine Ästhetik des Widerstands, Konstanz 2015, S. 271. Ebd., S. 270–271. 133 Ebd., S. 272. Neue double binds entstehen: Überflüssig und der Willkür ausgesetzt zu sein sind zwei Seiten einer Medaille. 131 132
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in Akt, Dynamis in Energeia überführen will.134 In diesem Ansatz erscheint Gott als der größte Manager, im actus purus, dem reinen Akt, sind alle Möglichkeiten immer schon umgesetzt. Die Philosophie sieht Rosenthal als „Residualphänomen“, das „weder prägend vordenken noch synthetisierend zusammenfassen kann“ und auch „keinen erkennbaren Beitrag mehr zur realen Daseinsbewältigung leistet“. Demgegenüber spürt er Neuformationen des Kapitals, des brian capitalism, des Wissenskapitals, oder den Neufigurationen des Finanzkapitalismus nach (18f). „Subjekt sein, heißt sich selbst Kapital sein“ (20). „Subjekt und Kapital sind dazu verurteilt, sich selbst permanent wollen zu müssen“ (22), Rosenthal entwirft also tatsächlich einen ontologischen Kapitalismus. – Die Verweigerung Bartlebys wird gleichwohl nicht angesprochen, Bartleby gilt ja Philosophen wie Deleuze und Žižek als Inbegriff der Revolution. Die Radikalität der Negation und des Protests gegen den conatus essendi, den Selbsterhaltungs-/Selbststeigerungszwang, ist indes nicht zu unterschätzen. Rosenthal versteigt sich zu der Formulierung, die letztlich eine Glorifizierung des Machbarkeitsdenkens und eine Verdrängung der Geschichtlichkeit, der Kontingenz/Anfälligkeit oder auch Sterblichkeit beinhaltet: „Ohne Ökonomie ist nichts wirklich“ (114). Der Preis stellt eine Vergleichbarkeit und Übersetzbarkeit inkompatibler Güter/Leistungen her, er ermöglicht eine Valorisierung und Kompatibilität, die die natürliche Verschiedenheit der Materie transzendiert. Für Rosenthal setzt erst die Tauschlogik die (menschliche) Wirklichkeit in Gang. Der Markt erreicht erst exakte, vergleichbare Tauschaktionen. Auf diesem Hintergrund müssen nach Rosenthal Management und existentielle Orientierung zusammengesehen werden: „Handhabung“ umfasst ein „elementares Praxiswissen“ (147–149). Management ist mit Notwendigkeit vorwärtsgerichtet und zielfokussiert. Mediatisierung und Digitalisierung, Big-Data-Transparenz werden allerdings dazu führen, dass das Netz mehr weiß als das Ich als Manager seines Lebens. So ist sich Rosenthal schließlich sicher: Das Management gerät in eine Wissenslücke, ein Gefälle, solange es sich nicht auf die Höhe der Big-Data-Einblicke bringt. „Ein Nichthandeln ist für einen Manager keine Option. Notwendigkeiten sind Handlungszwänge“ (149). „Wissensmanagement ist die heutige und künftige Kernaufgabe des Managers“ (151). „Das Ziel einer Unternehmung ist kein geometrischer Ort, sondern ein metaphysisches Ergebnis, das wir in Geld messen … Das Ziel des Managers ist der unbegrenzte Punkt des Mehrwerts“ (153). Zumindest werden bei Rosenthal die kapitalistischen Motive aller Managementaktionen nicht verheimlicht. Rosenthal betont die Aufgabe der Bewertung von Zielgrößen. Der Schlusssatz seiner Monographie lautet: „Jede Realität ist tausch- und austauschbar, sie hat kein bleibend-kausal Rosenthal, K., Der Blickwechsel der Wissenschaft, Weilerswist 2017. Die Seitenzahlen zu den zitierten oder referierten Passagen finden sich im Text.
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Identisches“ (166). Deutlicher lässt sich die Ökonomie totaler Austauschbarkeit und die kapitalistische Steigerungslogik, die Orientierung am Prinzip des Mehrwerts, nicht ausdrücken. Rosenthals ontologische Grundlegung des Managements begrenzt den verobjektivierenden Zugriff auf die Welt nicht, er übersieht die ontologische Differenz von Seiendem und Sein, die Typologie der Wirklichkeitszugänge, die in der Theologie so zentral wird (vgl. Kapitel 4.1, 6.2, 7.2). Auch in existentialistischer Perspektive ist dieser Verblendungszusammenhang ein Super-GAU. Die schon unter 6.7 erwähnte Philosophin Cynthia Fleury stellt sich vehement dieser Kommodifizierungstendenz und dem Managerurteil der Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit entgegen; sie fragt nach den Bedingungen für Individuation.135 In den Arbeitsbeziehungen sieht Fleury zunächst eine ähnliche Entfremdung gegeben, die Marx analysierte und Rosenthals Managementtheorie erneut reproduziert und als unvermeidbare Nebenwirkung der Ökonomisierung hinnimmt: In der Lohnarbeit entfremdet sich der Arbeiter oder Angestellte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen; er nimmt bereitwillig jede Arbeit an. Geistlose Arbeit weist eine negativ-intentionale Struktur auf; allzu häufig bedeutet Arbeiten: mit dem Denken aufhören und funktionieren (39). Fleury charakterisiert das Zeitalter der Verdummung, indem Zynismus und Ignoranz sich wechselseitig befeuern, mit einem Günther Anders-Zitat: „Wenn Therapeuten [Fleury nennt sie zuvor Sinn-Raketeers] den Arbeitern/Angestellten ‚einen Willen zum Sinn‘ aufschwatzen, sind sie auch nicht besser, als Staatsmänner, die Hungernden einen ‚Willen zum Sattsein‘ empfehlen und ihnen weismachen würden, dieser Wille sei bereits das halbe Brot, mit dem sie sich, wenn sie nur richtig wollten, unverzüglich sättigen könnten“ (40–41).
Neben den Arbeitsverhältnissen stehen im globalen Kapitalismus aber auch die Beziehungen und die Intimität des Subjekts unter den Vorzeichen der Ersetzbarkeit. Medial inszeniert werden sie zum austauschbaren Produkt: „Intimität wird so sehr organisiert, dass sie ersetzt wird. Es ist die Aufgabe der Unterhaltung, eine intime Beziehung aufzubauen“ (41). Die Medienwirklichkeit biedert sich dem Rezipienten an. Der Niedergang der griechischen Scholé, der Muße, ist für Fleury schon ein untrügliches Merkmal für die Katastrophe (45). Nach Fleury beginnt die Ersetzbarkeit des Subjekts da, wo es „das Erlebte nicht mehr in Erfahrung umwandeln kann“ (46). Baudrillard sprach vom Prozess der Hyperrealität, Fleury umschreibt den Tatbestand anders, die Medien erwirken Derealisationseffekte: Man hat Fleury, C., Die Unersetzbaren, Wien 2017. Die Angabe der Seitenzahlen zu den Zitaten oder referierten Textpassagen findet sich im Folgenden im Text.
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den Eindruck, gerade das Drastische habe nicht stattgefunden (46); es soll also so sein, dass Schmerz derealisiert, fiktionalisiert werden kann. Houellebecq meinte zwar unter Verweis auf Schopenhauer, dass man sich an die eigene Geschichte so schwach erinnert wie an einen Roman.136 Doch mit Leiderlebnissen verhält es sich anders; hier bedeutet das Gedächtnis des Leids immer noch oder bereits schon Leid, so Fleury unter Bezug auf Lord Byron (63). Das Unersetzbare und Unaustauschbare der Individuation entspringt also der Erfahrung des Alterns, des Todes, ebenso dem Bewusstwerden der Unwirklichkeit des Todes (68). Unersetzbar erscheinen auch die ethisch-religiösen, politischen Akte, die Irritation durch TheoriePraxis-Koinzidenzen/Symmetrien. Rosenthals Management verdrängt offensichtlich diese Dimensionen. Erziehung enthält für Fleury ebenfalls das Moment der Unersetzbarkeit, der Nichtsimulierbarkeit. Das Ringen um das Verstehen, die Aneignung von Inhalten, das Erlernen von Disziplin, ebenso die Überwindung von Spontaneität, sind Dimensionen der Selbstkreation. „Maßlosigkeit, das Fehlen des Verständnisses dafür, was eine Grenze ist, insofern sie schöpferischen Wert hat,“ schätzt Fleury als pathologisch und zutiefst tyrannisch ein (128). Disziplin bedeutet dagegen Ernst und Demut. Sie ist von der Einsicht getragen, dass Lernen nicht in spontanen Handlungen aufgeht. „Man versteht die Disziplin nicht ausreichend als Ort der Begegnung. Doch sie ist genau das, sie dient dazu, Bekanntschaft zu machen. Darin liegt das Erfinderische der Disziplin“ (130). Fleury betont den entscheidenden Moment der Individuation: das Lernen des Lernens, „die Befreiung des Lernvermögens“. In der Erziehung muss dieser Anfang der Individuation selbst aufscheinen (129): „Das ist Lehren: die Zeit strecken, damit die Anfänge der Individuation erscheinen“ (134). Individuation beginnt also damit: mit dem Kind „das Mittel zu finden, eine Verbindung zu dem herzustellen, was ihm noch fremd ist“; dabei kommt es darauf an, „den Menschen nicht seiner eigenen Welt zu entfremden“ (135). Individuation ist die Erkenntnis nichtrevidierbarer Spuren, die Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit: Und hier scheint das Verschwinden des Subjekts nicht durch von außen auferlegte Despotie/Entfremdung zu drohen, sondern durch die Selbstinstrumentalisierung, den Individualismus, also eine pervertierte Individuation. „Das Individuum verschwindet durch „eine Instrumentalisierung der Beziehungen“, „einen Utilitarismus gegenüber sich selbst“ (!, 138). Sich ständig neu erfinden heißt: sich zum „Gegenstand bloßer Verdinglichungen“ machen, sich verwerten, sich nicht mehr vor Verwertungszusammenhängen bewahren können (139). Erfahrungen von Leere werden zu schnell kompensiert. Das Unersetzbare realisiert sich in einem eigenen Umgang mit der Zeit, der individuellen Annahme und Sinngebung von Unumkehrbarem, ebenso in dem Einblick in die Nichtsubstituierbarkeit und Geschichtlichkeit von mitmenschlichen Beziehungen Houellebecq, M., in: ders., Lévy, B.-H., Volksfeinde, Köln 2009, S. 310.
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(140); verdinglichende Suggestionen, die eine Machbarkeit des Lebens nahelegen, leugnen die Dimension des Traumas und dessen Widerständigkeit. Mittlerweile versteht gemäß Fleury bereits der Rechtsstaat die Bedeutung und den Wert der Individuation und erkennt, dass ein falsch verstandener Individualismus den Zusammenhalt der Gesellschaft bedroht (141). Letztlich werden die Selbstobjektivierung, die subjektive Annahme der Erfordernisse der Verdinglichung durch eine panoptische Konstellation erreicht: Das Panopticon, Benthams Gefängnisanlage, bei dem durch transparente offene Zellen die Gefangenen von einem zentralen Beobachtungspunkt beobachtet werden können und schon durch die bloße Kontrollmöglichkeit manipuliert werden, stellt den Nukleus der Evaluation, das Grundmodell für das Implementieren von idealen Perspektiven, die Ausübung von Gewalt/ Kontrolle durch die bloße Architektur, bereit: „Das Panopticon ist ein Multiplikator, es ist ein Machtverstärker (Foucault) … Man muss einen Mechanismus erschaffen, der die Macht umso mehr verstärkt, als ihre rechtmäßige Grundlage schwach ist. … In jeder panoptischen Struktur ist die Macht nur auf der Oberfläche unterteilt. Das Panoptikum ist ein Sichtbarkeitsdispositiv im Dienste der Unsichtbarkeit (der Nichtexistenz) der Grundlage der Macht. … Die Evaluierungsideologie ist eine Form des Panoptikums, die die Verinnerlichung noch intensiviert und die typisch ist für neokonservative Gesellschaften. Sie geht unter dem Banner des Egalitarismus und der Meritokratie, doch in Wirklichkeit ist sie das Gegenteil der Emanzipation. Sie erzeugt nicht mehr und nicht weniger als eine foucaultsche Form der Unterwerfung, insofern sie sich an die Stelle des Subjektivierungsprozesses des Subjekts setzt. Ein Subjekt ist nur gegründet, wenn es evaluiert ist. Die Evaluierung erzeugt freiwillige Knechtschaft, denn sie gibt sich für einen Bildungsprozess des Subjekts aus. Nachdem die Evaluierung das getötet hat, was das Subjekt antreibt, erkennt sie es als solches an, doch es ist nunmehr kein freies Subjekt mehr, sondern ein gezähmtes, beherrschtes Subjekt. Die Evaluierung ist eine Todeskultur, insofern sie die Natur des Arbeiters und seiner Arbeit umwandelt. Sie verändert die Definition des Berufes so, dass er messbar ist. Sie kalibriert, sie zerstört die Singularität oder vielmehr die Unersetzbarkeit. Der Arbeiter ist kein Name mehr, sondern eine Zahl, eine Kategorie in einer Tabelle, die man überwacht und sanktioniert. … Die Zahl banalisiert das Überleben als Lebensmodus. Es geht darum, das Individuum zu verdinglichen, zu itemisieren.“ (97-98)
Fleury teilt Barbara Cassins Einschätzung der Objektivierung als Bedrohung für Individualisierungsprozesse, als Zerschlagung von Ganzheiten und subtile Form des Ausschlusses und der Begrenzung von Vielfalt: 525
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„‚Die Objektivierung vollzieht sich durch die Vergleichbarmachung. Man benotet objektiv nur Items. Man muss also die Berufe, die Kenntnisse, die Prozesse, die Beziehungen und die Bedeutung zerlegen, um sie zu in Aufgaben unterteilte Verfahren zu machen. Letztlich verlangt die Objektivität vorformatierte Sprachelemente, die eine universale Sprechweise in Phrasen bilden‘ [Barbara Cassin]. Die evaluierten Individuen haben die Fähigkeit, sogar die Idee, sogar den Wert der Unersetzbarkeit verschwinden zu lassen“ (98).
Man wird das Fehlen des Nichtersetzbaren nicht mehr merken. Die Invisibilisierung von Macht gehört natürlich ebenso wesentlich zum Funktionieren des panoptischen Apparats. Fleury sieht in der Evaluierung eine Requisite des Wahrsprechens, einen Missbrauch der Wahrheit (99), ein aus dem Zusammenhang gerissenes Element einer Erkenntnisprozedur. Es gehört zur totalisierenden Dimension des Panoptismus, Devianz immer stärker auszugrenzen: „Wer hat Angst vor den ständigen Polizeikontrollen, … wenn nicht der Schuldige, der sich etwas vorzuwerfen hat? Die Evaluierung ermöglicht es also zu kriminalisieren, jeden Arbeiter, jedes Individuum zu verdächtigen, es zu einem öffentlichen Feind zu machen, der die Valorisierung der Gruppe gefährdet. Wie die Macht ist die Evaluierung ein zirkuläres Phänomen, der Deckname eines selbstbezüglichen Handelns. Jeder Evaluierte wird Evaluierender sein und umgekehrt“ (99).
Es kommt zum Verschwinden dessen, der die Evaluierung verkörpert, zur maßlosen Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereichs und metastasierenden Wucherung ihrer Zugriffe; schließlich muss nicht mehr die positive Wirkung der Evaluierung bewiesen werden, vielmehr ist nun die NichtEvaluierung rechtfertigungspflichtig und ihr Nutzen ist auszuweisen: „Der Mythos von der Neutralität der Evaluierung fährt im Fahrwasser des Mythos von der Neutralität der Technik. … Die Erschaffung der Evaluation bedeutet die Überwachung des Gewissens, die Selbstüberwachung des Gewissens“ (100). Das Panoptikum bildet ein neues Regime des Gewissens aus und erreicht, „dass die Macht, … kein Werkzeug mehr braucht“, allein Licht und (potentielle) Blicke sind ihre Stützen. Zur Evaluierung reicht der „Blick der Schaltstellen-Kollegen“ (!); er instantiiert „ein Sichtbarkeitsdispositiv“ (100). In Bezug auf die transparente Netzwerkarchitektur der digitalisierten Gesellschaft schreibt Fleury: „Der Nom-des-Pairs (Name der Gleichen) tritt an die Stelle des Nom-du-Père (Name des Vaters)“ (100, vgl. Lacan). „Der Nom-des-Pairs ist eine biegsame Struktur und die erste, die sich eine permanente Verdinglichung auferlegt, … eine Fabrik von ‚Selbsten‘ … Man ist nur jemand, wenn man jemand anderem dienlich ist, wenn man ihn interessiert, in dem Sinn, dass man seine Interessen zu seinen eigenen macht“ (104–105). 526
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Ersetzbarkeit hat in etablierten festen Sozialformationen, Institutionen oder auch verschworenen Gruppen den Effekt, die Spaltung in Entscheidungsträger und Exekutivorgane voranzutreiben. Den Befehlsempfängern/Helfershelfern ist es leicht möglich, sich wegzuducken und Verantwortung auf andere zu schieben. Das Delegieren von Verantwortung funktioniert natürlich auch umgekehrt. Die Annahme der eigenen Ersetzbarkeit gründet in der Selbsteinschätzung, nichts bewirken zu können, unfähig zu freiem Handeln zu sein, und in der Annahme der eigenen Position als kleines Glied in der Kette, als kleines Rädchen in einer großen Maschinerie zu fungieren. „Das Glied in der Kette macht einfach, von vorneherein. Nicht denken, sondern die Macht um ein Kettenglied erweitern“ (108). Gehorsam erfordert ein Bewusstsein der Zustimmung; der Wunsch, zu einem Ganzen dazuzugehören, unterdrückt kritische Gedanken über das Kollektiv. Die Selbstsuspendierung, nicht mehr denken zu müssen, wird als Entlastung erlebt und hilft, die austauschbare Rolle zu akzeptieren. Nichtreflexivität kann sich auf diese Weise epidemisch ausbreiten. Fleury unterstützt also die Bedenken, wonach das Evaluationsparadigma, der Panoptismus und die Big-Data-Transparenz die Basis des bisherigen Soziallebens aushöhlen. Die Kritik an der Ausweitung und Verschärfung des Kontrollregimes, der flächendeckenden Bewertung kann nicht früh genug beginnen. (Apokalyptische Schreckensbilder einer neuen Herrschaft von Programmen verfangen natürlich nur, insofern man das posthumane Zeitalter nicht gutheißt; Transhumanisten oder Medienfreaks vom Schlage Stelarcs werden die Unterminierung des subjektiven Bewusstseins nur bewillkommnen.) Die bereits zu konstatierenden Proliferationen gestalten sich alles andere als harmlos. Eine Kritik der schulischen QM-Maßnahmen kann also nicht bei der Frage der Teilnahme an einzelnen Umfragen und speziellen Problemen des ungeregelten schulischen Datentransfers stehenbleiben. Arglos willigt der Einzelne in die fortschreitende Verwaltung des Menschen ein, in technokratische Übergriffe, die ihn letztlich seines Geheimnischarakters berauben. Es erscheint also keineswegs als unmöglich, das Wesen des Menschen, seine existenzialen Strukturen zu verändern. Totale Evaluierung bedingt eine neue Sozialformation und mit dem leisen Schwinden oder der Elimination des Gedankens der Unersetzbarkeit löst sich ein vertrautes Menschenbild auf wie eine Spur im Sand (vgl. Foucault). Die Dimension der Unersetzbarkeit hat gleichfalls eine einfache theologische Bedeutung: Von Sölles „Stellvertretung“137 konnte man seinerzeit leicht den Unterschied zwischen Ersatzmann und Stellvertreter lernen: Ein Ersatzmann deutet auf einen instrumentellen Kontext der Austauschbarkeit hin. Für geliebte Menschen kann es nur Stellvertreter und nie „Ersatz“ geben. Es schwindet gemäß Fleurys Kritik die Erfahrungsbasis für den Begriff von Würde. Würde scheint im simulativen Kontext sich auflösender Widerständigkeiten schwerer vermittelt werden zu können. Die Infragestellung und Entleerung dieser Kategorie schreitet voran, da der Sölle, D., Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“, Stuttgart 1965.
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Verwertungszusammenhang sich ausbreitet und menschliche Grundkoordinaten, etwa die klare Unterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding, zwischen instrumenteller und kommunikativer Vernunft, erodieren, als obsolet gelten oder vergessen und missachtet werden.
QM-Trickkiste versus theo-/socio-philosophical cure Bihler: „Wir redimensionieren das Management … Sie müssen mit dem Flammenwerfer in die Konkurrenz rein und die ausräuchern. Sonst sind Sie dran … Business, das ist Krieg, Blut und Tränen. So ist das.“ (19, 21, 22) Tschudi: „Sie sind ein Monster. Ein Monster sind Sie.“ (22) Bihler: Ja. Bin ich. Der Markt braucht heute Monster, Monster, Monster.“ (24) Neuenschwander: „Gibt es Erfahrungswerte, wie lange man so Rollenspiele mitmachen muss? … Wie weit bringt das was, dieses Im-Kreis-Hocken hier? Da muss doch was rauskommen hier, messbar.“ (42) Krause: „Das geht echt verloren in einer Arbeitsbeziehung, dass hinter jedem Projekt immer auch ein Mensch steckt. Mit seinen Freuden, mit seinen Leiden … Hat irgendwie das Rote Kreuz abgelöst, das Internet.“ (59/61) – Urs Widmer138
Der 2014 verstorbene Schweizer Schriftsteller Urs Widmer hatte sich für sein Theaterstück „Top Dogs“ (1996), für das er einige Preise erhielt, lange in Vorstandsetagen umgehört; die Zitate von Managern sowie ihre Begrifflichkeiten wurden direkt verwendet. Widmer lässt sein Drama in einem Outplacement-Center spielen, in dem sich die gerade entlassenen Spitzenmanager für ihre neuen Jobs fitmachen sollen, was nicht zuletzt durch psychologisches Training geschehen soll. Ähnlich ging Andres Veiel bei seinem Drama „Himbeerreich“ (2012) vor; Veiel musste die Aussagen von Spitzenbankern ebenfalls anonymisieren und im Kontext einer fiktiven Handlung virtualisieren, um sie dem Publikum im Orginalton vorstellen zu können. Eine ähnlich gelagerte Kritik des systemischen Denkens, des „Positive Thinking“, das in seinen diversen Facetten vielfach in die Pädagogik eingeflossen ist, erfolgte in der Schwarzen Komödie „Die Kunst des negativen Denkens“ (Bard Breien, 2006). Die angesprochenen Dramen und der Film, die die eindimensionale Selbstmythisierung eines Denkstils spiegeln, folgen Althussers Vorschlag, „dem Gegner die Sprache zu stehlen“, maskiert voranzuschreiten und ein cartesisches „larvatus prodeo“ zu praktizieren.139 Descartes’ Motto birgt wohl zugleich die gegenläufige Gefahr in sich, nämlich dass man bei seiner Tarnung sich und seine Erdung verliert und sich die eigene Sprache Widmer, U., Top Dogs, Frankfurt a. M. (11. Aufl.) 2011 (1997). Althusser, L., Einleitung in die Philosophie für Nicht-Philosophen, Wien 2018, S. 275.
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stehlen lässt, indem etwa die zu beschreibenden Phänomene zu früh oder ausschließlich in neuen Fachsprachen wiedergegeben werden. Althusser möchte keinem den Kampf der Ideologien ersparen. Er ruft dazu auf, „den eigenen Widerpart in sich zu tragen“140, sich nicht von der eigenen Geschichte zu entfernen, sondern die Geschichte sich immer umfänglicher anzueignen; bei Althusser ist von der „ganzen Geschichte“ die Rede; was allerdings metaphorisch aufzufassen ist. Die Suche einer neuen Theorie-Praxis-Verbindung bedeutet für Althusser: „materialistisch und zugleich dialektisch [zu] denken“.141 Dabei verdichtet sich gerade unter Bezug auf die literarische Herrschaftskritik, Fontanes Kritik der „Verlederung“ und vor allem auch Kafkas Schilderungen individueller Überforderung/ Hilflosigkeit in Kollektiven, die Diagnose der Verdinglichung und der Selbstauslieferung des Einzelnen in kurrenten Organisationen. Das Ausmaß subjektiver Auslieferung/Überlastung tritt immer deutlicher hervor. Es scheint wichtig, den kapitalistischen Geist nicht in Vorstandsetagen zu suchen, sondern ihn inmitten der Lehrerzimmer und Schulleitungen in den divsersen Spielarten und Maskeraden als „Dispositiv“ zu lokalisieren. Auf die unheilige Allianz und Zangenbewegung von Evaluation, Testindustrie, medialer Transparenz und Selbstoptimierung wurde schon eingegangen. – Die ideologiekritische Ausleuchtung des Hintergrunds der QMBegriffe, ihrer verschlungenen Geschichte und ihrer theoretischen Implikationen scheint ohne soziologischen/sozialkritischen Synopse-Versuch unabgeschlossen. Ulrich Bröcklings Studie „Gute Hirten führen sanft. Über Menschenführungskünste“ (Berlin 2017) leistet genau dies.142 Die „Trickkiste“ systemischer Intervention (das Reframing, das Stellen der Wunderfrage) gehört für Bröckling ebenso wie die Feedback-Kultur, Mediation, Supervision, aber auch Ebd., S. 70. Nicht die schlechteste Probe für den Wert eines Theorienansatzes ist der Nachweis, dass er in der Lage ist, „dem Volk aufs Maul zu schauen“ (Luther). Man sollte also genau beobachten, wie Schüler auf bestimmte didaktische Neuerungen reagieren, und ihre Reaktionen auf neue Schlüsselbegriffe einholen. Sie reden inzwischen in Bezug auf ihre Bewerbungen davon, „gut aufgestellt zu sein“ und „strategisch vorgehen zu wollen“; übernehmen das kybernetische Vokabular und den System-Blick. – Die Adaption einer ökonomisierten Sprache offenbart nicht selten eine totale Orientierungskrise und uneingestandene geistige Not. Wenn Schüler ihre Abwesenheit vom Unterricht mit Verweis auf „ihre Branche“ selbstbewusst rechtfertigen und mit gewissem Stolz verkünden, dass sie nun als „Selbstständige“ arbeiten, und dem Lehrer, der lediglich die Fehlzeiten thematisierte, wie in einem Verkaufsgespräch anbieten, dass „wir uns gerne einmal zusammensetzen und uns über Feingold als sichere Geldanlage austauschen“, haben sie nicht nur das Gefühl für das angemessene Sprachspiel verloren, sondern können auch den eigenen Verwertungskontext nicht mehr transzendieren. – Volljährige Schüler werden immer wieder zur Teilnahme an vorgeblich psychologischen Seminaren geködert; nach einem Schneeballsystem, in dem sie ihre Provision zunächst abführen müssen, verkaufen sie Policen oder Verträge. – Unter dem Zwang, neben der Schule zu arbeiten, vergessen sie, dass nur der Schonraum Schule die allein maßgebliche „Branche“ für sie sein kann. 141 Ebd., S. 61. 142 Bröckling, U., Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin 2017. Die Seitenzahlen zu den zitierten Passagen finden sich im Text. 140
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die Kontraktpädagogik, das Präventions-, Nudging- und das Resilienz-Paradigma zur „Gouvernementalität“, Foucaults Bezeichnung für die gegenwärtige Regierungskunst; die einzelnen Elemente bilden den großen Komplex der Pastoralmacht. Bröckling kontextualisiert also die auch in Schulen häufig verwendeten Strategien. Was in Schulen häufig separat voneinander besteht und als unabhängiges Konzept behandelt wird, setzt der Soziologe wie Mosaiksteine zusammen und durchleuchtet es als Facetten des aktuellen Machtformats, als Repertoire der Führung. Konnte man bislang etwa Prävention für ein relativ „neutrales“ oder isoliertes Moment einer Unternehmens- oder Schulkultur halten, das wohlmöglich auf eine gewerkschaftliche Intervention hin implementiert wurde, werden Streitschlichtung, Gesundheitsvorsorge etc. nun als Puzzles eines konsistenten sozialtechnologischen Programms eingeordnet. Schließlich sehen sich die Organisationen und Schulen unter dem Druck, sich zertifizieren zu lassen; und der Erwerb oder die Verlängerung von Zertifikaten für eine „gesunde Schule“ ist im mehrfachen Interesse der Leitung. Man geht also nicht fehl, nicht nur die Evaluatoren der Steuergruppe, sondern auch die Arbeitsgruppen für Prävention und die Mediatoren in ihrer systemstabilisierenden Funktion als Agenten der Pastoralmacht zu verstehen. Führungskompetenz mag direktional oder kompetitiv ausgerichtet, kausal oder attributiv, performativ oder ethisch angelegt sein; Gouvernementalität umfasst eine „Regierung jenseits des expliziten Herrschens, Befehlens oder Kommandierens“ (18): Die Führung von Hirten, pastores, geschieht ohne Territorium und setzt Vertrauen voraus. Der Hirte hat die Aufgabe der Sammlung und Herdenbildung. Ihm obliegt die Aufgabe der Sorge für seine Schafe und dabei darf er den Einzelnen nicht übergehen (19). Wenn nach Bröckling Hirten keine Delegation und Arbeitsteilung kennen, so spricht der Soziologe den Umstand an, dass die moderne Führung den „ganzen Menschen“ im Blick hat, also durchaus „totalitär“ angelegt ist, nicht nur bei der Verordnung von Verhalten stehenbleibt, sondern die Überzeugung und Gefühle der Mitarbeiter steuern und regulieren will. Zur Souveränität von modernen Pastoren gehört es, Bedürfnisse und Stimmungen zu kennen, Seelen zu bilden oder auch „den Willen von anderen zu absorbieren“. Pastoralmacht besteht überdies in einer asymmetrischen Seelenleitung (26). – Die sehr nah an Foucault angelegte Analyse geht davon aus, dass Machtstrukturen dem Subjekt nicht äußerlich bleiben, sondern sich in die Weise der Selbstbeobachtung (via Selbstkritik durch Idealblick) einschreiben. Foucault sieht die moderne Pastoralmacht im 16. Jahrhundert mit der Auflösung der Feudalordnung entstehen. Die der Pastoralmacht eigene „Asymmetrie“ deutet nicht das Fehlen von Mitbestimmungsmöglichkeiten, sondern den weiten Verantwortungsbereich des Hirten an. (Der gute Hirte hat im christlichen Kontext eine moralische Vorbildfunktion an den Tag zu legen. Nietzsches Kritik der Herdenmoral nimmt das Aufkeimen von Ressentiments, den Geist der Gleichmacherei, die Diminuierung von Einzelcharakteren in den Blick. Nietzsche vermisst gerade hinter der modernen Kollektivierung charismatische Wegweisung.) Eine Eigenart 530
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moderner Führung besteht nun darin, dass sie nicht mehr den Einzelnen von seiner InsecuritasNot, seinem radikalen Ausgesetztsein, entlastet; sie betont seine Fähigkeit zur Selbstregulation (42). Dennoch kommt Bröckling auf die alte Hirtenmetaphorik immer wieder zurück: „Die fundamentale Ungleichheit von Hirten und Schafen begründet jedoch kein Verhältnis gewaltsamer Unterwerfung und Ausbeutung, sondern eines der Sorge. Gute Hirten führen sanft. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der pastoralen Macht. Die Autorität der Führenden wächst mit der Sicherheit, die sie den Geführten garantieren. Eine Kritik der Menschenregierungskünste hätte von hier aus ihren Ausgang zu nehmen.“ (44)
Das schließt natürlich nicht aus, dass gegebenenfalls auch harte Einschnitte erfolgen; die Hirten selektieren und schlachten ihre Schafe selbst; gerade weil sie sie kennen, fühlen sie sich zur Entscheidung und Auswahl auch berechtigt; schließlich erfüllen sie mehrere Funktionen (Bewacher, Metzger). Diesen banalen Tatbestand liest man bei Bröckling nicht. Er ist womöglich in dem Paulo Virno-Zitat mitgedacht: „Das Subjekt ist ein Schlachtfeld“ (61). Die Menschenführungskunst ist also alles andere als eine harmlose Praxis. Bröckling betont zunächst: Die Pastoralmacht braucht ein Mindestmaß an Bereitschaft der Geführten, auch sich selbst zu leiten. In Bezug auf das Dispositiv der Prävention hebt Bröckling hervor, dass Vorbeugen Risiken antizipiert und an die Stelle des Abwartens tritt. „Risiko ist all das, wogegen sich vorbeugende und schadensausgleichende Maßnahmen treffen lassen. … Wer vorbeugen will, weiß nie genug“ (86–87). Prävention hat nichts mit Verstehen zu tun; Bröckling grenzt also Prävention deutlich von Hermeneutik oder Psychoanalyse ab; Prävention steht wie auch Mediation im Kontext der Erhaltung der Systemfunktionalität oder der Reproduktion der Arbeitskraft. Eine komplexe Abschätzung von Folgen mag der Angst oder Sorgestruktur des Menschen entspringen (Blumenberg). Durch selffullfilling prophecies kann es jedoch zu einigen Kurzschlüssen kommen; die „Politik im Konjunktiv“ weist eine eigene Logik auf: „Wenn es gilt, das Schlimmste zu verhindern, dann erscheint alles erlaubt“ (104f). Das „Better safe than sorry“ (100), der „Imperativ der Leidensfreiheit entpuppen sich nicht selten als ein Freibrief für Mitleidslosigkeit“ (81). Das Dispositiv der Prävention erzeugt Handlungsdruck, nicht selten erzeugt es ein schlechtes Gewissen: „Der zwanglose Zwang der präventiven Vernunft beruht nicht zuletzt auf einer generalisierten Schuldzuweisung“ (112). In jedem Fall wird die Last der Verantwortung unter den Vorzeichen der Prävention auf die Mitglieder einer Organisation verteilt. Bezüglich der hochvolatilen Resilienz-Branche lässt sich festhalten: Sie arbeitet sehr adaptionsbereit mit neuen Konzepten und kann etwa die Diversity-Forschungen aufnehmen. Bröckling sieht in ihr ein „Survival-Training für alle“ (123) angelegt. Resilienz übernimmt eine Entlastungsfunktion, hält sie doch das Simulacrum der Machbarkeit trotz negativer 531
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Zukunftsvisionen aufrecht. Life skills werden nicht zuletzt erlebnispädagogisch aufgefangen. Jedoch scheint Resilienz eine Eigenschaft zu sein, die der Einzelne immer erst im Nachhinein aufweist. Resilienz gehört zum modernen Risikomanagement, das auch auf künftige Traumata reagieren will. Hartnäckig schließt man aus Anpassungen nicht auf Fatalismus, sondern auf Widerständigkeit (138). Mediation erscheint als „Schlüsseltechnologie in der Gouvernementalität“ (142). Bröckling problematisiert die Versöhnung durch Gespräch (Carl Rogers), die auf Vereinbarungen jenseits der Gesetze und auf die Suggestivkraft einer pazifizierten Ordnung setzt. Mediation stellt eine „Mitmachfalle“ bereit (171). Der große Dritte ist die Kommunikation, nicht das Gesetz (173). Rancière bringt die Adaptionsfähgkeit der Mediation auf den Punkt: „Jeder Streit wird in diesem System zum Namen eines Problems. Und jedes Problem lässt sich auf einen einfachen Mangel – auf den einfachen Rückstand – der Mittel seiner Lösung zurückführen“ (173). Strukturelle Probleme werden zu innersystemischen Konflikten oder in Fragen der Selbsttransformation transponiert und tendenziell entpolitisiert. Im Gegensatz zu etwa sehr ineffizienten psychoanalytischen Widerstandsanalysen – die Psychoanalyse stellt einen weiten Raum für das Austesten von Destruktivität bereit und ermuntert dazu, das Phantasma in einer ungerichteten Form zu durchqueren – geht es in der Mediation immer um einen klaren Fokus und pragmatische Lösungsfindung. Ein Effekt der Mediation als Anleitung zur Selbsttransformation ist für den Soziologen die Entemotionalisierung: Mediation erleichtert das Geschäft der Unternehmenspastoren. Bröcklings bissiger Schlusskommentar hierzu lautet: „Man muss nicht zum Vorschein einer besseren Welt verklären, was lediglich die Verwaltung der Herrschenden erleichtert“ (174).
Nudging (nudge bedeutet „stupsen“) ist die Bezeichnung für den libertären Paternalismus. Die Leitung begründet ihr Vorgehen, das zum Beispiel die Einzelnen zu mehr Gesundheitsvorsorge drängt und Gesundheitsbewusstsein mit kleinen Gratifikationen belohnt, mit der Sorge um das Wohl der Beschäftigten. Stupsendes/gängelndes Insistieren setzt an verschiedensten Ebenen an, wenn im Rahmen des Change-Managements Neuerungen durchgesetzt werden. Der Hirte glaubt seine Schafe im Zweifelsfall zu ihrem Glück zwingen zu dürfen. Hier wäre die „selbstimmunisierende Logik der Unvermeidbarkeit in Frage zu stellen“ (196). Stößt etwa Lehrern das Nudging der Schulleitung negativ auf, wenden sie zugleich nicht selten ganz ähnliche Verfahren im „Classroom-Management“ an. Der Druck der systemischen Fehlerdezimierung kollidiert notwendig mit der Fehlbarkeit jedes Einzelnen, die die menschliche Würde und Freiheit begründet. Das Feedback stellt für Bröckling eine „kommunikative Schlüsselkategorie“ der Pastoralmacht dar (197). Es handelt sich um die Mitteilung von Differenz (199). Das Rückkopplungssystem 532
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sucht nach seinen blinden Flecken und unknown Knowns (207). Jedoch provoziert die „Tyrannei der Transparenz“ (209) Strategien der Vermeidung und Verbergung. Feedback scheint einerseits ständig gegeben und empfangen zu werden, andererseits soll dies in expliziten Verfahren ritualisiert erfolgen (210). Bröcklings Liste komischer und kurioser Feedback-Rituale – der Soziologe kapriziert sich auf die Blitzlicht-Methode – ließe sich mit Verweis auf schulische Methoden mühelos erweitern (213). Verfahren, die Intimitätszwang und Bekenntnisdruck erzeugen (215), hält der Autor weniger für lächerlich, sondern vielmehr für gefährlich. Takt- und Intimitätsschwellen werden überschritten (219). Die Begeisterung für Gruppendynamik scheint sich zu einer „Gruppensucht“ (André Béjin, 220) zu verwandeln. Der „demokratische Panoptismus“ bietet im Feedback „ein nichthierarchisches Modell reziproker Sichtbarkeit“ (218); da die Sollgrößen variabel und offen sind, passt das Feedback zum Bemühen um Selbstoptimierung, die kein Ende findet. Die Kontraktpädagogik leitet dazu an, das tun zu wollen, was Gegenstand des Sollens ist. Sie kultiviert die Freiheit im oder neben dem Zwang. Als Repräsentant darf Locke gelten, der eine Erziehung zur Freiheit mittels Zwang vertrat. In diesem Zusammenhang fällt der Begriff „Selbstzwang“ (228), den einige Schulen als positive Eigenschaft der Schüler herausbilden und pflegen wollen. Im „Mikrokontraktualismus“ (239) einer Familienkonferenz oder eines schulischen Lernvertrags wird das Subjekt Signatur und Dispositionsmasse zugleich. Die formale Gleichheit der Vertragspartner erweist sich häufig als Trugbild. Freiheit ist hier nur ein Medium der Machtausübung, nicht dessen Widerpart (242). Training und die formalisierte Vereinbarungskultur werden nicht selten von harten Sanktionsandrohungen begleitet. Wettbewerbskultur und Burnout deuten als „Kollateralschaden der Globalisierung“ (265) auf die „Imbalance“ und die „Gratifikationskrise“ (268) der Systeme hin; darüber kann auch ein buntes „Motivationstheater“ (257) nicht hinwegtäuschen. Aus den Fugen geratene Wettbewerbe und Kämpfe um erste Rankingplätze werden von Doping oder einer Enhancement-Branche begleitet. Bröcklings Zuspitzungen „alle planen, auch die, die nicht planen – niemand plant, auch die nicht, die planen“ erläutern den Begriff der „Planungsdämmerung“ (279); Planungen scheinen sich auch auf das zu erstrecken, das sich der Planung entzieht, und immer mehr zu diffundieren. Die Rede vom Humankapital verdeutlicht die Menschenökonomie; auf dem Feld der agambenschen Biopolitik erweist sich die Nähe zwischen Demokratie und Totalitarismus (308). „Es sind die Human Relations, die noch das Inhumanste erträglich machen“ (362). „Nur wer sich den Ritualen permanenter Kritik und Selbstkritik unterzieht, soll dem Imperativ lebenslangen Lernens folgen können. Ein Ausdruck dieser Institutionalisierung und Instrumentalisierung des kritischen Blicks sind die allgegenwärtigen Evaluationen, Moni-
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toring-Verfahren und Benchmarking-Prozesse. Sie etablieren ein Regime kybernetischer Selbst- und Fremdsteuerung, das über die digitalen Netzwerke in Echtzeit operiert und seine Instrumente algorithmisch optimiert. Kritik mutiert zur Feedbackschleife, die dafür sorgt, dass alles laufend verbessert wird, sich aber nichts wirklich ändert“ (379).
Bröckling warnt also unverhohlen davor, sich von Feedback oder Evaluationen Effekte zu versprechen, die die Pastoralmacht infrage stellen: Eine postkritische linke Melancholie mag es beim Nachweis ihrer eigenen Machtlosigkeit bequem belassen. Dem System zu unterstellen, dass es alle Widersprüche und Widerstände integriert, wäre eine wenig hilfreiche Autosuggestion. Hier klingt der Bezug auf Rancières Einschätzung verheißungsvoll: „Es gibt einfach Szenen des Dissenses; und sie können immer und überall auftauchen.“ „Jede Situation kann in ihrem Inneren gespalten und unter einer anderen Wahrnehmungsund Bedeutungsanordnung neugestaltet werden. … Der Dissens stellt zugleich die Offensichtlichkeit dessen in Frage, was wahrgenommen wird, denkbar und machbar ist, wie die Aufteilung derer, die fähig sind zu erkennen, zu denken und die Koordinaten der gemeinsamen Welt zu verändern“ (380–381).
Zur Analytik gegenwärtiger Dispositive gehört also unaufgebbar der Ausweis der transformativen Kraft des Aufbegehrens, ebenso der Gleichheit als Gerechtigkeitsprinzip, die auf Dauer nicht allen vorenthalten werden kann. Auf die Frage „Wo bleibt das Positive?“ antwortet Bröckling: „Wer noch immer dem Kritiker vorhält, er möge gefälligst besser machen, was er tadelt, oder zumindest sagen, wie man es besser machen könne, der setzt sich dem Verdacht aus, am Status quo zu kleben und nichts dazulernen zu wollen. … Nur wer sich aufstören lässt, soll dem lebenslangen Lernen folgen können.“ (386)
Kritik hat sich am Maß der eigenen Irritierbarkeit messen zu lassen. Der Kritik-Begriff wurde ja schon bei Lagasnerie problematisiert. Es wird hier deutlich, wie adaptiv und einnehmend System- oder pastorale Machtperspektiven sind. Jede Polemik muss gewärtigen, dass sie die kritisierten Dinge bzw. Gegner groß macht und dass Kritiker an die kritisierte Sache gebunden bleiben (387). „Distinktionszwang hat den Furor der Homogenisierung abgelöst. Eine Kritik auf der Höhe der Zeit hätte genau hier anzusetzen. … Kritik ist chic, eine sportlich-subversive Attitüde, die gerade durch Unangepasstheit Anpassungsfähigkeit demonstriert“ (390).
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Kritik mag wohlwollend aufgenommen werden. Ihre Einbettung bestimmt und reguliert, wie sie verwertet oder auf lange Sicht kaltgestellt wird. Die systemstabilisierende Wirkung kritischer Äußerungen darf also nicht unterschätzt werden: Wie bei einer Impfung wappnet und immunisiert sich ein pastorales Machtgefüge rechtzeitig gegen fundamentalere Infragestellungen. In einem abschließenden Kapitel betont Bröckling kreative Akte als nichtvernutzbar oder nichtplanbar. „Kreative Akte ereignen sich“ (412). Wie bereits bei seiner Systemanalyse zeigt sich bei der Kreativitätsthematik eine schlüpfrige Ambivalenz: Die Doublebinds „Sei spontan, sei kreativ!“ lähmen oder wirken zumindest hilflos in ihrem Versuch, das Nichtregulierbare zu beherrschen. Insofern mag „Kreativitätsförderung als „Geniekult für Demokraten“ gelten (415) und für kreativ das Neue gehalten werden, das sich durchsetzt (417). Die steigende Umlaufgeschwindigkeit provoziert aber Gegenreaktionen gegen den Innovationsdruck, den Zwang, kreativ sein zu müssen: Befreiendes kreatives Handeln und die radikale Neuerfindung des Sozialen entwickeln sich an Bruchlinien und Aufspaltungen. Deleuzes Versuch, minoritär zu sein, mag ebenso helfen. Letztlich könnte Bröckling bei der Frage nach Möglichkeiten des Protests oder der Revolte sich stärker auf seine Systemkritik beziehen: Der Soziologe sieht zuletzt die Kritik und Kreativität von der Pastoralmacht vereinnahmt. Partizipation und Kritik werden unproduktiv-vorhersehbar: Das Resümee „Wer wirklich Neues will, erleichtert die Arbeit“ (420) ist Kritikern und Kreativen zu wenig. Nur kleine Entlastungen oder kleine Transzendenzen gehen von folgenden Einsichten Bröcklings aus: „Kreativität braucht Muße … Kreativität braucht Freiräume, in denen die Zwänge der Selbsterhaltung zumindest temporär suspendiert sind. … Überlebenskunst ist die Kreativität der Armen.“ (420) „Man kann nicht nicht kreativ sein, aber vielleicht kann man aufhören, allzeit kreativ sein zu wollen“ (421)
Markus Miessen befürchtet Ähnliches: Er diagnostiziert ebenso einen leisen Umschlag von Protest zur Normalisierung, eine Transformation von „Kritikalität in eine andere Modalität der Warengesellschaft“.143 Die vorliegende Aufsummierung kritischer Stimmen sollte einen solchen Umschlag verhindern. Mit satirischen Einschüben als „logicolinguistischen Ressourcen innovativer Handlung“ (Paul Virno) oder auch Film- und Literaturverweisen sollten vielmehr Zirkularitäten visualisiert, aufgebrochen, destruktive Zwänge depotenziert werden: „Ich verorte mich in der Falle,
Miessen, M., Albtraum Partizipation, Berlin 2012, S. 163. Interessant erscheint auch Miessens Gespräch mit Ch. Mouffe.
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in der ich sitze, um diese von innen zu präparieren.“144 Die Kritik des Qualitätsmanagements muss nicht zuletzt unter Bezug auf Lewis A. Cosers und Gerald Raunigs Analyse vor sich immer „gieriger“ gerierenden Institutionen und vor einem sich verschärfenden sozialen Maschinismus warnen.145 Es erscheint klar, dass das Qualitätsmanagement seine Dominanz in der Schule behalten und behaupten wird; um therapeutisch werden zu können, nicht im Sinne eines verhaltenstherapeutischen Coachings, sondern im Sinne einer offenen Psychoanalyse, müssten die Mandate des Schamanen und des Häuptlings klar getrennt werden (A. Retzer). Analoges verlangte bekanntlich Heidegger von der Technik, erst wenn sie poetisch würde, verlöre sie ihren machtenden Charakter. Das Poetisch-Werden des Qualitätsmanagements darf als konsequente Einbeziehung literarischer Stimmen der Herrschaftskritik assoziiert werden. Das kurze Gedankenspiel vom Qualitätsmanagement als Freiraum für Kunst, als Befreiung von Anpassungsdruck zeigt erneut, wie sehr es derzeit unter dem Diktat und der Logik der Systemstabilisierung steht, wie begrenzt man ihm entfliehen kann, wie rigide angebliche Handlungsspielräume vordefiniert sind.
QM-Maskierungen der Macht und Ausblicke auf Transgressionen der Überich-Repression „Die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden!“ – Friedrich Nietzsche146
Bei Thomas Schmidts großangelegter Studie „Nie wieder Qualität. Strategien des ParadoxieManagements“147 handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Qualitätsmanagements, die von Dirk Baeckers Ansatz inspiriert ist und sich an die systemtheoretische Paradoxiebehandlung
Avanessian, A., Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz, Berlin 2015, S. 190, 197. Auf S. 196 verdeutlicht er mit einem Zitat von Michel de Certeau die Strategie: „Der Schwache muss unaufhörlich aus den Kräften Nutzen ziehen, die ihm fremd sind.“ 145 Coser, L. A., Gierige Institutionen. Soziologische Studien über totales Engagement, Berlin 2015. Gelhard, A., Kritik der Kompetenz, Zürich 2011. Raunig, G., Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien 2008. 146 Nietzsche, F., Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt a. M. (3. Aufl.) 1988, S. 174, Nr. 279 (SternenFreundschaft). 147 Schmidt, Th., Nie wieder Qualität. Strategien des Paradoxie-Managements, Weilerswist 2017. Die Seitenverweise finden sich im Text. 144
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anlehnt. Der Titel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass keineswegs ein Schlussstrich gezogen wird oder keine Ablösung des kurrenten QM-Systems intendiert ist; vielmehr soll dieses unter systematischer Berücksichtigung der Paradoxien von Führung, Kontrolle optimiert werden. Auf die Anfangsdiagnose der „Agonie“/„Pathologien“ (Kap. 1) folgt keine Beerdigung des Qualitätsmanagements, sondern seine Wiederbelebung. Der moribunde Patient wird also reanimiert, recht schnell aus der Therapie entlassen und zurück in der Chefetage mit Leitungsfunktionen betraut. Das Paradoxie-Management reüssiert vielmehr als hocheffizientes und gegenüber den gegenwärtigen Systemanforderungen angemessenes Führungsformat. Um eine Programmschrift gegen das Regime der Pastoralmacht anzukündigen, hätte der provokante Titel ein Ausrufezeichen enthalten müssen. „Nie wieder Qualität“ zielt also keineswegs auf eine phänomenologische, kulturphilosophische oder theologisch dimensionierte Kritik des QM-Paradigmas. Paradoxien schulischer QM-Entwicklung können sich in Schmidts Analysen gespiegelt sehen, Grundkoordinaten des Risiko-Diskurses und der Umgang mit Unentscheidbarkeiten, die Paradoxien von Kontrollen ähneln sich in Systemen: Das Paradoxie-Management verheimlicht nicht, dass Neuerungen dysfunktional, die Steigerung von Kontrollen ineffektiv werden oder Aktionsprogramme Konflikte auslösen können. Erwartungen in die Aussagekraft von Kontrollen bzw. in die Langzeitwirkung von Regelungen können gedämpft werden. Schließlich hat das Management mit Intransparenz umzugehen, Risiken abzuschätzen, im Sinne Heinz von Foersters das Unentscheidbare zu entscheiden. Die luhmannsche Problemanalyse, seine Formalisierung sozialer Probleme in den Koordinaten der Zwei-Seitenform, die Anlehnung an die Logik G. Spencer Browns, die nach den blinden Flecken von Unterscheidungen fragt, weitet den Blick für Ambivalenzen und erweitert das Handlungsrepertoire von Führungskräften. Es geht Schmidt darum, zu enge Vorgaben zu hinterfragen und den Horizont von Entscheidungen zu weiten. Man wünscht sich auf verschiedensten Ebenen die Einsichten Luhmanns, dass sich Identität bewährt, indem sie Unsicherheit schafft; dass man nur kontrollieren kann, wovon man sich kontrollieren lässt, dass gerade die Störung von Routinen Aufgabe des Managements ist, ist sicher nicht bis zu allen Schulleitungsebenen gedrungen (109f). Schmidt macht deutlich, dass Qualität eine Chiffre ist, die sehr Differentes beinhaltet. Schließlich wird auch nicht die Vermutung zurückgehalten, dass für viele das Betreiben des Qualitätsmanagements ein Alibi für die Beschäftigung mit Qualität, also auch für das eingehende Theoriestudium, bedeutet (394). Das Paradoxiemanagement, das in Baeckers „postheroischem Management“ gründet, bezieht auch dessen Diagnose der „nächsten Gesellschaft“ mit ein. Die QM-Methoden und -Anforderungen sind immer gekoppelt und abhängig von den jeweiligen Leitmedien bzw. Gesellschaftsformationen; Baeckers Wegmarken werden also geteilt. Wenn die nächste Gesellschaft von D. Baecker eine reziproke Kontrolle umfasst, könnte das auch eine totale Kontrolle 537
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im Stile eines „360°-Feedbacks“ einschließen. Das „Oszillieren“ und „fluide Identitäten“ werden als Merkmale des Managements der nächsten Gesellschaft benannt, die in ihrer klaren Kontur noch nicht abgeschätzt werden können (vgl. Reckwitz’ „Hyperkultur“). Zumindest darf man hinter einigen Begriffen der Managersprache den Alptraum der Transparenz-Gesellschaft und das Plastischwerden und Aufweichen klarer Identitätsgrenzen (das Verschwimmen der DingNicht-Ding-Unterscheidung, die Kommunikation mit Geräten usw.) vermuten. Peter Weibel mag die Psychotisierung der Wahrnehmung gefordert haben, jedoch hat er immer wieder vor der Invisibilisierung von Kontrolle oder der Ohnmacht des Individuums vor Großkonzernen gewarnt; Baecker scheint das erst jetzt in den Blick zu nehmen.148 Indes sieht das ParadoxieManagement nicht den banalen Rollenwechsel von Leitungsebene und Mitarbeiter vor; das Oszillieren scheint gerade nicht die Machtkonstellationen selbst zu betreffen; es darf alles fließen, nur die eigene Position sollte erhalten bleiben. Das Persistieren alter Strukturen hinter oder neben postmodernen Managementtheorien, das Unverändert-Bleiben des Habitus von Leitungsrollen, scheint nicht mit den systemtheoretischen Analysen bewältigt werden zu können. Diese scheinen vielmehr gerade für foucaultsche Totalisierungsschübe unempfindlich und sowieso der zunehmenden Schließung der Systeme, der Abgrenzung der Teilsysteme gegeneinander (Luhmanns ureigene Prognose eines Totpunkts der Systemevolution), nichts Kuratives entgegensetzen zu können. Schmidt unterscheidet sechs Grund-Paradoxien in Bezug auf die Dimension der Entscheidungen, des Wandels, der Identität, der Knappheit, der Zeit und der Kontrolle. Sie betreffen die unterschiedlichen Qualitätsbereiche: die Führungsebene, die Strategie, Mitarbeiterinnen, Ressourcen, Prozesse und Ergebnisse (291). Gerade wenn Paradoxie-Management heißt, dass „heterarchische Kontrollen Hierarchien nicht überflüssig machen, sondern flüssig machen“ (304), scheinen sich aber vor allem für Manager Handlungsmöglichkeiten zu erschließen; neue souveräne Möglichkeiten von Führung und Leitung können getestet werden. Gerade hinsichtlich der Unterscheidung von Norm und Ausnahme scheint sich der Manager zu einem Hin- und Herswitchen, einer neuen, unaufgeregten Unvorhersehbarkeit ermutigt und ermächtigt zu sehen. Dass das Kriterium für die Güte einer Handlung nicht in der Folge oder der Motivation, sondern im Entscheiden selbst liegt, mag als situationsethische Option gedeutet werden, wenn es nicht machiavellistisch zu verstehen ist (304); oder ist es doch im Sinne Kants zu verstehen und es wird ein Tun um des Tuns willen, ein zweckfreies Tun des Guten inauguriert? Es ist fast ein Allgemeinplatz, darauf hinzuweisen, dass die Kontrolle der Kontrolleure mit systemtheoretischen Vorgaben nicht-emanzipatorisch gelöst wird; das Umkodieren des Baecker, D., 4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt, Leipzig 2018, thematisiert nun klarer die Veränderungen, die die Digitalisierung der Gesellschaft aufzwingt.
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Leitbegriffs des Erziehungssystems von Bildung in Lernfähigkeit scheint als ein Effekt der nächsten Gesellschaft unkritisch hingenommen werden zu müssen (216). Ähnlich unverständlich ist vor dem Hintergrund der Ethik der Aufklärung, dass von Entscheidungen der Organisation die Rede ist, die (wahlweise oder generell) nicht mehr personalisiert werden (278). Gerade im Lichte der kantischen Ethik erweist sich Schmidts Schlussaussage „Nichts ist ohne sein Gegenteil gut“ (398, 400) – die ethische Adaption des bekannten Martin Walser-Satzes, der wahrheitstheoretisch dimensioniert war („Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr“) – als fragwürdig. Das Schlusskapitel mit Thesen zur Qualität des Qualitätsmanagements ist ebenso mit dem unkantischen, walserschen Bonmot überschrieben. Zumindest vergeben sich Theologie oder sonstige Orientierungswissenschaften Denkmöglichkeiten des Unbedingten, wenn sie den kantischen Ethikansatz verwerfen und damit ebenso sein Denken von Würde/Nichtobjektivierbarkeit übergehen. (Kant bezieht sich auf die Heiligkeit des guten Willens.) Im Umgang mit Nichtwissen und in Vorbereitung auf das Unentscheidbare, das entscheidend sein kann oder entschieden werden muss (H. v. Foerster), werden unknown Unknowns angenommen, also blinde Flecken des Nichtwissens dessen, was man nicht weiß (316). Wie Žižek allerdings herausstellt, sind der interessante Fall die unknown Knowns, das verdrängte Wissen, von dem nicht klar ist, dass man es weiß. Was für den psychoanalytischen Diskurs entscheidend ist, bleibt also auch im Paradoxiemanagement ausgespart und unterschätzt: Zu dem impliziten, immer virulenten verdrängten Wissen darf man auch die unreflektierten Tabus und die Unempfindlichkeiten zählen, die sich in Organisationen einschleichen. Die Explizierung des Unausgesprochenen, Verdrängten, der deutliche Hinweis auf die „Leichen im Keller“, vermag Prozesse auszulösen, die nicht so leicht gemanagt werden können. Žižek und Badiou würden hier von einem Wahrheitsereignis, einem Moment extremer Unsicherheit sprechen, das man dem Individuum, aber auch Gruppen von Mitarbeitern oder Führungskräften nicht ersparen kann. Schmidt beschreibt weitere interessante Umdeutungen, wenn etwa das Qualitätsmanagement, das Kontrollillusionen entspringt, nun der Desillusionierung dienen soll (318f). Das TherapeutischWerden des Qualitätsmanagements wird jedenfalls nicht ausgeschlossen. Manager können sich zum Teil als Weisheitsgurus betätigen und dabei eine unaufgeregte Nichtfestgelegtheit an den Tag legen; oszillierend können sie Organisation als Interface, Arena oder Council verstehen. Schmidt stellt schließlich heraus, dass gerade die Kommunikation der Anerkennung, die Anerkennungsethik „den blinden Fleck jeder Qualitätskontrolle“ darstellen (393): Anerkennende Gesten vonseiten der Leitung werfen die Frage auf, was mit der Anerkennung strategisch erzielt werden soll, auf was sie sich stützt oder ob sie berechtigt ist. Dies belegt zumindest in der foucaultschen Perspektive, wie sehr Macht das relationale Feld strukturiert oder verformt, und in theologischer Perspektive, wie elementar das Nichtobjektivierbare, Beziehungsdimensionen sich gegen jede Funktionalisierung sträuben. 539
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Es zeigt sich hier, wie fremd QM-Methoden und Pädagogik nach wie vor einander gegenüberstehen; denn die Schaffung eines Klimas des Wohlwollens, in dem Rückfragen erlaubt sind, in dem aber die Einordnung von anerkennenden Gesten nicht immer fragwürdig sind, gehört wohl zu den Elementaraufgaben eines Lehrers. In der Kunst des Lobens lernen Lehrer natürlich nicht aus; ihre Formulierungen von Anerkennung können eindeutiger sein. Die Pädagogik wird im Sinne einer Ethik der (Für-)Sorge oder auch unter Berücksichtigung des Schutzbefohlenen-Verhältnisses die Verletzbarkeit des Schülers in den Vordergrund stellen. Angesichts der (theologisch dimensionierten) Achtung des Nichtobjektivierbaren, die Pädagogik insgesamt charakterisiert, erscheinen schulische Handlungsoptionen klarer eingeschränkt und niemals die Offenheit der Management-Strategien zu haben. Managern scheint es möglich, sich Anerkennungsbedürfnissen von Mitarbeitern zu entziehen oder das „Kontingenztoleranz-Label“ dafür einzusetzen, „dass man Sinn und Welt für unbeobachtbar“ hält (394). Lehrpersonen stehen demgegenüber eindeutiger in der Pflicht, Orientierungsfragen der Schüler nicht auszuweichen. Schmidt plädiert für eine „Ästhetik der Kontrolle“; dazu gehört, dass mögliche anästhetische Wirkungen von Kontrolle, also ihre Kontingenz, gesehen werden; dass Kontrollen Qualität verhindern können (398), ist eine Einsicht des Paradoxie-Managements, die angesichts von Kontrolleuphorien des schulischen Qualitätsmanagements ebenso im Blick bleiben muss. Schließlich scheint ein möglicher Rollenwechsel von Leitung und Mitarbeiter, die Identifikation des Lehrers mit den Schülern, nicht übergangen werden zu können. Die politisch wie theologisch dimensionierte Frage nach dem Ausgeschlossenen kann nicht marginalisiert werden; Schmidt differenziert zwischen irritierendem und inspirierendem Feedback.149 Das angesprochene Oszillieren, das Paradoxien ermöglichen, bedeutet ein Changieren zwischen Moderation, Reduktion und Integration, ein Fokussieren, das auch Perspektivwechsel erlaubt, Kontinuität mit Unterbrechungen, Akzeptanz mit gleichzeitiger Konfliktbereitschaft kombiniert (398). Das paradoxale Spiel der Umdeutungen scheint sich vor allem als eine Ermächtigung für das Management zu erweisen, wenn der Abbau von Sozialabsicherungen, Scheinselbstständigkeiten als neue Freiheiten und Chancen des unternehmerischen Subjekts ausgegeben werden. Gerade hier ist eine Reflexion der nietzscheschen Interpretationsmacht als Wille-zur-Macht-Formation angebracht. Letztlich fordern neue Managementtheorien neue Strategien von Gewerkschaften heraus, etwa Protestformen, bei denen die Leitungsebene mit einer Überfülle von Einsprüchen und Eingaben herausgefordert wird.
Angesichts der Aussicht, die Frage nach dem Opfer in der „nächsten Gesellschaft“ offener zu thematisieren (D. Baecker), scheint der Hinweis angebracht, dass diese Frage in der Philosophie Žižeks immer schon im Mittelpunkt steht (393).
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten scheint unabweisbar mit einer Ausweitung der Belastung einherzugehen; so führt die Digitalisierung von Vertretungsplänen dazu, dass Lehrer noch abends ihre neuesten Dienstmails abrufen, auch wenn sie dienstrechtlich nicht dazu verpflichtet werden können. Es wird daneben fraglos vorausgesetzt, dass es zu den Aufgaben von Lehrern gehört, die zunehmende Zahl von Mail-Anfragen von Schülern und Eltern rasch zu beantworten. Aus der Sicht der Manager und Chefs mag Schmidts Studie als ein neues Vademecum souveräner Amtsausübung erscheinen und Reflexions-/Handlungsoptionen zu pluralisieren. Die Position der „Indians“ folgt sicher anderen Interessen. Hier geht es um die Aufwendung aller kritischer Ressourcen, um Schulen vor einer Verbetriebswirtschaftlichung zu bewahren; gerade in schulischen Kontexten bringt das bestehende QM-Kontrollsystem antagonistische Konstellationen zum Vorschein; die Stimmen derer, die es kritisieren (also derer, die die Kontrolle der Kontrolleure einfordern) und die die vielbeschworene Beobachtung zweiter Ordnung tatsächlich systemrelevant praktizieren, werden nicht gehört; die Systemmühlen mahlen unirritierbar weiter. Die konfliktträchtige Diastase von Leitungssichtweise und Mitarbeiterperspektive darf in den kurrenten Managementtheorien also nicht kleingeredet werden. Wie Žižek schon vor Jahren herausarbeitete, beruht Macht auf der Möglichkeit von (harten) Sanktionen. Und diese Möglichkeit verformt real-spürbar das Diskursfeld; es ist auch klar, dass sich ausagierende Macht immer auch als Ohnmacht erscheint. Auch wenn das Qualitätsmanagement erkennt, wie heikel und brisant die Kommunikation von Anerkennung und Respekt sein kann und Fragen der Authentizität und Wahrhaftigkeit nach sich zieht, so erscheint die Verzweckung der Mitarbeiter durch Leitungsorgane als ein bleibendes Problem. Das Pulsieren der systemrelevanten Ent- und Reparadoxalisierung von Leitbildern und Vorgaben wird wesentlich von der Leitungs- und Managementriege gesteuert oder angestoßen; sie bestimmt ja auch die Reichweite von Beschlüssen und dominiert das AgendaSetting. Diese Vereinseitigung zu durchbrechen ist nicht zuletzt ein Anliegen der vorliegenden QM-Kritik. Demokratische Strukturen scheinen sich mit einer Leitungsdominanz, die nicht durch Basisentscheidungen legitimiert ist, nicht zu vertragen. Gerade wenn Freiräume in Institutionen erschlossen, subversive Strategien oder alternative Organisationsformen entwickelt werden sollen, erscheint es unverzichtbar, die Frage nach dem verfemten, ausgeschlossenen Rest zu stellen und die Wirkung von Idealperspektiven, der Macht des Dritten, des großen Anderen in Beziehungen zu untersuchen. Ein Rekurs auf die französische Kulturkritik, insbesondere auf ihre psycho- oder kulturanalytischen Überlegungen (Lacan, Foucault, Deleuze) ist hier hilfreich. Einen radikalen Systembruch vollziehen nur wenige der hier referierten Autoren; Badiou spricht von einer Strategie der Subtraktion, die angesichts von Unentscheidbarkeiten Handlungsspielräume eröffnet. 541
7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Am Ende ihrer Studie zur Pluralisierung „Ich und die Anderen“ weist Isolde Charim – wie zuvor schon Derrida – ganz entschieden die Frage „Was tun?“ als zu funktionalistisch-pragmatistisch-eng zurück. Charim bezeichnet sie als Symptom bzw. einen „Fetisch“150; die Frage sucht auf dem Hintergrund eines letztlich magischen Denkens einfache Rezepte und offenbart den Ruf nach dem großen Anderen, der alles weiß und sieht; die Lektion der elementaren Religionskritik, also die Etablierung des großen Anderen/der Idealperspektiven/der symbolischen Ordnungen genau zu analysieren, wird übergangen. Die „Was tun?“-Frage offenbart bei Leitungsorganen den Wunsch nach einem einfachen „Weiter so“; zu einem Neustart/Re-entry oder einer nötigen Neudimensionierung und Neukontextualisierung des pädagogischen Denkens kommt es nicht. Es gilt aber die Leere symbolischer Ordnungen auszuhalten, die eigene Bindung an den Herrensignifikanten klar zu markieren und die Opfer-Anstrengungen zu sehen, mit denen der Status quo zementiert sowie der große Andere und seine Repräsentanten gestützt werden (vgl. Kap. 4.1, 7.2/C.).151 Deleuzes Ratschlag, den General in sich nicht aufkommen zu lassen, ist auch in pädagogischen QM-Dispositiven unvermindert aktuell. Ein schnelles Hantieren mit Alternativlosigkeit und Systemgrenzen macht eindimensional und verhindert ein spielerisches, verschwenderisches Denken, das George Steiner propagiert. Gegen sozial-/psychotechnische Übergriffe und Vereinnahmungen kann der Rekurs auf literarische, theologische Herz-Traditionen schützen. Über die Auseinandersetzung mit philosophisch-theologischen Theorien ist das Feld pädagogischer Gestaltungsmöglichkeiten neu zu vermessen und zu besetzen. – Das lévinassche Beschwören der Anarchie des Gesichts legt immer neue Subversionen nahe. – Es bleibt schließlich das Ziel, die „pädagogische Freiheit“ zurückzugewinnen. In den gegenwärtigen schulorganisatorischen Diskussionen oder pädagogischen Fragen des Umgangs mit Diversität spiegeln sich nicht zuletzt philosophisch-theologische Fragestellungen. Dabei sind die begrifflichen Voreinstellungen entscheidend. Dorothee Kimmich versucht das in der Moderne vergessene Ähnlichkeitsdenken wieder zu etablieren und Irritationen jenseits zu klarer Grenzziehungen zu erreichen. Gegen den kurrenten Einfluss von Sozialtechniken bringt sie die Sensibilität für die „Unaneigenbarkeit“ der Dinge (K. Busch) und eine literarische Reflexion der Unvorsehbarkeit in Anschlag. Vagheit und begriffliche Unschärfe müssen nach Kimmich ihren Platz in der Moderne zurückgewinnen; nach
Charim, I., Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert, Wien (2. Aufl.) 2018, S. 216. 151 Gelhard, A., Kritik der Kompetenz, Zürich 2011. 150
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
einem zu extremen Differenz-Diskurs sind nun die Überzogenheiten, aber auch selbsterzeugten Probleme zu korrigieren.152 Roland Barthes warnt vor einem den etablierten Diskursen inhärenten diskreten Nihilismus. Die Ausweitung und Entfesselung des kapitalistischen Prinzips der Valorisierung und Kommodifizierung aller Lebensbereiche kann klar als nihilistische Gefahr verstanden werden: „Der konsequenteste Nihilismus ist vielleicht maskiert, in gewisser Weise innerhalb der Institutionen, der konformen Diskurse, der scheinbaren Finalitäten.“153
Schließlich ist Luhmanns Antwort aus seiner Abschiedsvorlesung nur wenig entfernt von der barthesschen Vermutung. Auf die Frage „Was steckt dahinter?“, die Frage der Frankfurter Schule, antwortet er sehr lapidar mit: „Nichts“. Seine Bielefelder Frage „Was ist der Fall?“ lässt sich mit Beobachtermodellen, Unterscheidungskalkülen und Systemanalysen zur Reproduktion der grundlosen Kommunikation beantworten. Nihilistisch ist die von Luhmann lauthals apostrophierte Verabschiedung der aufklärerischen Vernunft und das Für-obsoletErklären der idealistischen Subjektivität, die nicht zuletzt S. Žižek in ihrer Unaufgebbarkeit verteidigt. Barthes hat in Anbetracht der Übereignung von Dichten und Denken jedenfalls die Poesie theologienah „auf sehr allgemeine Weise [als] die Suche nach dem unentfremdbaren Sinn der Dinge“ bestimmt.154 So stellt Barthes’ Beschäftigung mit Literatur Sinnperspektiven in Aussicht, die sich Walsers relativierendem Verdikt entziehen und mehr Gültigkeit beanspruchen als das letztliche Zurückgeworfenwerden auf den Spencer-Brownschen unmarked space, das SichVerfangen in Paradoxa, die jede Unterscheidung überwuchern, oder auf eine buddhistische Negativitätserfahrung. Žižeks lapidare Aussage „Das Trauma ist, dass es Akte gibt“, steht jedenfalls in einem psychoanalytischen Kontext, der sich auf Parallelen zu religiös-politischen Ereignissen – Žižek spricht von “Christus-Ereignissen“ – hin öffnet.
Schlussbemerkung: Unverdrossenheit? „Die Tiger des Zorns sind weiser als die Rosse der Belehrung.“ – William Blake Kimmich, D., Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne, Leiden Boston Paderborn 2017, S. 81. Sie sieht schließlich auf S. 123–132 mit der Reflexion auf den Eigenzustand und das Mitsein der Dinge die marxsche Fetisch-Kritik hinfällig werden, ebenso die Unterscheidung in primitive und moderne Kulturen. 153 Barthes, R., Die Lust am Text, Frankfurt a. M. (11.Aufl.) 2006, S. 66. 154 Barthes, R., in: Kittler, F., Philosophie der Literaturen, Berlin 2013, S. 269. 152
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Es gilt schließlich eine Negativabhängigkeit und Bindung an die philosophisch-theologisch höchst zweifelhafte Idee der (Überich-)Perfektionierung zu überwinden. Adorno hat daher recht, wenn er rät, ungelenke Wut in konzentrierte Analyse (im Sinne von Sezier- und Auflösungsarbeit) umzuwandeln, sie nicht unmäßig an einem nachweislich unsinnigen Programm aufkommen zu lassen. „Begabung ist vielleicht überhaupt nichts anders als glücklich sublimierte Wut, die Fähigkeit, jene Energien, die einmal zur Zerstörung widerspenstiger Objekte ins Ungemessene sich steigerten, in die Konzentration geduldiger Betrachtung umzusetzen …“155
Adorno formuliert so vorsichtig, da die inaugurierten Transformationen oder auch Metamorphosen nicht immer gelingen, sie sind nicht machbar. Nietzsches „fröhlicher Wissenschaftler“/“fröhlicher Lehrer“ lacht leise vor sich hin oder laut wie Zarathustra den einsamen Berg hinab; in jedem Fall ist mit der Ermahnung „Be careful of the campany you keep – the company you keep determines your caracter“ nicht genug getan; der gleichnamige Film Robert Redfords „Die Akte Grant – The company you keep“ (2012) schildert ein kompliziertes Bemühen um späte Aufarbeitung und Klärung einer früheren Schuld, das Ringen um Verantwortung vor der eigenen Geschichte. Ratschläge aus der Weisheitstradition, eine heilige Unverdrossenheit an den Tag zu legen und sich gerade auch gegen das vergiftete Lob, das bindet und vermindert, zu immunisieren, setzen ein Subjekt voraus, das sich mit ungebremstem Eifer gegen die langsam mahlenden Mühlen der Schulbürokratie stemmt und trotz Entmutigungen unbeeindruckt seine Ideen-Pflänzchen pflegt und großzieht. Letztlich ist die Widerlegung des Perfektionismus mit der (theologischen) Feier der Eigendynamik und Unverfügbarkeit der Kommunikation und der Beschreibung ihrer Grenzpunkte/superlativischen Möglichkeiten zu verbinden (vgl. 7.2). Das Nachdenken über Unersetzbarkeit ist theologisch zu dimensionieren und zu radikalisieren. Auf Batesons Frage: „Was ist ein religiöser Ritus, daß eine Kamera ihn entwerten könnte?“156 kann die Antwort gegeben werden: Die Kamera ist ein Fetisch, der der Religion entgegensteht,
Adorno, Th. W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 123 (Nr. 72). Ilse Aichinger definiert die Begabung anders, aber auch in einem existentiellen Sinn: „Man überlebt nicht alles, was man überlebt“, „Die größte Begabung ist doch die, auf der Welt sein zu können. Es auszuhalten mit einem gewissen Frohsinn“ (Aichinger, I., in: Radisch, I., Die letzten Dinge, Lebensendgespräche, Hamburg 2015, S. (31–48) 39, 41). 156 Bateson, G. u. M. C., Wo Engel zögern. Unterwegs zu einer Epistemologie des Heiligen, Frankfurt a. M. 1993, S. 112. 155
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7.1 Qualitätsmanagement als Optimierungskult/überich-krampf
Teil eines eigenen Mythos.157 Die Frage ließ sich schon im Hinblick auf die Observanz der Referendare durch ihre Ausbilder umformen (vgl. 3.1): Was ist Unterricht, dass ein Beobachter ihn verändern kann? Was ist Unterricht, dass die Anwesenheit von QM-Kontrolleuren ihn zur Inszenierung mutieren lassen? Der medientheoretische Befund lässt sich wiederholen: Unterricht löst sich auf, wenn er mit dem panoptischen Fetischkult in Kontakt gerät, mit der Perfektionismusbrille betrachtet oder mit Überich-Aktionismus traktiert wird. Dass QMKontrollen die erforderliche Sensibilität entwickeln und die Brisanz der batesonschen Frage konzedieren, ist nicht anzunehmen. Auch wenn N. C. Kaser mit seiner Verszeile aus dem Gedicht „troestliches für maridl“158 „das geplaerr von unsereinem senkt nie den wasserstand“ den Defätismus stärkt, verliert die Bedeutung der Kritik am schulischen Qualitätsmanagement nicht an Gewicht. Schopenhauers Klage über aktionistische Ablenkung und permanente Störung bleibt unvermindert richtig. Auch in der Schule führt ein System der Umtriebigkeit dazu, „dass ein Geist nichts mehr vollziehen kann“159. Wenn Lehren „Begeistern“160 bedeutet, so ist der „Zustand besinnungsloser Hektik und bewegter Erstarrung“ als Erstes zu meiden. Die Skepsis, dass die QM-Reformschritte und institutionalisierte Supervisionen Schulstrukturen zementieren und Veränderungen verunmöglichen, ist groß. Žižek zitiert gerne Jean-Luc Godard: „Ne change rien pour que tout soit différent.“ Pseudoveränderungen verschlimmern den Statusquo: Wie man im Dienstleistungsbereich Callcenter einrichtete, die man angeblich Tag und Nacht konsultieren kann, aber faktisch ein System der Abschottung und der Pseudo-Erreichbarkeit schuf, in dem Anrufer und wohl auch Mitarbeiter total hilflos sind, so scheinen die Kontroll-Neuerungen ein System zu ermöglichen, das vor allem Distanz und letztlich immer Schuldzuweisungen oder Handlungssuggestionen gegenüber der einzelnen Lehrperson bereithält. Auch F. Grigat spricht von der drohenden Systemblockade, der „Austreibung von Bildung aus den Bildungseinrichtungen.“161 Die Diastase zwischen der zwischenmenschlichen Aufarbeitung des immer kontingenten, defizitären Unterrichts-/Schulgeschehens und der offiziellen, institutionalisierten FehlermanagementPrüfung kann größer nicht gedacht werden. Soeffner, H.-G., Rituale des Antiritualismus. Materialien für Außeralltägliches, in: Gumbrecht, H. U., Pfeiffer, K. L. (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. (2. Aufl.) 1995, S. 519–546, problematisiert in diesem Sinn den „naiven inflatorischen Ritualismus“ (520) am Beispiel der Papstreisen. 158 Kaser, N. C., zit. n.: Poensgen, H., „das geplaerr von unsereinem senkt nie den Wasserstand“, in: Bibel und Liturgie, 1/1990, S. (47–54) 47. 159 Vgl. Schopenhauer, A., Über Lärm und Geräusch. Wider den Stumpfsinn und die Gedankenlosigkeit, in: Forschung und Lehre 2/2006, S. 72f. 160 Kempen, B., Lehren heißt begeistern. Exzellenz in der Lehre an den Universitäten, in: Forschung und Lehre 5/2007, S. 260–262. 161 Grigat, F., Neues aus der kulturfreien Zone. Über Dauerprüfungen, Systemblockade und die Austreibung von Bildung und Wissenschaft aus den Universitäten, in: Forschung und Lehre 5/08, S. 288–290. 157
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Ob sich Devianzen als wegweisend-neu oder hilfreich herausschälen, lässt sich vorher nicht abschätzen; zur schulischen Fehlerkultur gehört auch ein ausreichend weiter Experimentier-/ Möglichkeitsraum, ein offenes Klima des Vertrauens und der Ermutigung: Der Psychologe Stephan Grünewald beschreibt die Genese des Neuen und dessen Wirksamkeit vorsichtig: „Psychologisch betrachtet sind kreative Ideen daher ein Übergangs- und Brechungsphänomen. Sie entstehen zwischen abstraktem Konstruktivismus und konkreten Materialisierungen. Das abstrakte Denksystem wird durchlässiger auf materiale Ein-Fälle hin. Umgekehrt wird das plastische Material auf konstruktive Momente hin ausgerichtet.“162
Der Wissenschaftstheoretiker Klaus Fischer wird hier konkreter, er spricht davon, dass die Offenheit für neue Ideen nicht ohne Institutionalisierung von Ketzerei zu haben ist: „Ist es nicht so, dass die Wissenschaft dort, wo sie am besten ist, wo sie in Sternstunden auf fundamental Neues stößt, im wesentlichen institutionalisierte Ketzerei ist?“ Darum seine Forderung: „(1) Wissenschaft als System der institutionalisierten Ketzerei so zu gestalten, dass sie der abweichenden Meinung – ethnologisch ausgedrückt: den Stimmen aus der Wildnis und aus dem Potential des Chaos – eine Chance gibt; (2) die strukturell bedingte Meinungsmacht der Orthodoxie durch geeignete Mechanismen zu begrenzen.“163 Wenn das Qualitätsmanagement einen sinnvollen Platz an der Schule einnehmen soll, dann müsste es ein Platzhalter für gerade vom pädagogischen Mainstream ausgeschlossene Ideen sein und ein Testfeld bereitstellen, um die Umsetzung neuer devianter philosophischer Theorien voranzutreiben. Statt mit festen Schemata perfektionistische Fallen zu reproduzieren, müsste es sich gerade selbstkritisch hinterfragen und pädagogisch-philosophische/pädagogisch-literarische Diskurse anregen, die Lehrer und Schulleiter für ihre blinden Flecke sensibilisieren. Um sinnvoll zu sein, müsste das Qualitätsmanagement völlig unzweifelhaft komplett seine Kontrollfunktion aufgeben und sich „entkernen“ lassen. (Dass solche theologisch dimensionierten Perspektivwechsel möglich sind, soll im nächsten Kapitel aufgezeigt werden.) Friedrich Dürrenmatt hat das Perfektionsstreben nachdrücklich als fatale Strategie gebrandmarkt und den selbsternannten und bestallten Controllern unter seinen Lesern folgende Warnung ins Stammbuch geschrieben:
Grünewald, S., Überdrehte Erstarrung. Mehr Kreativität durch Müßiggang, in: Forschung und Lehre 8/2011, S. 614f. 163 Fischer, K., Außenseiter der Wissenschaft. Besichtigung einer Lebenslüge kollektiv organisierter Wissenschaft, in: Forschung und Lehre 10/2006, S. (560–563) 563. 162
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
„Das Mögliche ist ungeheuer. Die Sucht / nach Perfektion / zerstört das Meiste. Was bleibt, / sind Splitter, / an denen sinnlos gefeilt wurde … Erstarrt nicht! Korrigiert nicht! / Wagt! … Mache keinen Plan und wenn du ihn machst, / führe ihn nicht aus. / Der Plan genügt. … Es gibt Sätze, die stark machen, / doch brauchen sie nicht nieder- / geschrieben zu werden.“164
7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare – Der Bildungsbegriff der elementaren/relationalen Theologie „Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, / dass er, kräftig genährt, danken für alles lern’, / und verstehe die Freiheit, / aufzubrechen, wohin er will.“165 „Nah ist / und schwer zu fassen der Gott.“ – Friedrich Hölderlin166 „Die sinnliche Liebe täuscht über die himmlische hinweg, allein könnte sie es nicht, aber da sie das Element der himmlischen Liebe unbewusst in sich hat, kann sie es … Das Verhältnis zum Mitmenschen ist das Verhältnis des Gebets.“ – Franz Kafka167
Der Medientheoretiker Norbert Bolz nennt einmal „Transzendenz“ den letzten noch verbliebenen subversiven Begriff und Metanoia das Ziel jedes Denkens.168 Das allein kann nicht schon Grund genug sein, für eine theologisch dimensionierte Herz-Pädagogik zu plädieren. Es sollen im Folgenden drei theologische Anknüpfungspunkte für die Pädagogik benannt werden, drei Momente, die verdeutlichen, wie sehr pädagogische Praxis immer schon von Theologie eingenommen oder von theologisch zu qualifizierendem Nichtobjektivierbarem, Unverfügbarem
Dürrenmatt, F., Ergreife die Feder, in: ders., Kants Hoffnung. Zwei politische Reden, zwei Gedichte aus dem Nachlass, Zürich 1991, S. 51. 165 Hölderlin, F., Lebenslauf (1799), in: ders., Werke in einem Band, hg. v. F. Usinger, Olten 1970, S. 58. 166 Ders., Patmos (1803), in: ebd., S. 125. 167 Kafka, F., Aphorismen, in: ders., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. (228–248) 241 (Nr. 79), 247 (Nr. 106). 168 Bolz, N., Freimut, in: Ders. (Hg.), Wer hat Angst vor der Philosophie?, München 2012, S. (7–24) 24: „Transzendenz ist heute der einzige subversive Begriff. Die konkrete Utopie des Außenseiters ist der systemische Paradigmenwechsel. Der freie Geist zielt jedoch auf die Metanoia [Umkehr] des Einzelnen.“ 164
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berührt ist. Die folgende systematische Aufarbeitung und dezidierte Hinwendung zur Theologie hat zu klären, auf welche Erfahrungsfelder oder Phänomenbereiche die Theologie sich stützt. Das religionspädagogische Plädoyer, systematische Theologie erfahrungsnah als praktische Theologie zu verstehen169, besitzt eine unverminderte Dringlichkeit. Auch wenn die zu entwerfende Skizze ein Schattenriss bleibt, ist nicht zu erwarten, dass sie keine Angriffsfläche bietet. Im besten Fall dienen die Ausführungen Pädagogen als Folie und Testfall zur Anwendung ihrer Kriteriologien. – Wenn sie der historischen Metaperspektive als Symptom gelten, so mag der Hinweis tröstlich sein, dass zumindest in der Systemischen Pädagogik die Symptomverschreibung als Therapieansatz gilt. Im Folgenden soll die elementare/relationale Theologie zur Sprache kommen, eine Theologie also, die ohnehin die Interaktion und das Beziehungsgeschehen in den Blick nimmt und vor allem den Satz „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,16b) ernst nehmen und interpretieren will. Für Ferdinand Ebner und Emmanuel Lévinas stellt Nähe ein unerlässliches Moment der Offenbarung dar; dieses ereignet sich im Zwischen. Wahrheit erfordert Begegnung (Badiou). Es gibt keine christliche Gotteserkenntnis an der Mitmenschlichkeit vorbei. Lévinas formuliert sehr deutlich: „Alles, was man nicht auf eine zwischenmenschliche Beziehung zurückführen kann, stellt nicht die höhere Form der Religion dar, sondern ihre auf immer primitive Form.“170 Der Glaubensbegriff ist vom mitmenschlichen Geschehen her zu verstehen (credere von cor dare): We believe because we love (Henry Newman/Augustinus). Neben der Betonung der Nähe geht die elementare/ relationale Theologie von einer Kongruenz und Deckungsgleichheit von Glaubensinhalt und -form171, einer engen Synchronisierung von Glaubens- und Bildungspraxis/Lebensform aus. Es ist eine Kernaufgabe elementarer/relationaler Theologie, genau zu bestimmen, welche Aspekte im Vollzug der Gabe/Gebung als unverfügbar-nichtobjektivierbar bezeichnet werden, „was“ an der Mitmenschlichkeit göttlich zu nennen ist, wie das Immer-schon-Berührtsein von letzter Wirklichkeit in der mitmenschlichen Interaktion zu denken ist.
Vgl. Hasenhüttl, G., Erfahrung als Ort der Theologie, in: Klostermann, F., Zerfaß, R. (Hg.), Praktische Theologie heute, München 1974, S. 624–637, oder auch Positionen von K. E. Nipkow, W. Halbfas sowie Henry, M., Radikale Religionsphänomenologie, Freiburg München 2015, S. 189: „Das Christentum ist vor allem eine Praxis, … keine Gnosis“. 170 Lévinas, E., Totalität und Unendlichkeit, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 109. 171 Mit der Identität von Form und Inhalt meint J.-L. Marion nicht, dass sich Glaube selbst verursacht, sondern dass er keine weiteren Absicherungen braucht oder zulässt. Der Glaube ist verursacht von außen. Das Vertrauen richtet sich ganz auf dieses Geschehen und überantwortet sich ihm. „Ich glaube“ bedeutet: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart.“ Auch um den Charakter der Subtraktion, den Aspekt der Selbstbeschränkung/Implizierung/Dekontextualisierung zu betonen, wurde der Begriff des „Minusglaubens“ vorgeschlagen, vgl. Wallich, M., Minusglaube: Gott ohne Grund, ohne Sein, ohne Symbol. Grundmuster elementarer/relationaler Theologie, St. Ingbert 2015. 169
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
Die elementare/relationale Theologie kann in drei Richtungen entfaltet werden: einer hermeneutischen (Bultmann, Buber, Hasenhüttl – dialogische Existenztheologie), einer phänomenologischen (Lévinas – Alteritätstheologie) und einer akttheoretisch-psychoanalytisch orientierten Ausformung (Žižek – Theologie des Akts). Diese drei Ausfaltungen akzentuieren das Nichtobjektivierbare, ebenso den theologischen Bildungsbegriff in jeweils unterschiedlicher Weise.172 Die Dreigestalt des Nichtobjektivierbaren vermeidet einen Reduktionismus; die dreifache Nichtreduzierbarkeit der Zugänge und Phänomene lässt trinitätstheologische Ausblicke oder Ableitungen als berechtigt oder anschlussfähig erscheinen. Zumindest soll aber im Folgenden aufgewiesen werden, dass das Wissen um das Nichtobjektivierbare, das die Pädagogik leiten muss, in eine Theologie münden kann, die das relational-elementar Nichtobjekivierbare beschreibt und zu einem validen Glaubensbegriff kommt, der wesentliche Momente der christlichen Tradition aufnimmt. Der folgende dreifache Aufweis betrifft das ureigenste Feld der Theologie, die Möglichkeiten des Verständnisses der Identität von Gott und Mitmenschlichkeit173, wobei nur einige Bezüge zur aktuellen philosophischen Diskussion um die Brisanz des Christentums angesprochen werden.
Entgegen den platonisch-augustinischen Traditionen einer inneren Generierung von Erkenntnis (Anamnesis-Lehre) folgen die drei Ansätze eher einer aristotelisch-thomasischen Erfahrungstradition: Gegenüber einer gnostischen Selbsterkenntnis wird das unverzichtbare „von Außen“ des (christlichen) Heils betont. Um die Entfernung des gnostischen Projekts von der christlichen Kernerfahrung hervorzuheben, ist es sinnvoll, sich J. Taubes bzw. P. Sloterdijks Einordnung: „Wenn Prophetie scheitert, entsteht Apokalyptik; wenn Apokalyptik scheitert, entsteht Gnosis“, oder auch Blumenbergs/ Marquards Kurzdefinition von Gnosis als „Positivierung der Weltfremdheit durch Negativierung der Welt“ vor Augen zu führen. – Der Körper-Geist-Dualismus, die Innerlichkeit der Selbsterlösungsversuche sind eine späte Frucht fortgeschrittener Enttäuschung, Ausdruck religiöser Verzweiflung, ein Versuch der Selbststabilisierung. Der Beitrag der gnostischen Selbsterfahrung zur Selbstaufklärung des neuzeitlich-modernen Subjekts ist in keiner Weise in Abrede zu stellen. Žižek spricht sehr erhellend von Gnosis als einem missglückten Versuch, Geist zu denken, einem Ausweichen vor der Monstrosität des Subjekts; sie verfehlt/umgeht Inkarnation und apostrophiert in einer Manier der Zwei-Welten-Theorie die Existenz von Geistern, eine „spiritistische Hinterwelt“. „Die treffendste Definition von Gnostik besagt genau, dass sie eine Art von geistigem Materialismus ist – ihr Thema ist nicht direkt höhere, rein begriffliche Realität, sondern eine ‚höhere‘ körperliche Realität, eine ProtoRealität von Schattengeistern und untoten Realitäten“ (Žižek, S., Die Brisanz des christlichen Erbes, in: Information Philosophie Nr. 1 3/2002, S. 10). Gegen das esoterisch-synthetisierende Einschmelzen von Unterschieden kann als differentia specifica des Christentums also das Denken des Subjekts, der Beziehung und das Wertschätzen des ausgeschlossenen Partikularen betont werden, das vormoderne Kosmos-Ideen sprengt. 173 Förster, E., Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 2011, S. 277f, erinnert an den Schwur der drei Absolventen und Zimmergenossen des Tübinger Stifts Hölderlin, Hegel und Schelling von 1793, sich dem „Reich Gottes oder der unsichtbaren Kirche Gottes auf Erden“ zu verschreiben. Die Losung, das Unendliche im Endlichen explizieren zu wollen, bringt den Impetus elementarer Theologie auf den Punkt. 172
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A. Zur Hermeneutik des Vertrauens und der Dankbarkeit (Bultmann, Buber, Hasenhüttl) „Hermeneutik ist Theologie.“ – Heinrich Ott174 „Darin besteht die reine Form der Knechtschaft: als ein Instrument, als ein Ding zu existieren.“ – Herbert Marcuse175 „Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift.“ Hume zitierend: „Genauigkeit kommt immer der Schönheit zugute und richtiges Denken dem zarten Gefühl.“ – Theodor W. Adorno176
1. Bildung als Unterscheidungswissen Aristoteles steht Pate bei der theologischen Grundunterscheidung des gesamten relationalen Paradigmas: „Unbildung ist es, nicht zu wissen, wofür man einen Beweis suchen muss, und wofür nicht.“177 Bildung positiv gewendet bedeutet: eine Abgrenzung von begründendem Diskurs und nicht begründendem Denken vornehmen können, um die Unterscheidung von verdinglichendem, fassendem, kontrollierendem Wirklichkeitsbezug und einem lassenden Denken des Nichtobjektivierbaren wissen. Mit dem aristotelischen Satz denkt Heidegger die ontologische Differenz von Seiendem und Sein, den Unterschied zwischen Klugheit und Weisheit, Erklären und Verstehen, Technik und Poeisis. Es bewahrheitet sich George Spencer Browns Slogan: „Make a difference and you have created a universe“. Bildung meint hier einen Horizontbegriff nicht im Sinne einer unerreichbaren Zielvorgabe, sondern als Eröffnung eines Raums/Kosmos, in dem erst das menschliche Agieren sinnvoll wird.178 Die erste Unterscheidung muss also die
Ott, H., Was ist systematische Theologie?, in: Robinson, J. M., Cobb, J. B. jr. (Hg.), Der spätere Heidegger und die Theologie, Zürich Stuttgart 1964, S. (65–133) 96. Nancy nennt ergänzend „die Hermeneutik … eine Gabe“. 175 Marcuse, H., Der eindimensionale Mensch, München 1994, S. 53. Vgl. K. Jaspers’ Statement: Existenz bedeutet, „was nie objektiviert werden kann.“ 176 Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 45, 44. 177 Aristoteles, Met. Γ4/1006a: „ἐστὶν γαρ ἀπαιδεuσία τὸ μὴ γιγνώσκειν τίνων δεῖ ζητεῖν ἀποδείξιν καὶ τίνων οὐ δεῖ·“ 178 Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 335. 174
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
zwischen Ding und Nicht-Ding sein: Man muss wissen, was man verobjektivieren kann und was nicht. Aristoteles bestimmt Bildung als Topologie: Die Einfriedung des Begründungskalküls und eine Begrenzung des Kosten-Nutzen-Denkens sind Anliegen der Grundunterscheidung. Das begründende Denken am falschen Ort verstellt den Blick auf das Weilen des Augenblicks, das grundlose Währen und den Zuspruch des Seins, die Anwesenheit des Kairos.179 Ein Zuviel an Begründungs-, Fixierungs- oder Sicherheitsbedürfnis zerstört sogar den Vollzug, das grundlose Tun, die zweckfreie Beziehung, die es gerade bewahren wollte. Ängstliche Rückfragen nach der Begründung der Beziehung, die diese in besten Absichten konservieren will, wirken destruktiv. Sie lösen Beziehungen gerade auf.180 Keiner will die Wichtigkeit des Begründungsdiskurses und die Bedeutung der Verding lichungstendenz – wir leben auf einem „kalten Stern der Knappheit“, wie Wirtschaftswissenschaftler betonen – schmälern, es soll ihnen nur ein Platz zugewiesen und nicht die Alleinherrschaft über den gesamten Bereich menschlicher Handlungen und Beziehungen eingeräumt werden. Die Unterscheidungen zwischen Haben oder Sein (Fromm), Ich-Es und Ich-Du (Buber), instrumentellem und kommunikativem Denken (Habermas) oder auch Idol und Ikone (Marion) oder Verdinglichung und Anerkennung (Lukács/Honneth) „emanieren“ ebenso aus der aristotelischen Unterscheidung; sie folgen der gleichen Logik. Die bubersche Differenz gibt etwa die intersubjektive Erfahrungsbasis für den aristotelischen Satz: Das Kind fragt seine Bezugsperson tausendmal warum – es schreitet den Ich-Es-Bereich ab – und setzt dabei aber die Beziehung zu den Eltern nicht in gleicher Weise den Fragen, dem Drang nach Beweisen, aus. Ich-DuMitmenschlichkeit, Vertrauen bildet die Atmosphäre menschlicher Aktion. Die Hermeneutik redet vom Insein, das nicht übersehen werden darf. Bonhoeffers Aussage „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht“ vollzieht exakt die angesprochene hermeneutische Trennung. Theologie wäre unsinnig, wenn sie über Gott wie über einen Gegenstand zu reden versuchte, diesen zu beweisen trachtete. Die Paradoxie, nicht über,
Vgl. Heideggers Ausführungen in „Der Satz vom Grund“, insbesondere seine Interpretation der Verse von Angelus Silesius („Die Ros ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet, fragt nicht nach ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet“). – Die Erkenntnis des grundlosen „Weilens“ oder kairologischen „Währens“ kommt in verschiedensten Kontexten zum Tragen: Deutsche Kriegsgefangene nannten eine improvisierte Lagerkapelle ebenso „zur kleinen Weile“. 180 Es geht also bei dem Bildungsbegriff um das, was in der neueren Veröffentlichung zum Würdebegriff abschätzig als Tabuisierung oder Strategie der Sakralisierung bezeichnet wird. Fateh-Moghadam, B., Gutmann, T., Neumann, M., Weitin, Th., Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit, Berlin 2015. Wenn die Autoren das nichtreligiöse Selbstschöpfertum des Menschen als Grund der Würde anführen, so ist es genau das „Nicht-Festgestelltsein“ (Nietzsche), das den Nicht-Dingcharakter des Menschen ausmacht. An der Grundunterscheidung ist nur schwer vorbeizukommen. 179
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sondern allein von Nichtobjektivierbarem reden zu können – und zwar in Beziehungsbegriffen –, muss die Theologie grundsätzlich kennzeichnen.
2. Reflexion des Inseins/Eingebundenseins Existenzhermeneutische Theologie reflektiert das Insein, das Eingebundensein. Sie rekonstruiert die Raumbildung durch Vertrauen, das Sich-Selbstschreiben der Grenze von Nichtobjektivierbarem und Dingen. Wenn „Sein, das verstanden werden kann, Sprache ist“ (Gadamer), so erläutert Theologie die (religiöse) elementare Sprache der Dankbarkeit und des Vertrauens.181 In der Aussage von Eliade „Das Warum ist im Wie immer schon enthalten“182 ist impliziert, dass Warum-Fragen nur unbefriedigende, vorläufige Antworten erreichen.183 Sie werden überboten von Fragen der Lebensform, dem relational-theologischen Fragekreis: In der Theologie Bultmanns geht es darum, das elementare Eingebundensein, das Insein anzuerkennen:184 Mit dem, worin ich eingebunden bin, darf ich nicht so umgehen, als könne ich es verobjektivieren. Von dem, worin ich eingebunden bin, muss ich anders reden als über Dinge, die mir verfügbar oder zuhanden sind. Diese Regel, die schon im Kindergarten eingeübt wird, bleibt für die Pädagogik bedeutsam (vgl. die auf Friedrich Fröbel zurückgeführte Aussage: „Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.“185). Am Schwarzen Brett von Kindergärten lassen sich Elementarisierungen wie „Religion = Dankbarkeit“ entdecken: Dass Religionen für das Eingebundensein, für haltende Umgebungen Dalferth, I. U., Transzendenz und säkulare Welt. Lebensorientierung an letzter Gegenwart, Tübingen 2015, S. 281: „Man muss daher nicht religiös sein, aber man kann nicht ohne Gott leben.“ Und mit Bezug auf die Prozesstheologie Ch. Hartshornes, S. 63: „Gott ist da, aber das erklärt nichts.“ 182 Eliade, M., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M. 1987, S. 87. 183 Das begründende Denken entwickelt eine gefährliche, alles verschlingende Sogwirkung. – Nach Heideggers Kritik des Satzes vom Grund ist es zirkulär, da ein Begründungsgott des Satzes vom Grund bedarf, und andererseits braucht der Satz Gott als ersten Grund, sonst wäre er grundlos. – Vernunft muss sich vorsehen, Phänomene der Gebung nicht aufzulösen, vgl. Heidegger, M., Identität und Differenz. Eine unangemessene Ausweitung der Begründungsansprüche löst – wie gesehen – die Beziehungswahrheiten/Wahrheitsereignisse auf, die man absichern/fest-stellen möchte. 184 Die Bedeutung bultmannscher Theologie muss hier nicht gesondert hervorgehoben werden. Sein Denken, das sich in Anlehnung an Heideggers Existenzanalyse entfaltet hat, hat sich über fünf Jahrzehnte immer weiter entwickelt und ausdifferenziert, bis zu späten Reaktionen auf die Gott-ist-totTheologie. 185 Zur Genese der Zuschreibung vgl. Heiland, H., Die Aktualität der Pädagogik Fröbels, in: Heiland, H., Gebel, M., Neumann, K. (Hg.), Perspektiven der Fröbelforschung, Würzburg 2006, S. 123–133. 181
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
sensibilisieren, wird exakt in Bruno Latours „Jubilieren. Über religiöse Rede“ entwickelt.186 Auf die Erntedank-Aktion „Zeit für eine Danksekunde“ der Hessisch-Nassauischen Kirche von 2014 machten Postkarten aufmerksam187: „Wer dankt, denkt“ war ein weiterer Slogan der Aktion: Hier wird von einem elementaren Glaubensbegriff ausgegangen, wie er in dem Satz von M. Heidegger „Denken, Danken – Glaube, Liebe: das Selbe“188 zum Ausdruck kommt. Ein derartiger Glauben erweist sich als elementar-relevant, implizit und zugleich universalisierbar. Insein, das Gehaltensein, kann nicht „produziert“, nur achtsam gehegt werden. Der augustinische Liebesbegriff, der amo als „volo ut sis“ umschreibt, ist hermeneutisch-ontologisch dimensioniert: Liebe wird als Affekt des Seins verstanden, als „Affiziertsein durch das Sein, das Gefühl des Seins als sein.“ Heidegger interpretiert das Wesen der Kopula „ist“ als liebende Verbindung.189 – Wenn nach Bultmann von Gott reden nur als „von der Existenz reden“ möglich ist, meint das keinen Subjektivismus: Das vertrauende Insein gilt es vielmehr als eine existentiale Grundbestimmung des Daseins zu begreifen.190 Latour, B., Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011. Er stellt überzeugend dar, dass Religion Ausdruck von Dankbarkeit sein will und verdinglicht wird, wenn man das Sprachspiel nichtmetaphorisch interpretiert. Religion enthält kein Bit Information/Sonderwissen, sie übt eine Haltung ein. Vgl. das Zitat von Hans Jonas: „Mythos wörtlich verstanden ist gröbste Objektivierung. Mythos allegorisch verstanden ist verfeinerte Objektivierung. Mythos symbolisch [existential] verstanden ist der Spiegel, in dem wir dunkel schaun“ (Jonas, H., Heidegger und die Theologie, in: Noller, G. (Hg.), Heidegger und die Theologie, München 1967, S. 340). 187 Historiker werden zu Recht anmerken, dass diese Aktion vor einigen Jahren sicher noch „Zeit für eine Dankminute“ gelautet hätte. 188 Heidegger, M., zit. n.: Tömmel, T. N., Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin 2013, S. 176. 189 Vgl. Tömmel, T. N., Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Berlin 2013, S. 120, 180, 176; Fichte, J. G., Die Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 2012, S. 96f. – Gerade auch Aussagen Heideggers aus seinem Berner Vortrag, Theologie müsse ohne Bezug auf das Sein auskommen, werden neuerdings stärker betont, Lévinas verfolgt diesen Weg. 190 An dieser Stelle darf auch auf die Kritik der Verobjektivierung bei Sigusch, V., Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten, Frankfurt New York 2013, verwiesen werden. Er betont die Pluralität sexueller Praktiken und wehrt sich gegen Normierungsversuche und unterschwellige Werturteile. Gegen Ende seiner sexualwissenschaftlichen Summe nimmt der Autor klar Stellung gegen die Verdinglichungstendenzen; S. 565: „Ich sage um 2015: Von allen Mystifikationen ist die Liebe noch die unverzichtbarste. Wenn wir angesichts der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse nicht mehr an die selbstlose Liebe glauben, können wir uns gleich zu den Dingen werfen, die herzlos gehandelt, benutzt und weggeworfen werden.“ Sigusch bezieht sich auf Adornos Umschreibung von Liebe, die jenseits von Scham operiert und Schwäche zulassen kann, „ohne Stärke zu provozieren“ (Adorno, Th. W., Minima Moralia, S. 255). Sigusch, der auch vom „kostbaren Fetisch Liebe“ spricht, sieht S. 575f das Verschwimmen der für Sexualität entscheidenden Grenze zwischen Ding und Nicht-Ding als große Gefahr: „Menschliches macht sich dinghaft. Dingliches scheint menschlich zu sein. Lebendiges stellt sich tot. Totes wird erweckt. Also: Sympathisch ist nicht der Vietnamese, sondern das Bier. … Die Menschen sind bemüht, sich zu vergegenständlichen, weil das Unbelebte 186
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3. Gott als Atmosphärenbegriff (das Von-woher des Vertrauens) Man könnte von Gott als dem „Von-woher des Existenz-Vertrauens“ (in Anlehnung an Weischedels Gottesbegriff des „Von-woher der Fraglichkeit“191) reden, wenn diese Bestimmung nicht bereits zu sehr im begründenden Denken verankert bliebe. Das existenzferne, verobjektivierende „disputare de deo“ – die Frage „Sollte Gott etwa gemeint haben …?“ ist die Strategie der Schlange aus Gen 3 – ist zu vermeiden.192 Von Gott als „der alles bestimmenden Wirklichkeit“ kann man nach Bultmann nur wissen, was er an der eigenen Existenz „getan“ hat. Daher stellt er die Gleichung auf: Etwas von Gott erkennen heißt verstehen, was der Augenblick von einem will. – Was in der Stoa noch weisheitlich gemeint war, wird im Christentum geschichtlich-situativ eruiert: Wie der Fisch das ihn umgebende Wasser nur an einem Qualitätswechsel erkennt (von der Kloake zum Quellwasser), so ist Gott als „alles umfassende Wirklichkeit“ dann erfahrbar, wenn sich ein Wechsel des Klimas der Selbstrechtfertigung/Selbstgerechtigkeit, Leistung, Vernutzung hin zu einer Atmosphäre des vorbehaltlosen, bedingungslosen Angenommenseins ereignet. „Ich verstehe Gott, indem ich mich selbst neu [d. h. beschenkt] verstehe.“193 Die christliche „Rechtfertigungserfahrung“ als elementare Geschenk-, Vertrauensund Dankbarkeitserfahrung hält fest: Leben gelingt erst, wenn man die Selbstbegründungs- und Selbstobjektivierungsversuche lässt und sich als beschenkt/dankbar/vertrauend verstehen kann. Dieser Wechsel der Perspektive ist selbstverständlich nicht machbar, sondern selbst Geschenk. Und es ist noch nicht ausgemacht, wofür man dankbar sein kann/muss.
so erfolgreich ist. Sie wollen die toten Dinge vermenschlichen … Heutzutage ist der Scheintod kein subjektives Problem mehr. Heute müssen Menschen befürchten zu leben, obgleich sie schon von der Gesellschaft beerdigt sind, aussortiert, abgewickelt, abgehängt.“ Und S. 578: „Der Kapitalismus hat sich mittlerweile praktisch alle Bereiche der Gesellschaft unterworfen und ist auch dadurch immer selbstzerstörerischer geworden, rückt auf eine Implosion zu. Die Frage, was ein Leben lebenswert macht, muss neu gestellt werden. Konsum und Reichtum werden hoffentlich gegen Liebe und Freundschaft verlieren.“ Der Drang der Geldakkumulation erscheint allerdings bereits „stärker … als der Sexualdrang“ (vgl. S. 579). – Die Theologie kann die Diagnose und Kritik Siguschs vollends aufnehmen; der theologische Liebesbegriff nimmt allerdings unspektakulär das vertrauende/dankbare „Mitsein“, die (elementare) zweckfreie Mitmenschlichkeit in den Blick (vgl. die Differenzierung von eros – agape – philia und die Ausweitung der Letzteren). 191 Weischedel, W., Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. Bd. 2: Abgrenzung und Grundlegung, München 1979, S. 206ff. 192 Bultmann, R., Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: GV I, S. 26–37. 193 Bultmann, R., Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, S. 202; vgl. N. Copray: „Gott erschließt sich also als derjenige, der dem Menschen seine Humanität neu erschließt.“ Eine Diskussion der Ansätze von E. Illouz oder M. Nussbaum, die sich der theologischen Heuristik verwehren, muss ebenso unterbleiben wie die Frage nach dem, was die Grundunterscheidung verdeckt. Diese Frage wird allerdings in gewisser Weise durch die folgenden Grundmodelle beantwortet oder weitergeführt.
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
Der christliche Glaube meint keinen Sondervollzug, sondern das Wagnis des elementaren dialogischen Existenzvertrauens (vgl. auch „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“, Mt 18,20), wobei einem das Vertrauensangebot und die Entscheidung zur Annahme je neu durch Wort- oder Tatverkündigung (also konkret) nahegebracht werden.194 Glaubenssätze sind Sätze über das Gelingen/Misslingen des mitmenschlichen Zwischen, über die Kontur relationaler Wirklichkeit, zur geschenkhaften Überwindung des Selbstbegründungswillens. Der christliche Gottesbegriff streicht paradoxe Momente des Transzendenten im Immanenten heraus, Momente des Nichtobjektivierbaren/Nichtmachbaren im Vorfindlich-Berechenbaren, des Letztgültigen im Vorläufigen, des Eindeutig-Absoluten im Zweideutig-Kontingenten, des Zweckfreien/Grundlosen im Kontext der Interessen/Nutzen, des Unbedingten im Bedingten, des Unendlich-Unverfügbaren im Endlichen. Und die Kreuzes-/ Auferstehungsbotschaft enthält das Versprechen, dass sogar in Leiderfahrungen Sinn möglich sein kann. Gott ist nach Bultmann weniger als eine Adresse, ein Woraufhin oder Gegenüber zu beschreiben, sondern eher als ein Wie der Existenz, weniger als Subjekt, eher als Prädikat (vgl. Hegel bzw. Kurt Martis Wunsch, „dass Gott ein Tätigkeitswort werde“). Die Reflexion des Inseins erfordert es, Existenz oder auch Gott als Medien-, Atmosphären-, Raum- oder Klimabegriff zu denken: Gott meint das, woraus Existenz entspringt und lebt, was Existenz ermöglicht, den liebenden (nicht begründenden) Existenz-„Grund“: Gemäß christlicher Existenzhermeneutik sind wir mitten im Leben nicht nur vom Tod, sondern auch vom Vertrauen umfangen (vgl. Luthers Version des Chorals „media vita in morte sumus“, vgl. Ps 88,4). H. Otts Identitätsaussage „Hermeneutik ist Theologie“ stellt die theologische Bildungstheorie als Verstehens- und Unterscheidungswissen heraus. Wie Heidegger die griechischen Urworte als „Sprungbrett“ einsetzte, um vom dem Begründungsdiskurs in ein Existenzdenken zu kommen, so traut Bultmanns existentiale Interpretation in vergleichbarer Weise den biblischen Worten zu, eine neue Seinsweise aufzuschließen.195
Bultmann, R., Theologische Enzyklopädie, Tübingen 1984, S. 156: „Der Glaube richtet sich also freilich nicht auf etwas, was außerhalb der Wirklichkeit des Lebens, der Existenz des Menschen liegt, was durch eine supranaturale Autorität (die Kirche) oder durch Spekulation erschlossen wäre, aber freilich auf etwas, was mir begegnet, d. h. was nicht innerhalb der mir verfügbaren Lebensmöglichkeiten liegt. Er erkennt damit nur an, dass faktisch die Existenz des Menschen gar nicht eine solche ist, über die der Mensch verfügt. … Formal ausgedrückt heißt das einfach, dass wir geschichtlich sind.“ 195 Ebeling, H., Wort Gottes und Hermeneutik, in: Robinson, J. M., Cobb, J. B. (Hg.), Die neue Hermeneutik, Zürich 1965, S. 135: „Gegenüber dem Mythischen muß Hermeneutik zur Entmythologisierung werden.“ 194
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Diese vertrauende/glaubende Existenzform, das Lassen des begründenden Weltzugriffs, ist nicht machbar. Es läge ein Leistungs-Kontrolldenken vor, wenn man den Wechsel des Sprechens/ Wirklichkeitszugangs als linear zu bewerkstelligen ansähe und nicht als Sprung oder Geschenk. Glaube ist demnach die dankbare Reaktion auf das Vertrauenspotential/die Vertrauensdynamik der Wirklichkeit, ein antwortendes Sich-Verhalten zu dem, was einem elementar als Geschenk entgegenkommt, weniger ein Tun, eher ein Nichttun, vielmehr ein Lassen, ein anderes Sein (wie Nietzsche das im „Antichrist“196, §39, auch formuliert hat), also ein dankbar-vertrauendes, mitmenschlich-offenes Sein (vgl. Latour). Pädagogen erfahren – von hermeneutischen Theologen – einmal mehr die Bestätigung für ihre Grundannahme, dass (pädagogische) Interaktion als „lineare Instruktion“ unmöglich ist (vgl. Luhmann), dass sie ebenfalls ihre Grundunterscheidung nicht machen/objektivieren/über sie verfügen oder sie dinghaft vermitteln können. Beiden geht es in wohl ähnlicher Intensität darum, den „Sinn und Geschmack“ für das Nichtobjektivierbare zu üben oder nicht zu verlernen (vgl. Schleiermacher). Für die Theologie ist klar: Es gibt nichts zu machen, sondern lediglich einen Erfahrungsbereich aufzuzeigen oder auszuzeichnen.
4. Elementarisierung: „Gott ist da, wo eine/r der/m anderen hilft.“ (Menander) Theologische Bildung bedeutet hermeneutische Schulung oder Unterscheidungslehre. Die theologischen Aussagen werden als Explikation des Inseins verstanden und auf den Ich-Du-/ Beziehungs-, den Nicht-Ding-Bereich bezogen und lokalisiert. Diese topologische Verortung wehrt sich gegen eine Verobjektivierung Gottes und vermag überdies Missverständnisse in Bezug auf naturwissenschaftliche Disziplinen zu vermeiden. Erklärte das Wort Gott etwas, meinte es einen Gegenstand, dann wäre Gott nicht mehr die existenzbestimmende Wirklichkeit. „Das Wort Gott erklärt nichts, es deutet allenfalls …“ a) Die Funktion des Gottesnamens ist es, die Eigenlogik des Dialogisch-Nichtobjektivierbaren zu verteidigen und die Existenzform des Glaubens (der Ich-Du-Wirklichkeit) als anders/neu hervorzuheben oder zu markieren. (Die beiden Schritte der theologischen Unterscheidungslehre, Unterscheidung und dann Betonung des einen Unterscheidungsbereichs, entsprechen genau den beiden Funktionen des Unterscheidungsbegriffs in Browns Unterscheidungskalkül.) – Die Wette der Existenztheologie gegenüber der Pädagogik lautet: Die Beschreibung der pädagogischen
Nietzsche, F., KSA 6, S. 211: Der Antichrist, § 39. „Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein. … Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles-nicht-thun vor allem, ein andres Sein.“
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
Interaktion wäre unvollständig, wenn sie nicht die zutiefst theologische Dimension, die Formen der Einbindung, das Immer-schon-Berührtsein von Nichtobjektivierbarem, von letzter Vertrauenswirklichkeit, und damit die Achtung der Nichtmachbarkeit von Beziehungen berücksichtigt. Der aristotelische Satz kann auch als ein Plädoyer für Medien-/Atmosphärensensibilität gelesen werden. Atmosphären und mediale Konstellationen werden von Sloterdijks Sphärologie-Projekt in den Blick genommen: Sloterdijk strebt eine Verflüssigung der sozialen/kulturellen Begriffe an: Das „In-der-Luft-Liegen von etwas“ gilt ihm als fundamental und „das Feststellen auf Grund und Boden“, das Begründen, ist davon abgeleitet; das Zwischen, die „geteilte Luft, die „soziale Lichtung“ bilden den eigentlichen „Grund“; er befindet sich also strikt über dem Boden.197 In dieser Weise sind theologische Begriffe medial, der Medienbegriff steht ansonsten für eine deutliche Systemorientierung. Sloterdijks Sphärologie interpretiert das Aufgehobensein und die Bergung durch Andere unter Rekurs auf die dogmatische Trinitätsspekulation, die im Übrigen den Sinn verfolgt, Gott nichtsubstantialistisch als Beziehung zu denken.198 b) Das Immer-schon-Berührtsein von letzter Wirklichkeit meint die Eigendynamik von vertrauender Kommunikation. Es mag schwierig sein, das Eingebundensein, das Insein zu erkennen, schließlich ist das Innen dunkel, wie Bloch meint.199 Doch Adorno sieht es ähnlich: „Mit der Wahrheit/dem Glück ist es wie mit dem Sinn, man hat ihn nicht, man ist in ihm.“ Und Gadamer: „Nur wer mitgeht, weiß, dass es ein Weg ist.“ c) Das Gebot, das Gegenüber nicht zu objektivieren, bzw. die kantische Regel (den Anderen nicht als Mittel, sondern als (Selbst-)Zweck zu sehen), folgen direkt aus der Grundunterscheidung. Während für Kant nie evaluierbar ist, ob der Kategorische Imperativ tatsächlich umgesetzt wurde – es könnten ja immer irgendwie doch eigennützige Impulse das Handeln geleitet haben –, stellt sich diese ängstliche Frage im Raum christlicher Rechtfertigung nicht. Das Tun um des
Sloterdijk, P., Heinrichs, H.-J., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 244f, 248. Das sphärologische Projekt umfasst weitere wesentliche Annahmen: „Intimität lässt sich nicht diskursiv mitteilen“ (Bataille/Sloterdijk); „In Kommunikation geht es um Anschließbarkeit, nicht primär um Wahrheitsansprüche“ (Lacan/Luhmann). „Die Erschließungskraft der Stimmung reicht weiter als die des Verstehens“ (Holhzey-Kunz). 198 Die Umschreibung Gottes als „relatio esse subsistens“ bei Thomas von Aquin entspricht ganz dem relationalen, hermeneutischen Ansatz: Der thomasische Gottesbegriff ist ein Vollzugsbegriff („nomen operationis“, S. Th. I q13 a8). Sein und Gott werden ja nicht identifiziert, sondern Gott ist die das Sein subsistierende/konstituierende Beziehung. Dass das ontologische Beziehungsdenken auf mitmenschliche Relationalität übertragen werden kann, stellt Sloterdijk heraus. 199 Bloch, E., Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 13: „Ich bin, aber habe mich nicht, darum werden wir erst. Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel. Um sich zu sehen und gar was um es ist, muss es aus sich heraus.“ 197
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Tuns willen, das Helfen, dem es ganz um den anderen geht, das Aufscheinen des Unbedingten im Bedingten, geht im Kontext der Rechtfertigung mit gegenwärtiger Selbstvergessenheit bzw. vertrauendem Gehaltensein einher. Das zweckfreie Interagieren wird als Geschenk und nie als Leistung erfahren. d) Gott wird wie schon in der antiken griechischen Religion in Fülle-Momenten als Er-Gott ausgerufen, also kairologisch-vokativisch als Indexwort verstanden: „deus est mortali iuvare mortalem“ (Menander).200
5. Anschlussfähigkeit: Momente des kommunikativen Neustarts (Luhmann), der dialogischen Neuschöpfung als theologische Momente der Unverfügbarkeit Die Existenzhermeneutik betont neben Momenten des Vertrauens, in denen man das Begründen und Verdinglichen lassen kann, auch Momente der dialogischen Eigendynamik oder des zweckfreien Tuns. Daher ist hier auf Bezüge oder Abgrenzungen zu Luhmanns Systemtheorie einzugehen. Während Theologen letztlich von einem Sich-selbst-Schreiben der Unterscheidung ausgehen, (nie von einem Machen oder „Werk“ des Nichtobjektivierbaren), beschreibt Luhmann die Kommunikationsdynamik ebenfalls als eigenlogisch und bereits als nichtobjektivierbar. Die theologische Deutung muss sich ihm gegenüber positionieren. Wenn das Wesen des Diskurses Gebet ist (Lévinas), so meint das, dass jedes Gespräch eine Ahnung von dem beinhaltet und vermittelt, was theologische Metaphern bedeuten. Jedes Gespräch schließt implizit immer das Wissen ein, dass das Gegenüber nicht verobjektiviert werden darf. Das Verobjektivieren und Vernutzen darf nicht den Mitmenschen einschließen. Die theologische Rezeption Luhmanns betont, dass im systemtheoretischen Kommunikationskalkül, in dem immer das Kommende das Vorherige relativiert, verstörende Grenzmomente der Gleichzeitigkeit denkbar sind, in denen Kommunikation neu beginnen kann. Theologie knüpft vor allem an Erfahrungen verstörender Güte und zweckfreier Hilfe an. Die Momente des Neustarts der Kommunikation können mit Luhmann sehr klar als kommunikative Neuschöpfung, Nullpunkte des Auslöschens bisheriger Unterscheidungen (Reentry),
Ein weiterer Beleg wäre der Ausspruch der euripideischen Helena: „O Götter! Es ist Gott, wenn sich die Liebenden erkennen“ (V. 517, vgl. Hasenhüttl, G., Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 1980, S. 7). Vgl. auch Schmitz, H., Negative Theologie heute, in: Blume, A., Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion, Freiburg München 2007, S. 17–28. Schmitz’ Neue Phänomenologie kommt zu ganz ähnlichen Aussagen – zum Teil unter Rekurs derselben Quellen – wie die relationale Theologie G. Hasenhüttls, die Bultmann und Buber zusammendenkt, die Nähe von griechischem und christlichem Gottesbild (Gott als Ereignis) herausstellt und der auch hier die elementare Funktion eines Vermittlers zukommt.
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verstanden werden; die Metapher der „Neugeburt des Subjekts“ wird plausibel: Der Raum des Vertrauens, der sich augenblickhaft öffnet, wird neu angenommen. 201 Kompatibel mit dem luhmannschen Ansatz ist auch der existenztheologische Unterscheidungsbegriff (der Vollzug einer vollständigen Differenz und die Betonung einer Seite); ebenso kommt Luhmann der relationalen Theologie entgegen, wenn er das Problem der Religion nicht als solches der einfachen, sondern der doppelten Kontingenz beschreibt.202 Luhmann sieht den Mythos mit der Unterscheidung Vertraut/Nichtvertraut operieren, die in der funktional differenzierten Moderne marginalisiert ist; das theologische Entmythologisierungsprogramm mit dem Ziel der Übersetzung theologischer Termini in Vollzugsbegriffe erscheint auch im Lichte der Systemtheorie in jedem Fall angebracht. Luhmann betont die Grundlosigkeit der Liebe. Insofern sind schon für ihn Reduktionismen, die das Vertrauen verobjektivierend auf Urvertrauen-Erfahrungen, elterliche Zuwendung, Geborgenheitserlebnisse reduzieren, nicht möglich. Die Grundlosigkeit des Vertrauens, der Sprung und das Wagnis sind damit nicht überbrückbar. Es handelt sich um das Wagnis des Lassens des Begründungswillens, das ein Sich-Einlassen auf die Situation einschließt. Theologisch ist das Aufbrechen letzter Wirklichkeit in gelebter Mitmenschlichkeit, in der Annahme von vorlaufendem, unverdientem Vertrauen als Christusereignis zu qualifizieren. Das selbstvergessene Tun im Horizont vertrauender Existenz, das gegenwärtige Gehaltensein, lässt keine Zweifel an der Gegenwart zweckfrei-gelebter Mitmenschlichkeit aufkommen. Man kann schließlich sagen, dass mit dieser Betonung der Grundlosigkeit auch der Fetischismus der Medien- und Konsumreligion, die Kommerzialisierung von Kommunikation, das Paradigma der Selbstidolisierung, der permanenten Arbeit am Ausstellungswert, kritisiert werden kann.
B. Bildung als Offenheit für „Veranderung“ (Lévinas) „Lieben ist Besessenheit.“ – Yasushi Inoue203 „In der Annäherung an das Gesicht wird das Fleisch Wort, die Liebkosung – Sagen.“ – Emmanuel Lévinas204
Henrich, D., Sterbliche Gedanken, Frankfurt a. M. 2015, S. 50 zitiert aus Hölderlins „Andenken“: „Nicht ist es gut, / Seellos von sterblichen/ Gedanken zu sein. Doch gut / ist ein Gespräch und zu sagen des Herzens Meinung.“ 202 Luhmann, N., Soziologische Aufklärung. Bd. 4, Opladen 1987, S. 245. „Religion läßt sich nicht mehr durch bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen begreifen, sondern nur noch durch das Fragen selbst. … Das Antworten hat unter diesen Umständen religiösen Gehalt nur noch im Wachhalten der Frage.“ 203 Inoue, Y., Das Jagdgewehr, Frankfurt a. M. 1998, S. 73. 204 Lévinas, E., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg München (2. Aufl.) 1998, S. 211. 201
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Emmanuel Lévinas (1906–1995) sieht die Rolle des Menschen angesichts der Dynamik des Nichtobjektivierbaren ähnlich rezeptiv wie die Hermeneutik. Er spitzt aber diese Passivität zu und betont ein anderes Moment der Beziehung/Mitmenschlichkeit, nämlich das BlickGeschehen; es geht ihm also nicht um eine weitere Explizierung der dialogischen Eigendynamik, sondern um Proto-Phänomenologie. Lévinas verfeinert den buberschen Ansatz, korrigiert dessen Symmetrievorstellungen und beginnt mit einer deutlichen Ontologie-, Hermeneutikund Totalitätskritik. – Zur Bedeutung des lévinasschen Alteritätsdenkens für die französische Philosophie, aber auch für den Gender-Diskurs, lässt sich Derridas Votum wiedergeben, das man in dieser Eindeutigkeit nur selten vernehmen konnte: „Angesichts eines Denkens wie dem von Lévinas habe ich niemals einen Einwand. Ich bin bereit, alles zu unterschreiben, was er sagt.“205 Wie Buber mit den Erzählungen der Chassidim zu einem renouveau juif nach der Schoah beigetragen hat, so leistete Lévinas Gleiches mit seinen Talmud-Lektüren. Lévinas will allerdings keine partikulare Kultur pflegen. Für ihn sind Theologie und Philosophie deckungsgleich, Sokrates erscheint ihm als Bruder der jüdischen Botschaft. Und Phänomenologie ist das Jüngste Gericht der Philosophie: „Der Versuch war der, meine Beziehung mit dem Anderen nicht als ein Attribut meiner Substantialität vorzustellen, als ein Attribut meiner Festigkeit als Person, sondern, im Gegenteil, als die Tatsache meiner Entlassung, meiner Absetzung (in dem Sinn, wie man von der Absetzung eines Herrschers spricht)“; Übertreibungen bewirken Neuakzentuierungen, und sind damit Essentials seiner philosophischen Methode: „Es gibt Hyperbeln, in denen Begriffe sich verwandeln. Eine solche Verwandlung beschreiben, auch das heißt Phänomenologie treiben. Die Steigerung bis ins Äußerste als philosophische Methode.“206
1. Ontologiekritik: die Weigerung, an das Sein zu glauben – der Primat der Ethik vor der Ontologie Das Seinsdenken, die Philosophie von Jonien bis Jena (Rosenzweig), ist ein idiosynkratischer Diskurs der Selbstbestätigung und Selbststabilisierung, eine Polis-Philosophie, die das Andere, die Fremdheit nicht denken kann, ein Bemächtigungsversuch gegenüber dem Anderen, ein Denken des Selben und der Einheit (Egologie, Phall-Logozentrismus). Ein theologisches Moment sucht man im Bereich des Seins nach Lévinas vergebens. Gott ist nicht, er würde sonst an der Intrige und dem Selbstbeharrungs- und Selbstdarstellungsbestreben des Seins teilnehmen. Lévinas fordert eine Religion für Erwachsene, eine Eschatologie ohne Hoffnung, die die Derrida, J., zit. n.: Mersch, D., Posthermeneutik (DZPh, Sonderband 26), Berlin 2010, S. 62. Lévinas, E., Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg München (3. Aufl.) 1999, S. 103, 113.
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Leere des kindlichen Himmels aushalten kann. An Gott glauben, heißt nicht an das Sein und seine Gegenwart, sein Manifestations- und Repräsentationsvermögen zu glauben. „Es [das Gute, das Menschliche] denken heißt für immer, unwiderruflich, unabänderlich aufgehört haben an das Sein zu glauben.“207 Die Seinsmaschinerie kommt ins Stottern, das Seinsspiel unterbricht, da es mit Exteriorität konfrontiert wird. Die Spur Gottes ist leiser als das Sein. Spur meint hier den leisen Riss/die Exteriorität im fixen Korsett der Systeme, das Aufbrechen nichtassimilierbarer Andersheit im Regime des Gleichen/ Identisch-Einen, die Störung der Kreisläufe, als Depotenzierung der Immanenz. Lévinas’ Ziel besteht darin, das winzige, aber entscheidende Moment auszumachen, in dem die Hermeneutik nicht funktioniert, überrumpelt und außer Kraft gesetzt wird; es gilt, ein vorgängiges Bedeutungsmoment zu benennen, das der Hermeneutik, der Sinnkonstruktion des Ich, die sich die Welt von innen nach außen entwirft, nicht untersteht. Das wäre dann die Geburt der Ethik aus der Infragestellung des Selben durch den Anderen, Ethik ist für Lévinas „die Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen“.208 Ethik steht vor der Ontologie. Mit dem Primat der Ethik vor der Ontologie kommt es zu einer Ethik der Obsession, einem Extremismus der Schuld und Verantwortung vor dem Gesicht des Anderen, zu einer Theorie der absoluten Passivität des Subjekts. Lévinas’ Theorie ist – wie bereits mehrfach von Kommentatoren und Interpreten hervorgehoben – eine „Ethik ohne Ethik“, es fehlen Normenkataloge; was zu tun ist, wird aus dem Gesicht des Gegenübers gelesen. Das leise Ur-Phänomen von Bedeutung, das auf keinen subjektiven Entschluss reduziert werden kann, ist die Irritation durch den Blick des Gegenübers. Die Hermeneutik ist zu hintergehen mit der Analyse einer Urirritation, die das Ich immer schon depotenziert und entkräftet. (Wie im Fall der Hermeneutik geht es um ein Immerschon-Berührtsein von göttlicher Wirklichkeit, allerdings nicht um ein seinaffines Lassen, sondern eine vorgängige Passivität, die passiver ist als alle Passivität.) Lévinas untersucht also, wie Fremdheit oder Alterität in der vorsymbolischen Konstellation der Nähe und des Blickkontakts von außen einbricht und die hermeneutische Selbststabilisierung des Ich untergräbt. Das Gestelltsein vor das Gesicht des Gegenübers bedeutet hier: eine ganz eigene Dimension des Nichtobjektivierbaren zu vernehmen. Präsentisches Heilsgeschehen und Vertrauensakte sind niemals Thema bei Lévinas, sondern ein viel fragileres Phänomen: Abduktiv – subtil wie Sherlock Holmes – geht Lévinas von einem winzigen Phänomen aus, das zur Umkehr der Perspektiven und zur Ontologiekritik führt. Und die Konfrontation mit dem
Ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München Wien 1991, S. 220 (Zitat im Nachwort). 208 Ders., Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 51. 207
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Blick ist nicht vorschnell mit der Blickerfahrung oder Blickimpression zu verwechseln, bei der das Ich die Irritation des Blicks bereits eingeordnet und gebändigt hat. „Das Ethische ist das Zerbersten der Ureinheit der transzendentalen Apperzeption – das heißt das Jenseits der Erfahrung.“209
2. Gesichtsimpression – Gottes Fremdheit und Kenosis Das Vor-das-Gesicht-des-Gegenübers-gestellt-Sein steht im Mittelpunkt seiner Philosophie, es ist auch der einzige Inhalt der lévinasschen Theologie/Philosophie. In doppelt passiver Weise gilt: „Gott fällt mir ein, wenn das Gesicht des Gegenübers mich berührt (touché).“210 Sein Blick erwählt mich, für es Verantwortung zu übernehmen, bevor ich gefragt wurde und überlegen kann: Ich werde hier – wenn der Blick des Gegenübers mich trifft – zur Geisel. Das Gesicht sagt nicht etwas, sondern es ist die Weigerung, als begrifflich-subsumierbar oder gar als ein Ding zu gelten. Das Gesicht sagt das erste Wort, es ist „eo ipso bedeutungsvoll“. Das Gesicht ist eine einzige Körperöffnung, es offenbart nicht nur Glanz und Herrlichkeit, sondern auch Blöße und Verwundbarkeit. Das Gesicht ist die Epiphanie des Unendlichen. Im Angeblicktwerden entsteht eine Idee, die über sich hinausweist, die cartesische Idee der Transzendenz. Alle Menschen sind Geschwister nicht durch eine Ähnlichkeit, sondern durch die Verantwortung infolge der Epiphanie des Antlitzes, d. h. infolge der Offenbarung ihrer Fremdheit. Vom Gesicht des/r anderen ist die Spur Gottes zu vernehmen: Gott ist nicht präsent auf dem Gesicht, er stellt sich nicht dar als Ereignis des Seins, sondern Gott taucht als Spur auf, und Spur ist die Vergangenheit, die nie anwesend war.211 Die Spur heißt also „nichtassimilierbare Andersheit“, „Illéité“, fremde göttliche Wirklichkeit, die leichter und fragiler als Sein ist. Mose hat also bei dem Offenbarungsgeschehen auf dem Berg Sinai die Fremdheit Gottes im Gesicht des/r anderen geschaut. Von Gott lässt sich nicht mehr sagen oder schauen, als der Entzug, der immer schon stattfindet, der Rückzug, der im Kommen schon angelegt war.
Ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 325 und S. 309: „Der Eine für den Anderen, nicht der Eine verwandelt in den Anderen, sondern für-den-Anderen, getreu der Diskontinuität oder der Diachronie der ins Thematische noch nicht eingesetzten Bedeutung (…).“ 210 Ich verdanke den Hinweis, dass mit der Formulierung „je suis touché“ Jansenisten ihre Gotteserfahrung umschrieben haben, Fritz Osterwalder. 211 Für Derrida ist das die genialste Umschreibung des Unbewussten, vgl. seinen Différance-Aufsatz. 209
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Vor dem Gesicht des Gegenübers, das die nie endende Frage „Was will das Gegenüber von mir? hervorruft, weitet sich das Bewusstsein des Kindes. Die Eltern, die anderen geben dem Kind die Idee des Unendlichen. Und Bewusstsein ist für Lévinas Gerechtigkeit. Die klare hermeneutische Unterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding wird hier auf den Rest der Unterscheidung befragt: das (kantische) Verbot, den anderen zu objektivieren, kaschiert die Unmöglichkeit, das Gesicht zu verdinglichen und seine Irritation restlos zu beseitigen. Für Lévinas ist das Begehren, da es bereits ganz von Anderem bewegt wird, Offenbarung. „Das Antlitz … begründet eine Nähe, die verschieden ist von der durch die Synthese eingerichteten [Versammlung], der Synthese, die die Gegebenheiten ‚zu‘ Welt, die Teile ‚zu‘ einem Ganzen eint. Das Antlitz beherrscht ein Denken, das älter und wacher ist als das Wissen und die Erfahrung.“212
Das Antlitz bewirkt nichts und geht unter: „Das Antlitz ist Untergang und nackt.“ Genau in seiner Schüchternheit, die niemals wagt oder bittet, reißt es sich los von der bisherigen Ordnung und „nähert … sich und verwirrt in absoluter Weise.“213 Natürlich können auch andere Körperteile Gesichtsqualität erhalten und das Ich zutiefst infrage stellen, den Nicht-Ding-Charakter des Gegenübers wachrufen. „Das Reden ist Berührung“; insofern es auf das Antlitz antwortet, ist es Zärtlichkeit und Verantwortung: „Wo diese Wandlung des Intentionalen ins Ethische geschieht und nicht aufhört zu geschehen, wo die Annäherung das Bewusstsein durchstößt – wo das geschieht, genau da ist Haut und menschliches Antlitz. Die Berührung ist Zärtlichkeit und Verantwortung.“214
Mit der Spur Gottes tritt ein Drittes zwischen Ich und Du, sein „Stören“ potenziert die Fragen und die Ambivalenz. Lévinas versteht den Dritten als durchaus sehr willkommene Infragestellung einer dyadischen Beziehung, als Herausforderung der Verantwortung. Wie die
Lévinas, E., Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 209. Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg München (4. Aufl.) 1999, S. 244. Und auf S. 325 stellt Lévinas klar, dass Gott nicht mit dem griechischen Urbild-Abbild-Denken gedacht werden kann: „Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes zu sein, sondern sich in seiner Spur zu befinden.“ 214 Ebd., S. 275. 212 213
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Spur der Transzendenz zweideutig und inkognito bleibt, so wird durch den Dritten die Nähe ambivalent: „Der Dritte führt einen Widerspruch in das Sagen ein.“215
3. Asymmetrie und Anklage: dem Gegenüber nicht gerecht werden können (kein Ich-Du ohne Drittes) – das ausweglose Drama von Schuld/ Verantwortung Lévinas beschreibt eine Nähe-Konstellation jenseits der Kategorie der Reziprozität. Gegen Buber richtet Lévinas seine Kritik der symmetrischen Beziehung.216 Nähe ist immer asymmetrisch. Die Beanspruchung vor dem Gesicht des Gegenübers ist nicht aufzurechnen – das Aufrechnen von Schuld zur Symmetrie wäre nämlich schon eine Verobjektivierung, ein „Synchronismus des Krieges“. Das Dritte auf dem Gesicht des Gegenübers ist das, was prinzipiell stört. Es gibt kein Ich-Du ohne ideal forderndes Drittes. Gottes Illéité, seine Fremdheit, besteht nicht nur in dem Aufruf zur Stellvertretung, Substitution. Sie meint auch Kenosis, eine radikale Auslieferung. Das Subjekt ist nicht im Nominativ, sondern im Akkusativ zu denken, als Accusatum, wie in der französischen Selbstbezeichnung „me voici“.217 Die Perspektivität des schuldigen Ich und die Asymmetrie der Beziehung sind unüberwindbar, daher ist das Ich immer schon schwach und vergehend. „Das Ich ist, vom Scheitel bis zur Sohle, bis in das Mark seiner Knochen, Verwundbarkeit.“218 Das lévinassche „Für den Verfolger verantwortlich sein“ übersteigt das christliche Feindesliebegebot. Lévinas kann dem SS-Schergen nicht absprechen, ein Gesicht zu haben. Der späte Lévinas erklärt
Ebd., S. 343 und S. 348–349: „Das Bewusstsein entsteht als Präsenz des Dritten, (…) ist der Eintritt des Dritten – fortwährender Eintritt – in die Intimität des ‚face à face‘. (…) Die Grundlage des Bewusstseins ist die Gerechtigkeit.“ 216 Marion, dessen Buchtitel „Gott ohne Sein“ sehr gut auch den lévinasschen Ansatz charakterisiert, spricht von einer „erotischen Reduktion“, die die vorsymbolische Asymmetrie aufhebt; eine Symmetrisierung machte – so Lévinas nach eigenen Angaben – den gesamten Denkansatz obsolet, das Urphänomen der Nähe wäre verraten. 217 Lévinas sagt, dass auch andere Körperteile eine Gesichtsqualität gewinnen können. Das Gesicht kann eo ipso nie objektiviert, Ding werden; es spricht immer schon. Lévinas’ Haltung zur Kunst wird diskutiert: Das Kunstobjekt kann nie Gesichtscharakter einnehmen; es kann aber den Idol-Charakter von Kunst durchstreichen und auslöschen (oblitterare) und so eine wichtige Zeigefunktion auf die Besonderheit des Gesichts erfüllen, vgl. Lévinas, E., Die Obliteration. Gespräch mit Françoise Armengaud über das Werk von Sacha Sosno, Zürich 2019. Die Masse hat ebenso kein Gesicht. 218 Lévinas, E., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 94. Lévinas steht in der Tradition von Rosenzweig, der ebenfalls das Gesicht davidsternartig denkt: „Theologische Probleme wollen ins Menschliche übersetzt und die menschlichen im Theologischen vorangetrieben werden.“ 215
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seine Theorie des Gesichts mit Mt 25,40: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Theologie, Ethik, Phänomenologie des Gesichts und Philosophie konvergieren also. Es kann keine positive Gotteserfahrung apostrophiert werden, Gott ist nach seinem Vorübergang als Dagewesener, als „Geber“ der unendlichen Forderung zu denken. Die Spur Gottes lässt sich nicht ontologisch aussagen, das hieße, ihn in die Herrschaft des „Es gibt“ zu zwingen. Es gibt keine positive, präsentische Gotteserfahrung. Der Ruf Gottes ist diachron, nicht zu verzeitlichen, „älter als die Wahl“. Gott ist das Übersein des Guten, jenseits des Seins, „epekeina tes ousias“ wie bei Platon (politeia 509b). Güte sprengt den Seinsrahmen. „Im Nächsten ist reale Anwesenheit Gottes. In meiner Beziehung zum anderen vernehme ich Gottes Wort. Das ist keine Metapher, das ist nicht bloß extrem wichtig, es ist wörtlich wahr. Ich sage nicht, dass der Nächste Gott ist, aber dass ich in seinem Antlitz Gottes Wort höre.“219
Der Er-Gott ist nicht griechisch präsent-kairologisch ausrufbar, sondern die fremde (man könnte sagen: hebräische) Unendlichkeit der maßlosen ethischen Beanspruchung. Transzendenz ist nicht anders denkbar denn als Selbstbeschränkung, Substitution oder Erniedrigung, die nie in Systemen Platz findet. Das Gesicht ist in diesem Sinn eine einzige Körperöffnung, Ausdruck von Schwäche, Blöße, Nacktheit, nicht nur von Glanz und Höhe. „Gut sein, das bedeutet Defizit, Zerfall und Torheit im Sein, es ist Exzellenz und Höhe jenseits des Seins. Das bedeutet, dass die Ethik nicht ein Moment des Seins darstellt, sondern anders und besser ist als Sein.“220 Während die Hermeneutik Vertrauen ins Sein vermittelt, verbietet das Lévinas geradezu: Etwas verstehen heißt nicht an das Sein glauben. Glauben heißt: unter Bezug auf das Gesicht und seine fremde Spur gegen die Geschlossenheit der Kreisläufe opponieren, Exteriorität, ein von-Außen für möglich zu halten. Bei Lévinas haben die Fragen und der Zweifel ihren zentralen Platz, sie gehören zum ethischen Wagnis der Nähe und der Kommunikation.221 „Und besteht die Philosophie selbst nicht darin, ‚verrückte‘ Gedanken mit Weisheit zu behandeln oder darin, der Liebe Weisheit beizubringen? Die Erkenntnis, die Antwort, das Ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München Wien 1991, S. 48, 140. Ders., Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 236. 221 Ders., Totalität und Unendlichkeit, Versuch über die Exteriorität, Freiburg München (3. Aufl.) 2002, S. 106: „Der von den Mythen gereinigte Glaube, der monotheistische Glaube, setzt seinerseits den metaphysischen Atheismus voraus … Der Atheismus ist die Bedingung für eine wirkliche Beziehung mit dem wahren Gott kath’ auto.“ 219 220
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Ergebnis gehören möglicherweise zu einem seelisch-geistigen Leben, das noch nicht zu Gedanken fähig ist, in denen das Wort Gott Sinn gewinnt.“222
4. Veranderung/Gerechtigkeit als Sinn des Wissens – Bildung als Bindung Lévinas redet nicht einer Veränderung und Formbarkeit des Menschen das Wort: „Sobald der Andere formbar wird, verliert er sein Angesicht“; Lévinas vertraut ganz auf die Anarchie des Gesichts und seine Instruktion, die nicht eine Strategie des Subjekts ist, sondern eigendynamisch von anderswo herrührt.223 Veranderung, Formung durch das Gesicht, beruht nicht auf intentionalem Tun, ist nicht Gegenstand einer Methode oder einfacher Lerninhalt. Den Sinn von Bildung, den letzten Sinn des Wissens, sieht Lévinas in der Infragestellung. „Die Freiheit rechtfertigt sich nicht durch die Freiheit. Das Sein begründen oder in Wahrheit sein heißt weder verstehen noch etwas ergreifen, sondern heißt im Gegenteil, dem Anderen ohne Allergie, d. h. in der Gerechtigkeit begegnen.“224
Bildung heißt Bindung, der Spur auf der Spur sein, Reflexion des Impliziten, die Sprache des Blicks und des Gesichts verstehen, für eine Veranderung bereit sein: immer mehr die Geisel des Gegenübers werden, sich immer mehr dem aussetzen, was einen depotenziert und schwächt. Lévinas kennt nur eine Ethik des „Ich soll“ (vgl. die Lethologie von Heinz von Foerster). Bildung bedeutet eine Kultur der Transzendenz und nicht ihre Neutralisierung. Bildung meint nicht Immanenz, kein Innewerden der Bergung, die mich erfasst, sondern Offenheit und Aussetzung; nicht Denken von …, sondern Denken für … Bildung heißt nicht Ertüchtigung, Ich-Stärkung, Selbstermächtigung, sondern im Gegenteil: Untüchtigwerden für die Welt, mit Hyperbeln auf der Höhe der Phänomene zu bleiben, den Phänomenen der Destitution treu sein – auch um den Preis der Handlungsunfähigkeit und Passivität. Es kann keinen anderen theologischen Bildungsauftrag geben als Veranderung, der inkarnatorischen Spur des Antlitzes folgen. Das Gegenüber ist Geberin/Geber aller guten Gaben. Von Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, S. 149. Ders., Gott, der Tod und Zeit, Wien 1996, S. 208: „Die Herrlichkeit des Unendlichen ist Anarchie im Subjekt, das aufgeschreckt ist und keine Ausfluchtmöglichkeit hat.“ 224 Ders., Totalität und Unendlichkeit, S. 122, 398, 441. „Wir meinen, dass nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung der letzte Sinn des Wissens ist. Nicht die Existenz für sich, sondern die Infragestellung des selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorangeht, die Rückkehr zur Gegenwart des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.“ „Die liebende Subjektivität ist die eigentliche Transsubstantiation.“ 222 223
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der Gesichtimpression ausgehend verformen sich alle Begriffe: Bild Gottes zu sein, heißt natürlich nicht, Abbild zu sein, sondern aufgerufen zu sein, der Spur Gottes zu folgen. Ein Beispiel für Lévinas’ extreme Umdeutungen ist auch seine Interpretation von Ewigkeit: „Freiheit gegenüber der offenbaren Logik der Ereignisse, Imstandesein, sie zu beurteilen, nichts anderes heißt Ewigsein.“225 „Ewigsein“ und „Schöpfung“ bedeuten: Immanenz wird durchbrochen, Exteriorität ist möglich. „Den Tod besiegen ist kein Problem des ewigen Lebens. Den Tod besiegen heißt, mit der Anderheit des Ereignisses ein Verhältnis unterhalten, das doch noch persönlich sein soll. … Ich definiere den anderen nicht durch die Zukunft, sondern die Zukunft durch den anderen.“226 Lévinas versteigt sich nicht dazu, dem Tod den Stachel zu nehmen, er meint aber, dass die Passivität des Todes von der Passivität dem anderen gegenüber überstiegen und überwunden wird. Lévinas redet von einer Passivität dem Gesicht gegenüber, die passiver ist als alle Passivität. Das Gegenüber ist dasjenige, was der Zukunft einen Sinn gibt. Der andere verbürgt, dass radikal Neues möglich ist. Denjenigen, die das monotheistisch-inkarnatorische Gotteswirken als zu gering veranschlagen, gibt Lévinas zu bedenken, dass genau die Loslösung von der Polis-Philosophie, die Reduktion der Theologie auf ein verschwindendes Moment der Mitmenschlichkeit dem Menschen auferlegt ist. Desillusionierend sagt er: „Zum Mysterium Israels gehören die von der Illusion Befreiten“, und: „Das Leiden des Gerechten für eine Gerechtigkeit ohne Sieg wird konkret als Judentum erlebt.“227 Vergleichbare Universalisierungen oder Umwertungen bezüglich der Zugehörigkeit zum Judentum sind natürlich auch für das Christentum nötig und unverzichtbar. Zeuge der Inkarnation sein heißt, viel leiser dem Spurgeschehen folgen, es nie zu repräsentieren versuchen; sich der Veranderung aussetzen. Es heißt, der Selbstverletzung, die das Blickgeschehen auslöst, treu zu sein. Jede Nähekonstellation ist pädagogisch-theologisch relevant. Vom Blick ist alles zu lernen. Wenn Cees Nooteboom davon spricht, dass Gott wie eine Antwort klinge und das das „Verderbliche an diesem Wort“ sei228, so kann das Denken Lévinas’ dies aufnehmen. Bei Lévinas
Vgl. Ders., Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, München Wien 1991, S. 119. Die KZ-Überlebende Esther Bejarano betont in Gesprächen, Ewigsein bedeute für sie „Ich lebe trotzdem“. 226 Ders., Die Zeit und der andere, Hamburg 1984, S. 53f und S. 60f: Wie die Liebkosung eine Erwartung dieser Zukunft ohne Inhalt ist, so ist auch das Verhältnis zum anderen durch „die Abwesenheit des anderen“ geprägt, nicht durch ein reines Nichts, puren Mangel, sondern eine „Abwesenheit in einem Horizont der Zukunft, eine Abwesenheit, die die Zeit ist“. Der Andere, das Gegenüber, ist der Geber aller guten Gaben, der Zukunft und des Sinns sowieso. 227 Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 1992, S. 111. Auch der DerridaSchüler Jean-Luc Nancy spricht von „Heil ohne Erlösung“ (Derrida); die Grußform „Salut“ bedeutet nicht: „Wir retten uns“, sondern eher: „Wir sind für den Sinn verantwortlich“ (Nancy, J.-L., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012, S. 83). 228 Nooteboom, C., Rituale, Frankfurt a. M. (13. Aufl.) 1994, S. 68f. „Gott klingt wie eine Antwort, und das ist das Verderbliche an diesem Wort … Er hätte einen Namen haben müssen, der wie eine Frage 225
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allerdings steht hinter dem Gottesnamen/-begriff kein Frage-, sondern ein Ausrufezeichen, ein Imperativ. „Das Menschliche gewährt sich erst in einer Beziehung, die kein Können ist.“ „Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.“229
C. Bildung als Widerstand (Žižek) „Wir sind geworden wie der Abschaum der Welt, jedermanns Kehricht, bis heute.“ – (1 Kor 4,13) „Das Christentum macht es uns zur Pflicht, die Gründungsgeste der primordialen EntScheidung zu wiederholen. Man ist versucht, diese Tatsache im Stile von Marx’ ‚These Nr. 11‘ zu paraphrasieren: ‚Die Philosophen haben uns gelehrt, unser wahres Selbst zu entdecken (erinnern), aber es geht darum, es zu verändern.‘ Und dieses, häufig vernebelte, christliche Erbe ist heute kostbarer als je zuvor.“ – Slavoj Žižek230
Das dritte Modell wäre als eine Synthese der beiden vorherigen Ansätze anzukündigen, wenn darunter die Antithese verstanden werden darf, die aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und radikalisiert wird; die lévinassche Negativität wird also neudimensioniert. Auch hier in Slavoj Žižeks Akttheorie besteht die theologische Initiation in einem Perspektivwechsel angesichts eines unverfügbaren Erfahrungsmoments, auch hier geht es um ein Moment der Umwertung, das in Interaktionen oder Nähekonstellationen möglich ist. „Das Trauma ist, dass es Akte gibt“, meint der slowenische Philosoph. Er spricht – ähnlich wie Alain Badiou – von ethisch-religiösen oder politisch-revolutionären Akten als Wahrheits- oder Christusereignissen. Diese Akte bedeuten Momente des Neustarts, in denen soziale oder persönliche Ordnungskonzepte infrage gestellt und über den Haufen geworfen werden, geschenkhafte Auferstehungsmomente. Žižek hat in allen Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre die Aktualität des christlichen Erbes herausgestellt, seine Ausführungen umschreiben das dritte relationaltheologische Grundkonzept, eine dritte urchristliche Logik, die hier in Umrissen vorgestellt werden soll. Er kritisiert die Pädagogisierung des religiösen Aktes, die Ethisierung oder auch Ästhetisierung klingt.“ Nicht nur dass das Religiöse heute fraglich ist, das Religiöse nimmt selbst die Gestalt einer Frage an. Und es soll der Frage, in der Göttliches durchschimmert, doch nicht so ergehen wie in Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (Frankfurt 1996, S. 136–137): „Zuerst kam die Antwort, dann erst die Frage, … und als die Frage kam, kam sie … zu spät, für sie gab es keinen Platz mehr.“ 229 Lévinas, E., Die Spur des Anderen, S. 119, 120. 230 Žižek, S., Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a. M. 2001, S. 185.
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
der Theologie als unzulässige Banalisierung und Diminuierung. Seine nicht didaktisierbare „Pädagogik des Schocks“ geht mit einer Kritik der Ordnung einher. Zugleich tritt Žižek für einen theologischen Materialismus ein. Nicht nur das Gesicht, sondern auch Stimme, Blick, Körperöffnungen und ihre Derivate und von ihnen ausgehende Verschiebungen, die Objekte des Begehrens, sind nichtobjektivierbar/unbeherrschbar. Die Kritik an Lévinas nimmt sich aber sehr viel grundsätzlicher aus: Žižek meint, dass das Gesicht nicht zum Fetisch werden darf. – Žižek kehrt zur ontologischen Ebene zurück, er hebt die lévinassche Beschränkung auf, nur den vorsymbolisch-präontologischen Bereich als theologisch relevant auszuleuchten. Die Leere und das Nichtfunktionieren der Ordnung sind schwer auszuhalten, Žižek meint, dass dies wohl allein Analytikern und Theologen möglich ist. Noch schwerer ist es, sich der Abgründigkeit und radikalen Fremdheit des eigenen exzessiven Genießens, der Dimension des Rests, zu stellen: „Wenn es eine politische Lektion der Psychoanalyse geben sollte, dann besteht sie aus der Einsicht, dass die großen Katastrophen unseres Jahrhunderts (vom Holocaust bis zum stalinistischen Desaster) nicht das Resultat unseres Nachgebens vor der morbiden Attraktion der Leere sind, sondern im Gegenteil das Resultat unserer Anstrengung, uns ihr nicht zu stellen und ihr die direkte Regel der Wahrheit und/oder des Guten aufzuzwingen.“231
1. Totalitätskritik, Kritik symbolischer Ordnungen: die Verfänglichkeit des großen Anderen und seine Reproduktion Žižeks Kritik fokussiert die Funktionskreise und Mechanismen der sozialen oder symbolischen Ordnungen, mit denen diese Idealperspektiven aufbauen und dann die Einzelnen zur Selbstobjektivierung, zum Opfer verleiten und unterdrücken („Überich-Terror“). Projektionen, Unterstellungsunterstellungen, Erwartungserwartungen und auch Fetischi sierungen entfalten oder entfesseln eine (soziale, symbolische) Ordnung, die das Subjekt zur Selbstobjektivierung oder auch Opferhandlungen anleitet. Die symbolische Ordnung überformt und formatiert die bubersche/lévinassche Ich-Du-Authentizität. Die symbolische Ordnung wird als die Anwesenheit eines Dritten erlebt, der die Einzelnen beobachtet. Der Dritte überdeckt und überspielt die Ausschlüsse der Ordnung oder ihre Totpunkte, die Leerstellen ihres Nichtfunktionierens.
Ders., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 222.
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Sozial im Raum einer symbolischen Ordnung interagieren heißt zum einen die Frage: Was denkt/will der andere von mir? vor die Frage: Was will ich? zu stellen, nicht zu warten, bis der andere einen ermahnt, sondern dieser Ermahnung zuvorkommen mit der Selbstreglementierung: „Ich weiß schon, was du sagen willst, sag nichts, ich kann mir besser befehlen als du.“ Eine typische Selbstüberforderung könnte auch lauten: „Als guter Freund müsste ich nicht nur eigentlich das und das tun; ein guter Freund täte am besten auch noch weiteres dies und jenes und Ähnliches mehr“; sie unterliegt bereits einem schwer zu durchbrechenden Verschuldungskreislauf: Je mehr man gehorcht, desto schuldiger wird man. Ordnungen bauen sich auf im übereilten Übergang von „Ich müsste dem konkreten Gegenüber x tun“ zu „Ein guter Freund müsste auch x, y und z und vieles mehr tun“. Und unterdrückende Idealperspektiven sind bereits am Werk, wenn eine/r der/m anderen unterstellt, dass er/sie weiß, glaubt, genießt. Wer dem anderen unterstellt, dass dieser ihn beobachtet oder der andere mehr glaubt oder genießt, hat das soziale Spiel entfesselt. Er beginnt den anderen als Leinwand seiner Phantasien zu gebrauchen und verfängt sich wie im Kino unrettbar in seinen eigenen Projektionen. In der Haltung „ich weiß ja …, aber trotzdem mache ich jetzt …“ wird von einem Regiment der Dinge ausgegangen. Diese Einstellung nennt Žižek fetischistisch. Die von Niels Bohr überlieferte Aussage: „Ich weiß ja, dass das Hufeisen über der Tür Aberglauben ist, aber man hat mir gesagt, es wirkt auch, wenn man nicht dran glaubt“ unterstellt bereits eine Eigendynamik der Dinge, die der Eigendynamik des Sozialen vergleichbar ist. Das „sujet supposé savoir, jouir, croire“ fungiert als großer Anderer. – Ganz unmerklich kommt es zur Ausbildung einer Position des (all)wissenden Dritten, einer Beobachtung durch ihn und sein Machtzuwachs wird Ausgangspunkt der Auflehnung gegen soziale Beschränkungen: Wegen der theologischen Implikationen der symbolischen Ordnungen gehört Religionskritik zu jeder Sozial-/Systemkritik. Der Kontrollblick des großen Anderen ist nur der „kleine Gott der Welt“. Und der große Andere der sozialen Ordnung darf nicht mit dem christlichen Gott, der diese Instanz gerade destruiert, verwechselt werden.
2. Der Akt als Aushalten der Leere der Ordnung, Depotenzierung des Dritten Es lassen sich viele Beispiele für die Eigendynamik der sozialen Ordnungen finden: Auch wenn jemand ohne Zertifikat mehr über ein Themengebiet weiß als einer, der die Prüfung absolviert hat und einen Titel besitzt, fühlt er sich ihm gegenüber in einer inferioren Position. Symbolische Ordnung bedeutet: den Worten des anderen mehr glauben als den Augen. Ordnung bedeutet, dass die Möglichkeit ihre eigene Wirklichkeit erhält und entfaltet. Die Drohgebärde, die 570
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Möglichkeit einer Machtdemonstration, die als solche bereits machtvoll wirkt, basiert auf einer intakten Ordnung. – Und nach Žižek und Lacan irren die, die sich nicht von dem Verwirrspiel der Ordnung beeindrucken lassen: „Les non-dupes errent.“ Der Zyniker übersieht wie ein utilitaristischer Trittbrettfahrer, der nur an seinen Vorteil denkt, seine Einbindung in und sein Angewiesensein auf die Ordnung. Eine funktionierende Ordnung erreicht, dass man den Worten mehr glaubt als seinen Augen; dass etwa Clinton in der Lewinsky-Affäre „aufrichtig log“, dass die Öffentlichkeit seine unwahren Äußerungen entschuldigt. Zur sozialen/symbolischen Ordnung gehört das Übersehen, die Verleugnung des Realen, der Abstand zu der Wüste des Realen. Die Ordnung setzt sich im Selbstbild des Individuums fest, schließlich gibt sie ihm den Einheitspunkt und gewährt ihm, Distanz zum eigenen Genießen/zur eigenen Abgründigkeit einnehmen zu können. Der Akt ist nun eine Unterbrechung der sozialen Selbstreproduktion, ein Moment der Loslösung, des Stillstands der symbolischen Ordnung, ähnlich hatte Walter Benjamin das Ereignis der Revolution bestimmt. – Žižek fokussiert nicht das vorsymbolische Irritiertwerden durch das Gesicht, sondern dekonstruiert die Installation des Dritten, der idealfordernden Perspektive in sozialen Bezügen. Die christliche Metanoia-Praxis und die jesuanischen Urgesten der Exousia/Vollmacht meinen gerade den Umsturz der etablierten, engen Ordnungen, ein Durchbrechen der Überich-Beobachtung. Die Idealperspektiven, die durch soziale Ordnungen aufgebaut werden, haben nichts mit moralischen Überlegungen zu tun. Sie sind eher obszöne, immer fordernde Befehlsinstanzen. Das Überich ist keine moralische Instanz, denn es genießt das Scheitern des Subjekts. Die soziale Kollektivgewalt, der große Andere, der Garant der symbolischen Ordnung, der ÜberichIdealperspektivenblick, und die christliche Gotteserfahrung sind streng zu trennen. Im Akt nimmt das Subjekt die Leere und das Nichtfunktionieren der symbolischen Ordnung, die Nichtexistenz des großen Anderen, des Dritten, auf sich. Hier identifiziert sich der Einzelne mit dem Ausgeschlossenen, Verfemten, oder seinem Rest. „Wir fühlen uns frei, weil wir keine Begriffe haben, unsere Unfreiheit zu beschreiben“ (vgl. den Astra Taylors Dokumentarfilm „Žižek – Elvis der Kulturtheorie!“, 2005). Alle Verhinderungsmomente, die sich nicht zuletzt als natürliche Einstellung mit Bedeutsamkeit tarnen, nennt Žižek Ideologie; ideologisch ist der Rahmen, in dem die Dinge und Phänomene, die uns erscheinen, immer schon Bedeutung angenommen haben. Žižek meint, dass wir für unsere Träume verantwortlich sind und dass Befreiung beginnt, wenn wir unsere Bindung an den Herrn, die Ordnung kappen, d. h. anders zu träumen beginnen (vgl. „The Pervert’s Guide to Ideology” von Slavoj Žižek/Sophie Fiennes, 2016).
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3. Der Akt als eigendynamischer Vollzug und Identifikation mit dem Rest Der Akt ist nicht willentlich-linear herbeizuführen. Es ist, wie Picard darstellt, immer ein Tun, das mehr bewegt, als es intendierte, so dass die Involvierten über sich erschrecken. Die Akteure werden von ihrem Tun getragen und gnadenhaft gehalten.232 Der Akt entfesselt einen Sog der Befreiung, der sich selbst verstärkt, so dass in der Erinnerung des Aktes keine weiteren Selbstvergewisserungen nötig sind. (Man könnte mit Bezug auf die „Matrix“-Filmtrilogie sagen, dass das Subjekt sich weigert, dem großen Anderen Energie-Quanten seines Genießens abzugeben. – Alle, die noch an die Matrix angeschlossen sind, sind potentielle Agenten.) Žižek teilt mit Badiou die Auffassung, dass zur Wahrheit die Begegnung des Anderen nötig ist, dass Wahrheit immer traumatisch-irritierend wirkt und das Subjekt von außen überfällt. Psychoanalyse, eine zeitdiagnostisch ausgerichtete Destruktion von Überich-Formationen, sowie politische Theorie, Ideologiekritik und Religionskritik/Befreiungstheologie finden zusammen: Ideologiekritisch wird die Leere jeder symbolischen Ordnung behauptet, ihre konstitutive Unfähigkeit für das traumatische Reale/Genießen. Der Akt übernimmt die Leere der Ordnung und begründet einen radikalen sozialen Neubeginn. Der Akt durchbricht herkömmliche Interaktionsschemata. Er fungiert als symbolischer Suizid, er verunmöglicht ja ein Weiterfunktionieren. Žižek gibt viele Beispiele: So schießt ein
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Picard, M., Der Mensch und das Wort, Zürich Stuttgart 1955, S. 83ff. „Durch den Akt der Entscheidung entsteht ein Mehr, das über den Akt hinausgeht. Ein Plus wird frei und durchtränkt über den Gegenstand, über den Akt hinaus, an dem er frei wurde, noch andere Objekte. Das ist das fast Göttliche an dem Akt der Freiheit, dass er wie von selber zeugend wirkt, denn es ordnet sich in diesem Mehr auch das, was sich an den Akt anschließt, von selbst. Der Mensch selber wird eine Zeit lang durch das Mehr weiter in der Sphäre der Freiheit gehalten, er braucht nicht andauernd den Akt der Freiheit zu leisten. … durch das Plus in der einen Entscheidung wird er von selbst in der rechten Ordnung weitergeführt. Er erfährt so von selber die Selbstidentifikation, die innere Kontinuität. Das ist das Gnadenhafte, das vom Akt der Entscheidung ausgeht. Das Atemlose der andauernden Entscheidung, wie es in der dialektischen Theologie ist, wird nicht notwendig. In diesem Raum des Mehr der Entscheidung wird der Mensch auch bereit gemacht für den Glauben. … Das Plus ist die dauernde, der Freiheit des Menschen (als ein Dauerndes) verliehene Gnade, die der Mensch sich selber geben kann, sozusagen die Gnade von unten … Im Augenblick vor der Entscheidung ist der Mensch einen Augenblick dort, wo der Fall des Menschen nicht geschehen war.“ Und S. 64 schreibt Picard: „Der Mensch ist durch das Wort geworden, das gibt dem Wort die Wirklichkeit. Das Wort ist wirklicher als die Wirklichkeit, die vor ihm ist, da der Mensch durch das Wort entstand.“ Was das erste Wort aussagt, ist für Lévinas klar, „die Weigerung, enthalten zu sein“, bzw. der Imperativ, nicht zu verdinglichen. Nach Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 76, lautet der erste Satz anders, er handelt von der Ausnahme von der Ordnung, von der Schonung vor dem Gesetz; er konstituiert ebenso menschliche Subjektivität.
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Polizist auf die Geisel, um sie dadurch zu retten. Lévinas erwähnt ganz ähnlich, dass die Juden in äußerster Gefahr ins Lager der Feinde gingen und so eine Überraschung des Gegners auslösten; im Alien-Film legt sich die Kommandantin Ellen Ripley im Wissen darum, mit dem Monsterwesen verwandt zu sein, zu ihm – auch auf die Gefahr hin, von ihm verschlungen zu werden. Der Akt verfolgt aber keine feste Strategie. Aktformat kann auch die Übererfüllung eines Gebots erhalten, die offenlegt, dass die Ordnung obsolet oder ungerecht geworden ist.Ein so nicht intendiertes Aufbrechen der Fremdheit und Hohlheit der Ordnung markiert dann aber deren Nichtfunktionieren überdeutlich. – In dem Film „Habemus Papam“ mutet der Papst, der durch eine übereilte Ernennung ins Amt kam, allen Gläubigen seine Zweifel zu, der Richtige zu sein, er fühlt sich zu ausgebrannt und leer für das Amt. Es kommt zur Entmystifizierung einer Institution. Nora verlässt in Henrik Ibsens gleichnamigem Drama am Weihnachtstag Mann und Kinder, da sie erkennt, dass ihr Mann sie nicht liebt, und die bisherige Ordnung als zutiefst ungerecht erlebt. Im Schritt aus den bergenden Strukturen hofft sie endlich zu erfahren, wer sie ist, dass sie mehr ist als ihre Rolle/ihre Puppenexistenz, ganz ähnlich wie die schwangere Karin (Ingrid Bergman) in „Stromboli“, die die Insel verlassen will und trotz geringster Erfolgsaussichten im dichten Nebel im Ungewissen fortschreitet. Die Grundlogik des Akts liegt allen emanzipatorischen Projekten zugrunde: Es ist die Logik der Restinklusion, der Universalisierung des Verfemten, der Identifikation mit dem Rest, dem Ausgeschlossenen. Damit verbundene Universalisierungsgesten können sich in Sätzen kristallisieren wie: „Wir sind alle boat people/Ausländer“, „Tschernobyl ist überall“, „Wir sind illegal“, „Wir sind 99 %“ (zur Logik der Occupy-Bewegung/Multitude, vgl. G. Raunig) oder „Jeder Getaufte ist Papst, Bischof oder Priester“ wie Luther meinte233; ganz ähnlich lauten die Solidarisierungen mit den Opfern der Terroranschläge: „Wir alle saßen in diesem Zug“, „Je suis Charlie“, „Wir sind alle Tugce“. „Tugce ist Ostern“ war auf einer am Tatort aufgestellten Trauerkarte zu lesen. Die Sätze folgen der hegelschen Logik der Herausbildung einer singulären Universalität; in einem partikularen Punkt zeigt sich die Kontur einer neuen Solidarität.234 Der Akt verändert die Welt-, Selbst- und Gotteserkenntnis. Wie es nicht möglich ist, eine Ordnung strategisch zu planen, so ist es auch nicht möglich, deren Eigendynamik durch eine einfache Strategie aufzulösen. In dem häufig von Žižek zitierten Witz kehrt ein Patient, der Angst
Und was ein „Luther des Bildungssystems“ sagen würde, ähnelte wohl Freires „Pädagogik der Unterdrückten“, die sich mit den Schwächsten solidarisiert. Lévinas würde die Universalisierung: „Alle sind potentielle Geiseln“ vorschlagen. 234 Žižek, S., Unsere Trägheit ist die größte Gefahr, in: Der Spiegel 15/2015, S. (130–134) 134, meint, dass alle emanzipatorischen Kämpfe und Auseinandersetzungen zusammengesehen werden. Ohne eine universalistische Solidarität gibt es für ihn keine Hoffnung. (Die Anliegen der Näherinnen in Bangladesch, der Arbeitskämpfe hier oder auch der Klima-Proteste müssen als gemeinsamen Einsatz um die Commons gesehen werden.) 233
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hatte, als Korn von einem Huhn gefressen zu werden, nach „erfolgreicher“ Therapie zurück und will sich vergewissern: „Ich weiß ja, dass ich kein Korn bin, aber weiß das auch das Huhn?“ Ist der große Andere noch nicht depotenziert, hat sich das Denk-/Wahnsystem noch nicht geändert. Nach einem Akt wird es nicht mehr nötig sein, eine derartige Frage zu stellen. Die Position im Universum und die Sicht auf die Welt haben sich verändert. Der Akt beruht auf einem unwahrscheinlichen, unmöglichen Insistieren, einem „In seinen Begehren nicht nachgeben“. Zum Akt gehört die Treue zu ihm. Das Universalisierungsmoment darf nicht verraten werden, es muss handlungsleitend bleiben; erst dadurch stellt sich die Bedeutung eines Aktes heraus; der Akt ist also erst der Anfang, nicht das Ende einer Veränderung, wie Žižek als Konsequenz aus den enttäuschten Reaktionen auf die Arabellion zu betonen nicht müde wird. Edmond Jabès spricht von der Offenheit für den Sinn als der Bedeutung des Wortes Gott.235 Die christliche Totalitätskritik erhält eine klare Zielrichtung, der Fokus der christlichen Akttheorie liegt auf Restdimensionen, die soziale Ordnungen ausklammern.
4. Jesuanische Exousia und christliche Metanoia (Umkehr) als verstörende Akt-Praxis Die Frage nach dem Verlorenen, dem Verfemten, Ausgeschlossenen, Verdrängten ist ur-christlich, zutiefst jesuanisch: Das „hundertste Schaf “ zählt mehr als die neunundneunzig Gerechten; der verworfene Stein wird zum Eckstein usw. – Jede Wertschätzung des Verlorenen wirkt verstörend und verändert die Gemeinschaft. Ebenso fremd wirkt der Bruch mit den natürlichen Bindungen, der mit der Jüngerschaft einhergeht (Vater und Mutter sind zu verlassen, die Toten sollen ihre Toten begraben …). Christliche Solidarität durchschneidet gewaltvoll traditionelle Ordnungen, so dass es nicht mehr Freie und Sklaven, Griechen und Juden, Frau und Mann gibt, sondern eine neue Existenzform. Das Christentum betont nicht so sehr die wohlige Einnistung in vorhandene Bergungssphären, sondern deren unglaubliche Ausweitung oder die Selbstexklusion aus der Gesellschaft. Christentum als „Religion der permanenten Unruhe“ (Gollwitzer) zielt auf Veränderungen unter Einbeziehung des/der Ausgeschlossenen – auf der Ebene der Gemeinschaft und des Einzelnen. Es geht um eine Kritik der bürgerlichen Selbstzelebrierung, Selbstbestätigung als Praxis permanenter Metanoia/Umkehr. Christsein, Glauben bedeutet die Übernahme des jesuanischen Reststandpunkts. Enrique Dussel stellt heraus: „Innerhalb des Systems sind der einzige Ort für
Jabès, E., Vom Buch zum Buch, Wien 1989, S. 98. „Der Sinn eines Wortes ist vielleicht nichts anderes als Offenheit für den Sinn. Das Wort ,GOTT‘ hat weder eine Bedeutung noch mehrere. Es ist die Bedeutung: das Wagnis des Sinns und sein Scheitern.“
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die Epiphanie Gottes diejenigen, die Nicht-System sind: der andere als das System, der Arme. Die Identifikation Jesu mit dem Armen (Mt 25) ist keine Metapher; sie ist eine Logik.“236 Nach R. Girards Apologie des Christentums ist erst im Tun Jesu zum ersten Mal in der Religionsgeschichte eine Trennung von Gotteserfahrung und sozialer Kollektivgewalt offensichtlich, etwa in der Geste: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ (Joh 8,7). Gegenüber der Ehebrecherin, die gesteinigt werden soll, hat keiner das Recht, sich zu erheben, alle sind Sünder.237 Im Sinne der Soziologie der Wanderradikalen ist die Selbstexklusion aus der bestehenden Gemeinschaft als urchristliche Strategie herauszustellen. Die christliche Umkehr muss als ein solches Moment der Restinklusion gesehen werden, ein Moment der Wertschätzung des verfemten Partikularen, als Umsturz oder Revision einer bestehenden symbolischen Ordnung. „Das paradigmatische Beispiel des Wahrheits-Ereignisses ist nicht nur Religion im allgemeinen Sinn, sondern spezifisch die christliche Religion, in deren Mittelpunkt das Ereignis von Christi Ankunft und Tod steht (wie schon Kierkegaard gezeigt hat, kehrt das Christentum das herkömmliche metaphysische Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit um: Auf gewisse Weise hängt die Ewigkeit selbst vom zeitlichen Ereignis Christi ab.) … Jedes Wahrheits-Ereignis führt zu einer Art ‚Auferstehung‘.“238
5. Christliche Grundlogik der Universalisierung des verfemten Ausgeschlossenen und psychoanalytische Identifikation mit dem Rest Was in diesen Momenten der Restinklusion als Momenten der Neuordnung geschieht, wird zunächst erlebt als Irritation und Leere der Ordnung. Der religiöse Akt, das Umkehrmoment ist Dussel, E., Befreiungsethik, in: Conc 20/1984, S. 135f, zit. n.: Habbel, T., Der Dritte stört, Emmanuel Lévinas – Herausforderung für Politische Theologie und Befreiungsphilosophie. Mit einem Exkurs zum Verhältnis zwischen E. Lévinas und M. Buber, Mainz 1994, S. 152. 237 Vgl., Girard, R., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, München Wien 2002, S. 153: Der Talmud mahnt: Wenn alle sich einig sind, dass einer schuldig ist, „lasst ihn frei, er muss unschuldig sein“. Zum binnengesellschaftlichen Nachahmungsdruck, zur mimetischen Illusion, gehört, dass man nicht weiß, dass man einem Sündenbock-Mechanismus aufsitzt. Religion hat es also nach wie vor mit der Einführung von Unterscheidungen zu tun; mit der talmudischen Warnung und den jesuanischen Gesten wird die Eigenmacht des Sozialen, die Ausschluss- und Opferlogik, und die Gotteserfahrung getrennt, eine Differenz zwischen der Eigendynamik des großen Anderen und bedingungsloser, die Systeme sprengender Anerkennung vollzogen. – Die Perspektive des Rests, die Ordnungen auf ihr Ausgeschlossenes hinterfragt, wird auch in der mediengesellschaftlichen „Schließung der Systeme“, ihrer zunehmenden Perfektionierung oder Totalisierung sinnvoll und aktuell bleiben. 238 Žižek, S., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 192, 194. 236
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also zunächst nicht als Fülle-Erlebnis zu beschreiben. Es ist ein Tun, worin der Einzelne mehr tut, als er intendierte, und deshalb bereits Geschenk und nicht Eigenleistung. Der Umkehrimpuls hat eine soziale Dimension, die schon beschrieben wurde. Dass Ordnungen immer einen Rest ausbilden und ständig neu zur Restabspaltung tendieren, bedeutet nicht, dass Veränderungen resigniert ausbleiben können, denn man kann eine Entwicklung hin zu mehr Sensibilität gegenüber Restproblematiken, zu fortschreitender Restinklusion, anzielen.239 Das Christentum beinhaltet das Paradox der Verstetigung von Umkehr. S. Žižek hebt die enge Verbindung von christlicher Restlogik und psychoanalytischer Logik hervor. Er macht klar, dass das Nächstenliebe-Gebot, der Kategorische Imperativ nicht bedeuten, das Gegenüber nur insofern anzunehmen, als es den eigenen Vorstellungen entspricht (die imaginäre Dimension des anderen), und auch nicht, da es zur selben symbolischen Gemeinschaft gehört wie man selbst (Menschheitsgedanke, die symbolische Dimension des anderen). Das Gegenüber wird vielmehr in seiner Restdimension geachtet, man weiß um die Restdimension des anderen und anerkennt, dass man an seinem Genießen niemals wird teilnehmen können (reale Abgründigkeit des anderen).240 Nachfolge bedeutet, gerade dem Verlassenheitsschrei Jesu am Kreuz nicht ausweichen. „Die Revolution des Christentums gründet in der Tatsache, dass es, in Übereinstimmung mit der [psychoanalytischen] Logik der ‚Identifikation mit dem Symptom‘, als Singuläres, das für das wahre Allgemeine steht, nicht den ‚Höchsten unter den Menschen‘ anbietet, sondern den niedrigsten exkrementellen Überrest[:] … [die] Identifikation mit der erbarmungswürdigen Figur des leidenden Christus, der zwischen zwei Dieben unter Schmerzen stirbt.“241 Zur subjektiven Dimension der Restlogik stellt Žižek heraus: Genau das, wofür man nie soziale Anerkennung erwarten kann, was nie sozial mitteilbar sein kann, ist als ultimative Stütze der Subjektivität anzusehen. Die Identifikation mit dem Rest heißt hier Identifikation mit dem Symptom: „Liebe dein Symptom wie dich selbst“ (so auch ein Buchtitel Žižeks von 1991). Dies Ders., Mehr-Genießen, Wien (2. Aufl.) 1997, S. 52: Universalisierungen des ausgeschlossenen Partikularen, die Identifikation mit dem verfemten Rest wirken traumatisch, sie unterminieren die bestehende symbolische Ordnung: Ziehen politische Statements wie „Wir sind alle Flüchtlinge“, „Hiroshima/Tschernobyl ist überall“ keine Veränderung der symbolischen Ordnung nach sich, liegt auch kein Akt vor. Zur Logik des politischen Akts bzw. der christlichen Restlogik hält Žižek fest, dass „die ‚Identifizierung mit dem Symptom‘ mit dem ‚Durchqueren des Phantasmas‘ korreliert“. 240 Vgl. ebd., S. 89. 241 Ders., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 318–319. Di Blasi, L., Dezentrierungen. Beiträge zur Religion der Philosophie im 20. Jahrhundert, Wien Berlin 2018, S. 280, polemisiert gegen Žižeks Position als ein „Weniger als christlicher Nihilismus“ in Anlehnung an dessen Titel „Weniger als Nichts“; dabei geht Di Blasi nicht auf die žižeksche Rezeption der kenotischen Dimensionen des Kreuzestodes Jesu, die Akttheorie oder die Theologie des Rests ein, sondern versucht eine philosophiegeschichtliche Einordnung von Žižeks Hegel-Interpretation. 239
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beinhaltet eine deutliche Absage an das Optimierungsdispositiv des Qualitätsmanagements: Einfache Vorstellungen von einer Selbstpräsenz, Selbstunmittelbarkeit, Selbsttransparenz, Selbstvertrautheit, Kohärenz, Authentizität und Homogenität des Subjekts werden kritisiert. – „Das Analsubjekt muss sich mit seinem exkrementalen Rest identifizieren.“242 Und der Controlling-Saubermann muss sich etwa der Brutalität seines Methodeneinsatzes stellen. Als Korrektiv gnostischer Selbstüberschätzung/Selbsterlösungsphantasien wirkt die Einsicht, dass die äußeren Gesetze die Funktion haben, das von permanenten Überich-Diktaten gespaltene Ich vor einem Kollaps zu bewahren. Žižek legt überzeugend dar, dass die Aussage Dostojewskis oder auch Sartres, dass mit dem Wegfall äußerer Gesetze alles erlaubt wäre, irrig ist. Der Wegfall äußerer Gesetze würde dem Zugriff und der Alleinherrschaft des Überich Tor und Tür öffnen.243 Zur Bildung gehört demnach der Widerstand gegen rabiate Ausschlüsse der vorherrschenden Ordnung, ebenso die Anerkennung der Fremdheit des Subjekts, ein Wissen um seine Abgründigkeit. Adorno begreift ähnlich Erkenntnis als „die Liebe zum unterdrückten Besonderen/Partikularen“. Für Lévinas und J. Schütze beginnt Rassismus, wo die Fremdheit und Andersheit (des Rests) zugedeckt oder verharmlost wird. Žižek präzisiert, dass der Hass auf den Anderen auf dem Hass auf das eigene Genießen, das Fremde in mir, beruht. Erkennen beginnt mit der Sensibilität gegenüber dem Ausgeschlossenen.244 Die Parallelen zu Lévinas sind unübersehbar. Bezieht sich Lévinas auf eine vorsymbolische Konstellation, so zielt Žižek auf eine Revision der symbolischen Ordnung. Gott ist kein virtueller Befehlsgeber wie das Tamagotchi. Gott hat nichts mit einer virtuellen Befehlsinstanz zu tun, die ständig fordert und dem Bedürfnis, aktiv Žižeks Subjekttheorie setzt nicht mehr auf einen direkten, sondern einen indirekten, vermittelten Selbstbezug. Sie geht also von einem medialen Subjekt, der Fremdheit des Subjekts mit sich, aus. Angemessener erscheint die Rede von einem labyrinthisch-abgründigen, intransparenten oder medialen Selbst. Das Subjekt ist die unmögliche Beziehung zwischen dem sozialen Einheitspunkt, der Rolle, die ich einnehme, und dem nie ausgeloteten Abgrund meines Genießens. Kants Synthesis der Apperzeption „Das ‚Ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können“ rechnet mit einem sich selbst intransparenten Selbst. Wie fremd die Wutgefühle auch sind, die ich mir nicht willentlich ausgedacht habe, ich muss sie auf mich beziehen; diesem Gesetz des Unbewussten, der Rekurrenz (Lévinas) ist das Subjekt unterstellt. 243 Das Projekt der gnostisch-jansenistischen Selbsterfahrung muss mit dieser Erkenntnis, ebenso mit der Einsicht in die sadistische Aufspaltung von Befehlsgeber und Ausführenden (Subjekt der Aussage und Subjekt des Aussagens) komplettiert werden. Die „Du kannst, denn du sollst“-Überforderung des Idealismus hat gewisse Untiefen. Die Gotteserfahrung im Ich (Meister Eckharts „Gott gebiert sich als mich“, die Identifikation des Wesens Gottes mit dem Wesen der Seele) oder auch das Ergriffenwerden vom bergenden Aufgehobensein im Unendlichen muss mit der Erfahrung der Extimität des Subjektkerns kontrastiert werden: Das mit seiner Passivität oder der Fremdheit seines Genießens konfrontierte Ich erfährt sich als fremd („Ich ist ein Anderer“, Arthur Rimbaud). 244 Speichel wird – auch wenn er steril dargereicht wird – nicht als das ausgemacht, was er faktisch ist; der intime Teil unseres Selbst wird als externalisiert, als fremd empfunden, als extim. 242
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zu sein, entgegenkommt und sozial anerkanntes Verhalten sicherstellt. Bultmann polemisierte auch schon in seinem Jesus-Buch gegen ein Verständnis von Gott als einem „unentratsamen Koeffizienten … sittlicher Vorgänge im Selbstbewusstsein“245. Bildung umfasst also immer auch eine ideologiekritische Sensibilisierung und zeit- und kulturanalytische Hellhörigkeit. – In jedem Fall käme eine Desensibilisierung wie auch eine Enteschatologisierung, wie A. Schweitzer herausstellt, einem Verrat am Christentum gleich.
D. Fazit – Schlussbemerkungen a) Der Theologe Christian Heidrich schreibt lapidar: „Wer den Menschen schätzt, betreibt Theologie.“246 Die Aussage hält zwar eine genuine Nähe von Theologie und Pädagogik fest; sie droht allerdings auch das Widerständige, Anstößig-Irritierende zu verlieren, das die elementare/ relationale Theologie beschreibt. In jedem Fall ist mit dem Ausweis von Momenten mitmenschlicher Nichtobjektivierbarkeit oder Unverfügbarkeit eine einfache Trennung von Pädagogik und Theologie nicht mehr möglich. Erziehen und Glauben sind implizite Begriffe (vgl. den pädagogischen Grundsatz: Jede/r erzieht jede/n zu jeder Zeit oder den aufklärerischen Begriff der Selbsterziehung). Theologische und allgemein-pädagogische Bildung arbeiten gleichermaßen an Perspektivwechseln, sie reflektieren das dialogisch-mitmenschliche Unverfügbare. Die Pädagogik ist, wenn es um die Kontexte dieser Phänomene geht, auf die Theologie verwiesen. Hier kann sich – wie dargelegt – eine klare dreifache Dimensionierung erschließen. b) Zumindest die gegenwärtige schulische Pädagogik ist gezeichnet vom Optimierungsdispositiv, von vielfachen Anleitungen zur Selbstobjektivierung, zum Zwang der Selbstidolisierung (D. Spreen hat die „Upgrade-Kultur“ luzide dekonstruiert). Das Missverständnis von Pädagogik als Perfektionismus wird durch die hermeneutische Annahme menschlicher Fehlbarkeit und Begrenztheit seit jeher korrigiert und genauso wirksam durch das psychoanalytische „Liebe Dein Symptom wie dich selbst“ unterlaufen. Wegen der pastoralen Imprägnierung des Optimierungsdispositivs ist es erlaubt, von Bildungsreligion als einem konstitutiven Element einer Unterdrückungs- und Verschuldungsmaschinerie zu sprechen.247 Bultmann, R., Jesus, Tübingen (3. Aufl. )1983, S. 142. Heidrich, C., Unmöglich und wunderbar, in: ChrGeg Nr. 12/2015, S. 238. 247 Spreen, D., Upgrade-Kultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft, Bielefeld 2015; wenn Taureck von Überwachungsreligion (vgl. Taureck, B. H. F., Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion, Paderborn 2014), mehr noch W. Benjamin vom Kapitalismus als Religion spricht, ist der Begriff der Bildungsreligion erlaubt. Letztbegriffe der „Entfehlerung“, Perfektionierung haben im Verbund mit „Evaluierungsprogrammen“ oder „Ökonomisierungsideen eine traurige Karriere gemacht. Zu einfach 245 246
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
Bildung meint, in Abwandlung von Aristoteles, zu wissen, was man methodisch anzielen kann und was nicht. Was für das begründende Denken galt, ist auch für die pädagogischen Interventionen und Direktiven wesentlich: Ihre Selbstbegrenzung und nicht ihre Entfesselung ist nötig, um das Nichtobjektivierbare der Interaktion nicht aufzulösen. c) Bildung umfasst immer auch eine Reflexion des Impliziten, ein Wissen um Bindung und Eingebundensein, eine Analyse der Verfänglichkeit der Blicke bzw. die Kritik der Internalisierung der institutionellen, symbolischen Ordnungen. Wenn Goethe formulierte, dass die in der Bildung Tätigen ihre Arbeit geräuschlos leise vollziehen248, so ist dies nicht nur der Tatsache geschuldet, dass geistige Arbeit Ruhe, Konzentration bedeutet. Vielmehr zeigt sich hier wohl auch, dass Vorsicht und discretio angemessene Haltungen gegenüber dem Impliziten und Nichtobjektivierbaren sind und nur so eine Reflexion des Impliziten möglich ist. d) Schönherr-Mann umschreibt den Effekt der Bildung: „Bildung – Allgemeinbildung – braucht man vornehmlich, um aus nichtkonsumistischen Orientierungen einen gewissen Genuss zu ziehen, der den Konsum überflüssig macht.“249 Dies klingt allerdings noch sehr zweckgebunden: Theologische Bildung favorisiert Selbstkonzepte, die sich nicht so leicht in eine Glücks- und Wohlfühlphilosophie einfügen lassen und angesichts der gängigen „Bildungsreligion“ als Rest bezeichnet werden müssen. Sich nach den drei angesprochenen Dimensionen des Nichtobjektivierbaren ausrichten, von ihnen affiziert und bewegt sein bedeutet im relationaltheologischen Sinne: orientiert sein und gebildet werden. Bei den drei Erfahrungs-/Phänomenbereichen handelt es sich um jeweils ganz eigene Logiken, die sich gegeneinander ausschließen. Die Mehrdimensionalität des Relationalen scheint es allerdings erforderlich zu machen, von drei Denknotwendigkeiten relational erfahrbarer letzter Wirklichkeit zu sprechen. Die drei Erfahrungsdimensionen lassen sich nur begrenzt nach dem Muster der Dialektik ineinander übersetzen. Eine Zuordnung zu den Wirklichkeitsdimensionen Lacans bleibt ebenso nicht friktionslos möglich. Der christliche Gottesbegriff meint einen relationalen Gott ohne Grund, ohne Sein und ohne Symbol. (Trinitarisches) Glauben, das sich an den relational erfahrbaren Sinnoptima ausrichtet, bedeutet das dynamische Zusammen von Dank (Geschenk), In-der-Spur-Bleiben (Beanspruchung) und Neuanfang (Überschreitung, Einbruch des Neuen, wäre es, das, was man nicht evaluieren kann, als inexistent oder irrelevant auszuweisen. – Der Kategorische Imperativ lässt sich nicht mit Blick auf eine fehlende Evaluierbarkeit entkräften. 248 Vgl. Goethe im Brief an Charlotte von Stein, 1.12.1807, in: Pieper, J., Über das Schweigen Goethes. Ein Essay, Frankfurt 2012, S. 57. 249 Schönherr-Mann, H.-M., Untergangsprophet und Lebenskünstlerin. Über die Ökologisierung der Welt, Berlin 2015, S. 179.
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Irritation), das perichoretische Ineinander von Fülle, Entzug/Infragestellung und Akt/unmöglichem Ereignis. Die Einheit des Gottesglaubens gründet in der relationalen Erfahrung/ Interaktion als dem gemeinsamen und verbindenden Moment der Offenbarung. Die Aporie der Theologie, keine einfache Universaltheorie der Mitmenschlichkeit, sondern lediglich drei sich gegenseitig ausschließende Theorien anbieten zu können, entspringt der nicht zu vereinfachenden Mehrdimensionalität mitmenschlicher Relationalität. Die Aporie der Theologie ist vor allem kommunikationstheoretisch dimensioniert. Es kann an dieser Stelle ebenso deutlich werden, dass es keine geschlossene Theorie der Öffnung geben kann (Varga von Kibéd).250 Wenn man von einer (christlichen) Logik der Blicke ausgeht (vgl. Simone Weil), lässt sich sagen, dass es sowohl den gütigen, vergebenden Blick gibt, der Dankbarkeit, Beschenktsein, Vertrauen stiftet (A.), ebenso den Blick, der verpflichtet und vor dem man unendlich schuldig wird (B.). Der dritte Blick beinhaltet den Gestus, der zurückblickt, der Ordnungen demaskiert oder depotenziert, einen Blick, der Kulissen einstürzen lässt (C.). Theologie legt der Pädagogik das Verlernen von begründendem Zugriffsdenken, das darin gipfelt, das Sein für vollständig oder abgeschlossen zu halten, und von Opfergesten für die symbolische Ordnung nahe. Die Pädagogik kann zumindest die dreifache Dimensionierung der unverfügbaren Beziehungswirklichkeit überdenken. – Wie Žižek richtig betont, kommt es zum Bilderverbot wegen der übergroßen Nähe Gottes bei den Menschen, nicht wegen seiner nicht zu bewältigenden Ferne und unerreichbaren Transzendenz. In Aussicht steht eine neue Vorsicht gegenüber dem Anderen. Dass der Mensch dankbar eingebunden ist (A.), dass ihm der Blick der/s anderen entgegensteht und ihn tief destabilisiert (B.), dass er in seinem Handeln radikal über sich hinausweisen kann (C.), gehört zur Erfahrung verstörender Nichtobjektivierbarkeit, von denen sich die Pädagogik nicht distanzieren kann. Die vorgeschlagene Theologisierung geht mit einer Elementarisierung bzw. Universalisierung menschlicher Grundunterscheidungen, -optionen einher.
Vgl. Wallich, M., Minusglaube, St. Ingbert 2015, S. 773ff. Zur theologischen Elementarisierungsdiskussion und zur Zuordnung der drei Modelle der Gotteserfahrung zu trinitarischen Personen wären ausführliche Erläuterungen nötig: Der folgende Verweis auf die hegelsche Zuordnung lässt einige Parallelen zum Modell der elementaren relationalen Theologie zu: „Der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende, totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes: das Allgemeine schließt hier alles in sich. Das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die Erscheinung, das Dritte, der Geist ist die Einzelheit als solche, aber das Allgemeine als Totalität selbst ist Geist, – alle drei sind der Geist“ (Hegel; zit. n.: Ruhstorfer, K., Die Grenzen des Unbegrenzbaren. Ein theo-logischer Aufbruch, in: Gutschmidt, R., Rentsch, Th. (Hg.), Gott ohne Theismus? Neue Positionen zu einer zeitlosen Frage, Münster 2016, S. 258).
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7.2 Wissen um das Nichtobjektivierbare
Elementare/relationale Theologie – drei Formationen Gemeinsamkeit
das Immer-Schon-Berührt-Sein mit letzter, theologisch imprägnierter Wirklichkeit, Nähe, Begegnung als unerlässliches Moment der Offenbarung, Identität von Glaubensform und -inhalt, Betonung eines impliziten, universalisierbaren Begriffs des Christlichen, Identifikation unverfügbarer Christus-/Wahrheitsereignisse in der Ich-DuPhänomenalität Bultmann, Buber, Hasenhüttl
Lévinas (Marion, Nancy)
Žižek (Lacan, Badiou)
Ausrichtung
Hermeneutik, dialogische Existenztheologie
Phänomenologie, Ontologiekritik
Psychoanalyse, Idealismus-Rezeption
Fokus Phänomenalität
Eingebundensein in Bergungssphären
Leises Blickgeschehen, Schuldigwerden vor dem Blick des/r Anderen
Akt, Beharren auf den Rest
Problematisierung (Warnung vor …, Kritik an …, Gefahrenmeldung)
Ausweitung des begründenden Denkens, totalitäres Kontroll-/ Sicherheitsdenken
Repräsentation und Selbstdarstellung, Seinsdenken als totalitärer Machtdiskurs
Pseudo-Aufklärung. Kollektivgewalt, Viktimisierung, Ideologie als normale Einstellung
Ausfaltung der Nichtobjektivierbarkeit
Ich-Dukairologische Präenz, Vertrauensangebot, (kommunikativer Neustart, dialogische Neuschöpfung, Luhmann)
das Gesicht des Gegenübers, vorontologische Logik der Offenbarung, asymmetrischer Bezug zum Anderen
das Aktmoment der Universalisierung des Rests und seine Eigendynamik: das Tun, das mehr tut, als es intendiert
Glaubensbegriff
Gottvertrauen als Existenzvertrauen, Verstehen des Augenblicks; Lassen der Selbstbegründung, -objektivierung
Annahme der Verantwortung dem/r Anderen gegenüber (Ethik als Gottesdienst), Inkarnation als „Veranderung“
„Das Trauma ist, dass es Akte gibt.“ – Treue zum Akt/Wahrheitsereignis, Annahme der Leere der Ordnung
Gottesbegriff
positive Eindeutigkeit (actus purus), Gott als Wie der Existenz, nicht als Subjekt, sondern Prädikat, voller Er-Indikativ
Gott als nichtassimilierbare Andersheit, Spur Gottes im Antlitz – Kenosis, Er als leiser Imperativ
Actus impurus, Eigendynamik des ethisch-religiösen Aktes, Kenosis
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7 Linke Hauptkammer: Kritische Einwürfe
Trinitätstheologischer Bezug
Vater-Dimension
Sohn-Dimension
Geist-Dimension (Enteschatologisierung = Verrat)
Bildungsbegriff
Unterscheidungslehre, Sinn für das Nichtobjektivierbare (Entmythologisierung; existentiale Interpretation)
Sensibilität für den Blick/Alltag - Reflexive Passivität (Identität von Theologie/ Pädagogik/Philosophie) (Alteritätsphilosophie)
Arbeit am Aufruhr, theoretische Aufarbeitung von Umstürzen: Denken = Kämpfen; Verweilen im Negativen (Identität von Pädagogik/Philosophie)
Bildungsgrundwert
Vertrauen, Dankbarkeit
Sensibilisierung, Öffnung
Widerstand
Schwerpunkt I
Betonung des Immer-schon, Reflexion des Impliziten, der Einbindung, des Inseins
„dem Anderen ohne Allergie, d. h. in der Gerechtigkeit begegnen“, Blickirritation
Wahrheits-/ Christusereignis als Akt der Universalisierung oder Identifikation mit dem Rest
Schwerpunkt II
Zuspruch, Bejahung, Vertrauensgeschehen
Blick, Forderung, Inpflichtnahme
Eigendynamik der Operation, Leere
Subjektbegriff
Selbstbewusstes, gelassenes Subjekt, Annahme der Fehlbarkeit, Kontingenz
Passivität des Subjekts, Subjekt als angeklagt; verwundbares Ich vor der Selbstauflösung
unaufgebbarer Bezug zum cartesisch-idealistischen Subjekt, Wahnsinn der Vernunft
Lacans Wirklichkeitsdimension – Minusglaube
Imaginäres – Gott ohne Grund/ Begründung
Präsymbolisches – Gott ohne Sein
Reales – Gott ohne Symbol
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung „Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt: sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.“ – Johann Wolfgang von Goethe1 „Von einem gewissen Punkt gibt es keine Rückkehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“ „Dieses Gefühl: ‚hier ankere ich nicht‘ und gleich die wogende tragende Flut um sich fühlen.“ „Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“ – Franz Kafka2
Der Kurzentwurf eines Leitbilds (8.1), der sich der Zitatverweise entledigt, bietet einen Ausgangspunkt für entsprechende Diskussionen in Schulen. Durch die offizielle Sprache und den sehr vermittelnden Duktus wirken die pädagogischen Optionen abgeschwächt; sie lassen sich aber nicht harmonisieren und in ein Passepartout drängen. Ein klareres schulpolitisches Mandat wird im Redebeitrag anlässlich der Auszeichnung als Fairtrade-Schule deutlich (8.2). Auch die Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen weisen in Richtung einer konkreten beruflichen Politisierung (8.3). Daran schließen einfache herzpädagogische Maximen an, die sich nicht zuletzt zahlreichen kollegialen Gesprächen über Überlebensstrategien, die Fremdheit und Zugänglichkeit von Schülerwirklichkeiten verdanken (8.4). Sie gewinnen zurück, was in dem anfänglichen „Werbetext“, der Außenwirkung anstrebt, verlorenging. Das Nachwort zielt auf eine Arrondierung des Diskussionsfelds.
Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 421 (Nr. 413). Kafka, F., Aphorismen, in: ders., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. (228–248) S. 229 (Nr. 5), 240 (Nr. 76), 241 (Nr. 78).
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
8.1 Bildung – zehn Optionen zur schulischen Arbeit (Kurzentwurf eines Leitbilds) „Le sens commun est le Génie de l’humanité.“ „Im Idealen kommt alles auf die élans, im Realen auf die Beharrlichkeit an.“ – Johann Wolfgang von Goethe3 „Sehen Sie mein Freund, wenn Sie genau darüber nachdenken, kommen Sie darauf, dass unsere wirkliche Überzeugung nicht die ist, in der wir niemals schwankten, sondern die, zu der wir am häufigsten zurückgekehrt sind.“ – Denis Diderot4
1) Pluralität und Mehrstimmigkeit – zum Vermächtnis der Aufklärung Das Fundament, auf dem unsere heutige schulische Arbeit steht, ist die humanistisch-ethische Tradition der Aufklärung: Kernpunkt unserer Arbeit ist der Diskurs, die Grundlegung und Vertiefung von (beruflichem) Fach-/Sachwissen, der freie Austausch von Argumenten, die Arbeit am Begriff, die Auseinandersetzung mit Inhalten. Schule braucht demnach eine Kultur des Dialogs. Der Raum, in dem wir uns bewegen, ist eine pluralistische Kultur, die auf Dialog und Offenheit sowie fairen Interessensausgleich und friedlichen Konfliktaustrag setzt. Erziehung geht mit Selbsterziehung einher; Bildung realisiert sich immer als Selbstbildung. Gerade auch für die Ausbildung gilt, dass sie nie gegen die Auszubildenden geschehen kann und Eigenengagement und Interesse voraussetzt. Seit der Epoche der Aufklärung und der Klassik kann man Pädagogik nicht mehr anders verstehen denn als Ermutigung und Befähigung zur Selbstbestimmung. Aufklärung beginnt mit der Überwindung der Furcht und bildet schließlich ein „Bollwerk gegen Grausamkeit“ (Bieri). Gegenüber einer kontext- und strukturlosen oder auch gewissenlosen Datenmüll-Vielwisserei handelt es sich bei Bildung um welterschließendes Orientierungswissen, das die eigene Position sowie Sinn-, Wert- und Bedeutungsfragen reflektiert.
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Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 444, 539 (Nr. 579, 1298). Vgl. Diderot, D., D’Alemberts Traum, in: ders., Philosophische Schriften, hg. v. A. Becker, Berlin 2013, S. 93.
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8.1 Bildung – zehn Optionen zur schulischen Arbeit
2) Zur Offenheit und Unabschließbarkeit des Bildungsprozesses Bildung meint einen Horizont – nicht im Sinne einer unerreichbaren, fernen Zielvorgabe, sondern als Eröffnung eines Raums/Kosmos, in dem erst das menschliche Agieren sinnvoll wird. Das pädagogische „Projekt“, das „Verstehen Lernen und Lehren“, beinhaltet das permanente Wagnis, sich neu zu verstehen, die eigene Perspektive auf das Gegenüber und die Welt hin auszuweiten. Verstehen beginnt mit der Vermutung, dass das Gegenüber Recht haben könnte, mit dem Bemühen, mit den Gedanken des/r anderen mitgehen zu wollen (Gadamer/Hegel), mit dem Versuch, die Welt mit den Augen anderer, mit anderen Augen sehen zu wollen. Insofern sind es gerade der hermeneutische Blick auf die eigene Kontingenz und die Annahme der Begrenztheit, die eine tägliche Herausforderung darstellen und die Basis jedes Erkennens bilden und uns zur Achtung des/r anderen motivieren.
3) Bildung – das Wissen um das Zweckfreie, um die Grenzen des Kosten-NutzenDenkens, des Machbaren Schon Aristoteles gab die Definition von Bildung vor, die noch heute gültig und unvermindert aktuell ist: Bildung ist die Fähigkeit zu unterscheiden, wo Begründungen, Bewertungen, Verdinglichungen und Quantifizierungen nötig/möglich sind, und wo nicht. Er hat damit die Unterscheidung zwischen Ding und Nicht-Ding, zwischen Preis und Würde als wesentlich vorgeschlagen: Seit jeher ist die Zähmung und Einfriedung des Kosten-Nutzen-Denkens, der machtvollen Verdinglichungstendenz ein Grundanliegen von Bildung. Der Bereich der Kultur ist der Raum, der entsteht, wenn Menschen nicht als Mittel eingesetzt und verrechnet, sondern in ihrer Würde ernst genommen werden. – Niemand kann/muss sein Dasein begründen; es ist uneingeschränkt gut, dass sie/er da ist. – Das entscheidend Menschliche, Personalität und Beziehung, entzieht sich grundsätzlich jeder Verdinglichungstendenz. Menschlichkeit entspringt der unbedingten Achtung vor dem, was unverfügbar, nicht verobjektivierbar ist. Bei aller berechtigten Fixierung auf konkrete Abschlüsse darf das Eigentliche nicht vergessen werden. Bildung beginnt, wo Mess-/Testbarkeit, Standardisierbarkeit und Quantifizierbarkeit enden; denn Bildung beinhaltet die „Hingabe“ an Themen (Humboldt), das leidenschaftliche Engagement und Interesse für brisante Fragestellungen, das sich jenseits des Aspekts der Benotung oder Prämierung entfaltet.
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
4) Demokratiefähigkeit – ethische Sensibilisierung und Mitmenschlichkeit Neben dem Erwerb praktisch-anwendbaren Handlungswissens und der Orientierung im Beruf sind die Kontextualisierung und die kritische Reflexion des beruflichen Tuns zentral. Die ethische Frage nach der Verantwortung stellt sich nicht erst auf einer der Schule enthobenen Ebene der Arbeit, Politik oder Forschung, sie ist auf der Ebene der Nutzung/Anwendung und des Konsums immer auch eine konkrete Frage des Lebensstils. Zeitdiagnose ist ein integrales Moment der beruflichen Bildung sowie der Allgemeinbildung. Zur Zeitdiagnose gehört es, soziale Antagonismen und Machtkonstellationen zu analysieren, die Genese von Konflikten sowie den Aufbau von Gruppendruck, die Funktionsweise von Ausgrenzungs-/Sündenbockmechanismen und die Verfänglichkeiten subtiler sozialer Zwänge zu verstehen, so etwa auch die Suggestivkraft der Werbung und konsumistischer Strategien zu durchleuchten. Es gilt das Verwobensein von persönlichen Belangen und politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen, von schulischen und sozialen Grundfragen herauszustellen. Globale Problemlagen, die „große Politik“, haben direkte Auswirkungen vor Ort auf unser Schulleben. Darum sind Nachhaltigkeit, das ökologische Engagement, Klimaschutz Ziele, die auch unser alltägliches Verhalten (Müllvermeidung, Strom-, Ressourcensparen etc.) bestimmen sollten. Unser Freizeitverhalten scheint zwar irreversibel ökonomisiert; die unentgeltliche Nachhilfe-Initiative der Schülervertretung sowie das schulische Angebot von nachmittäglichen Förderkursen stellen sich diesem Trend aber entgegen. Gegen die weitverbreitete defätistische Auffassung, dass man sowieso nichts ändern kann, kann man aufbegehren. Widerständig gilt es, Demokratie heute für konkret-realisierbar zu halten (M. Hardt). Diesem Anliegen fühlen wir uns zutiefst verpflichtet. Eine offene Lernatmosphäre basiert auf einem von Zuvorkommen, Respekt und Geduld geprägten Miteinander. Wir üben einen deeskalierenden Kommunikationsstil ein, der sich von Blaming- und Hass-Attacken nicht provozieren lässt. – Bildung beweist sich gerade im Umgang mit denen, die für uns arbeiten: Wir begegnen denen, die im Hintergrund den Schulbetrieb aufrechterhalten, zuvorkommend und mit größter Wertschätzung.
5) Die Annahme von Fehlbarkeit – wider den Zwang des Perfektionismus „Die Würde des Menschen liegt in seiner Fehlbarkeit“ (E. Benda). Uns unterscheidet von Maschinen, dass wir Fehler machen. Maschinen machen keine Fehler. Gegenüber dem Optimierungsdispositiv, dem perfektionistischen Zwang, „immer gut dazustehen“, dem internalisierten Druck des Selbstdesigns, der medialen Selbstidolisierung und der Fetischisierung des eigenen Ausstellungswerts, setzt Pädagogik auf die Annahme 586
8.1 Bildung – zehn Optionen zur schulischen Arbeit
menschlicher Hinfälligkeit, die Identifikation mit dem Unabgegoltenen/Verdrängten und dem ausgeschlossenen Rest. Pädagogik beinhaltet ein nicht endendes Ringen um Perspektivwechsel und Blickweitung. Denkmöglichkeiten sind auszuloten; das scheinbar Klare und Sichere ist zu verwirren – es gibt nur ein Lernen durch irritierende Fragen. Pädagogik zielt auf die „Erfahrung, dass etwas möglich ist“; „man macht keine Erfahrung ohne die Aktivität des Fragens“ (Gadamer). Gegen eine Banalisierung der Probleme/Themen pflegen wir eine Kultur der Reflexivität und nicht des Aktionismus. Zur Selbstreflexion gehört die Auseinandersetzung mit eigenen Erziehungserfahrungen, die Fähigkeit, sich als „Aufgabe“ zu begreifen (Kafka).5
6) Erziehung als unmögliche Tätigkeit Die Schule stellt einen Freiraum gegen die Verdinglichungstendenzen der Medien und Verrechnungstendenzen der Ökonomie dar. Lehrerinnen und Lehrer stehen in der schwierigen Doppelrolle, Lernpartner und Bewerter zu sein. Eine einfache Lösung des Widerspruchs gibt es nicht. Erziehung ist und bleibt eine „unmögliche“ (immer fordernde, auf Autonomie zielelnde) Tätigkeit: Lernen kann von Lehrkräften letztlich nur vorbereitet, aber nie durch Programme automatisiert erzeugt werden. (Gutgemeinte Instruktionen können wirkungslos bleiben und paradoxe „Sei autonom“-Imperative sind wohl nur begrenzt sinnvoll.) Die Berechtigung zur Erziehung hängt für den Pädagogen und Theologen R. Guardini davon ab, dass man „selbst um sein Erzogensein ringt“: „Dieses Ringen gibt erst die erzieherische Glaubwürdigkeit, dass derselbe Blick, der sich auf den anderen richtet, auch auf mich gerichtet ist.“
7) Lernziel Mündigkeit Bildung kann erst funktional werden, wenn sie nicht (nur) funktional ausgerichtet ist. Sie beinhaltet eine Praxis der Sensibilisierung und überschreitet Fragen direkter Verwertbarkeit. Das schließt die Kritik schleichender Ent-Entfremdung, des Nicht-mehr-Merkens/Ignorierens von Entfremdung, ebenso den Widerstand gegen jede Art von Selbstobjektivierung und bequemer Anpassung ein. Auch wenn Organisationen oder Institutionen häufig den Eindruck
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Wenn in einem offiziellen schulischen Leitbild der Name Kafka vorkommt, ist das schon ein Signal der Hoffnung.
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
vermitteln, dass Systemfunktionalität das Wichtigste sei, gilt das für die Schule nicht. Hier lautet der Generalimperativ nicht, zu funktionieren und Vorgaben ohne eigenen Standpunkt bedenkenlos zu akzeptieren, sondern hier geht es um unablässige kritische, eigenständige Reflexion: Du sollst nachdenken! Don’t believe the hype! Der Sog der Masse und des Schwarms gibt noch keine Gewähr, dass „man“ sich auf einem zukunftsweisenden, sinnvollen Kurs befindet. Jeder weiß mehr, als er verbalisieren kann; und Erkennen gründet in einer Ahnung. „Die Erschließungskraft der Stimmung reicht weiter als die des Verstehens“ (Holhzey-Kunz). Mündigkeit beginnt mit dem Erspüren und Benennen der Formationen der Ausgrenzung oder (Selbst-)Unterdrückung, dem Durchbrechen sprachlosen Hinnehmens oder Erduldens. Emanzipatorische Entwicklungen erfordern die Bereitschaft, sich mit den im Alltag virulenten Machtkonstellationen und den autoritären Strukturen des eigenen Bewusstseins auseinanderzusetzen, dem Wunsch nach klaren Vorgaben, einfachen Lösungen oder deus-exmachina-Vorstellungen. Die Verstrickung in Verhaltensmuster, die einen bequem werden und andere entscheiden lassen, ist groß; schon Kant weist darauf hin. Das Versprechen der Aufklärung lautet aber, dass sie nicht aufgehalten werden kann und eine sich selbst verstärkende Bewegung ist, die Gemeinschaften bzw. die Gesellschaft zu befreien und zu befrieden vermag.
8) Bildung als Weltoffenheit Gerade für eine offene Institution wie die Schule ist es erforderlich, zwischen Theorie und Praxis, Erkennen und Handeln, Innen und Außen keine zu engen oder starren Grenzen zu ziehen. Da Erziehung an verschiedensten Orten über diverse Medien stattfinden kann, realisiert sich Bildung als Weltoffenheit. Auch ohne einen Idealismus zu generalisieren, der im Verschiedenen das Identische oder Verbindende zu sehen vermag, belegt die schulische Praxis, dass es sinnvoll ist, Gegensätze in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu begreifen. Schließlich gehört zum Verstehen die Einsicht, dass die eigene Frage die Antwort bereits bedingt und vorformatiert; die Lösungssuggestionen und Implikationen des eigenen Fragens sind zu erkennen. Im interkulturellen Dialog der Schule und zur Gestaltung einer pluralen Gemeinschaft sind alle aufgerufen, sich mit der Entstehung der eigenen Werthaltungen und den historischen Bedingtheiten der Standpunkte auseinanderzusetzen; dies bedeutet auch, die Fremdheit sich selbst und seiner kulturellen Prägung gegenüber zu ermessen.
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8.1 Bildung – zehn Optionen zur schulischen Arbeit
9) Bildung als Wissen um das eigene Eingebundensein Das Wesentliche ist für Controller-Augen unsichtbar und nichtobjektivierbar: Bildung beinhaltet eine besondere Beachtung und Hegung des Eingebundenseins, der haltenden Umgebungen, der Dimensionen des Menschseins, die nicht verfügbar, nichtobjektivierbar sind. Nur im Bewusstsein der (zwischen)menschlichen Unveräußerlichkeit ist Pädagogik sinnvoll und möglich. Im Kontext eines sich ausweitenden Zwangs zur (Selbst-)Objektivierung und einer Tendenz zur Totalprotokollierung ist diese grundlegende Option längst keine Selbstverständlichkeit und kein Allgemeinplatz mehr. Zu einem reifen Wissen gehört, dass es das eigene Eingebundensein bedenkt, also die Grenzen der Objektivierbarkeit achtet. Gegenüber den zunehmenden Erfordernissen nach Außenwirksamkeit bleibt die alltägliche Lernarbeit, die sich in kleinen, unspektakulären Schritten vollzieht, die pädagogische Wertschätzung des übersehenen Selbstverständlichen oder auch Randständigen, die Kernaufgabe der Schule. Zur Kultur schulischer Nachdenklichkeit gehört gleichfalls, dass die Schule vielfältige Gelegenheiten für Experimente und Veränderungen bietet, ein Testfeld für Ungewohntes, Neues bereitstellt. Kreative-musische Elemente sind in das Lernangebot der Schule integriert, wo sie den Lernprozessen förderlich sind.
10) Pädagogik des Vertrauens und der Ermutigung Für Bildungsprozesse ist eine positive Arbeitsatmosphäre zentral. Zum gemeinsamen Lernen gehören neben ruhigen Konzentrationsphasen Raum für Ausgelassenheit und Spaß; schon für Pestalozzi war Lernen nur in einer heiteren, unverkrampften Umgebung möglich. Den Lehrerinnen und Lehrern liegt viel daran, ein Lernklima der Motivation und wechselseitigen Hilfsbereitschaft zu unterstützen: „Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten“ (Goethe). Überforderungen und Demotivationen können bereits entstehen, wenn SchülerInnen ständig an Idealvorstellungen gemessen werden. Gegen „gierige Institutionen“ und totalisierende Programme ist das Recht auf ein eigenes Lerntempo, eigene Lernfreiräume zu reklamieren. Jeder Mensch hat individuell ausgeprägte Stärken, Talente und Fähigkeiten, die zu fördern eine unverzichtbare Aufgabe der Schule ist. Die Bewältigung weiterer Aufgaben erschließt sich von hier aus. Natürlich bedeutet Lernen auch Mühe und Disziplin; aber das schulische Versprechen lautet: Gemeinsam mit anderen bereitet die Arbeit des Denkens – und natürlich auch die Arbeit generell – Freude und Zuversicht. 589
8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
8.2 Anmerkungen anlässlich der Auszeichnung zur Fairtrade-Schule „Von dem, was sie verstehen, wollen sie nichts wissen.“ „Es ist immer dieselbe Welt, die der Betrachtung offensteht, die immerfort angeschaut und geahnet wird, und es sind immer dieselben Menschen, die im Wahren oder im Falschen leben, im letzten angenehmer als im ersten.“ „Eine Schule ist als ein einziger Mensch anzusehen, der hundert Jahre mit sich selbst spricht und sich in seinem eigenen Wesen, und wenn es auch noch so albern wäre, ganz außerordentlich gefällt.“ „Nur in der Schule selbst ist die eigentliche Vorschule.“ – Johann Wolfgang von Goethe6 „Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.“ – Heiner Müller7
Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns sehr über die Anwesenheit des Landrats und der Fairtrade-Botschafterin. Im Namen des Fairtrade-Schulteams darf ich mich aufs Herzlichste für Ihr beider Kommen und vor allem für Ihr Interesse an unseren Aktivitäten bedanken. Wir hatten fünf Bedingungen zu erfüllen, um Fairtrade-Schule zu werden: Wir thematisieren fairen Handel im Unterricht, wir konsumieren Fairtrade-Produkte, wir unternehmen Fairtrade-Aktionen (SV-Rosenaktion, Nikolaus-Geschenk-Aktion, Fairtrade-Info-Ausstellung mit Verkauf, die Fairtrade-Saftstation beim Solidaritätslauf usw.), wir haben ein Schulteam und einen Fairtrade-Kompass, in dem wir den künftig zu beschreitenden Weg skizzieren. Wir wollen nicht nur für bestimmte Fairtrade-Produkte oder ein bestimmtes Fairtrade-Siegel Werbung machen; die Exponate unserer Ausstellung deuten es an: Wir wollen den FairtradeGedanken in seiner ganzen Differenziertheit stärken, d. h. die verschiedenen Fairtrade-Siegel thematisieren, über die Produktionsbedingungen von Nahrungsmitteln sowie Waren und die
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Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 437 (Nr. 523), 450 (Nr. 603), 464 (Nr. 698), 479 (Nr. 801). Müller, H., in: Lessenich, S., Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016, S. 77. Lessenich erläutert später auf S. 124: „Mit der … Sentenz hat Heiner Müller … das peinliche Geheimnis der Externalisierungsgesellschaft gelüftet und gesagt, wie es ist, … unverblümt und schonungslos; … das ist vulgär, verstörend, unverschämt … Ist er [der Satz] zu stark, sind wir zu schwach.“
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8.2 Anmerkungen anlässlich der Auszeichnung zur Fairtrade-Schule
Macht der Großkonzerne sprechen, die Kleinbauern Preise diktieren oder Lohndumping betreiben, und die Gerechtigkeitsfrage stellen.8 Bei der Auszeichnung als Fairtrade-Schule geht es also nicht um ein Greenwashing oder White Labelling, also eine Form der Augenwischerei oder Umetikettierung, auch nicht um moralische Übergriffigkeit oder Kindergarten-Naivität: Uns ist klar, dass ein Siegel nicht die Welt rettet und wir als Schule noch viel tun können und müssen. Sehr viele Schüler und Lehrer haben den „fairen Handel“ zu ihrem Thema gemacht, nicht zuletzt im Politik-, Englisch- und Wirtschaftsunterricht, im Ethikunterricht oder in der Hauswirtschaft. – Und heute wird an sehr vielen Stellen im Haus, nicht zuletzt in der Mensa und an Essensständen, der Fairtrade-Gedanke aufgegriffen oder direkt umgesetzt. Allerherzlichsten Dank für Ihre Anstrengung, Arbeit, Ihr Mitmachen/Mitdenken und Ihre Mithilfe. Der Dank geht besonders an die mitwirkenden Schülerinnen und Schüler. Das Label „Fairtrade-Schule“ zu erhalten, ist nicht so sehr ein Ruhekissen-Ergebnis, sondern vielmehr ein Auftrag, eine Selbstverpflichtung. Daher darf man Immanuel Fairtrade-Kant zu Wort kommen lassen/paraphrasieren. (Schließlich trägt die Aula, in der wir uns befinden, den Namen des Philosophen.) „Fairtrade ist der Ausgang der Schüler und Lehrer aus der werbeinszenierten Konsumblase. Konsumblase ist der gedankenlose totale Kommerz, die marktverstrahlte Zombi-Existenz, die sich fremdbestimmen lässt und willfährig/bereitwillig die fatalen Konsequenzen des eigenen Konsumverhaltens übersieht.“ „Fair trade bedeutet das Bewusstsein, dass durch jeden Kauf nicht nur Produkte erworben, sondern ganze Produktions-/Handelsketten sowie Arbeitsmodelle gevotet, stabilisiert und ganze Firmenpolitiken gestärkt werden. Reflexion und bewusster Konsum haben an die Stelle des blinden Glaubens an leere Werbeversprechungen zu treten. [Kant muss etwas kompliziert klingen.] Sapere aude! Wage zu denken!, der lateinische Ausdruck heißt eigentlich sehr sinnlich: Wage [die Wirklichkeit] zu schmecken!“ Kurzum: Die Ignoranz hat ihre Unschuld verloren. Wer das Blut und den Schweiß der Geschundenen, die hinter den schönen Verpackungen durch das Einkaufsregal fließen, nicht sieht, ist blind und noch im konsumreligiösen Phantasma gefangen. Fairtrade ist das Platzen dieser Illusion. Fairtrade will die Macht der „Werbeblödmaschine“ (G. Seeßlen) brechen. Wie für alle Aufklärung gilt auch hier die einfache idealistische Zumutung (Kants/Fichtes Imperativ): „Du kannst, denn du sollst“ … „Du kannst anders, denn du sollst anders“ (keine Bildung ohne Idealismus). Jeder weiß um die Produktionsbedingungen von Smartphones bei
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Wenn man es undramatischer formulieren will: Das, was die früheren, nun in der Sekundarstufe II abgeschafften Unterrichtsfächer Geographie bzw. Warenkunde geleistet haben, kann jetzt im Rahmen des Fairtrade-Engagements geschehen.
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
den Zulieferfirmen von Apple, Samsung und Microsoft (Foxconn in Shanghai) oder weiß, dass am hier verarbeiteten Koltan das Blut von Kindersoldaten klebt. Die Haltung: „Ich weiß ja, aber trotzdem mache ich es wie immer“, also die (fetischistische) Realitätsverleugnung, bestimmt zwar unseren Alltag; für Fairtrade-Kant wäre das aber eine zu einfache Ausrede … Die Situation ist allerdings noch eine Stufe diffiziler: Wir müssen uns nicht nur eingestehen, dass uns das Shoppen ein schönes, angemessenes Gefühl gibt; Erlebniskonsum meint nicht nur, dass Einkaufen Spaß macht und zum Selbstzweck wird. Es gilt auch, was Mark Slouka und Slavoj Žižek sagen: „‚Wir werden zu Konsumenten unseres eigenen Lebens‘ [Slouka]. Wir kaufen keine Objekte mehr, wir kaufen letztlich unser eigenes Leben.“9 Ess- und Kommunikationserlebnisse, Romantik- und Kulturevents, werden ebenso gekauft wie die Teilhabe am Lebensstil und die eigene Fitness. Das „gute“ Gefühl, ein umweltbewusster Mensch zu sein, erwerbe ich mir auch durch den entsprechenden Einkauf. Eine Fairtrade-Schule muss also die durchkommerzialisierte Freizeit, die totale Bahnung der Freiheit unter den klar definierten Bedingungen eines globalen Kapitalismus reflektieren. Wie jeder aufklärerische Diskurs zeichnet sich das Fairtrade-Projekt durch eine strenge Orientierung am Inhalt und eine große Zuversicht aus: Der, der wissen und merken will, was er mit seinem Konsum bewirkt oder unterstützt, wird sich dem besseren Argument öffnen.10 Wer weiß, wie kolossal unfair der sogenannte freie Welthandel ist, wird nicht weiter seine Gewinne maximieren und sein Scherflein ins Trockene bringen, er wird nach Alternativen suchen (Erziehung ist Selbsterziehung). Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum, eine der bedeutendsten Denkerinnen derzeit, bringt es in ihrem Buch „Nicht für den Profit. Warum Demokratie Bildung braucht“ auf den Punkt: „Gut entwickelte Empathie ist ein besonders gefährlicher Feind der Stumpfheit und moralische Stumpfheit ist notwendig, um ökonomische … Prozesse zu organisieren, die sich um Ungleichheit (Ungerechtigkeit) nicht scheren. Es ist leichter, Menschen als manipulierbare Objekte zu behandeln, wenn man nie gelernt hat, sie anders zu sehen.“ Nussbaum mahnt vor allem der Wachstumsideologie verpflichtete Pädagogen zum Umdenken.11 Viele Schüler beginnen bei ihren Einkäufen auf die Produktinformationen zu achten und genauer hinzugucken, was sie einkaufen: Wir verstehen, dass wir nicht nur ein Produkt konsumieren, sondern einen ganzen Produktionsprozess und eine Lieferkette, die gerecht oder ungerecht
Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 53. Dass Unrechttun im Grunde aus Unwissenheit geschieht, ist die sokratische Hypothese, die Annahme eines epistemischen Optimismus. 11 Nussbaum, M. C., Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht, Überlingen 2012, S. 38. 9
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8.2 Anmerkungen anlässlich der Auszeichnung zur Fairtrade-Schule
gewesen sein kann, die viel oder wenig Natur verbraucht hat, die die Menschenrechte mit Füßen getreten oder sie geachtet hat. Sehr eindrucksvoll war ein Filmausschnitt aus dem Dokumentarfilm „Welcome to Sodom. Dein Smartphone ist schon hier“ (Florian Weigensamer, Christian Krönes, 2018), in dem der Export von Elektroschrott und die furchtbaren Arbeits- und Lebensbedingungen auf der weltweit größten Elektromüll-Kippe in Accra, der Hauptstadt Ghanas, gezeigt werden. Hier leben über 40 000 Menschen in einer giftigen Umgebung; sie verbrennen unseren Elektromüll oder versuchen ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass sie mit Plastikgehäusen und Elektrokabeln handeln und mit bloßen Händen Metall aus den verschiedenen Brandrückständen herauslösen. Keiner will solche Zustände, aber doch dauern sie an – nicht zuletzt durch unser unbedachtes Konsumverhalten. Das Motto der Kampagne des Familien-Ministeriums „Demokratie leben“ spiegelt die Dringlichkeit des Fairtrade-Anliegens sehr treffend: „Wer, wenn nicht wir!“, „Wann, wenn nicht jetzt!“, „Wo, wenn nicht hier!“ Wir bieten bei unserer „Auszeichnungsfeier“ keinen Chor der Entrechteten oder Konsumgeschädigten und kein drastisches Marktmysterien-Theater (à la Hermann Nitsch) … Die Überreichung der Urkunde geschieht ohne Brimborium und ohne große Inszenierung. Uns ist klar und sehr bewusst: Fairtrade-Schule werden ist leicht, Fairtrade-Schule sein dagegen schwer. Der Philosoph Th. Adorno meinte: „Es ist heute eine fast unlösbare Aufgabe, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ Und es ist auch an Peter Sloterdijk zu erinnern: „Die Grenzen meiner Aufklärung sind die Grenzen meiner Normalität. Aufklärung (endet und) scheitert chronisch am Normalisierungsbedürfnis der Aufklärer.“12 Schule ist also dazu da, sich nicht dumm machen zu lassen, vielmehr den Normalitätsdruck und fatale, letztlich selbstzerstörerische Gewohnheiten/Routinen fundamental zu hinterfragen.
Nachbemerkung: Es ist wohl so, dass Schulen in der Eine-Welt-Problematik längst weiter sein könnten/müssten. Der Hinweis auf Provinzjugendgruppen vor 30 Jahren, die mehr Umwelt-/Fairtrade-Bewusstsein 12
Adorno, Th. W., Minima Moralia. GS 4, Frankfurt a. M. 1997, S. 63 (Nr. 35). Sloterdijk, P., Heinrichs, J.-H., Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 275, 285 und S. 337: „Mit einem Wort, aus Bodenständigkeit lässt sich die menschliche Tatsache nicht verstehen.“ Wer ein drastischeres Finale möchte, kann das eingangs zitierte Heiner-Müller-Statement hinzuziehen.
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
hatten als heutige Schulen, führt nicht weiter. Dass das Engagement heute in inszenierten Formen, sich in Blogs/Posts als Gegenöffentlichkeit formiert und darstellt, hat man zu akzeptieren, wenn man bei entsprechenden Fairtrade-Aktionen mitmacht. Fairtrade will einen Platz in der Aufmerksamkeitsökonomie. Der Einwand, der Fokus auf Handel und bewussten Konsum sei zu eng, ist kaum von der Hand zu weisen; selbstverständlich braucht die Schule nicht nur ein Fairtrade-Team, sondern eine Klima-AG und eine Zukunftsgruppe, die überlegt, wie die Solarzellen schneller auf das Schuldach kommen, endlich die Mülltrennung im gesamten Schulgelände und in allen Klassen durchgeführt wird, die dafür sorgt, dass die nächsten Rechner und das technische Equipment, die angeschafft werden, fair gehandelt wurden etc. Das Tempo, in dem Fairtrade-Produkte in der Mensa etabliert oder auch partiell Fairtrade-Wochen zur Lancierung von Fairtrade-Ideen durchgeführt werden, ist zu langsam. Žižek fordert vor allem, Pseudoaktivitäten zu unterlassen. Aktionismen verhindern das Nachdenken, sie erwecken den Eindruck, schon genug zu tun. Entscheidend ist für den Psychoanalytiker und politischen Philosophen Žižek die Etablierung neuer Gewohnheiten und Bräuche, die Stiftung eines neuen Miteinanders.13 Auf die Formen gestifteter, ermutigender Solidarität kommt es an. „Auf dieser elementarsten Stufe wird sich unsere Zukunft entscheiden. Eine solch ermutigende Form menschlicher Solidarität entstehen zu lassen, ist genau das, wozu der globale Kapitalismus nicht imstande ist.“14
Vielleicht lässt sich sagen, dass die pädagogische Praxis, die das solidarische Miteinander von Schülern und Lehrern, den emanzipatorischen Gedanken, in den Mittelpunkt stellt und eine neue Form des alltäglichen Miteinanders stiftet, als nach wie vor herausfordernd und wirklich neu anzusehen ist. Keiner wird behaupten, dass eine schulische Veranstaltung einen politisch-ethischen Akt initiiert oder gar darstellt. Schließlich muss man nach Žižek sich vom Missverständnis kurieren, 13
Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 140f. Ebd., S. 141: Zygmunt Bauman beschwört eine ähnliche Entscheidung: Die Situation hat der polnische Soziologe in seinem Buch „Retrotopia“ (Berlin 2017, S. 204) lapidar auf den Punkt gebracht: „Entweder wir reichen einander die Hände – oder wir schaufeln einander Gräber.“ Noch elementarer argumentiert Sokrates: Der Wissende ist weise und der Weise aber gut. Heinz v. Foerster aktualisiert das sokratische Wissen um das eigene Nichtwissen: Wer zu sehen glaubt, ist blind, nur der, der um seine blinden Flecken weiß, sieht. – Dass eine Abschwächung der Akttheorie zur Beobachtungstheorie im Sinne Žižeks ist, darf mit Verweis auf viele frühere Veröffentlichungen bezweifelt werden. Die Wertschätzung des elementartheologischen Perspektivwechsels kann hier aber festgehalten werden.
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8.3 Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen
ein Aktereignis wirke als besonderer Einschnitt allein durch sich. Das Ereignis wird durch die Treue zu ihm generiert. Ein Ereignis wird erst Ereignis „rückwirkend durch die Folgen, durch das harte und geduldige „Werk“ der Liebe derer, die für es kämpfen.15 Der Gegensatz zwischen normalem Leben und Ereignis ist also zu dekonstruieren.
8.3 Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen „Eingebildete Gleichheit, das erste Mittel, die Ungleichheit zu heiligen.“ „Man ist nur lebendig, wenn man sich des Wohlwollens anderer freut.“ – Johann Wolfgang von Goethe16
Lieber J., alle, die mit Dir diskutieren, merken sofort, dass Du ein homo politicus bist und dass Du radikal, d. h. auf fundamental-philosophische Weise ökonomische oder soziale Probleme angehst. Du fühlst dich berechtigt, gesamtgesellschaftliche Entwicklungen bereits an unserer Schule wie in einem Brennglas abzulesen, ganz wie Kant, der meinte, dass das Wesen der Dinge auch schon in einer Waschküche zu begreifen ist. Mit einer weiten Perspektive hast Du den Unterricht gestaltet; die Schüler sollten grundsätzliche Fragen stellen. Und das ist ja auch das Beste, was Schülern passieren kann: es mit einem Lehrer zu tun zu haben, der wie du für sein Fach brennt. Die Empfindungslosigkeit der Schüler, ein fehlendes Problembewusstsein, etwa ihr Desinteresse für Arbeitsrecht, das sie doch direkt betrifft, machen Dich bis zuletzt fassungslos. Du ordnest diese Ignoranz als Symptom des kapitalistischen Systems oder als Ergebnis einer erfolgreichen Hypnose/Indoktrination ein. Žižek würde sagen: „Menschen wissen oft genug nicht, was sie wollen, oder sie wollen nicht, was sie wissen, oder sie wollen einfach das Falsche.“17 Du hast in Konferenzen häufig länger gesprochen, zu Deinem Abschied muss etwas Ähnliches passieren. Es sei also erlaubt, etwas auszuholen und einige Deiner Grundanliegen anzudeuten. Als Leitlinie Deines Lehrerdaseins ist hervorzuheben: Dein gewerkschaftliches Engagement I: Gewerkschaftliches Engagement ist bei Dir nichts Aufgesetztes, kein weiteres Modul, sondern integraler Bestandteil Deines Berufslebens. Žižek, ebd., S. 123 unter Bezug auf A. Badiou. Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 380 (Nr. 132), 521 (Nr. 1122). 17 Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 357. 15 16
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
Du kannst nur gequält lächeln, wenn Du hörst, dass Lehrerindividuen allein und ohne organisatorische (berufsständische) Rückendeckung arbeiten wollen. Du hast immer die bildungspolitischen, machtstrukturellen Realitäten im Blick. Dass unser Deputat um eine halbe Stunde gesenkt wurde – wie auf unserem Gehaltzettel ablesbar –, entspringt ja nicht einer gönnerhaften Initiative des Kultusministeriums, sondern geht auf gewerkschaftliches, verbandliches Drängen und Pochen auf Senkung der Wochenarbeitszeit zurück, es wurde der Landesregierung mühsam abgerungen und abgetrotzt. Dass sich die Konstellationen nur zu langsam verändern, muss man Dir nicht sagen. Du bist der Meinung, dass wir Lehrer auch streiken dürfen, Du hast das wiederholt getan; und das Streikrecht für Beamte wird natürlich durch eine Entscheidung beim Europäischen Gerichtshof kommen – irgendwann halt. Dass ich die Werbetrommel für die Gewerkschaften rühre, ist Dir sicher recht, Du sollst aber nicht ein verschwindender Vermittler sein, der hinter einer Bewegung zurücktritt. Dir gebührt heute individualisiert-namentlich unser übergroßer Dank. Du warst über Jahre und Jahrzehnte bei den GEW-Sitzungen eine Kompassnadel, ein Seismograph, Du bist der Ideengeber und Motivator in so vielen Gesprächen, der widerspenstig-kantige Klotz auf der Drehbank, ein ideologischer Zurüster (das ist etwas anderes als ein Sportausrüster oder Design-Ausstatter für Wohlfühloasen). Du hast an allen GEW-Demonstrationen teilgenommen. Auch wenn Du in Wahlkampfzeiten nur 40 Minuten Zeit hattest, bist Du zwischen zwei Terminen dennoch vorbeigekommen und hast buchstäblich die Fahne hochgehalten. Gewerkschaftliches Engagement II: Du warnst davor, dass Schule zum willfährigen Erfüllungsgehilfen und Handlanger von Unternehmensinteressen wird, dass Schule sich unkritisch der Wirtschaft anbiedert. Lobbyismus in der Schule ist eine Vorstufe einer zu erwartenden Wirkungslosigkeit von Schule: das Obsoletwerden von Bildungsinstitutionen wie der Universität hat Hegel schon mit Blick auf die italienischen Unis mit dem bitteren Satz umschrieben: Man toleriert sie wie Bordelle. Wenn Schulen und Unis nicht mehr kritisch denken, „on les tolère comme les bordels.“18 Gewerkschaftliches Engagement III: Du setzt Dich seit Jahrzehnten ganz intensiv für die benachteiligten Azubis ein, die ausgenutzt wurden oder andere Probleme mit sich oder ihren Lehrstellen hatten. Betriebe wurden 18
Ebd., S. 24.
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8.3 Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen
unkompliziert und direkt kontaktiert und an ihre Pflichten erinnert. Ganz ähnlich wie in dem Film „Brazil“ (1985), wenn Archibald („Harry“) Tuttle (gespielt von Robert De Niro) als foreign intruder in geheimer Mission illegal Kabelbrände und Kurzschlüsse repariert, die auf bürokratischem Weg nie behoben, aber in einer langen, dicken Akte dokumentiert würden. Du scheust allerdings auch nicht den offenen Protest für Arbeitnehmer-Interessen, den Streit um das Förder-Programm selbst: Wie T. S. Eliot bist zu der Meinung, „dass es Momente gibt, in denen die einzige Wahl zwischen Ketzerei/Häresie und Unglaube besteht“.19 Denn wenn FörderProgrammen Gelder und Personal gestrichen werden, wird die Arbeit zunehmend schwieriger, klingen die Hilfsvorhaben hohl oder die Programme insgesamt sind nicht mehr glaubwürdig/ überzeugend. Gewerkschaftliches Engagement IV: Du nimmst äußere Widersprüche als innere Konflikte wahr, nimmst politische Probleme sehr persönlich, das ist extrem ungesund, ist bei Hegel und Marx aber ein wesentlicher Schritt bei Veränderungsprozessen.20 Dir ist klar, es reicht nicht, nur äußere Bedrohungen zu sehen, unsere Kultur selbst muss sich transformieren: „Denken heißt, über das Pathos der allgemeinen Solidarität hinauszugehen“21, Abstand zu seiner eigenen konkreten Lebenssituation zu gewinnen; oder wie Upton Sinclair gesagt hat: „Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, es nicht zu verstehen.“22 Die Radikalität Deines Engagements muss sich ja in den Zitaten ein wenig spiegeln. Gewerkschaftliches Engagement V: Kapitalismuskritik ist für Dich ein Leit-Thema auf allen Ebenen Deines schulischen und politischen Wirkens: „Wir wissen nicht, was wir tun“ (Jesus/Marx), oder es gilt für uns die zynische Maxime: „Wir wissen es, aber tun es trotzdem.“ Du meinst: Uns sollte das Ausmaß des Erlebniskonsums bewusst sein, dass „wir also zunehmend zu Konsumenten unseres eigenen
Žižek, S., Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 123. 20 Vgl. ders., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 73. Man muss hinter den Gesetzen Gefühle sehen (Alexander Kluge) oder auch das Barbarische in seinem Niederschlag in den konkreten schulischen Sozialbeziehungen bemerken. 21 Ebd., S. 208. 22 Sinclair, U., zit. n.: ebd., S. 232. 19
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
Lebens werden“, dass wir letztlich Ereignisse, „unser eigenes Leben“, unsere Lebenszeit kaufen.23 Für dich als Ruheständler, der früher in Pension geht und Abschläge in Kauf nehmen muss, ist das ganz offensichtlich. Wenn Kapitalismus eine Herrschaft der Abstraktion ist und bedeutet, dass Verantwortlichkeiten nicht darstellbar und nicht zuzuordnen sind, dass Herrschaft unsichtbar wird,24 so ist es nur verständlich/folgerichtig, dass Dir seit ein paar Jahren die konkrete Arbeit auf Deinem Acker und Naturerfahrungen als Kontrastfolie wichtiger werden. Du willst die Augen nicht verschließen vor den Antagonismen, die unsere Gesellschaft durchziehen. Du pochst auf das, was als Abgrund, Lücke klafft, was nicht funktioniert. Das „Es läuft“, das Funktionieren, kannst Du nie als Sinn ausgeben – ganz im Gegensatz zu Managementlehrern wie Norbert Bolz, die sich damit zufriedengeben: Ganz im Sinne der Ideologiekritik weißt du nicht, was Neutralität oder Objektivität sein soll, man hat immer eine Position/Perspektive, die man nicht wegretuschieren oder ignorieren kann. „Es geht mich nichts an“, ist für Dich keine mündige Haltung. Du fragst nach den Ausgeschlossenen, Zukurzgekommenen. Du wirst wütend, wenn soziale Gräben und Verwundungen einfach ausgeblendet und nicht behandelt werden, ähnlich geht es Dir mit kollektiver Amnesie, wenn dunkle Seiten deutscher Geschichte ausgeblendet und verdrängt werden. Wenn ein Vollblut-Gewerkschaftler des alten Schlags die Bühne verlässt, ist das ein tiefer/ epochaler Umbruch. Rilke meinte einmal: „Wer spricht schon von Siegen, überstehen ist alles.“25 Es geht hier nicht ums bloße Überleben, Rilkes Satz spricht von Standfestigkeit. Der Satz will sagen: Dass jemand wie Du, also mit Deinem kritischen Bewusstsein, in unserem Schulsystem die Ruhestandsgrenze erreicht, sollte allen Jüngeren Mut machen. Bei Žižek geht es um den „Mut der Hoffnungslosigkeit“, und es ist klar, dass nur die Hoffnung wider alle banale Hoffnung eine echte Hoffnung ist. An einem Tag mit drei Abschieden ist klar, was Schule braucht: Charakterköpfe, eigenwillig umtriebige Geister, widerständige Protestler. Variatio delectat; „wir sind Vielfalt“ (das Zitat einer Mainzer Aktion, die ein Kollege initiiert hat). Ich wünsche Dir und natürlich auch G. und A. alles erdenklich Gute und danke Euch für das Fest, das Ihr für uns ausrichtet; das erinnert an den indianischen Potlatsch: Bevor drei alte Indianer aufbrechen, genießen und verbrauchen sie die überschüssigen Gaben in einem rauschenden Fest/Exzess. Mit dem Verweis auf das vollkommen unkapitalistische Sich-Verschenken,
Žižek, S., ebd., S. 53. Ebd., S. 360. 25 Es wurde bei der Feier die genaue Quellenangabe, Rilkes „Requiem“-Gedicht, geflissentlich verschwiegen. 23 24
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8.3 Abschiedsworte an einen Gewerkschaftskollegen
das zweckfreie Sich-Verausgaben der Sonne, das der indianische Potlatsch ja nachahmt, komme ich zum eigentlichen (Schluss-)Punkt: Im Namen der GEW-Schulgruppe ist hier für Dich mit der größten Dankbarkeit ein kleines Geschenk.
Outtake: Man könnte stundenlang Žižek-Zitate vorlesen, um Dein emanzipatorisches Anliegen zu umschreiben, Deinen Versuch, Klartext zu reden. Hier eine Passage, die Deine Einschätzung recht gut wiedergibt26: „Ist nicht die Bürokratie – wie uns Kafka deutlich gezeigt hat – aus Prinzip, also nicht nur aus den kontingenten Gründen einer schlechten Organisation, ineffizient und in ihrem eigenen zirkulären Genießen gefangen? Dem bürokratischen Apparat wird bekanntlich nachgesagt, sein wahrer Zweck bestehe nicht darin, sein Ziel zu verfolgen und die anstehenden Probleme zu lösen, sondern diese Probleme immer wieder neu zu erschaffen und sogar noch zu vergrößern, um so die eigene Existenzgrundlage zu sichern. Die Bürokratie konfrontiert uns daher einmal mehr mit dem Mehr-Genießen, welches nicht durch die Erfüllung ihres offiziellen Zwecks (Lösung eines Problems) entsteht, sondern durch die zirkuläre Selbstreproduktion der eigenen Bewegung. Kafkas Genie bestand darin, die Bürokratie – das Unerotischste, das man sich vorstellen kann – erotisiert zu haben.“ (134)
Žižek meint, dass die Bürokratie unendlich ihre eigenen Abläufe/das reibungslose oder glatte Funktionieren genießt und sich ihre Abläufe spiegelt. Kafka weiß, Bürokratie ist „das Göttliche ins Obszöne verkehrt“; man muss es daher auch im Säkularen und Öden suchen: Kafka „sucht nicht nur danach, er findet es auch im Beamtentum.“ (135) „Es geht nicht darum, das Mehr-Genießen zu verringern und die Bürokratie so effizient wie möglich zu gestalten, sondern darum, das bürokratische Mehr-Genießen als gegeben hinzunehmen und sich darauf zu beschränken, es so umzustrukturieren, dass nebenbei, sozusagen als sekundäre Begleiterscheinung, auch noch ein paar reale Probleme gelöst werden. Auch die anonyme Kälte des bürokratischen Umgangs mit Individuen sollte man zu schätzen ler Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 134ff.
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
nen. Natürlich werden wir von den Bürokraten schlecht behandelt, aber das heißt ja auch, dass wir alle gleichbehandelt werden. Eine Bürokratie, die uns warmherzig und menschlich behandelt, können wir uns nicht einmal vorstellen (außer vielleicht als Roboterstimme, die darauf programmiert wurde); sehr wohl vorstellbar ist dagegen eine Bürokratie, die persönliche Gefälligkeiten einschränkt und alle gleichermaßen ignoriert.“ (137)
8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“ „Prüft alles, und das Gute behaltet.“ (1 Thess 5,21) „L’amour est le vrai recommenceur“ „Der Undank ist immer eine Art Schwäche. Ich habe nie gesehen, dass tüchtige Menschen wären undankbar gewesen.“ „Den Timon fragte jemand wegen des Unterrichts seiner Kinder: ‚Lasst sie‘, sagte er, ‚unterrichten in dem, was sie niemals begreifen‘.“ „Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.“– Johann Wolfang von Goethe27 „Die Welt ist zu kompliziert, um in diesem Labyrinth nicht den Faden unserer praktischen Deduktionen zu verlieren. Die utilitaristische Arithmetik ist ein Hirngespinst, und der Egoist bewegt sich meistens entgegen seiner Absicht.“ – Maurice Blondel28 „Wer universelle Solidarität will, muss selbst universell werden, das heißt, er muss sich selbst als universell betrachten, indem er Abstand zu seiner Lebenswelt gewinnt. Um das zu erreichen, bedarf es harter und schmerzhafter Arbeit und nicht nur sentimentaler Grübeleien …“ – Slavoj Žižek29
Auch „gutgemeinte Ratschläge“ sorgen für Unbehagen und Missverständnisse, sind doch gerade in der Pädagogik einfache Rezepturen grundsätzlich fehl am Platz. Sie setzen ja einen Standpunkt der Belehrung und Besserwisserei voraus, der zu überwinden war. Goethe meinte: „Wer das
Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 534 (Nr. 1256), 543 (Nr. 1346), 531 (Nr. 1232, 1233). 28 Blondel, M., L’Action – Die Tat (1893). Versuch einer Kritik des Lebens und einer Wissenschaft der Praxis, Freiburg 2018, S. 376. 29 Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 258. 27
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8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“
erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande.“30 Umreißen die folgenden Gedanken ein Startfeld, werden sie als Hypothesen zum herzpädagogischen Grundkonsens oder Maximen begriffen, so reduziert sich hoffentlich ihre Anstößigkeit. 1) Ferdinand von Schirach gab die Leitlinie aus: „Weniger urteilen, mehr beobachten“, dem Ratschlag ist fast nichts hinzuzufügen. Originelle Sichtweisen treffen das Interesse der Schüler. Dass man nur mit den Schülern lernen und unterrichten kann, ist klar; Reserven und Bedenken/ Unlust haben ihre Ursachen, und wenn eine Klausur in der nächsten Stunde ist, kann dagegen auch ein pädagogischer Halbgott nicht ankämpfen … 2) Um auf der Höhe der Phänomene zu bleiben, muss man viele Theorien auswerten, sich mit vielen philosophischen Ansätzen anreichern. Der Gang in gute Buchhandlungen (weniger der in Buchkaufhäuser) darf als eine Realisierung der Pflicht zur Fortbildung gelten. (Dass er nie eine offizielle Akkreditierung als Fortbildung erhält, legt schon die Notwendigkeit der Entwicklung einer eigenen Bildungsprogrammatik nahe.) Von Rousseau ist zu übernehmen, dass auch das in der Erziehung zählt, was man lässt, nicht nur das aktive Tun und Intervenieren sind entscheidend. Der Ratschlag von Žižek, Scheinaktivitäten zu lassen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, bedeutet vor allem eine Betonung der Reflexion.31 Die erste Maxime kehrt zugegebenermaßen in Variationen wieder: Was sollte Bildung anderes sein als geduldige Lektüre; womit sonst ständig neu beginnen, wohin sonst immer wieder zurückkehren? Hürlimann umschreibt Lesen als Transzendieren. Neben der Lektüre darf man weiter auf die Tathandlung (Fichte) setzen32, auf das Akt-Ereignis, das Ordnungen infrage stellt und ihre Leerstellen markiert. 3) „Wenn Du Fehler machst, dann in Richtung Güte.“33 Zahlreiche Ratschläge aus der Zitatsammlung „Krach machen!“ – vgl. auch Kapitel 5.2 – wären direkt zu übernehmen. Sie zielen darauf ab, dem Sog der Selbstbestätigung zu entkommen. Wie soll man auf originelle Veröffentlichungen wie die gerade zitierte aufmerksam werden, wenn nicht in den besagten Buchhandlungen? Allzu oft wurde schon kritisiert, dass Internet-Bestellportale zu engen Suchergebnissen kommen und ohnehin keine wesentlichen Einblicke in Publikationen erlauben. Was nützt es, bei Recherchen nur auf Bücher zu stoßen, nach denen man Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 546 (Nr. 1376). Žižek, S., Der Mut der Hoffnungslosigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 395. 32 Blondel, M., a. a. O., S. 264: Unter Bezug auf Fichte spricht auch Blondel von der „Bildung des Charakters durch die Tat“, von dem das Eine verbürgenden Werk (en to ergo ton on, „in der Tat liegt das Sein“, ebd., S. 278). 33 Saunders, G., zit. n.: Krach machen!, Berlin 2018 (Phaidon-Verlag ohne Herausgeber), S. 143. Wer ein klassisches Zitat bevorzugt: „Der eignen Milde folge du getrost“ (der Ratschlag Georg Talbots an Königin Elisabeth, aus: Schiller, Maria Stuart, II/3, V.1342) 30 31
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
gesucht hat, oder algorithmusgestützten Buchempfehlungen zu folgen, die als mit eigenen Interessenschwerpunkten kompatibel präsentiert werden. Das Bildungsbemühen erreicht so kaum die irritierenden Gedanken, gegen die man sich erst wehrt und die einen dann nicht mehr loslassen. 4) Äußere Konflikte sind als innere Konflikte zu verstehen.34 Ein Lehrer, der für sein Fach brennt, nimmt es persönlich, wenn Stundendeputate nicht abgedeckt, seine Lieblingsfächer nicht unterrichtet und damit zentrale Inhalte den Schülern vorenthalten werden. Ähnlich ärgerlich ist es, wenn gegen Beschlüsse der Gesamtkonferenz IT-Abteilungen die Google-Maske weiterhin als Startseite auf allen Internet-Auftritten der Schul-Computer/Activeboards präsentieren und so verhindern, dass Schüler die Verwendung alternativer Suchmaschinen, anonymisiertes Suchen expemplarisch lernen. Selbsttransformation impliziert Veränderungen innerhalb der Lehrerschaft, die Einnahme neuer, anderer Standpunkte/Einstellungen. Wer erkennt, wie sehr Lehrer wie Schüler gleichermaßen in einer Maschinerie zermahlen werden, verfällt nicht in eine einfache Lehrer-SchülerOpposition. Aus Wahrung der eigenen Gesundheit hat es keinen Sinn, sich aufzureiben oder Konflikte aufzukochen, die institutionelle Ursachen haben. Es kann nicht das Ziel sein, sich von Institutionen verbrauchen zu lassen. 5) „Algorithmen kontrollieren“ lautet der Ratschlag von Programmierern aus dem Dokumentarfilm „Systemfehler“ (Florian Opitz, 2018). Die spieltheoretischen, an Wetten und Zockereien orientierten Börsenspekulationsprogramme werden hier von ihren Entwicklern ständig beobachtet, sie wollen ihnen nicht trauen. Ähnliches Misstrauen bleibt gegenüber dem akut, was die neuen Lehrer-Apps und -Tabletprogramme vorschlagen. Lehrersouveränität ist gegen ihre Annullierung, Schwächung oder Einschränkung zu verteidigen und die Verantwortung des Lehrers gegenüber seiner Klasse hervorzuheben. Auch wenn Schulen mit zwei Klassenlehrern arbeiten, bleiben einzelne Lehrpersonen gefragt. Das Lehrerengagement für die eigene(n) Klasse(n) wird von den Schülern beobachtet und geschätzt. 6) Ohne berufsständisches-gewerkschaftliches Engagement ist ein Lehreralltag schwerer zu bewältigen. Es kommt entscheidend darauf an, sich in Verbänden als Interessenvertretung einzusetzen und sich unter ihren Schutz zu begeben. Schließich gehen die Antagonismen mitten durch das Kollegium. Es kommt entscheidend darauf an, die Arbeitnehmerseite zu stärken, ihre Rechte einzufordern und Arbeitsbelastungen zu vermindern. Entlastung ist erforderlich, wenn sich Lehrer nicht über Jahrzehnte verschleißen sollen. Der Anteil des Unterrichts am gesamten Arbeitsumfang beträgt nach Arbeitszeitstudien nur noch 40 %. Die dokumentarischen Tätigkeiten nehmen stetig zu. Jedoch darf die eigentliche pädagogische Aufgabe, die Interaktion mit Schülern, inhaltliche Arbeit, die Durchführung von 34
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8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“
Exkursionen, der Besuch von außerschulischen Lernorten (Museen, Theater), das Einladen von externen Fachleuten, schulgestalterische Aktionen, das gemeinsame Engagement für das Klima, nicht ins Hintertreffen geraten. 7) Auch wenn das theologische Herz, unter dem Vorwand, es zu schützen, in Eisenringen oder mit virtuellen Evaluationsbandagen eingefasst oder sonstwie separiert wird, ist es nicht zu neutralisieren und schlägt frei. Wider die Verfänglichkeit des Perfektionismus schätzt Herzlichkeit das Unfertige und Vorläufige. Schüler sind ebenso für jede Entlastung vom Konformitätsdruck dankbar. 8) Ohne eine herzliche Grundierung, einen freundlich, zugewandt-aufmerksamen Umgang, verbindliche Nettigkeit, ist der Schulalltag nicht zu denken: Übereiltes, unüberlegtes Agieren verletzt meist. Ein vorsichtiges Handeln, das laute Drohgebärden meidet, hilft meist weiter. – Es sind nicht immer die Ursachen für einen unergiebigen Unterricht beim Lehrer zu suchen. – Schüler verlangen keine Lehrperson, die immer weiterweiß. Weshalb sollte der Lehrer seine Ratlosigkeit überspielen? An oberster Stelle der „Nettikette“ stehen Geduld und Nachsicht.35 Es ist hilfreich, Situationen des unfairen Wettbewerbs, die „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel), mit Gesten der Aufmerksamkeit zu durchbrechen. 9) Die Begeisterung für das Fach mitzuteilen, den Unterrichtsstoff nicht zu banalisieren und in einen Reflexionsprozess mit Schülern zu treten, sind wohl Grundelemente einer Schüler wie Lehrer zufriedenstellenden Unterrichtspraxis. Der Modus des „Zuvorkommens“ (vgl. die Kunsttheorie Dickhoffs oder die benediktinische „discretio“) bedeutet keine Anbiederung, sondern ein Klima der Wertschätzung und Anerkennung. Eine klare Grenze zwischen Schülerund Lehrersphäre, die Schüler im Übrigen sehr schätzen, muss nicht Desinteresse/übergroße Distanziertheit bedeuten, auch nicht, dass Lehrer in einer Komfortzone verbleiben. Schüler merken, wenn man diese verlässt und institutionalisierte Privilegien ausschlägt. Fragen, Bitten und Anliegen der Schüler sind natürlich sehr ernst zu nehmen; daneben gilt es, Ängste zu nehmen, zu ermutigen und Zutrauen zu stärken. Zum Klima der Aufmerksamkeit und Achtung im Alltag gehört es auch, leise und kaum artikulierte Fragen/Anliegen von Schülern zu sehen. 10) Gerade in Bezug auf die Leistungsanforderungen gegenüber Schülern gilt eine Ethik des „Ich soll“, die das Modelllernen der Schüler berücksichtigt. Um glaubwürdig zu sein, müssen Lehrer das, was sie fordern, selbstverständlich vorleben.
Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München (8. Aufl.) 2000, S. 404, Nr. 282: „Wenn ich die Meinung eines andern anhören soll, so muss sie positiv ausgesprochen werden. Problematisches hab’ ich in mir schon selbst genug“; und S. 404, Nr. 283: „Ich schweige zu vielem still; denn ich mag die Menschen nicht irre machen und bin wohl zufrieden, wenn sie sich freuen da, wo ich mich ärgere.“
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
Vor allem mit Blick auf kulturwissenschaftliche Inhalte erscheint die Differenz zwischen beunruhigendem Unterrichtsgegenstand und normalisierender Lehranstalt/Schulbehörde/Institution unüberbrückbar. – Wie könnte Kafka unterrichtet werden, ohne konkrete Beispiele bürokratischen Wahnwitzes, die Ohnmacht des Einzelnen in Organisationen und die Verlorenheit des Individuums in sozialen Verleumdungszusammenhängen zu benennen? – Žižek gibt den Ratschlag, nicht auf eine größere Deckung beider Bereiche, also eine Überbrückung oder sekundäre Füllung dieser Diastase, oder ein Gehörtwerden vonseiten des großen Andren zu hoffen. Es kommt vielmehr darauf an, sich nicht-zynisch in dieser Lücke einzurichten und die sich ergebenden (inhaltlichen) Freiräume zu nutzen. 11) Bildung umfasst fortgesetzte (Selbst-)Irritationen, engagierte Selbstreflexionen. Der schulische Herzfaktor steht für eine milde Grundhaltung, eine im Bewusstsein eigener Begrenztheit/ Fehlerbehaftung vollzogene Leidenschaft für das Fach, für Inhalte. (Lehrer vermögen als „Herz-Freaks“ in einem Niemandsland der Faszination für ihre Themen existieren. Ihre MinusIdentität schließt ekstatisch-euphorische Gesten nicht aus, sie bedingt sie geradezu. Lehrer verbleiben aber nicht in ihren Theorie-Reservaten.) Beherzt werden institutionelle Vorgaben überformt und neudimensioniert. Herz bedeutet Souveränität, das Gegenteil von Kleingeisterei. Seine unaufhebbare Nichtobjektivierbarkeit ist eine nichtversiegende Quelle der Widerständigkeit/ Negativität und der Kritik an institutionalisierten Mess-Verfahren und behördlichen Normierungsvorstellungen. 12) Schüler zu ermutigen bedeutet: das Zurückhalten harter Urteile; nicht alle Sorgen, Nörgel-Impulse müssen sofort angesprochen werden. Es kommt auf die Interpunktion an; Überforderungen der Schüler in Form von Druck – auch in für Schüler brisanten Zeiten der Prüfungsvorbereitung – erscheinen kontraproduktiv. Überregulierende Planungsaktivitäten des Lehrers führen eher zur Schülerpassivität und Resignation. Der Imperativ lautet: weniger fordern, mehr vorleben. Die Inhalte und die Begeisterung dafür geben die methodisch-didaktischen Umsetzungen vor, niemals umgekehrt (vgl. Wagenscheins Ansatz). Die herzliche Pädagogik mag sich in der Nähe zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik verorten, sie mag sich gesinnungsethisch ausrichten; Kontrollen und Befragungen, die zum Schutz von Schülern sehr sinnvoll sein können, können die Selbstverpflichtung von Schülern und Lehrern im Sinne von von Foersters „Ethik des Ich-soll“ nicht ersetzen. In dem Blockbuster „Im Auftrag des Teufels“ (Taylor Hackford, 1997; mit Al Pacino und Keanu Reeves) gibt der Teufel in Gestalt des Konzernchefs Milton die Parole aus: „Das ist unser Gebot: Erschlage sie mit Nettigkeit!“ Dieser Imperativ, der einer imperialen Logik der Machtsteigerung entspringt und in einem eindeutig manipulativ-aggressiven und letztlich selbstzerstörerischen Kontext steht, hat selbstverständlich mit herzpädagogischen Optionen nichts zu tun. Herrschafts- und Institutionenkritik bedeuten immer eine Distanz 604
8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“
zu routinierter „Abwicklung“. Schüler können gut zwischen Masche und ernstem Anliegen unterscheiden; sie entschuldigen auch Phasen der Lehrerüberlastung, die unterschiedliche Gründe haben kann. 13) Es gibt für die schulische Arbeit keine festen Grundlagen, die einmal erarbeitet ein Ausruhen und Sich-Zurücklehnen erlauben. Unterschiedliche Klassen und Kurse erfordern immer Neuausrichtungen. Was in der einen Klasse gut funktioniert, wirkt möglicherweise in der Parallelklasse desaströs. Philosophische Vorschläge, etwa eine „Strategie der Subtraktion“ zu verfolgen und sich in vorhandenen Zwischenräumen der Organisation aufzuhalten, bedürfen erst recht einer aktualisierenden Interpretation. „Ein ausgesprochenes Wort fordert sich selbst wieder.“ „Dilettantismus, ernstlich behandelt, und Wissenschaft, mechanisch betrieben, werden Pedanterie.“36
Nicht zuletzt an Goethes Maximen lässt sich die begrenzte Aussagekraft von Rezepten ablesen. „Nicht jeder, dem man Prägnantes überliefert, wird produktiv. Es fällt ihm wohl etwas Bekanntes dabei ein.“37
Goethe erachtet Konstruktivität als ein Wahrheitskriterium: „Was nicht wahr ist, baut nicht“.38 Zur Schwebe seiner Maximen gehört es allerdings, dass er dieses zugleich nochmals relativiert: An anderer Stelle wird deutlich, dass Wahrheit auch unkonstruktive Strecken einschließt: „Das Wahre ist eine Fackel, aber eine ungeheure, deswegen suchen wir alle nur blinzelnd so daran vorbei zu kommen, in Furcht sogar, uns zu verbrennen.“39 14) Goethe problematisiert eine „grenzenlose Tätigkeit ohne Fundament“ oder „tätige Unwissenheit“; er fordert ein gewissenhaftes Betrachten.40 In seinem Sinne ist die Gewinnung von Souveränität Abstand zum mimetischen Mainstream-Druck. Seine „Maximen und Goethe, J. W. v., Maximen und Reflexionen (HA 12), München 2000, S. 512 (Nr. 1036), 482 (Nr. 825). Goethes Aussage „das Fürtreffliche ist unergründlich, man mag damit anfangen, was man will“ (ebd., S. 493, Nr. 903), darf nicht als Ausrede genommen werden, theologische Themen auszusparen. Auch sein Statement, dass „unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, … zuletzt bankerott“ mache, scheint auf dem Hintergrund der herzpädagogischen Diskussion problematisch. 37 Ebd., S. 524 (Nr. 1158). 38 Ebd., S. 410 (Nr. 331) oder S. 409 (Nr. 324): „Das Wahre fördert; aus dem Irrtum entwickelt sich nichts, er verwickelt uns nur.“ Und S. 410 (Nr. 327): „Irren heißt, sich in einem Zustande befinden, als wenn das Wahre gar nicht wäre; den Irrtum sich und anderen entdecken, heißt rückwärts erfinden.“ 39 Ebd., S. 406 (Nr. 291). 40 Ebd., S. 399 (Nr. 149, 150). 36
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
Reflexionen“ kennen – der aktuellen Situation nicht unähnlich – „in einigen Staaten … eine gewisse Übertreibung im Unterrichtswesen“, das Dilemma von Lehrern, „dasjenige, was sie amts- und vorschriftsmäßig lehren und überliefern müssen, für unnütz und schädlich [zu] halten“41. Letztlich finden sich auch bei ihm Worte der Ermutigung, „in der Idee zu leben“, „das Unmögliche [zu] behandeln, als wenn es möglich wäre“.42 Hierfür wird das angesprochene Verzögerungsmoment bedeutsam, ebenso seine Ahnung, dass wir uns „unbewusst“ bewegen, nicht merken, wie sehr wir von dem Jahrhundert, in dem wir uns befinden, geprägt werden. Analogisches Denken, phänomenologische Langsamkeit bieten Ausblicke, die so viel Abstand zur vorherrschenden Praxis aufbauen, um totale Blindheit gegenüber Moden/ Zeitgeist-Suggestionen zu vermeiden. Auf dem Hintergrund des Enthusiasmus, der sich auf die Lernenden überträgt und mit Heiter-Interessantem begeistert, erscheinen Bildungsprozesse möglich, die den Zwangscharakter der Schule transzendieren, „Schule ohne Schule“ real werden lassen. 15) Pädagogikhistorische Exkurse verleihen der Lehrperson Souveränität; kann sie doch auf Beschreibungen und Kontextualisierungen von Unterricht treffen, die das betriebswirtschaftliche Controlling-Vokabular nicht reproduzieren. Sprachliche Alternativen ermöglichen erst die Rekombination und Neuperspektivierung des „Praxisfeldes“. Baudelaire fordert auf, sich der Lebendigkeit der Sprache anzuvertrauen; schließlich kann man Goethes Statement nicht akzeptieren, dass es innerhalb einer Epoche nicht möglich sein soll, „eine Epoche zu betrachten“.43 Das herzpädagogische Projekt kann sich aber die beiden folgenden Maximen Goethes zu eigen machen: „Würde zu geben dem Verschmähten, wünschenswert zu machen das Verworfene, dazu gehört entweder Kunst oder Charakter.“44 „Ebenso geht’s allen, die ausschließlich die Erfahrung anpreisen; sie bedenken nicht, dass die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist.“45
Ebd., S. 387f (Nr. 174). Ebd., S. 382, (Nr. 133). Im Gegensatz zu Žižeks Akttheorie sieht Goethe die entsprechenden Charaktere vonnöten, die diese Idee verkörpern und „so entstehen Ereignisse, worüber die Welt vom Erstaunen sich Jahrtausende nicht erholen kann“. Interessant ist, dass seine „Maximen und Reflexionen“ mit theologischen Überlegungen beginnen und dann zu pädagogischen Fragen übergehen. Žižek verfährt ähnlich. 43 Ebd., S. 503 (Nr. 977). 44 Ebd., S. 492 (Nr. 898); vgl. den biblischen Satz: „Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen“ (Jes 29,14; 1 Kor 1, 19). 45 Ebd., S. 490 (Nr. 885). Der Rest ist natürlich die Theorie: In seinen „Maximen und Reflexionen“ ist ja von der Theoriegeladenheit oder -gedrängtheit der Erfahrung öfter die Rede. 41 42
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8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“
Die Maximen Goethes konkretisieren Baudrillards Aufforderung, zugleich total vital und irreal zu sein. Für Žižek bedeutet unwahrscheinliche Existenz: die Leere der symbolischen Ordnung auf sich zu nehmen, sich mit dem eigenen Symptom zu identifizieren. „Man ist nur dann wahrhaft universal, wenn man radikal singulär ist, sich also in den Zwischenräumen der Gemeinschaftsidentität befindet“; sie umfasst „eine emanzipatorische Universalität außerhalb der Schranken der jeweiligen gesellschaftlichen Identität, eine Position außerhalb der Ordnung des (gesellschaftlichen) Seins“.46 Diese Momente der Selbstrücknahme/Selbstexklusion signalisieren jesuanische Exousia-Souveränität und sind als Treue zu Akt-/Umkehr-Ereignissen herzpädagogisch/theologisch konnotierbar. 16) Die Unterrichtstätigkeit ist als Kunst auszuweisen, nicht nur im Sinne der lateinischen ars als anwendungsnahe, praxistaugliche Technik, sondern auch unter Bezug auf den modernen Kunstbegriff – etwa in Anlehnung an Ecos Konzept des „offenen Kunstwerks“ oder auch an Aktionskunst-Strategien.47 Lehrkräfte können sich so der Evaluierungsübergriffe und Optimierungs- oder auch Digitalisierungsversuche erwehren.48 Der Rekurs auf Kunsttheorie vermag der pädagogischen Praxis einmal mehr ihren subversiven Charakter zurückzugeben und den ureigenen Freiheitsraum auszumessen, der im erstickenden Methodentraining oder in engmaschigen Praxisanleitungen verlorenzugehen droht. Marktradikale Machbarkeitsvorstellungen und enger Bürokratismus geraten im Kontext globaler Herausforderungen (Klima-Krise etc.) ohnehin an ihre Grenzen; nicht zuletzt Ai Weiwei fordert Gesten, die den Blick auf Horizonte eröffnen und neue Perspektiven aufzeigen. Die Betonung des Geschehenszusammenhangs, des Vollzugscharakters des Lehrens und die Fokussierung seiner existentialen Bedeutung unterstreichen das nichtvernutzbare, nichtobjektivierbare Humanum menschlicher Interaktion:
Žižek, S., Gewalt. Sechs abseitige Reflexionen, Hamburg 2011, S. 130. Vgl. Eco, U., Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. (5. Aufl.) 1990. Umberto Eco widerspricht der monologischen Autorschaft des Künstlers. „Offene Kunstwerke“ nennt er Aktionen, Installationen oder Artefakte, die die Rezipienten miteinbeziehen und sie zur Mitarbeit oder „Vollendung“ herausfordern. Unterricht ist im Sinne von Eco konstitutiv als Einladung angelegt. Es handelt sich bei Unterrichtsgegenständen immer um zu vollendende, interpretationsbedürftige, problematische „Werke“. Die das Unterrichtsgeschehen konstituierende Unvollständigkeit entstammt dem schulischen Setting, dem spielerischen Möglichkeitsraum, einer Kultur der Frage und des Verdachts (vgl. B. Groys), die immer weiter betrieben werden will. Unterricht kann so zu einer Feier der Ungleichzeitigkeit und Differenz geraten, zu einem kritischen Diskurs, der sein Scheitern, seine Grenzen und die Thematik des Missverstehens immer mitreflektiert. 48 Die Dreierbeziehung zwischen Ästhetik, Pädagogik und Theologie gilt es in einer gesonderten Publikation zu erläutern. 46 47
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8. Herzbeutel: Zur Perpetuierung der Öffnung
„Was uns einzig bleibt, ist das Teilen unserer Herzenswärme und Leidenschaft mit anderen. … Künstler müssen jeden Tag Grenzen überwinden, um ihren eigenen Ausdruck zu finden. … Kunst kann die Welt verändern! Wenn wir uns gestatten, weiterhin zu träumen und Fantasie zu haben, ist alles möglich. … Kunst kann dieses Wertvollste des Lebens aufzeigen – unsere zerbrechliche Menschlichkeit. … Wenn ein Künstler kein Aktivist ist, ist er ein schlechter Künstler. Kunst muss Werte bestimmen und Bedeutung herstellen. Kunst war immer aktivistisch, wenn es darum ging, das Bewusstsein und das moralische Urteil zu hinterfragen.“49
17) Adorno ermutigt die Akteure in den diversen Erziehungskontexten, ihre Autonomie zurückzugewinnen und sich ihre Empfindungsfähigkeit nicht eintrüben zu lassen. Sensibilisierung bedeutet für ihn eine Kritik omnipräsenter Bewertungskontexte und übernormierter Lernprozesse: „Fürchtete ich nicht das Missverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe … Heute ist Wissenschaftlichkeit in einem Maß, vor dem einem schaudert, ihren Jüngern zu einer neuen Gestalt der Heteronomie geworden. Man wähnt, wenn man nach wissenschaftlichen Regeln sich richtet, dem wissenschaftlichen Ritual gehorcht, gerettet zu sein. Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion des Tatsächlichen, in der Wissenschaft erst bestünde. Der Panzer verdeckt die Wunde. Das verdinglichte Bewusstsein schaltet Wissenschaft als Apparatur zwischen sich selbst und die lebendige Erfahrung. Je tiefer man ahnt, dass man das Beste vergessen hat, desto mehr tröstet man sich damit, dass man über die Apparatur verfügt.“50
In den Schulen macht Adorno eine Fetischisierung vorgegebener Verfahren und Techniken aus, die an die Stelle von konkretem Erleben und direkter Beziehung treten. Er misstraut der „Leitbildideologie“, die „dem Jargon der Eigentlichkeit entstammt“, einen festen Rahmen vorgibt und mit der Autonomie der betroffenen Lehrkräfte und Schüler kollidiert;51 vor allem bricht Adornos Erziehung zur Mündigkeit mit dem schulischen Konkurrenzdenken: „Ich bin völlig der Ansicht, dass der Wettbewerb ein im Grunde einer humanen Erziehung entgegengesetztes Prinzip ist. Ich glaube auch, dass ein Unterricht, der sich in humanen Formen abspielt, keineswegs darauf hinausläuft, den Wettbewerbsinstinkt zu stärken.“52 Mündigkeit bedingt also die Ai, W., Manifest ohne Grenzen, Hamburg 2019, S. 161, 163, 165, 167, 169. Adorno, Th. W., Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt a. M. 1971, S. 40–45. 51 Ebd., S. 106. 52 Ebd., S. 126. Nach Adorno darf Schule nicht dem mimetischen Vergleich, Neid und Angst vor sozialer Ausgrenzung, Vorschub leisten. Das Agonistische wird hier als Quelle von Gewalt ausgemacht. 49 50
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8.4 Herzpädagogische Maximen für eine „Schule ohne Schule“
Auseinandersetzung mit dem eigenen Wunsch nach triumphaler Selbstbestätigung und den Sehnsüchten nach festen Sicherheiten und klarer Führung. Unterricht hat also „überwältigende“ oder polarisierende Strategien zu meiden, vielmehr Widerspruch und Widerstand zuzulassen und zu kultivieren sowie zu subtilen Reflexionen anzuleiten, die mit der Ausweitung von Erfahrungsmöglichkeiten korrelieren. Das Prompte ist nach Adorno mit Feinsinn zu überwinden; der Frankfurter Philosoph redet davon, Erziehung könne über „Differenziertheit“, „Vergeistigung“ und „Spiritualität“ Menschen „zart … machen“53 und so kollektiven Barbarisierungstendenzen entgegenwirken. Gerade auf dem Hintergrund der adornoschen Aufforderung, die eigene Ohnmacht als Ausgangspunkt der Erfahrung mit zu bedenken, kommt dem Lehrer wohl weniger die Rolle des souveränen Classroom-Managers zu, vielmehr die des geduldigen Zuhörers, klimaempfindlichen Analytikers und ermutigenden Ideengebers, der die Schüler auf offene Perspektiven hinweist und zu alternativen (solidarischen) Handlungsweisen anstiftet, der aber auch klare Grenzen einfordert, wo Regression droht. 18) Andreas Gelhard schlägt vor, Adornos Begriff von Bildung als „Widerstand gegen Verdinglichung“ zu pluralisieren:54 Bildung schließt auch die Praxis der Entäußerung, Entzweiung, der fortgesetzten Selbstirritation ein. Mit „negativer Bewährung“ (vgl. John Keats) meint der Autor wohl das, was Žižek im anderen Kontext als das Auf-sich-Nehmen des Nichtfunktionierens der Ordnung, als Aushalten und Nichtkaschieren ihrer Leerstellen beschrieben hat. Dabei scheint klar, dass Hingabe nicht mit marktgängiger Anpassung verwechselbar wird. Sie bezieht sich nicht auf eine Selbstausbeutung in kapitalistischen Produktionsabläufen, sondern vielmehr auf die Beziehung zu anderen, den Vollzug des Bei-anderen-Seins und auf Reflexionsprozesse. Aus theologischer Sicht bleibt die Projektbeschreibung „Andenken des Nichtobjektivierbaren“ bedeutsam.
Ebd., S. 133. Und S. 116: „Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit … miteinander identisch.“ Der mündige Mensch droht ständig unmündig zu werden, „denn der Mechanismus der Unmündigkeit ist heute das zum Planetarischen erhobene mundus vult decepi, dass die Welt betrogen sein will“ (ebd., S. 146f). An dieser Stelle setzt das „Madigmachen“ ein, die Kritik des Konsumismus und das Aufzeigen der Schattenseiten unseres Lebensstils. Es geht nicht darum, „lämmchenhaft“ das Barbarische zu ertragen“ (129) oder die „unermessliche Last der Verdunkelung des Bewusstseins durch das Bestehende“ zu verkennen (108). 54 Adorno, Th. W., zit. n.: Gelhard, A., Skeptische Bildung. Prüfungsprozesse als philosophisches Problem, Zürich 2018, S. 396. Der Autor stellt präzise dar, wie tief Selbstobjektivierung und Selbsterkenntnisprozesse miteinander verquickt sind; in der philosophischen und theologischen Tradition bildet nach Gelhard aber ein skeptischer Ansatz einen Ausweg, der Öffnung und Selbstkritik ermöglicht. 53
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort „Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.“ – Franz Kafka1 „Das Vorspiel muss sich in ein Nachspiel verwandeln. … Alles, was ein Philosoph schreibt, – alles, was ich geschrieben habe –, ist nichts als ein Proömium zu einem ungeschriebenen Werk. Philosophie kann nur von der Art … eines Proömiums oder eines Epilogs sein. … Der Abschied vom Wort fällt mit seiner Ankündigung zusammen.“ – Giorgio Agamben2
Was konnte die zitatreiche Betonung des Widerstands, der Negativität und Eigengesetzlichkeit von Bildung erreichen? Ist ein Rekurs auf Adorno, Deleuze oder Lévinas, Rancière, Žižek, Agamben u. a. unumgänglich? Žižek wandelt einmal die Rede Heideggers vom Haus des Seins ab und spricht von diesem als Folterkammer, denn der Sprache müssten die Wahrheiten qualvoll abgerungen werden.3 Geistige Prozesse verlaufen gemäß eigener Logik und lassen sich gewiss nicht institutionalisieren oder zähmen. Wendet sich das Individuum offen von institutionellen Rahmengebungen ab, reklamiert es lautstark Freiheiten für sich, ist die Frage erlaubt, in welcher Weise es an die Ordnung oder den großen Anderen gebunden bleibt. Žižek plädiert dafür, bei offenen Konflikten die leise Bindung an die Ordnung, das eigene Orientierungsbedürfnis nicht zu übersehen. Andererseits schlägt A. Badiou die Strategie der Subtraktion vor, d. h. angesichts der Nichtexistenz des Anderen, des Nichtfunktionierens von Systemen Eigenverantwortung zu übernehmen.4 Kafka, F., Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt a. M. 2008, S. 233 (34). 2 Agamben, G., Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M. 2018, S. 156f. 3 Dies ähnelt der talmudischen Auffassung von der ungeheuren Anstrengung, die bei der Interpretationsarbeit aufzubringen ist; daran erinnert neben G. Steiner und E. Lévinas auch B. Lévy, in: Houellebecq, M., Lévy, B.-H., Volksfeinde. Ein Schlagabtausch, Köln 2016, S. 248: „damit Leben ist, muss man die guten Funken aus dem bis zur Weißglut erhitzten Stein heraushauen: die Wörter – das ist das Herzstück des Talmuds. Die eigentliche Logik des Lebens, sein eigentlich grundlegendes Element ist nicht die Zelle, die DNA etc., sondern das blasse Gewebe des Signifikanten, die feinen Ränke der Wörter.“ 4 Žižek widmet seine Monographie „Die gnadenlose Liebe“ (Frankfurt a. M. 2001, S. 10) einem unbekannten rumänischen Geheimdienstler, der 1991 nach dem Zerfall des Ostblocks – offensichtlich 1
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort
Bildung stemmt sich in unwahrscheinlicher Weise gegen Zeitgeist-Phänomene, Moden und internalisierte Optimierungssehnsüchte. Sie verwehrt sich gegen Diktate von außen und digitales Zerstreuungsmanagement. Das Subjekt taucht in literarische oder philosophische Sichtweisen/Welten ein und erschafft sich eine Heimstatt, indem es sich in der Nähe von Zitaten einnistet und in Zwischenräumen von Denksystemen und ihren Bruchlinien neue Fragehorizonte ausmisst.5 Bildung folgt ihrem eigenen Lehrplan. Sie ist nicht planbar oder regulierbar. Vor allem stellt sie nach George Steiner ein „schrecklich gefährliches Unternehmen“6 dar. Dabei scheint eine etwaige Überforderung durch Stofffülle noch das geringste Problem zu sein. Komplexität kann als belastend empfunden werden, aber äußerst heikel und buchstäblich gefährlich bleiben die Aneignung der Radikalität der großen Fragen, die Übernahme philosophischer Zuspitzungen, die Erfahrung existentieller Abgründigkeit. „Dazu sind eben nur Menschen fähig. An sich zu wachsen, nicht zugrunde zu gehen. … Es gibt ein Wort, das aus dem Sprachgebrauch verschwunden zu sein scheint … Es eignet sich nicht als Hashtag, wahrscheinlich tönt es zu leise: Demut.“7
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verunsichert hinsichtlich des Sinns seines Arbeitsauftrags – nicht mehr streng kontrolliert. Er meldet sich bei einem Anrufer, dessen Auslandsgespräch er gerade abgehört hat, erläutert sich-entschuldigend seine Pflicht als Abhöroffizier und bedankt sich dafür, dass dieser sich so positiv über sein Land geäußert hat. – Es scheint schon sehr viel gewonnen, einen freundlicheren Überich-Blick auf sich und seine Arbeit einnehmen zu können. Derartige versöhnliche Passagen und positiven Ausblicke finden sich in dem ansonsten eher schroff wirkenden Werk des Psychoanalytikers selten. Jedoch wäre die pädagogische Arbeit vor Ort unmöglich, würden nicht ständig für von Regeln übersehene Ausnahmekonstellationen praktikable Zwischenlösungen gefunden. Dass sich Lehrkräfte nicht auf enge Standpunkte zurückziehen und Grausamkeiten produzieren können, legt nicht zuletzt der kategorische Imperativ nahe, der verhindert, die eigene Unerbittlichkeit mit entschuldigendem Verweis auf die eigene Rolle auszuagieren. Das eigene Tun und die Handlungsoptionen gilt es – das stellen Žižeks Kantinterpretationen vielerorts heraus – immer vollends zu subjektivieren. Tolokonnikowa, N., Anleitung für eine Revolution, Berlin 2016, S. 215: „Mach Weltoffenheit zu deinem Beruf!“ und S. 124f: „Hochschuldiplome oder Beamtenposten bedeuten noch lange kein Gespür für den Zeitgeist oder kulturelle Kompetenz. Humor, Albernheit oder Respektlosigkeit können auch zur Wahrheit führen. Die Wahrheit ist vielseitig und Bewerber darauf gibt es eine Menge. Sehr unterschiedliche. Unterschiedliche, aber gleichberechtigte.“ Steiner, G., Der Meister und seine Schüler. Lessons of the Masters, München Wien 2004, S. 118. „Der lebende Meister nimmt in seine Hände das Innerste seiner Schüler, den zerbrechlichen und entflammbaren Stoff ihrer Möglichkeiten … Groß zu lehren heißt, im Schüler Zweifel zu wecken, ihn zum Andersdenken auszubilden. Es heißt den Jünger für die Abreise zu schulen (Geht nun davon, gebietet Zarathustra). Ein richtiger Meister sollte zum Schluss allein sein.“ Bessing, J., RIP#. Lemmy! David Bowie!! Prince!!!; in: Die Zeit vom 4.5.2016, Nr. 20, S. (55f) 56: „Wir verabschieden unsere Toten immer schriller und lauter. Dabei kann man Trauer weder teilen noch mit-
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort
Der Autor Joachim Bessing meint, dass wir uns einzig selbst zur Demut erziehen können; die interpretatorische Arbeit kennzeichnet eine Haltung des Respekts vor Tradition/kulturellem Erbe. Es scheint unsinnig, derartige Haltungen evaluieren zu wollen. Bessing wurde durch den Tod von Künstlern, die er bewundert, zur Ehrfurchtshaltung angestiftet; es verstört ihn, dass nach hastig-kurzem Innehalten auf übliche Weise Tod und Sterblichkeit übergangen und verdrängt werden. Georg Büchner kritisiert in einem Brief vom Februar 1834 an seine Familie ebenfalls die unsensible Blasiertheit vorgeblich gebildeter Kreise gegenüber unterprivilegierten Bevölkerungsschichten: „Ich verachte Niemanden, am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, ein Dummkopf oder Verbrecher zu werden. … Der Aristokratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn kehre ich seine Waffen. … Die Lächerlichkeit des Herablassens werdet Ihr mir wohl nicht zutrauen. Ich hoffe noch immer, dass ich leidenden, gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe.“8
Die Verfänglichkeit einer hegemonialen (dem kapitalistischen Ungeist entsprungenen) Pädagogik ist groß. Büchners Aussage tritt gleichermaßen bildungstheoretischem Aristokratismus und akademischem Dünkel entgegen. Es wurde hier ebenso dafür plädiert, den „Geist nicht auszulöschen“ (1 Thess 5,19), den Bildungsprozess durch Kontrollregime nicht zusätzlich zu erschweren. Nicht zuletzt der Respekt vor literarischen oder pädagogischen und philosophisch-theologischen Traditionen gebietet eine Begrenzung des Standardisierungs-/Operationalisierungsstrebens. Herzensbildung ist eine Pädagogik des Anstoßes und der Begleitung von „Chocks“ (Benjamin), die sich zwangsläufig einstellen, der Achtung und Vorsicht vor der Eigenkonstruktivität des Schülers. Die argumentative Einordnung von Impressionen oder Kontextualisierung von Zitatfragmenten verfolgt einen pädagogischen Effekt. Es sollte deutlich werden, dass philosophisch-theologische Inhalte schon genuin pädagogisch sind, nicht zuletzt weil sie Unterrichtsräume und Handlungshintergründe auskleiden oder gar neu eröffnen. Die Pädagogik des Herzens wächst auf einem rhizomatischen theologischen Grund. Nach Lévinas verkennt ein positivierender, evaluierender Zugriff gänzlich die
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teilen. – Hat man als Toter Glück im Unglück, dann stirbt man in einer Woche, in der gerade noch die Trauerfestspiele für einen anderen großen Namen laufen.“ Büchner, G., Brief an die Familie, Februar 1834; in: Büchner, G., Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. v. K. Pörnbacher, G. Schaub, H.-J. Simm, E. Ziegler, Frankfurt a. M. (8. Aufl.) 2001, S. 285.
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort
Kulturarbeit des Subjekts und dessen Offenheit. Zahlreiche kritische Stimmen aus den Bereichen Philosophie, Sozialwissenschaft und Theologie unterstützen die Distanznahme zur herrschenden QM-Ideologie. Die Metapher vom Herzen sollte die Atmosphäre der Zugewandtheit und Wohlgesinntheit andeuten, die Bildung braucht, ein Zutrauen zum Selbstfindungsprozess, zum Autonomiestreben werdender Subjekte. Ohne Herzdimension, die auch Freude und Begeisterung für das Lernen impliziert, blieben Bildungsprozesse unfruchtbar. Schon Fontane warnte vor der „Verlederung des Menschen“, seiner Erstarrung in Examenskorsetts. Ohne Herzlichkeit wäre kein gemeinsames Lernen möglich; der lebendige Anstoß, sich auf mühevolle Lernprozesse einzulassen, fehlte … Es war viel von Bildung oder auch von Schule die Rede. Im Titel wurde aber vom theologischen Herzen der Pädagogik gesprochen. – Schulische Bildung wurde lediglich als Spezialfall von Entwicklung und Anwendungsform von Lernen begriffen, als Mikrokosmos, der eine Übertragung auf weitere Felder der Pädagogik erlaubt. Falls der Bildungsbegriff die Inhaltsseite des Lernens stärker betont, so sind mit dem Fokus auf Pädagogik die zwischenmenschlichen Momente und Prozesse der Subjektbildung hervorgehoben, die theologisch gedeutet werden können. Die hier entfaltete Herzmetaphorik widersteht Ganzheits-, Einheitssehnsüchten, es war vom offenen (entblößten) Herzen die Rede, ebenso von der widerständigen Archäologie des Herz-Artefakts. Die Betonung der Eigendynamik von Bildung zielte auf eine Stärkung der Eigentätigkeit der Beteiligten und eine Abwehr lästiger Kontrollzugriffe von außen. Das Plädoyer für die Offenheit der Bildung, für einen Abbau ministerieller Reglementierungen oder Abstand von verwaltungstechnischen Bevormundungen kann theologisch begründet und eingebettet werden in eine Theologie der Offenheit und Implizierung.9 Wurde in der Diskussion um Säkularisierung versus Sakralisierung der Pädagogik (Osterwalder) eine klare Option ergriffen? Es wurde für eine säkulare Theologie geworben, eine Theologie, die erfahrungsnahphänomenologisch argumentiert und aufgrund ihrer relationalen Ausrichtung pädagogikaffin erscheint. Als Dialogpartner der Pädagogik wurde die elementare relationale Theologie favorisiert (vgl. 7.2). Pädagogische Empiriker werden womöglich den vorliegenden theologisch-imprägnierten, herzpädagogischen Entwurf als abwegig abtun und schnell ausgrenzen. Sie können aber nicht übergehen, dass Lehrer und Schüler in den Schulen vor Ort eigenwillig Bedeutung/Sinn
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Mit der Zitatfülle und dem Plädoyer für eine Theologie, die sich auf Bultmann, Lévinas und Žižek bezieht, mag man die Aufforderung zur weiteren Lektüre ableiten. Im Eigentlichen geht es um die Nachahmung von Kluges (poetischem) Sammelvorgang. Die Suche nach erhellenden Zitaten hört nie auf.
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort
generieren; auch verhindern die Kerncurricula und Rahmenvorgaben nicht, dass Nischen besetzt werden, die zu Sinnoasen auswachsen, dass inoffizielle Lehrpläne entstehen und widerständige Interpretationen gepflegt werden. Schließlich gründet Handlungsfreiheit oder auch Gesinnungsfreiheit immer in der Interpretationsfreiheit. Herzschläge, die aus der Reihe tanzen, mögen dazu dienen, die Ordnung insgesamt aufrechtzuerhalten. In ihnen verschafft sich allerdings eine Tradition Gehör, die sich einem totalitär sich gebärdenden Funktionalismus widersetzt. Und Kardiologen bestätigen, dass Irregularitäten und Ausnahmen die Regel sind. Das eigenwillige Herz stellt einen nichtkolonisierbaren Rückzugsraum dar, es bildet die Quelle eigenwilliger pädagogischer Initiativen, mitfühlender Solidarisierungen mit den Schülern, die Brutstätte für subversive Gegenkonzepte, das kontrafaktische Pochen auf den Zuspruch, Vertrauen für die Stiftung der Entwicklungsgemeinschaften von Schülern/Lehrern. Die Rede vom „Herz der Pädagogik“ reklamiert in Anlehnung an Dörpinghaus eine im umfassenden Sinn bildende Erziehung, den Prozess der Persönlichkeitsbildung, der eine kritische Reflexion über Weltbilder einschließt, den Beitrag von Tradition bei der Neuausrichtung von Perspektiven. Und nach W. Benjamin gibt es das wirklich Neue stets aus einer Neuinterpretation des Vergangenen heraus. Systemiker10, aber auch Lacan, umschreiben Neuinterpretation als Wirklichkeitsneukonstruktion. Lacan spricht davon, dass eine Veränderung in der Signifikantenkette eine Modifikation „in der Vertäuung des Seins“ erwirkt.11 Lévinas betont diesen magischen Moment der Verlebendigung toter Begriffe als im eigentlichen Sinn religiös:12 J.-L. Marion eilt ihm zur Seite: „Die Theologie lässt ihre erste Voraussetzung, jene, die über alles entscheidet, so lange radikal ungedacht, als sie den Diskurs, den der Glaube vorträgt, nicht durch Liebe rechtfertigen und letzten Endes in Liebe umschreiben kann. (…)“13
Arnold, R., Entlehrt Euch! Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn, Bern 2017, S. 156, zitiert Peter Senge, der Umdenken als ein (jesuanisches) Metanoia-Moment beschreibt und erläutert: „Die lernende Organisation ist der Ort, an dem Menschen kontinuierlich entdecken, dass sie ihre Realität selbst erschaffen.“ 11 Lacan, J., zit. n.: Pornschlegel, C., Allegorien des Unendlichen. Hyperchristen II. Zum religiösen Engagement in der literarischen Moderne: Kleist, Schlegel, Eichendorff, Hugo Ball, Wien Berlin 2017, S. 291. 12 Lévinas, E., Außer sich, S. 106: „Dasjenige Leben, das die Unbeweglichkeit der Begriffe und Lebensgrenzen in einem präzisen, lebendigen Sinn überwindet, heißt Religion.“ 13 Marion, J.-L., Die Strenge der Liebe, in: Casper, B. (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg München 1981, S. 166. Ganz ähnlich haben das E. Fuchs und H. Ebeling formuliert. Nach dem Odenwald-Skandal und den kirchlichen Missbrauchsskandalen, ihrer schleppenden Aufarbeitung sowie institutionellen Vertuschungsversuchen scheint der Hinweis nötig, dass die herzpädagogi10
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Nachwort – Widerwort – Dankeswort
Der Liebesbegriff ist von den griechischen Begrifflichkeiten her mehrstimmig (eros, agape oder philia) er darf hier herzpädagogisch und im Sinne der elementaren relationalen Theologie mit „Mitmenschlichkeit“, die auch das schulische Miteinander konstituiert, übersetzt werden. Agamben reflektiert in seiner Methodenschrift drei Verfahren der Philosophie: das Paradigma, die Signatur und die Archäologie. Das Herz als pädagogische Kategorie wurde paradigmatisch-phänomenologisch beschrieben.14 Es wurde in seiner besonderen Signatur dargelegt, die sich verobjektivierenden Zugriffen entzieht.15 Schließlich wurde archäologisch eine Nähe von Theologie und Pädagogik offenbar, wobei relationale Theologie/Theologie der Beziehung als alltagsrelevante Theologie des Herzens dargelegt wurde. Foucault meint, dass der menschliche Körper „der Hauptakteur aller Utopien“16 ist. Dem Körper werden Vergegenwärtigungen des Erhofften zugetraut. Nach Foucault widersetzt sich der Körper aber auch zugleich diesen Utopien, wenn er das Ersehnte vorwegnimmt, relativiert oder umformt. Hier erscheint Lévinas’ Phänomenologie der Leiblichkeit präziser und kritischer gegenüber der griechischen Präsenzlogik: Der menschliche Körper bildet eine fremde Zeitlichkeit aus, die eine Selbstgegenwart unabänderlich verhindert: Er erzeugt eine Spur, eine
sche Metaphorik in keiner Weise körperliche Übergriffe zu legitimieren hilft. – Goethe formuliert in seinen „Maximen und Reflexionen“ (HA 12, München 2000, S. 527, Nr. 1189): „Eine richtige Antwort ist wie ein lieblicher Kuss“; ob der Verweis auf diesen Vergleich möglich ist, ohne Tabubrüche und Grenzverletzungen zu assoziieren, ist fraglich; Goethe hat allerdings eine unverdächtige geistige Nähe zwischen Fragendem und Antwortendem im Blick, die auch den Eindruck des Verstandenwerdens in der Beziehung des Lesers zu einem Autor einschließt; vgl. auch: Köffler, N. M., Steinmair-Pösel, P., Sojer, Th., Stöger, P. (Hg.), Bildung und Liebe. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2018. Zwei der Herausgeber Köffler und Sojer unterstützen den herzpädaogogischen Ansatz, sie nennen Gründe, „warum die Fakultas des Herzens das Fundament der Bildung bleiben muss“ (Köffler, N. M., Sojer, Th., Bildung exklusive [Liebe]. Ein Essay über Ausklammerungsversuche und kulturhistorische Stilbrüche, in: ebd., S. (167–174) 171. Die Autoren verweisen auf Schelers Liebesbegriff, der noch fundamentaler als das menschliche Wollen oder Denken ansetzt, auf Viktor E. Frankl, der in der Liebe eine atmosphärenbildende Kraft sieht, und auf E. Lévinas, der bereits Alternativen zur „verdorbenen“ Kategorie sucht; statt von Liebe sprechen Köffler und Sojer von Vertrauen und Verantwortungsübernahme (ebd., S. 173). 14 Agamben, G., Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt a. M. 2009, S. 36: „Als Paradigmen sind die Phänomene schon selbst die Lehre.“ und auf S. 38 beschreibt er die Ontologie des Paradigmas als „description without place“. 15 Ebd., S. 51. Die Sprache ist „der Schrein der Signaturen“ (ebd., S. 44). Agamben beschreibt Dekonstruktion als „Denken der Signatur als reiner Schriftlichkeit“ (ebd., S. 97). Ein Zitat Jakob Böhmes aus dem Traktat „De signatura rerum“: „Alles, was von Gott geredet, geschrieben oder gelehret wird, ohne die Erkenntniss der Signatur, das ist stumm und ohne Verstand.“ – Lévinas kann als der Denker der Signatur des Gesichts und seiner fremden Zeitlichkeit gelten. Bultmann und Hasenhüttl nehmen die zweckfreie Eigendynamik von Beziehungen in den Blick, Žižek die verstörenden Aktdimensionen. 16 Foucault, M., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin 2013, S. 31.
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nicht appräsentierbare Vergangenheit; die Rede vom „Herzen“ steht für solche den Menschen überfallende, fremde Transzendenz-Momente: „Die Geste des Leibes ist keine nervöse Entladung, sondern ein Feiern der Welt, Poesie.“17
An der Aussage von Lévinas , dass sich in der leiblichen Spur die Ewigkeit, fremde Alterität, abzeichnet und diese zur „absoluten Vergangenheit, die alle Zeiten vereinigt,“18 führt, lässt sich nochmals verdeutlichen: Theologen erträumen keine wohligen Spekulationen; aus den leiblichen Transzendenzankern ist kein einfaches Kapital zu gewinnen, um gefällige Vertröstungsmaschinen anzuheizen; Theologen rekonstruieren die Nicht-Objektivierbarkeit menschlicher Gesten; in jeder menschlichen Geste schreit ein immer fordernder Imperativ, der nie ganz einzulösen ist, tönt der Aufruf, sich der menschlichen Mehrdimensionalität zu stellen. Das menschliche Herz umfasst das Drama des Ungestättigtseins des Bewusstseins, des Leidens an eigenen Abgründen. Herzkeime sind durch Didaktisierungen nicht zu zähmen oder zu ersticken. Nach Wolfgang Sander umfasst Bildung den „Prozess, in dem sich das Ich mit der Welt verknüpft“19. Und mit Kant ist abschließend darauf hinzuweisen, dass das Ringen um Erkenntnis und das Abwägen von Argumenten vor dem Forum der Vernunft nichts Privates, sondern zutiefst sozial ist; es wird nämlich im Sinne der Menschheit um Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit und Angemessenheit gerungen. Paulus bittet im Philemonbrief, der kürzesten Schrift des Neuen Testaments, darum, Philemon möge den vormals entlaufenen Sklaven Onesimus wieder aufnehmen, den er im Gefängnis kennengelernt hat. Paulus legt bei Philemon, den er nicht kennt, Fürsprache für Onesimus ein; er schlägt vor, Onesimus nicht mehr als Sklaven, sondern als Bruder zu behandeln, nicht zuletzt wegen ihres gemeinsamen Glaubens; Onesimus ist konvertiert: „Ich schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein eigenes Herz“ (Phlm 12). Die Herzmetapher ermöglicht es, solche Konstellationen der apostolischen Anwesenheit, der Stellvertretung zu artikulieren, den Transfer von Anteilnahme oder eine seelische Mandatierung und Übertragung/Projektion jeder Art zu denken. Der (theologische)
Lévinas, E., Humanismus des anderen Menschen, S. 19. Ebd., S. 53, 58. „Die Ewigkeit ist die eigentliche Unumkehrbarkeit der Zeit, Ursprung und Zuflucht der Vergangenheit.“ 19 Sander, W., Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 2018, S. 98. 17 18
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Herz-Begriff erlaubt immer neue Ausweitungen und Reinterpretationen: Mit vergleichbaren Ermächtigungen/Empfehlungen, mit herzkommunikativen Identitätsweitungen, Verlebendigungen, Berufungs-/Erwählungsmomenten ist pädagogisch jederzeit zu „rechnen“; sie sind nicht herstellbar. Wenn sie nicht erkannt werden oder keine Sensibilität für das Besondere im Alltäglichen besteht, versanden sie leise. Es gibt also gute Gründe Copeis Konzept nicht in den Schubladen verstauben zu lassen und den „besonderen Moment/ fruchtbaren Augenblick im Bildungsprozess“ im Blick zu behalten. Eine Veröffentlichung mag nur einige Tropfen Herzblut enthalten; der Schulalltag wird allerdings von einer Welle der Herzlichkeit getragen. Solche Beseelungsvorgänge, die im Übrigen Peter Sloterdijks „Mikrosphärologie“ analysiert und als Übertragungs- oder Sphärenbildungsphänomene deutet, sind die Basis des pädagogischen Prozesses. Schüler werden zum Sprachrohr von Familienwahrheiten, Lehrer verkörpern die Schuldisziplin, wenn sie etwa ministerielle Anordnungen mitteilen oder das Prüfungsreglement verlautbaren. Es kommt unweigerlich ständig zur Amalgamierung (schul)politischer und privater Optionen und zu deren weiterer Transformation. Wenn Schüler- und Lehrerherz sich anschicken, ihre Plätze zu tauschen, gelingt Bildungsarbeit. Lehrer sehen „das eigene wunde Herz“ im Schüler, Schüleraussagen berühren; Schüler wiederum freuen sich auf den Unterricht und gewähren ihren Lehrern Anteil an ihrer Lebendigkeit. Nur aufgrund offener, lauterer Herz-Projektionen des Zu-/Vertrauens ist (schulisches) Dasein möglich. Ich danke allen, die geholfen haben, das Manuskript fertigzustellen, und ermutigende, herzliche Worte gefunden haben. Die Texte sind in einer Zeit entstanden, als der Autor keinen Religionsunterricht an der Schule erteilt hat. Die Gelegenheit zur Abfassung einer „impliziten Theologie“ oder „impliziten Religionspädagogik“ war also günstig. Herzensthemen verschaffen sich immer Gehör. Die Verbindung von Ethik- und Religionsunterricht wird in gleicher Weise immer möglich sein, ebenso die Infiltration der Herz-Thematik in verschiedene Fächer, vor allem aber das Aufkeimen herzlicher Schulwirklichkeiten.
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Anhang Abkürzungsverzeichnis APuZ
„Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“
C&W
„Christ und Welt“, Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“
ChrGeg
„Christ in der Gegenwart“, Zeitschrift
Conc
„Concilium“, deutsche Ausgabe der Zeitschrift
DLF Deutschlandfunk DRadio Deutschlandradio DZPh
„Deutsche Zeitschrift für Philosophie“
FAZ
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
FR
„Frankfurter Rundschau“
GEW
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
GS
Gesammelte Schriften (Adorno, Benjamin u. a.)
GV
„Glaube und Verstehen“, R. Bultmann, (4 Bde.)
GW
Gesammelte Werke (Scheler u. a.)
HA
Hamburger Ausgabe der Werke J. W. v. Goethes
HLZ
„Zeitschrift der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung“
HWP
„Historisches Wörterbuch der Philosophie“ (Stuttgart 1971–2007)
In Catil.
„Reden gegen Catilina”, M. T. Cicero
KpV
„Kritik der praktischen Vernunft“, I. Kant
KrV
„Kritik der reinen Vernunft“, I. Kant
KSA
„Kritische Studienausgabe“, F. Nietzsche
KU
„Kritik der Urteilskraft“, I. Kant
LThK
„Lexikon für Theologie und Kirche“ (2./3. Aufl.)
Met.
„Metaphysik“, Aristoteles
NE
„Nikomachische Ethik“, Aristoteles
NHPh
„Neue Hefte für Philosophie“, Zeitschrift
NZZ
Neue Zürcher Zeitung
PhR
Philosophische Rundschau
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Anhang
QD
„Quaestiones Disputatae“ (Reihe des Herder-Verlags)
QM Qualitätsmanagement S. Th.
Summa Theologica (Thomas v. Aquin)
SWR
Südwestrundfunk
StZ
„Stimmen der Zeit“, Zeitschrift
SZ
„Süddeutsche Zeitung“
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